Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft: Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik 351510142X, 9783515101424

Der Staat setzt Rahmenbedingungen für die Wirtschaft der Staat reagiert auf ökonomische Entwicklungen die Wirtschaft ric

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Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft: Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik
 351510142X, 9783515101424

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Einleitende Bemerkungen
I. Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Diktatur
Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas und der Aufstieg des Kathedersozialismus
Nationalökonomie und ordnungspolitische Diskussion in der Weimarer Republik
Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem: Indirekter Sozialismus, gelenkte Marktwirtschaft oder vorgezogene Kriegswirtschaft?
Wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen im deutschen Widerstand gegen das „Dritte Reich“
II. Das geteilte Deutschland
Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft als radikale Ordnungsinnovation und die Realität des bundesrepublikanischen „Wirtschaftswunders“
Wachstum und kein Ende. Die Ära des Keynesianismus in der Bundesrepublik
„Neoliberalismus“ als wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell?
Die Bundesrepublik Deutschland in den 1980er Jahren
Die DDR als ökonomische Konkurrenz:
Das Scheitern des „zweiten deutschen Staates“ als Vergleichswirtschaft
III. Bilanz und Ausblick
Hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?
Eine Zwischenbilanz 1990-2010
Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?
Die Autoren des Bandes
Personenregister

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Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft

Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus Wissenschaftliche Reihe Band 11

Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik Herausgegeben von Werner Plumpe und Joachim Scholtyseck

Redaktion: Florian Burkhardt

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Ein Polizist bewacht wertlos gewordenes Papiergeld, das unter Aufsicht verbrannt werden soll (1923) © ullstein bild

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10142-4

Inhalt Vorwort .......................................................................................................... 7 Einleitung Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Einleitende Bemerkungen Werner Plumpe / Joachim Scholtyseck  ......................................................... 9 I. Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Diktatur Der Gründerkrach, die Krise des liberalen Paradigmas und   der aufstieg des Kathedersozialismus Werner Plumpe  ............................................................................................ 17 nationalökonomie und ordnungspolitische Diskussion   in der Weimarer Republik Roman Köster .............................................................................................. 43 Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem: Indirekter Sozialismus,  gelenkte Marktwirtschaft oder vorgezogene Kriegswirtschaft? Jochen Streb  ................................................................................................ 61 Wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen im deutschen Widerstand  gegen das „Dritte Reich“ Michael Kißener  .......................................................................................... 85 II. Das geteilte Deutschland ludwig  Erhards  Soziale  Marktwirtschaft  als  radikale  Ordnungsinnovation  und die Realität des bundesrepublikanischen „Wirtschaftswunders“ Joachim Scholtyseck  ................................................................................. 101 Wachstum und kein Ende. Die Ära des Keynesianismus  in der Bundesrepublik  Alexander Nützenadel  ............................................................................... 119

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Inhalt

„neoliberalismus“ als wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell?  Die Bundesrepublik Deutschland in den 1980er Jahren Andreas Wirsching  .................................................................................... 139 Die DDR als ökonomische Konkurrenz:  Das Scheitern des „zweiten deutschen Staates“ als Vergleichswirtschaft André Steiner  ............................................................................................ 151 III. Bilanz und Ausblick hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?  Eine Zwischenbilanz 1990-2010 Karl-Heinz Paqué  ..................................................................................... 179 Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft? Karen Horn  ............................................................................................... 205 Die autoren des Bandes  ............................................................................ 227 Personenregister  ........................................................................................ 229

VORWORt Der  vorliegende  Band  dokumentiert  die  Erträge  des  theodor-heuss-Kolloquiums „Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft“, das die Stiftung Bundespräsident-theodor-heuss-haus  vom  28.  bis  30.  Oktober  2010  im tagungszentrum Stuttgart-hohenheim veranstaltet hat. Die beiden herausgeber konnten sich dank vielfältiger Unterstützung ganz auf die inhaltlichen aspekte der  tagung konzentrieren. Das tagungsthema wurde von der Stiftung vorgeschlagen und im Beirat der Stiftung erörtert und modelliert. Der Geschäftsführer  der Stiftung, Dr. thomas hertfelder, hat mit seinem team die Organisation  des Kolloquiums übernommen und damit wesentlich zum guten Gelingen und  zur angenehmen atmosphäre der wissenschaftlichen Debatte beigetragen, die  das Kolloquium drei tage lang geprägt hat. Die Wissenschaftsförderung der  Sparkassen-Finanzgruppe e. V., Bonn, die Sparkassen-Finanzgruppe und die  Stiftung der Kreissparkasse Esslingen-nürtingen haben die Drucklegung des  tagungsbandes  mit  einer  großzügigen  Spende  maßgeblich  unterstützt.  Der  vorliegende Band wurde redaktionell von Florian Burkhardt, M. a., betreut,  der auch das Personenregister besorgte. all diesen Institutionen und Personen  gilt unser herzlicher Dank.  Bonn/Frankfurt am Main, im Januar 2012 Werner Plumpe und Joachim Scholtyseck 

EInlEItUnG DER Staat UnD DIE ORDnUnG DER WIRtSchaFt.   EInlEItEnDE BEMERKUnGEn Werner Plumpe / Joachim Scholtyseck Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft – das ist, möchte man mit theodor  Fontane  fast  resigniert  sagen,  ein  weites  Feld.  Seit  mindestens  300  Jahren  zerbricht sich die okzidentale Welt den Kopf darüber, was Obrigkeit und Staat  können und sollen, was die Wirtschaft und ihre akteure dürfen und wollen –  und in welchem Verhältnis das alles zueinander steht. In diesen Jahren sind  wahrscheinlich alle möglichen Varianten durchdacht und die meisten von ihnen  auch  ausprobiert  worden.  Eine  befriedigende,  zumindest  eine  unwidersprochene  Bestimmung  des  Verhältnisses  von  Staat  und  Wirtschaft  scheint  bisher nicht gelungen und zeichnet sich auch nicht ab – gleichwohl hat die  Bedeutung  des  Staates  in  den  vergangenen  Jahrhunderten  sukzessive  zugenommen.  lag  der  Staatsanteil  am  Bruttosozialprodukt  vor  1914  um  die  14  Prozent,  so  betrug  er  in  den  1920er  und  den  1950er  Jahren  jeweils  bereits  deutlich mehr als 30 Prozent, um schließlich seit den 1970er Jahren auf nunmehr, wenn auch schwankende 50 Prozent der Wirtschaftsleistung anzusteigen.  Dass  es  hier  zu  einem  dauernden  Rückgang  kommt,  kann  als  ausgeschlossen gelten. Es scheint, als habe die gesellschaftliche Praxis selbst – jenseits  aller  Debatten  –  entschieden,  dass  ein  einigermaßen  funktionierendes  modernes Wirtschaftssystem nur mit einer starken, wachsenden Staatstätigkeit  möglich  ist,  auch  wenn  sich  angesichts  der  weltweiten Verschuldungskrise ganz aktuell die Frage stellt, ob diese Entwicklung nicht doch an eine  schwer zu überwindende Barriere gelangt ist. Man  kann  daher  zunächst,  unabhängig  von  allen  Grundsatzstreitereien,  festhalten, dass die Bedeutung der wirtschaftlichen Rolle des Staates in den  letzten beiden Jahrhunderten kontinuierlich gewachsen ist; eine Beobachtung,  die  im  Übrigen  der  preußische  Ökonom  und  Staatssozialist adolph Wagner  bereits im 19. Jahrhundert gemacht hatte und die als „Wagnersches Gesetz“ in  die  Geschichte  der  Volkswirtschaftslehre  einging.  Ordnungspolitisch  muss  diese  Feststellung  indes  noch  nicht  viel  bedeuten:  Die  hier  interessierende  Frage bezüglich der Ordnung der Wirtschaft ist bestenfalls die, ab welchem  Prozentsatz  staatlicher  Inanspruchnahme  der  Wirtschaftsleistung  eine  Wirtschaftsordnung ihren charakter ändert. Manche behaupten bereits heute, die 

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Werner Plumpe / Joachim Scholtyseck

Bundesrepublik  habe  im  Grunde  längst  eine  sozialistische  Ordnung,  auch  wenn dies wohl eine Minderheitsmeinung vor allem radikal-libertärer Publizisten sein mag. Die Masse der Beobachter, auch aus der Zunft der professionellen Marktbeobachter,  hingegen  würde  der  Bundesrepublik  wohl  eine  kapitalistische  Ordnung der Wirtschaft attestieren. Ihr zumeist ja politischer Streit drehte und  dreht  sich  auch  gar  nicht  mehr  um  Grundsatzfragen,  auch  wenn  diese  als  Grundierung stets eine Rolle spielen (können). Ganz im Gegenteil drehen sich  die auseinandersetzungen um die Fragen der art und Weise der staatlichen  Eingriffe in die Wirtschaft. Dabei lassen sich in der Diskussion – ähnlich wie  in der wirtschaftlichen Entwicklung und parallel zu ihr – semantische Dominanzen  beobachten,  die  zwischen  einem Vorherrschen  keynesianischen  und  neoliberalen Denkens oszillieren. Die Wendepunkte in diesen Schwankungen  bilden  offenbar  tiefere  Wirtschaftskrisen,  die  bis  dato  dominante  Konzepte  der Staatstätigkeit delegitimieren und konkurrierenden Überlegungen nachdruck verleihen. Dabei sind diese mit Krisen einsetzenden beziehungsweise  verbundenen Orientierungskrisen nicht simple Scharniere; zumeist verbinden  sich mit ihnen Phasen heftigen politischen und theoretischen Streits, wie das  gerade  seit  der  Pleite  des  Investmentbankhauses  lehman  Brothers  im  Jahr  2008 und den aktuellen Debatten um den Erhalt des Euro als gemeinschaftlicher Währung sowohl in den USa wie in Europa anschaulich beobachtet werden kann. Die Wahrnehmbarkeit des Wechsels ist zumeist etwas, das sich erst  im nachhinein einstellt – etwa der aufstieg der Sozialpolitik nach 1873 oder  die Blüte des Keynesianismus nach 1929.  Es gibt also offenkundig regelmäßig Streit um die Wirtschaftspolitik, der  allerdings nicht zwangsläufig mit Grundsatzfragen verbunden sein muss. So  gibt es zwar derzeit eine heftige auseinandersetzung über die Rolle des Staates, aber der Kapitalismus selbst wird, sieht man einmal von den charakteristischerweise ausgesprochen diffusen Vorstellungen der anhänger der OccupyBewegung oder den politischen Konzepten der linkspartei ab, kaum in Frage  gestellt. Der gegenwärtige antikapitalismus, soweit er sich in der Publizistik  findet, hat überdies etwas ausgesprochen Rhetorisches; wirkliche Ordnungsalternativen verbinden sich mit ihm nicht. Dies war in der Zwischenkriegszeit  des 20. Jahrhunderts definitiv anders, als die politischen und ökonomischen  Krisen die etablierte liberale Ordnung der Wirtschaft grundsätzlich in Frage  stellten und alternative Ordnungsentwürfe provozierten. nun geht der heutige  Streit aber, auch wenn er diesseits der Ordnungsschwelle ausgetragen wird,  nicht allein um Fragen der Wirtschaftspolitik in einem strukturellen oder prozessualen Sinne, also um Fragen der Struktur- und der Konjunkturpolitik; es  werden  auch  jeweils  ordnungspolitische  Fragen  berührt.  Dabei  zeigen  sich  ebenfalls alte Konzeptionen in jeweils neuem Gewand, aber es kommen auch  neue themen und Probleme hinzu. Überdies ist der Streit im Kern ein politi-

Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Einleitende Bemerkungen 

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scher, in dem allerdings durchweg ökonomische argumente verwendet werden. allen, auch den liberalen, geht es um Staatshandeln!  Schon  Ende  des  18.  und anfang  des  19.  Jahrhunderts  waren  derartige  Fragen  aktuell,  vor  allen  Dingen  jene  nach  der  Freiheit  der  ökonomischen  akteure,  sieht  man  einmal  von  den  Grundsatzfragen  der  Begründung  der  Rolle des Staates (Vertrags- versus Staatstheorie) ab. Der radikale liberalismus etwa der Physiokraten forderte auf naturrechtlicher Grundlage die völlige  Freigabe  des  wirtschaftlichen  handelns.  Die  an  adam  Smith  angelehnten  Ökonomen  und  Wirtschaftspolitiker  konnten  diesem ansinnen  nur  bedingt  zustimmen,  sahen  aber  immerhin,  dass  völlig  freie  Märkte  tendenzen  zur  Selbstblockade  entwickeln  würden  (Georg  Friedrich  Sartorius).  Insofern  müsse der als autonom gedachte Staat hier ordnend eingreifen. an diese ordnungspolitische  Überlegung  konnte  man  später,  seit  den  1850er  Jahren  anknüpfen, als sich die negativen Folgen freien ökonomischen handelns nicht  nur ordnungspolitisch, sondern auch sozial zeigten.  Spätestens  seit  jenen  auseinandersetzungen  um  die  „Soziale  Frage“,  wurde vom Staat verlangt, dass er nicht nur die Ordnung der Märkte, sondern  auch die soziale Integration des Kapitalismus und die soziale Disziplinierung  der Unternehmer zu leisten habe. Die bis heute anhaltende Diskussion, welche Mittel dafür eingesetzt werden sollten, kennzeichnete und prägte die ordnungspolitischen  Debatten  der  folgenden  Jahrzehnte.  Während  der  Fortschrittsoptimismus,  der  sich  auch  auf  ökonomische aspekte  bezogen  hatte,  Zug  um  Zug  verloren  ging,  brachte  das  Ende  des  Ersten  Weltkrieges  eine  merkliche Polarisierung mit sich, in der nicht nur das liberale System grundsätzlich in Frage gestellt wurde, sondern auch von ihren Verfechtern wie den  Schülern  Gustav  Schmollers  oder  John  Maynard  Keynesʼ  alternative  lösungsmodelle präferiert wurden. Schließlich kam mit der Weltwirtschaftskrise noch die Erfahrung des, frei  formuliert, Kapitalistenstreiks hinzu, die Keynesʼ außerordentlich erfolgreiche Parole vom „Deficit Spending“ befeuerte, die in der nachkriegszeit in der  sogenannten neoklassischen Synthese dann der Globalsteuerung das Wort redete. Ordnungspolitik, Sozialpolitik, Konjunkturpolitik: aus diesen drei teilweise deckungsgleichen, teilweise konkurrierenden Feldern besteht der Streit  um die Rolle des Staates bei der Ordnung der Wirtschaft. Dabei haben sich  bestimmte  leitsemantiken  durchgesetzt,  die  in  Krisenzeiten auf-  oder abstiegserlebnisse haben. aber allein die tatsache, dass wir um die historizität  der  Debatten  wissen,  verhindert,  dass  wir  sie  jeweils  einfach  wiederholen.  auch in diesen Entwicklungen findet sich historischer Wandel, dem es nachzuspüren lohnt.  Grund genug also, um auf einer tagung das changierende Verhältnis von  Staat und Wirtschaft in der longue durée des 19. und 20. Jahrhunderts etwas  genauer unter die lupe zu nehmen. Die hier vorliegenden Beiträge dokumentieren die Ergebnisse einer tagung, die die Stiftung Bundespräsident-theo-

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Werner Plumpe / Joachim Scholtyseck

dor-heuss-haus vom 28. bis 30. Oktober 2010 in Stuttgart-hohenheim veranstaltet hat.  Zunächst schildert Werner Plumpe, gleichsam in die Problematik einführend,  den  „Gründerkrach“  der  frühen  1870er  Jahre,  die  Krise  des  liberalen  Paradigmas und den aufstieg des „Kathedersozialismus“ als den Versuch, die  sich auftürmenden sozialen Krisen einer sich ausdifferenzierenden modernen  Industriegesellschaft  zu  bewältigen.  Mit  dem  Ersten  Weltkrieg  –  und  erst  recht mit seinem Ende 1918 – schienen diese Versuche weitgehend gescheitert, zumal das liberale Modell mit seinen traditionellen Rezepten europaweit  an seine Grenzen gekommen zu sein schien und zunehmend autoritäre Wirtschaftslösungen  als  universelle  Rettungsmaßnahmen  offeriert  wurden,  die  den bisherigen ansätzen diametral entgegenstanden. hieran anknüpfend betrachtet Roman Köster den Untergang der kaiserzeitlichen Ordnung und die – weitgehend ergebnislose – Suche nach einem  neuen Muster in den Jahren der Inflation und der Weltwirtschaftskrise. Die  Folge war nicht nur eine Ratlosigkeit in der nationalökonomischen Debatte,  sondern auch eine praktische Unfähigkeit, der Weltwirtschaftskrise mit wirksamen Rezepten entgegenzutreten. Solche Rezepte wurden allerdings lauthals  von adolf hitler und seinen „Wirtschaftsexperten“ verkündet und angekündigt. Jochen Streb widmet sich der Frage, ob der nationalsozialismus mit seinem  radikalen  politischen  Programm  in  ökonomischer  hinsicht  eine  neue  Wirtschaftsordnung auf den Weg zu bringen versuchte: Seine Überlegungen  kreisen um die auch heute noch umstrittene Frage, ob die „braune Diktatur“  nun eine art indirekter Sozialismus, eine gelenkte Marktwirtschaft oder eine  vorgezogene Kriegswirtschaft darstellte. Michael Kißener hingegen betrachtet die Gegenentwürfe zu den nationalsozialistischen Vorstellungen. Er analysiert  die  alternativen  wirtschaftspolitischen  Ordnungsvorstellungen  der  Widerstandskreise und des „anderen Deutschland“: Verschiedene „dritte Wege“,  die beispielsweise von den Freiburger Kreisen in aller heimlichkeit skizziert  und entwickelt wurden und gerade angesichts der nS-Politik Monopole und  Kartelle, seien sie privater oder staatlicher Provenienz, verhindern und einen  zukunftsfähigen ordnungspolitisch eingehegten Kapitalismus in der Zeit nach  hitler ermöglichen wollten. Diese  disparaten  Modelle  kamen  bekanntlich  nicht  zum  Zug;  ganz  im  Gegenteil waren es zunächst die alliierten, die nach 1945 ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen dem besiegten Feindstaat aufzwingen konnten – zumindest schien es so: Joachim Scholtyseck stellt vor diesem hintergrund ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft als Ordnungsinnovation vor und verbindet die theoretischen Debatten der nachkriegszeit mit der Realität des „Wirtschaftswunders“  der  1950er  Jahre.  Alexander Nützenadel  untersucht  die  „kurze Blüte von Keynesianismus und Globalsteuerung“, die mit einer charakteristischen, durch nS-Regime und Zweiten Weltkrieg verursachten, Verzögerung auch in der Bundesrepublik einsetzte, zugleich jedoch durch eine 

Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Einleitende Bemerkungen 

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spezifisch deutsche Komponente ausgezeichnet war, weil gerade der Faktor  Stabilität tief ins deutsche kollektive Gedächtnis eingegraben war. Spätestens  seit der Ölkrise 1973 und dem Ende der Planungseuphorie gehörten die damit  verbundenen optimistischen annahmen der makroökonomischen Steuerbarkeit definitiv der Vergangenheit an. allerdings gilt diese Feststellung vor allem für die ordnungspolitische Diskussion. Andreas Wirsching wirft nämlich  einen nüchternen Blick auf den „neoliberalismus“ der 1980er Jahre und stellt  fest, wie wirkungsmächtig die Residuen des Keynesianismus in der Ära Kohl  blieben.  André Steiner  wiederum  schaut  auf  die  andere  Seite  des  Eisernen  Vorhangs. Er betrachtet das im ökonomischen Desaster endende Konkurrenzmodell  der  DDR  und  ermöglicht  einen  Vergleich  zum  bundesrepublikanischen Beispiel: Ordnungspolitische Debatten, wie sie für westliche Demokratien  kennzeichnend  waren,  durften  allerdings  in  der  SED-Diktatur  ohnehin  nicht geführt werden. Karl-Heinz Paqué wiederum wirft einen Blick auf die  ordnungspolitischen Vorstellungen, die im Zuge der deutschen Wiedervereinigung zum tragen kamen. Er fragt nach dem langfristigen „Erfolg“ dieses  Modells und stellt die wirtschaftspolitische Dynamik der reindustrialisierten  „neuen länder“ Ostdeutschlands in die Zusammenhänge der gesamten Entwicklung  der  mittel-  und  mittelosteuropäischen  Staaten  nach  dem  Zusammenbruch der Sowjetunion als östlicher Führungsmacht. Den abschluss des  Bandes bietet ein aufsatz von Karen Horn, der schließlich ganz grundsätzlich  fragt: „Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?“ Sie stellt durchaus provozierend fest, dass der moderne marktwirtschaftliche Staat des 21. Jahrhunderts in der lage ist, Regelvertrauen zu gewähren, wobei er zugleich den Bürger  auszuplündern  versteht,  während  die Wirtschaft  sich  zum  unausgesprochenen Grundsatz zu machen scheint, alles unternehmen zu dürfen, was nicht  ausführlich  verboten  ist.  Erstaunlich  ist  in  diesem  Zusammenhang  freilich,  dass über diese jüngsten Entwicklungen kaum ernsthafte ordnungspolitische  Debatten geführt werden, wie dies seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland  die norm war und wie der vorliegende Band nachzeichnen möchte.

I. Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Diktatur

DER GRÜnDERKRach, DIE KRISE DES lIBERalEn PaRaDIGMaS  UnD DER aUFStIEG DES KathEDERSOZIalISMUS Werner Plumpe 1. Wirtschaftskrisen als Zäsuren Wirtschaftskrisen können erhebliche Folgen für die gesellschaftliche Selbstbeschreibung haben und damit auch die Voraussetzungen ändern, unter denen  politische Entscheidungen noch als legitim gelten. Gesellschaftliche Selbstbeschreibungen,  zumal  solche,  die  im  Medium  der  öffentlichen  Meinung  stattfinden, sind zwar nie eindeutig, aber evolutionär setzen sich jeweils bestimmte Scripts und Schemata durch, die den „Geist der Zeit“ bestimmen und  entsprechend politische und wirtschaftliche Entscheidungsprozesse und Entscheidungen ermöglichen. Diese leitsemantiken nun werden durch ökonomische Krisen erkennbar herausgefordert, da die durch sie zugleich ermöglichte  wie beschriebene Welt sich geradezu abrupt ändert – bisher sicher Gewusstes  wechselt  gelegentlich  schlagartig  seinen  Status  und  erscheint  plötzlich  als  falsch, naiv, dumm. Wir kennen alle den rasanten auf- wie abstieg des Finanzmarktliberalismus in den vergangenen Jahren. Der Umschlag dieses ansatzes  vom  überzeugenden  Konzept  zur  fadenscheinigen  Ideologie  wurde  dabei keineswegs durch „bessere Einsicht“ veranlasst, sondern durch den krisenhaften Rückgang der Immobilienpreise in den USa und die sich anschließende weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise ausgelöst.1 Die gegenwärtige  Situation macht überdies auf einen weiteren Punkt aufmerksam. Die auswirkungen der Krisen betreffen in der Regel nicht alle in einer Gesellschaft verfügbaren  Schemata  und  Scripts  der  Selbstbeschreibung,  im  Gegenteil.  Die  Krise kann auch zur Stunde konkurrierender Semantiken werden, die bislang  ein Schattendasein führten, sich nicht behaupten konnten oder in einem wie  auch  immer  gearteten  Minderheitsstatus  verblieben  waren.  Insofern  sie  vor  allem die bisherigen leitsemantiken delegitimieren, können Krisen bisher unterlegene, defensive oder versteckte (konkurrierende) Semantiken ans licht  holen oder doch stark aufwerten.2 Dass, um erneut auf ein aktuelles Beispiel  1  2 

Journalistisch  zugespitzt,  aber  durchaus  lesenswert  Lisa NieNhaus:  Die  Blindgänger.  Warum Ökonomen auch künftige Krisen nicht erkennen werden, Frankfurt a. M. 2009. typisch dafür etwa die Rückkehr eines wie auch immer gearteten Keynesianismus, z. B.  PauL R. KRugmaN: Die neue Weltwirtschaftskrise, Frankfurt a. M. 2009; bezeichnend  auch die Karriere der texte von Naomi KLeiN: Die Schock-Strategie. Der aufstieg des  Krisenkapitalismus, Frankfurt a. M. 2007.

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zu  verweisen,  eine  Person  wie  Sahra  Wagenknecht  heute  ernst  genommen  wird,  wäre  noch  vor  einigen  Jahren  geradezu  unvorstellbar  gewesen;  man  hätte ihren Platz in der linken nicht bestritten, aber ihr letztlich keine darüber  hinausgehende Bedeutung zugestanden.3 Diese krisenbedingte Rotation von  unter  Umständen  konkurrierenden  Semantiken,  insbesondere  aber  ihre Verwirbelung scheint typisch für Phasen zu sein, die sich an tiefere Wirtschaftskrisen  anschließen  –  dies  ist  zugegebenermaßen  unklar  ausgedrückt.4  Die  praktischen auswirkungen von Krisen sind selten derart klar, dass sie unmittelbar neue leitsemantiken zuließen. Denn zwar können bisher unterlegene  semantische angebote profitieren; dass sie aber die krisenbedingten Veränderungen  korrekt  und  überzeugend  nicht  nur  erfassen,  sondern  auch  zustimmungsfähige auswege weisen können, ist deshalb ja noch keineswegs erwiesen.5 Wirtschaftskrisen sind ja zudem immer auch Momente im Strukturwandel und nicht einfach Unterbrechungen eines stabilen Wachstumsprozesses,  der nach der Krise unter Verzicht auf bestimmte, als krisenverursachend geltende  Verhaltensweisen  einfach  fortgesetzt  werden  kann.  Und  mehr  noch:  Krisen sind keine isolierten Phänomene, sondern gehören zum ökonomischen  Zyklus dazu wie aufschwung und Boom. Simple Rezepte zur ihrer Beschreibung  und  Überwindung  taugen  daher  nicht;  Krisen  sind  wohl  Impulse  für  Ideenevolutionen und semantische Variierungen mit ganz offenem ausgang.6  Streit ist die normale Reaktion. Der Fall jedenfalls, dass eine bisherige leitsemantik spektakulär untergeht, den Platz vollständig räumt und unmittelbar  ersetzt wird, ist historisch fast ohne Beispiel.  Vielleicht kommt die Weltwirtschaftskrise von 1929 dieser radikalen Eindeutigkeit noch am nächsten, doch auch hier sind Zweifel angebracht. Denn  die Krisenreaktionen umfassten nicht nur ein außerordentlich breites Spektrum  an  theoretischen  Konzepten  und  politischen  Entwürfen;  sie  variierten  auch von land zu land und – es brauchte Zeit, zum teil viel Zeit, bis sich der  nebel lichtete.7 Der große Erfolg von Keynes’ allgemeiner theorie, über den  3  4  5 

6  7 

sahRa WageNKNecht: Wahnsinn mit Methode. Finanzcrash und Weltwirtschaft, Berlin  2009, ein Buch, das in der Krise gleich mehrere auflagen erlebte. Vgl. hierzu vor allem haNsjöRg siegeNthaLeR: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen:  Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen handelns und sozialen lernens, tübingen 1993. Die Verwirrung scheint derzeit (august 2011) selbst Jahre nach dem ausbruch der Finanzkrise weiter zuzunehmen, nicht zuletzt deshalb, weil alle scheinbar sicheren Krisenauswege (Rettungsschirme, Stützungsaktionen etc.) selbst zu neuen Krisenfaktoren  (Staatsverschuldung) werden können. allgemein vgl. aNsgaR BeLKe (hg.): Wirtschaftspolitische Konsequenzen der Finanz- und Wirtschaftskrise, Berlin 2010. WeRNeR PLumPe: Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart, München 2010. Eine  gute  aktuelle  Darstellung  der  Weltwirtschaftskrise,  ihrer  theoretischen  Verarbeitung  und  der  politischen  Reaktionen  auf  sie  gibt  es  nicht.  Die  meisten  Darstellungen  (Kindleberger, Galbraith etc.) sind älteren Datums oder recht oberflächlich; für Deutschland siehe theo BaLdeRstoN: the Origins and course of the German Economic crisis 

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Joseph  Schumpeter verzweifelt den Kopf schüttelte8, erklärt sich auch deshalb, weil die (akademische) Öffentlichkeit 1936 geradezu nach einem „lösenden Wort“ gierte.9 hier ist eine Bemerkung dazu notwendig, wie ich den  Begriff der Semantik verwende. In anlehnung an niklas luhmann10 geht es  um Redeweisen und Bedeutungszuweisungen sowie deren Struktur. Kommunikative Bedeutungszuweisungen verwenden Schemata oder Scripts, in denen  Geltung beanspruchende Bedeutungen unmittelbar ausgedrückt werden, etwa  im Sinne der Globalisierung oder der Selbststeuerung. Dabei handelt es sich  um semantische Schemata, die jeder einigermaßen Gebildete sofort versteht  und  die  in  Kommunikationsprozessen  wesentliche anschlussfunktionen  erfüllen.  Diese  kommunikativen  Strukturen  unterliegen  historischem Wandel,  zum Beispiel indem sich nach Krisen Kommunikationsprozesse ändern. Semantik in diesem Sinne unterliegt aber nicht nur historischem Wandel, sie ist  auch  selbst  sehr  differenziert.  Über  Wirtschaft  und  Wirtschaftskrisen  kann  man politisch kommunizieren etwa in Parlamenten, Parteien und Interessenverbänden; sie können Gegenstand ethischer Reflexion werden durch Kirchen  oder  Philosophen.  Insbesondere  sind  sie  auch  Gegenstand  der  gepflegten  Kommunikation der Wirtschaftswissenschaften. Überdies spielen sich diese  je unterschiedlichen Redeweisen zumindest teilweise im Medium der öffentlichen  Meinung  ab.  Dort  müssen  sie  als  neuigkeit,  als  Information  auftauchen, da hier nur so kommuniziert werden kann und die akteure des Mediensystems dies auch genau so betreiben.  Diese Beobachtung nun macht es sehr viel klarer, warum Keynes einen  solchen  Erfolg  hatte.  nicht  nur  war  er  allein  wegen  seines  lebenswandels,  seines  geschäftlichen  Erfolgs  und  seiner  Zugehörigkeit  zur  BloomsburyGroup eine nachricht, die sich in England kaum eine Zeitung entgehen ließ.  Seine hochzeit mit einer russischen tänzerin Mitte der 1920er Jahre war entsprechend  ein  großes  Ereignis.11  nein:  Keynes  spielte geradezu virtuos auf  allen  Ebenen  semantischer  Sinnproduktion.  Er  sprach  im  Radio  zur  Wirtschaftskrise;  er  vertrat  eine  ethische  Position,  die  nähe  zu  den  Opfern  und  Verlierern  der  Krise  signalisierte.  Seine  Ratschläge  besaßen  politische  Brisanz und konnten im Grunde von sehr vielen Interessengruppen unterstützt  november 1923 to May 1932, Berlin 1993; vgl. zu den USa BaRRy eicheNgReeN: Golden Fetters: the Gold Standard and the Great Depression, Oxford 1992. 8  josePh a. schumPeteR:  Besprechung  zu  Keynes, allgemeine  theorie,  abgedruckt  in:  deRs.: Beiträge zur Sozialökonomik, Wien 1987, S.79–84. 9  johN mayNaRd KeyNes: allgemeine theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, München 1936. 10  NiKLas LuhmaNN:  Gesellschaftsstruktur  und  Semantik,  Studien  zur Wissenssoziologie  der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980. Vgl. grundlegend: deRs.: Die  Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde, Frankfurt a. M. 1997. Zum Begriff der Scripts und  Schemata vgl. deRs.: Die Realität der Massenmedien, Wiesbaden 1995. 11  Zur Biographie von Keynes vgl. chaRLes h. hessioN: John Maynard Keynes, Stuttgart  1986.

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werden; und schließlich bot er noch eine theoretische Grundlage an, die die  akademische Welt zu revolutionieren schien.12 Das alles zusammen war schon  eine leistung; und dass Joseph a. Schumpeter, der sich aus Politik und Ethik  meinte heraushalten zu müssen und theoretisch viel skrupulöser war, das alles  nicht fassen konnte und geradezu entsetzt erlebte, wie sich die Studenten von  ihm und seiner Konjunkturtheorie ab- und Keynes zuwandten, ist nicht weiter  verwunderlich.13 Diese abschweifung hat es mir ermöglicht, nicht nur meinen Semantikbegriff zu erläutern, sondern zugleich auch am Beispiel der Weltwirtschaftskrise von 1929 zu zeigen, wie lange es dauerte, bis sich eine neue, scheinbar  nichtliberale Semantik durchsetzen konnte und wie „zufällig“ letztlich die lösung  war.  Ob  ohne  Keynes  eine  schlüssige,  zumindest  zeitweilig  zustimmungsfähige antwort auf die Krise der Ökonomie in der Weltwirtschaftskrise  möglich  gewesen  wäre,  scheint  mir  mehr  als  fraglich.  Zumindest  hätte  es  wohl kaum diese scheinbar konkurrenzlose Dominanz eines bestimmten Konzeptes gegeben, demgegenüber alle, auch alle berechtigte Kritik verblasste.  Dass jedenfalls nach 1929 eine Krise der politischen Programmatik und eine  Verschiebung ökonomischer Semantiken hand in hand gingen, war – auch  wenn es im nachhinein folgerichtig erscheint – historisch keineswegs sicher.  Dem Gründerkrach und der Gründerkrise von 1873 bis 1878 wird auch  eine solche geistige Zäsur nachgesagt, sowohl in der politischen Programmatik wie in der ökonomischen theorie. Das bis dahin mehr oder weniger konkurrenzlos  dominante  Paradigma  des  liberalismus,  gipfelnd  in  der  Wirtschaftsgesetzgebung  des  Deutschen  Bundes  und  des  neugegründeten  Deutschen Reiches um 1870, sei in geradezu atemberaubendem tempo gefallen  und  habe  einem  neuem  sozialprotektionistischen  Grundkonsens  Platz  gemacht.  Dieser  findet  im  sogenannten  Kathedersozialismus  der  historischen  Schule  der  nationalökonomie  seinen  mustergültigen  ausdruck  und  dominierte geistig die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Kaiserreiches.14 Die deutsche antwort auf die mit dem Gründerkrach ausgelöste Krise des liberalismus hat hiernach einen namen: Gustav Schmoller.15 Er beschränkte sich kei12  Seine Radioansprachen aus der Weltwirtschaftskrise wurden 2009 in loser Reihe in der  FaZ abgedruckt. 13  thomas K. mccRaW: Joseph a. Schumpeter. Eine Biographie, hamburg 2008. Ferner  aNNette schäfeR: Die Kraft der schöpferischen Zerstörung. Joseph Schumpeter – die  Biographie, Frankfurt a. M. 2008.  14  In der Beschwörung des niedergangs des Wirtschaftsliberalismus seit Mitte der 1870er  Jahre ist sich die literatur von hans Rosenberg, hans-Ulrich Wehler bis hin zu thomas  nipperdey weitgehend einig. 15  Eine neuere Schmoller-Biographie existiert nicht. Grundsätzlich vgl. NiLs goLdschmidt:  Gustav Schmoller, in: heiNz d. KuRz (hg.): Klassiker des ökonomischen Denkens, Bd.  1: Von adam Smith bis alfred Marshall, München 2008, S. 287–305. nicht zuletzt wegen  des  Fehlens  einer  aktuellen  Biographie  ist  Gustav  Schmoller  heute  nur  noch  der  Inbegriff des greisen Geheimrates, der er aber zur Zeit des Gründerkrachs gerade nicht 

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neswegs auf sozialpolitische Ratschläge, sondern ebnete einer ganz anderen  Ökonomie  den Weg.  Ob  diese annahmen,  zumal  in  der  Klarheit  zutreffen,  sollen die nachfolgenden Überlegungen erkundigen.  2. Der Gründerkrach und die Krise des liberalismus Wirft man einen Blick in die mittlerweile unüberschaubare literatur zur Geschichte  der  1870er  und  1880er  Jahre,  so  finden  sich  gewisse  Stereotypen.  Offensichtlich brachten die 1870er Jahre einen Umbruch nicht nur in der wirtschaftlichen Entwicklung; zugleich änderten sich auch die gesellschaftlichen  leitvorstellungen  grundlegend.  Die  1870er  Jahre  sahen  einen  umfassenden  niedergang  des  liberalismus,  der  bis  dato  für  Jahrzehnte  unbestritten  das  Feld beherrscht hatte. Der liberalismus war dabei keineswegs ein rein ökonomisches Phänomen geblieben. Im Gegenteil: liberale Politiker und Intellektuelle bestimmten das politische und kulturelle Klima der Zeit. Der rasch nach  der Reichsgründung ausbrechende Kulturkampf einerseits, die wirtschaftsliberale Gesetzgebung der frühen 1870er Jahre und die sie erst ermöglichenden  politischen  Konstellationen  andererseits  sprechen  eine  deutliche  Sprache.  Ende der 1870er Jahre freilich war alles vorüber. Der liberalismus war nicht  mehr regierende Partei, der Freihandel weltweit in der Defensive und an den  Finanz- und Kapitalmärkten wurden die Stimmen lauter, die nach einer stärkeren Regulierung verlangten, nachdem 1870 insbesondere das aktienrecht  weitgehend liberalisiert worden war.16  Den Umschlag weg vom liberalismus brachten der Gründerkrach und die  sich  anschließende  Gründerkrise,  die  in  eine  gut  20jährige  „Große  Depression“ mündeten, in der sich das Wachstum gemessen am Boom der Gründerzeit verlangsamte und sich – insbesondere – angesichts des eingetretenen ökonomischen Strukturwandels die Gewinne vieler Unternehmen deutlich reduzierten.17 Die Krise bewirkte damit nicht nur einen Einbruch in den gesamtwar. Bei dessen ausbruch 1873 war Schmoller mit 35 Jahren ein frischgebackener Professor,  der  in  den  kommenden  Jahren  zum  jungen  Wilden  der  deutschen  Ökonomie  avancierte.  16  dieteR LaNgeWiesche:  liberalismus  in  Deutschland,  Frankfurt  a.  M.  1995. Vgl.  auch  deRs. (hg.): liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich,  Göttingen 1988. 17  Grundlegend  weiterhin  haNs RoseNBeRg:  Große  Depression  und  Bismarckzeit.  Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967. Ob und inwieweit  die deflationäre Phase, die sich als „Große Depression“ an den Gründerkrach anschloss,  durch  eine Verringerung  der  Goldproduktion  und  damit  durch  die  restriktiven  Folgen  des  Goldstandards  beeinflusst  wurde,  sei  hier  dahingestellt.  Ein  Zusammenhang  ist  denkbar,  ja  sogar  wahrscheinlich, doch  sollte  man  die  strukturellen  Folgen  des  Übergangs zur Massenherstellung von Industriegütern nicht übersehen. Vgl. BaRRy eicheN-

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wirtschaftlichen Daten; sie löste auch einen gesellschaftlichen Klimawandel  aus. thomas nipperdey formulierte das folgendermaßen:  „Die Krise löste Ängste aus, ersetzte das hochgefühl der hoffnung durch angst: angst  vor  Umverteilung  und  vor  Sozialisten,  angst  um  den  Status  quo,  um  das  Erreichte,  angst vor der Zukunft. Das kam bei Mittelklassen nicht der Partei der Bewegung und  Veränderung, der Partei der Modernität, der Zukunft zugute. Die Krise führte weiterhin  zuerst  bei  denen,  die  sich  im  Gründungsfieber  verspekuliert  hatten,  dann  bei  anderen  ‚Betroffenen‘ und schließlich bei allen Beobachtern zur Suche nach ‚Schuldigen‘, zur  Kritik der Bedingungen und Umstände, die sie wirklich oder vermeintlich heraufgeführt  hatten. Das war, so meinten viele, die kapitalistische Konkurrenz- und Marktwirtschaft  mit  ihrem  ungehemmten  Gewinnstreben,  das  waren  ihre  kürzlich  erst  gesetzten  Rahmenbedingungen, die Gewerbefreiheit und vor allem das (in der tat mangelhafte) aktienrecht und das Bankrecht. Das waren die liberale Wirtschaftsverfassung, das liberale  Prinzip der Selbststeuerung und -regulierung der Wirtschaft, das man nun als ‚Manchestertum‘ bezeichnete, der liberale harmonieglaube, die ins Kreuzfeuer der Kritik gerieten, ja es war der liberalismus selbst, der mit all dem identifiziert wurde, die liberalen  als Partei eines modernen aktienrechtes – der liberalismus befand sich plötzlich nicht  mehr in der Situation der Selbstverständlichkeit, sondern in der Defensive. Das war ein  säkulares Schicksal.“18

Der liberalismus, dessen niedergang nipperdey hier beschreibt, war vor allem ein politisches Projekt, in Deutschland verkörpert durch die nationalliberale Partei, die seit 1867 gemeinsam mit Bismarck – oder besser – hinter Bismarck im Wesentlichen die Gesetzgebung in Deutschland und damit auch die  Grundstrukturen der Wirtschaftsverfassung des neuen Staates bestimmt hatte.  Sein  niedergang  reflektierte  freilich  mehr  als  nur  das  Stimmungstief  nach  dem Platzen der Gründerblasen. Vielmehr zeigte sich nun sehr deutlich, dass  er sich kaum auf eine breite soziale Basis stützen konnte, sondern im Kern  immer  das  Projekt  des  Besitz-,  weniger  des  Bildungsbürgertums  gewesen  war, das sich im Boom der Gründerzeit freilich großen Zuspruchs sicher sein  konnte,  zumal  man  als  Partei  Bismarcks  auch  ein  wenig  vom  Glanz  der  Reichsgründung  abbekam.  Überdies  begünstigte  das  wachstumsfreundliche  Milieu der 1850er und 1860er Jahre die industrielle und agrarische Unterstützung des liberalismus.19 Die Schwerindustrie an Rhein und Ruhr, zu Ende  der 1840er Jahre noch durchaus protektionistisch eingestellt und immer wieder  mit  der  Kartellierung  von  teilmärkten  liebäugelnd,  fand  sich  in  den  1860er Jahren mit dem sukzessiven Übergang zur Freihandelspolitik ab; noch  1875 wurden in einem letzten nachholenden akt liberaler Wirtschaftsgesetzgebung die letzten Eisenzölle beseitigt, nur um wenige Jahre später, nicht zugReeN: Vom Goldstandard zum Euro. Die Geschichte des internationalen Währungssy-

stems, Berlin 2000. 18  thomas NiPPeRdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 3: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 387. 19  RichaRd tiLLy: Vom Zollverein zum Industriestaat. Die wirtschaftlich-soziale Entwicklung Deutschlands 1834–1914, München 1990.

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letzt  auf  Druck  der  Interessenten  an  Rhein  und  Ruhr,  wieder  eingeführt  zu  werden.20 aber  nicht  nur  die  Schwerindustrie  schwenkte  angesichts  großer  Überkapazitäten und sinkender Preise und Margen in das lager des Protektionismus über, auch das jahrzehntelange Bollwerk des Freihandels, die Großlandwirtschaft,  bekam  nach  und  nach  Zweifel,  ob  der  Freihandel  noch  die  beste aller Welten verhieß, wie man es zuvor stets betont hatte.21 Der Grund  dafür lag nicht unbedingt in den Folgen des Gründerkrachs, sondern in strukturellen Verschiebungen in der Weltagrarwirtschaft. nach dem Ende des Bürgerkrieges kehrten die USa nach und nach wieder als anbieter auf die Weltagrarmärkte zurück; ebenso tauchten australien und argentinien als Großproduzenten  auf,  die  angesichts  dramatisch  fallender transportkosten  nun  ihre  günstigen Produktionsbedingungen ins Spiel bringen konnten. auch wenn die  deutsche landwirtschaft keineswegs homogen war und unterschiedliche Interessen verfolgte, sank angesichts dieses Wandels der Stern des Freihandels.  teile der Schwerindustrie, die Mehrzahl der textilindustriellen und zahlreiche  landwirte jedenfalls wandten sich vom Freihandel ab und drängten auf eine  aktivere, sprich protektionistische Politik des Staates. Da zugleich, auch eine  Folge der Krise, ein tiefgehendes strukturelles Problem des sich durchsetzenden Kapitalismus, die „Soziale Frage“ immer drängender wurde und die arbeiterschaft begann, sich als soziale und politische Bewegung zu formieren,  verlor  der  liberalismus  auch  hier  an  Überzeugungskraft.  Der  Konflikt  mit  dem Katholizismus, der im Kulturkampf kulminierte, tat schließlich ein weiteres, um den liberalismus gesellschaftlich zu isolieren. Der politische Druck  jedenfalls, schreibt hans-Ulrich Wehler, „wurde dadurch immens erhöht, daß die Vorherrschaft der nationalliberalen dem jahrelangen Erosionsprozeß, der von der Diskreditierung der liberalen Marktwirtschaft, der  liberalen  Wirtschaftspolitik:  insgesamt  der  liberalen  ‚Weltanschauung’  ausging,  nicht  standhielt und – auch dank Bismarcks tatkräftiger nachhilfe – nach zehn Jahren endgültig zerbrach.“22 

Der politische liberalismus, der als Krisenreaktion das Festhalten an seiner  bisherigen Programmatik anbot (Freihandel, liberale Wirtschaftsverfassung)  und  zugleich  die  auseinandersetzung  mit  den  vermeintlichen  Feinden  der  Moderne intensivierte, verlor schnell an Boden; der Vorwurf des „Manchestertums“,  der  zuvor  bestenfalls  aus  der  intellektuellen  Sozialkritik  und  der  entstehenden arbeiterbewegung geäußert worden war, wurde plötzlich hoffähig.  Damit  geriet  nunmehr  auch  der  theoretische Gehalt  des  ökonomischen  20  uLRich WeNgeNRoth: Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt: Die deutsche  und britische Stahlindustrie 1865–1895, Göttingen 1986. 21  Zur Freihandelsbewegung generell VoLKeR heNtscheL: Die deutschen Freihändler und  der volkswirtschaftliche Kongreß 1858 bis 1885, Stuttgart 1975. 22  haNs-uLRich WehLeR:  Deutsche  Gesellschaftsgeschichte,  Bd.  3,  Von  der  ‚Deutschen  Doppelrevolution‘  bis  zum  Beginn  des  Ersten  Weltkrieges  1845/49–1914,  München  1995, S. 935.

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liberalismus in die Kritik. Zwar hatte es in Deutschland seit der frühen SmithRezeption immer wieder entschiedene Kritiker eines sich auf Smith beziehenden  Wettbewerbskapitalismus  gegeben;  zwar  war  auch  frühzeitig  bemerkt  worden, dass der liberale Kapitalismus über Einschränkungen der Marktfunktion zur Selbstblockade neigte;23 zwar hatte nicht zuletzt Karl Knies auf die  historische Wandelbarkeit der konstituierenden Begriffe der britischen Ökonomie verwiesen und damit die these des liberalen Ökonomen John R. Mcculloch, die natur habe es auf einen allgemeinen Markt abgesehen, aus letztlich erkenntnistheoretischen Gründen zurückgewiesen und einer historischen  Ökonomie das Wort geredet;24 zwar hatte es frühzeitig gerade aus besitz- und  bildungsbürgerlichen Kreisen Kritik an den Praktiken kapitalistischer Unternehmen ebenso wie nachdrückliche Plädoyers für soziale Reformen gegeben:25  all das hatte aber die Bedeutung der britischen Ökonomie nicht wirklich in  Frage stellen können. auch hier führte erst die Krise von 1873 zu einem Wandel,  der  sich  freilich  als  Möglichkeit  bereits  abgezeichnet  hatte.  Joseph a.  Schumpeter jedenfalls konstatiert um 1870 einen Bruch in der Entwicklung  der  ökonomischen  analyse,  da  der  liberale  Wettbewerbskapitalismus  und  seine  normativität  mit  der  ökonomischen  Realität  eines  zunehmend  von  Großunternehmen  und  Kartellen  beherrschten  Wirtschaftsgeschehens  kaum  mehr vereinbar gewesen seien. Schumpeter plädiert deshalb dafür, 1870 als  Zäsur zu nehmen, weil sich  „um das Jahr 1870 ein neues Interesse an sozialen Reformen, ein neuer Geist des ‚historismus‘  und  neue  aktivität  auf  dem  Gebiet  der  ‚Wirtschaftstheorie‘  durchzusetzen  (begann), bzw. daß es zu einem Bruch mit der tradition kam, der so deutlich war, wie  dies  in  einem  Prozeß  eben  möglich  ist,  der  eigentlich  stets  kontinuierlich  verlaufen  muß.“26 

nach seiner auffassung war der Bruch ein bewusster akt:  „Der Bruch mit der tradition um 1870 wurde durch Wissenschaftler, deren namen mit  ihm verbunden  sind,  bewußt herbeigeführt: Ihnen  mag  der Bruch schärfer  erschienen  sein als dem historiker, was jedoch nicht heißt, daß er nur in ihrer Einbildung existierte.  auf  diese  ‚Revolutionen‘  folgen  zwei  Jahrzehnte  des  Streits  und  mehr  oder  weniger  hitziger Diskussionen.“27 

23  Etwa geoRg saRtoRius: Von der Mitwirkung der obersten Gewalt zur Beförderung des  nationalreichtums, in: johaNNes BuRKhaRdt / BiRgeR P. PRiddat (hg.): Geschichte der  Ökonomie, Frankfurt a. M. 2000, S. 354–374. 24  KaRL KNies: Die politische Ökonomie vom geschichtlichen Standpuncte, Braunschweig  ²1883, nachdruck Saarbrücken 2006. 25  jüRgeN ReuLecKe:  Sozialer  Frieden  durch  soziale  Reform.  Der  centralverein  für  das  Wohl der arbeitenden Klassen in der Frühindustrialisierung, Wuppertal 1983. 26  josePh a. schumPeteR: Geschichte der ökonomischen analyse, 2 teilbände, Göttingen  1965, S. 919. 27  Ebd.

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Erst seit den 1890er Jahren habe sich wieder eine gewisse harmonie in den  ökonomischen Wissenschaften abgezeichnet, die aber nicht von langer Dauer  gewesen sei; rasch danach sei es vermehrt zu Zeichen „bevorstehender Umbrüche und Revolutionen“ gekommen.28 Er kommt für die Jahre nach 1870  immerhin zu dem Schluss:  „Politisch gesehen unterstützte die ökonomische Fachwelt aller länder im großen und  ganzen eher die Gegenströmungen gegen den liberalismus als die immer noch vorhandenen liberalen Strömungen. In diesem Sinne können wir sagen, daß das Bündnis zwischen Wirtschaftswissenschaft und liberalismus – und mit einigen ausnahmen auch das  zwischen Wirtschaftswissenschaft und Utilitarismus – zerbrochen war.“29

Sicher ist jedenfalls, dass sich die Erwartungshaltungen an das staatliche handeln völlig änderten. Das liberale credo, dass der Staat die Rahmenbedingungen  zu  gewährleisten,  sich  aber  ansonsten  aus  der  Wirtschaft  rauszuhalten  habe, schien doppelt gescheitert: einmal wegen der Krise selbst, zum anderen  wegen  des  ökonomischen  Strukturwandels  und  der  herausbildung  großbetrieblicher Strukturen mit deren vermeintlich fatalen ökonomischen und sozialen Folgen.30 Sodann machte sich aber auch ein schwer benennbares Bedürfnis nach Schutz vor der kapitalistischen Kälte breit, wie thomas nipperdey  bemerkt:  „Dem  Zweifel  am  liberalismus  entsprach  eine  weit  verbreitete  Erwartung an den Staat, für abhilfe zu sorgen. Es blieben genügend Skeptiker gegenüber dem Staat, genügend anhänger der ‚freien‘ Wirtschaft, aber Staatsintervention war ein aktuelles thema.“ Entscheidend war wohl eine art Klimawandel. noch einmal nipperdey:  „Psychologisch kann man sagen, minderte die Krisenangst in einer eben in die moderne  Industriewirtschaft eintretenden Gesellschaft das Vertrauen der Einzelnen in sich selbst,  den  Markt,  die  Gesellschaft,  und  disponierte  umgekehrt  zur  Schutzsuche  beim  Staat,  beim starken Staat.“31

Diese Wendung zum Staat vor dem hintergrund ökonomischer Krisen einerseits,  intensiven  Strukturwandels  andererseits  hat  ein  teil  der  älteren  Forschung bei allen Differenzierungen zum anlass genommen, die Entstehung  einer art von „Organisiertem Kapitalismus“ zu konstatieren und den aufstieg  des Interventionsstaates zu diagnostizieren.32 Dieser neu sich herauskristallisierende  Interventionsstaat,  der  bereits  antizyklische  Konjunkturpolitik  be-

28  Ebd. 29  Ebd., S. 935. 30  hierzu geRhaRd a. RitteR / KLaus teNfeLde: arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871– 1914, Bonn 1992. 31  th. NiPPeRdey, Deutsche Geschichte, Bd. 3 (wie anm. 18), S. 388. 32  heiNRich august WiNKLeR (hg.): Organisierter Kapitalismus: Voraussetzungen und anfänge, Göttingen 1974.

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trieben  haben  soll,  sei  in  Deutschland,  so  hans-Ulrich  Wehler,  besonders  konservativ-antiliberal ausgefallen.  „Deshalb stellt er keineswegs einen politischen ‚Zwitter‘ (l. Gall) dar, sondern verkörperte  einen  anlauf  zur  etatistisch-korporativistischen  Steuerung  sozialökonomischer  Entwicklungsprozesse mit ihren krisenhaften Fluktuationen, um den vitalen Interessen  großer Wirtschaftsblöcke Rechnung zu tragen, durch die Wohlstandseffekte eines regulierten Wachstums die Massenloyalität zu erhalten und die legitimationsbasis des konservativen Machtkartells, erst in einem charismatischen, dann in einem polykratischen  herrschaftssystem, zu befestigen.“33 

Dieses  wortmächtige  Urteil  verzeichnet  gleichwohl  die  Entwicklung  der  staatlichen Wirtschaftspolitik  und  gibt  ihr  eine  Folgerichtigkeit,  die  nie  bestand.  So  zeigte  etwa  Volker  hentschel34  schon  1978,  dass  von  staatlicher  Wirtschaftspolitik  in  unserem  Sinne  auch  weiterhin  nicht  die  Rede  sein  konnte. Und jüngst entmythisierte cornelius torp auch den deutschen Protektionismus und die deutsche außenhandelspolitik der Zeit, die sehr viel weniger restriktiv, vor allem aber sehr viel weniger autonom war, als man lange  annahm. Sie ordnet sich vielmehr in ein Muster zunehmender internationaler  Verflechtung  ein,  das  nationalen alleingängen  kaum  Spielraum  ließ.35  Und  selbst in der doch scheinbar unstrittigen Sozialpolitik war im Grunde Mitte  der 1870er Jahre noch alles offen.36 nein, zwar wuchsen seit der Mitte der  1870er Jahre die Erwartungen an den Staat; aber was er tun sollte, war alles  andere als klar. 3. Der aufstieg des „historismus“ Die historische nationalökonomie stieß mithin in eine lücke, die durch die  Zeitumstände entstanden war, und sich auch aus der nachlassenden Überzeugungskraft  einer  ökonomischen  theorie  ergab,  die  auf  den  Strukturwandel  des Kapitalismus und die soziale Frage im Grunde keine antwort hatte. Ihre  Entstehung selbst war indes keine Reaktion auf Gründerkrach und Gründerkrise; die Wurzeln der historischen Ökonomie reichen deutlich weiter zurück,  ohne dass dem hier weiter nachgegangen werden kann. Im Kern aber war den  Gründern des Vereins für Socialpolitik 1872 klar, dass die normativität der  britischen Ökonomie, die in Deutschland vor allem mit der Freihandelsbewe33  h-u. WehLeR, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3 (wie anm. 22), S. 937. 34  VoLKeR heNtscheL: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im wilhelminischen Deutschland.  Organisierter Kapitalismus und Interventionsstaat?, Stuttgart 1978 35  coRNeLius toRP:  Die  herausforderung  der  Globalisierung.  Wirtschaft  und  Politik  in  Deutschland 1860–1914, Göttingen 2005. 36  geRhaRd a. RitteR:  Der  Sozialstaat.  Entstehung  und  Entwicklung  im  internationalen  Vergleich,  München  ³2010.  VoLKeR heNtscheL:  Geschichte  der  Sozialpolitik  (1880– 1980). Soziale Sicherung und kollektives arbeitsrecht, Frankfurt a. M. 1983. 

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gung und dem Manchestertum identifiziert wurde, nicht nur nicht reichte, sondern eine sinnvolle „Politikberatung“ einen anderen Zugriff auf die ökonomische und soziale Realität verlangte. am klarsten kam diese Entwicklung im  sogenannten  Methodenstreit  zwischen  carl  Menger  und  Gustav  Schmoller  zum ausdruck.37  Den ausgangspunkt  der auseinandersetzung  bildete  eine  Kritik  Schmollers,  die  zugleich  seine  eigene  Programmatik  verdeutlichte.  Denn Gustav Schmoller hatte carl Mengers grundlegendes Buch zur Volkswirtschaftslehre, das 1871 erschienen war und den anspruch erhob, die Volkswirtschaftslehre allgemeingültig darzustellen, deshalb kritisiert, weil es alle  relevanten  volkswirtschaftlichen  Fragen  ausschließlich  von  einem  „privatwirtschaftlichen“  Standpunkt  aus  behandele,  dies  zudem  in  spekulativer  Weise  tue  und  daher  auf  die  drängenden  Fragen  der  Gegenwart  überhaupt  keine antwort gebe. Menger leitete von einigen Grundannahmen (homo oeconomicus, Rationalität et cetera) das gesamte ökonomische Geschehen, insbesondere die Preisbildung ab, was in Schmollers augen die volkswirtschaftliche Realität verfehle, die man nicht mit spekulativen axiomen, die als naturwissenschaftliches Vorgehen verkleidet würden, sondern nur mit statistischen  und  historischen  Vorgehensweisen  angemessen  erfassen  könne.  Das  Kernstück  des  österreichischen  Marginalismus,  die  subjektive  Wertlehre,  teilte  Schmoller im Übrigen, auch wenn er hierauf keine allgemeine Wirtschaftslehre aufbaute, da so die komplexe volkswirtschaftliche Realität nicht begriffen werden könne. Schmollers Urteil über Mengers Buch dürfte über die sachliche Kritik hinaus auch deshalb zur Entfremdung zwischen beiden beigetragen haben, da sie wohl eine Rolle bei der Zurückweisung von Mengers erstem  habilitationsversuch 1873 mit teilen dieses Buches spielte. Jedenfalls wurde  der Streit sehr heftig und persönlich. letztlich ging es in dem Streit aber um  Politik,  weniger  um  die  Methoden  ökonomischer analyse  oder  theoriebildung, denn carl Menger trat dezidiert und wiederholt für einen passiven, zurückhaltenden Staat ein. Im Grunde waren für Menger, folgt man GrimmerSolems überzeugender Darstellung, die deutschen „Realisten“ mit ihrem Plädoyer für eine starke staatliche Sozialpolitik schlicht zu links. Seine Kritik an  Gustav Schmoller neigte daher dazu, unfair und polemisch zu werden. Menger vertrat letztlich eine art Konservativismus, der alles so lassen wollte, wie  es war, ja der sich auch deshalb gegen Statistik und statistische Erhebungen  aussprach. anders als man heute denkt, wenn das Stichwort ‚Methodenstreit‘  fällt, war Menger der „Organiker“, der gegen Eingriffe gleich welcher art am  gesellschaftlichen Körper wegen deren unkalkulierbarer Folgen eintrat. Insofern stand er Edmund Burke näher als adam Smith. Der hauptfehler der his37  Darstellung  nach  dieteR LiNdeNLauB:  Richtungskämpfe  im  Verein  für  Socialpolitik.  Wissenschaft  und  Sozialpolitik  im  Kaiserreich  vornehmlich  vom  Beginn  des  „neuen  Kurses“  bis  zum ausbruch  des  Ersten Weltkrieges  (1890–1914), Wiesbaden  1967,  S.  96–141. Ähnlich im Urteil eRic gRimmeR-soLem: the historical Economics and Social  Reform in Germany 1864–1894, Oxford 2003, S. 246ff.

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torischen Ökonomen war in dieser Sicht, dass sie sich mit der Politik eingelassen hatten, meint Grimmer-Solem:  „the Untersuchungen showed unequivocally that Menger was continuing an idealistic  and romantic tradition of economic thinking in which teleology and essentialist metaphysics were linked seamlessly with methodology and in which ‚exact theories’ were  not  subject  to  empirical  tests.  Menger  himself  made  explicit  that  this  was  a  tradition  hostile to both Enlightenment rationalism and liberalism. as both hansen and alter independently conclude, it was not Schmoller but Menger who was the intellectual heir of  idealism, romanticism, hegel, and the ‚older historical School‘.“38 

Schmoller  jedenfalls  wies  die  Mengerʼsche  Kritik  zurück.  Daraufhin  griff  Menger 1884 Schmoller direkt und persönlich an mit seiner Schrift „Die Irrthümer des historismus in der deutschen nationalökonomie“, auf die Schmoller  allerdings  nicht  mehr  reagierte.  Er  gab  das  Buch,  das  ihm  zugeschickt  worden war, mit der Bemerkung zurück, auf persönliche angriffe würde er  nicht  eingehen.  Damit  war,  soweit  es  Schmoller  betraf,  der  Methodenstreit  erledigt. Er zeigte vor allem, was den aufstieg der historischen Methode in  der Ökonomie so beflügelte: Ihr Realismus und ihre Bereitschaft, hiervon ausgehend zu vernünftigen politischen Schlüssen zu kommen, die, das war völlig  klar, nur in die Richtung sozialer Reformen gehen konnten. Das wollte Menger nicht.  Schmoller und lujo Brentano bezeichneten sich seit dieser Zeit gelegentlich selber auch als realistische Schule, ja Brentano behauptete gar, der wahre  Erbe adam Smiths zu sein, dem das, was dann als Manchestertum bezeichnet  wurde, fern gelegen habe.39 Jedenfalls war völlig klar, dass man auf der Basis  klarer Wirklichkeitserkenntnis zu politischem handeln kommen wollte. Die  später so umstrittene Werturteilsbereitschaft als teil auch des wissenschaftlichen  nachdenkens  hatte  hiermit  zu  tun:  Es  ging  um  die  aufdeckung  der  Strukturprobleme  des  Kapitalismus,  um  ihn  zu  reformieren.  Ökonomische  theorie trat hier also zugleich als Gesellschaftskritik auf, allerdings nicht in  klassenkämpferischer, sondern in irenischer absicht.40 Der Verein stand folgerichtig  auch  zunächst  zwischen  allen  Parteien,  zwischen  liberalen  und  Konservativen, Katholiken und Sozialdemokraten.41 Getragen wurde er insbesondere vom akademischen Bürgertum, in dem er besonders einflussreich  war. Sein politisches Ziel war klar: Der Staat sollte den Kapitalismus zur sozialen Marktwirtschaft umprägen (thomas nipperdey), da er in seinem derzeitigen Zustand langfristig nicht überlebensfähig sein würde. Im Kathederso38  Ebd., 256f. 39  Zu Brentano siehe seine autobiographie Lujo BReNtaNo: Mein leben im Kampf um die  soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1931. 40  hierzu grundlegend  e. gRimmeR-soLem, historical Economics (wie anm. 37), S.  89– 170. 41  thomas NiPPeRdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, adelswelt und Bürgergeist,  München 1990, S. 335ff.

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zialismus gab es dabei unterschiedliche ausprägungen: Schmoller setzte auf  ein historisch aufgeklärtes handeln des Staates, plädierte mitunter auch für  ein soziales Königtum, Wagner war für Staatssozialismus, Brentano schließlich  huldigte  einem  wenig  etatistisch  angehauchten  Sozialliberalismus,  in  dem  nach  englischem  Vorbild  die arbeitsmarktparteien  ihre  Interessenkonflikte  im  Streit,  dann  aber  konsensual  lösen  sollten. aber  der  gemeinsame  Impuls stand außer Frage: Der Staat musste handeln, um die arbeiterschaft zu  integrieren beziehungsweise die Voraussetzungen zu schaffen, damit arbeit  und Kapital in freier Vereinbarung zu einem ausgleich kamen. Das war zweifellos  noch  in  den  1860er  Jahren  eine  Minderheitsmeinung.  aber  mit  der  Gründerkrise bekam der bald so genannte „Kathedersozialismus“ Oberwasser, der in gewisser hinsicht auch vom aufstieg der Sozialisten profitierte, die  er  als  Symptom  der  ungelösten  Probleme  sah  und  hinstellte.42  auch  Bismarcks abkehr vom liberalismus Ende der 1870er Jahre förderte das kathedersozialistische Denken. Ohne diese Wende hätte es die staatliche Sozialpolitik kaum gegeben. all das begünstigte den aufstieg der wissenschaftlichen  „Sozialpolitik“. Deutschlands Pionierrolle auf diesem Gebiet geht nach nipperdey eben auch „auf die akademische, gemäßigt liberale Denktradition der  moralisch  orientierten  Wirtschafts-  und  Gemeinwohlpolitik,  auf  die  Bewegung der bürgerlichen Sozialreform also“ zurück.43 Zwar war die Frage der  Sozialpolitik  auch  im  Verein  für  Socialpolitik  selbst  zunächst  heftig  umkämpft,  doch  setzte  sich  die  „sozialpolitische  Richtung“  schließlich  immer  mehr durch.44 Zwar gab es keine direkten Beziehungen von Gustav Schmoller  zu Bismarck, dafür aber intensive Kontakte zu dem Spiritus Rector der Sozialgesetzgebung theodor lohmann: „What this shows is at a considerable degree of interaction developed in the 1870s between Schmoller, the Verein, and  sympathetic members of the Prussian bureaucracy not without consequences  for social insurance legislation.“45  Umstritten war im Verein für Socialpolitik vor allem, wie weit man sich  politisch engagieren sollte. lujo Brentano war unbedingt dafür inklusive öffentlicher agitation, während Schmoller für Zurückhaltung plädierte, vor allem gegenüber Parteien und der tagespolitik: „Schmoller thus believed that  while science was driven by normative impulses, it had to remain detached  from the political fray.“46 Die tagespolitik stellte in der tat ein großes Problem dar, weil sich hier zeigte, dass die aufkommende Richtung der historischen Ökonomie keineswegs mit einer Stimme sprach und nicht über ein kla42  Zum aufstieg der arbeiterbewegung vgl. KLaus schöNhoVeN: Die deutschen Gewerkschaften, Frankfurt a. M. 1988. Siehe auch heLga gReBiNg: Geschichte der deutschen  arbeiterbewegung von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2007. 43  th. NiPPeRdey, Deutsche Geschichte, Bd. 2 (wie anm. 41), S. 341. 44  E. gRimmeR-soLem, historical Economics (wie anm. 37), S. 185f. 45  Ebd., S. 186. 46  Ebd., S. 191.

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res Programm verfügte.47 Die auseinandersetzungen um den Protektionismus  führten 1879 den Verein in eine Zerreißprobe, der mit dem Rückzug der liberalen theoretiker, Politiker und Interessenvertreter endete. Der Vereinsvorsitzende Erwin nasse war ein entschiedener Gegner des Protektionismus, während  Gustav  Schmoller  moderate  Schutzzölle  akzeptierte, zumal  sie  die  Finanzspielräume  des  Reichs  vergrößerten.48  In  Frankfurt  votierte  der Verein  1879 nach heftigen auseinandersetzungen schließlich knapp für Schutzzölle,  damit auch gegen das Prinzip des weitgehenden Freihandels. Die knappe, für  den Verein geradezu existenzbedrohende Entscheidung führte in der Folge zu  einer  Dominanz  der  tendenziell  eher  sozialkonservativen  Bismarck-Unterstützer (Schmoller, Friedrich Georg Knapp et cetera), während die Bedeutung  der  Sozialliberalen  und  Freihändler  um  lujo  Brentano  abnahm.  Jedenfalls  verschaffte die Wende zum Schutzzoll dem Verein für die nächsten dreißig  Jahre den Ruf eines konservativen, protektionistischen Klubs, konstatiert Eric  Grimmer-Solem.49 Vor  allem  aber  zog  sich  der Verein  aus  der tagespolitik  zurück, die Wissenschaft trat in den Vordergrund. Der Verein verlor dadurch  allerdings, verglichen mit den 1870er Jahren, so Schmollers Wahrnehmung,  an Einfluss. Er wurde in der tat sehr viel stärker eine akademische Veranstaltung; von unmittelbaren politischen Ratschlägen hielt man sich fern. Schmollers bedächtige, abwartende art schlug sich auch nach der Jahrhundertwende  in der ersten Kartell-Enquete, in der er den Zeitpunkt einer politischen Entscheidung  für  oder  gegen  Kartelle  für  verfrüht  hielt:  Erst  genaue Wirklichkeitserkenntnis und kluge Schlussfolgerung könnten hier politischen Rat ermöglichen,  zumal  sich  die  Kartellfrage  ohnehin  jeder  Dogmatik  entziehe:  Man müsse sie im lichte der jeweiligen Umstände betrachten.50  Diese  Zurückhaltung,  dieses  abwägen,  abwarten  und  bestenfalls  vorsichtige Intervenieren waren aber keinesfalls von Feigheit oder Konfliktscheu  bestimmt.  Schmoller  mochte  keine  Ideologien,  war  aber  sonst  sehr  klar  im  Urteil: Entsprechend hart kritisierte er 1873 auch die Spekulanten und Korrupten der Gründerzeit, die den Krach erst herbeigeführt hatten. Von Eduard  lasker, der das alles im Reichstag zur Sprache gebracht hatte, war er tief beeindruckt. In einer öffentlichen Rede „Die soziale Frage und der preußische  Staat“ griff er laskers Kritik auf: Die Sozialdemokraten seien keine Feinde,  47  Vgl. hierzu auch Beate WagNeR-haseL: Die arbeit des Gelehrten: Der national-Ökonom Karl Bücher (1847–1930), Frankfurt a. M. 2011. Wagner setzte im Gegensatz zu  Brentano, aber auch zu Schmoller, noch viel stärker auf den Staat, ja entwickelte fast  eine art staatssozialistischer Vorstellung. 48  e. gRimmeR-soLem, historical Economics (wie anm. 37), S. 200. 49  Ebd., S. 202. 50  Zur  Weiterentwicklung  des  Vereins  nach  der  Frankfurter  Krise  vgl.  D.  LiNdeNLauB,  Richtungskämpfe  (wie anm.  37).  Vgl.  zur  Kartellenquete  fRitz BLaich:  Kartell-  und  Monopolpolitik im kaiserlichen Deutschland. Das Problem der Marktmacht im deutscheN Reichstag zwischen 1879 und 1914, Düsseldorf 1973.

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sondern ein Symptom der gesellschaftlichen Probleme, die durch solche typen wie Spekulanten erst hervorgerufen worden seien.51 Damit rief Schmoller  allerdings erhebliche Kritik auf den Plan, insbesondere von Seiten der liberalen. Schon der relativ kritiklose abdruck des Vortrags im „Socialdemokrat“  war ein Politikum, der Inhalt stieß erst recht auf scharfe Kritik. Man setzte  Schmoller mit dem Führer des aDaV Wilhelm hasenclever gleich. Schließlich  griff  der  Mitherausgeber  der  Preußischen  Jahrbücher  heinrich  von  treitschke selber zur Feder: „Der Socialismus und seine Gönner“ hieß seine  gegen  Gustav  Schmoller  gerichtete  politische  Polemik,  die  er  1874  in  den  Preußischen Jahrbüchern veröffentlichte. Schmoller antwortete unmittelbar:  Man könne nur den Kopf schütteln angesichts der Blindheit von treitschke  gegenüber der Realität.52 Diese haltung behielt Schmoller in der Zukunft bei:  Moderate Sozialreformen durch den Staat als angemessene antwort auf die  soziale Frage. Jede Repression der arbeiterschaft oder liberale Ideologie der  staatlichen Zurückhaltung wies er zurück. Das Sozialistengesetz lehnten die  Kathedersozialisten  folgerichtig  als  nutzlos  und  falsch  ab.  Das  folgte  der  Grundentscheidung: Ökonomie als tatsachenwissenschaft und Grundlage für  eine behutsame Sozialreform, die ihrerseits wiederum ein wichtiges Moment  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  werden  konnte.  Der  Wirtschaftsliberalismus war damit im Kern sowohl theoretisch wie politisch abgelehnt, ohne dass  allerdings die neue Richtung daraus den Schluss gezogen hätte, nun in ähnlicher Weise „politisch“zu werden, wie man das etwa dem Manchestertum unterstellte. Für  den aufstieg  und  andauernden  Erfolg  der  historischen  Ökonomen  waren letztlich, ohne dass das hier im Einzelnen darzustellen ist, drei Punkte  maßgeblich: Erstens gelang es in der Krise des liberalismus und der liberalen  Ökonomie jene themen zu besetzen, die der Mainstream lange vernachlässigt  hatte, die sich in der Krise zuspitzten und die durch den Strukturwandel des  Kapitalismus dauerhaft auf der tagesordnung bleiben würden. Da diese themen nach dem niedergang des politischen liberalismus auf der politischen  tagesordnung  obenan  standen,  gelang  es  ihnen  beziehungsweise  ihren  herausragenden Vertretern auch, in eine enge Beziehung zur Bürokratie Preußens  und des Reichs zu gelangen. Zweitens konnten die durchweg jungen Ökonomen sich in ihrer Universitätspraxis als Reformer etablieren. Sie entwickelten,  namentlich Gustav Schmoller und lujo Brentano in Straßburg in den 1870er  und 1880er Jahren,53 einen völlig neuen Stil zu lehren, zogen die Studenten  bereits im Studium in die Forschung und förderten die empirische arbeit, wo  sie nur konnten. Der große lehrerfolg ihrer frühen Jahre als Universitätsleh51  e. gRimmeR-soLem, historical Economics (wie anm. 37), S. 194. 52  Ebd., S. 195f. 53  gustaV VoN schmoLLeR: charakterbilder, München 1913; Lujo BReNtaNo: Elsässer Erinnerungen, Berlin 1917; vgl. schließlich stePhaN RoscheR: Die Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg, Frankfurt a. M. 2006.

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rer  verschaffte  ihnen  immensen  Zulauf  und  entsprechende  ausbildungserfolge, die bis in die USa ausstrahlten. Die nähe zur Bürokratie und die großen  Erfolge  an  den  Universitäten  ermöglichten  schließlich  auch  ihre  starke  Stellung  im  hochschulsystem,  namentlich  die  Förderung  durch  Friedrich  althoff,54 wodurch sie ihre Dominanz zumindest in Preußen recht lange behaupten konnten. Drittens schließlich boten sie auch programmatische alternativen zumindest zu jener Form britischer Ökonomie, die sich in Deutschland seit den 1840er Jahren durchgesetzt hatte und zuletzt nur wenige antworten auf Krisen und Strukturwandel zu geben wusste. Ihr antispekulativer  Realismus, der theoriebildung nicht ausschloss oder ablehnte, sondern an das  Ende der eigentlichen Forschung verschob, besaß zunächst vor allem den Vorteil, sich mit den realen Problemen der Wirtschaft zu befassen, und hatte überdies den charme, erkenntnistheoretisch nicht nur komplexer aufzutreten als  die  britische  Spekulation,  sondern  die  Ökonomie  als  breites  sozialwissenschaftliches Fach mit anschlussstellen an zahlreiche nachbardisziplinen zu  konstituieren. Die tatsache, dass auf diese Weise eine neue art der empirischen Forschung (historischer und statistischer art) möglich wurde und sich  der thematische Fokus der Ökonomie verschob, war allerdings um den Preis  erkauft, auf eine „allgemeine ökonomische theorie“ zumindest vorläufig zu  verzichten.55  Diese  theoretische  Schwäche,  die  Widersprüchlichkeit  eines  Forschungsansatzes, der deskriptive Momente als Grundlage normativer Setzungen nutzen wollte, sowie – einfach – das altwerden der Protagonisten, das  Erstarren  beziehungsweise  Selbstverständlichwerden  ihrer  lehr-  und  Forschungsinnovationen, schließlich der sich um die Jahrhundertwende abzeichnende Generationenwechsel – all das leitete spätestens seit 1900 den niedergang  des  historismus  in  der  Ökonomie  ein.  Bis  dato  hatte  er  freilich  eine  zentrale Rolle in der semantischen Konzipierung der staatlichen Wirtschafts-  und Sozialpolitik gespielt und damit auch zur neuausrichtung dieser Politik  nach dem Gründerkrach beigetragen. 4. Wirtschafts- und Sozialpolitik im Zeichen des „Kathedersozialismus“ Dass  der  „Kathedersozialismus“  zur  maßgeblichen  Inspiration  der  Wirtschafts-  und  Sozialpolitik  des  Kaiserreiches  geworden  sei,  wird  man  nicht  behaupten können. Dazu fehlte ihm die, wenn man so will, gesellschaftliche  Breite. Er war und blieb ein Projekt einer sozialkonservativ bis sozialliberal  54  Zum System althoff  BeRNhaRd Vom BRocKe: hochschul- und Wissenschaftspolitik in  Preußen  und  im  Deutschen  Kaiserreich.  Das  „System  althoff“,  in:  PeteR BaumgaRt  (hg.): Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, Stuttgart 1980, S. 9–118.  Vgl. auch aRNoLd sachse: Friedrich althoff und sein Werk, Berlin 1928. 55  Vgl. KaRL PRiBRam: Geschichte des ökonomischen Denkens, Frankfurt a. M. 1992, Bd.  2, S. 412–428. 

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eingestellten  Professorenschaft  und  hatte  zahlreiche  Unterstützer  in  der  Reichs- und preußischen Bürokratie. aber schon in den politischen Parteien  konnte er sich keineswegs einer breiten Unterstützung sicher sein. Die Bedeutung der „Sozialpolitik“, in deren Förderung der Markenkern des Kathedersozialismus bestand, war zwar ein wesentliches politisches thema von der Mitte  der 1870er bis zum Beginn der 1890er Jahre; hier gab es zum Beispiel über  den  erwähnten  Kontakt  Gustav  Schmollers  mit  Bismarcks  engem  Berater  theodor lohmann auch einen spürbaren Einfluss. lohmanns Gesetzentwürfe  beruhten weitgehend auf Vorarbeiten von Schmoller und Wagner.56 Mit dem  relativen  Bedeutungsverlust  der  Sozialpolitik  seit  der  zweiten  hälfte  der  1890er Jahre aber ließ auch deren politische Brisanz nach. In den Jahren vor  dem Ersten Weltkrieg kamen die „soziale Frage“ und die Sozialpolitik zwar  immer  wieder  auf  die  tagesordnung  (ausweitung  der  Sozialversicherung,  Status der angestellten et cetera), konnten allerdings keine größere Brisanz  entfalten, da der Wirtschaftsaufschwung das Problem deutlich entschärfte.57  Der  größte  und  dauerhafteste Einfluss der „Kathedersozialisten“ findet  sich  daher weniger in der unmittelbaren Wirtschafts- und Sozialpolitik der Zeit, als  vielmehr vor allem in der staatlichen Bürokratie, die seit den 1870er Jahren  den Wirtschaftsalltag im Wesentlichen auf dem Verordnungswege zu gestalten hatte. „am wichtigsten war der Einfluß der sozialreformerischen Professoren auf die Beamten, die ja ihre Schüler waren. Die Rolle der anwälte der  Sozialreform Schmollerscher Observanz war geradezu auf den konstitutionellen Beamtenstaat bezogen“, bemerkt thomas nipperdey.58 In der tat: nach  dem heftigen Streit um den Protektionismus, der den Verein für Sozialpolitik  fast die Existenz gekostet hätte, verzichtete man seit 1881 auf Schlussabstimmungen zu politischen Projekten nicht zuletzt deshalb, um Mobilisierungen  zu den Verbandstagungen, wie sie vor der Schutzzolltagung durch industrielle  Interessenvertreter  stattgefunden  hatten,  in  Zukunft  auszuschließen;  1905  wurde sogar die Zusammenfassung der tagung durch den Vorsitzenden eingestellt. Der Verein beeinflusste neben den direkten Kontakten zwischen Professoren und Beamten auch die öffentliche Meinung. Insbesondere die unter seiner Ägide verfassten, insgesamt 134 Studien zur sozialen Situation im Deutschen Reich, wirkten in der Öffentlichkeit „erzieherisch“ und flossen hin und  wieder auch direkt in Gesetzesvorlagen ein. Gelegentlich beteiligte sich der  Staat sogar an der Finanzierung von Vereins-Enqueten oder unterstützte sie  organisatorisch.59  In den 1870er Jahren und 1880er Jahren waren die öffentliche Bedeutung  und  der  direkte  wie  indirekte  Einfluss  des  Vereins  zweifellos  am  größten,  56  d. LiNdeNLauB, Richtungskämpfe (wie anm. 37), S. 35. 57  WoLfgaNg j. mommseN: Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm  II. 1890–1918, Berlin 1995, S. 380–395. 58  th. NiPPeRdey, Deutsche Geschichte, Bd. 1 (wie anm. 41), S. 371. 59  d. LiNdeNLauB, Richtungskämpfe (wie anm. 37), S. 28ff.

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auch, weil die liberalen Semantiken in dieser Zeit schwer angeschlagen blieben. Die Bismarckʼsche Sozialgesetzgebung jedenfalls wurde durch den Kathedersozialismus  nicht  nur  beeinflusst,  sondern  auch  semantisch  gerahmt.  Schmollers Berufung in den Preußischen Staatsrat 1883 brachte diese große  Bedeutung auch symbolisch zum ausdruck.60 Dies bedeutete freilich nicht,  dass die „empirische Schule“ in der nationalökonomie nun konkurrenzlos das  Feld beherrscht hätte; in der Großindustrie, namentlich der Schwerindustrie  des Saarlandes, des Ruhrgebietes und Schlesiens waren die Vorbehalte gegen  diese art der Sozialpolitik und ihre Propagierung massiv und wuchsen kontinuierlich  an.  Den  Widerstand  der  Großindustrie  speiste  neben  materiellen  Gründen auch und gerade das Bild der hartherzigkeit, das mit den Vorwürfen  des Vereins für Socialpolitik in der Öffentlichkeit entstand. noch zu Beginn  des 20. Jahrhunderts fühlte „der Groß- und Schwerindustrielle Emil Kirdorf  (…) sich und seinesgleichen in der öffentlichen Meinung des Bürgertums (…)  isoliert, ja moralisch disqualifiziert.“61 nicht zuletzt erschien die akademische  Sozialpolitik als Förderin oder Dulderin der SPD, die trotz aller sozialpolitischen Erfolge in den 1890er weiter an Bedeutung gewann. Die zahlreichen  Versuche  der  Reichsregierung,  gegen  die  Sozialdemokratie  vorzugehen,  scheiterten zwar;62 die hoffnung aber mit der Sozialpolitik die arbeiterschaft  von der SPD fernhalten zu können, erwies sich als illusorisch. Der Kaiser, der  sich nach 1890 zunächst als arbeiterfreund profilieren wollte, und die Reichsregierung verloren insofern das Interesse an der Sozialpolitik, die daher aus  dem Zentrum der Politik rückte. Die politische Konstellation, die in den1870er  Jahren die Sozialpolitik begünstigt hatte, drehte sich nun, weil seit dem Beginn einer neuen hochkonjunkturphase Mitte der 1890er Jahre die „soziale  Frage“  an  Brisanz  verlor. Vollbeschäftigung  und  steigende  Realeinkommen  spielten hierfür ebenso eine Rolle wie die nach und nach eintretenden Erfolge  der staatlichen Sozial- und Gesundheitspolitik und der kommunalen Daseinsfürsorge. Zahlreiche Großbetriebe hatten zudem ihre eigene Sozialpolitik entfaltet,  zum  teil  in  einem  Maße,  das  die  staatlichen  Bemühungen  deutlich  übertraf. Für den Generaldirektor der Elberfelder Farbenfabriken carl Duisberg jedenfalls waren der Verein und die herablassend als theoretisch bezeichnete Sozialpolitik kein Ärgernis mehr, eher schon das wiederholte öffentliche  Eintreten von lujo Brentano für die Gewerkschaften. Mit den Gewerkschaften wollte man sich nicht an einen tisch setzen, aber in der Sozialpolitik, da  machte Duisberg nach seinem Selbstbild niemand etwas vor.  Die  große  Bedeutung  für  die  Sozialpolitik  der  1870er  bis  1890er  Jahre  sollte indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass der wirtschaftspolitische Einfluss, die wirtschaftspolitische Bedeutung des Kathedersozialismus ansonsten  60  E. gRimmeR-soLem, historical Economics (wie anm. 37), S. 102ff. 61  th. NiPPeRdey, Deutsche Geschichte, Bd. 1 (wie anm. 41), S. 371. 62  W. J. mommseN, Bürgerstolz (wie anm. 57), S. 173ff.

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gering  war.  Dies  hatte  ganz  unterschiedliche  Gründe.  Einerseits  waren  Schmoller  und  sein  Umfeld  in  diesen  Fragen  zurückhaltend;  unmittelbare  Forderungen oder Interventionen, wie sie in ihren augen für das Manchestertum typisch waren, lehnte man ab. Sodann hatte der Streit um Protektionismus und Freihandel gezeigt, dass es eine einheitliche Meinung im Verein ohnehin  nicht  gab.  Schmoller  hatte  angesichts  der  europäischen  Entwicklung  einen moderaten Schutzzoll unterstützt; viele andere unter ihnen der Vereinsvorsitzende  Erwin  nasse  und  lujo  Brentano  blieben  hingegen  überzeugte  Freihändler.  Der  Streit  hierüber  hielt  an,  ja  verschärfte  sich  angesichts  der  verschiedenen  Zolldebatten  unter  caprivi,  Bülow  und  Bethmann-hollweg  immer wieder; eine einheitliche haltung des Vereins gab es vor 1914 nicht.  Und selbst wenn der Verein sich hier klar geäußert hätte; jüngst hat cornelius  torp gezeigt, dass die Möglichkeiten einer autonomen handels- und Zollpolitik ohnehin viel geringer waren als Jahrzehnte lang unterstellt.63 Durch seine  internationale Währungs- und handelseinbindung war das Deutsche Reich in  Zollfragen  de  facto  nur  sehr  beschränkt  souverän.  Ein  gleiches  gilt  für  die  Währungs-, Geld- und Zinspolitik, die durch den Goldstandard ebenfalls der  nationalen  Souveränität  entzogen  war.64  Bezogen  auf  die  handels-  und  Finanzpolitik  gab  es  mithin  nicht  nur  kaum  einen  Einfluss  der  „realistischen  Ökonomie“, sie war auch weit davon entfernt, antizyklisch angelegt zu sein,  wie hans-Ulrich Wehler das annimmt. Ordnungspolitisch die größte Brisanz  besaß ohnehin nicht dieser Bereich, sondern die Kartell- und trustpolitik. Der  ökonomische liberalismus hatte ja nicht zuletzt auch deshalb Probleme mit  der  Wirklichkeit  bekommen,  weil  der  Konkurrenzkapitalismus  der  Frühindustrialisierung im Zuge der technischen Entwicklung nach und nach, zumindest in wesentlichen Branchen, verdrängt worden war und einer eigentümlichen Gemengelage von Großunternehmen, Kartellen und Zusammenschlüssen Platz gemacht hatte – eine tendenz, die sich im Zuge der Großen Depression nachhaltig verstärkte. Die nationalökonomie war sich keineswegs sicher,  wie  diese  Entwicklungen  zu  beurteilen  seien.65  Daher  war  der  Verein  hier  auch  sehr  zurückhaltend  mit  der abgabe  von  grundsätzlichen  Stellungnahmen. Zweimal bestimmte das thema die Jahrestagungen, 1894 in Wien und  1905  in  Mannheim,  wobei  die  auffassungen  mit  der  Zeit  kartellkritischer  63  coRNeLius toRP: Erste Globalisierung und deutscher Protektionismus, in: sVeN oLiVeR müLLeR / coRNeLius toRP (hg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 422–440.  64  B. eicheNgReeN, Goldstandard (wie anm. 17), S. 54. Vgl. auch KaRL guNNaR PeRssoN:  an Economic history of Europe. Knowledge, Institutions and Growth. 600 to the Present, cambridge 2010, S. 175–178. 65  Bezeichnend hierfür RudoLf hiLfeRdiNg: Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, Düsseldorf 2000 (zuerst 1910). In der neuausgabe  auch eine Studie von BetRam schefoLd: Rudolf hilferding und die Idee des Organisierten  Kapitalismus,  Düsseldorf  2000. Vgl.  auch  dieteR KRügeR:  nationalökonomen  im  wilhelminischen Deutschland, Göttingen 1983, S. 74–101.

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wurden beziehungsweise einer staatlichen Beaufsichtigung der Kartelle das  Wort geredet wurde. Zumindest bei Schmoller herrschte hier eine pragmatische haltung vor; in der Krise mochten Kartelle ihren Sinn haben, im aufschwung konnten sie hinderlich sein. Der Staat sollte ein auge darauf haben  und gegebenenfalls intervenieren. Zu einer derartigen Regelung kam es vor  dem Ersten Weltkrieg freilich nicht mehr.66  Im Kern war die ordnungspolitische Vorstellung der „realistischen Ökonomie“  daher  pragmatisch,  liberal.  Eine  dogmatische  herleitung  der  Wirtschaftspolitik lehnte man ab; diese sollte vielmehr pragmatisch auf die jeweiligen herausforderungen reagieren und zu lösungen beitragen. Diese unausgesprochenen  Grundsätze  durchziehen  die  weiteren arbeiten  (und  Empfehlungen) des Vereins für Socialpolitik, sei es zur Gestaltung der Binnenwasserstraßen, zu den Kommunalsteuern oder zur Wohnungsfrage.67 Makroökonomische Grundsatzfragen zur wirtschaftlichen Entwicklung, zu Krisen oder zur  Produktivitätsentwicklung wurden nach 1900 häufiger thematisiert, ohne dass  es hier zu unmittelbaren Schlussfolgerungen gekommen wäre. Der Pragmatismus blieb die dominante linie wohl auch deshalb, weil sich mit ihm Grundsatzkonflikte vermeiden ließen, die ansonsten eine Existenzbedrohung für den  Verein dargestellt hätten.  5. Die Krise des historismus in der Ökonomie Dass  die  „realistische“  Richtung  in  der  nationalökonomie  seit  den  1890er  Jahre in eine Krise geriet und deutlich an Prägekraft verlor, könnte man zunächst schlicht mit einem erneuten Wechsel in der konjunkturellen Großwetterlage  erklären.  nach  dem  Ende  der  Großen  Depression  änderte  sich  die  Stimmungslage,  die  Zukunftserwartungen  wurden  optimistischer  und  die  angst vor den „revolutionären Umtrieben“ der Sozialdemokratie begann sich  zu legen.68 aber eine solche Erklärung greift nicht weit genug aus. Denn zunächst änderte sich an der staatlichen Wirtschafts- und Wirtschaftsordnungspolitik  in  Deutschland  wenig.  Der  liberale  Pragmatismus  behielt  die  Oberhand; wenn überhaupt bestand die Krise der „realistischen“ Schule bestenfalls  im Verblassen der Sozialpolitik. Gleichwohl muss von einer Krise des ökonomischen historismus gesprochen werden, die sich aus zwei wesentlichen, sich  66  d. LiNdeNLauB,  Richtungskämpfe  (wie anm.  37),  S.  39f.  fRitz BLaich:  Kartell-  und  Monopolpolitik  im  kaiserlichen  Deutschland.  Das  Problem  der  Marktmacht  im  deutschen Reichstag zwischen 1879 und 1914, Düsseldorf 1973. 67  Vgl. fRaNz Boese: Geschichte des Vereins für Sozialpolitik 1872–1932, Berlin 1939.  68  Zur  wirtschaftlichen  Entwicklung aLBeRt caRReRas / camiLLa josePhsoN: aggregate  Growth,  1870–1914:  Growing  at  the  Production  Frontier,  in:  stePheN BRoadBeRRy / KeViN h. o’RouRKe (hg.): the cambridge Economic history of Modern Europe, Bd. 2:  1870 to the Present, cambridge 2010, S. 30–58.

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bald miteinander vermischenden Flüssen speiste: Einerseits kam es zu einem  Generationenkonflikt; für die jüngere Generation waren die Errungenschaften  der „Realisten“ längst selbstverständlich geworden, an ihre heroische Phase  bei der Reform des Studiums erinnerte nicht mehr viel.69 Der Bedächtigkeit  ihres  Pragmatismus  entsprach  mittlerweile  die  Behäbigkeit  ihres  akademischen auftritts, von dem allein Brentano, der eine unterhaltsame ader hatte,  abstach. Moritz Julius Bonn, Jahrgang 1873 und renommierter Ökonom der  Zwischenkriegszeit,  ließ  an  seinen  akademischen  lehrern  aus  der  historischen Schule kaum ein gutes haar, von seinem Doktorvater Brentano abgesehen.  Über  den  alten  Karl  Knies,  bei  dem  Bonn  in  heidelberg  noch  gehört  hatte, heißt es: „Ich fiel in die hände von Karl Knies, eines großen Gelehrten,  aber denkbar schlechten lehrers. Während des ganzen Jahres, in dem ich ihn  hörte, hat er, glaube ich, keinen einzigen Satz zu Ende geführt. Er langweilte  uns und wir langweilten ihn wahrscheinlich noch mehr.“70 Schmoller sei ein  „Relativist“ gewesen. „Er sagte selten ‚ja‘ oder ‚nein‘. Er lehrte seine Schüler, alle wirtschaftlichen Probleme  als  formlose,  sich  immer  wandelnde  Phänomene  zu  betrachten,  deren  wahres  Wesen  man doch nicht ergründen könne. Daher tue man am besten, ihre Geschichte zu studieren; wer besonders rege, mutig und wißbegierig sei, könne allenfalls gegenwärtige Zustände beschreiben, solle sie aber nicht bewerten. Was die Wirtschaftspolitik angehe, so  sei es klug, sich zurückzuhalten; man solle sie den jeweiligen Machthabern überlassen;  wenn diese ihre Entscheidung gefällt hätten, könne man sie mit einschlägigen tatsachen  und guten Gründen rechtfertigen.“71 

Das war eine bösartige Verzeichnung einer in mancher hinsicht zutreffenden  Beobachtung; vor allem aber brachte sie die stille oder offene Verachtung zum  ausdruck, die Schmollers Programmatik mittlerweile auf sich ziehen konnte.  Beide Beobachtungen Bonns gingen allerdings in die richtige Richtung: Die  „Realisten“ waren alt und sie hatten keine klare Botschaft. Die jüngeren Ökonomen und Sozialwissenschaftler setzten sich daher einerseits vom Pragmatismus Schmollerʼscher art ab, andererseits suchten sie nach der allgemeinen  Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie, die ihnen Schmoller nun gerade nicht  geboten hatte. Die Welle der Marx-Rezeption bei zahlreichen jüngeren Wissenschaftlern entsprach dieser Konstellation, von den gesellschaftlichen Zuständen  auszugehen,  sie  aber  so  allgemein  zu  fassen,  dass  generalisierbare  aussagen  über  die  Gesellschaft,  die  Wirtschaft  und  deren  Wandel  möglich  wurden.72 Zumindest in ihrer Zurückweisung der englischen Klassik und in  69  Vgl. hierzu dieteR KRügeR: nationalökonomen im wilhelminischen Deutschland, Göttingen 1983. 70  moRitz juLius BoNN: So macht man Geschichte. Bilanz eines lebens, München 1953, S.  57. 71  Ebd., S. 53. 72  typisch hierfür die ansätze etwa Max Webers oder Werner Sombarts, die an einer theorie des modernen Kapitalismus interessiert waren und Schmollers gemächlichen Evolu-

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der geringen Rezeption der neoklassik, aber auch in ihrem ausgehen von den  realen tatsachen des gesellschaftlichen lebens erwiesen sie sich jedoch als  treue  Schüler  Schmollers,  dessen  ethischen  Pragmatismus  man  indes  nicht  gelten ließ.73 Die Krise des historismus in der nationalökonomie bestand zunächst in  ihrem  verblassenden  heroismus,  sodann  in  den  unklaren  methodischen  Grundlagen ihres ethischen Pragmatismus und schließlich in dem Fehlen einer allgemeinen theorie zum Verständnis der Gegenwart. hier sickerten im  deutschen Fall aber weniger allgemeine ökonomische theorien ein, etwa der  Grenznutzenschule  oder  später  der  allgemeinen  Gleichgewichtskonzepte,  sondern  kapitalismustheoretische  Überlegungen,  am  sichtbarsten  zweifellos  in Sombarts Studien zum modernen Kapitalismus.74 Die starke Position der  1870er Jahre war jedenfalls ohne eine moderne ökonomische theorie, zumindest aber eine sozialwissenschaftliche theorie der ökonomischen Moderne,  nicht dauerhaft zu behaupten. Die Krise des historischen Denkens in der Ökonomie war zumindest in Deutschland daher auch keineswegs der ausdruck  einer niederlage gegen die österreichischen Marginalisten oder die anderen  Vertreter der neoklassik. Wesentliche annahmen des historismus galten auch  weiterhin, insbesondere  die  Zurückweisung einer unhistorischen axiomatik  in den zentralen Begriffen und hiermit zusammenhängend die Zurückweisung  einer spekulativen ökonomischen theorie, die sich empirischen tests entzog.  Die Krise des historismus in der Ökonomie war kein später Sieg von carl  Menger über Gustav Schmoller, auch wenn im nachhinein sich der Eindruck  festgesetzt hat, die österreichischen Marginalisten seien als Sieger vom Platz  gegangen. Das waren sie, auch wenn Ökonomen wie Bonn anderes behaupteten und damit eine bis heute nachwirkende legende fabrizierten, keineswegs.  Die Programmatik einer realistischen Ökonomie hatte sich vielmehr im Wesentlichen gegen Mengers Kritik behaupten können. Faktisch aber trat Gustav  Schmoller vor 1914 für eine empirische Wirtschaftswissenschaft ein, die sich  angesichts mangelnder Daten zunächst auf historische und wenige statistische  Untersuchungen  beschränken  musste.  Ein  großer  teil  des  Forschungsprogramms  des  Vereins  für  Socialpolitik  war  Datenerhebung  und  Datensicherung.  Dieses  Forschungsprogramm  ist  den  heutigen  „Experimental  Econotionismus theoretisch, methodisch und programmatisch zurückwiesen. Vgl. hierzu insbesondere d. LiNdeNLauB, Richtungskämpfe (wie anm. 37). Vgl. auch RomaN KösteR:  Die  Wissenschaft  der außenseiter.  Die  Krise  der  nationalökonomie  in  der  Weimarer  Republik, Göttingen 2011. 73  Man  bezeichnete  Weber  und  Sombart  ja  auch  als  „jüngste  historische  Schule“.  Zum  nachwirken  Schmollers  josePh a. schumPeteR:  Gustav  von  Schmoller  und  die  Probleme von heute, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 50 (1926), S. 337–388. 74  WeRNeR somBaRt:  Der  moderne  Kapitalismus.  historisch-systematische  Darstellung  des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen anfängen bis zur Gegenwart, 3  Bände in 6 teilbänden, München 1916–1919 (zuerst 1902).

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mics“  im  Grunde  sehr  viel  ähnlicher  als  bisher  angenommen.  Und  mit  der  gegenwärtigen Ökonomie teilt Schmoller ja in gewisser Weise auch, dass ihm  vorgeworfen wird, zum allgemeinen Verständnis von Gesellschaft und Wirtschaft wenig beizutragen.  Die  hinwendung  eines  teiles  der  jüngeren  Generation  zu  Marx  beziehungsweise  zu  dem  Versuch,  den  Kapitalismus  theoretisch  zu  fassen,  war  (wenn auch der Marxismus kaum angenommen wurde, sondern die kritische  auseinandersetzung dominierte) im Kaiserreich immer noch ein Karriererisiko, wie unter anderem Werner Sombart erfahren musste.75 Viele angehörige  der  jüngeren  Generation  gingen  daher  andere Wege  –  in  gewisser  hinsicht  dem Vorbild Mengers und seiner neigung zur „Privatwirtschaft“ folgend, befassten  sie  sich  jetzt  mit  Unternehmen  und  Unternehmensgeschichte  und  suchten zum teil die enge anlehnung an die Privatwirtschaft, die der Verein  für  Socialpolitik  seit  1881  konsequent  ablehnte.  Vor  allem  im  nichtpreußischen Deutschland und an die aus dem Boden sprießenden handelshochschulen wurden nach der Jahrhundertwende immer weniger Vertreter der historischen Schule, sondern nicht selten deren erklärte Gegner berufen, wie Richard  Ehrenberg,  ludwig  Pohle, andreas  Voigt, adolf  Weber  und  ludwig  Bernhard, zwischen 1857 und 1875 geborene Ökonomen, die zum teil den Unternehmen nahestanden, auf jeden Fall aber die sozialethische Richtung Schmollers ablehnten.76 Damit zeichnete sich auch personell ein Ende des historismus  ab,  dessen  Kernsätze  einer  empirischen  Wirtschaftswissenschaft  von  dieser Krise freilich nicht betroffen waren. Der aufstieg der Sozialpolitik war  unter anderem eine Folge des Gründerkrachs und der ökonomischen Struktur-  und Rahmenbedingungen der 1870er Jahre. Ende des Jahrhunderts hatten sich  die Bedingungen geändert und der Problemdruck war, nicht zuletzt wegen des  Erfolgs der Sozialpolitik, geringer geworden.  6. Fazit Gustav  Schmoller  war,  um  noch  einmal  auf  den ausgangspunkt  zurückzukommen, ein völlig anderes Kaliber als John Maynard Keynes, auch wenn ihr  jeweiliger  aufstieg  im  Kontext  des  Zerbrechens  bisheriger  ökonomischer  leitvorstellungen während großer Krisen erstaunliche Parallelen hat. Keynes  ist uns heute in jeder hinsicht näher als Gustav Schmoller, über den Georg  Friedrich Knapp schrieb: 

75  Vgl. hierzu fRiedRich LeNgeR: Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie, München  1994. 76  D. KRügeR, nationalökonomen (wie anm. 69).

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Werner Plumpe „Er hatte keine nebenher laufende liebhaberei. Er war für theater, für Musik, für Bilder  nicht zu haben; er suchte nie den abendtisch von Kollegen auf, schon weil das Gespräch  weniger  seine  Sache  war;  auch  gab  es  keine  lieblingsdichter  für  ihn.  Selbst  wenn  er  aufs land ging, arbeitete er dort weiter, nur in leichteren Sachen, indem er zum Beispiel  Bücher für sein Jahrbuch anzeigte. aber daß er allen lebensgenuß entbehrt hätte, glaube  man nicht; was ihn so frisch erhielt bis zum 79. lebensjahr, versteht jeder, der ihn persönlich  kannte.  Man  muß  es  gesehen  haben,  wie  ihm  ‚im  hause  wohl  bereitet  war‘  durch die innige hingabe und das kluge Wirken seiner Frau, die die echteste Gehilfin  ihres Mannes war. Sie ersetzte ihm alles, was andere in Zerstreuungen suchen.“77 

Man unterschätzt indes Schmoller, wenn man ihn stets nur als alten Gelehrten  sieht. In seiner „heroischen Zeit“, den 1870er Jahren, war er ein junger Mann  – ein aspekt, der für seine Kreativität und seinen Durchsetzungswillen zweifellos eine wichtige Rolle spielte. Ähnlich wie bei Keynes jedenfalls, dessen theoretische Karriere ohne die  Weltwirtschaftskrise kaum vorstellbar gewesen wäre, so verdankte sich auch  Schmollers  aufstieg  zum  führenden  deutschen  Ökonomen  zweifellos  der  Gründerkrise und dem Gründerkrach. Er wusste diese chance, die sich ihm  recht plötzlich bot, zu nutzen. Sein thema – die „Soziale Frage“ – war ohnehin aktuell. Die Gründung des Vereins für Socialpolitik, der wissenschaftliche  Forschung  und  das  Eintreten  für  eine  gemäßigte  Sozialreform  miteinander  verband, war noch in der hochphase des Gründerbooms erfolgt. Schmoller  war hier von anfang an führend beteiligt. Er verband in der Folgezeit sehr  geschickt verschiedene semantische Stränge miteinander, die in der Verflechtung von Wissenschaft und Politik über die Beamtenausbildung und die Praxis des Vereins, theoretiker und Praktiker zusammenzubringen, zusammenliefen und ihm eine Zeitlang eine einmalige Stellung auch in der Öffentlichkeit  des  Deutschen  Reiches  erlaubten.  Er  revolutionierte  die  akademische  Ökonomie,  indem  er  die  empirische  Forschung  betonte,  die  angesichts  der  verfügbaren Materialien in jener Zeit im Grunde nur historisch sein konnte.  anders als Keynes aber gelang ihm nie der wissenschaftliche Schritt hin zu  einer „allgemeinen theorie“. Das hatte zweifellos mit der hinwendung zum  historischen Strukturwandel zu tun, aber wohl auch mit Bedächtigkeit. Entscheidend war die Zurückweisung des spekulativen charakters der britischen  theoretischen  Ökonomie  und  ihrer  im-  wie  expliziten  Grundannahmen.  Schmoller wollte und konnte sich nicht auf eine Ökonomie einlassen, die im  Grunde  spekulativ  war,  die  von  einer  Reihe  von axiomen  ausgehend  mehr  oder weniger formale Sätze über ökonomische Beziehungen aufstellte, deren  Realitätsbezug faktisch nicht zu überprüfen war beziehungsweise bei Inspektion mit gesundem Menschenverstand nicht existierte. Weder fand man in der  Realität  lupenreine  homines  Oeconomici  noch  allgemeine  Gleichgewichte,  77  geoRg fRiedRich KNaPP: Gustav von Schmoller, in: Frankfurter Zeitung, 6. Juli 1917,  wiederabgedruckt in: deRs.: ausgewählte Werke I: Einführung in einige hauptgebiete  der nationalökonomie, München/leipzig 1925, S. 363–367, hier S. 367.

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sondern eine Vielzahl an heterogenen Eindrücken, die erst zu ordnen waren.  Schmollers Vertrauen  auf  das  soziale  Königtum,  auf  eine  Sozialreform  aus  dem Geiste der Bürokratie, stützte sich letztlich auf die historisch belegte Reformfähigkeit des preußischen Staates. Seine politischen Empfehlungen waren daher auch selten konkret; er plädierte für den ausbau einer institutionellen Infrastruktur zur sozialen Integration des Kapitalismus, um diesen insgesamt leistungsfähiger zu machen. In die tagespolitik mischte er sich nicht ein;  selbst in so grundlegenden Fragen wie der Kartellpolitik plädierte Schmoller  zum Ärger vieler Mitglieder des Vereins für eine abwartende, geradezu bedächtige haltung. Schmollers Position war daher zu keinem Zeitpunkt verallgemeinerungsfähig,  sondern  blieb  an  die  spezifischen  deutschen  Umstände  gebunden, auch wenn der Kern seiner haltung (das antispekulative Moment,  die hinwendung zur empirischen Forschung, die Betonung der Institutionengestaltung und die vorsichtige artikulation evolutionärer Überlegungen) über  Joseph a.  Schumpeter  in  jenen  semantischen  Fundus  eingeflossen  ist,  von  dem heute die sogenannte heterodoxe Ökonomie zehrt. Immerhin aber konnte  Schmoller auf Gründerkrach und Gründerkrise eine konzise antwort geben:  Der  Kapitalismus  benötigt  eine  spezifische  soziale  Einbettung,  ohne  die  er  nicht nur an legitimität verliert, sondern auch an Effizienz. Schaffen kann das  allein oder zumindest vorrangig nur eine Bürokratie, die sich aus historischem  Bewusstsein heraus ihrer Verantwortung stellt. Krisen zerstören Sicherheiten und lösen Streit aus, das kann man spätestens seit hansjörg Siegenthalers Studie über Prosperität und Krisen wissen.78  Es  ist  dabei  nicht  allein  der  Streit  vorteilssuchender  ökonomischer akteure  nach für sie günstigen Regeln; der Streit geht viel tiefer, da er alle semantischen Schichten einer kapitalistischen Gesellschaft durchdringt. Restrukturierungen erfolgen dann, wenn es gelingt, hier zu semantischen Kopplungen zu  gelangen,  die  Bündelungseffekte  ermöglichen.  Keynes,  der  gerade  diese  Kopplungen musterhaft in seiner Person verkörperte, hat das sehr schön auf  den Punkt gebracht:  „Der nationalökonom  muss  Mathematiker sein, Geschichtsschreiber, Staatsmann  und  Philosoph (…) Er muss das Gegenwärtige im lichte des Vergangenen um der Zukunft  willen erforschen. Kein teil der menschlichen natur darf ganz außerhalb seines Blickfelds  liegen.  Er  muss  gleichzeitig  zweckhaft  und  uninteressiert  sein;  so  abseitig  und  unbestechlich wie ein Künstler, doch manchmal so nah der Erde wie ein Politiker.“79 

– kurz: wie John Maynard Keynes halt, möchte man ergänzen! Eine solche  semantische Kopplung, wie Keynes sie hier vorführt, ist auch mit dem namen  78  haNsjöRg siegeNthaLeR: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen handelns und  sozialen lernens, tübingen 1993. 79  Zit. nach KaReN hoRN: Ohne Märkte gibt es keine persönliche Freiheit. Milton Friedmans „Kapitalismus und Freiheit“, in: Merkur 736/737 (2010), S. 845.

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Werner Plumpe

Gustav Schmoller eng verbunden, der freilich – oberflächlich gesehen – ein  deutscher Sonderfall blieb, da er es nicht vermochte, eine „allgemeine theorie“ der Wirtschaft vorzulegen, in deren licht raumzeitunspezifische Generalisierungen möglich geworden wären. Keynes hat das geschafft – der Keynesianismus (welch sprechende Wortschöpfung!) war nicht nur eine antwort auf  die Weltwirtschaftskrise, sondern konnte sich zugleich im Rahmen der ökonomischen theorie als alternative zur neoklassik etablieren, die bis dato unter  anderem in Form eines zum teil recht radikalen liberalismus das ökonomische  Denken  vor  allem  in  Großbritannien  beherrscht  hatte.  Die  historische  Schule und ihr Kathedersozialismus haben diesen Status normativer Verbindlichkeit deshalb nie erreicht, weil sie eine allgemeine ökonomische theorie  und  ein  daraus  ableitbares  universales  normatives  Modell  nicht  vorlegten.  Das  geschah  wohl  weniger,  weil  man  es  nicht  konnte  oder  wollte,  sondern  vielmehr, weil man jene generalisierenden axiome nicht teilte, auf denen zumindest bislang jede formale und allgemeine theorie der Ökonomie aufsetzt.  Der ausweg, empirische historische Forschung zu betreiben und die mittel-  und langfristigen Bedingungen für eine soziale Integration des Kapitalismus  (Wirtschaftssoziologie) zu formulieren, blieb letztlich – nicht zwangsläufig,  aber faktisch – zeitlich und regional so gebunden, dass der „Kathedersozialismus“ als deutsche Sonderlehre erscheinen musste. Mit dem niedergang des  historischen Denkens in der Ökonomie als Reaktion auf die Überwindung der  Gründerkrise und in Folge des wilhelminischen Wirtschaftswunders entstand  daher in Deutschland eine lücke, die es zu füllen galt. Die jetzt beginnende  Suche nach den Bedingungen der Möglichkeit einer „allgemeinen theorie“  ging nun aber gerade nicht in Richtung der Übernahme österreichischer oder  angelsächsischer Konzepte, sondern wandte sich dem Kapitalismus und den  mit ihm vermeintlich verbundenen aporien der Moderne zu. Vor allen Dingen  diese Debatten haben, wie Roman Köster in diesem Band eindrücklich zeigt,  in der Weimarer Republik eine intensive Methodendebatte ausgelöst, da man  in der Mehrzahl weiterhin – trotz der Krise des historismus – nicht bereit war,  sich der Gleichgewichtsökonomie beziehungsweise der neoklassik in ihren  verschiedenen  Facetten  einfach  anzuschließen. aus  deren  Sicht  erschienen  nunmehr  die  deutschen  Ökonomen  als  weltfremd;  angesichts  der  tatsache,  dass sich der aufstieg der historischen Ökonomie gerade am fehlenden Realismus der englischen Klassik entzündete, eine bizarre Pointe. 

natIOnalÖKOnOMIE UnD ORDnUnGSPOlItISchE   DISKUSSIOn In DER WEIMaRER REPUBlIK Roman Köster Die  zwei  nachkriegszeiten,  die  Deutschland  im  20.  Jahrhundert  erlebt  hat,  haben beide den legitimitätsverlust der alten Ordnung gemeinsam. Sowohl  im Falle des Untergangs des Kaiserreichs 1918 wie auch dem Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft 1945 war bei aller Ungewissheit über  die Zukunft klar, dass es zu grundlegenden Änderungen der sozialen und ökonomischen  Ordnung  kommen  musste.  Wie  die  Geschichte  ausging,  ist  bekannt: Während sich die Bundesrepublik Deutschland erfolgreich aus der Misere befreien konnte, gelang es der Weimarer Republik nicht, ihre gravierenden sozialen und ökonomischen Probleme zu überwinden. Sicherlich sollte ein solcher Vergleich nicht überstrapaziert werden, aber  auffällig  ist,  dass  die  Etablierung  und  der  Erfolg  einer  sozioökonomischen  Ordnung im einen Fall einherging mit der Durchsetzung eines ordnungspolitischen Paradigmas, nämlich der „Sozialen Marktwirtschaft“, während im anderen Fall die krisengeschüttelte Weimarer Republik gerade keine ordnungspolitische leitvorstellung ausbildete. Stattdessen kam es zu politisch-ideologischen Grabenkämpfen und ausbrüchen politischer Gewalt. In der Weltwirtschaftskrise setzte sich schließlich auf breiter Ebene die ansicht durch, das  Schicksal der freien Wirtschaft sei besiegelt, wobei über die Form der neuen  Ordnung allerdings keine Einigkeit bestand. So schwierig es dabei ist, Ursache und Wirkung klar zu benennen, scheint  es doch keine allzu gewagte aussage, dass ein ordnungspolitisches Konzept  wie das der „Sozialen Marktwirtschaft“ seine legitimität und sicherlich auch  einen teil seiner intellektuellen Kraft aus dem ökonomischen Erfolg gewann.  Inwiefern  das  Konzept  durch  in  seinem  Sinne  erfolgte  institutionelle  Weichenstellungen zu diesem Erfolg beitrug, ist eine Frage von Zuschreibungskämpfen. an dieser Stelle genügt ein hinweis darauf, dass ein Modell ökonomischer  Integration  der  Gesellschaft  auf  der  einen  Seite  zwar  plausibel  erscheinen musste, nachdem das Modell politischer Integration im nationalsozialismus jede legitimität verloren hatte. auf der anderen Seite war es aber  angesichts der Bedingungen der unmittelbaren nachkriegszeit und der Erfahrungen der letzten dreißig Jahre auch äußerst gewagt. aus diesem Grund erscheint die Frage, warum es der Weimarer Republik  nicht gelang, ein vorherrschendes ordnungspolitisches Paradigma zu entwickeln, eng verwoben mit der Frage nach den Gründen für ihr Scheitern. Da 

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Roman Köster

das aber eine viel zu umfassende themenstellung ist, beschränkt sich dieser  aufsatz  auf  das  akademische  Fach  nationalökonomie  und  beschäftigt  sich  anhand dieses teilaspekts etwas eingehender mit dem Problem. Es soll gezeigt werden, dass die handfesten Krisen der Weimarer Republik auf die ausbildung von Ordnungskonzeptionen in der Disziplin eine schwere hypothek  legten. trotzdem dürfte mit dieser Feststellung allein die Frage, warum sie –  anders  als  nach  1945  –  keine  klare  leitvorstellung  ausbildete,  nicht  zureichend  beantwortet  sein.  Daran  schließt  sich  das  Problem  an,  inwiefern  die  Diskussionen innerhalb des Faches für die ordnungspolitischen Debatten dieser  Zeit  insgesamt  charakteristisch  waren.  In  diesem  Zusammenhang  wird  dann auch zu einigen, gerade aktuellen Interpretationen der Weimarer Republik Stellung bezogen. 1. Der Untergang des Kaiserreichs und das Ende der historischen Schule Zunächst gilt es einige Worte zur lage der deutschen nationalökonomie nach  dem Ersten Weltkrieg zu verlieren. In der literatur ist viel geschrieben worden über den schlechten Zustand des Faches in den 1920er Jahren, dem angeblich geringen niveau und der theorieferne der Forschung.1 als Ursache  wird  dabei  zumeist  der  fortdauernde  Einfluss  der  Jüngeren  historischen  Schule identifiziert, welche die Durchsetzung der ökonomischen theorie angelsächsischer oder österreichischer Prägung in Deutschland verhindert habe.  Dabei war aber für die in der tat vorhandenen Probleme des Faches eigentlich  nicht die Kontinuität der historischen Schule verantwortlich, sondern die tatsache, dass sie mit dem Ersten Weltkrieg unterging, nachdem sie bereits seit  der Jahrhundertwende ihre Dominanz zunehmend verloren hatte.2 Die Gründe hierfür können an dieser Stelle nur knapp angerissen werden.  ausschlaggebend waren in erster linie zwei Dinge: Zum einen hatte die historische Schule ihr Erkenntnisprogramm stark an die annahme eines kontinuierlichen Institutionenfortschritts gekoppelt, der zu einer zunehmenden „Versittlichung“ der Gesellschaft führen sollte. War diese Vorstellung schon vor  dem Krieg beispielsweise von Max Weber und Werner Sombart im Rahmen  ihrer Kapitalismusanalyse scharf kritisiert worden, wurde sie durch den Ersten Weltkrieg ad absurdum geführt. Zweitens war das Ziel der historischen  Schule, als Resultat vereinter Forschungsanstrengungen zu empirischen Ge1 

2 

cLaus-dieteR KRohN:  Wirtschaftstheorien  als  politische  Interessen.  Die  akademische  nationalökonomie in Deutschland 1918–1933. Frankfurt a. M./new York 1981. allgemein  zur  deutschen  nationalökonomie  vgl.  auch  hauKe jaNsseN:  nationalökonomie  und  nationalsozialismus.  Die  deutsche Volkswirtschaftslehre  in  den  dreißiger  Jahren,  Marburg 22001.  Dazu RomaN KösteR: Die Wissenschaft der außenseiter. Die Krise der nationalökonomie in der Weimarer Republik, Göttingen 2011, S. 31ff.

nationalökonomie und ordnungspolitische Diskussion in der Weimarer Republik  45

setzen des Wirtschaftslebens zu gelangen, an die Vorstellung gebunden, die  Menge der tatsachen sei forschungspraktisch beherrschbar. Der Weltkrieg erzeugte jedoch solche Mengen an neuen Fakten und neuem empirischem Material,  dass  ihr  Erkenntnisprogramm  allein  vor  diesem  hintergrund  als  eine  aussichtslose Sysiphus-arbeit erscheinen musste. Stattdessen galt die theoretische  Zusammenfassung  und  Ordnung  der  tatsachen  als  das  Gebot  der  Stunde. hinzu kam, dass während und kurz nach dem Krieg zahlreiche autoritäten des Faches verstorben waren, unter anderem Gustav Schmoller, adolph  Wagner oder Max Weber, während andere wie lujo Brentano oder Karl Bücher bereits sehr alt waren und nur noch selten das Wort ergriffen; Brentano  vor  allem  mit  seinem  öffentlichkeitswirksamen austritt  aus  dem Verein  für  Sozialpolitik 1923.3 Spätestens anfang der 1920er Jahre begann das Fach, sich kritisch mit  seiner tradition auseinandersetzen – und es war diese Zeit, in der die historische Schule das schlechte Image bekam, welches ihr bis in die jüngste Zeit  anhaftet. Selbst ein lange so treuer Schmoller-Schüler wie hermann Schumacher schrieb 1930 vom unheilvollen Einfluss der historischen Schule auf die  Entwicklung des ökonomischen Denkens in Deutschland.4 Wenn letztere weiter fortlebte, dann eigentlich nur als Gegenstand von Schuldzuweisungen für  den schlechten Zustand des Faches, während sich kaum noch jemand zu dieser,  wenige  Jahre  zuvor  noch  vorherrschenden  Richtung  bekennen  mochte.  arthur Spiethoff, Schmoller-Schüler und herausgeber von „Schmollers Jahrbuch“, meinte 1932 resigniert, es gäbe wohl noch den ein oder anderen historisch  arbeitenden  nationalökonomen,  von  einer  Schule  ließe  sich  aber  nun  wirklich nicht sprechen.5 Der hauptsächlich durch den Untergang des Kaiserreichs bedingte Paradigmenverlust stürzte das Fach in eine Krise, die vor allem durch das nebeneinander  zahlreicher  verschiedener  Richtungen  charakterisiert  war,  die  sich  untereinander scharf bekämpften. aus der unüberschaubaren Vielzahl an Krisendiagnosen  sollen  hier  nur  zwei  Beispiele  angeführt  werden.  laut alfred  amonn befand sich die nationalökonomie in einem Zustand der Verwirrung.  Ihre Entwicklung sei ausgeartet in einen „wilden anarchismus (…), in dem  jeder für sich seine eigenen Gesetze (…) macht und für sich unabhängig von  allem, was vor ihm auf dem Gebiete der Wissenschaft geschehen ist oder neben  ihm  geschieht,  sein  System  errichtet.“6  Werner  Sombart  begann  seine  3  4  5  6 

Lujo BReNtaNo: Mein leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena  1931, S. 399f. heRmaNN schumacheR: artikel: Staatswissenschaften, in: gustaV aBB (hg.): aus fünfzig Jahren deutscher Wissenschaft, Berlin 1930, S. 136–158, 142. fRaNz Boese (hg.): Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik in Dresden 1932, München 1932. aLfRed amoNN: Objekt und Grundbegriffe der theoretischen nationalökonomie, leipzig  1911, S. 2.

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Roman Köster

Drei Nationalökonomien von 1929 mit dem Satz: „In der Wissenschaft, die  der deutsche Volksmund seit jeher und immerdar als nationalökonomie bezeichnet hat, ist alles, was bestimmt sein sollte, unbestimmt: sogar der Gegenstand mit dem sie sich beschäftigt.“7 Es sollte während der gesamten Zeit der  Weimarer Republik nicht gelingen, die internen Probleme zu lösen.8 Die  Krise  der  nationalökonomie  hatte  verschiedene  Ursachen,  die  hier  nur knapp genannt werden können. Sie hatte unter anderem damit zu tun, dass  das Fach seine neubegründung nicht in gebotener Ruhe, sondern unter dem  massiven  Druck  ökonomischer  Problemlagen  leisten  musste.  Zu  einem  gewichtigen teil  muss  die  Krise  auch  als  selbstreferentieller  Prozess  gesehen  werden, denn es waren häufig gerade die Versuche, sie zu überwinden, die zu  ihrer Verschärfung beitrugen. Das zeigte sich besonders an einer breit geführten Methodendebatte, in der grundlegende Begriffe und Kategorien der nationalökonomie geklärt werden sollten. In der Diskussion über erkenntnistheoretische Grundsatzfragen schienen sich mitunter noch die letzten Gewissheiten zu verflüchtigen. Manche Wissenschaftler meinten sogar, die epistemologischen  Probleme  des  Faches  nur  durch  den  Entwurf  einer  neuen  Begriffssprache  lösen  zu  können.9  Der  heidelberger  nationalökonom  arthur  Salz  schrieb  1927  folgerichtig,  die  nationalökonomie  leide  so  sehr  unter  dem  Übermaß von Selbstkritik, „dass sie (…) über die Frage, wie man richtig gehen muss, das Gehen selbst verlernte.“10 Ganz wesentlich hing diese Krise jedoch auch mit dem Problem zusammen, dass mit der neubegründung des Faches gleichzeitig eine antwort auf  das Ordnungsproblem der Weimarer Republik gegeben werden sollte. Immer  wieder stand die Frage im Fokus, im Rahmen welcher Ordnung die diagnostizierte  Krise  der  Weimarer  Republik  überwunden  werden  konnte.  Diese  Grundsatzdiskussionen verschärften den Dissens innerhalb des Faches, zumal  sich ordnungspolitische Vorstellungen als eng verknüpft mit der epistemologischen Begründung nationalökonomischer theoriebildung erwiesen. 2. anforderungen an die neue Ordnung Die Krise des Faches steht in einem eigenartigen Kontrast dazu, dass die nationalökonomie eine Zeit lang nach dem Ersten Weltkrieg geradezu als eine  Modewissenschaft galt. Das hatte einerseits mit scheinbar günstigen berufli7 

WeRNeR somBaRt: Die drei nationalökonomien. Geschichte und System der lehre von  der Wirtschaft, Berlin 1930, S. 1. 8  R. KösteR, Wissenschaft (wie anm. 2), S. 307ff. 9  Z. B. fRiedRich V. gottL-ottLiLieNfeLd: Die wirtschaftliche Dimension. Eine abrechnung mit der sterbenden Wertlehre, Jena 1923. 10  aRthuR saLz:  theorie  und  Praxis  in  der  Wirtschaft,  in:  Der  Deutsche  Volkswirt.  2/1. hbb. (1927), S. 269–272, 271.

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chen aussichten zu tun – bis 1923 wurde das Studium nach lediglich sechs  Semestern mit der Promotion abgeschlossen und schien durch die zahlreichen  Verbandsgründungen nach 1918 gute Karrierechancen zu eröffnen.11 auf der  anderen Seite galt die nationalökonomie aber auch als die Wissenschaft, der  am ehesten zugetraut wurde, die neuen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Realitäten der Weimarer Republik zu beschreiben und zu erklären. Das  war auch der anspruch, den das Fach selbst an sich stellte, nämlich Orientierung in einer sich rapide verändernden Wirklichkeit zu ermöglichen. Sie beschränkte ihren Gegenstand also keineswegs auf die analyse ökonomischer  tauschbeziehungen,  sondern  wollte  die  gegenseitige  Bedingtheit  von Wirtschaft und Gesellschaft aufzeigen. Dieser Erklärungsanspruch hatte zunächst mit der Wahrnehmung zu tun,  dass sich mit Kriegsniederlage, Revolution und Republikgründung nicht einfach „nur“ das politische System geändert hatte. Vielmehr wurde ein fundamentaler Wandel  auf  allen  Ebenen  wahrgenommen,  der  den  Untergang  der  Ordnung  des  Kaiserreichs  feststellte  und,  damit  einhergehend,  den  Bedeutungsverlust eines genuin bürgerlichen Wertekosmos diagnostizierte. Eine auf  Meriten, Stand und Bildung beruhende Gesellschaftshierarchie – mithin die  herrschaft der alten über die Jungen – war nun durch etwas neues zu ersetzen, in dem das politische System die sozialökonomische Struktur der Gesellschaft repräsentierte und der tendenziellen auflösung der trennung zwischen  Staat und Gesellschaft Rechnung trug. harry Graf Kessler merkte bereits in  einem  tagebucheintrag  vom  6.  Dezember  1918  an,  dass  das  Bildungsideal  durch den Weltkrieg getötet worden sei. an seine Stelle müsse nun das Ideal  der tüchtigkeit treten.12 Erik Reger schrieb in seinem Roman „Union der festen hand“ 1931 davon, die Wirtschaft, die früher nur an der „Peripherie der  romantischen Idylle Deutsches Kaiserreich“ geduldet worden sei, habe sich  nach 1918 zum „allmächtigen Götzenbild republikanischer Gläubigkeit“ gewandelt.13 Überall wurde die gestiegene aufmerksamkeit für wirtschaftliche  und soziale Fragen vermerkt, was unter anderem dazu führte, dass sich die  Zahl der Studierenden des Faches nationalökonomie innerhalb kürzester Zeit  verfünffachte.14 Die geforderte neue theorie, beziehungsweise zeitgenössisch: das „neue  System“, hatte insofern die soziale und wirtschaftliche Realität zu erfassen,  11  Vgl. RomaN KösteR: Die deutsche nationalökonomie in den 1920er Jahren und die Einführung des Diplomexamens, in: RaiNeR PöPPiNghege / dietmaR KLeNKe (hg.): hochschulreformen  früher  und  heute.  autonomie  oder  gesellschaftlicher  Gestaltungsanspruch?, Essen 2011, S. 56–81, 59ff. 12  haRRy gRaf KessLeR: tagebücher 1918–1937, hg. v. WoLfgaNg PfeiffeR-BeLLi, Berlin  1961, S. 62. 13  eRiK RegeR: Union der festen hand. Roman einer Entwicklung, Berlin 1946, S. 317. 14  nach der Inflation sank sie, vgl. haRtmut titze: Das hochschulstudium in Preußen und  Deutschland 1820–1944, Göttingen 1987, S. 156ff.

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war aber gleichzeitig mit dem Problem konfrontiert, dass mit der Installierung  eines politischen Systems soziale Ordnung gerade noch nicht hergestellt war,  implizierte der Umbruch von 1918 doch, dass das politische System die Gesellschaft gewissermaßen zu repräsentieren habe, anstatt dass umgekehrt das  politische System die soziale Ordnung konstituiere. So schnell es im november  1918  gelungen  war,  eine  jahrzehntelang  als  geradezu  übermächtig  erscheinende Ordnung zu beseitigen, so schwierig gestaltete sich der neuaufbau. Dabei gehörte es zu den grundlegenden Erfahrungen der nachkriegszeit  mit Versorgungsengpässen,  Eruptionen  der  politischen  Gewalt  und  schließlich der traumatischen Zerstörung der individuellen Erwartungssicherheit in  der Inflation, dass das Ordnungsversprechen der „unsichtbaren hand“ offensichtlich versagte. Es ist der deutschen nationalökonomie später oftmals angekreidet worden, dass sie nach 1918 nicht auf die bereits vorhandene, abstrakte  ökonomische  theorie  der  Österreichischen  Schule  zurückgriff.15  Jedoch  ist  darauf  zu  verweisen,  dass  diese  sowohl  die  Selbstregulierung  der  wirtschaftlichen Ordnung proklamierte, als auch Machtfaktoren sich immer  nur im Rahmen ökonomischer Gesetze auswirken sah.16 Unter den Bedingungen der Zeit nach 1918 mussten beide annahmen schlicht als unrealistische  Stilisierung erscheinen.17 Wenn sich die neue Ordnung nicht von selbst herstellte, wem sollte diese  aufgabe dann zufallen? abgesehen von jenen, die, wie etwa die Vertreter der  Österreichischen Schule,  den Ordnungsverlust zwar nicht  bestritten, ihn jedoch  primär  als  Resultat  der  Versuche  sahen,  soziale  Ordnung,  einem  bestimmten Ziel folgend, interventionistisch zu gestalten, war die antwort zumeist: der zielgerichtet handelnde Mensch. Die antwort auf das Ordnungsproblem der Weimarer Republik bestand insofern in Intervention und Organisation. Dabei handelte es sich um einen ubiquitären Grundzug der nationalökonomischen  Debatten,  abgesehen  von  wenigen  standfesten  liberalen,  ökonomische Ordnung mit konkreter Organisation zu verkoppeln, also nicht  länger einfach nur einen juristischen Rahmen zu setzen, sondern konkret zu  intervenieren. Das ging tendenziell einher mit einer Geringschätzung der ordnungsstiftenden Kraft des Rechts, worin sich gleichfalls ein Bruch gegenüber  dem Kaiserreich sehen lässt, für das die Jurisprudenz in vielerlei hinsicht die  leitwissenschaft gewesen war.

15  Z. B. haRaLd WiNKeL: Die deutsche nationalökonomie im 19. Jahrhundert, Darmstadt  1977, S. 118. 16  Vgl. dazu den klassischen aufsatz von eugeN VoN Böhm-BaWeRK: Macht oder ökonomisches  Gesetz?,  in:  Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung  23  (1914), S. 205–271. 17  Z. B. haNs hoNeggeR, Zur Krisis der statischen nationalökonomie, in: Schmollers Jahrbuch 48 (1924), S. 473–490, 482.

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Ein gutes Beispiel dafür ist die Debatte um Kartelle und Monopole, deren  Zahl während der 1920er Jahre massiv anstieg.18 Während der freie Wettbewerb angeblich die tendenz hatte, zu einem anarchischen Kampf zu mutieren,  sollten Kartelle als eine ordnungsstiftende Kraft wirken, die das Wirtschaftsleben befriedeten. Selbst Wirtschaftsliberale beschrieben in dieser Zeit eine  kartelliert-organisierte  Ökonomie  mit  nahezu  derselben  Begrifflichkeit,  mit  der sie vormals die freie Verkehrswirtschaft bedacht hatten.19 Es konnten sich  aber  auch  ganz  andere  Vorstellungen  Bahn  brechen,  die  auf  eine  Selbstermächtigung des Menschen und die rationale Planung gesellschaftlicher Prozesse zielten. Das „Gestaltungsbewusstsein“, von dem kürzlich im hinblick  auf  die Weimarer  Republik  gesprochen  wurde,20  hatte  hier  seinen  Ort: aus  dem Untergang des Kaiserreiches resultierte eine historische Offenheit, welche die Schaffung von Ordnung dem gestaltenden Menschen anheim legte. Diese historische Offenheit markiert eine scharfe Differenz zwischen der  ordnungspolitischen Diskussion der Weimarer Republik und den, häufig von  einer Fin de Siècle-Stimmung getragenen Debatten des späten Kaiserreiches.  letztere kreisten insbesondere darum, ob man sich in einem geschichtsphilosophischen  heilsversprechen  geborgen  fühlen  konnte  oder  ob  die  Entwicklungslogik des Kapitalismus nicht den Menschen unter das Joch einer stahlharten  Rationalität  zwang,  das  die  Ganzheit  seiner  Persönlichkeit  verkümmern ließ.21 aus letzterer Perspektive war nicht der Verlust von Ordnung das  Problem, sondern vielmehr deren Übermacht.22 hingegen erfolgte die historische Selbstverortung nach dem Ersten Weltkrieg zumeist auf die Weise, die  aktuelle  Situation  zu  einer  Phase  der  Selbstermächtigung  des  Menschen  zu  erklären – also entweder als ahistorischen Zustand per se oder als jenen als  „Krise“  apostrophierten  Zustand,  der  die  Phase  einer  grundlegenden  Entscheidung zwischen alternativen beinhaltete. Vor dem hintergrund einer solchen Selbstermächtigung erwies sich indes  die  Frage  als  entscheidend,  nach  welchem  Bilde  Ordnung  gestaltet  werden  sollte. Durch die Debatten der 1920er Jahre geisterten dabei zahlreiche „natürliche“ Ordnungen, die es zu verwirklichen galt. Diese waren aber stets mit  der  Verlegenheit  konfrontiert,  keine antwort  auf  die  Frage  parat  zu  haben,  warum  sich  eine  „natürliche“  Ordnung  nicht  auch  auf  „natürliche“ art  und  18  hoRst WageNfühR: Kartelle in Deutschland, nürnberg 1931, S. XIII. 19  adoLf WeBeR:  Das  Ende  des  Kapitalismus?  Die  notwendigkeit  freier  Erwerbswirtschaft, München 21929, S. 72f. 20  RüdigeR gRaf: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen  in Deutschland 1918–1933, München 2008. 21  max WeBeR: Zwischenbetrachtung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: deRs.:  Gesammelte aufsätze zur Religionssoziologie I, S. 536–573; emiL LedeReR: Deutschlands  Wiederaufbau  und  weltwirtschaftliche  neueingliederung  durch  Sozialisierung.  tübingen 1920, S. 5. 22  detLeV j. K. PeuKeRt: Max Webers Diagnose der Moderne, Göttingen 1989, S. 55ff.

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Weise durchsetzte. letztlich handelte es sich hier aber auch nur um eine Spielart eines ausgeprägt hangs zur Utopie in den 1920er Jahren, von Martin Buber zeitgenössisch definiert als der Entwurf einer Gesellschaft, als ob es keine  anderen  Faktoren  als  den  Menschenwillen  gäbe.23  Es  soll  allerdings  später  noch  darauf  hingewiesen  werden,  dass  dieser  Utopismus  auf  heuristischer  Ebene eine antwort auf ein konkretes Problem darstellte, und sich letztlich  sogar  als  pragmatische  Verarbeitung  einer  spezifischen  Wirklichkeitserfahrung interpretieren lässt. 3. Ordnungspolitische leitbilder im Konflikt Die Frage, an welchem leitbild sich die Schaffung von Ordnung zu orientieren hatte, wurde in der nationalökonomie breit diskutiert. claus-Dieter Krohn  hat darum später zu Recht davon gesprochen, die nationalökonomischen Diskussionen während der 1920er Jahre seien zu einem Großteil ordnungspolitische Grundsatzdebatten gewesen.24 Das schlug sich zunächst in der breiten  Sozialisierungsdiskussion nach dem Ersten Weltkrieg nieder, in der es um die  sozialistische  Umgestaltung  der  deutschen  Wirtschaft  beziehungsweise  die  Verstaatlichung bestimmter Schlüsselindustrien ging.25 Diese Debatte versandete zwar anfang der 1920er Jahre, vor allem weil politische Konsequenzen  ausblieben.26 Jedoch bildete sie lediglich den auftakt einer dauerhaften auseinandersetzung mit wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Dabei gab es durchaus Verteidiger der freien Marktwirtschaft, vor allem  die  angehörigen  der  Österreichischen  Schule  der  nationalökonomie.  Für  ludwig Mises, Friedrich hayek und andere waren die Probleme der Weimarer Republik in erster linie durch den staatlichen Interventionismus bedingt,  vor allem die Eingriffe in den freien Markt. Mises ging dabei von einer spezifischen  Systemdynamik  aus,  dass  nämlich  staatliche  Eingriffe  eine  Störung  erzeugten,  die  wiederum  durch  eine  andere  Maßnahme  zu  korrigieren  versucht  wurde,  die  wiederum  eine  neue  Störung  an  anderer  Stelle  mit  sich  brachte. am Ende stand ein torso sich gegenseitig korrigierender Interventionen,  was  die  Illusion  erzeugte,  ein  planwirtschaftliches  System  könne  die  Probleme insgesamt besser lösen. In Wirklichkeit bestand für ihn jedoch die  einzige lösung in einer Rückkehr zum freien Markt. 23  maRtiN BuBeR: Pfade in Utopia. Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung, Darmstadt 1985, S. 30f. 24  c.-d. KRohN, Wirtschaftstheorien (wie anm. 1), S. 14. 25  KLaus NoVy: Strategien der Sozialisierung. Die Diskussion um die Wirtschaftsreform in  der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1978. 26  Vgl. RomaN KösteR: Die Schmalenbachkontroverse während der Weltwirtschaftskrise.  Ein Fallbeispiel für die ökonomische Wissensrezeption, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2009/1, S. 229–244, 235f.

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Die  Vertreter  der  Österreichischen  Schule  waren  in  den  1920er  Jahren  sicherlich die radikalsten Vertreter einer liberalen Wirtschaftspolitik und -theorie, wohingegen deutsche liberale sich zumeist vorsichtiger äußerten. trotz  eines klaren Plädoyers für die marktwirtschaftliche Verfassung der Wirtschaft  sahen sie Regelung und Organisation trotzdem als notwendig an. So wies beispielsweise der Münchner nationalökonom adolf Weber Kartellen eine ordnungsschaffende  Rolle  zu.  Marktorganisationen  sollten  den  freien  Wettbewerb befrieden und zivilisieren.27 Bezeichnenderweise bedachte Weber den  „organisierten“  Kapitalismus  der  1920er  Jahre  mit  einer  der  ökonomischen  Klassik analogen Begrifflichkeit: trusts und Kartelle sollten den Wettbewerb  wieder  in  eine  spielerische  Veranstaltung  verwandeln.28 angesichts  solcher  Äußerungen  wird  es  jedoch  verständlich,  warum  Eduard  heimann  bereits  1924  vom  „eigenartigen  Konservativismus“  sprach,  der  die  liberalen  der  Weimarer Republik befallen habe.29  auch  wenn  (formal)  liberale  Positionen  in  der  Disziplin  keineswegs  in  der Minderheit waren30, so gab es daneben jedoch zahlreiche Positionen, welche die Umgestaltung zu einer sozialistischen Wirtschaft oder – in konservativer Fassung – einer „gebundenen“ Wirtschaftsform forderten. Eine durchaus  einflussreiche konservative Konzeption war zum Beispiel die Vorstellung einer universalistischen Ständewirtschaft, die der Wiener Soziologe und nationalökonom  Othmar  Spann  vortrug.31  Spann  kontrastierte  die  Moderne  mit  einem statischen, alteuropäischen Ordnungsmuster, von dem erstere seit der  Französischen Revolution abgewichen sei. Ihm zufolge galt es, eine Ständewirtschaft als natürliche Ordnung zu reinstallieren. In eine ähnliche Richtung  zielte die Idee einer „seinsrichtigen“ Wirtschaft Friedrich von Gottl-Ottlilienfelds, auch wenn dessen Organizismus sehr viel dynamischer war, als das bei  Spanns neuromantik der Fall war.32  auf sozialistischer Seite gab es neben jenen, welche die Sozialisierung  oder  die  planwirtschaftliche  Umgestaltung  der  Wirtschaft  forderten,  auch  zahlreiche „abweichende“ Entwürfe. Ein besonders prominentes Beispiel da27  a. WeBeR, Ende (wie anm. 19), S. 72f. 28  Zur  Semantik  der  ökonomischen  Klassik  s.  PieRRe foRce:  Self-Interest  before adam  Smith. a Genealogy of Economic Science, cambridge 2004, S. 82f. 29  adoLf heimaNN: Entwicklungsgang der wirtschafts- und sozialpolitischen Systeme und  Ideale,  II.  Die  jüngste  Entwicklung,  in:  Grundriss  der  Sozialökonomik.  1. abteilung:  historische  und  theoretische  Grundlagen.  1.  teil:  Wirtschaft  und  Wirtschaftswissenschaft, tübingen 1924, S. 184–201, 194, 200. 30  caRL LaNdaueR:  Planwirtschaft  und  Verkehrswirtschaft,  München/leipzig  1931,  S.  209. 31  Z. B. othmaR sPaNN: Der wahre Staat, leipzig 1921. 32  fRiedRich V. gottL-ottLiLieNfeLd:  Fordismus?  Paraphrasen  über  das  Verhältnis  von  wirtschaftlicher und technischer Vernunft, Kiel 1924; deRs.: Die wirtschaftliche Dimension.  Eine abrechnung  mit  der  sterbenden  Wertlehre,  Jena  1923;  s.  auch  R.  KösteR,  Wissenschaft (wie anm. 2), S. 201.

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für ist der Frankfurter nationalökonom Franz Oppenheimer, der die Überwindung der Gegenwartskrise an die aufhebung der „Bodensperre“, das heißt des  rechtlichen Monopols von Großgrundbesitzern auf land, koppelte. Das konstituierte nach Oppenheimer eine „Politische Ökonomie“ der Machtmonopole  und Klassenherrschaft. Durch die Schaffung von „Freiland“ war jedoch die  Schaffung eines liberalen Sozialismus möglich, den er als einen „dritten Weg“  zwischen Sozialismus und Kommunismus apostrophierte. Zahlreiche weitere  Konzepte ließen sich nennen. Erinnert sei beispielsweise an Johann Plenges  „Organisationslehre“ oder den sozialistischen Fordismus eines Fritz tarnow,  von explizit utopischen Entwürfen wie carl Ballods „Zukunftsstaat“ ganz zu  schweigen.33 Im laufe der Weltwirtschaftskrise sollte sich der charakter der ordnungspolitischen Debatten verändern. Zum einen bekam sie einen sehr viel stärker  dezisionistischen  Zug.  häufig  ging  es  nun  weniger  um  die  Schaffung  einer  „besten“ Ordnung als um die Wiederherstellung von Ordnung überhaupt. Zum  anderen war bei vielen nationalökonomen eine deutliche Radikalisierung zu  beobachten. Ein sozialistischer Ökonom wie adolf löwe, der in den 1920er  Jahren noch bereit war, sich auf den Boden der kapitalistischen Ordnung zu  stellen, forderte ab 1931 offen die Umgestaltung. Bei den sogenannten Ordoliberalen wie Walter Eucken oder alexander Rüstow war die herausbildung  eines „autoritären liberalismus“ (Dieter haselbach) zu beobachten.34 Ihnen  zufolge musste der Staat kraft seines Machtmonopols Großunternehmen und  Kartelle zerschlagen, um auf diese Weise die freie, kleinbetriebliche Verkehrswirtschaft des 19. Jahrhunderts wieder herzustellen.35 Insgesamt setzte sich im  Fach zunehmend die Meinung durch, man habe es hier mit einer strukturellen,  finalen Krise der freien Verkehrswirtschaft zu tun. Was immer folgen würde,  die neue Wirtschaftsordnung würde und musste anders aussehen. 4. Ordnungskonzeptionen und „Systeme“ Wie lässt sich diese erstaunliche Vielzahl an konkurrierenden Ordnungsentwürfen erklären? Die einfachste Erklärung ist sicherlich, hierin ein Spiegelbild der politischen Zerrissenheit dieser Jahre zu sehen, gewissermaßen der  wissenschaftliche ausdruck  einer  „Demokratie  ohne  Demokraten“,  wie  die  33  fRitz taRNoW: Warum arm sein?, Berlin 1928; caRL BaLLod: Der Zukunftsstaat. Produktion und Konsum im Sozialstaat, Stuttgart  31920; johaNN PLeNge: Johann Plenges  Organisations- und Propagandalehre, eing. v. haNNs LiNhaRdt, Berlin 1965. 34  dieteR haseLBach: autoritärer liberalismus und soziale Marktwirtschaft. Gesellschaft  und Politik im Ordoliberalismus, Baden-Baden 1990. 35  WaLteR eucKeN:  Staatliche  Strukturwandlungen  und  die  Krisis  des  Kapitalismus,  in:  Weltwirtschaftliches archiv 36 (1932), S. 297–321. alexander Rüstow an adolf löwe,  25.11.1932, in: Bundesarchiv Koblenz. nl Rüstow 169, 6.

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Weimarer Republik so oft bezeichnet worden ist.36 Das soll hier nicht grundlegend in abrede gestellt werden, zugleich erscheint eine solche aussage aber  als zu einfach. Sie reduziert wissenschaftliche Debatten zu ableitungen von  Entwicklungen in der Politik, ohne die Besonderheiten des Faches in die Betrachtung einzubeziehen. Verschiedene Sachverhalte müssen in Rechnung gestellt werden. Ein erster, wichtiger Gesichtspunkt ist zunächst, dass das Fach in einem gefestigten  Zustand sicher nicht in dieser Weise durch die politische Debatten und Standpunkte irritierbar gewesen wäre. aus diesem Grund ist es wichtig, die Probleme  der  nationalökonomie  nicht  durch  die  Kontinuität  der  historischen  Schule zu erklären, sondern durch ihr Verschwinden. Der Paradigmenverlust  des  Fachs  im  Zuge  des  Ersten Weltkrieges  schuf  Raum  für  zahlreiche  ordnungspolitische Entwürfe, ohne dass ein etabliertes Paradigma dieser Debatte  Einhalt hätten gebieten können. Zweitens war die nationalökonomie durch den gesellschaftlichen Wandel  irritierbar, weil sie ihn selbst zum thema machte. Es ging darum, in welche  Richtung sich die Gesellschaft entwickeln sollte, weil es so, wie es war, nicht  bleiben konnte. Das Bewusstsein, in einer Zeit massiver historischer Veränderungen zu leben, war allgegenwärtig. nicht zuletzt die große Offenheit beziehungsweise Unbestimmtheit nach 1918 war es, die eine Vielzahl von Entwürfen anschlussfähig machten; auch weil es in der Disziplin keinen gesicherten  Wissensbestand gab, der eingrenzend hätte wirken können. Zugleich offenbarte aber besonders die Vielzahl an ordnungspolitischen Entwürfen auch ihre  Kontingenz. Ein dritter Gesichtspunkt kommt hinzu: Politische Positionen konnten im  wissenschaftlichen Kontext nicht als solche vertreten werden, oder, wenn, nur  unter Inkaufnahme eines Verlusts an Glaubwürdigkeit. Vielmehr mussten sie  in genuin wissenschaftliche Positionen übersetzt werden. Die art und Weise,  wie das geschah, lässt sich durch den bloßen Rekurs auf die Politik nicht erklären, ohne in eine Zwickmühle zu geraten: denn welche Positionen lassen  sich als „politisch“ interpretieren, welche nicht? Diese Frage lässt sich möglicherweise am Ende nur noch anhand eigener politischer Vorlieben beantworten, was keine gute lösung ist. Politische Standpunkte lieferten keine Begründung ihrer selbst, sondern mussten im wissenschaftlichen Kontext durch argumente, leitunterscheidungen, Begriffsklärungen fundiert werden. In diesem Zusammenhang kommen die in den 1920er Jahren ausufernden  Methodendebatten ins Bild, in denen es weniger um Verfahrensfragen, als um  die  methodisch-epistemologische  Fundierung  nationalökonomischer  Erkenntnis ging. Franz Oppenheimer schrieb 1926 gar von einer „MississippiÜberschwemmung“  mit  Methodologie.37  Gerade  die  Breite  der  Diskussion  36  Vgl. dazu heNdRiK thoss: Demokratie ohne Demokraten?, Berlin 2008.  37  fRaNz oPPeNheimeR: alfred amonns „Objekt und Grundbegriffe“, in: Weltwirtschaftli-

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zeigt, wie intensiv das Ringen um wissenschaftliche Begründung gewesen ist.  Keineswegs zufällig verfassten gerade die Wissenschaftler, die sich am stärksten  ordnungspolitisch  exponierten,  dicke  Bände  mit  der  epistemologischen  Fundierung  ihrer  theorien.  Spann,  Gottl-Ottlilienfeld  oder  auch  Oppenheimer selbst sind dafür gute Beispiele. als bloße camouflage politischer Interessen lässt sich das nicht erklären. In vergleichbarer Weise wurde auch das  Problem sozialer Ordnung im Krisendiskurs der nationalökonomie als Wahrheitsproblem  behandelt.  Durch ausarbeitung  der  richtigen theorie,  die  mit  den richtigen Begriffen und Kategorien operierte, verband sich zugleich die  Vorstellung einer richtigen und guten Ordnung als leitbild einer Umgestaltung der Weimarer Verhältnisse. Zusammengefasst wurde das in der Forderung nach dem „neuen System“, das eine antwort auf die Probleme der Weimarer Republik geben sollte. Die Unfähigkeit der Disziplin, ein klares ordnungspolitisches leitbild zu  entwickeln, das von der Mehrheit oder zumindest einer starken Gruppe innerhalb des Faches geteilt wurde, hatte also nicht allein mit politischer Fragmentierung zu tun, sondern war entscheidend durch die lage des Faches begründet. Diese Problemlagen kulminierten schließlich in der Weltwirtschaftskrise,  als sich aus Sicht der Zeitgenossen endgültig das Versagen der liberalen Verkehrswirtschaft erwies, es sich nicht länger um eine „konjunkturelle“, sondern  um eine „strukturelle“ Problemlage zu handeln schien.38 allein waren zu diesem Zeitpunkt die meisten Gestaltungsentwürfe intellektuell bereits durchgespielt. Dass die Debatte ab 1929 einen sehr viel stärker dezisionistischen Zug  bekam, wird vor diesem hintergrund erklärlich: In dem Maße, wie sich der  utopische Elan der 1920er Jahre verbraucht hatte, ging es zumeist nicht mehr  um die herstellung einer besten Ordnung, sondern von Ordnung überhaupt.  nur noch vereinzelt gab es noch Versuche, an die Offenheit der Debatte der  letzten Dekade zu erinnern und daran anzuschließen. 5. Optimisten in der Krise? Welche Rückschlüsse lassen sich nun aus dem Beispiel der nationalökonomie  hinsichtlich aktueller Debatten über die Geschichte der Weimarer Republik  ziehen? als ausgangspunkt soll dabei zunächst die Beobachtung dienen, dass  es eine Vielzahl sich untereinander bekämpfender ordnungspolitischer leitbilder  gab,  die  aber  auch  Ähnlichkeiten  aufwiesen.  letztere  bestanden  vor  allem darin, dass die herstellung von Ordnung durch den rational-gestalterischen Eingriff des Menschen vonstattengehen sollte, ohne dass sie jedoch als  eine „künstliche“ vorgestellt wurde. Vielmehr ging es um herstellung bezieches archiv 27 (1928), S. 167–179, hier S. 168. 38  deRs.: Weder Kapitalismus noch Kommunismus, Stuttgart 31962 (1931), S. 21.

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hungsweise Wiederherstellung einer natürlichen Ordnung, was sich etwa in  der  Forderung  nach  harmonie  oder  Milderung  des  Kampfcharakters  des  Wettbewerbs durch Organisation, Wiederherstellung einer liberalen Ökonomie  oder  Forderung  nach  einem  Ständestaat  offenbarte. auch  wenn  es  ein  wesentlicher Streitpunkt blieb, ob die Fehlentwicklungen der Moderne repariert  werden  sollten,  durch  die  Reinstallierung  der  freien  Wettbewerbswirtschaft  des  19.  Jahrhunderts  etwa,39  oder  ob  die  Moderne  grundsätzlich  als  Irrweg angesehen wurde und deshalb ihre Überwindung zu fordern war, ging  es im Wesentlichen um eine Umgestaltung durch planerische Eingriffe. an  solch  rationalistischen  Entwürfen  hat  die  historische  Forschung  im  nachhinein wenig Gutes gefunden; nicht nur im Fall der nationalökonomie,  sondern  etwa  auch  am  Beispiel  des  sogenannten  Social  Engineering.40  Im  anschluss an Zygmunt Bauman wurde das in letzter Zeit häufig zu dem Vorwurf zugespitzt, im Rationalismus der Planung offenbare sich die Unfähigkeit, mit den ambivalenzen der Moderne zurechtzukommen. In letzter Konsequenz zeigte sich das nach Bauman in der Vernichtungslogik des nationalsozialismus, der mit der Schaffung von Ordnung die ausschließung und Vernichtung  dessen  vornahm,  was  ihr  angeblich  nicht  zugehörte.  Das  Streben  nach Ordnung wird somit als prekäre Bewältigungsstrategie der Moderne interpretiert.41 Ein solcher Modernebegriff impliziert zunächst, dass jede Beschreibung  der Welt durch eine Gegenerzählung konterkariert wird, sich also angesichts  ihrer  polyzentrischen  Verfasstheit  eine  eindeutige,  allseits  akzeptierte  Beschreibung der Gesellschaft nicht länger aufrechterhalten lässt. Weiter wird  vorausgesetzt, dass im historischen Prozess traditionelle Statuspositionen ins  Wanken  geraten,  was  sich  etwa  im aufkommen  des  Begriffs  der  „Masse“  manifestiert: als diese werden nicht zuletzt jene Menge Menschen gefasst, die  sich anhand traditioneller Statuskriterien nicht mehr eindeutig identifizieren  und  differenzieren  lassen.42  Die  Wahrnehmung  eines  Ordnungsverlusts  im  Zuge  der  Durchsetzung  der  Moderne  erweist  sich  also  in  Wahrheit  als  ein  Vorgang historischen Wandels. Im Kontext einer solchen Fehlperzeption indes erscheint die Suche nach Eindeutigkeit als Versuch der Selbstermächtigung, um dem Ordnungsverlust zu begegnen. Ganz wesentlich ging es dabei  darum, einen neuen Modus der sozialen Integration jenseits von Stand und  Klasse zu finden. 39  W. eucKeN, Strukturwandlungen (wie anm. 35), S. 320f. 40  thomas etzemüLLeR: Social Engineering als Verhaltenslehre des kühlen Kopfes. Eine  einleitende  Skizze,  in:  deRs.:  Die  Ordnung  der  Moderne.  Social  Engineering  im  20.  Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 11–39. 41  Vgl. etwa zygmuNt BaumaN: Die Moderne und der holocaust, hamburg 1992. 42  josé oRtega y gasset: aufstand der Massen (Wesentlich erweiterte und aus dem nachlass ergänzte neuauflage), Gütersloh 1963, S. 69ff. 

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Diese Sichtweise hat den unbestreitbaren Vorteil, eine Problemstellung zu  generieren, die einen transnationalen Vergleich von Modernisierungsprozessen und deren Verarbeitung ermöglicht. Das zu erwartende Ergebnis lautet in  der Regel, Deutschland habe sich damit schwerer getan als Frankreich und  andere  länder.43  allerdings  verführt  eine  solche  Vorannahme  auch  sehr  schnell zu Erklärungen, die auf die konkreten historischen Rahmenbedingungen  wenig  Rücksicht  nehmen.  Zudem  stellt  sich  dann  die  Frage  gar  nicht  mehr, ob die Moderne begrifflich so wirklich adäquat gefasst wird. Stattdessen wird mit dem Finger auf jene gezeigt, die nicht in der lage waren, „ambivalenzen“ auszuhalten.44 Konkret ist dagegen zunächst einzuwenden, dass sich die Kulturkritik in  Deutschland  seit  1900  nicht  einfach  auf  „Ordnung  schaffen“45  gegen  einen  wahrgenommen, nicht tatsächlichen Ordnungsverlust reduzieren lässt. Denn  für die Diagnosen von Modernität vor dem Ersten Weltkrieg ist weniger die  Wahrnehmung von Ordnungsverlust, sondern viel stärker die Wahrnehmung  einer Übermacht von Ordnung signifikant. letzteres verbindet sich insbesondere  mit  dem  Schlagwort  des  „Kapitalismus“,  wie  er  von  Max  Weber  und  Werner  Sombart  in  die  Debatte  eingeführt  wurde.46  hier  wurde  gerade  die  Übermacht  einer  bestimmten  Ordnung  zum  Problem,  und  der  hinweis  auf  ambivalenzen implizierte eher die hoffnung auf – zumindest kurzfristige –  auswege aus dem „stahlharten Gehäuse“.47 Im Falle der nationalökonomie  jedenfalls veränderte sich der charakter der Debatte nach dem Ersten Weltkrieg fundamental. Dem für das Fin de Siècle typischen leiden an einer übermächtigen  Ordnung  wurde  die  Diagnose  eines  umfassenden  Ordnungsverlusts gegenübergestellt, der die Verbindung zu vorangegangenen geschichtsphilosophischen Entwürfen nur noch insofern hielt, indem das gegenwärtige  Drama  als  höhepunkt  einer  Krise  der  Moderne  überhaupt  gesehen  werden  konnte. Fast noch verbreiteter, und im Ergebnis häufig nur in nuancen unterschieden  war  indes  die Vorstellung,  die  Gegenwart  überhaupt  als  einen  geschichtslosen Zustand zu betrachten. Der Ordnungsverlust konnte somit als  ein Zustand historischer Indeterminiertheit betrachtet werden, der dem Menschen in zentraler Weise Gestaltungsmacht zuschrieb.  43  So z. B. stefaNie middeNdoRf: Massenkultur. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Modernität in Frankreich 1880–1980, Göttingen 2009; eine interessante neuinterpretation  der englischen Entwicklung bei RichaRd oVeRy: the Morbid age. Britain and the crisis  of civilization, 1919–1939, london 2009, S. 59ff. 44  Z. B. aRiaNe LeeNdeRtz: Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert,  Göttingen 2008. 45  Ebd. 46  Vgl. RomaN KösteR / WeRNeR PLumPe: hexensabbat der Moderne. Max Webers Konzept der rationalen Wirtschaft im zeitgenössischen Kontext, in: Westend. Zeitschrift für  Sozialforschung  2/2007,  S.  3–21,  4ff;  D.  J.  K. PeuKeRt,  Max  Webers  Diagnose  (wie  anm. 22), S. 61f. 47  R. KösteR / W. PLumPe, hexensabbat (wie anm. 46), S. 12ff.

nationalökonomie und ordnungspolitische Diskussion in der Weimarer Republik  57

Es fällt äußerst schwer, die Ursache der emphatischen Betonung des Ordnungsverlusts  hauptsächlich  darin  zu  erblicken,  dass  die  Menschen  in  der  Weimarer Republik mit den ambivalenzen der Moderne nicht zurechtgekommen seien. Vielmehr handelte es sich um eine konkrete historische Erfahrung  angesichts  des  Zusammenbruchs  des  Kaiserreichs.  Wenn  es  in  den  1920er  Jahren  einen  gemeinsamen  nenner  gab,  dann  die  Wahrnehmung,  dass  sich  soziale Ordnung nicht automatisch herstellte, sondern durch organisierenden,  planenden Eingriff zu schaffen war, während – wie bereits erwähnt – vor dem  Krieg vor allem die Übermacht von Ordnung als entscheidendes Problem gesehen wurde. Signifikant ist darüber hinaus, dass trotz dieses grundsätzlichen  Konsenses sich die angebotenen Möglichkeiten so stark unterschieden.48 Der  durch den Ersten Weltkrieg ausgelöste Bruch in der Debatte ist somit zu drastisch, als dass ein die Kontinuität betonender, quasi-strukturalischer ansatz zu  einer befriedigenden Erklärung führen könnte. Zugespitzt formuliert: so wenig man mit den Ordnungsentwürfen der 1920er Jahre sympathisieren muss,  so führt eine an Baumann angelehnte Interpretation doch zu einer tendenziell  überheblichen  Beschreibungen  „defizitärer“  Bewältigungsstrategien,  ohne  den historischen Kontext ausreichend zu würdigen.  Eine andere lesart ist, in diesen rationalistischen Entwürfen ein spezifisches „Gestaltungsbewusstsein“ am Werk zu sehen, ein Bewusstsein und ein  Gefühl für die Planbarkeit von Ordnung und die Umsetzbarkeit von Utopien.  hier berührt sich das thema dieses textes mit der in der letzten Zeit erneut  aufgekommenen  Diskussion  über  die  „Krise“  der  Weimarer  Republik,  die  Detlev Peukert in seiner bereits klassischen Überblicksdarstellung besonders  hervorgehoben hat.49 Rüdiger Graf spricht in seiner arbeit von einem spezifischen „Optimismus“ der Weimarer Republik, die nicht das tal der Bitternis  gewesen  sei,  als  die  sie  häufig  dargestellt  wurde.  In  letzter  Zuspitzung  erscheint die Krise als eine rhetorische Figur, die sich als Folie, Rechtfertigung  und Vorbedingung für das eigene Gestalten durchsetzte (ohne dass Graf damit  jedoch reale Problemlagen leugnen möchte).50 Graf setzt an einigen sehr richtigen und klugen Beobachtungen an. Die  Betrachtung des Fallbeispiels der deutschen nationalökonomie nötigt jedoch  dazu, das Verhältnis von Krise und Gestaltung anders zu fassen. Das betrifft  zunächst den Begriff der Krise: auch wenn sie in der öffentlichen Debatte der  Weimarer Republik zur ubiquitären, inflationär gebrauchten Standardformel  wurde, bezeichnete sie doch ein konkretes Problem, nämlich eine Gegenwart  auf den Begriff zu bringen, die sich einer solchen begrifflichen Erfassung permanent zu entziehen schien. Politische Unruhen, Versorgungskrisen und ins48  Vgl. Rosa meyeR-LeViNé: leviné. leben und tod eines Revolutionärs, Frankfurt a. M.  1974. 49  detLeV j. K. PeuKeRt: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne,  Frankfurt a. M. 1987, S. 266ff. 50  R. gRaf, Zukunft (wie anm. 20).

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besondere die Inflation führten nicht allein zur Erschütterung sozialer Statuspositionen und einer extrem aufwändigen alltagsgestaltung51, sondern auch  zu  einem  Verlust  der  Erwartungssicherheit,  zu  einer  epistemologischen  Erschütterung mithin. Darin lag eine wesentliche Funktion von Ordnungskonzeptionen, dass sie eine als gleichzeitig dynamisch und irrational wahrgenommene  Gegenwart  mit  statisch-rationalen  Beschreibungsmustern  kontrastierten. In dem sie herausstrichen, wie sehr die Realität der Weimarer Republik  diesem Bild gerade nicht entsprach, wurde sie beobachtbar. Im wissenschaftlichen Kontext waren Ordnungsentwürfe also zunächst weniger eine Form der  „Zukunfts-“ als der „Gegenwartsaneignung“. Diese  Überlegung  muss  keineswegs  im  Widerspruch  zur  OptimismusDiagnose stehen, denn schließlich ist ein klarer Begriff der Gegenwart Voraussetzung einer begründeten annahme über die Zukunft. Das Problem dieser  Formen von „Gegenwartsaneignung“ war nur, dass die Vielzahl der Entwürfe  auf  der  Ebene  der  Beobachtung  dazu  führte,  die  eigentlich  zu  behebenden  Probleme zu reproduzieren. Genau das wurde im Fach als „Krise“ verhandelt,  dass eine Vielzahl an Ordnungsentwürfen miteinander im Wettstreit standen,  die es gerade verhinderten, dass das Fach als Ganzes die Umgestaltung der  Weimarer  Ordnung  anleiten  konnte.  Das  würde  dann  die  these  nahelegen,  dass sich konkrete Gestaltungsentwürfe eher auf der Ebene partikulärer, gemeinschaftlicher Verbände und Bewegungen, wie etwa den von ariane leendertz untersuchten Raumplanern, oder auch innerwissenschaftlicher Gruppen  wie der leipziger Schule der Soziologie52 durchsetzen konnten. Eine wissenschaftliche Disziplin wie die nationalökonomie konnte es jedoch nicht verhindern, dass es zu Prozessen der Selbstreflexion kam. Diese führten zu genau  jener Problematisierung, die Detlev Peukert in seiner Interpretation der Geschichte der Weimarer Republik beschrieben hat.53 Grafs ausführungen zum  Gestaltungsbewusstsein  der  Weimarer  Republik  wären  möglicherweise  auf  diesen Gesichtspunkt hin zu differenzieren.

51  Z. B.  juLius PoseNeR:  heimliche  Erinnerungen.  In  Deutschland  1904–1933,  München  2004; osKaR maRia gRaf: Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis, München 1982 (1927).  Es wäre zumindest eine Überlegung wert, ob die enormen organisatorischen anstrengungen, um den eigenen alltag zu bewältigen, einen Einfluss auf die Vorstellungen einer  gesamtgesellschaftlichen Organisation ausgeübt haben.  52  Lutz RaPhaeL:  „Ordnung“  zwischen  Geist  und  Rasse.  Kulturwissenschaftliche  Ordnungssemantik im nationalsozialismus, in: haRtmut LehmaNN / otto geRhaRd oexLe (hg.): nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2, Göttingen 2004, S. 115– 137, 125ff. 53  d. j. K. PeuKeRt, Weimarer Republik, (wie anm. 49).

nationalökonomie und ordnungspolitische Diskussion in der Weimarer Republik  59

SchlUSS Karl Mannheims Spätwerk hat allgemein einen schlechten Ruf. Jedoch kann  man seinem 1935 im Exil veröffentlichten Werk „Mensch und Gesellschaft  im  Zeitalter  des  Umbaus“  zugutehalten,  die  Probleme  der  Diskussion  der  1920er Jahre konsequent durchdacht zu haben, selbst wenn manche Ergebnisse in der historischen Rückschau befremdlich erscheinen mögen.54 Mannheim geht zunächst davon aus, dass in einem, von ihm nicht genauer spezifizierten Zeitalter des Wandels der Glaube an zwei Dinge verloren gegangen  sei: an eine immanente Vernünftigkeit des Geschichtsprozesses und an einen  unveränderlichen nationalcharakter. In dem Moment, wo es einen Selbstvollzug der Geschichte nicht mehr gab, eröffnete sich die Gesellschaft dem planenden Zugriff des Menschen. Wo Ordnung sich nicht mehr von selbst herstellte,  war  der  rational  planende  Mensch  gefordert.  Gleichzeitig  erwiesen  sich durch den historischen Wandel aber auch die Menschen als formbar. Sie  agierten anhand, wie Mannheim sich ausdrückte, „principia media“, also bestimmten Vorstellungen und Erwartungen, wie die Welt funktionierte. Diese  wurden durch den Wandel außer Kraft gesetzt. Mannheims Buch bietet zahlreiche anregungen, die ordnungspolitische  Diskussion der 1920er Jahre einzuordnen. Erstens zeigt er auf, dass die Voraussetzung von Gestaltung der zumindest graduelle abschied von einer Idee  historischer  Determiniertheit  impliziert,  damit  vermittelt  auch  von  dem  so  stark dem historischen Denken verhafteten Kaiserreich. Zweitens wird deutlich,  dass  historischer  Wandel  eine  Situation  der  Offenheit  schafft,  die  erst  Voraussetzung für die Etablierung einer neuen Ordnung ist. Im historischen  Wandel ist das Resultat also nicht beschlossen, womit diese Zeit dann aber zur  arena von aushandlungskämpfen mit unklarem ausgang wird. Drittens zeigt  Mannheim, dass im historischen Wandel auch tendenziell die Kategorien und  Denkschemata zusammenbrechen, mittels derer die Welt vormals aufgefasst  und begriffen wurden. Mit dem Untergang des Kaiserreichs war der nationalökonomie nicht nur  ihr ordnungspolitisches leitbild abhandengekommen, sondern auch ihre Begriffe und Kategorien, die sie nun mühsam wiederzugewinnen versuchte. Insofern  wurde  das  Problem  ordnungspolitischer  Gestaltung  immer  auch  als  Frage der neubegründung der akademischen nationalökonomie verhandelt.  Zugleich zeigt die Fruchtlosigkeit dieser Versuche, dass man auf einem rein  „rationalistischen“ Weg zu keiner lösung kam; vielmehr standen eine große  Vielzahl Entwürfe gegeneinander, die eine antwort auf das Ordnungsproblem  der Weimarer Republik geben wollten. In diesem aufsatz wurde den Gründen  für diese Situation nachgegangen. Dabei spielte zum einen das Ende der his54  KaRL maNNheim: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, leiden 1935.

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torischen Schule mit dem Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle, aber auch die  Reaktion  auf  eine  historische  Situation,  die  als  massiver  Ordnungsverlust  empfunden wurde. Die „neue fremde Welt“, in der die Menschen nach 1918  erwachten, musste erst erfasst werden – und das gestaltete sich umso schwieriger, als die krisenhaften Rahmenbedingungen die Bildung von Erwartungssicherheit nicht zuließen. Insbesondere die Inflation kann in ihren desaströsen  kognitiven Folgen kaum unterschätzt werden. anders als 1945 gab es auch  keine Instanz, die äußere Setzungen vorgenommen hätte. alle Modelle politischer oder ökonomischer Integration erschienen potentiell legitim, damit aber  auch gleichermaßen zur Diskussion gestellt. Die Kreise, Gemeinschaften und  Institute,  in  denen  sich  das  Ordnungsdenken  materialisierte,  dienten  häufig  gerade dazu, die selbstreflexive Problematisierung durch abschottung zu vermeiden. Zugleich lässt die lage der Weimarer Republik aber möglicherweise auch  Rückschlüsse zu, warum unter den Bedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg  ein ordnungspolitisches Paradigma etabliert werden konnte. Zum einen spielte  dabei sicherlich das Wirtschaftswunder eine entscheidende Rolle, das in den  1950er Jahren einen sprunghaften Wohlstandszuwachs mit sich brachte. Offensichtlich etablierte sich ein Modell ökonomischer Integration erfolgreich  und es gab keine Situation, in der nach ordnungspolitischen alternativen gesucht werden musste. auf der anderen Seite passte das Konzept der Sozialen  Marktwirtschaft (das seine Wurzeln in den 1920er Jahren hatte) perfekt mit  dem sich nun etablierende „consumerʼs capitalism“ zusammen. Es eignete  sich  als  label  für  ein  Modell  der  ökonomischen,  auf  Konsum  basierenden  sozialen Integration, das sich nicht allein auf eine bestimmte Wirtschaftspolitik reduzieren lässt. Vielmehr schlug es sich genauso ökonomisch wie städtebaulich  nieder,  zeigte  sich  in  der  politischen  Selbstrepräsentation  Westdeutschland genauso wie in der Rationalisierung der hausarbeit. Ein Modell  ökonomischer Integration basiert allerdings – gezwungenermaßen – auf ökonomischem Erfolg. Es erscheint deswegen als genauso vielversprechend wie  riskant.

DaS natIOnalSOZIalIStISchE WIRtSchaFtSSYStEM:   InDIREKtER SOZIalISMUS, GElEnKtE MaRKtWIRtSchaFt  ODER VORGEZOGEnE KRIEGSWIRtSchaFt?1 Jochen Streb  1. Problemstellung auch  über  sechzig  Jahre  nach  dem  Zusammenbruch  des  „Dritten  Reichs“  herrscht in der wirtschaftshistorischen Zunft Uneinigkeit darüber, wie das nationalsozialistische Wirtschaftssystem aus ordnungstheoretischer Perspektive  zu charakterisieren ist. Die extremste Position wird hierbei sicherlich von den  beiden  amerikanischen  Wirtschafts-  beziehungsweise  Unternehmenshistorikern Peter temin und Peter hayes eingenommen, die eine große Übereinstimmung zwischen dem nationalsozialistischen Wirtschaftssystem und dem sowjetischen Sozialismus der 1930er Jahre zu erkennen glauben. nach ihrer auffassung markiert spätestens die Verkündung des Vierjahresplans im Jahr 1936  den Beginn der vollständigen Unterordnung der deutschen Unternehmer unter  den Planungswillen der nationalsozialistischen Politiker. Mittels einer umfassenden  Regulierung  von  Produkt-  und  Faktormärkten  sowie  der  zumindest  latenten androhung von Enteignung und Gewalt hätten die nationalsozialisten den unternehmerischen handlungsspielraum im Zuge einer kalten Sozialisierung so sehr eingeengt, dass den Privateigentümern der Produktionsmittel  gar  keine  andere  Wahl  mehr  geblieben  wäre,  als  sich  den ansprüchen  der  Machthaber  zu  beugen  und  ihre aktivitäten  an  den  staatlich  vorgegebenen  Rüstungs- und autarkieplänen auszurichten.  temin kommt deshalb zu dem Schluss: „the nazi economy shared many  characteristics with the dominant socialist economy of the time. the national  Socialists were socialist in practice as well as in name.“2 hayes diagnostiziert,  dass die Privateigentümer im „Dritten Reich“ immer weniger selbst über ihre  Produktionsmittel  verfügen  konnten  und  brandmarkt  in  einem  kürzlich  erschienenen Beitrag dies als indirekten Sozialismus:  „large German firms could and in some cases did lose control over their  own mix of outputs to the state and thus become quasi-public or quasi-state  1  2 

Für  wertvolle  hinweise  danke  ich  harald  Degner,  tobias  Jopp,  Jonas  Scherner  und  Mark Spoerer. PeteR temiN: Soviet and nazi Economic Planning in the 1930s, in: Economic history  Review 44 (1991), S. 573–593, hier S. 573.

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Jochen Streb 

entities  via  a  process  of  indirect  socialization  (…).“3  Unterstützung  finden  temin und hayes auch bei Richard Overy: „In the long run the movement was  moving to a position in which the economic new Order would be controlled  by the Party through a bureaucratic apparatus staffed by technical experts and  dominated by political interests, not unlike the system that had already built  up in the Soviet Union.“4 Wie die Beispiele der Enteignung von hugo Junkers 1933/34, der Gründung der Braunkohle-Benzin aG im Jahr 1934 oder der Wegnahme der Erzgruben der deutschen Stahlindustrie im Jahr 1937 zeigen, scheuten sich die  nationalsozialisten tatsächlich nicht, zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen  Ziele  auch  direkten  Zwang  anzuwenden.  christoph  Buchheim  und  Jonas  Scherner versuchen gleichwohl zu zeigen, dass derartige hierarchische Eingriffe im „Dritten Reich“ nicht die Regel, sondern eher die nur sehr zurückhaltend  genutzte ausnahme  darstellten. auch  die  nationalsozialisten  seien  nämlich der auffassung gewesen, dass freiwillig kooperierende Privatunternehmer generell effizienter wirtschaften als reine Befehlsempfänger oder gar  Staatsbetriebe, und konnten und wollten es sich daher gar nicht leisten, die  Privatindustrie durch den extensiven Einsatz von Enteignung und Gewalt in  den zumindest passiven Widerstand zu treiben. Stattdessen erfolgte nach ansicht von Buchheim und Scherner die staatliche lenkung der deutschen Industrie in erster linie über das Setzen von an das ökonomische Selbstinteresse der Unternehmer appellierenden anreizen. Somit wäre das Privateigentum an Produktionsmitteln im „Dritten Reich“ keineswegs zu einer nur noch  formalen  hülle  verkommen;  vielmehr  hätten  die  deutschen  Privatunternehmer bis in den Krieg hinein insbesondere über die negative Vertragsfreiheit  verfügt, das heißt das Recht besessen, staatliche aufträge ohne angst vor Repressalien verweigern zu können. Zusammenfassend wenden sich Buchheim  und Scherner somit dezidiert gegen die Gleichsetzung von Sozialismus und  nationalsozialistischem Wirtschaftssystem, in dem ihrer Meinung nach weiterhin die kapitalistischen Elemente dominierten.5

3  4  5 

PeteR hayes: corporate Freedom of action in nazi Germany, in: Bulletin of the GhI 45  (2009), S. 29–42, hier S. 38. RichaRd j. oVeRy: War and Economy in the third Reich, Oxford 1994, S. 118. Vgl. chRistoPh Buchheim / joNas scheRNeR: the Role of Private Property in the nazi  Economy: the case of Industry, in: Journal of Economic history 66 (2006), S. 390– 416.

Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem

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Dieser Beitrag arbeitet die Diskussion um die ordnungstheoretische Einordnung des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems in zwei Schritten auf.  Zunächst wird gezeigt, dass die Fokussierung auf die beiden Idealtypen „Zentralverwaltungswirtschaft  (Sozialismus)“  und  „Marktwirtschaft“  ordnungstheoretisch zu kurz greift. Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem kann  wie viele andere „gemischtwirtschaftliche“ Volkswirtschaften keinem dieser  beiden  Idealtypen  widerspruchsfrei  zugeordnet  werden  und  ist  am  ehesten  noch als gelenkte Marktwirtschaft mit hoher lenkungsintensität zu beschreiben.  Zweitens  wird  die  ausformung  des  Wirtschaftssystems  des  „Dritten  Reichs“ nicht als eine spezifisch nationalsozialistische antwort auf die Krise  des Kapitalismus in den frühen 1930er Jahren, sondern als frühzeitiger Übergang  zu  kriegswirtschaftlichen  Strukturen  gedeutet,  der  von  Deutschlands  Kriegsgegnern  zwar  erst  später,  nämlich  nach ausbruch  des  Zweiten Weltkriegs, aber dann in durchaus ähnlicher art und Weise vollzogen wurde. 2. Gelenkte Marktwirtschaft? temin und hayes berufen sich mit ihrer charakterisierung des nationalsozialistischen  Wirtschaftssystems  als  sozialistischen  Realtypus  auf  die  traditionelle ordnungspolitische Unterscheidung der beiden Idealtypen „Zentralverwaltungswirtschaft“ und „Marktwirtschaft“. Beide Idealtypen können anhand  einer  ganzen  Reihe  von  Ordnungsmerkmalen  voneinander  abgegrenzt  werden.6 Das nationalsozialistische Wirtschaftssystem ist mit keinem der beiden  Idealtypen deckungsgleich, doch impliziert die Einschätzung von temin und  hayes, dass es in den wichtigsten Merkmalen mit der Reinform der Zentralverwaltungswirtschaft übereinstimmt. tabelle 1 erlaubt uns eine vertiefende  Diskussion dieser Schlussfolgerung:

6 

Vgl. egoN tuchtfeLdt: Wirtschaftssysteme, in: WiLLi aLBeRs u. a. (hg.): handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft Bd. 9, Stuttgart u. a. 1988, S. 326–353, hier S. 332.  tabelle 1 lehnt sich bezüglich der Ordnungsmerkmale an einige der von tuchtfeldt genannten Unterscheidungskriterien an. Die außenwirtschaftliche ausgestaltung des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems wird im Folgenden vernachlässigt. Vgl. hierzu  michaeL eBi:  Export  um  jeden  Preis.  Die  deutsche  Exportförderung  von  1932–1939,  Stuttgart  2004;  ecKaRt teicheRt:  autarkie  und  Großraumwirtschaft  in  Deutschland  1930–1939, München 1984.

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Jochen Streb 

Zentralverwaltungswirtschaft

Nationalsozialistisches Wirtschaftssystem

Merkmal

Marktwirtschaft

Planträger

Wirtschaftssubjekte:  Zentrale staatliche  Polykratische  Unternehmen und  Planungsbehörde Planstrukturen haushalte

Koordination der Pläne

Steuerung durch  Staatliche PreisbilMarktmechanismus:  Planvorgaben und  dung und BewirtSelbstregulierung  Zuweisung von  schaftungsmaßnahdurch Preissignale Produktionsfakto- men in zunehmenren dem Umfang

Anreize für Unternehmer

Gewinn/Verlust

Belohnung/Strafe

Beide Formen von  anreizen beobachtbar (Gewichtung  umstritten)

Eigentum an den Produktionsmitteln

Privateigentum

Staatseigentum

Dominanz des  Privateigentums

tabelle 1: Vergleich von Zentralverwaltungswirtschaft, Marktwirtschaft und nationalsozialistischem Wirtschaftssystem

In  einer  idealtypischen  Marktwirtschaft  entscheiden  die  Unternehmer  über  Umfang und Struktur ihrer Gütererzeugung und den hierzu benötigten Einsatz  von Produktionsfaktoren und Rohstoffen nach eigenem Ermessen auf Grundlage der Konsumwünsche, die sie von der nachfrageseite wahrnehmen. Im  Gegensatz hierzu wird in einer idealtypischen Zentralverwaltungswirtschaft  von einer zentralen staatlichen Planungsbehörde ein umfassender volkswirtschaftlicher  Erzeugungsplan  einschließlich  der  hierzu  notwendigen  InputOutput tabellen erstellt, der dann über mehrere geographische und sektorale  hierarchiestufen bis auf die Ebene von betriebsindividuellen Erzeugungsquoten herunter gebrochen wird. Rainer Fremdling hat gezeigt, dass das Reichsamt für Wehrwirtschaftliche Planung auf Grundlage des Industriezensus von  1936  detaillierte  Materialbilanzen  und  Flussdiagramme  zur  Quantifizierung  des Bedarfs an Rohstoffen und Vorprodukten der deutschen Industriezweige  erstellte, auf deren Grundlage in der tat eine volkswirtschaftliche Input-Output-tabelle  für  das  „Dritte  Reich“  rekonstruiert  werden  kann.7  Gleichwohl  7 

Vgl. RaiNeR fRemdLiNg: the German Industrial census of 1936. Statistics as Prepara-

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wurde auch nach der Etablierung der Vierjahresplanbehörde unter hermann  Göring  niemals  der Versuch  unternommen,  diese  Informationen  zur  Erstellung eines vollständigen und vor allem widerspruchsfreien volkswirtschaftlichen Erzeugungsplans zu nutzen.8 Das  nationalsozialistische Wirtschaftssystem  wich  aber  nicht  nur  durch  das Fehlen eines konsistenten Gesamtplans von dem Ideal der Zentralverwaltungswirtschaft ab. hinzu kam, dass die ökonomische Planungshoheit keineswegs  bei  einer  zentralen  Behörde  konzentriert  war,  sondern  viele  verschiedene zivile und militärische Behörden mit jeweils eigenen und untereinander  widersprüchlichen Einzelplänen um die knappen Ressourcen der Volkswirtschaft  konkurrierten.  Diese  Form  der  polykratischen  Wirtschaftsplanung  wurde insbesondere von Michael von Prollius ausführlich beschrieben.9 Wie  sind  diese  Unterschiede  einzuschätzen?  temin  ist  der auffassung,  dass die nationalsozialisten ähnlich wie zeitgleich die Sowjets mit dem aufbau einer umfassenden und nie zuvor erprobten zentralen Wirtschaftsplanung  schlichtweg  überfordert  waren,  und  dass  deshalb  die  Inkonsistenzen  und  Mängel des realisierten Planungssystems als unvermeidbare anfangsschwierigkeiten auf dem schwierigen Weg zu der angestrebten sozialistischen Wirtschaftsordnung zu deuten sind.10 Im diametralen Gegensatz hierzu vertreten  Buchheim  und  Scherner  die ansicht,  dass  die  staatlichen  Planungseingriffe  nur  der  unmittelbaren  Kriegsvorbereitung  geschuldet  waren,  und  damit  nur  einen kurzfristig notwendigen Umweg zurück zu einer marktwirtschaftlichen  Ordnung darstellten: „the ideal nazi economy would liberate the creativeness  of  a  multitude  of  private  entrepreneurs  in  a  predominantly  competitive  framework gently directed by the state to achieve the highest welfare of the  Germanic people.“11 Beide aussagen sind kontrafaktische Spekulationen, die  sich  vorzustellen  suchen,  wie  das  nationalsozialistische  Wirtschaftssystem  nach einem von hitler gewonnenen Zweiten Weltkrieg längerfristig ausgesehen hätte, und entziehen sich damit letztendlich der wissenschaftlichen Überprüfung. Wesentlich mehr Substanz besitzt die Einschätzung von Buchheim  und Scherner, dass die eher planwirtschaftlichen Elemente des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems der Vorkriegsjahre vorrangig der Kriegsvorbetion for the War, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (2005), S. 155–165. Vgl. auch  adam tooze: the Rosetta Stone of German Industry: the Reich’s census of Industrial  Production, in: chRistoPh Buchheim (hg.): German Industry in the nazi Period, Stuttgart 2008, S. 97–115. 8  Vgl.  dietmaR PetziNa:  autarkiepolitik  im  Dritten  Reich.  Der  nationalsozialistische  Vierjahresplan, Stuttgart 1968, S. 197f; aRthuR schWeitzeR: Plans and Markets: nazi  Style, in: Kyklos 30 (1977), S. 88–115. 9  Vgl. michaeL VoN PRoLLius: Das Wirtschaftssystem der nationalsozialisten 1933–1939.  Steuerung durch emergente Organisation und politische Prozesse, Paderborn 2003. 10  Vgl. P. temiN, Planning (wie anm. 2), S. 574. 11  c. Buchheim / j. scheRNeR, Role (wie anm. 5), S. 411.

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reitung geschuldet waren und deshalb kaum hinweise darauf geben, wie eine  zukünftige nationalsozialistische Friedenswirtschaft ausgesehen hätte.  Zentrales  Element  einer  jeden  marktwirtschaftlichen  Ordnung  ist  ein  funktionsfähiger Preismechanismus, der die individuellen Pläne von Millionen von haushalten und tausenden von Unternehmen mittels Preisanpassungen  koordiniert  und  somit  idealtypisch  auf  allen  Einzelmärkten  zu  einer  Markträumung  führt.  Insbesondere  gelangen  auf  freien  Märkten  diejenigen  weiterverarbeitenden Unternehmen in den Besitz von Rohstoffen und Vorprodukten, die bei gegebenem angebot dazu in der lage sind, aufgrund ihrer eigenen Ertragslage die vergleichsweise höchsten Beschaffungspreise zu zahlen. Diese freie Marktpreisbildung wurde im „Dritten Reich“ in zunehmendem  Maße  eingeschränkt.  Bezogen  sich  die  höchstpreisvorschriften  seit  Sommer 1934 zunächst nur auf einzelne Güter des täglichen Bedarfs wie beispielsweise Brot, Butter oder textilien, führte der neu ernannte Preiskommissar  für  die  Preisbildung  Josef  Wagner  im  herbst  1936  einen  allgemeinen  Preisstopp ein, der Güterpreise und löhne auf dem gegebenen niveau einfror.  Zukünftige  Preiserhöhungen  bedurften  der  Genehmigung  der  staatlichen  Preisbildungsstellen und wurden in der Regel nur dann erlaubt, wenn sie im  rüstungs- und autarkiepolitischen Interesse der nationalsozialistischen Machthaber waren.12 Durch die Festsetzung von staatlich regulierten höchstpreisen wurde die  Markträumungsfunktion  der  Preise  aufgehoben.  Deshalb  entstand  im  Zuge  des  nationalsozialistischen  Rüstungsbooms  gerade  auch  auf  den  Rohstoff-  und Vorleistungsgütermärkten eine chronische Überschussnachfrage, die den  Staat dazu zwang, komplexe Bewirtschaftungssysteme aufzubauen, mit dessen hilfe die knappen Güter und Faktoren in die von den nationalsozialisten  bevorzugten  Verwendungszwecke  gelenkt  werden  sollten.  So  wurden  die  höchstpreisvorschriften bald durch Kontingentierungsmaßnahmen und Verwendungsbeschränkungen sowie eine zunehmende Intensivierung und Zentralisierung der staatlichen Überwachungsstellen ergänzt. Dass diese Interventionsspirale von den nationalsozialisten nicht als konstituierendes Merkmal  ihres Wirtschaftssystems angedacht war, sondern durch den mit der Preisregulierung einhergehenden beständigen Druck der Überschussnachfrage Schritt  für Schritt erzwungen wurde, belegen Ulrich hensler und Ralf Banken überzeugend  und  anschaulich  für  die  Stahl-  beziehungsweise  Edelmetallbewirtschaftung.13 Stefanie Werner, harald Degner und Mark adamo beschreiben,  12  Zur nationalsozialistischen Preispolitik vgl. aNdRé steiNeR: Von der Preisüberwachung  zur  staatlichen  Preisbildung.  Verbraucherpreispolitik  und  ihre  Konsequenzen  für  den  lebensstandard unter dem nationalsozialismus in der nachkriegszeit, in: aNdRé steiNeR (hg.): Preispolitik und lebensstandard. nationalsozialismus, DDR und Bundesrepublik im Vergleich, Köln u. a. 2006, S. 23–85. 13  Vgl. uLRich heNsLeR: Die Stahlkontigentierung im Dritten Reich, Stuttgart 2008; RaLf BaNKeN:  Edelmetallmangel  und  Großraubwirtschaft.  Die  Entwicklung  des  deutschen 

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wie mit hilfe von arbeitsbüchern versucht wurde, die deutschen arbeitskräfte  unter Umgehung des dysfunktionalen arbeitsmarktes in die kriegsnotwendigen Industrien zu lenken.14 In realtypischen Marktwirtschaften finden sich häufig sektorale ausnahmebereiche, die in ihrer ordnungspolitischen ausgestaltung diesen nationalsozialistischen  Bewirtschaftungssystemen  sehr  ähnlich  sind.  Beispielsweise  wurde auch in der Sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland  mit der landwirtschaft ein gesamter Wirtschaftssektor durch zunächst nationale und dann europäische „Marktordnungen“ von der freien Marktpreisbildung vollständig ausgenommen.15 Im Gegensatz zu solchen Formen auf einzelne Sektoren beschränkter Bewirtschaftung umfasste die nationalsozialistische Bewirtschaftung aber weite teile der Volkswirtschaft. Ist man der auffassung, dass freie Marktpreisbildung das eigentliche Kernelement einer jeden marktwirtschaftlichen Ordnung darstellt, kommt man nicht umhin, dem  nationalsozialistischen Wirtschaftssystem den marktwirtschaftlichen charakter abzusprechen – was es aber noch nicht zwangsläufig zu einer Zentralverwaltungswirtschaft macht. Überraschenderweise  konzentriert  sich  die  wissenschaftliche  Debatte  zwischen temin und hayes auf der einen Seite und Buchheim und Scherner  auf der anderen trotzdem nicht auf den Preismechanismus, sondern auf das  anreizsystem des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems. In seinem explizit gegen Buchheim und Scherner gerichteten aufsatz aus dem Jahr 2009  bezichtigt hayes die beiden autoren, Verfechter eines „voluntarist turn“16 in  der Wirtschaftsgeschichtsschreibung über das „Dritte Reich“ zu sein, der den  Edelmetallsektors im „Dritten Reich“ 1933–1945, Berlin, 2009. Zur Rolle des Stahls als  eigentlichem  Engpassfaktor  der  nationalsozialistischen  Wirtschaft  vgl.  auch  adam tooze:  the  Wages  of  Destruction.  the  Making  and  Breaking  of  the  nazi  Economy,  london 2006. Zum Widerspruch zwischen dem Steuerungsanspruch und den begrenzten Steuerungsmöglichkeiten der nationalsozialistischen Führung vgl. WeRNeR PLumPe:  „Steuerungsprobleme“ in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte des nationalsozialismus, in: geRd BeNdeR / RaiNeR maRia KiesoW / dieteR simoN (hg.): Die andere  Seite des Wirtschaftsrechts. Steuerung in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt  am Main 2006, S. 19–30. 14  Vgl.  stefaNie WeRNeR / haRaLd degNeR:  hitlers  gläserne arbeitskräfte.  Das arbeitsbuch als Quelle von Mikrodaten für die historische arbeitsmarktforschung, in: Jahrbuch  für Wirtschaftsgeschichte 52/2 (2011). Einen Überblick über die nationalsozialistische  arbeitsmarktpolitik gibt RüdigeR hachtmaNN: labour Policy in Industry, in: chRistoPh Buchheim (hg.): German Industry in the nazi Period, Stuttgart 2008, S. 65–83. 15  Vgl. jocheN stReB: Eine analyse der Ziele, Instrumente und Verteilungswirkungen der  agrareinkommenspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, holm 1996, S. 254–284.  Zu  den  ökonomischen  Folgen  der  nationalsozialistischen agrarpolitik  vgl.  stePhaNie degLeR / jocheN stReB:  Die  verlorene  Erzeugungsschlacht:  Die  nationalsozialistische  landwirtschaft im Systemvergleich, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (2008), S.  161–181. 16  P. hayes, Freedom (wie anm. 3), S. 30. Vgl. auch die direkte Replik chRistoPh Buch-

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Unternehmern  unterstellt,  freiwillig  und  vorrangig  aus  betriebswirtschaftlichen Motiven mit den nationalsozialistischen Machthabern kooperiert zu haben. hayes ist hingegen der auffassung, dass sich die Unternehmer im „Dritten Reich“ in einer „Skinner Box“ gefangen sahen, in der Wohlverhalten zwar  honoriert, Fehlverhalten aber auch drakonisch bestraft wurde.17 Insbesondere  hätte die strafrechtliche Verfolgung oder Enteignung weniger, unbotmäßiger  Unternehmer bereits genügt, eine allgemeine atmosphäre der Furcht zu schaffen, in der den Wünschen des Regimes oft sogar in vorauseilendem Gehorsam  genügt wurde.  Diese argumentation  kann  nicht darüber  hinwegtäuschen, dass  zahlreiche unternehmenshistorische Beispiele belegen, dass Unternehmer im „Dritten Reich“ durchaus den handlungsspielraum besaßen, sich den Wünschen  des Regimes zu widersetzen.18 Wenn Unternehmer trotzdem kooperierten, taten  sie  dies  vor  allem  deshalb,  weil  sie  sich  von  dieser  Zusammenarbeit  Wachstum  und  hohe  Gewinne  oder  schlichtweg  die  betriebswirtschaftliche  Existenzsicherung  erwarteten.19  Manfred  Genz,  ehemaliger  Finanzvorstand  der Daimlerchrysler aG, führt hierzu aus: „langfristig kann sich kein Unternehmen den vom Staat gesetzten Rahmenbedingungen  entziehen.  Es  kann  nicht  nachhaltig  gegen  ein  bestehendes  System  arbeiten,  sondern  muss sich arrangieren, wenn es seine wirtschaftliche Betätigung aufrechterhalten will.  Deshalb ist es in autoritären, diktatorischen Staaten unvermeidlich, dass die Wirtschaft  in staatliche Maßnahmen, auch Unrechtsmaßnahmen, hineingezogen wird.“20

Selbst  wenn  man  hayes  zustimmen  mag,  wenn  er  Buchheim  und  Scherner  vorwirft,  den  Zwangscharakter  des  nationalsozialistischen  Wirtschaftssystems herunterzuspielen, muss er sich seinerseits den Vorwurf gefallen lassen,  die Bedeutung des Gewinnmotivs für das unternehmerische handeln zu ver/ joNas scheRNeR: corporate Freedom of action – a Reply to Peter hayes, in: Bulletin of the GhI 45 (2009), S. 109–112. Ebd., S. 31. Vgl. joNas scheRNeR: Das Verhältnis zwischen nS-Regime und Industrieunternehmen  – Zwang oder Kooperation?, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 51 (2006), S.  166–190; joNas scheRNeR: the Beginnings of nazi autarky Policy: the „national Pulp  Programme“  and  the  Origins  of  Regional  Staple  Fibre  Plants,  in:  Economic  history  Review 61 (2008), S. 867–895. Stefan  lindner  kann  mit  hilfe  eines  biographischen  Forschungsansatzes  am  Beispiel  von hoechst zeigen, dass auch diejenigen Manager, die den nationalsozialisten ablehnend oder zumindest reserviert gegenüberstanden, bereit waren mit dem Regime zu kooperieren, wenn sie sich hiervon betriebswirtschaftliche Vorteile für ihr Unternehmen  versprachen. Vgl. stePhaN LiNdNeR: Inside IG Farben. hoechst during the third Reich,  cambridge 2008. maNfRed geNz: Die Verstrickung von Unternehmen in Unrechtsstaaten. Zur Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, in: jüRgeN LiLLteicheR  (hg.):  Profiteure  des  nS-Systems?  Deutsche  Unternehmen  und  das  „Dritte Reich“, Berlin 2006, S. 200–215, hier S. 204. heim

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nachlässigen. Wie umfassend die nationalsozialisten die betriebswirtschaftlichen Empfindlichkeiten der Privatunternehmen im Rahmen ihrer Wirtschaftslenkung tatsächlich berücksichtigten, verdeutlicht Scherners bahnbrechende  Untersuchung  zur  Durchführung  staatlich  geplanter  Investitionsprojekte  im  „Dritten  Reich“,  auf  deren  Resultate  deshalb  näher  eingegangen  werden  soll.21 ausgangspunkt von Scherners analyse ist die Beobachtung, dass die  deutschen Unternehmen eben keineswegs mittels hierarchischer anordnung  zur  Finanzierung  bestimmter autarkie-  und  Rüstungsinvestitionen  gezwungen wurden. Vielmehr konnten sich die Unternehmer der staatlichen Investitionsvorgabe sogar gänzlich verweigern oder aber, was eher der Regelfall war,  das Risiko der Investition ganz oder teilweise auf den Staat wälzen. Grundsätzlich standen im „Dritten Reich“ drei verschiedene Formen der Investitionsfinanzierung zur auswahl. Im Rahmen eines so genannten Wirtschaftlichkeitsgarantievertrags  übernahm  das  private  Unternehmen  die  Finanzierung  der zusätzlichen Produktionskapazitäten aus eigenen Mitteln und war damit  natürlich auch deren Eigentümer. Im Gegenzug gewährte der Staat dem investitionswilligen Unternehmen für einen vorab vereinbarten amortisationszeitraum Preis- und absatzgarantien für eine bestimmte Menge der in der neuen  Fabrik erzeugten Güter. Diesem Vorteil, das Investitionsrisiko auf den Staat  übertragen zu haben, stand aus Sicht der Unternehmer auch ein nicht zu unterschätzender nachteil gegenüber. Im Rahmen des Wirtschaftlichkeitsgarantievertrags mussten sie nämlich dem nationalsozialistischen Staat umfangreiche  Kontroll-  und  Mitspracherechte  einräumen,  wodurch  ihr  unternehmerischer  handlungsspielraum  erheblich  eingeschränkt  wurde.  nach ablauf  der  Vertragsfrist konnte das Unternehmen allerdings wieder frei über seine Produktionsanlagen verfügen und nunmehr vollständig auf eigenes Risiko weiter betreiben. Wollte  der  Unternehmer  den  Einfluss  des  nationalsozialistischen  Staats  auf die eigene Unternehmensführung verringern, bot sich als alternative ein  Risikoteilungsvertrag an, bei dessen Gültigkeit der Staat nur einen bestimmten anteil des gesamten Investitionsrisikos durch Kredite oder Bürgschaften  21  Vgl. joNas scheRNeR: Die logik der Industriepolitik im Dritten Reich. Die Investitionen  in  die autarkie-  und  Rüstungsindustrie  und  ihre  staatliche  Förderung,  Stuttgart  2008.  Zur Bedeutung unternehmerischer Gewinnmotive bei der ausgestaltung staatlicher Beschaffungsverträge vgl. jocheN stReB / saBiNe stReB: Optimale Beschaffungsverträge  bei  asymmetrischer  Informationsverteilung.  Zur  Erklärung  des  nationalsozialistischen  „Rüstungswunders“  während  des  Zweiten  Weltkriegs,  in:  Zeitschrift  für  Wirtschafts-  und Sozialwissenschaften 118 (1998), S. 275–294; jocheN stReB: negotiating contract  types  and  contract  clauses  in  the  German  construction  Industry  during  the  third  Reich,  in: the  RanD  Journal  of  Economics  40  (2009),  S.  364–379;  Lutz BudRass / joNas scheRNeR / jocheN stReB: Fixed-price contracts, learning and Outsourcing: Explaining the continuous Growth of Output and labour Productivity in the German aircraft Industry during World War II, in: Economic history Review 63 (2010), S. 107– 136.

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übernahm.  Preis-  und  absatzgarantien  wurden  im  Rahmen  von  Risikoteilungsverträgen  meistens  nicht  gewährt,  dafür  konnte  ein  Unternehmen  die  vertraglichen  Vereinbarungen,  einschließlich  der  wiederum  vorgesehenen  staatlichen Mitsprache- und Kontrollrechte, aber auch jederzeit aufkündigen.  Somit  bot  der  Risikoteilungsvertrag  einem  Unternehmer  im  Vergleich  zum  Wirtschaftlichkeitsgarantievertrag  einen  höheren  handlungsspielraum  zum  Preis eines erhöhten Investitionsrisikos. Beide Vertragsformen hatten gemeinsam,  dass  das  Privateigentum  an  den  neu  errichteten  Produktionsanlagen  beim Unternehmer verblieb. Dies war bei der dritten Möglichkeit zur Finanzierung der staatlich geplanten Investitionsprojekte, den Pachtverträgen, nicht  der Fall. hier finanzierte der Staat den aufbau der Produktionsanlagen vollständig aus öffentlichen Mitteln, war damit deren Eigentümer und verpachtete  diese dann für eine bestimmte laufzeit an private Betreiberunternehmen. als  Pachtsumme war zwischen der hälfte und zwei Drittel des Betriebsgewinns  an den Staat abzuführen. Der dem Unternehmen verbleibende Gewinn diente  als Kompensation für die Bereitstellung von unternehmerischem und technologischem Know-how. nach ablauf der Pachtperiode besaß das Betreiberunternehmen keine weiteren ansprüche auf die bisher genutzten anlagen. angesichts  dieser  drei  grundsätzlichen  Vertragsalternativen  mit  jeweils  zahlreichen  Untervarianten  war  die  konkrete ausgestaltung  eines  Investitionsvertrages zwischen Staat und Unternehmen im „Dritten Reich“ das Ergebnis eines komplexen abwägungs- und aushandlungsprozesses, der von den  Unternehmen maßgeblich mitbestimmt wurde. Scherner postuliert, dass die  Unternehmer im Falle von kurzfristig und langfristig positiven Rentabilitätserwartungen bestrebt waren, das Eigentum an den neuen anlagen zu erwerben und den Staat soweit als möglich aus der Unternehmensführung heraus zu  halten, und deshalb für einen Risikoteilungsvertrag oder gar für die vollständige Übernahme des Investitionsrisikos optierten. Somit weist diese Vertragswahl nach auffassung von Scherner darauf hin, dass die betreffenden Unternehmen die Investitionen in ähnlichem Umfang auch in der kontrafaktischen  Vergleichssituation einer weiter existenten Weimarer Republik durchgeführt  hätten. als Beleg für diese these führt er unter anderem an, dass der aufbau  der  Baumwollimporte  substituierenden  chemiefaserkapazitäten  weitgehend  auf  eigenes  Risiko  der  Privatwirtschaft  erfolgte  und  gemessen  an  der  Entwicklung  in  anderen  Industrieländern  wohl  in  fast  gleichem  Umfang  auch  ohne Einflussnahme der nationalsozialisten betrieben worden wäre.22 Zu einer anderen Entscheidung gelangte der chemiekonzern I.G. Farben  im Falle des ersten hydrierwerks zur Gewinnung von treibstoff aus der heimischen  Braunkohle.  aufgrund  des  niedrigen  Weltmarktpreises  von  Erdöl  schien die industrielle Braunkohlehydrierung zumindest kurzfristig keine positiven Gewinne abzuwerfen. Deshalb bedurfte es staatlicher Preis- und ab22  Vgl. j. scheRNeR, logik (wie anm. 20), S. 190–199.

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satzgarantien im Rahmen eines Wirtschaftlichkeitsgarantievertrages, um die  I.G. Farben bald nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Dezember  1933  dazu  zu  überreden,  über  das  Stadium  von  Pilotanlagen  hinaus  zu  gehen und in leuna eine große Fabrik zur treibstoffsynthese zu errichten.23 Ein  von  Scherner  genanntes  Beispiel  für  ein autarkieprojekt,  das  aufgrund von kurzfristig und langfristig negativen Rentabilitätserwartungen der  Privatunternehmer nur in Form von Pachtverträgen betrieben werden konnte,  war der ausbau des deutschen Kupferbergbaus.24 Große Bedeutung kam den  Pachtverträgen aber insbesondere beim aufbau von Rüstungskapazitäten seit  Mitte der 1930er Jahre zu. Da sich die privaten Unternehmen in aller Regel  weigerten, eigene Mittel in zusätzliche Rüstungskapazitäten für einen zukünftigen  Mobilisierungsfall  zu  investieren,  wurden  diese anlagen,  die  oftmals  fern ab der westlichen deutschen außengrenzen und Bevölkerungszentren errichtet wurden, in das von der Verwertungsgesellschaft für Montanindustrie  Gmbh  (Montan)  verwaltete  System  heereseigener  Industriebetriebe  (hIB)  eingebunden.25 Generell verfügte die Montan als treuhänderin des Reiches  über die Betriebsgrundstücke der hIB und finanzierte überdies aus heeresmitteln  den anlagenbau,  der  in  aller  Regel  von  den  privaten  Muttergesellschaften  wie  zum  Beispiel  den  Deutschen  Waffen-  und  Munitionsfabriken,  der Robert Bosch Gmbh26 oder der Dynamit nobel aG mit entsprechendem  Know-how  durchgeführt  wurde.  Eigens  gegründete  tochtergesellschaften  dieser Privatunternehmen pachteten dann Grundstücke und Fabrikationsanlagen von der Montan gegen Zahlung eines variablen Pachtzins. Diese Konstruktion übertrug das anlagerisiko vollständig auf das Reich und schuf damit  oftmals erst die freiwillige Bereitschaft der privaten Unternehmen, Produktionsanlagen für Rüstung und autarkie zu betreiben, die sich aus ihrer eigenen  längerfristigen Perspektive nur als Fehlinvestitionen in Überkapazitäten darstellten. Mark  Spoerer  untersuchte  auf  Grundlage  von  Steuerbilanzen  von  über  100 Unternehmen die Gewinnentwicklung deutscher aktiengesellschaften im  Zeitraum zwischen 1925 und 1941.27 Für das Dritte Reich konstatiert er überdurchschnittlich hohe Gewinne, die ihren höhepunkt in den Jahren 1936 bis  1940, also zeitgleich mit dem Vierjahresplan erreichten. Eine genauere ana23  Ebd., S. 103f. 24  Ebd., S. 257–263. 25  Vgl.  BaRBaRa hoPmaNN: Von  der Montan  zur  Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG)  1916–1951, Stuttgart 1996, S. 71–85. Vgl. auch joNas scheRNeR / jocheN stReB: Wissenstransfer, lerneffekte oder Kapazitätsausbau? Die Ursachen des Wachstums der arbeitsproduktivität in den Werken der Deutschen Sprengchemie Gmbh, 1937–1943, in:  Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 53 (2008), S. 100–122. 26  Vgl. maNfRed oVeResch: Bosch in hildesheim 1937–1945, Göttingen 2008. 27  Vgl. maRK sPoeReR: Von Scheingewinnen zum Rüstungsboom. Die Eigenkapitalrentabilität der deutschen Industrieaktiengesellschaften 1925–1941, Stuttgart 1996.

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lyse  der  Gewinnentwicklung  zeigt  zudem,  dass  vor  allem  Unternehmen  in  rüstungsnahen  Branchen  überdurchschnittlich  gut  verdienten,  während  die  Gewinnzunahme  im  Konsumgüterbereich  deutlich  gedämpfter  verlief.  Was  Scherner  aus  der  ex-ante-Perspektive  der  Investitionsentscheidungen  beschreibt, findet bei Spoerer aus der ex-post-Perspektive der Bilanzanalyse Bestätigung. Unternehmen, die im Interesse des nationalsozialistischen Staates  investierten  und  produzierten,  wurden  dafür  mit  hohen  Gewinnen  belohnt.  Somit  ergibt  sich  ein  Bild,  das  mit  der  Vorstellung  einer  vorwiegend  auf  Zwang  basierenden  Kommandowirtschaft  kaum  zu  vereinbaren  ist. anstatt  die Unternehmen direkt zu zwingen, instrumentalisierten die nationalsozialisten das unternehmerische Gewinnmotiv. Es  ist  unstrittig,  dass  im  nationalsozialistischen  Wirtschaftssystem  das  formale Privateigentum an Produktionsmitteln trotz prominenter ausnahmen  wie der im Juli 1937 gegründeten staatlichen a.G. für Erzbergbau und Eisenhütten hermann Göring weiterhin dominierte. auch lassen sich im Verhalten  der nationalsozialisten keine hinweise darauf finden, dass man längerfristig  eine  Änderung  dieser  Situation  und  etwa  eine  großflächige  Sozialisierung  deutscher Schlüsselindustrien anstrebte. Selbst die nach der Bankenkrise im  Staatsbesitz befindlichen Berliner Großbanken wurden im „Dritten Reich“ reprivatisiert.28 henry turner ist der Überzeugung, dass hitlers Grundsatzentscheidung  für  die  Beibehaltung  des  Wettbewerbs  zwischen  privaten  Unternehmen  aus  seiner  auf  das  Wirtschaftsleben  übertragenen  sozialdarwinistischen Weltsicht resultierte.29 Ebenfalls unstrittig ist, dass durch die zunehmende Intensivierung staatlicher Bewirtschaftungs- und Kontrollmaßnahmen auf den Rohstoff-, arbeits-,  Kapital- und Produktmärkten die handlungsautonomie der Privateigentümer  immer  mehr  zusammenschrumpfte.30  temin  deutet  diese  umfassende  Beschränkung des unternehmerischen handlungsspielraums als eine spezifisch  nationalsozialistische  Form  der  Sozialisierung,  die  zwar  auf  die  rechtliche  Enteignung  der  Privateigentümer  verzichtete,  in  ihren  materiellen  auswirkungen aber zum gleichen Ergebnis, nämlich zur staatlichen Verfügung über  die Produktionsmittel führte.31 Buchheim und Scherner widersprechen auch  dieser Einschätzung. Ihrer Meinung nach hätte nur ein staatlich verordneter  Kontrahierungszwang zu einer faktischen abschaffung der Institution Privat28  Vgl.  dieteR ziegLeR:  Der  Ordnungsrahmen,  in:  johaNNes BähR  (hg.):  Die  Dresdner  Bank in der Wirtschaft des Dritten Reichs, München 2006, S. 43–74. Vgl. auch geRmà BeL: against the Mainstream: nazi Privatization in 1930s Germany, in: Economic history Review 63 (2010), S. 34–55. 29  Vgl. heNRy ashBy tuRNeR: Die Großunternehmer und der aufstieg hitlers, Berlin 1985,  S. 98. 30  Vgl. zum Beispiel auch geRd höschLe: Die deutsche textilindustrie zwischen 1933 und  1939. Staatsinterventionismus und ökonomische Rationalität, Stuttgart 2004. 31  Vgl. PeteR temiN: lessons from the Great Depression, cambridge 1989, S. 117.

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eigentum  geführt.  Stattdessen  hätten  die  deutschen  Privatunternehmer  auch  im „Dritten Reich“ weiterhin über das fundamentale Recht verfügt, sich Vertragsangeboten der staatlichen Planungs- und Beschaffungsstellen verweigern  zu können. hieraus ziehen Buchheim und Scherner den Schluss: „Somit  sind  Vertragsfreiheit  und  Privateigentum  eigentlich  die  zwei  Seiten  derselben  Medaille. Gibt es sie, dann sind Unternehmen zu autonomen Produktions- und Investitionsentscheidungen  gemäß  ihres  Ziels  der  Gewinnmaximierung  fähig,  und  es  existiert  eine Marktwirtschaft.“32

Es ist verblüffend, dass bereits im Jahr 1944 Otto nathan das Ergebnis der bis  heute andauernden Diskussion um die ordnungspolitische Einordnung des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems zutreffend vorwegnahm: „In the six years between the Fascist victory in Germany and the outbreak of war, nazism erected a system of production, distribution and consumption that defies classification in any of the usual categories. It was not capitalism in the traditional sense: the autonomous market mechanism so characteristic of capitalism during the last two centuries had all but disappeared. It was not State capitalism. the government disclaimed any  desire to own the means of production, and in fact took steps to denationalize them. It  was not socialism or communism: private property and private profit still existed. the  nazi system was, rather, a combination of some of the characteristics of capitalism and  a highly planned economy.“33

Der eigentliche Dissens der Wirtschaftshistoriker betrifft daher auch weniger  die Interpretation der konkreten Ordnungsmerkmale als vielmehr die begriffliche  Einordnung  dieser  ungewöhnlichen  ordnungstheoretischen  Kombination  aus  den  Idealtypen  „Zentralverwaltungswirtschaft“  und  „Marktwirtschaft“. temin und hayes beharren wie bereits ausführlich dargelegt darauf,  das nationalsozialistische Wirtschaftssystem als eine Form des indirekten Sozialismus zu deuten. nach auffassung von Dietmar Petzina lässt sich dieses  als  „staatliche  Kommandowirtschaft  bezeichnen  (die  allerdings  die  liberale  Marktwirtschaft  niemals  völlig  verdrängte!)“.34 Von  Prollius  spricht  in abgrenzung von der Zentralverwaltungswirtschaft sowohl von einer „Organisationswirtschaft“, in der sich „scheinbar ohne Ordnung aufeinander folgende  Führerbefehle  und  -erlasse,  Gesetze,  Verordnungen, anordnungen,  Richtlinien  usw.  als  eine  spezifisch  nationalsozialistische  Form  des  Organisierens  begreifen“  lassen,  als  auch  von  einer  „wehrwirtschaftlichen  Bedarfsdeckungswirtschaft“.35 Buchheim und Scherner halten schließlich den Begriff  32  chRistoPh Buchheim / joNas scheRNeR:  anmerkungen  zum  Wirtschaftssystem  des  „Dritten Reichs“, in: WeRNeR aBeLshauseR / jaN-otmaR hesse / WeRNeR PLumPe (hg.):  Wirtschaftsordnung,  Staat  und  Unternehmen.  neue  Forschungen  zur  Wirtschaftsgeschichte des nationalsozialismus, Essen 2003, S. 81–97, hier S. 85. 33  otto NathaN: nazi War Finance and Banking, new York 1944, S. 3. 34  d. PetziNa, autarkiepolitik (wie anm. 8), S. 197. 35  m. VoN PRoLLius, Wirtschaftssystem (wie anm. 9), S. 229f.

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„gelenkte Marktwirtschaft“ für die zutreffendste Bezeichnung des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems.36 Der  Vorteil  des  letztgenannten  Begriffs  ist  seine anschlussfähigkeit  an  eine von norbert Kloten entwickelte typologie, mit deren hilfe er die traditionelle  ordnungstheoretische Verengung  auf  die  beiden  Idealtypen  „Zentralverwaltungswirtschaft“ und „Marktwirtschaft“ zu überwinden sucht.37 Kloten  kommt auf Grundlage der Unterscheidung der drei Wirtschaftssysteme „Freie  Verkehrswirtschaft“, „Gelenkte Marktwirtschaft“ und „Zentralgeleitete Wirtschaft“ sowie der drei Eigentumsordnungen „Priorität: Privateigentum“, „Privates und öffentliches Eigentum“ und „Priorität: öffentliches Eigentum“ zu  dem  Ergebnis,  dass  gelenkte  Marktwirtschaften  mit  einem  nebeneinander  von privatem und öffentlichem Eigentum die überwiegende Mehrheit der historisch  relevanten  Wirtschaftsordnungen  darstellen.  Gleichwohl  unterscheiden sich auch diese realtypischen Mischformen deutlich hinsichtlich ihrer jeweiligen  lenkungsziele  und  lenkungsintensitäten.  hier  interessiert,  ob  das  nationalsozialistische Wirtschaftssystem  tatsächlich  als  gelenkte  Marktwirtschaft mit hoher lenkungsintensität zu deuten ist. Zur Beantwortung dieser  Frage betrachten wir die drei lenkungsziele: (1) makroökonomische Krisenbekämpfung,  (2)  sektorale  Regulierung  und  (3)  kriegswirtschaftliche  Restrukturierung, die in aufsteigender Reihenfolge mit einer zunehmenden Intensität der staatlichen lenkungseingriffe verbunden sind.38 Dem Keynesianismus verdankt die staatliche Wirtschaftspolitik das lenkungsversprechen, durch den Einsatz fiskal- und geldpolitischer Instrumente  akute Wirtschaftskrisen zu überwinden (oder gar im Sinne des Stabilitätsgesetzes von 1967 eine Feinjustierung zentraler makroökonomischer Zielgrößen  wie  Wechselkurs,  Preisniveau  oder  arbeitslosenrate  herbeiführen  zu  können).39 Oftmals wurde vermutet, dass die nationalsozialistische antikrisenpolitik  zwischen  1933  und  1936  als  frühe  und  erfolgreiche  Umsetzung  keynesianischer  Konzepte  gedeutet  werden  muss.40  John  Maynard  Keynes  36  Vgl.  c. Buchheim / j. scheRNeR, anmerkungen  (wie anm.  31),  S.  97.  Vgl.  auch  c. Buchheim / j. scheRNeR, Role (wie anm. 5), S. 411. Vgl. auch michaeL schNeideR: Unterm hakenkreuz: arbeiter und arbeiterbewegung 1933 bis 1939, in: geRhaRd a. RitteR (hg.): Geschichte der arbeiter und der arbeiterbewegung in Deutschland seit dem  Ende des 19. Jahrhunderts Bd. 12), Bonn 1999, S. 289. 37  Vgl. NoRBeRt KLoteN: Zur typenlehre der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen, in  Ordo 7 (1955), S. 123–143. 38  auch nach auffassung von Daniela Kahn stellt die Wehr- oder Kriegswirtschaft einen  Extremfall der gelenkten Marktwirtschaft dar. Vgl. daNieLa KahN: Die Steuerung der  Wirtschaft  durch  Recht  im  nationalsozialistischen  Deutschland.  Das  Beispiel  der  Reichsgruppe Industrie, Frankfurt am Main 2006, S. 21. 39  Vgl. heRBeRt gieRsch / KaRL-heiNz Paqué / hoLgeR schmiediNg: the Fading Miracle.  Four Decades of Market Economy in Germany, cambridge 21992, S. S. 147. 40  Wolfgang Schivelbusch deutet die antikrisenpolitiken in den USa, Italien und Deutschland  als  inhaltlich  durchaus  vergleichbare  Reaktionen  auf  das  trauma  der  Weltwirt-

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selbst  wies  im  Vorwort  seiner  1936  erschienenen  deutschen auflage  seiner  „General theory of Employment, Interest, and Money“ darauf hin, dass  „die theorie der Produktion als Ganzes, die den Zweck des folgenden Buches bildet,  viel  leichter  den  Verhältnissen  eines  totalen  Staates  angepasst  werden  [kann]  als  die  [klassische] theorie der Erzeugung und Verteilung einer gegebenen, unter Bedingungen  des  freien  Wettbewerbes  und  eines  großen  Maßes  von  laissez-faire  erstellten  Produktion.“41

Es ist das Verdienst von Rene Erbe, schon 1958 ausführlich dargelegt zu haben, dass die nationalsozialistische antikrisenpolitik in zentralen Punkten von  der  Konzeption  einer  keynesianischen Wirtschaftspolitik  abwich.  Insbesondere weist Erbe darauf hin, dass die nationalsozialisten nichts dafür taten, die  private Konsumneigung zu erhöhen, sondern ganz im Gegenteil das (Zwangs-) Sparen der haushalte förderten, weshalb die eigentlich wünschenswerte Multiplikatorwirkung der erhöhten Staatsausgaben so erstaunlich niedrig war. In  Erbes Worten war auch dies „eine beachtliche leistung, jedoch keine beschäftigungspolitische, sondern eine kriegswirtschaftliche.“42 Wir werden auf diese  Einschätzung zurückkommen. Keynesianische Wirtschaftslenkung beschränkt sich im allgemeinen auf  prozesspolitische Interventionen, die zwar die Preisbildung auf den einzelnen  Märkten beeinflussen, aber weder das Funktionieren des Preismechanismus  noch  die  handlungsautonomie  der  Wirtschaftssubjekte  einschränken.  Eine  höhere lenkungsintensität weist die sektorale Regulierung auf, die insbesondere durch Marktversagen begründet wird und im Gegensatz zur makroökonomischen Krisenbekämpfung auch mit ordnungspolitischen Eingriffen verbunden sein kann. Beispielsweise kann es bei Vorliegen von natürlichen Monopolen gerechtfertigt erscheinen, den Preissetzungsspielraum der Monopolisten  durch  staatliche  höchstpreisvorschriften  zu  begrenzen.43  Oftmals  begründen Politiker regulatorische Maßnahmen aber auch durch das auftreten  gesellschaftlich unerwünschter Ergebnisse auf eigentlich funktionstüchtigen  Märkten. In diese Kategorie fallen beispielsweise die bereits oben angesprochenen, staatlich verordneten Mindest- und höchstpreise in der zunächst naschaftskrise. Vgl. WoLfgaNg schiVeLBusch: Entfernte Verwandschaft. Faschismus, nationalsozialismus,  new  Deal  1933–1939,  München  2005. Vgl.  auch WeRNeR PLumPe:  Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart, München 2010, S. 84–91. 41  johN mayNaRd KeyNes: allgemeine theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, München/leipzig 1936, S. IX. 42  ReNe eRBe: Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik 1933–1939 im lichte der modernen theorie, Zürich 1958, S. 163. Vgl. auch aLBRecht RitschL: Deutschlands Krisen  und Konjunktur 1924–1934, Berlin 2003, S. 41–106. 43  Zur  Begründung  der  Regulierung  von  Stromnetzen  vgl.  thoRsteN PRoetteL / jocheN stReB / saBiNe stReB: Die Produktivitätsentwicklung in der deutschen Stromwirtschaft  in langfristiger Perspektive, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 10 (2009), S. 309– 332.

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tionalsozialistischen und später europäischen agrarpolitik. allen diesen regulatorischen Eingriffen ist gemeinsam, dass sie (zumindest vorgeblich) im Interesse  der  Konsumenten  getätigt  werden,  die  vor  überhöhten  Preisen  geschützten  werden  sollen  oder  deren  Versorgungssicherheit  man  zu  gewährleisten beabsichtigt. Wie sich bereits in der Beurteilung der nationalsozialistischen antikrisenpolitik  durch  Erbe  andeutete,  genießen  die  Wünsche  der  Konsumenten  im  Verlauf  der  kriegswirtschaftlichen  Restrukturierung  einer  Volkswirtschaft  nicht mehr die oberste Priorität. Ganz im Gegenteil ergreift der Staat prozess-  und  ordnungspolitische  Interventionen  zur  Zurückdrängung  des  privaten  Konsums, um Ressourcen für den aufbau und die nutzung von Rüstungskapazitäten freizusetzen. Willi Boelcke führt hierzu aus: „Der  Krieg  dagegen  beraubt  die  nunmehr  ‚kriegsverpflichtete‘  Wirtschaft  mehr  oder  weniger ihrer primär auf die ausdehnung der zivilen Konsummöglichkeiten orientierten  ökonomischen  Funktionen  und  zwingt  ihr,  staatliche  Machtvollkommenheiten  dabei  ausnutzend, eine den Gesetzen des Krieges unterworfene Zweckbestimmung auf.“44

Der Schluss liegt damit nahe, das nationalsozialistische Wirtschaftssystem als  Marktwirtschaft  im  kriegswirtschaftlichen  (und  damit  zeitlich  begrenzten)  ausnahmezustand zu verstehen, in der die lenkungsintensität hoch und zentrale  marktwirtschaftliche  Institutionen  aus  Sachzwang  suspendiert  waren.  Diese auffassung ist in der tat weit verbreitet. avraham Barkai und Erbe sind  sich  einig,  die  deutsche  Volkswirtschaft  schon  ab  1934  als  „vorbereitende  Kriegswirtschaft“45 zu interpretieren. auch nach Boelcke begann bereits Ende  1934 die erste Etappe „der Umformung zur Kriegswirtschaft“.46 Overy eröffnet eine international vergleichende Perspektive, wenn er feststellt, dass sich  die nationalsozialistischen lenkungseingriffe kaum von den kriegswirtschaftlichen Maßnahmen unterschieden, die während des Zweiten Krieges von den  westlichen alliierten ergriffen wurden.47 Buchheim und Scherner teilen diese  Einschätzung: „the main difference between the nazi war-related economy  and Western war-related economies of the time can be detected only by an  analysis that transcends economics.“48 Im nächsten abschnitt werden wir daher  untersuchen,  inwieweit  das  nationalsozialistische  Wirtschaftssystem  44  WiLLi a. BoeLcKe: Rüstungswirtschaft I: Kriegswirtschaft, in: WiLLi aLBeRs u. a. (hg.):  handwörterbuch  der  Wirtschaftswissenschaft  Bd.  6,  Stuttgart  u. a.  1988,  S.  503–513,  hier S. 503. 45  aVRaham BaRKai: Das Wirtschaftssystem des nationalsozialismus. Ideologie, theorie  und  Politik  1933–1945,  erweiterte  neuausgabe,  Frankfurt  am  Main  1998;  S.  8.  Vgl.  auch R. eRBe, Wirtschaftspolitik (wie anm. 41), S. 4. 46  WiLLi a. BoeLcKe: Die Kosten von hitlers Krieg: Kriegsfinanzierung und finanzielles  Kriegserbe in Deutschland 1933–1948, Paderborn 1985, S. 9 47  Vgl. RichaRd j. oVeRy: the nazi Economic Recovery 1932–1938, cambridge 21996, S.  67. 48  c. Buchheim / j. scheRNeR, Role (wie anm. 5), S. 412.

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schon  in  den  Vorkriegsjahren  als  gelenkte  Marktwirtschaft  im  kriegswirtschaftlichen ausnahmezustand zu charakterisieren ist. außerdem werden wir  zeigen, dass sich die Kriegswirtschaften der alliierten und der nationalsozialisten in der tat in wichtigen Ordnungsmerkmalen ähnelten. 3. Vorgezogene Kriegswirtschaft Generell gilt, dass es zur Vorbereitung eines materialintensiven und langwierigen  Krieges  gegen  wirtschaftlich  starke  Gegner49  einer  vorausplanenden  kriegswirtschaftlichen  Umstrukturierung  der Volkswirtschaft  bedarf.  Rechtzeitig vor ausbruch des Krieges müssen zunächst umfangreiche Investitionen  in den ausbau der Rüstungskapazitäten getätigt werden, da die Erstellung von  neuen anlagen und Fabriken mitunter mehrere Jahre in anspruch nimmt. außerdem muss durch aufbau eines entsprechenden lenkungsapparats sichergestellt  werden,  dass  die  volkswirtschaftlich  verfügbaren arbeitskräfte  und  Rohstoffe im Bedarfsfall schnell und effizient in der Rüstungsproduktion konzentriert werden können. Diese kriegswirtschaftlichen Weichenstellungen gehen zwangsläufig zu lasten der Konsumenten. Jede für die Kriegsvorbereitung eingesetzte Ressource steht nicht mehr für die zivile Produktion zur Verfügung und verknappt damit das gesamtwirtschaftliche angebot an Konsumgütern.  Die  im  Zuge  der  Rüstungskonjunktur  vollbeschäftige  Bevölkerung  wird hingegen bestrebt sein, ihre nachfrage nach Konsumgütern ausdehnen,  so dass die anwachsende Überschussnachfrage auf freien Konsumgütermärkten zu stark steigenden Preisen führen würde. Diese Entwicklung muss der  Staat vor allem deshalb verhindern, weil von steigenden Konsumgüterpreisen  ein starker anreiz auf die Privateigentümer an den Produktionsmitteln ausgehen würde, sich von der kriegswirtschaftlichen Investitionen abzuwenden und  sich stattdessen verstärkt in der Konsumgüterproduktion zu engagieren. Um  sicherzustellen, dass der private Konsum zurückgedrängt und die volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren vorrangig für den aufbau (und die spätere  nutzung) von Rüstungskapazitäten genutzt werden, ist während einer kriegswirtschaftlichen  Restrukturierung  die aussetzung  der  freien  Marktpreisbildung deshalb über kurz oder lang unumgänglich. Dieser Preisstopp muss unweigerlich zur Einführung ergänzender Bewirtschaftungsmaßnahmen führen,  welche anstelle des nunmehr dysfunktionalen Preismechanismus die Markträumungsfunktion übernehmen.50 In Übereinstimmung mit diesen Überlegungen definiert Barkai zwei Kriterien, anhand derer die Existenz einer kriegswirtschaftlichen Wirtschaftsord49  adam tooze zeigt, dass im Jahr 1944 das kombinierte Bruttoinlandsprodukt der alliierten  mehr als Dreimal so hoch war wie das der achsenmächte. Vgl. a. tooze, Wages  (wie anm. 13), S. 641. 50  Vgl. W. BoeLcKe, Rüstungswirtschaft (wie anm. 44).

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nung nachgewiesen werden kann. Diese sind, erstens, die ordnungspolitische  Etablierung von „institutionellen Kontroll- und lenkungsmechanismen“ und,  zweitens,  „quantitative  Parameter“51,  welche  den  ausbau  der  Rüstungsanstrengungen zu lasten des privaten Konsums belegen. Im Sinne des ersten  Kriteriums kann der schrittweise ausbau von Preiskontrollen, von Devisen-  und  Rohstoffbewirtschaftung  sowie  von arbeitskräfte-  und  Investitionslenkung  seit  1934  als  ordnungspolitische  transformation  des  deutschen  Wirtschaftssystems  in  eine  Kriegswirtschaft  gedeutet  werden.52  Spoerer  und  Scherner liefern die quantitativen Belege. Spoerer zeigt, dass der reale Prokopfkonsum der deutschen Bevölkerung  zwischen 1933 und 1938 selbst dann nicht mehr das Vorkrisenniveau aus dem  Jahr 1928 erreichte, wenn man zur Preisbereinigung den sehr wahrscheinlich  zu  niedrig  angesetzten  amtlichen  Index  der  lebenshaltungskosten  verwendet.53  angesichts  des  auseinanderlaufens  von  stagnierendem  Konsum  und  steigendem Bruttonationaleinkommen von einer Deformation des Wachstumsprozesses54 im „Dritten Reich“ zu sprechen, ist nur dann gerechtfertigt, wenn  man  als  Maßstab  zur  Beurteilung  dieser  Wirtschaftsordnung  wie  für  „normale“ Marktwirtschaften üblich den lebensstandard der Konsumenten heranzieht. hingegen war es, Erbe folgend, in einer vorgezogenen Kriegswirtschaft  durchaus als Erfolg zu verbuchen, dass es seit der Mitte der 1930er Jahre ge-

51  a. BaRKai, Wirtschaftssystem (wie anm. 45), S. 206. 52  aus ordnungstheoretischer Perspektive ist bereits die Einführung von Preisstopps und  Bewirtschaftungsmaßnahmen zum Zwecke der kriegswirtschaftlichen Restrukturierung  konstituierend für eine (vorgezogene) Kriegswirtschaft. Die quantitativen Parameter beschreiben  lediglich  Geschwindigkeit  und  Umfang  des  volkswirtschaftlichen  Umbaus.  Insoweit widerspricht selbst die manchmal auf Grundlage quantitativer Daten vertretene  these, das „Dritte Reich“ habe zu Beginn des Zweiten Weltkriegs eine „Friedenswirtschaft im Kriege“ betrieben, nicht der hier vertretenen auffassung, dass das nationalsozialistische  Wirtschaftssystem  spätestens  seit  1936  die  wesentlichen  Ordnungsmerkmale einer Kriegswirtschaft aufwies. Zur Debatte um die „Friedenswirtschaft im Krieg“  vgl. zum Beispiel R. oVeRy, War (wie anm. 4), S. 259–314. 53  Vgl. maRK sPoeReR: Demontage eines Mythos? Zu der Kontroverse über das nationalsozialistische Wirtschaftswunder,  in:  Geschichte  und  Gesellschaft  31  (2005),  S.  415– 438. Zum Rückgang des biologischen lebensstandards vgl. jöRg BateN / aNdRea WagNeR:  Mangelernährung,  Krankheit  und  Sterblichkeit  im  nS-Wirtschaftsaufschwung  (1933–1937), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (2003), S. 99–123. Diese Befunde  stehen  in  klarem  Gegensatz  zu alys  Behauptung,  die  nationalsozialisten  hätten  sich  politische  Zustimmung  durch  eine  Erhöhung  des  lebensstandards  breiter  Bevölkerungsschichten erkauft. Vgl. götz aLy: hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 32005. 54  Vgl. m. sPoeReR, Demontage (wie anm. 53), S. 434. Vgl. auch chRistoPh Buchheim:  Die Wirtschaftsentwicklung im Dritten Reich – mehr Desaster als Wunder. Eine Erwiderung  auf Werner abelshauser,  in: Vierteljahrshefte  für  Zeitgeschichte  49  (2001),  S.  653–664.

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lang, die Konsumausgaben systematisch zu Gunsten der Kriegsvorbereitung  zu drosseln.55 Scherner schätzt auf Grundlage bisher ungenutzter Quellen die Investitionsaktivitäten im „Dritten Reich“ neu.56 Er kommt zu dem Ergebnis, dass die  bisher herangezogenen Zeitreihen den Umfang aller industriellen Investitionen um etwa ein Viertel unterschätzen. außerdem stellt Scherner fest, dass die  kriegsvorbereitenden Investitionen in die autarkie- und Rüstungskapazitäten  bereits zwischen 1936 und 1939 einen anteil von etwa zwei Dritteln an allen  industriellen Investitionen aufwiesen. Deshalb hält auch er es für angebracht,  das  „Dritte  Reich“  bereits  in  den  späten  1930er  Jahren  als  „war-like  peace  economy“57 zu charakterisieren. Zusammenfassend erscheint es also tatsächlich gerechtfertigt, das nationalsozialistische Wirtschaftssystem schon seit 1934/36 primär als Kriegswirtschaft zu deuten. Vor diesem hintergrund verdeutlicht auch ein internationaler Vergleich58, dass ordnungspolitische Interventionen, die oftmals als besonders charakteristisch für das nationalsozialistische Wirtschaftssystem gedeutet  werden,  wohl  eher  durchaus  übliche  Maßnahmen  moderner  Kriegswirtschaften darstellen. Diese hypothese soll nun abschließend anhand von drei  Beispielen begründet werden. Durch  die androhung  eines  Strafrechtsverfahrens  auf  Grundlage  eines  eigentlich unhaltbaren Vorwurfs des landesverrats gelang es den nationalsozialisten,  den  Flugzeugbauer  hugo  Junkers  in  den  Jahren  1933/34  dazu  zu  zwingen,  seine  aktienmehrheit  an  der  Junkers  Flugzeugwerke  aG  an  den  Staat abzutreten. lutz Budraß ist der auffassung, dass die schrittweise Enteignung von hugo Junkers ein Ereignis darstellt, „das an sich einen zentralen  Stellenwert  für  die  Beurteilung  des Verhältnisses  zwischen  Staat  und Wirtschaft im ‚Dritten Reich‘ einnehmen sollte“.59 In der tat kann dieser Fall als  ein herausragender Beleg für die these von hayes und temin gedeutet werden, dass die nationalsozialisten nicht davor zurückschreckten, unbotmäßige  Unternehmer  notfalls  durch  Gewalt  auszuschalten.  Wichtigste  kriegswirt55  Zur Wohlfahrt senkenden staatlichen lenkung des nahrungsmittelkonsums im „Dritten  Reich“ vgl. maRK sPoeReR / jocheN stReB: Guns and Butter – but no Margarine: the  Impact  of  nazi  Economic  Policies  on  German  Food  consumption,  1933–38,  FZID  Discussion Papers 23 (2010). 56  Vgl. joNas scheRNeR: nazi Germany’s Preparation for War: Evidence from Revised Industrial  Investment  Series,  in:  European  Review  of  Economic  history  14  (2010),  S.  433–468. 57  Ebd., S. 443. Scherner wendet sich mit dem Begriff „Kriegswirtschaft im Frieden“ gegen die entgegen gesetzte Idee einer „Friedenswirtschaft im Krieg“. Vgl. anm. 52. 58  Einen  Vergleich  der  makroökonomischen  Entwicklung  der  kriegsführenden  nationen  bietet maRK haRRisoN (hg.): the Economies of World War II: Six Great Powers in International comparison, cambridge 1998. 59  Lutz BudRass: Flugzeugindustrie und luftrüstung in Deutschland 1918–1945, Düsseldorf 1998, S. 320.

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schaftliche  Erklärung  für  die  Enteignung  von  hugo  Junkers  war,  dass  das  Reichsluftfahrtministerium ihn nicht dafür geeignet hielt, die im so genannten  aBc-Programm  geplante  kooperative  arbeitsteilung60  zwischen  den  verschiedenen  deutschen  luftrüstungsunternehmen  unter  Führung  der  Junkers  Flugzeugwerke zu organisieren, weil er sich bereits zuvor nur durch erheblichen Druck davon hatte überzeugen lassen, seine technologischen Kenntnisse  mittels Patentübertragungen mit seinen Konkurrenten zu teilen.61 Ein Blick nach Großbritannien zeigt, dass die Enteignung von Flugzeugunternehmern gleichwohl kein alleinstellungsmerkmal des nationalistischen  Wirtschaftssystems war. auch der britische Staat verstaatlichte in der zweiten  hälfte des Zweiten Weltkrieges mit Short Brothers ltd. und Power Jets zwei  privatwirtschaftliche  luftrüstungsunternehmen.  Im  Fall  des  erstgenannten  Unternehmens  wurde  diese  Zwangsmaßnahme  durch  die  geringe  Effizienz  der Produktion und somit letztendlich durch schlechte Managementleistung  begründet. Der zweite Fall erinnert insoweit an die Verstaatlichung der Junkers Flugzeugwerke, als man es auch in Großbritannien einem Privatunternehmen nicht zutraute, ein mehrere selbständige Unternehmen umfassendes  Entwicklungs-  und  Produktionsprogramm  (hier  im  Bereich  der  Strahltriebwerkstechnologie) zu koordinieren.62 Im zweiten abschnitt wurde auf Grundlage der Untersuchung von Scherner beschrieben, wie im „Dritten Reich“ der forcierte aufbau der Rüstungskapazitäten seit 1936 am Widerstand der Privatunternehmen zu scheitern drohte,  die umfangreiche Fehlinvestitionen in Überkapazitäten nach Möglichkeit zu  vermeiden suchten. Die nationalsozialisten lösten dieses Problem durch die  Errichtung staatlicher Rüstungsbetriebe (und die Bereitstellung reichseigener  Maschinen), die vom Staat finanziert und von den Unternehmen als Pachtanlagen betrieben wurden. auch diese Vorgehensweise stellt keine nationalsozialistische Besonderheit dar. Um zusätzliche Produktionskapazitäten insbesondere für die luftrüstung vorzuhalten, etablierte man in Großbritannien ebenfalls bereits im Jahr 1936 das „Shadow Factory System“, das nach den gleichen Prinzipien wie die staatlichen Rüstungsbetriebe nazideutschlands aufgebaut war.63 Eine ähnliche Parallele findet sich zwischen Deutschland und  den USa auf dem Gebiet der Kautschukproduktion.64 60  Zur Durchführung der späteren überbetrieblichen arbeitsteilung unter Führung der Junkers Flugzeugwerke vgl. auch L. BudRass / j. scheRNeR / j. stReB, contracts (wie anm.  21). 61  Vgl. L. BudRass, Flugzeugindustrie (wie anm. 59), S. 324. 62  Vgl. d. e. h. edgeRtoN: technical Innovation, Industrial capacity and Efficiency: Public Ownership and the British Military aircraft Industry, 1935–48, in: Business history  26 (1984), S. 247–279. 63  Ebd., S. 256–259. 64  Vgl  zu  den  folgenden  ausführungen  jocheN stReB:  technologiepolitik  im  Zweiten  Weltkrieg. Die staatliche Förderung der Synthesekautschukproduktion im deutsch-amerikanischen Vergleich,  in: Vierteljahrshefte  für  Zeitgeschichte 50  (2002),  S.  367–397; 

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adolf  hitler  selbst  hatte  in  seiner  geheimen  Denkschrift  aus  dem  Jahr  1936  der  industriellen  Erzeugung  eines  qualitativ  hinreichenden  synthetischen Kautschuks besondere Bedeutung zugemessen. Wörtlich heißt es: „Es  ist  ebenso  augenscheinlich  die  Massenfabrikation  von  synthetischem  Gummi  zu  organisieren  und  sicherzustellen.  Die  Behauptung,  dass  die  Verfahren  vielleicht  noch  nicht gänzlich geklärt wären und ähnliche ausflüchte haben von jetzt ab zu schweigen.  […]  Es  ist  vor  allem  nicht  die aufgabe  staatlich-wirtschaftlicher  Einrichtungen,  sich  den Kopf über Produktionsmethoden zu zerbrechen. […] Die Frage des Kostenpreises  dieser Rohstoffe ist ebenfalls gänzlich belanglos, denn es ist immer noch besser, wir erzeugen in Deutschland teurere Reifen und können sie fahren.“65

Folgerichtig wurde im Rahmen eines im Sommer 1937 abgeschlossenen Risikoteilungsvertrags der aufbau der ersten deutschen Synthesekautschukfabrik  in Schkopau nahe dem Synthesebenzinstandort leuna zu einer hälfte aus eigenen Mitteln der I.G. Farben und zur anderen hälfte durch ein zu fünf Prozent zu verzinsendes Reichsdarlehen finanziert. Dank Scherners analyse wissen wir bereits, dass die I.G. Farben durch ihre Bereitschaft, Eigenmittel für  den Kapazitätsaufbau aufzuwenden, eine im Grundsatz positive Einschätzung  der  zukünftigen  Marktchancen  von  Synthesekautschuk  signalisierten.66  Die  USa waren mit einem anteil von 53 Prozent am Weltkonsum des Jahres 1939  der mit abstand größte Verbraucher von naturkautschuk, welcher gemessen  an seinem Einfuhrwert zugleich auch das wichtigste amerikanische Importgut  war. Gleichwohl existierten am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in den USa  im Gegensatz zu Deutschland keine staatlichen Pläne, durch den aufbau einer  einheimischen Synthesekautschukindustrie die aus militärischer Sicht gefährliche abhängigkeit von den naturkautschukimporten aus Südostasien zu reduzieren. tatsächlich schnitten der angriff auf Pearl harbor am 7. Dezember  1941 und die nachfolgende japanische Invasion des südostasiatischen Raums  im Januar 1942 die USa überraschend und innerhalb von nur zwei Monaten  weitgehend von den naturkautschukmärkten dieser Region ab. Erst diese Ereignisse bewogen die amerikanische Regierung, ähnlich wie die nationalsozialisten schon lange vor Kriegsausbruch, den aufbau einer importsubstituiejocheN stReB: can Politicians Speed Up long-term technological change? Some Insights from a comparison of the German and US-american Synthetic Rubber Programs  Before, During and after World War II, in: Essays in Economic and Business history 21  (2005), S. 33–49. 65  WiLheLm tReue: hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan 1936, in: Vierteljahrshefte für  Zeitgeschichte 3 (1955), S. 184–210, hier S. 208. 66  Die  industrielle  Großanlage  in  Schkopau  (Werk  Buna  I)  erreichte  im  Jahr  1939  mit  20.800 Jahrestonnen erstmalig eine den Begriff Massenfertigung rechtfertigende Größenordnung. Mit Werk Buna II in hüls bei Krefeld (Baubeginn 1938, Massenproduktion  ab 1941), Werk Buna III in ludwigshafen/Oppau (Baubeginn 1940, Massenproduktion  ab 1943) und Werk Buna IV in auschwitz (Baubeginn 1941, nicht fertig gestellt) wurden in den Folgejahren noch drei weitere I.G. Farben Werke zur Synthesekautschukproduktion errichtet.

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renden einheimischen Synthesekautschukproduktion einzuleiten. Im Gegensatz  zu  den  I.G.  Farben  waren  die  amerikanischen  Unternehmen  allerdings  nicht bereit, eigene Mittel in den aufbau von Produktionskapazitäten für Synthesekautschuk zu investieren. Daher griff man auch in den USa auf das bereits in Deutschland und Großbritannien bewährte System der öffentlich finanzierten und privat betriebenen Fabriken zurück: In den so genannten „agreements of lease“ verpflichteten sich die amerikanischen Reifenhersteller,  die insgesamt 15 geplanten Synthesekautschukfabriken so schnell wie möglich zu errichten und mit den notwendigen Maschinen auszustatten. Die staatliche Defense Plant corporation erwarb durch die vollständige Finanzierung  dieses  Kapazitätsaufbaus  das  Eigentum  an  den  neuen  Produktionsanlagen.  Diese wurden den Privatunternehmen auf zunächst fünf Jahre für die symbolische Summe von einem Dollar je Jahr verpachtet.67 Die Errichtung staatlich finanzierter und von Privatunternehmen betriebener Unternehmern war offensichtlich ein international gebräuchliches Mittel  der Investitionslenkung, um vor und während des Zweiten Weltkriegs einen  schnellen und reibungslosen aufbau kriegsnotwendiger Kapazitäten herbeizuführen. Schließlich verdeutlicht der Blick auf die amerikanische (und britische)  Kriegswirtschaft auch, dass die Einführung von Preiskontrollen und Bewirtschaftungsmaßnahmen nicht einer bestimmten Ideologie geschuldet war, sondern  von  der  ökonomischen  notwendigkeit  diktiert  wurde.  So  erließ  beispielsweise  auch  die  amerikanische  Regierung  im  Zuge  ihrer  kriegswirtschaftlichen Umstrukturierung der amerikanischen Volkswirtschaft im april  1942 einen allgemeinen Preisstopp, beschränkte die Produktion langlebiger  Konsumgüter wie Maschinen oder Elektrogeräte und verteilte Rohstoffe wie  Stahl, aluminium  oder  Kautschuk  vorrangig  an  die  Produzenten  von  Rüstungsgütern.68 Die „Deformation des Wachstums“ zu lasten von Konsumgüterindustrie  und  Konsumenten  fand  also  auch  in  den  USa  statt,  allerdings  nicht wie im „Dritten Reich“ schon Jahre vor Kriegsausbruch, sondern erst  während des Zweiten Weltkriegs. Zusammenfassend  bestätigen  schon  diese  wenigen  Beispiele  die  von  Overy,  aber  auch  Buchheim  und  Scherner  vertretene auffassung,  dass  das  nationalsozialistische Wirtschaftssystem große Ähnlichkeiten zu den Kriegswirtschaften  der alliierten  aufwies.  Wesentliche  Unterschiede  ergeben  sich  erst,  wenn  man  die  nur  teilweise  wirtschaftlich  motivierten Verbrechen  der  nationalsozialisten  wie  Gewaltandrohungen  an  unbotmäßige  Unternehmer,  67  Vgl. j. stReB, technologiepolitik (wie anm. 64), S. 386. 68  Vgl. josePh cuLLeN / PRice fishBacK: Did Big Government’s largesse help the locals?  the Implications of WWII Spending for local Economic activity, 1939–1958, nBER  Working  Paper  W12801  (2006);  geofRey miLLs / hugh RocKoff:  compliance  with  Price controls in the United States and the United Kingdom During World War II, in:  Journal of Economic history 47 (1987), S. 197–213.

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„arisierung“, Zwangsarbeiterbeschäftigung oder holocaust in den internationalen Vergleich mit einbezieht. 4. Zusammenfassung Da  die  nationalsozialisten  vor  der  Machtübernahme  kein  umfassendes  und  konsistentes Konzept für ein, wie auch immer geartetes, genuin nationalsozialistisches Wirtschaftssystem erarbeitet hatten, stützen sich die verschiedenen  charakterisierungen dieser Wirtschaftsordnung auf die analyse und Bewertung der in der nur sechsjährigen Friedensphase getroffenen ordnungspolitischen  Maßnahmen.  angesichts  des  nebeneinanders  von  marktwirtschaftlichen und planwirtschaftlichen Ordnungsmerkmalen ist die these, dass es sich  beim nationalsozialistischen Wirtschaftssystem um eine Form des indirekten  Sozialismus gehandelt habe, nur haltbar, wenn man sich auf das spekulative  Gedankenexperiment einlässt sich vorzustellen, dass das „Dritte Reich“ nach  gewonnenem Krieg eine ähnliche Entwicklung wie die Sowjetunion genommen  hätte.  hier  wurde  im  Gegensatz  zu  dieser  Spekulation  die auffassung  vertreten, dass das nationalsozialistische Wirtschaftssystem einer Marktwirtschaft im vorgezogenen kriegswirtschaftlichen ausnahmezustand entsprach.  Die  seit  1934/36  ergriffenen  Preisstopps  und  Bewirtschaftungsmaßnahmen  widersprechen zwar im Grundsatz der marktwirtschaftlichen Konzeption, finden sich jedoch in ähnlicher Weise (und jeweils nur übergangsweise) auch in  den Kriegswirtschaften der alliierten, die ebenso wie die nationalsozialisten  zur  Intensivierung  ihrer  Rüstungsproduktion  den  privaten  Konsum  zurückdrängen mussten. Wir werden niemals wissen, ob hitler nach einem gewonnen Krieg tatsächlich zu einer Marktwirtschaft mit geringerer lenkungsintensität zurückgekehrt wäre, in der die Erfüllung der Wünsche der Konsumenten  wieder den eigentlichen Zweck des Wirtschaftssystems dargestellt hätte. Was  wir jedoch aus der westdeutschen nachkriegsgeschichte wissen, ist, dass die  tatsächlich erfolgte Re-transformation des Wirtschaftssystems im Zuge der  Einführung der Sozialen Marktwirtschaft unter ludwig Erhard ohne langanhaltende Verwerfungen gelang. Offensichtlich hatten im „Dritten Reich“ wesentliche  Kernelemente  einer  marktwirtschaftlichen  Wirtschaftsordnung  überlebt, die in der frühen Bundesrepublik nach Währungsreform, Preisfreigabe  und aufhebung  der  Bewirtschaftungsmaßnahmen  schnell  wieder  aktiviert werden konnten.69

69  Zur  institutionellen  Kontinuität  zwischen  „Drittem  Reich“  und  Bundesrepublik  Deutschland vgl. aLBRecht RitschL: Der späte Fluch des Dritten Reichs: Pfadabhängigkeiten in der Entstehung der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung, in: Perspektiven der  Wirtschaftspolitik 6 (2005), S. 151–170.

WIRtSchaFtSPOlItISchE ORDnUnGSVORStEllUnGEn IM  DEUtSchEn WIDERStanD GEGEn DaS „DRIttE REIch“ Michael Kißener als der hitlerattentäter Johann Georg Elser am 21. november 1939 von der  Geheimen Staatspolizei nach den Motiven für seinen anschlagsversuch auf  adolf hitler gefragt wurde, gab er an, dass neben der Furcht vor einem neuen  grausamen Krieg, in den hitler die nation stürze, es die lage der arbeiterschaft  sei,  die  ihn  dazu  gebracht  habe,  den  Versuch  zu  unternehmen,  den  „Führer“  des  Deutschen  Reiches  zu  ermorden.  Seiner ansicht  nach  hatten  sich „die Verhältnisse in der arbeiterschaft nach der nationalen Revolution in  verschiedener hinsicht verschlechtert. So z. B. habe ich festgestellt, dass die  löhne niedriger und die abzüge höher wurden.“ außerdem, meinte Elser, „steht die arbeiterschaft nach meiner ansicht seit der nationalen Revolution unter einem gewissen Zwang. Der arbeiter kann z. B. seinen arbeitsplatz nicht mehr wechseln  wie er will, er ist heute durch die hJ nicht mehr herr seiner Kinder und auch in religiöser hinsicht kann er sich nicht mehr so frei betätigen.“

Deswegen, so diagnostizierte Elser, gebe es in der „arbeiterschaft gegen die  Regierung  ‚eine Wut‘“,  die  er  für  sich  eben  in  den attentatsplan  gewendet  habe.1 Einer der Protagonisten der 1942 aufgedeckten Widerstandsgruppe „Rote  Kapelle“, arvid  harnack,  hatte  bereits  1931  in  Reaktion  auf  die  Weltwirtschaftskrise eine arbeitsgruppe mit dem namen aRPlan gegründet, in der  wirtschaftspolitische Fragestellungen diskutiert wurden. Die hier entwickelten anschauungen über einen neuen auf sozialen ausgleich zielenden, planwirtschaftlich  organisierten  deutschen  nationalstaat,  der  zwischen  Ost  und  West vermitteln sollte, spielten für die politischen Ordnungsvorstellungen der  dann wesentlich erweiterten, heterogenen Widerstandsgruppe eine Rolle, die  unter anderem mit Flugblattaktionen und anschlägen gegen das Regime vorgehen  wollte,  sich  mit  dem  kommunistischen  Widerstand  verbündete  und  schließlich auch Kontakte zum sowjetischen Geheimdienst aufbaute.2 1  2 

PeteR  steiNBach  /  johaNNes  tucheL:  Georg  Elser,  Berlin  2008,  Dokumentenanhang  S. 192f. haNs coPPi / jüRgeN daNyeL / johaNNes tucheL (hg.): Die Rote Kapelle im Widerstand  gegen den nationalsozialismus, Berlin 1994, vgl. in diesem Band bes. den aufsatz von  jüRgeN  daNyeL:  Die  Rote  Kapelle  innerhalb  der  deutschen  Widerstandsbewegung,  S. 12–38, hier S. 26–29.

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Und auch als 1942/43 Münchner Studenten um hans Scholl und alexander Schmorell daran gingen, unter dem namen „Weiße Rose“ Flugblätter zu  verbreiten, in denen zum passiven Widerstand, schließlich zum Sturz des Regimes aufgerufen wurde, fehlte es nicht an wirtschaftspolitischen Perspektiven und argumenten. Schon im dritten Flugblatt wurde zur „Sabotage in Rüstungs- und kriegswichtigen Betrieben“ aufgerufen und der Regierung vorgeworfen, eine unverantwortliche Geldpolitik zu betreiben, indem sie „jede beliebige Menge von Papiergeld“ herstelle, um den Krieg zu finanzieren. Es sei  das Ziel hitlers, die Menschen unter anderem auch wirtschaftlich zu versklaven. am Ende des fünften Flugblattes skizzierte die Gruppe ihre Zukunftsvorstellungen: „Das kommende Deutschland kann nur föderalistisch sein. nur eine gesunde föderalistische Staatsordnung vermag heute noch das geschwächte Europa mit neuem leben zu  erfüllen. Die arbeiterschaft muss durch einen vernünftigen Sozialismus aus ihrem Zustand  niedrigster  Sklaverei  befreit  werden.  Das  truggebilde  der  autarken  Wirtschaft  muss in Europa verschwinden. Jedes Volk, jeder Einzelne hat ein Recht auf die Güter  der Welt!“3

Schon  diese  wenigen,  prominenten  Beispiele  zeigen:  Der  deutsche  Widerstand gegen den nationalsozialismus hat seine Motivation nicht zuletzt auch  aus  der  ablehnung  der  nationalsozialistischen  Wirtschaftspolitik  geschöpft  und eine neue wirtschaftspolitische ausrichtung in seine Planungen für eine  Zukunft nach hitler einbezogen. Dabei sind, auch das zeigen die genannten  Beispiele, zwar in aller Regel keine regelrechten wirtschaftspolitischen Ordnungsmodelle entstanden, immerhin aber antithesen zu den bestehenden, als  krisenhaft empfundenen Zuständen formuliert worden.  Im Umfeld des Widerstandes vom 20. Juli 1944 allerdings haben sich die  Vorstellungen zu einem komplexeren wirtschaftspolitischen Ordnungsdenken  verdichtet, dessen Ursprünge in den sogenannten Freiburger Kreisen zu suchen sind. Daher soll im Folgenden zunächst von wirtschaftspolitischen Diskussionen die Rede sein, die in den 1940er Jahren in den „Freiburger Kreisen“  stattfanden. Diese Diskussionen strahlten in verschiedene Gruppen des Widerstandes vom 20. Juli 1944, vor allem in den sogenannten Kreisauer Kreis,  dessen Bedeutung für die wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen des  deutschen Widerstandes vor allem darin liegt, dass hier über Parteigegensätze  hinweg  auch  wirtschaftspolitische  Kompromissformeln  gefunden  werden  mussten. Schließlich soll anhand eines Vergleichs mit den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der französischen Résistance die Bedeutung des im deutschen Widerstand entwickelten aufbruchs eruiert werden.

3 

RudoLf LiLL (hg.): hochverrat? neue Forschungen zur „Weißen Rose“ (Portraits des  Widerstands 1), Konstanz 1999, Dokumente S. 200f, 206.

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I. Wer immer das wirtschaftspolitische Denken des deutschen Widerstandes um  den  20.  Juli  1944  in  den  Blick  nehmen  möchte,  wird  unweigerlich  auf  die  „Freiburger  Kreise“  von  Professoren,  vornehmlich  der  nationalökonomie,  verwiesen,  denen  gemeinhin  das  Verdienst  zugesprochen  wird,  die  soziale  Marktwirtschaft  der  Bundesrepublik  Deutschland  im  Widerstand  vorausgedacht und geplant zu haben.4 Das ist, wie Daniela Rüther in ihrer umfassen4 

Die Freiburger Kreise werden in jüngster Zeit wieder vermehrt im In- wie im ausland  von der Forschung wahrgenommen: detLef j. BLesgeN: constantin von Dietze (1891– 1973) – agrarpolitiker aus Freiburg, in: güNteR BuchstaB / BRigitte Kaff / haNs-otto KLeiNmaNN  (hg.):  christliche  Demokraten  gegen  hitler. aus  Verfolgung  und  Widerstand zur Union, Freiburg i. Br. u. a. 2004, S. 123–130; PatRicia commuN: Fondements  religieux d’un renouverau de la pesée économique. les économistes de Fribourg et la  résistance protestante (1933–1945), in: emmaNueL Béhague (hg.): Une germanistique  sans  rivages.  Mélanges  en  l’honneur  de  Frédéric  hartweg,  Strasbourg  2008,  S.  347– 356;  uWe dathe:  „Zu  sehr  hatte  ich  mich  auf  die  Begenung  mit  dem  großen  Denker  gefreut“. Walter Euckens Weg zu Edmund husserl, in: haNs-heLmuth gaNdeR / NiLs goLdschmidt / uWe dathe (hg.): Phänomenologie und die Ordnung der Wirtschaft. Edmund husserl – Rolf Eucken – Walter Eucken – Michel Foucault (Studien zur Phänomenologie und Praktischen Philosophie 13), Würzburg 2009, S. 19–27; chRistiaN LudWig gLossNeR: the Making of the German Post-War-Economy. Political communication and Public Reception of the Social Market Economy after World War II (International  library  of  twentieth  century  history  25),  london  u. a.  2010;  NiLs goLdschmidt  (hg.):  Freiburger  Schule  und  christliche  Gesellschaftslehre.  Joseph  Kardinal  höffner  und die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Untersuchungen zur Ordnungstheorie  und  Ordnungspolitik  59),  tübingen  2010;  deRs.:  Wirtschaft,  Politik  und  Freiheit.  Freiburger Wirtschaftswissenschaftler und der Widerstand, tübingen 2005; deRs. / michaeL WohLgemuth (hg.): Grundtexte zur Freiburger tradition der Ordnungsökonomik  (Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik 50), tübingen 2008; deRs.:  Der  Freiburger  universitäre Widerstand  und  die  studentische Widerstandsgruppe  KaKaDU, in: joachim schoLtysecK / chRistoPh studt (hg.): Universitäten und Studenten  im Dritten Reich. Bejahung, anpassung, Widerstand. XIX. Königswinterer tagung vom  17.-19. Februar 2006 (Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 e. V. 9),  Münster  2008,  S.  143–157;  deRs.:  Die  Geburt  der  Sozialen  Marktwirtschaft  aus  dem  Geiste der Religion. Walter Eucken und das soziale anliegen des neoliberalismus, in:  michaeL stefaN  assLäNdeR (hg.):  60  Jahre  Soziale  Marktwirtschaft.  Illusionen  und  Reinterpretationen  einer  ordnungspolitischen  Integrationsformel,  Bern  u. a.  2009,  S.  27–44; deRs. / heRmaNN schuhmacheR: nur ein weiterer Erbe Schmollers oder der erste  Ordoliberale? anmerkungen zu einem ‚missing link‘ zwischen der historischen und der  Freiburger Schule, in: jüRgeN g. BacKhaus (hg.): historische Schulen, Münster 2005,  S. 53–93; deRs.: Verfolgung und Widerstand. Die Freiburger Kreise, in: dieteR meRteNs  (hg.): 550 Jahre albert-ludwigs-Universität Freiburg. Festschrift, Bd. 3, Freiburg i. Br./ München 2007, S. 503–519; hauKe jaNsseN: nationalökonomie und nationalsozialismus. Die deutsche Wirtschaftslehre in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, Marburg  32009;  michaeL KLeiN:  Westdeutscher  Protestantismus  und  politische  Parteien.  anti-Parteien-Mentalität  und  parteipolitisches  Engagement  von  1945–1963  (Beiträge  zur  historischen  theologie  129),  tübingen  2005,  bes.  Kap.  6.4;  ViKtoR j. VaNBeRg: 

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den Studie „Der Widerstand des 20. Juli auf dem Weg in die Soziale Marktwirtschaft“ dargelegt hat, nicht ganz falsch, aber in dieser Verkürzung auch  nicht ganz richtig.5 Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen des Freiburger nationalökonomen Walter Eucken, des Finanzwissenschaftlers adolf lampe und des Juristen Franz Böhm wie auch die des agrarökonomen constantin von Dietze –  um nur diese pars pro toto für ein noch weiter gespanntes Gesprächsnetz zu  nennen – resultierten ursprünglich nicht aus einem affekt gegen etwaige Entartungen der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik,6 sondern vielmehr aus  der  herausforderung,  vor  die  die Weltwirtschaftskrise  der  1930er  Jahre  die  Wirtschaftswissenschaftler gestellt hatte.7 Das kapitalistische Wirtschaftssystem  und der  scheinbar  schrankenlose Wirtschaftsliberalismus hatten sich in  den augen vieler seit dem berühmten „Schwarzen Freitag“ diskreditiert, auf  der anderen Seite empfahl sich die kommunistische Planwirtschaft wie sie in  der  UdSSR  betrieben  wurde  und  gewann  interessierte  Zuhörer.  Man  kann  diese  Situation  durchaus  im  Sinne  hansjörg  Siegenthalers  als  Verlust  von  „Regelvertrauen“ interpretieren und die hier wie dann im Widerstand entstandenen Modelle als Versuch werten, ein solches Regelvertrauen wiederherzustellen.8 Dem entspricht auch ein starkes volkspädagogisches Element in den  Planungen, auf das noch zurückzukommen sein wird.  In dieser Situation entstand die Idee eines „dritten Weges“, einer gleichsam  gezügelten  kapitalistischen Wirtschaft,  die  in  den  Freiburger  Professorenkreisen auf den Begriff „leistungswettbewerbstheorie“ gebracht wurde –  so jedenfalls interpretiert Rüther die Schriften der Ökonomen, wobei jedoch 

5 

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l’école de Fribourg. Walter Eucken et l’ordoliberalisme, in: PhiLiPPe Nemo (hg.): histoire du libéralisme en Europa, Paris 2006, S. 911–936; coRNeLia WeBeR: Der Freiburger  Kreis und die ‚Judenfrage‘, in: Unterdrückung, anpassung, Bekenntnis. Die Evangelische Kirche in Baden im Dritten Reich und in der nachkriegszeit (Veröffentlichungen  des  Vereins  für  Kirchengeschichte  in  der  Evangelischen  landeskirche  in  Baden  63),  Karlsruhe 2009, S. 83–103. daNieLa RütheR: Der Widerstand des 20. Juli auf dem Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der bürgerlichen Opposition gegen hitler, Paderborn u. a. 2002. Rüther kommt das Verdienst einer umfassenden und kontextualisierten Untersuchung des themas zu, freilich sind weit zuvor schon wichtige teile  des Denkens der Freiburger Schule analysiert worden. Zu den frühen arbeiten gehört  chRistiNa BLumeNBeRg-LamPe:  Das  wirtschaftspolitische  Programm  der  „Freiburger  Kreise“.  Entwurf  einer  freiheitlich-sozialen  nachkriegswirtschaft.  nationalökonomen  gegen den nationalsozialismus (Volkswirtschaftliche Schriften 208), Berlin 1973. Vgl. dazu iVaN t. BeReNd: Markt und Wirtschaft. Ökonomische Ordnungen und wirtschaftliche  Entwicklung  im  Europa  seit  dem  18.  Jahrhundert,  Göttingen  2007,  bes.  S. 74–76, 94, 97ff, 112. D. RütheR, Widerstand (wie anm. 5), S. 37ff. haNsjöRg siegeNthaLeR: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen handelns und  sozialen lernens, tübingen 1993, S. 149f.

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umstritten ist, ob es sich dabei wirklich um einen „dritten Weg“ handelte und  ebenso,  ob  der  Begriff  „leistungswettbewerb“  die  theorie  angemessen  erfasst. andere halten zum Beispiel den Begriff des „neoliberalismus“ oder der  „Verkehrswirtschaft“ für treffender – und erkennen dann auch wenig bis gar  keine Beeinflussung der späteren sozialen Marktwirtschaft durch die im Widerstand in Freiburg entstandenen Konzepte.9 Diese auffassungsunterschiede  über herkunft, Inhalte und Folgen der „leistungswettbewerbstheorie“, rührten nicht zuletzt daher, dass diese nicht frei von Widersprüchen und Inkonsistenzen sowie von begrifflichen Unschärfen war. Sie fand bei ihren verschiedenen Vertretern spezifische ausprägungen und wurde in den Diskussionen der  1930er  und  1940er  Jahre  mehrfach  modifiziert.  Immerhin  aber  lassen  sich  einige ihrer Merkmale definieren, die zugleich als ein Reflex auf die scheinbar  aus dem Ruder gelaufene, liberal organisierte Wirtschaftsstruktur zu verstehen sind. Zunächst und vor allem geht die theorie von einem starken Staat  aus, der der „freien kapitalistischen Volkswirtschaft“ (Eucken) zwar ihre Freiheit lässt, aber eben doch Eingriffsrechte besitzt, wenn, durch wen auch immer, das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte behindert oder das Gemeinwohl geschädigt wird. Dieser Eingriff sollte dann so erfolgen, als ob ein regulärer  Wettbewerb  stattfände  (F.  Böhm).  Die  der  theorie  zugrunde  liegende  sozialharmonische Gesellschaftsvorstellung mit einer klaren Orientierung auf  den Mittelstand wandte sich deutlich gegen die Rolle von hier negativ konnotierten  „Interessentenkreisen“,  die  aus  Eigensucht  die  wirtschaftlichen  Prozesse ausbeuten wollten. Solche „Interessenten“ waren etwa nach der Vorstellung  Walter  Euckens  schrankenlos  agierende  profitgierige  Individuen  gleichermaßen wie Interessenverbände der Industrie, etwa in Form von Monopolen, Konzernen oder trusts, die vornehmlich für die ökonomische Krise der  30er  Jahre  verantwortlich  gemacht  wurden.  hinter  dieser Vorstellung  stand  eine  kulturkritisch  getragene  Skepsis  gegenüber  der  „Vermassung“  der  Gesellschaft, die durch ziemlich negativ konnotierte demokratische Regierungsformen vorangetrieben werde und so die Bildung von solch schädlichen Interessentenkreisen fördere.10 Demgegenüber setzte die „leistungswettbewerbstheorie“  auf  die  Überwindung  des  Masseneinflusses  durch  Schaffung  von  „Gefolgschaften“,  wobei  die  daraus  folgenden  sozialpolitischen  Implikationen zumeist nur wenig Beachtung fanden. Im  Zentrum  der  Freiburger  theorien  steht  die  Vorstellung  von  einem  gleichsam sportlichen Wettbewerb der anbieter auf dem Markt um das beste  Produkt mit dem besten Preis. Die Siegestrophäe stellt dabei der Kauf durch  den Kunden dar. Der Markterfolg führt zu einer hierarchisierung der Gesellschaft nach leistung – eine Konsequenz, die dem elitären Denken der Profes9 

Siehe beispielhaft fRitz RittNeR: Der „leistungswettbewerb“ als wirtschaftspolitisches  Programm, in: Zeitschrift für Wettbewerbsrecht 2 (2004), S. 305–322. 10  D. RütheR, Widerstand (wie anm. 5), S. 22–37.

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soren durchaus entsprach und dem Faktor Wirtschaftskompetenz zu einer besonderen Bedeutung verhalf. leistungskonkurrenz ist mehr oder minder jeder  kapitalistischen Wirtschaftstheorie inhärent, sie wurde nunmehr aber im Zeichen  der  Krise  zum  zentralen  Punkt  wirtschaftlichen  handelns  gemacht,  gleichsam ethisiert.11 Diesem Denken und der damit verbundenen Vorstellung von einem freien  Welthandel war die nationalsozialistische autarkiepolitik völlig entgegengesetzt. auch die auf Überschuldung fußende hochrüstung des nationalsozialismus,  die  durch  Kriegsgewinne  gedeckt  werden  sollte,  widersprach  der  volkswirtschaftlichen Idee der Freiburger. Offenbart sich in solchen auffassungsunterschieden  schon  ein  Dissens  zum  Regime,  so  erhielt  dieser  aber  wohl erst durch die weitere Einbindung der Freiburger Ökonomen in regimekritische Gesprächskreise von Freiburger evangelischen Bekenntnischristen,  wie dem sogenannten Freiburger Konzil, eine weitere antinationalsozialistische Stoßrichtung. Ohne den hintergrund dieses seit Dezember 1938 konstituierten bekenntnischristlich ausgerichteten Gesprächskreises des „Konzils“,  dem  unter  anderem  auch  der  historiker  Gerhard  Ritter,  der  Jurist  Freiherr  Marschall  von  Bieberstein  und  deren  Ehefrauen  angehörten,  lässt  sich  das  Denken  der  Freiburger  Professoren  schwerlich  richtig  einordnen.  Dies  gilt  auch mit Blick auf das wirtschaftspolitische Programm, für das sicherlich entscheidend war, dass die Professoren ihre anschauungen und theorien in ausschüssen des Reichswirtschaftsministeriums12 und insbesondere in der akademie für Deutsches Recht13 diskutieren und weiterentwickeln konnten. Denn  dabei kamen sie in engen Kontakt mit anderen Juristen und Ökonomen, die  sich zum teil schon Kreisen des sich formierenden Widerstandes angeschlossen hatten: So unter anderem mit Mitarbeitern aus der Behörde des Reichspreiskommissars carl Friedrich Goerdeler, der ohnehin regimekritisch eingestellte Wirtschaftsfachleute an sich gezogen hatte. auf diesem Weg gelangten  diese volkswirtschaftlichen Vorstellungen in das Denken von immer mehr regimekritisch eingestellten Kreisen und umgekehrt konnten sich die Freiburger  Professoren ihrer Deutung der ökonomischen und politischen lage selbst vergewissern.  Doch es sollte nicht bei den genannten Diskussions- und Gesprächszusammenhängen bleiben, vielmehr verzweigte sich in den 1940er Jahren das  11  Dass die „leistungswettbewerbstheorie“ mit verschiedenen politischen Systemen kombinierbar  gewesen  sei  und  die  Freiburger  Professoren  auch  dem  nationalsozialismus  damit hätten dienen wollen, wie Rüther insinuiert, ist heftig umstritten. Siehe etwa die  Kritik  von  heLge PeuKeRt:  Die  wirtschafts-  und  sozialpolitischen  Zielsetzungen  des  Freiburger  Kreises,  in:  N. goLdschmidt (hg.),  Wirtschaft  (wie anm.  4),  S.  267–287,  hier  S.  271,  der  allerdings  auch  die  Unentschiedenheit  bzw.  Widersprüchlichkeit  der  Euckenschen thesenbildung anmerkt. 12  D. RütheR, Widerstand (wie anm. 5), S. 102–115, 117. 13  Ebd., S. 122, 133.

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netz von Kontakten und Begegnungen weiter, wobei wechselnde, teils überlappende  Personenkonstellationen  und  themenschwerpunkte  zu  beachten  sind und sich auch Fernwirkungen und Beeinflussungen über den Kreis von  Dietze, lampe, Eucken und Böhm hinaus einstellten. Mit Blick auf die Entwicklung des wirtschaftspolitischen „Programms“ und dessen Rezeption im  Widerstand des 20. Juli erscheinen insbesondere drei Gesprächszusammenhänge interessant:  Sehr  akademisch  und  in  der  Programmatik  radikal  diskutierte  man  die  Wirtschaftsordnung für eine Zeit nach hitler in der arbeitsgemeinschaft des  Bonner Ökonomen Erwin von Beckerath, in der ganz einfach eine arbeitsgruppe der akademie für Deutsches Recht weitergeführt wurde, die 1943 aufgelöst worden war und die sich 1943/44 insgesamt acht Mal in Freiburg traf.  Ihr gehörten unter anderem auch Dietze, Böhm und lampe an. Die Vorstellungen dieser Gruppe basierten auf einer völligen ablehnung des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems, für das man nicht einmal einen treffenden  namen finden konnte: Die gängigen termini „Befehlswirtschaft“ oder „zentrale Verwaltungswirtschaft“  hielt man  für  ungenügend.  Der ausgangspunkt  aller  Überlegungen  war  die  mit  Gewissheit  erwartete  große  wirtschaftliche  not nach dem Ende des Regimes. Schon in dieser Zeit, so meinte man, sei  alles zu tun, um „den abbau der Zwangswirtschaft“ und den „aufbau einer  auf  echtem  leistungswettbewerb  beruhenden  Markwirtschaft“  zu  ermöglichen. Der Staat sollte dabei regulierend eingreifen, Monopolbildungen verhindern und vor allem Rechtssicherheit garantieren. hoffnung auf Gesundung  der Wirtschaft sah man nur, wenn eine „gesunde Gesellschaftsstruktur“ geschaffen werde und dabei den Gefahren der „Vermassung“ der Gesellschaft  begegnet werde, unter anderem durch ein Verbot von Reklame. Damit sich die  Kräfte  des  Marktes  möglichst  schnell  frei  entfalten  und  damit  eine  für  alle  angestrebte Besserung der wirtschaftlichen lage eintrete, wurde sogar an Einschränkungen  der arbeitnehmerrechte  gedacht,  an  lohnsenkungen  und  die  abschaffung von tarifverträgen. Einige sahen sogar die abschaffung der Gewerkschaften  als  zielführend  an.  Damit  solche  Maßnahmen,  die  auf  einer  streng wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtung der Verhältnisse ohne sonderliche Berücksichtigung politischer Rahmenbedingungen beruhten, auch in  der Breite der Bevölkerung akzeptiert würden, setzte man auf wirtschaftspolitische Schulung und aufklärung, die man für die Durchsetzung einer solchen Ordnung für unerlässlich hielt.14 Während man solchermaßen in diesen Kreisen diskutierte und im „Freiburger Konzil“ sich weiterhin Gedanken über Maßnahmen gegen die christentumsfeindliche Politik des nationalsozialismus machte, war im Spätsommer 1942 bereits der Berliner Bekenntnispfarrer Dietrich Bonhoeffer im auftrag  der  „Vorläufigen  leitung  der  Bekennenden  Kirche“  auf  die  Freiburger  14  D. RütheR, Widerstand (wie anm. 5), S. 159–189.

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Professoren zugekommen und hatte gebeten, eine Programmschrift über eine  zukünftige Politik, die auf christlichen Grundsätzen beruhen sollte, auszuarbeiten. Diese Programmschrift sollte einer nach dem Krieg einzuberufenden  Weltkirchenkonferenz zugeleitet werden, aber auch den alliierten einen Einblick in das Denken protestantischer Bekenntnischristen ermöglichen. Integraler Bestandteil dieser Denkschrift sollte eine wirtschaftspolitische Standortbestimmung sein. Beteiligt waren an dieser arbeit neben den Freiburger Ökonomen der historiker Gerhard Ritter, carl Goerdeler, der Generalsuperintendent  der  Kurmark  Otto  Dibelius,  der  Unternehmer  Walter  Bauer  und  der  theologe helmut thielicke, später auch die theologen hans asmussen und  hans Böhm sowie der Jurist Justus Perels. In die hier erarbeitete Schrift „Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen nöten unserer Zeit“ wurde als anlage 4 ein  von Dietze, Eucken und lampe formulierter text zur „Wirtschafts- und Sozialordnung“  aufgenommen.  Darin  wurde  vor  dem  hintergrund  eines  klaren  Bekenntnisses zum Privateigentum ein Weg zwischen den Extremen des ungezügelten Wettbewerbs einerseits wie der Planwirtschaft andererseits in der  Form  der  Wettbewerbswirtschaft  formuliert,  wobei  einem  „starken  Staat“  ordnende,  Regeln  setzende  Eingriffsrechte  zugestanden  wurden.  Überhaupt  wurden durchaus auch wettbewerbsfremde Elemente in diese Überlegungen  aufgenommen, was mit der christlichen, auf das Gemeinwohl ausgerichteten  Grundstimmung  der  Schrift  zusammenhängen  mag,  die  freilich  in  der  Forschung umstritten ist.15 Grundsätzlich aber sollte ein freies wirtschaftliches  handeln in einer freien Marktwirtschaft und bei freier Preisgestaltung aus der  erwarteten not der nachkriegszeit herausführen. Machtkonzentrationen, die  der Entwicklung eines gesunden Mittelstandes schaden würden, sollten unbedingt  vermieden  werden.  Wichtig  war  den  Ökonomen  die  Sicherung  einer  soliden  staatlichen  Finanzpolitik,  deren  erste  aufgabe  der  Schuldenabbau  nach dem Krieg sein sollte. In sozialpolitischer hinsicht dachte man wiederum an „echte Gemeinschaften“, statt Interessenvertretungen. Grundlage für  alles war die Etablierung eines Rechtsstaates.16  Dies war auch eines der zentralen anliegen des ehemaligen Reichspreiskommissars  carl  Friedrich  Goerdeler,  der  zum  vielleicht  aktivsten,  zivilen  arm der Verschwörung des 20. Juli 1944 wurde. Er hatte die Diskussionspapiere des arbeitskreises von Beckeraths erhalten und die Freiburger Professoren um Zuarbeit für eine „Wirtschaftsfibel“ gebeten, die er selbst publizieren  15  Siehe hier beispielsweise D. RütheR, Widerstand (wie anm. 5), S. 258 und im Gegensatz  dazu  NiLs goLdschmidt:  Verfolgung  und  Widerstand,  in:  haus deR geschichte BadeN-WüRttemBeRg iN VeRBiNduNg mit deR LaNdeshauPtstadt stuttgaRt (hg.): „Ich  habe es getan“. aspekte des Widerstands aus heutiger Sicht (Stuttgarter Symposion 14),  leinfelden-Echterdingen 2011, S. 130–154, hier S. 142. 16  Siehe  hierzu  vergleichend  D.  RütheR, Widerstand  (wie anm.  5),  S.  200–269  und  n.  goLdschmidt, Verfolgung (wie anm. 15), S. 142–144.

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wollte. auch Goerdeler ging es nämlich um eine volkswirtschaftliche Schulung  breiter  Bevölkerungskreise,  die  er  für  das  Funktionieren  einer  freien  Wirtschaft  für  unerlässlich  hielt.  Zwar  griff  Goerdeler  die anregungen  aus  Freiburg letztlich kaum auf, doch immerhin fand auf diesem Weg ein weiteres  Mal die volkswirtschaftliche Idee der Freiburger Eingang in die wirtschaftspolitischen  Überlegungen  des  deutschen  Widerstandes.  Denn  auch  die  Wirtschaftsfibel Goerdelers propagierte bei scharfer Zurückweisung der nationalsozialistischen  Zwangswirtschaft  und  der  dadurch  verursachten  Rohstoffknappheit  sowie  der  Überschuldungspolitik,  einen  anderen  Weg  zwischen  zügellosem Kapitalismus und Planwirtschaft. Sie begründete dies aber weniger aus theoretischen volkswirtschaftlichen Überlegungen, sondern vielmehr  aus der Wirtschaftspraxis. Dabei ging Goerdeler von unabänderlichen naturgesetzen der Wirtschaft aus, die man im harten Existenzkampf des Menschen  kennen  müsse,  um  sich  volkswirtschaftlich  richtig  zu  verhalten.  Zu  diesen  zählte  er  auch  die  völlige  ablehnung  des  staatlichen  „Deficit  Spending“  (Keynes), das gleichsam als absoluter Irrweg gebrandmarkt wurde. Staatliche  Eingriffe in die am besten frei und weltweit ungehemmt agierende Wirtschaft  lehnte Goerdeler weitestgehend ab. Eben deshalb sah Goerdeler den Staat nur  in minimaler Weise zuständig für die Sozialpolitik. Diese war in seinen Vorstellungen den Gewerkschaften zu übertragen, die damit in eine neue Rolle im  Wirtschaftsleben geraten sollten. Denn die vom nationalsozialismus durch die  treuhänder der arbeit und die DaF angestrebte aufhebung des Gegensatzes  von arbeitgeber und arbeitnehmer sah er als ein durchaus brauchbares, weiterzuentwickelndes Modell an. Vor allem sei dem freien Spiel der Kräfte des  Marktes Raum zu lassen und dabei in notzeiten auch unentgeltliche arbeitsleistung hinzunehmen. Um in solchen Zeiten die Versorgung der arbeiter sicherzustellen, wurde die Förderung von noterwerbslandwirtschaften empfohlen – ein Punkt, der für die Bewältigung der ökonomischen Krise der Weimarer Republik im deutschen Südwesten nicht ganz unwesentlich gewesen war.17 II. Während in dem von ökonomischem Sachverstand geprägten arbeitskreis Erwin von Beckeraths, im Freiburger Bonhoeffer-Kreis oder bei dem ehemaligen  Reichspreiskommissar  Goerdeler  die  in  Freiburg  vertretene  Idee  des  „leistungswettbewerbs“ in ziemlich elaborierte Konzepte eingebaut wurde,  wurde  sie  in  dem  politisch  wie  sozial  sehr  heterogen  zusammengesetzten  Kreisauer Kreis von helmuth James Graf von Moltke im Rahmen von größe17  D.  RütheR, Widerstand  (wie anm.  5),  S.  315–371.  Zur  Rolle  der  nebenerwerbslandwirtschaft siehe thomas schNaBeL: Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 bis  1945/46 (Schriften zur politischen landeskunde Württembergs 13), Stuttgart 1986.

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ren politischen neuordnungsentwürfen diskutiert.18 Seit 1942 traf sich dieser  im  Kern  etwa  zwanzig  Personen  umfassende  Gesprächskreis  auf  Moltkes  schlesischem  Gutsbesitz  Kreisau,  teils  auch  zum  Schutz  der  Mitglieder  in  wechselnden  Zusammensetzungen  andernorts,  um  ebenfalls  politische  Zukunftsvorstellungen  für  die  Zeit  nach  hitler  zu  diskutieren,  wobei  hier  die  durch das hitlerregime hervorgerufene, unvergleichliche politische, moralische, aber auch ökonomische Katastrophe bemerkenswert hellsichtig erkannt  wurde. Vor allem mussten aber hier Kompromisse gefunden werden, im Gespräch etwa mit ehemaligen sozialdemokratischen Politikern wie Julius leber  und carlo Mierendorff, mit einem katholischen Sozialethiker wie alfred Delp  oder  auch  fortschrittlich-sozial  denkenden  konservativen  Juristen  wie  Peter  Graf Yorck von Wartenburg, über den wesentlich die Kenntnis der Freiburger  theorien vermittelt wurde. Ihr Ziel war es, ökonomische leitlinien zu definieren, denen man politische Zukunftsfähigkeit zubilligen konnte. Zu welchem  Ergebnis das führte, zeigt vielleicht am anschaulichsten der am 18. Oktober  1942 im Rahmen der zweiten Kreisauer tagung (16.-18. Oktober 1942) vereinbarte  Beratungstext,  der  zur  Grundlage  auch  für  die  von  Moltke  am  9.  august 1943 formulierten „Grundsätze für die neuordnung“ wurde, in denen  konkrete Weisungen für den neubeginn auch auf wirtschaftlichem Gebiet gegeben wurden.19  In einer Präambel hielten die Kreisauer 1942 zunächst die gesellschaftliche Funktion der Wirtschaft fest: Sie diene der Gemeinschaft wie dem Einzelnen. Damit war bereits der Weg zwischen Kollektivismus und schrankenlosem Individualismus vorgezeichnet, denn so wie die Wirtschaft eine Grundversorgung mit nahrung, Kleidung und Wohnung zu sichern habe, solle der  Einzelne sich und seine Familie darin frei entfalten können. Dabei solle dann  eine „sinnvolle Beziehung der Einzelnen und der Gemeinschaften zur arbeit  angestrebt werden.“ Was das konkret bedeuten sollte, wird im nachfolgenden  text deutlicher: Die Kreisauer gingen von Selbstverwaltungen der Betriebe  aus, in denen die arbeiter Mitbestimmungsrechte haben sollten. In beschränktem Maße wurde auch dem Staat ein Interventionsrecht in die Wirtschaft zugeschrieben,  wenn  es  gelte,  für  „einen  möglichst  reibungslosen ablauf  des  wirtschaftlichen Prozesses zu sorgen.“ Gleiche Rechte und gleiche Freiheiten  18  neuere Publikationen  zum Kreisauer Kreis  behandeln die  wirtschaftlichen Positionen  leider nur am Rande, s. insbes. uLRich KaRPeN (hg.): Europas Zukunft. Vorstellungen  des  Kreisauer  Kreises  um  helmuth  James  Graf  von  Moltke,  heidelberg  2005,  S.  14,  144, 171; güNteR BRaKeLmaNN: helmuth James von Moltke 1907–1945. Eine Biografie,  München 2007; VoLKeR uLLRich: Der Kreisauer Kreis, Reinbek 2008, S. 75–78. 19  texte in geR VaN RooN: neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der  deutschen Widerstandsbewegung, München 1967, S. 547–550, 566f. Die verschiedenen  Standpunkte der in Kreisau versammelten Diskutanten und ihr jeweiliges Einwirken auf  die Entwürfe zeigt aLBRecht VoN moLtKe: Die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen  Vorstellungen  des  Kreisauer  Kreises  innerhalb  der  deutschen  Widerstandsbewegung  (Wirtschafts- und Rechtsgeschichte Bd. 16), Köln 1989, S. 140–170.

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stünden jedem Menschen zu, aber auch gleiche Pflichten, zu denen Ehrlichkeit und Sauberkeit in der Wirtschaftsführung und arbeitstreue im Rahmen  abgeschlossener Verträge gehöre. Umgekehrt sollte jedem Menschen und seiner Familie ein menschenwürdiges Existenzminimum gesichert werden. Unter dem Punkt „Grundsätze des Wirtschaftens“ definierten die Kreisauer: „Das  Grundprinzip der Wirtschaft ist der geordnete leistungswettbewerb, der sich  im  Rahmen  staatlicher Wirtschaftsführung  vollzieht  und  hinsichtlich  seiner  Methoden ständiger staatlicher aufsicht unterliegt“. Da, wo Monopole, Kartelle und Konzerne diesem Grundprinzip widersprächen, müsse der Staat einschreiten. Insbesondere bei den Schlüsselindustrien, etwa des Bergbaus oder  der Eisen- und Metallindustrie, waren Verstaatlichungen vorgesehen. Der Betrieb als „Wirtschaftsgemeinschaft der in ihm schaffenden Menschen“ sollte  durch eine Betriebsgewerkschaft, gebildet aus Eigentümer und Mitarbeitern,  geführt werden und der Belegschaft ein gerechter „anteil (…) an Gewinn und  Wertzuwachs des Betriebes (…) vertraglich“ zugesichert werden. andere Organe der wirtschaftlichen Selbstverwaltung sollten die nach ländern gegliederten Kammern darstellen, für die bereits eingehende Ordnungen bestimmt  wurden.  als  Zentrale  der  staatlichen  Wirtschaftsregulierung  wurde  das  Reichswirtschaftsministerium  vorgesehen  und  zu  dessen  Information  und  fachlicher Unterstützung die Kammern und fachlichen landesbehörden bestimmt. am Ende der Denkschrift steht ein kurzer abschnitt über die Deutsche Gewerkschaft, der zwischen den Gewerkschaftsvertretern einerseits und  Moltke  sowie  Delp  andererseits  heftig  umstritten  war.  Die  Gewerkschaften  werden  als  Mittel  zur  Durchsetzung  des  skizzierten  Programms  angesehen,  ihre  langfristige  Existenz  allerdings  von  der  Realisierung  der  in  der  Denkschrift  vorgesehenen  Mitbestimmungsorgane  abhängig  gemacht,  das  heißt,  das Problem wurde zunächst aufgeschoben.20 Unschwer  lässt  sich  hier  der  fortschrittliche  Kompromisscharakter  der  Planungen erkennen, die insbesondere durch den Einfluss des Jesuitenpaters  alfred Delp eine soziale Komponente bekamen. alle Vorschläge speisen sich  aus der Krisenerfahrung der 30er Jahre wie aus der Erfahrung der nS-Zwangswirtschaft und setzen an bei der Bildung einer neuen, humanen Gesellschaft.  angesichts des vollständigen, nicht nur politischen und ökonomischen, sondern  vor  allem  auch  moralischen  Zusammenbruchs,  den  die  herrschaft  des  nationalsozialismus herbeigeführt hatte, ging man davon aus, dass es allem  voran darum gehen müsse, die gesellschaftlichen Grundlagen gleichsam völlig neu zu legen. Moltke ging sogar davon aus, dass nach den Verbrechen des  nationalsozialismus  überhaupt  erst  „das  Bild  des  Menschen  in  den  herzen  unserer Mitbürger“ wieder aufgerichtet werden müsse, wie er seinem englischen Freund lionel curtis schrieb.21  20  D. RütheR, Widerstand (wie anm. 5), S. 408. 21  Moltke  an  lionel  curtis,  Mai  1942,  abdruck  in:  WaLteR LiPgeNs  (Bearb.):  Europa-

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hinzu kam ein am 14. Juni 1943 im Rahmen der dritten Kreisauer tagung  (12.-14. Juni 1943) beschlossenes Papier, in dem sich die Kreisauer zu freiem  Welthandel  und  europäischer  wirtschaftlicher  Zusammenarbeit  bekannten.  Die  hier  gemachten  Vorschläge  zielten  auf  eine  Überwindung  nationalen  Wirtschaftens und projektierten bereits eine „innereuropäische Einheitswährung“  sowie  den  „Wegfall  der  Zollschranken“.22  Das  war  bemerkenswert  weitsichtig gedacht und angesichts der ja noch immer existenten nationalsozialistischen Wirtschaftsführung alles andere als selbstverständlich. Doch wie  innovativ waren solche Gedanken damals im europäischen Vergleich? III.  auf  diese  Frage  lässt  sich  derzeit  keine  hinlängliche antwort  formulieren,  weil eine solche komparative Sicht bislang in der geschichtswissenschaftlichen Forschung noch nicht eingehend behandelt worden ist. Es können daher  im Folgenden nur erste anhaltspunkte durch einen vergleichenden Blick auf  die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der französischen Résistance formuliert  werden.  Diese  sind  durch  einige  frühe  Quellenpublikationen  in  ihren  Grundzügen bereits dokumentiert.  Diesem  Quellenmaterial  zufolge  ist  die  Frage  nach  einer  neuen  Wirtschaftsverfassung für die Zeit nach der Befreiung von der deutschen Besatzung durchaus intensiv in der Résistance diskutiert worden.23 Im Programm des zentralen conseil national de la Résistance nahm die  Frage,  wie  in  Zukunft  eine  „ordre  social  plus  juste“  gewährleistet  werden  könne, den größten Raum ein. allerdings verdichteten sich die Überlegungen  zu keinem Zeitpunkt zu einer geschlossenen neuen Ordnungsvorstellung für  die Wirtschaft, sondern stellten zumeist ein Kompendium praktischer Maßnahmen  dar,  die,  mal  mehr,  mal  weniger  mutig,  die  herkömmliche  Wirtschaftspolitik reformieren sollten. Dazu sollte nach dem Krieg ein „conseil  interprofessionell“  gebildet  werden,  der  unter  starker  Beteiligung  der  Gewerkschaften die zukünftige Wirtschaftsordnung diskutieren und beschließen  sollte. allerdings ist nicht zu verkennen, dass sich die Vorschläge unter anderem  aus den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise speisten und auch als Reaktion  auf  das  den  Franzosen  von  den  Deutschen  auferlegte Wirtschaftssystem  zu  Föderationspläne  der  Widerstandsbewegungen  1940–1945.  Eine  Dokumentation,   München 1968, S. 128–130, hier S. 130. 22  G. v. RooN, neuordnung (wie anm. 19), S. 552f. 23  jeaN-PieRRe Le cRom: Monde du travail, in: fRaNçois maRcot (hg.): Dictionnaire historique de la Résistance, Paris 2006, S. 647; heNRi micheL / B. miRKiNe guetzéVitch: les  idées politiques et sociales de la Résistance, Paris 1954, S. 359–374; heNRi micheL: les  courants de pensée de la Résistance, Paris 1962, S. 392–399.

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werten sind. Da die innerfranzösische Résistance politisch überwiegend links  orientiert war, kann es nicht verwundern, dass dem zügellosen Kapitalismus  eine unzweideutige absage erteilt wurde. Dies hängt auch damit zusammen,  dass oft Konzepte aus der Vorkriegszeit revitalisiert wurden, die in Reaktion  auf  die  Weltwirtschaftskrise  von  den  Sozialisten  oder  den  Gewerkschaften  entworfen worden waren. Schon damals waren die trusts der größte Stein des  anstoßes  gewesen.  In  der  Résistance  wurden  die  großen  kapitalistischen  Konzernverflechtungen allerdings nun zum Verursacher nahezu aller Katastrophen erklärt, die Frankreich seit 1939 erlebt hatte: Sie wurden als totengräber  der  Republik,  als  verlängerter arm  des  „Erbfeindes“  Deutschland  und  nicht  zuletzt  als  unmoralisches  und  zersetzendes  Element  jeder  humanen  Wirtschaftsverfassung gebrandmarkt. Deshalb, darin war man sich sogar parteiübergreifend einig, sollten sie als erstes verschwinden.  auch in der Résistance sah man die notwendigkeit, einen Weg zwischen  den alternativen  des  Kapitalismus und  der  Planwirtschaft zu  finden.  Selbst  politisch weit links stehende Gruppierungen distanzierten sich bei dieser Suche  allerdings  vom  rein  planwirtschaftlichen  Modell  der  Sowjetunion,  das  man für fehlgesteuert und zumindest verbesserungsbedürftig hielt. Das Wirtschaftsprogramm des cnR schlug vor, die Wirtschaft in drei Zonen einzuteilen und in diesem Rahmen Eingriffsrechte eines starken, regulierenden Staates zu formulieren: Einen völlig nationalisierten Bereich, der unter anderem  die  Eisenbahnen  und  die  Rüstungsindustrie  umfassen  sollte,  der  allerdings  nach Meinung führender Wirtschaftstheoretiker wie René courtin,24 keinesfalls auf junge, innovative Wirtschaftszweige ausgedehnt werden dürfe, weil  ansonsten ein Übermaß an Bürokratie die produktiven Kräfte und innovativen  technologien behindern könnte. Der zweite Bereich sollte eine Zone gelenkter Wirtschaft umfassen, deren Kontrolle der Staat über seine finanzielle Beteiligung ausüben sollte. Gedacht war hier an Großunternehmen, kapitalstarke  Firmen, die so zu sozialem und gemeinschaftsverträglichem wirtschaftlichen  handeln gezwungen werden sollten. Der größte Bereich der Wirtschaft sollte  jedoch frei und ohne staatlichen Einfluss bleiben; er sollte mit möglichst wenig Regulierung der freien wirtschaftlichen Betätigung aller Franzosen offenstehen.25  Sehr kontrovers  wurde schließlich die  Stellung der  französischen Wirtschaft zum außenhandel diskutiert: Während einige eine autarke Wirtschaft  propagierten, warnten andere vor dem hintergrund gerade des deutschen Beispiels, dies könne zu einem totalitären Regime führen und favorisierten einen  24  René courtin (1900–1964), Mitglied der Résistancegruppen liberté und combat, radikaler Föderalist, der für die europäische Einigung und den freien handel eintrat. Vgl.  z. B. ReNée BédaRida: comité des oeuvres sociales des organisations de Résistance, in:  F. maRcot, Dictionnaire (wie anm. 23), S. 178, J.-P. Le cRom, Monde (wie anm. 23), S.  647ff. 25  h. micheL, les courants (wie anm. 23), S. 392–399.

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möglichst freien europäischen oder gar globalen handel. Für einen rechtsstehenden, gaullistischen Résistant wie Maxime Bloq-Mascart26 von der Organisation  „civile  et  Militaire“  jedenfalls  war,  den  Vorstellungen  im  Kreisauer  Kreis in mancher hinsicht nicht unähnlich, klar, dass die Überwindung der  kriegsbedingten  Wirtschaftskrise  nur  über  eine  europäische  Wirtschaftskooperation möglich werde, die zur Vorbedingung einer politischen Einheit  werde. Im ersten seiner cahiers stellte er 1942 fest: „Die wirtschaftliche Kooperation Europas muss auch ohne politische Einheit möglich sein, oder sie  ist überhaupt nicht möglich.“27 hier,  bei  den  Vorstellungen  über  eine  europäisch  ausgerichtete  Wirtschaftspolitik, zeigen sich vielleicht besonders deutlich Parallelen zwischen  dem  Denken  der  französischen  Résistance  und  dem  deutschen  Widerstand.  aber auch die Suche nach einem Weg zwischen zügellosem Kapitalismus und  Planwirtschaft,  inspiriert  vor  allem  durch  die  Weltwirtschaftskrise  und  die  ablehnung von Konzernen und Monopolen, finden sich in den Planungen der  deutschen wie der französischen Widerstandsbewegungen. Die relative Geschlossenheit  und  Differenziertheit  der  Überlegungen  im  deutschen  Widerstand  sowie  der  politische  Kompromisscharakter,  der  der  Kreisauer  Denkschrift  ihr  besonderes  Gepräge  gegeben  hat,  lässt  sich  in  den  bekannten  Schriften aus der Résistance so wohl nicht finden. hier scheint der deutsche  Widerstand eine gewisse tiefenschärfe und einen relativen Weitblick entwickelt zu haben.

26  Maxime Blocq-Mascart (1894–1965), Experte der Pariser handelskammer, 1937 leiter  der  sozialen  Dienste  der  confédération  des  travailleurs  intellectuels  (ctI),  initiierte  1940 ein Widerstandsnetzwerk unter Mitgliedern der ctI, das sich mit der Organisation  civile et militaire (OcM) zusammenschloss, wo unter der Ägide Blocq-Mascarts Reformen  für  die  Zeit  nach  der  libération  konzipiert  wurden.  Vgl.  guiLLaume PicKetty:  Blocque-Masract, Maxime, in: F. maRcot, Dictionnaire (wie anm. 23), S. 366–367, hier  S. 366. 27  W. LiPgeNs, Europa-Föderationspläne (wie anm. 21), S. 195.

II. Das geteilte Deutschland

lUDWIG ERhaRDS SOZIalE MaRKtWIRtSchaFt   alS RaDIKalE ORDnUnGSInnOVatIOn UnD DIE REalItÄt  DES BUnDESREPUBlIKanISchEn „WIRtSchaFtSWUnDERS“ Joachim Scholtyseck niklas luhmann hat einmal systemtheoretisch lakonisch bemerkt: „Es wird  gleichzeitig immer alles besser und immer alles schlechter.“1 Die Zeit nach  1945 in der Bundesrepublik ist sicherlich ein gutes Beispiel dafür, dass auch  luhmann  nicht  immer  Recht  hatte,  denn  nach  dem  chaos  und  Elend  des  Zweiten Weltkrieges wurde, zumindest nachdem die hungerkrisen 1946/47  beendet  waren,2  wirklich  alles  nur  besser.  Die  wirtschaftliche  Entwicklung  der Bundesrepublik war und ist bis heute „trotz aller Strukturprobleme eine  große Erfolgsgeschichte“.3 Wie jedoch wurde in jenen Jahren nach 1945 das  Verhältnis  von  Staat  und  Ordnung  bestimmt,  und  welche  konkurrierenden  Modelle  hätten  theoretisch  zur  Verfügung  gestanden?  Warum  hat  sich  das  Erhardʼsche Modell durchgesetzt, warum sind alternative Vorstellungen nicht  zum Zuge gekommen? Diese Fragen sollen in zehn Schritten zu beantworten  versucht werden. 1. In den Jahren von 1933 bis 1945 war unter den Bedingungen des nS-Staates  zunächst eine ganz eigene Ordnung bestimmend gewesen. Es kann an dieser  Stelle nicht die grundsätzliche Frage beantwortet werden, ob überhaupt von  einem nationalsozialistischen Wirtschaftssystem gesprochen werden kann, zumal einige berechtigte Zweifel daran bestehen. Unbestritten ist, dass im „Dritten Reich“ der Staat der wichtigste akteur des Wirtschaftslebens wurde. Die  Wirtschaft  hatte  für  hitler  einen  rein  funktionalen  charakter  – Wettbewerb  und die Gesetze des Marktes waren für ihn Mittel, um Deutschland gewaltsam  1  2  3 

WoLfgaNg hageN  (hg.): Warum  haben  Sie  keinen  Fernseher,  herr  luhmann?  letzte  Gespräche mit niklas luhmann, Berlin 2005, S. 38. chRistoPh KLessmaNN / PeteR fRiedemaNN: Streiks und hungermärsche im Ruhrgebiet  1946–1948, Frankfurt a. M. 1977. WeRNeR PLumPe:  Industrieland  Deutschland  1945  bis  2008,  in:  haNs-PeteR schWaRz (Koord.),  Die  Bundesrepublik  Deutschland.  Eine  Bilanz  nach  60  Jahren,  München  2008, S. 379–404, hier S. 380.

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die Vormachtstellung in Europa zu sichern.4 Zumindest für die Zeit des „tausendjährigen Reiches“ hatte daher napoleon Recht, als er gegenüber Goethe  festgestellt hatte: „Die Politik ist das Schicksal“,5 und Walther Rathenau hatte  Unrecht,  als  er  1921  ausgeführt  hatte:  „Die  Wirtschaft  ist  das  Schicksal“.6  allerdings blieb der 1933 vollmundig angekündigte grundlegende Umbau des  bisherigen  Wirtschafts-  und  Gesellschaftssystems  aus.  Spätestens  seit  dem  Ende  der  „braunen  Revolution“  im  Jahr  1934  und  der  Zurückdrängung  der  radikalen Elemente innerhalb der nSDaP wurde dieses Ziel nicht konsequent  weiterverfolgt. nur in manchen aussagen hitlers und seiner Satrapen lebte  das antikapitalistische Sentiment noch fort. Manche Entwicklung der Kriegsjahre – etwa die geplante Verstaatlichung der privaten Großbanken – deutete  darauf hin, dass diese Utopie noch nicht vergessen, sondern lediglich auf die  Zeit  nach  dem  „Endsieg“  verschoben  worden  war. als  der  stellvertretende  Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, SS-Brigadeführer Otto Ohlendorf,  in  einer ansprache  vor  Mitarbeitern  des  SD  am  31.  Oktober  1944  äußerte, es sei ein Fehler gewesen, die traditionellen Eliten nach 1933 in ihren  Funktionen belassen zu haben,7 war diese Sichtweise in ihrer Radikalität die  konsequente Fortsetzung der ideologischen Wirtschaftsauffassung des nationalsozialismus. Mit der androhung des technokratischen nS-Intellektuellen,  jetzt nicht allein die Wehrmacht zu revolutionieren, sondern das „Gebiet der  Wirtschaft“  in  diese  Entwicklung  einzubeziehen,  wurde  die  extremistische  und letztlich „ideale“ Variante des nS-Staates skizziert, in dem die ökonomischen  Steuerkräfte  gänzlich  dem  Primat  der  Politik  untergeordnet  werden  sollten  –  eine  Rückkehr  zur  Unbedingtheit  des  frühen  nationalsozialismus,  der  in  der  trümmergesellschaft  der  Jahre  1944/45  allerdings  nur  noch  ein  Untergangsphänomen war.  Unter der doppelten Bedrohung des absehbaren militärischen Zusammenbruchs und des angekündigten ideologischen Zugriffs trug die deutsche Wirtschaft hingegen in den letzten Jahren des Krieges Vorsorge dafür, die nationalsozialistischen Drohungen ins leere laufen zu lassen. Die Privatunternehmer  waren bestrebt, unter den Fittichen von nationalsozialisten vom Schlage albert Speers Schutz zu suchen. angesichts der Kriegsanstrengungen hatte die4 

5  6  7 

Vgl. aLBRecht RitschL: Zum Verhältnis von Markt und Staat in hitlers Weltbild. Überlegungen  zu  einer  Forschungskontroverse,  in:  uWe BacKes  /  ecKhaRd jesse  /  RaiNeR ziteLmaNN (hg.): Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur historisierung des nationalsozialismus, Frankfurt a. M./Berlin 1990, S. 243–264. ReiNeR WiLd (hg.): Johann Wolfgang von Goethe, autobiographische Schriften der frühen Zwanzigerjahre, München/Wien 1986, S. 579. WaLtheR RatheNau: Rede auf der tagung des Reichsverbandes der deutschen Industrie,  gehalten  in  München  am  28.  September  1921,  in:  deRs.:  Gesammelte  Reden,  Berlin  1924, S. 243–264, hier S. 264. Zit. nach LudoLf heRBst: Der totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Propaganda 1939–1945, Stuttgart 1982, S. 345.

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ser das Konzept einer „industriellen Selbstverwaltung“ entworfen und damit  der Privatindustrie neue Einflussmöglichkeiten gewährt, die diese nun zu bewahren hoffte. Obwohl damit den Privatunternehmen neue handlungsmöglichkeiten  eröffnet  wurden  und  auch  Gewinne  möglich  blieben,  blieben  sie  gegenüber  staatlichen  und  halbstaatlichen  Unternehmen  wie  etwa  den  hermann-Göring-Werken oder, im Bankbereich, der Bank der deutschen arbeit  in einer durchaus prekären Situation.  Mit  anderen Worten:  Der  Staat  setzte den  privatwirtschaftlichen Unternehmen in den Jahren nach 1933 einen handlungsrahmen, dem sie sich nicht  entziehen  konnten  und  der  letztlich  ihre  ökonomische  Existenz  gefährdete.  Dies  war  zugleich  an  staatliche  Eingriffe  gekoppelt:  Unter  heranziehung  keynesianischer Mittel wurde in den Friedensjahren bis 1939 die arbeitslosigkeit im Banne der kriegerischen aufrüstung beendet. Die Preis- und Devisenkontrollen wurden sodann nach 1939 zunächst durch die rüstungsbürokratischen Maßnahmen planerisch dynamisiert. Dies ermöglichte zwar im Weltkrieg noch einmal ein „Rüstungswunder“, aber zugleich wurde den Unternehmen die auf lange Sicht offenkundige Ineffizienz der nS-Planungsbürokratie  drastisch vor augen geführt. Der Wirtschaftsdirigismus des „Dritten Reiches“  als „radikale Form der regulierten Marktwirtschaft“ war 1945 vollständig gescheitert.8 am Ende hatten die massiven und bis dahin unbekannten staatlichen  Eingriffe  der  lenkungswirtschaft  das  gesamte  lohn-  und  Preissystem  durcheinandergebracht und die deutsche Wirtschaft ruiniert.  2.  nach  diesem  Desaster  bislang  unbekannten ausmaßes  war  nach  menschlichem Ermessen zu erwarten, dass das Pendel in die entgegengesetzte Richtung ausschlagen und Staatseingriffe grundlegend abgelehnt werden würden.  Das verkennt jedoch die Beharrungskräfte der Menschen, die an bekannt-bewährten Modellen, so ineffektiv sie auch sein mögen, in der Regel festhalten,  weil sie sich daran gewöhnt haben. Im konkreten Fall war es die korporative  Interessenpolitik beziehungsweise eine produktive Ordnungspolitik, kurzum  die Vision einer bereits vertrauten korporativen Marktwirtschaft, an der viele  Deutsche nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ festzuhalten wünschten.  Schließlich  war  Deutschland  geradezu  „das  land  der  Kartelle  und  des  Protektionismus“.9 Uneingestanden spielte auf deutschem Boden eine Rolle,  dass trotz aller dirigistischer Eingriffe hitlers Regime bis zum Mai 1945 im  Innern  gerade  nicht  kollabiert  war.  Es  hatte  weiten  Bevölkerungsschichten  8  9 

iVaN t. BeReNd:  Markt  und  Wirtschaft.  Ökonomische  Ordnungen  und  wirtschaftliche  Entwicklung in Europa seit dem 18. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 114. PeteR gRaf KieLmaNsegg: nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 435.

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teilhabe und materielles Fortkommen ermöglicht, und zwar nicht nur in Form  von gemeinsamen Erbseneintopfessen, sondern auch in der Gestalt pekuniärer  Partizipation. Die Deutschen waren also in einer weiteren Regierungsform –  der  totalitären  Diktatur  –  mit  Maßnahmen  staatlicher  Sozialpolitik  vertraut  gemacht worden, und es war in diesem Zusammenhang zunächst einmal nebensächlich, dass der nS-Staat diese gewährt hatte, um seine herrschaft zu  legitimieren  und  zu  stabilisieren.  Man  muss  die thesen  von  Götz aly  über  hitlers  „Volksstaat“  nicht  in  toto  übernehmen,10  aber  es  ist  nun  einmal  ein  Faktum,  dass  die  Bevölkerung  trotz  der  extremen  Kriegsentbehrungen  dem  Regime bis  zum bitteren Ende, wenn nicht die treue gehalten, so doch auf  jede Form des aufbegehrens verzichtet hatte. andererseits waren die sozialstaatlichen Ideen bereits „teil eines breiten, internationalen Debattenstroms“,  und wer sich wie adenauer diesen Ideen zuwandte, „war daher keineswegs auf  braune Schrittmacher angewiesen.“11 Die sattsam bekannte Mischung aus Sozialpartnerschaft, Risikovorsorge und Konsensgesellschaft hatte selbst unter  hitler funktioniert, wenn auch das Subsidiaritätsprinzip als traditionelles Element in den Jahren von 1933 bis 1945 keine prominente Rolle gespielt hatte.  Mit anderen Worten: In der westdeutschen Wirtschaftsordnung wurden nach  dem Untergang des hitler-Regimes „Pfadabhängigkeiten“ erkennbar, die auf  gewisse ordnungspolitische Kontinuitäten seit dem Kaiserreich deuten.12 3.  Die Wahl einer Wirtschaftsordnung stand den Deutschen 1945 nicht frei, weil  sie  in  einem  besetzten  land  lebten,  dem  die  Souveränität  zunächst  noch  fehlte. Es waren die USa, die in Westdeutschland für die entscheidenden ordnungspolitischen  Vorgaben  sorgten.  In  der anfangszeit  standen  sich  in  der  US-administration unterschiedliche, sogar konträre Konzepte gegenüber. Vor  allem in der sogenannten Finance Divison der Besatzungsbehörde waren zunächst  noch  Offiziere  und  Beamte  tätig,  die  ganz  im  Banne  des  new  Deal  standen und auch in Westeuropa die Wirtschaftsvisionen Franklin D. Roosevelts durchzusetzen versuchten. hier wirkte die new Deal-Politik der zweiten  10  götz aLy: hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt  a. M. 2005. 11  haNs güNtheR hocKeRts:  Einleitung,  in: deRs.:  Der  deutsche  Sozialstaat.  Entfaltung  und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 7–21, hier S. 10.  12  aLBRecht RitschL: Der späte Fluch des Dritten Reichs: Pfadabhängigkeiten in der Entwicklung der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 6 (2005), S. 151–170. Grundsätzlich zu diesen Kontinuitäten im 20. Jahrhundert  auch haNs-jüRgeN PuhLe: Die „Konstruktion“ neuer Sozialstaaten in der auseinandersetzung mit alten Modellen: Pfadabhängigkeiten, Entscheidungen und lernprozesse, in:  uLRich BecKeR / haNs güNteR hocKeRts / KLaus teNfeLde (hg.): Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 197–212, bes. S. 202f.

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amtszeit des amerikanischen Präsidenten nach, in der dieser schärfer gegen  das Big Business vorgegangen war. Mit seinem pragmatischen Vorgehen hatte  er  den Vereinigten  Staaten  ermöglicht,  nach  der Weltwirtschaftskrise  durch  umfassende staatliche Eingriffe die Demokratie zu erhalten und am Ende des  Zweiten Weltkrieges  als Weltmacht  nummer  Eins  dazustehen  –  wobei  von  seinen anhängern  die  Frage  ausgeblendet  wurde,  in  welchem  Maß  erst  die  konjunkturellen Effekte der aufrüstung des Zweiten Weltkrieges das Ende der  wirtschaftlichen Misere bedeutet hatten. Denn faktisch hatten die USa, aber  auch Großbritannien, mit lenkungsmodellen in den 1930er Jahren und dank  massiver  Militäraufträge  in  den  1940er  Jahren  die  „Great  Depression“  erst  wirklich  überwunden.13  Roosevelt  war  damit  zugleich  der  Begründer  eines  „Big Government“ geworden, und seine USa glichen am Ende des Zweiten  Weltkrieges  in  mancher  hinsicht  jenem  „Fiscal-Military  State“,  den  schon  alexander hamilton verwirklicht wissen wollte.14  In den frühen 1940er Jahren agitierten und agierten die new Deal-anhänger  in  den  USa  gegen  das  Big  business  und  besonders  gegen  Kartelle  und  trusts aller art, was seit Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Stichwort der  „trust Buster“ eine tradition hatte. Ihre unter anderem im sogenannten Kilgore-commitee des US-Kongresses ventilierten Bestrebungen muteten mitunter kreuzzugartig an und verrieten ein großes planerisches Interesse. Zudem  vermittelten ihre anhänger den Glauben an einen starken Staat als wohlwollender Ordnungsmacht. nur so waren die zahlreichen Pamphlete und Schriften  jener  Jahre  zu  verstehen,  die  geradezu  antikapitalistisch  anmuteten  und  grundsätzlich die Machtkonzentration in der Wirtschaft als eine „challenge to  a Free World“ betrachteten.15 Ein weiterer Weltkrieg, so lautete die weiterführende argumentation,  könne  nur  durch  staatliche  Eingriffe  und  Sanktionen  wirksam verhindert werden. Zugleich müsse man große Konzerne entflechten, dezentralisieren und manche Banken ganz liquidieren – das alles in einem  ziemlich eifernden und heilsgewissen Duktus,  der zwar auf der  einen Seite  typisch  amerikanisch  war,  auf  der  anderen  Seite  jedoch  manchen  marxistischen Parolen verblüffend ähnlich schien, die jenseits der westlichen Besatzungszonen zu hören waren, selbst wenn deren Stoßrichtung im Machtbereich  Stalins eine ganz andere war. Diese  „antikapitalistische“  Schule  stieß  in  den  USa  schon  Ende  1945,  anfang 1946 auf vielfachen Widerspruch und wurde bald von denjenigen Diplomaten und Wirtschaftsfachleuten an die Seite gedrängt, die als sogenannte  „Business  Internationalists“  eine  grundlegende  Verbindung  zwischen  new  13  Vgl. WoLfgaNg schiVeLBusch: Entfernte Verwandtschaft. Faschismus. nationalsozialismus, new Deal 1933–1939, München/Wien 2005. 14  Vgl. goRdoN s. Wood: alexander hamilton and the Making of a Fiscal-Military State,  in:  deRs.:  Revolutionary  characters. What  Made  the  Founders  Different?,  new York  2006, S. 119–140. 15  WeNdeLL BeRge: cartels. challenge to a Free World, Washington 1944.

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Yorker hochfinanz und Washingtoner Politik repräsentierten. Dieser Gruppe,  die von hans-Peter Schwarz aufgrund ihrer weltpolitischen Vorstellungen als  Schule der „antikommunistischen Realpolitik“ bezeichnet worden ist,16 war  von anfang an auch daran gelegen, Deutschland in anknüpfung an die Vorkriegsordnung  und  unter ausschaltung  der  totalitären  Führungsstruktur  zur  Stabilisierung des europäischen Macht- und Wirtschaftsgefüges heranzuziehen.17 Die Protagonisten dieser Denkschule, die von der leistungsfähigkeit  des Kapitalismus überzeugt waren und aufgrund ihrer noch auf die Vorkriegszeit  zurückgehenden  „Bekanntschaft  mit  den  wirtschaftlichen  Führungsschichten Europas (…) Verständnis und Solidaritätsgefühl für diese ihnen in  Mentalität und gesellschaftlicher Interessenlage so nahestehenden Gruppen“  aufbrachten,18  konnten  sich  im  innenpolitischen  Machtkampf  der  USa  schließlich durchsetzen.  4.  nach der Zurückdrängung der „Roosevelt-Boys“ verordneten die USa ihrer  Einflusszone,  die  sich  vor  dem  hintergrund  des  Kalten  Kriegs  nicht  auf  Deutschland beschränkte, sondern auch Griechenland und die türkei einbezog, konsequent ihre Variante der kapitalistischen Weltordnung. Ihnen stand  mit  dem  auf  den  Dollar  ausgerichteten  Weltwährungssystems  von  Bretton  Woods seit 1944 ein plausibler und überzeugender hebel für die Umsetzung  ihrer  Pläne  zur  Verfügung.  Damit  waren  zentrale  Eckpfeiler  des  politischökonomischen Systems markiert und ein Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen  die  Wahlmöglichkeiten  vergleichsweise  beschränkt  waren,  zumal  fortwährend  weitere  ordnungspolitische  Pflöcke  eingeschlagen  wurden:  Das  Zollabkommen Gatt, das European Recovery Program, die OEcD, schließlich wenig später die EGKS und die EWG. Mit dem Marshall-Plan, einem der  erfolgreichsten Finanz- und Wirtschaftsoperationen der Geschichte, konnte in  Westdeutschland  zunächst  die  Währungsreform  durchgeführt  werden.  Die  Rekonstruktion Westeuropas war an politische und ökonomische Reformen  gekoppelt, was wiederum die dauerhafte Kooperation mit den USa unter den  Bedingungen  der  Demokratie  gewährleistete.19  neben  die  „außenpolitische  16  haNs-PeteR schWaRz: Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der  außenpolitischen  Konzeptionen  in  den  Jahren  der  Besatzungsherrschaft  1945–1949,  neuwied/Berlin 1966, S. 63–72. 17  Vgl. zu den geistigen hintergründen dieser Schule auch Lutz NiethammeR: Entnazifizierung in Bayern. Säuberung und Rehabilitierung unter amerikanischer Besatzung, Frankfurt a. M. 1972, S. 34–36. 18  h.-P. schWaRz, Reich (wie anm. 16), S. 66. 19  Zur ökonomischen Bedeutung des Marshall-Plans KNut BoRchaRdt / chRistoPh Buchheim:  Die  Wirkung  der  Marshallplan-hilfe  in  Schlüsselbranchen  der  deutschen  Wirt-

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Revolution“ (Klaus hildebrand) trat somit ein bemerkenswerter Wandel des  ökonomischen Denkens. Der Strukturbruch und der abrupte Wandel der leitideen, der Wirtschaftsordnung und der Wirtschaftspolitik erfolgten letztlich in  „verblüffend kurzer Zeit“.20 Diese Entwicklungen führten dazu, dass sich das  neue  Ordnungsmodell  der  Sozialen  Marktwirtschaft  nahezu  reibungslos  durchsetzen konnte.  5.  Selbst liberale nationalökonomen und Staatsrechtler wie alfred Müller-armack, Franz Böhm und Walter Eucken hatten in der ausnahmesituation der  nS-Zeit  nicht  gezögert,  manche  Dogmen  des  Wirtschaftsliberalismus  über  Bord zu werfen. Um nur ein Beispiel von vielen zu nennen: Müller-armack  hatte in seiner 1933 erschienenen Schrift „Staatsidee und Wirtschaftsordnung  im neuen Reich“ recht offen seiner Sympathie für den Korporativstaat Mussolinis ausdruck  verliehen  und  zugleich  hitler  seine  Reverenz  erwiesen.21  Die merkwürdig anmutende Orientierungslosigkeit der Zwischenkriegsära resultierte nicht zuletzt aus den zeitgenössischen Sorgen einer Phase, in der der  „Zeitgeist“ die bisherigen wirtschaftlichen Konzepte und Rezepte in Zweifel  zog, aber keine neue verbindliche Ordnung erkennen ließ. Die Entwicklung,  überkommene liberale tendenzen über Bord zu werfen, war nach 1918 europaweit in Mode. Weil besonders in der Weltwirtschaftskrise das Vertrauen in  die  Selbstheilungskräfte  der Wirtschaft  verloren  ging,  führte  dies  zu  einem  immer „stärkeren Eingreifen des Staates in die Wirtschaft.“22 Der italienische  schaft,  in:  haNs-jüRgeN schRödeR  (hg.):  Marshallplan  und  westdeutscher Wiederaufstieg: Positionen – Kontroversen, Stuttgart 1990, S. 119–149. Die Bedeutung des Marshall-Plans in wirtschaftlicher hinsicht und als Motor für das „Wirtschaftswunder“ wird  hingegen  von Werner abelshauser  als  überbewertet  betrachtet: WeRNeR aBeLshauseR:  hilfe zur Selbsthilfe: Zur Funktion des Marshallplans beim westdeutschen Wiederaufbau, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 37 (1989), S. 85–113. Vgl. daneben caRLo sPagNoLo: Reinterpreting the Marshall Plan: the Impact of the European Recovery Program in Britain, France, Western Germany and Italy (1947–1952), in: domiNiK gePPeRt  (hg.): the Postwar challenge. cultural, Social and Political change in Western Europe,  1945–58, london 2003, S. 275–298; michaeL j. hogaN: the Marshall Plan. america,  Britain  and  the  Reconstruction  of  Western  Europe,  1947–1952,  cambridge  Ma  u. a.  1987;  geRd haRdach:  Der  Marshall-Plan. auslandshilfe  und  Wiederaufbau  in  Westdeutschland  1948–1952,  München  1994;  axeL LehmaNN:  Der  Marshallplan  und  das  neue  Deutschland:  Die  Folgen  amerikanischer  Besatzungspolitik  in  den  Westzonen,  Münster u. a. 2000. 20  haNs-uLRich WehLeR:  Deutsche  Gesellschaftsgeschichte,  Bd.  5:  Bundesrepublik  und  DDR 1949–1990, München 2008, S. 52. 21  Vgl. dieteR haseLBach: autoritärer liberalismus und Soziale Marktwirtschaft. Gesellschaft und Politik im Ordoliberalismus, Baden-Baden 1991, S. 122. 22  haRtmut KaeLBLe:  Kalter  Krieg  und  Wohlfahrtsstaat.  Europa  1945–1989,  München 

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Faschismus  schien  als  neuartiges  Ordnungsmodell  mit  seinen  korporatistischen Elementen angesichts mancher Erfolge in der Zeit der Weltwirtschaftskrise zu triumphieren. Weil dies publizistisch ausgeschlachtet wurde, ließen  sich selbst Denker des interventionsfreien liberalen Staates verunsichern und  andere waren sogar regelrecht fasziniert. Europa wurde geradezu eine Spielwiese für Plantheoretiker, die neue lösungen für die Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten und Ineffizienzen des Kapitalismus zu finden hofften. angesichts der tiefen Krise des liberalismus und seiner ökonomischen  leitlinien wäre es erstaunlich gewesen, wenn das nicht auf diejenigen theoretiker tiefe auswirkungen gehabt hätte, die sich als nationalökonomen mit  dem Verhältnis von Staat und Wirtschaft beschäftigten. Der Ruf nach einem  „starken  Staat“  wurde  allenthalben  lauter.  Während  sich  im  sozialistischen  und kommunistischen lager die Gewissheit verfestigt hatte, dass sich der liberale Staat überlebt habe,23 war die kanonische Überzeugung, dass staatliche  Interventionen in den Wirtschaftsablauf ein grundsätzliches Übel seien, selbst  bei liberalen Wirtschaftsdenkern verloren gegangen und geradezu eine Mindermeinung geworden. Im konservativen Milieu, traditionell den etatistischen  Vorstellungen enger verbunden, hatten sich ähnliche dirigistische Ideen herausbilden können und blieben über die Zeit des „tausendjährigen Reiches“  hinaus wirksam. Bei der großen Volkspartei cDU lohnt sich ein Blick auf die  Spuren dieses Denkens im 1947 verabschiedeten „ahlener Programm“, das,  befeuert durch die Ideen der christlichen Sozialethik, zugleich mit charakteristischen  Schlagworten  geradezu  gespickt  war:  „Das  kapitalistische  Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen lebensinteressen des deutschen  Volkes nicht gerecht geworden. (…) Inhalt und Ziel (einer) sozialen und wirtschaftlichen  neuordnung  kann  nicht  mehr  das  kapitalistische  Gewinn-  und  Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine  gemeinschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung  erhalten,  die  dem  Recht  und  der  Würde  des  Menschen  entspricht, dem geistigen und materiellen aufbau unseres Volkes dient und den  inneren  und  äußeren  Frieden  sichert.“24  Der  Vorwurf  der  mangelnden  „gemeinschaftsbildenden Ethik“ des „Konkurrenzprinzip(s) des Marktes“ bildete  den  continuo  basso  dieser  katholisch-sozialen  Kritik,  die  letztlich  weniger  2011, S. 34. 23  WeRNeR aBeLshauseR:  Markt  und  Staat.  Deutsche  Wirtschaftspolitik  im  „langen  20.  Jahrhundert“,  in:  ReiNhaRd sPRee  (hg.):  Geschichte  der  deutschen  Wirtschaft  im  20.  Jahrhundert, München 2001, S. 117–140, hier S. 122. 24  Vgl. ahlener Wirtschafts- und Sozialprogramm der cDU in der britischen Zone (1947),  in: RaiNeR KuNz / heRBeRt maieR / theo stammeN (hg.): Programme der politischen  Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, München 1979, Bd. 1, S. 69–72. Zur Genese und Idee vor allem RudoLf ueRtz: Das ahlener Programm. Die Zonenausschusstagung der cDU der britischen Zone vom 1. bis 3. Februar 1947 und ihre Vorbereitungen,  in: Die Politische Meinung 52 (2007), S. 47–52.

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wirtschafts- als sozialpolitisch erfolgreich war.25 Der im Grundgesetz verankerte hinweis auf die Sozialpflichtigkeit des Eigentums war insofern ein Echo  dieser auf das Volk – de facto den Staat – abzielenden grundlegenden neuordnung der Verhältnisse zwischen arbeit und Kapital, das dann allerdings durch  das Konsensmodell von tarifautonomie, Betriebsverfassung und Mitbestimmung geregelt wurde. Das setzte aber auch absicherungen für die schwächeren  Mitglieder der Gesellschaft voraus: Im Sinne des  Subsidiaritätsprinzips  sollte im notfall der Staat eingreifen, um soziales Unheil abzuwenden. 6.  Ein behutsamer Staatsinterventionismus war daher nach 1945 in den westlichen Zonen ziemlich alternativlos. ludwig Erhard war der deutsche Prophet  der amerikanischen Marktwirtschaftsvariante, die einerseits die in der Zwischenkriegszeit vorübergehend diskreditierten liberalen Ideen wieder hoffähig machte, mit der Rhetorik der „sozialen“ Marktwirtschaft aber auch den in  Deutschland noch vorhandenen Glauben an die Steuerungspflicht des Staates  bediente. Dieses Recht und sogar die Pflicht des Eingriffs des Staats in die  Belange der Wirtschaft waren, wie bereits ausgeführt worden ist, durch das  totalitäre Regime so stark verinnerlicht worden, dass ein kompletter Verzicht  auf diese Sicherungsmechanismen kaum vorstellbar war.  nach dem Ende des „Dritten Reiches“ war die Gesamtlage allerdings um  ein Vielfaches dramatischer als sie in der Bismarckzeit und selbst der Zeit der  Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre gewesen war. Der nS-Staat war,  wie  sich  nun  zeigte,  eine  einzige  Geldvernichtungsmaschine  gewesen.  Deutschland war eine trümmerlandschaft mit zehn Millionen Flüchtlingen,  Millionen von ausgebombten, Witwen und Waisen, Evakuierten, Spätheimkehrern und daneben 13 Millionen Soldaten der ehemaligen Wehrmacht, die  irgendwie wieder in die Gesellschaft und den Wirtschaftskreislauf eingegliedert werden mussten – und es herrschte angesichts der zusammengebrochenen sozialen Sicherungssysteme eine geradezu hysterische angst vor der Zukunft. Eine „Zeitbombe“, wie hans-Peter Schwarz die Stimmung einmal beschrieben hat.26 auch daher war es nachvollziehbar, dass der Staat herangezogen wurde, um das verlorene „Regelvertrauen“27 wieder herzustellen: Erfolg25  haNs güNteR hocKeRts: Integration der Gesellschaft: Gründungskrise und Sozialpolitik  in der frühen Bundesrepublik, in: maNfRed fuNKe (hg.): Entscheidung für den Westen,  Bonn 1988, S. 23–42, hier S. 29. 26  haNs-PeteR schWaRz: Die Ära adenauer. Gründerjahre der Republik 1949–1957, Stuttgart 1981, S. 120. 27  haNsjöRg siegeNthaLeR: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen handelns und  sozialen lernens, tübingen 1993.

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reiche staatliche Sozialpolitik „galt unter den extrem restriktiven Bedingungen der nachkriegsproblematik mehr denn je zuvor als nachhaltiger legitimationsspender,  der  sich  mit  seiner  Geltungskraft  sogar  neben  das  ‚Wirtschaftswunder‘  schob.“28  Die  „bürgerliche  Revolution“,  so  formuliert  es  thomas Mann ein Jahr nach Gründung der Bundesrepublik, müsse sich „ins  Ökonomische fortentwickeln, die liberale Demokratie zur sozialen werden.“29  Der  „Ordoliberalismus“  als  Gegenentwurf  zum  laissez-Faire-Kapitalismus  oder dem Manchesterkapitalismus war daher eine art „dritter Weg“ zwischen  den Extremen des reinen Kapitalismus und des Sozialismus, der von Ökonomen wie Walter Eucken, Friedrich von hayek und Wilhelm Röpke gesucht  wurde. hayek hatte in seiner programmatischen Schrift aus dem Jahr  1944  „Der Weg zur Knechtschaft“ zwar die Utopie einer „sozialen Gerechtigkeit“  verworfen, und er lehnte auch den Begriff der „sozialen Marktwirtschaft“ ab,  aber er konzedierte durchaus noch andere Möglichkeiten als die bloße alternative zwischen der Freiheit des Wettbewerbs und dem totalitären Planungsstaat: „Ob der Staat ‚handeln‘, ob er ‚eingreifen‘ soll oder nicht, ist eine ganz  falsche Fragestellung, und der Begriff des Laissez-Faire ist eine höchst zweideutige und irreführende Bezeichnung der Grundsätze, auf denen eine liberale  Politik  beruht.  natürlich  muss  jeder  Staat  handeln,  und  jedes  handeln  des  Staates bedeutet irgendwo einen Eingriff.“30 Es gab also anschlussmöglichkeiten nicht nur in der Kritik an den sozialistischen Planungsideen. Während  hayek jedoch auf die Gewaltenteilung setzte und der „Rule of law“ als ausreichender  Sicherung  gegen  Machtmissbrauch  vertraute,  reichte  das  den  Ordoliberalen nicht aus. Bei Walter Eucken, der 1940 seine Ideen in seinem  hauptwerk  „Grundlagen  der  nationalökonomie“  niedergelegt  hatte,  fanden  sich manche Gedanken, denen erstaunlicherweise sowohl die „trust Busters“  aus dem Roosevelt-lager wie auch manche der nationalsozialistischen Großplaner zugestimmt hätten. auch Eucken hatte sich in seinen Schriften besorgt  gezeigt über ausufernde Machtballung in Monopolen und Kartellen. Unternehmenskonzentrationen sollten zukünftig vermieden werden, weil diese den  Staat  zu  instrumentalisieren  drohten.  Der  „Politisierung  der  Wirtschaft  allmählich zum Wirtschaftsstaat“, so Eucken, müsse entgegengetreten werden.  Ein unabhängiger Staat müsse durch eine sorgsame Politik eine Rahmenordnung schaffen, in der sich die Unternehmer in freier Konkurrenz entfalten und  dadurch den „wealth of nations“ mehren sollten. nicht anders sah das alfred  Müller-armack, der Schöpfer des Begriffs „soziale Marktwirtschaft“, der bekanntlich schon vor 1945 mit staatlichen Maßnahmen geliebäugelt hatte, die  dem  menschlichen  Egoismus  einen  Riegel  vorschieben  sollten.  1946  hatte  sich an dieser Überzeugung nichts geändert: Um sozial zu sein, benötige die  28  h.-u. WehLeR, Gesellschaftsgeschichte (wie anm. 20), S. 258. 29  thomas maNN: Meine Zeit (1950), in: deRs.: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 11:  Reden und aufsätze, Frankfurt a. M. 1990, S. 302–324, hier S. 322f. 30  fRiedRich VoN hayeK: Der Weg zur Knechtschaft, München 2007, S. 11.

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Marktwirtschaft gerade in der Wirtschafts- und Kreditpolitik eine „stahlharte  Ordnung.“31  Erhard wiederum war zwar kein Ordoliberaler im strengen Wortsinn, akzeptierte jedoch deren Gedankengut zumindest als ideelle Basis seiner Wirtschaftspraxis.32 Er übernahm diese ordoliberalen Ideen, wenn er formulierte,  dass auch die Zeiten einer „freien Marktwirtschaft des liberalistischen Freibeutertums“ nun einer „vergangenen Ära“ angehörten33 – und es machte ihm  offenbar nichts aus, dass die Vokabel „liberalistisch“ auch zum antikapitalistischen  arsenal  der  nationalsozialistischen  Unworte  gehört  hatte.  Freiheit  ohne wirtschaftliche Freiheit war für Erhard nicht vorstellbar. Der Staat müsse  eine entsprechende Wettbewerbsordnung garantieren, die eine Voraussetzung  für wirtschaftliche Freiheit sei. Von Franz Böhm stammt der ausdruck, Wettbewerb  sei  das  genialste  „Entmachtungsinstrument“  der  Geschichte34  und  dieser bedürfe daher des Schutzes des Rechtsstaats. allerdings sollte das System der „Sozialen Marktwirtschaft“ auch in Zukunft nur die Standardrisiken  abdecken,  und  das  wirkte  zeitgenössisch  schon  deshalb  plausibel,  weil  im  nachkriegsdeutschland ein Denken in den Kategorien eines Wohlfahrtsstaates  illusionär war. Unter Erhard kehrte Deutschland daher wieder „auf den klassischen  Entwicklungspfad  der  deutschen  Sozialordnung“  zurück,  ohne  den  Sozialstaat durch eilfertigen Interventionismus überdehnen zu wollen. auch  in  der  Demokratie  sollte  eine  positive  Verbindung  der  Marktwirtschaft  mit  Elementen der Regelung geschaffen werden. Erhard fürchtete den „sozialen  Untertan“.  Der  selbstbestimmte  Mensch,  so  lautete  sein  Mantra,  bleibe  das  übergeordnete Ziel, und er erntete mit dieser – durchaus berechtigten – Überlegung selbst bei vielen Gegnern Zustimmung.  7.  Das psychologische Moment und der Wunsch Vertrauen zu schaffen, spielten  in  Erhards  Rhetorik  der  Sozialen  Marktwirtschaft  eine  zentrale  Rolle.  Der  Begriff  selbst  war,  wie  heute  argumentiert  wird,  eine  „leerformel“  (Mark  Spoerer),  deren  eigentliche  Bedeutung  eher  „in  der  integrativen  Kraft  ihrer  31  aLfRed müLLeR-aRmacK:  Wirtschaftslenkung  und  Marktwirtschaft,  hamburg  1946,  wiederabgedruckt  in:  deRs.:  Wirtschaftsordnung  und  Wirtschaftspolitik.  Studien  und  Konzepte  zur  Sozialen  Marktwirtschaft  und  zur  Europäischen  Integration,  Freiburg  1966, S. 19–170, hier S. 63. 32  Vgl. iRis KaRaBeLas: Freiheit statt Sozialismus. Rezeption und Bedeutung Friedrich august von hayeks in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 2010, S. 102–112. 33  Zit. nach domiNiK gePPeRt: Die Ära adenauer, Darmstadt 22007, S. 24. 34  Zit.  nach  P.  KieLmaNsegg,  Katastrophe  (wie anm.  9),  S.  437.  Vgl.  fRaNz Böhm:  Die  Bedeutung der Wirtschaftsordnung für die politische Verfassung (1946), in: deRs.: Die  staatliche  Einwirkung  auf  die  Wirtschaft.  Wirtschaftsrechtliche  aufsätze  1946–1970,  hg. v. Ulrich Scheuner, Frankfurt a. M. 1971, S. 85–107.

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politischen Semantik zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt“ lag.35 Erhard selbst war zweifellos nicht der theoretische Mann hinter der Wirtschaftsneuordnung. hermann Josef abs, der ihn von anfang an unterstützte, hat bezeichnenderweise von der geradezu „schlafwandlerischen Sicherheit“ gesprochen,  mit  der  Erhard  sein  kühnes  Projekt  verfolgt  habe.36 Was  genau  unter  seinem  Modell  zu  verstehen  war,  blieb  auch  bei  Erhard  merkwürdig  unbestimmt.37 So viel stand immerhin fest: Staatliche Ordnungspolitik sollte nicht  mit dem Interventionsstaat oder den korporativen Selbstverwaltungskörperschaften  erreicht  werden.  Es  waren  daher  eher ausschlusskriterien,  die  zur  Definition  der  neuen  Marschrichtung  dienten.  Freilich  lag  dies  auch  daran,  dass  sich  die Väter  der  Sozialen  Marktwirtschaft  selbst  unklar  und  uneinig  waren,  wie  groß  denn  die  Prise  des  „Sozialen“  in  der  Marktwirtschaft  sein  sollte. Praktisch erwies sich diese Verschwommenheit eines schillernden Begriffs jedoch bald als irrelevant, denn die Soziale Marktwirtschaft wurde vergleichsweise schnell „auch von ihren eigenen anhängern als eine Symbiose  von Marktwirtschaft und klassischer Sozialpolitik beschrieben.“38  Sicherlich wirken heute manche Floskeln, mit denen zu Eigenverantwortung, freier Konkurrenz und marktkonformen Eingriffen des Staates aufgerufen  wurde,  allzu  pathetisch.  aber  das  Rezept  der  liberalen  Reformer,  die  Deutschland wieder auf die Beine bringen wollten, also Eigenvorsorge soweit  wie möglich, Fremdvorsorge (durch den Staat) nur wenn unbedingt nötig, bot  nach den materiellen und geistigen Verheerungen des „Dritten Reiches“ neue  Perspektiven: Der Glaube an die Marktwirtschaft, bei der aber trotz aller Verheißungen der Selbstheilungskräfte der Märkte und der Gesellschaft die soziale Komponente keinesfalls vernachlässigt werden würde, war für geraume  Zeit  die  geradezu  ideale  Zauberformel,  die  einen  durchschlagenden  Erfolg  garantierte. Dies war daher die andere, die sozusagen „staatsfreie“ Seite der  Medaille bei Erhard, die seine Vorgabe an die Privatwirtschaft in der Bundes35  maRK sPoeReR: Wohlstand für alle? Soziale Marktwirtschaft, in: thomas heRtfeLdeR / aNdReas RöddeR (hg.): Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen 2007, S. 28–43, hier S. 28; Vgl. WeRNeR BühReR: Der traum vom „Wohlstand für  alle“: Wie aktuell ist ludwig Erhards Programmschrift?, in: Zeithistorische Forschungen 4 (2007), S. 256–262. 36  LothaR gaLL: Der Bankier. hermann Josef abs. Eine Biographie, München 2004, S.  239. 37  Erhard-kritisch besonders VoLKeR heNtscheL: ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München 1998; deRs.: ludwig Erhard: Vater der Sozialen Marktwirtschaft. legende oder  Wirklichkeit?, in: PeteR hamPe (hg.): 50 Jahre Soziale Mark(t)wirtschaft. Eine Erfolgsstory vor dem Ende?, München 1999, S. 17–33; positiver die neueren Beurteilungen bei  aLfRed c. mieRzejeWsKi:  ludwig  Erhard.  Der  Wegbereiter  der  Sozialen  Marktwirtschaft,  München  2005;  udo WeNgst:  ludwig  Erhard  im  Fokus  der  Zeitgeschichtsschreibung, in: PeteR giLLies / daNieL KoeRfeR / udo WeNgst (hg.): ludwig Erhard,  Berlin 2010, S. 73–121. 38  W. aBeLshauseR, Markt (wie anm. 23), S. 134.

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republik war. In den Jahren des nationalsozialismus war die Privatindustrie  vom Marktmechanismus bereits stark entwöhnt worden. Jetzt zwang Erhard  sie  in  der  Bundesrepublik,  „ihre  Erwartungsbildung  wieder  an  regulären  Märkten zu orientieren“,39 anfänglich sogar noch gegen die US-Besatzungsmacht, die auf das Bewirtschaftungsregime wie die Preisbindung noch nicht  gänzlich  verzichten  wollte40  und  die  er  mit  einem  „handstreich“  (theodor  Eschenburg) mit den tatsachen konfrontierte. Manfred Görtemaker hat in diesem  Zusammenhang  vom  „gelungenen  Wagnis  der  Marktwirtschaft“  gesprochen,41 und der Soziologe alfred Weber hat es schon zeitgenössisch als  einen großen Fehler der Sozialdemokratie bezeichnet, dass sich die SPD diese  Wortverbindung von sozial und Marktwirtschaft habe entgehen lassen. Das  immer wieder geschwungene Schwert der Enteignung war ohnehin unscharf,  weil sich diese alternative, wie in der SBZ und der DDR tagtäglich vor augen  geführt wurde, als desaströser Fehlschlag entpuppte und die Bundesrepublik  gerade  im Vergleich  mit  dem  Steinzeitkommunismus  sowjetischer  Prägung  als „positive Vergleichsgesellschaft“ punkten konnte.42 8.  Für einen hochentwickelten Industriestaat war das, was den Zeitgenossen als  das „Wirtschaftswunder“ erschien, ein normaler Vorgang eines „catching up“  nach  der ausnahmeperiode  der  Schwächezeit  der  Weltwirtschaftskrise  und  des Zweiten Weltkrieges. In der longue durée des gesamteuropäischen Kontextes war das „Wirtschaftswunder“ weniger exzeptionell, wenn man es vor  39  WeRNeR PLumPe: Unternehmen im nationalsozialismus. Eine Zwischenbilanz, in: WeRNeR aBeLshauseR / jaN-otmaR hesse / WeRNeR PLumPe (hg.): Wirtschaftsordnung, Staat  und Unternehmen. neue Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des nationalsozialismus. Festschrift für Dietmar Petzina zum 65. Geburtstag, Essen 2003, S. 243–266, hier  S. 266. 40  Erhard verkündete eigenhändig die weitgehende aufhebung der Preisbindung. lucius  D. clay, an und für sich ein Befürworter der Marktwirtschaft, stellte Erhard pflichtgemäß zur Rede, wie dieser auf die Idee kommen könne, einfach in die alliierten Rechte  einzugreifen  und  die  Bewirtschaftungsvorschriften  abzuändern.  Scheinbar  ganz  naiv  antwortete Erhard, er habe sie nicht abgeändert, sondern schlicht aufgehoben. WeRNeR aBeLshauseR,  ansätze  „korporativer  Marktwirtschaft“  in  der  Koreakrise  der  frühen  fünfziger Jahre. Ein Briefwechsel zwischen dem hohen Kommissar John Mccloy und  Bundeskanzler adenauer,  in:  Vierteljahrshefte  für  Zeitgeschichte  30  (1982),  S.  715– 756, hier S. 736.  41  maNfRed göRtemaKeR: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung  bis zur Gegenwart, München 1999, S. 119. 42  m. RaiNeR LePsius: Die teilung Deutschlands und die deutsche nation, in: LothaR aLBeRtiN / WeRNeR LiNK: Politische Parteien auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland, Düsseldorf 1981, S. 417–449, hier S. 436.

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dem ökonomischen hintergrund des „kurzen“ 20. Jahrhunderts betrachtet.43  Die Bundesrepublik profitierte jedoch auch von den Vorteilen, als moderner  Industriestaat trotz aller politischen Einbrüche und wirtschaftlichen Retardierungen in technologischer hinsicht anschlussfähig zu sein.44 In den 1920er  und 1930er Jahren waren unter den Stichworten Fordismus und taylorismus  erfolgreiche anpassungen an globale trends erfolgt, und die damit einhergehenden Modernisierungen und Rationalisierungen hatten selbst nach den Phasen der ökonomischen Schwäche der Wirtschaft eine gute ausgangsposition  für einen Wiederaufstieg verschafft, zumal sich herausstellte, dass trotz aller  Zerstörungen und Demontagen ein ausreichender Maschinenpark als industrielle Basis zur Verfügung stand beziehungsweise wieder rekonstruiert werden  konnte.  Das  gab  der  Wirtschaft  und  dem  Privatunternehmertum  nach  1945  das Grundvertrauen in das eigene Potential zurück, verbunden mit der selbstbewussten Überzeugung, ähnlich wie nach 1918 alleine, ohne staatliche Eingriffe den Wiederaufbau bewältigen zu können. Erleichtert wurde diese Disposition  durch  die  Erfahrungen  und  das Vertrauen  auf  eine  Sozialgesetzgebung, die bis 1945 eine der fortschrittlichsten ganz Europas gewesen war und  durch  die  Kooperationsbereitschaft  einer  leistungsbereiten  arbeiterschaft.  Die  hohe arbeitsmoral  der  Beschäftigten  ging  mit  einer  relativen  lohnbescheidenheit der Gewerkschaften einher. Mit Blick auf die Verteilungsgerechtigkeit mochte das ein zweischneidiges Schwert sein, aber für die Entwicklung der industriellen Kapazitäten erwies sich dies als „ökonomisch ausgesprochen  wirkungsvoll.“45  Das  „kooperative  Gleichgewicht“  zwischen  Gewerkschaften und Unternehmern ermöglichte in einer ausgeklügelten Balance  für alle Seiten vergleichsweise risikolose Übereinkommen. Die erfolgreiche  nachkriegsordnung  basierte  somit  gleichermaßen  auf  der  „lohnzurückhaltung und einer ausgeprägten Bereitschaft zu investieren.“46 9.  Die  Orientierung  an  den  Grundsätzen  einer  liberalen  Wettbewerbsordnung,  wie sie bereits der Frankfurter Wirtschaftsrat vorgezeichnet hatte, wirkte sich  für den ökonomischen Wiederaufstieg vorteilhaft aus. Die staatlich gut vorbereitete Wirtschaftsreform wirkte schon zeitgenössisch als Initialzündung des  Wirtschaftswunders. Diese Interpretation schien mit dem Blick auf die Produktionsentwicklung und die enormen Zuwachsraten berechtigt, obwohl das  bereits  erreichte  beträchtliche  Produktionsniveau,  das  mit  dem Wirtschafts43  Vgl.  LudgeR LiNdLaR:  Das  mißverstandene  Wirtschaftswunder.  Westdeutschland  und  die westeuropäische nachkriegsprosperität, tübingen 1998. 44  h.-u. WehLeR, Gesellschaftsgeschichte (wie anm. 20), S. 50f. 45  W. PLumPe, Industrieland (wie anm. 3), S. 383. 46  i. BeReNd, Markt und Wirtschaft (wie anm. 8), S. 162f.

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aufschwung des Jahres 1947 einsetzte, lange Zeit unterschätzt worden ist. Insofern verliert die Währungsreform in mancher hinsicht ihre herausragende  Bedeutung. Sie beschleunigte den aufschwung zwar nicht wesentlich,47 aber  sie bot eine stabile Basis für die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Sie schuf  zugleich die „chance des Vorankommens“, übte klare anreize auf die Unternehmensaktivität  aus,  begünstigte  die angebotsbedingungen  der  Unternehmen, förderte durch die Steuergesetzgebung die Kapitalbildung der Unternehmen und trug daher maßgeblich zu den „exorbitant hohen Investitionsquoten“  jener Jahre bei.48 anders als häufig in den Jahrzehnten zuvor geschehen, wurden diese Ziele jedoch auf friedlichem Weg auf einer gemeinsamen westeuropäischen Ebene erreicht: Der „deutsche Weg in den Westen“49 bedeutete in  der  Konsequenz Vollbeschäftigung, auslastung  der  Produktionskapazitäten,  stabile Preise, wachsende Einkommen auf Basis von Produktionszuwächsen  und eine ausgeglichene Zahlungsbilanz.50 Mit der auf die langfristige Zukunft  ausgerichteten Wirtschafts- und Sozialpolitik sollte die Zeit des nationalsozialismus zugunsten einer innergesellschaftlichen Solidarität hinter sich gelassen werden. Der „wohlwollende“ gleichsam patriarchalisch auftretende Staat  behielt daher eine wichtige Funktion. Die Deutschen akzeptierten es deswegen, weil sie es gar nicht anders kannten, sei es in der gutartigen Form unter  Bismarck, sei es in der bösartigen Form unter hitler. Der lerneffekt war jedenfalls  unübersehbar,  zumal  überall  in  Westeuropa  der  Staat  eine  ausgeprägte Überwachungsfunktion übernahm – von der Kontroll- und lenkungsfunktion in den Staaten unter sowjetischer herrschaft gar nicht zu sprechen.  auf ein ungeregeltes und sich selbst überlassenes Wirtschaftsmodell wollte  sich im nachkriegseuropa offenbar kaum jemand verlassen, und die korporativen Elemente, die von den Staatsführungen als volkswirtschaftliche akteure  eingebracht wurden, sollten die Wettbewerbsfähigkeit des Staates vorantreiben. In der Bundesrepublik wurden durch diese Initiativen, ebenso wie durch  Steuervergünstigungen, Gelder aus dem Staatshaushalt unter anderem für die  Energiewirtschaft und die Bundesbahn zur Verfügung gestellt, um die Wirtschaft wieder anschlussfähig zu machen. Paradoxerweise waren diese Investitionshilfen in mancher Weise mit den massiven anschubfinanzierungen vergleichbar, die auch der nationalsozialistische Staat im Zuge der Kriegsrüstung  in verschiedenen Formen bereits erprobt hatte. 

47  W. aBeLshauseR, Wirtschaftsgeschichte (wie anm. 23), S. 127. 48  W. PLumPe, Industrieland (wie anm. 3), S. 392f. 49  BeRNhaRd LöffLeR: Ein deutscher Weg in den Westen. Soziale Marktwirtschaft und europäischer neoliberalismus, in: fRiedRich KiessLiNg / BeRNhaRd RiegeR (hg.): Mit dem  Wandel  leben.  neuorientierung  und  tradition  in  der  Bundesrepublik  der  1950er  und  60er Jahre, Köln u. a. 2011, S. 29–61. 50  I. BeReNd, Markt und Wirtschaft (wie anm. 8), S. 165.

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10.  Überall  dort,  wo  im  nachkriegseuropa  Wahlmöglichkeiten  bestanden,  das  heißt westlich des Eisernen Vorhangs, setzten sich, mit jeweiligen nationalen  Spezifika, nach 1945 vergleichbare Konsens- und Planungsmodelle durch, die  problemlos an vergleichbare tendenzen der Vorkriegszeit anknüpfen konnten.  In Großbritannien und Frankreich wurden zum Zwecke einer Modernisierung  der Wirtschaft Großbanken, Konzerne der Schwer- und automobilindustrie,  des Verkehrs und der Kommunikation verstaatlicht. Die Verstaatlichung von  Schlüsselindustrien – und damit die Überantwortung von unternehmerischen  aufgaben an den Staat – war nicht nur eine Bestrafungsaktion gegen die Privatwirtschaft,  der  in  den  Staaten  Kontinentaleuropas  vielfach  vorgeworfen  wurde, der Steigbügelhalter der Diktatoren gewesen zu sein beziehungsweise  in  den  von  der Wehrmacht  besetzten  Staaten  kollaboriert  zu  haben.  Es  gab  vielmehr in ganz Westeuropa eine weit verbreitete etatistische Überzeugung,  der  Staat  sei  der  Privatindustrie  in  sozialökonomischer  hinsicht  überlegen.  Der  britische  historiker a.  J.  P. taylor,  später  einer  der  bekanntesten,  aber  wegen  mancher  kühnen  these  auch  umstrittener  Geschichtswissenschaftler  seines landes, hat diese Stimmung im november 1945 seinen Zuhörern in der  BBc so kundgetan: „nobody in Europe believes in the american way of life  – that is, private enterprise; or, rather, those who believe in it are a defeated  party which seems to have no more future than the jacobites in England after  1688.“51  heute erscheint die Vorstellung, durch eine umfassende planerische Versorgung werde der Staat schon alles richten, als „die große Illusion des Jahrhunderts“, aber für die damalige Generation schien „ein ausgewogenes Verhältnis zwischen demokratischen Freiheiten und vernünftigen staatlichen Eingriffen der einzig sinnvolle Weg aus dem chaos.“52 hierzu zählte neben dem  vielfach  als  „Wertegemeinschaft“  überstrapazierten  Europabegriff  im  Sinne  eines  supranationalen  „atlantischen  Europa“53  auch  die  fortentwickelte  und  ausdifferenzierte „Sozialpartnerschaft“ in europaweit verschiedenen Formen,  die  bis  zum  Wohlfahrtsstaat  in  skandinavischem  Gewand  reichen  konnte.  nach den Unruhephasen der Zwischenkriegsperiode und des Zweiten Weltkrieges sollten im Wunsch nach Sekurität der wirtschaftliche Wettbewerb eingeschränkt  und  die  Formen  eines  „Raubtierkapitalismus“  ausgeschlossen  werden.  Die  Motivationen  blieben  dabei  vielfältig:  Erstens  die  durch  die  Kriegsereignisse bedingte völlige gesellschaftliche Ermattung und Unfähigkeit, überhaupt wieder in eine massive Konkurrenz treten zu können – vergleichbar  der  Phase  am  Ende  des  Dreißigjährigen  Krieges,  als  es  zu  einem  51  Zit. nach toNy judt: Postwar. a history of Europe since 1945, london 2005, S. 69. 52  Ebd., S. 98. 53  VaNessa coNze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa zwischen Reichstradition  und Westorientierung (1920–1970), München 2006, S. 342.

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Erschöpfungsfrieden gekommen war.54 Daneben trat zweitens der Umstand,  dass gerade in den Kriegsjahren die staatlichen und behördlichen Planungstraditionen weiter eingeübt worden waren. Überall in Europa war durch verschiedene notstandsgesetze der Staat als Planer und Organisator des Krieges  aufgetreten, und diese tradition wurde nach 1945 fortgesetzt. In Italien blieb  die  Wirtschaft  beispielsweise  auch  nach  dem  Ende  des  Faschismus  unter  staatlicher aufsicht, und in Frankreich wurde seit 1946 in einem dem Regierungschef zugeordneten „commissariat général du Plan“ sogar ein „Vierjahresplan“ aufgestellt – ausgerechnet unter Jean Monnet, der später für die Europapolitik eine große Rolle spielen sollte.  Daneben konnte drittens der Wunsch eine Rolle spielen, ein auf Subsidiarität beruhendes christliches Modell zu etablieren, eine Idee, die häufig mit  dem  allerdings  umwölkten  Begriff  des  „abendlandes“  verbunden  wurde.  Schließlich viertens, dies war die skandinavische Variante, wurde das „überkommene liberale Ideal des Fair Play (…) zunehmend als Forderung verstanden, löhne, Preise, Einkommen und Gewinne in diversen Kollektivverhandlungen durch die gesellschaftlichen Kräfte“ aushandeln zu lassen, wobei dem  Staat  eine  „Schiedsrichterfunktion“  für  die  Schaffung  annehmbarer  Bedingungen zukommen sollte. In den Steuerungsphantasien eines Gunnar Myrdal  beispielsweise  war  es  der  wohlwollende  Staat,  der  zugleich  als  Stadtplaner  wie als Sozialpolitiker auftrat.55 Die starke Stellung des Staates blieb auch daher in den wichtigen Jahren  legitimiert,  in  denen  die  Bundesrepublik  wieder  nach  beunruhigenden  und  erschreckenden Exzessen auf den angestammten Pfad einer modernen Zivilgesellschaft zurückkehrte. Erst mit dem Ende der Industriegesellschaft 1973  wurde deutlich, dass dieser erfolgreiche Weg auf die Sonnenseite langfristig  auch in den Schatten führen konnte. Inwiefern die in den späten 1940er und  1950er  Jahren  gefundenen  wirtschaftlich-politischen  lösungen  verantwortlich sind für die heutige Überbürdung des Sozialstaats, für den ausufernden  Planungsenthusiasmus,  für  manche  mit  dem  Europagedanken  verbundene  Regelungsbürokratie  sowie  dafür,  dass  „vom  Staat  heute  nicht  nur  gutes  Recht, sondern immer mehr gutes Geld“ erwartet wird56 und dadurch Staat  und Gesellschaft an den Rand der Belastbarkeit gebracht werden, ist eine ganz  andere Frage. 

54  chRistoPh KamPmaNN: Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts, Stuttgart 2008. 55  guNNaR myRdaL: Jenseits des Wohlfahrtsstaates, Stuttgart 1961, S. 34. Vgl. hierzu auch  thomas etzemüLLeR:  Die  Romantik  der  Rationalität. alva  &  Gunnar  Myrdal.  Social  Engineering in Schweden, Bielefeld 2010. 56  PauL KiRchhof: Der freie oder der gelenkte Bürger. Die Gefährdung der Freiheit durch  Geld,  Informationspolitik  und  durch  die  Organisationsgewalt  des  Staats  (theodorheuss-Gedächtnis-Vorlesung 2009), Stuttgart 2010, S. 12.

WachStUM UnD KEIn EnDE. DIE ÄRa DES  KEYnESIanISMUS In DER BUnDESREPUBlIK1  Alexander Nützenadel In der wirtschaftshistorischen literatur wird meist betont, der Keynesianismus  habe  in  Deutschland  nie  richtig  Fuß  fassen  können.  Während  andere  westliche  Industriestaaten  ihre  Wirtschaftspolitik  seit  der  großen  Krise  der  dreißiger  Jahre,  spätestens  aber  seit  Ende  des  Zweiten  Weltkrieges  an  den  Ideen von Keynes ausgerichtet hätten, habe man in Deutschland andere Wege  beschritten.2 abgesehen von einer kurzen Blüte des Keynesianismus in den  späten  sechziger  und  frühen  siebziger  Jahren  sei  der  ökonomische  Mainstream durch  andere Konzepte  geprägt worden: Während in  den  zwanziger  und dreißiger Jahren noch die späten Protagonisten der historischen Schule  das Fach beherrschten, hätten sich ab etwa 1936 die Planungsvorstellungen  der  nS-Ökonomen  durchsetzt.  In  der  Bundesrepublik  hätten,  gleichsam  in  abgrenzung dazu, ordoliberale und neoklassische Konzepte die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion dominiert. „Die Keynesianische Revolution findet nicht statt“, urteilte etwa Werner abelshauser in seiner „Deutschen Wirtschaftsgeschichte seit 1945“.3 Diese these eines bundesdeutschen „Sonderwegs“4 in der Wirtschaftspolitik erscheint allerdings aus zweierlei Gründen wenig überzeugend: Zum einen hat es eine „Keynesianische Revolution“ nirgends gegeben, der Begriff  überzeichnet den realen Einfluss dieses wirtschaftspolitischen Konzepts eklatant. trotz seiner Prominenz war John Maynard Keynes in den meisten ländern umstritten. In den USa gab es während der Großen Depression der drei1  2 

3  4 

Dieser Beitrag basiert auf meiner Studie: Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik  und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, Göttingen 2005. chRistoPheR s. aLLeN: the Underdevelopment of Keynesianism in the Federal Republic  of Germany, in: PeteR a. haLL (hg.): the Political Power of Economic Ideas. Keynesianism across nations, Princeton 1989, S. 263–289, hier S. 288; vgl. auch WeNdy caRLiN:  West  German  Growth  and  Institutions,  in:  NichoLas f. R. cRafts / giaNNi toNioLo  (hg.):  Economic  Growth  in  Europe  since  1945,  cambridge/new York  1996,  S.  455– 497. WeRNeR aBeLshauseR:  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte  seit  1945,  München  2004,  S.  297. Vgl. z. B. KeNNeth h. f. dysoN: German Economic Policy after Fifty Years, in: PeteR h. meRKL (hg.): the Federal Republic of Germany at Fifty: at the End of a century of  turmoil, london 1999, S. 219.

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ßiger Jahre zwar  einige von Keynes  beeinflusste Ökonomen, aber der new  Deal kann nur eingeschränkt als Umsetzung Keynesianischer Vollbeschäftigungspolitik verstanden werden. Obgleich 1946 der Employment act verabschiedet  wurde,  der  eine  Reihe  von  staatlichen  Interventionsmöglichkeiten  schuf,  schwand  der  Einfluss  von  Keynes  auf  die  Wirtschaftspolitik,  sobald  sich die amerikanische Volkswirtschaft erholt hatte.5 auch in vielen kontinentaleuropäischen ländern war Keynes keineswegs unumstritten. So spielte er  in  Italien,  Spanien  und  den  anderen  südeuropäischen  ländern  kaum  eine  Rolle. Das in Frankreich etablierte System  der „planification économique“,  das eine umfassende lenkung aller Investitionen und eine Verstaatlichung der  großen Industrieunternehmen anstrebte, war nur bedingt mit Keynes zu vereinbaren. Französische Ökonomen standen der angelsächsischen Wirtschaftstheorie generell skeptisch gegenüber. auch in den skandinavischen ländern  wurden eigene wohlfahrtsstaatliche Konzepte entwickelt, die nur bedingt als  keynesianisch bezeichnet werden können.6  Im internationalen Kontext war Deutschland somit kein Sonderfall. Vielmehr wurden auch hier nur für eine bestimmte historische Phase einige Elemente der Keynes’schen theorie adaptiert, ohne grundlegende Prinzipien des  marktwirtschaftlichen Systems aufzugeben. Keynes spielte seit den fünfziger  Jahren zunächst in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion eine wachsende Rolle und fand seit 1957 zunehmend Eingang in die Politik. Mit dem  Wachstums-  und  Stabilitätsgesetz  von  1967  wurde  die  makroökonomische  Vollbeschäftigungspolitik gesetzlich verankert und prägte fortan für gut ein  Jahrzehnt die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Erklärungsbedürftig ist nicht die abwesenheit des Keynesianismus in der  Bundesrepublik, sondern vielmehr sein erheblicher Einfluss in einer Epoche,  die durch ein hohes Maß an wirtschaftlicher Stabilität und Wachstum geprägt  war. Die these dieses Beitrages lautet, dass die Durchsetzung des Keynesianismus nach 1945 nicht allein eine Folge veränderter wirtschaftlicher Erfordernisse war. Vielmehr spielte der kulturelle und politische Wandel ebenfalls  eine  wichtige  Rolle:  Die  geschichtspolitischen  Debatten  über  die Weltwirtschaftskrise, der Systemwettbewerb des Kalten Krieges und der aufstieg einer  neuen  wirtschaftswissenschaftlichen  Expertenkultur  waren  wesentliche  Voraussetzung für den Siegeszug der keynesianischen Makroökonomik. Sie  schufen eine einzigartige Konstellation, die sich freilich schon in den frühen  siebziger Jahren wieder aufzulösen begann.

5  6 

Vgl. die Beiträge in P. a. hall, Power (wie anm. 2).  Vgl. ebd.

Keynesianismus in der Bundesrepublik

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1. Erbe und auftrag: Die Erinnerung an die Weltwirtschaftskrise  helmut Schlesinger, der frühere Präsident der Bundesbank, hat die these vertreten, die Deutschen hätten aus historischen Gründen eine besondere „Stabilitätskultur“ entwickelt. Der Verlust von Vermögen und Besitz durch hyperinflation, Wirtschaftskrise, Kriege und Systemumbrüche sei dafür verantwortlich, dass die Sparquote in der Bundesrepublik höher sei als in anderen ländern und einer soliden Finanzverfassung sowie einer harten Geldpolitik hohe  Priorität eingeräumt werde.7 Diese these ist neuerdings von der historischen  Forschung aufgegriffen und in europäisch-vergleichender Perspektive vertieft  worden.8 Zweifellos verfolgen Bundesbank und andere akteure seit jeher eine  stabilitätsorientierte  Geld-  und  Währungspolitik.  allerdings,  so  lautet  die  these dieses Beitrages, ist auch die adaption des Keynesianismus in Deutschland aus den spezifischen stabilitätspolitischen Bedürfnissen der Zeit zu erklären. Es spricht sogar viel für die annahme, dass die Obsession mit wirtschaftlicher  Stabilität  dem  Keynesianismus  geradezu  den Weg  bereitet  hat.  Denn  die  finanzpolitischen  Planungstechniken  der  sechziger  und  siebziger  Jahre  (mittelfristige Finanzplanung, Budgetprogrammierung, nutzen-Kosten-analyse  bei  öffentlichen  Investitionsprojekten)  zielten  darauf,  die  langfristigen  Folgen öffentlicher ausgaben zu bestimmen und wurden daher auch von konservativen haushaltspolitikern befürwortet. Die Bundesbank forderte seit den  späten fünfziger Jahren mit nachdruck eine konjunkturorientierte Finanzpolitik.9 Vor dem hintergrund anhaltender Vollbeschäftigung bedeutete dies allerdings, die öffentlichen ausgaben zu senken, um einen anstieg der Inflation zu  verhindern. Es konnte also mit dem argument der Inflationsbekämpfung für  eine antizyklische Fiskalpolitik eingetreten werden. auch im Wachstums- und  Stabilitätsgesetz von 1967 wurde das Ziel der Preisniveaustabilität gleichberechtigt  neben  Wachstum,  Vollbeschäftigung  und  außenwirtschaftlichem  Gleichgewicht gestellt.  allerdings war nach 1945 nicht nur die Erinnerung an die hyperinflation  lebendig,  sondern  vor  allem  das  Schreckbild  der  Weltwirtschaftskrise  der  dreißiger Jahre, die viele Zeitgenossen noch persönlich erlebt hatten. Im geschichtspolitischen  Diskurs  der  nachkriegszeit  spielte  dieses  Ereignis  eine  7  8 

9 

Vgl.  maNfRed j. m. NeumaNN:  Geldwertstabilität:  Bedrohung  und  Bewährung,  in:  deutsche BuNdesBaNK (hg.): Fünfzig Jahre Deutsche Mark. notenbank und Währung  seit 1948, München 1998, S. 309–346, hier S. 343. BeRNhaRd LöffLeR (hg.): Die kulturelle Seite der Währung. Europäische Währungskulturen, Geldwerterfahrungen und notenbanksysteme im 20. Jahrhundert (= historische  Zeitschrift. Beihefte, Bd. 50), München 2010; vgl. auch toNi PieReNKemPeR: Die angst  der Deutschen vor der Inflation. Oder: kann man aus der Geschichte lernen?, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1/1998, S. 59–84. heLge BeRgeR:  Konjunkturpolitik  im  Wirtschaftswunder.  handlungsspielräume  und  Verhaltensmuster  von  Bundesbank  und  Regierung  in  den  1950er  Jahren,  tübingen  1997. 

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herausragende Rolle. „alle Probleme der Weltwirtschaftspolitik der Gegenwart“, so schrieb der in Mün ster lehrende Volkswirt andreas Predöhl 1953 in  den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte, „sind aus dieser Krise erwachsen,  wie immer der Zweite Weltkrieg das  politische Gesicht der Welt revolutioniert  haben  mag.  Jedes  Urteil  in  wirtschaftlichen  Fragen  der  Gegenwart  ist  bewusst  oder  un bewusst  bestimmt  durch  ein  Urteil  über  die  Weltwirtschaftskrise.“10  Diese  Beobachtung  traf  für  die  Bundesrepublik  noch  stärker  zu  als  für  andere Industriestaaten wie die USa oder Großbritannien, in denen die Weltwirtschaftskrise zwar ebenfalls verheerende auswirkungen gehabt hatte, aber  nicht für eine totalitäre Entwicklung verantwortlich gemacht werden konnte.  Es könne, so schrieb der Volks wirt Walter Jöhr 1955, „kein Zweifel bestehen,  dass die Weltgeschichte einen völlig anderen Verlauf genommen hätte, wenn  die Depression in Deutschland überwun den worden wäre, bevor die arbeitslosigkeit die Drei- oder Vier-Millionen-Grenze überschritten hätte“.11 Die ursächliche Verknüpfung von wirtschaftlicher Depression und nationalsozialistischer Machtergreifung war im historisch-politischen Diskurs der westdeutschen nachkriegsgesellschaft unstrittig. Dieser interpretatorische nexus war,  wie Dietmar Petzina betont hat, von „geradezu traumatischer Qualität“ und  prägte das wissenschaftlich-historische Urteil wie auch das populäre Bild bis  in  die  frühen  siebziger  Jahre  hinein.  Dies  galt  unter  anderem  für  die  vom  Münchner  Institut  für  Zeitgeschichte  in auftrag  gegebene  Studie  „Von  der  Weltwirtschaftskrise zur Staatskonjunktur“, die Gerhard Kroll 1959 publiziert  hatte.12 Mehrere Faktoren waren für diese geschichtspolitische Interpretation verantwortlich.  Zum  einen  bedeutete  es  im  Kontext  der  Schulddebatten  der  nachkriegszeit  eine  Entlastung,  wenn  man  ökonomische  Ursachen  für  den  aufstieg des natio nalsozialismus verantwortlich machen konnte. Die individuelle Verantwortung der Deutschen schien dadurch geringer. Dies erklärt die  wissenschaftliche und öffentliche Popularität der Deutung. Zum anderen bemühten  sich  zahlreiche  Ökonomen  und  Politiker  wie  etwa  Rudolf  Stucken  oder Wilhelm Grotkopp, die in den frühen dreißiger Jahren für defizitfinanzierte Krisenprogramme eingetreten waren, um eine nachträgliche Rechtfertigung  ihrer  Positionen. aus  ihrer  Sicht  hatten  die  Regierung  Brüning  sowie  große  teile  des  wirtschaftswissenschaftlichen  Establishments  während  der  10  aNdReas PRedöhL: Die Epochenbedeutung der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1931,  in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 97–118, hier S. 97.  11  WaLteR a. jöhR: hochkonjunktur 1929 und 1955, aarau 1955, S. 3. 12  geRhaRd KRoLL: Von der Weltwirtschaftskrise zur Staatskonjunktur, Berlin 1958; vgl.  auch WeRNeR ehRLicheR: Die deutsche Finanzpolitik seit 1924, Bonn 1961; vgl. ferner  WiLheLm gRotKoPP: Die große Krise. lehren aus der Überwindung der Wirtschaftskrise  1929, Düsseldorf 1964.

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Krise versagt.13 Diese ansicht wurde von vielen anderen Ökonomen geteilt.  Scharf verurteilte etwa Werner Ehrlicher, Ordinarius an der Univer sität Freiburg,  den  „prozyklischen  charakter“  der  Finanzpolitik  und  die  desaströ sen  Folgen der Brüningschen notverordnungen. Diese hätten „zweifelsohne entscheidend  dazu  beigetragen“,  die  „abwärtsbewegung  der  Wirtschaft  zu  verschär fen“,  die  seinerzeit  ergriffenen  Maßnahmen  erschienen  Ehrlicher  „vom heutigen Stand der theoretischen Einsicht fast grotesk“.14 nach auffassung des Präsidenten des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, hans langelütke, entsprach das „liberali stische Wunsch- und leitbild des Selbstheilungsprozesses“, welches der Wirt schaftspolitik Brünings zugrunde gelegen habe,  schon damals nicht mehr dem wis senschaftlichen Erkenntnisstand. So sei es  zur anwendung eines „therapeutisch fal schen Rezepts“ gekommen – mit fatalen Folgen für die Stabilität der deutschen Volkswirtschaft.15 auch alfred  Müller-armack verwies auf lehren, die man aus den katastrophalen Erfahrungen der dreißiger Jahre ziehen müsse.16 „Gerade das Versa gen in bezug auf  die Konjunkturpolitik hat die letzte Weimarer Regierung diskredi tiert und den  herandrängenden  nazistischen  Mächten  nach  1933  durch  ihre  arbeitsbeschaffung ihren anhang in breiten Schichten gesichert.“ Grundsätzlich erschien Müller-armack auch die nachkriegsgesellschaft nicht vor solchen Gefahren gefeit. angesichts drohender „Konjunkturrückschläge“ betrachtete er  den „Einbau eines equilibrierenden Instrumentes als wesentliche Voraussetzung, um in einer unruhigen Wetterlage die marktwirtschaftliche Ordnung auf  Dauer ertragen zu können.“17 Diese Äußerungen machen deutlich, dass die Debatte über die Weltwirtschaftskrise  nicht  nur  akademischer  natur  war,  sondern  erhebliche  wirtschaftspolitische  Folgen  hatte.  Die  historische  Erfahrung  diente  zur  legitimierung einer umfassenden staatlichen Steuerung von Wach stum und Konjunktur – bis hin zum Wachstums- und Stabilitätsgesetz von 1967, dem ein  13  Vgl. KNut BoRchaRdt: Zwangslagen und handlungsspielräume in der großen Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre. Zur Revision des überlieferten Geschichtsbildes,  in: Jahrbuch der Bayerischen akademie der Wissenschaften 1979, S. 85–132; Borchardt  gehörte zu den ersten, die sich kritisch mit dieser Interpretation auseinandersetzten; vgl.  auch BeRNhaRd müLLeR: aussagen  der  nationalökonomischen  literatur  und  der  deutschen Publizistik zur Weltwirtschaftskrise 1930 bis 1933 aufgrund des Standes der damaligen Konjunkturtheorie und die daraus fließenden konjunkturpolitischen Vorschläge,  Diss. tübingen 1990, S. 291–325, der ausführlich auf die von Borchardt ausgelöste Diskussion in den achtziger Jahren eingeht. 14  WeRNeR ehRLicheR: Die deutsche Finanzpolitik seit 1924, Bonn 1961, S. 8. 15  haNs LaNgeLütKe: Vierzig Jahre Konjunkturforschung in Deutschland, München 1965,  S. 4. 16  aLfRed müLLeR-aRmacK: Institutionelle Fragen der europäischen Konjunkturpolitik, in:  Wirtschaftspolitische chronik 3, 1958, S 7–24. 17  aLfRed müLLeR-aRmacK: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, hamburg 1947, S.  125.

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langer historischer Prolog über die Große Depression und ihre Folgen vorangestellt wurde.18 Erst in den siebziger Jahren, als nicht nur der Keynesianismus an Einfluss verlor, sondern auch die historische Forschung – namentlich  durch  die arbeiten  von  Knut  Borchardt  –  zu  einem  differenzierteren  Urteil  über Brünings Rolle während der Depression gelangte, verlor diese Meistererzählung der deutschen Wirtschaftsgeschichte an Bedeutung.19 2. Vom Ordoliberalismus zur „neuen Wirtschaftslehre“ Erleichtert wurde die Verbreitung keynesianischer Ideen durch die institutionellen, personellen und methodischen Veränderungen innerhalb der nationalökonomie. Kaum eine gesellschaftswissenschaftliche Disziplin hat nach dem  Zweiten Weltkrieg einen ähnlichen Wandel erfahren. Es kam nicht nur zu einer  Expansion  und  Professionalisierung  der  Wirtschaftswissenschaften  an  bundesdeutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen, sondern auch  zu einer weitreichenden theoretischen und methodischen neuorientierung.20  Das  Fach  löste  sich  endgültig  von  seinen  älteren,  noch  vom  Methodenverständnis  der  historischen  Schule  beeinflussten  traditionen.  Eine  wichtige  Rolle spielte hierbei zunächst die ordoliberale Freiburger Schule um Walter  Eucken und Franz Böhm. Sie prägte in der anfangszeit der Bundesrepublik  nicht nur das theoretische Selbstverständnis des Faches, sondern beeinflusste  auch die wirtschaftspolitischen Konzepte und institutionellen Reformen der  aufbauphase.21  allerdings verlor der Ordoliberalismus im laufe der fünfziger Jahre rasch  an  Einfluss,  zunächst  im  wissenschaftlichen,  dann  auch  im  politischen  Bereich. Zum einen waren die namhaften Repräsentanten dieser Richtung an den  bundesdeutschen Universitäten kaum noch vertreten. Walter Eucken, alfred  18  Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StabG) vom 8.  Juni 1967, in: BgBL i, S. 582.  19  KNut BoRchaRdt:  Zwangslagen  (wie  anm.  12);  vgl.  auch  aLBRecht RitschL:  Knut  Borchardts Interpretation der Weimarer Wirtschaft. Zur Geschichte und Wirkung einer  wirtschaftsgeschichtlichen Kontroverse, in: jüRgeN eLVeRt / susaNNe KRauss (hg.): historische  Debatten  und  Kontroversen  im  19.  und  20.  Jahrhundert,  Stuttgart  2001,  S.  234–244; sowie maRtiN h. geyeR: Kritik und Krise. Sprachkritik und Krisendiskurse in  den  1970er  Jahren,  in:  thomas meRgeL:  Krisen  verstehen,  Frankfurt  a.  M.  2012  (im  Druck). 20  Vgl.  jaN-otmaR hesse:  Die  Wirtschaft  als  Wissenschaft.  Bundesdeutsche  Volkswirtschaftslehre zwischen Weltkrieg und Ölpreiskrise, Frankfurt a. M. 2010; vgl. auch haRaLd hagemaNN: the Post-1945 Development of Economics in Germany, in: a. W. BoB coats (hg.): the Development of Economics in Western Europe since 1945, london/ new York 2000, S. 113–128. 21  aNthoNy j. NichoLLs:  Freedom  with  Responsibility.  the  Social  Market  Economy  in  Germany 1918–1963, Oxford/new York 22000. 

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lampe, leonhardt Miksch und hans Großmann-Doerth waren während oder  kurz nach dem Krieg gestorben, andere – wie Wilhelm Röpke – lehrten im  ausland. Viele anhänger der Freiburger Schule wandten sich von der ökonomischen Forschung ab und befassten sich mit kulturphilosophischen und politischen themen. Dies traf zum Beispiel auf alexander Rüstow zu, der 1950  in  heidelberg  auf  den  lehrstuhl  von alfred  Weber  berufen  worden  war.22  Franz  Böhm  oder alfred  Müller-armack  wiederum  engagierten  sich  in  der  Politik und waren wissenschaftlich nicht mehr so präsent wie zuvor.  Zum anderen erfolgte nach 1945 eine rasche Rezeption der anglo-amerikanischen theorien, die in der nS-Zeit zwar durchaus wahrgenommen, von  etablierten Fachvertretern aber mit großer Skepsis gesehen worden waren.23  nach dem Krieg versuchten die bundesdeutschen Ökonomen durch Öffnung  des Faches wieder anschluss an die internationale Forschungsdiskussion zu  finden. In diesem Kontext interessierte man sich vor allem für die Keynesianische Makroökonomik, in zunehmendem Maße aber auch für die von Robert  Solow auf neoklassischer Basis entwickelte Wachstumstheorie. Dabei kam es  weder zu Richtungskämpfen noch entstanden verfeindete Schulen. Während  der Keynesianismus die wissenschaftliche Zunft in den USa in anhänger und  Gegner spaltete, gingen bundesdeutsche Ökonomen eher pragmatisch damit  um. Es war allerdings auch nicht die Keynessche Ursprungs lehre, sondern die  von Paul Samuelson, John hicks und anderen angelsächsischen Ökonomen  entwickelte  „neoklassische  Synthese“,  welche  in  den  fünfziger  Jahren  eher  lautlos  in  die  bundesdeutsche  Volkswirtschaftslehre  Eingang  fand.24  Eine  Schlüsselrolle  für  diesen  theorie-  und  Wissenstransfer  spielte  eine  kleine  Gruppe von Ökonomen, die in der nS-Zeit ins ausland emigriert waren und  von denen nach 1945 ei nige in führende Positionen an bundesdeutschen Universitäten und Forschungs einrichtungen zurückkehrten, etwa Fritz neumark  in  Frankfurt  oder  Erich  Schneider  in  Kiel.  Zugleich  nahmen  viele  jüngere  Ökonomen – wie herbert Giersch, carl christian von Weizsäcker, Wilhelm  Krelle  oder Walter  hoffmann  –  nach  dem  Krieg  an austauschprogrammen  mit den USa teil, wo sie mit neuen wissenschaftlichen trends und Methoden  in Berührung kamen. nicht zuletzt wurden in der Bundesrepublik ältere Forschungen zur Kreislaufanalyse und Input-Output-Rechnung aus den dreißiger  22  KatRiN meyeR-Rust:  alexander  Rüstow  –  Geschichtsdeutung  und  liberales  Engagement, Stuttgart 1993.  23  haRaLd hagemaNN: Der amerikanische Einfluß auf das deutsche Wirtschaftsdenken, in:  detLef juNKeR (hg.): Die USa und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945– 1990. Ein handbuch, Bd. 1: 1945–1968, München 2001, S. 553–563; dudLey diLLaRd:  the Influence of Keynesian thought on German Economic Policy, in: haRoLd L. WatteL (hg.): the Policy consequences of John Maynard Keynes, armonk 1985, S. 116– 127; jaN-otmaR hesse: „Ein Wunder der Wirtschaftstheorie“. Zur „amerikanisierung“  der Volkswirtschaftslehre in der frühen Bundesrepublik, in: Jahrbuch des historisches  Kollegs 2007, S. 79–113.  24  J.-O. hesse: Wunder (wie anm. 23). 

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und vierziger Jahren reaktiviert, für die namen wie Ferdinand Grünig, carl  Föhl oder hans Peter standen.  Zwei parallele und nur auf den ersten Blick widersprüchliche Entwicklungen  kenn zeichneten  das  methodische  Selbstverständnis  der  Volkswirtschaftslehre in den fünfziger und sechziger Jahren: Zum einen setzte sich das  mathematisch formalisierte Modelldenken durch, mit dem sich die Disziplin  endgül tig  von  ihren  vormals  engen  Verbindungen  zu  den  Sozial-  und  Geisteswissenschaf ten löste. Viele Ökonomen fühlten sich fortan der Physik  und  Mathematik  metho disch  stärker  verbunden  als  der  Soziologie  oder  der  Geschichtswissenschaft. Die wachsende Komplexität und der hohe abstraktionsgrad  der  Disziplin  führten  dazu,  dass  die  theoretischen  Debatten  von  nichtfachleuten  kaum  noch  nachvollzogen  werden  konnten.  Zum  anderen  rückten ökonomische Fragen nicht nur in das Zentrum der politischen Diskussion, sondern gewannen in fast allen gesellschaftlichen handlungsfeldern Relevanz. Die Bedeutung der wirtschaftspolitischen Beratung und angewandten  Forschung nahm rasant zu. Dabei ging es zunächst um die präzise statistische  Messung  volkswirtschaftlicher  Vorgänge  und  ihrer  kreislaufmäßigen  Zusammen hänge.  Ökonometrie,  Konjunkturbeobachtung  und  Volkswirtschaftliche Gesamt rechnung erlebten in der Bundesrepublik seit den frühen  fünfziger Jahren einen unvergleichlichen Boom und wurden institutionell und  personell stark ausgebaut. Vor allem die außeruniversitäre Konjunktur- und  Wirtschaftsforschung gewann in die sem Zusammenhang stark an Bedeutung,  so das Ifo-Institut in München, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung  in Berlin oder das Kieler Institut für Weltwirtschaft. Viele dieser Einrichtungen waren zwar schon früher gegründet worden, expandierten nun aber rasch  und fanden durch neue Formen der Politikberatung (wie das 1950 erstmals  vorgelegte „Gemeinschaftsgutachten“) große öffentliche Resonanz.25  Früher als an den Universitäten setzten sich in diesen Einrichtungen neue  Formen  der  Projekt-  und  Großforschung  durch,  wie  sie  bislang  nur  in  den  naturwissenschaften  üblich  gewesen  waren.  tatsächlich  gestaltete  sich  die  tätigkeit der  empiri schen Wirtschaftsforschung  außerordentlich personalintensiv und bedurfte ei ner finanziellen und institutionellen ausstattung, über  welche die Universitäten in den fünfziger und frühen sechziger Jahren nicht  verfügten. Beschäftigte das DIW 1950 über 63 Mitarbeiter, so waren es zehn  Jahre später fast doppelt so viele. Das Ifo-Institut hatte 1949 seine arbeit mit  weniger  als  einem  Dutzend  Mitarbeitern  aufgenommen,  1961  waren  dort  etwa 160 Personen beschäftigt. am Kieler Institut für Weltwirtschaft waren  1963 250 Mitarbeiter tätig, während am RWI Essen 1960 41 Personen angestellt  waren.  Einen  starken  ausbau  erfuhr  auch  das  hWWa,  dessen  Mitarbeiter stab  von  47  Ende  1948  auf  120  im  Jahre  1960  anwuchs.  Insgesamt  waren  in  den  Instituten  der  arbeitsgemeinschaft  Ende  der  fünfziger  Jahre  25  h. hagemaNN: Development (wie anm. 19), S. 121. 

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etwa 330 Wissenschaftler und 1000 andere Mitarbeiter beschäftigt.26 anfängliche Bedenken einiger liberaler Ökonomen, welche in der quantifizierenden  Wirtschaftsforschung eine Vorstufe totalitärer Planwirtschaft erblickten, fanden kaum noch Zuspruch. nicht nur die private Wirtschaft war an verlässlichen Daten zur konjunkturellen Entwicklung sowie an Input-Output-Matrizen  für bestimmte Branchen interessiert. auch der „Datenhunger“ staatlicher Behörden, der Sozialversicherungsträger und der kommunalen Pla nungsverbünde  wuchs stark an. Überdies war die Bundesrepublik verpflichtet, für die statistischen Belange internationaler Organisationen (OEEc, UnO, EWG usw.) umfassende Kreislauf- und Kontensysteme zu erstellen.27  Einen  qualitativen  Sprung  bedeutete  die  Entwicklung  ökonomischer  Prognose verfahren, die sich in zwei Phasen vollzog. In den fünfziger Jahren  domi nierte die kurzfristige Konjunkturprognose, welche vom Münchner IfoInstitut entwickelt und mit großem Erfolg praktiziert wurde. an die Stelle der  in den zwanziger Jahren begründeten „Barometermethode“ trat das Konjunkturtestverfahren, das auf modernen, aus den USa übernommenen Metho den  der  Meinungsumfrage  basierte.28  Ergänzend  wurde  seit  Ende  der  fünfziger  Jahre  mit  Unterstützung  der  Deutschen  Forschungsgemeinschaft  komplexe  ökonometrische Prognosesysteme modelliert, die einen Zeithorizont von bis  zu  10  Jahren  besaßen.29  Eine  Vorreiterrolle  spielte  hierbei  das  sogenannte  „Bonner Modell“, das der Physiker und Volkswirt Wilhelm Krelle mit hilfe  26  feRdiNaNd fRiedeNsBuRg: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Beiträge zur  empirischen Konjunkturforschung, Berlin 1950, S. 11–18, hier S. 16; ifo-iNstitut füR WiRtschaftsfoRschuNg: aufbau und aufgaben, o. V., München 1961, S. 5; RoLf KReNgeL: Das deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (Institut für Konjunkturforschung)  1925 bis 1979, Berlin 1985, S. 163; KNut BoRchaRdt: Denkschrift zur lage der Wirtschaftswissenschaft, Stuttgart 1960, S. 87; aNtoN zottmaNN: Die Entwicklung des Instituts für Weltwirtschaft von der Gründung bis zur Gegenwart, in: Institut für Weltwirtschaft  an  der  Universität  Kiel  1914–1964,  Bd.  1–66,  Kiel  1964,  S.66;  heLmut LeVeKNecht: 90 Jahre hWWa. Von der Zentralstelle des hamburgischen Kolonialinstituts  bis zur Stiftung hWWa, hamburg 1998, S. 38 u. 44. 27  doNaLd PatiNKiN: Keynes and Econometrics. On the Interaction between the Macroeconomic Revolutions of the Interwar Period, in: Econometrica 44 (1976), S. 1091–1123;  vgl. allgemeiner auch: a. W. BoB coats (hg.): Economists in International agencies.  an Exploratory Study, new York/Westport/london 1986. 28  haNs LaNgeLücKe / WiLheLm maRquaRdt: Das Konjunkturtestverfahren. aufgabe, Methode  und  Erkenntniswert,  in: allgemeines  Statistisches archiv  35  (1951),  S.  34–67;  vgl.  auch:  ifo-iNstitut  (wie  anm.  26);  RaLf maRquaRdt  (hg.):  Dreißig  Jahre  Wirtschaftsforschung im Ifo-Institut. 1949–1979, München 1979; R. KReNgeL, Institut (wie  anm. 26).  29  heRBeRt güLicheR:  Ein  einfaches  ökonometrisches  Dezisionsmodell  zur  Beurteilung  der quantitativen auswirkungen einiger wirtschaftspolitischer Maßnahmen für die Bundesrepublik Deutschland, Köln-Opladen 1961; güNteR meNges: Ökonometrie, Wiesbaden  1961;  geRd haNseN:  Ein  ökonometrisches  Modell  für  die  Bundesrepublik  1951– 1964, Göttingen 1966; dietRich LüdeKe: Ein ökonometrisches Vierteljahresmodell für  die Bundesrepublik Deutschland, tübingen 1969. 

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computergestützter Verfahren entwickelte.30 Krelle hat diese Projekte rückblickend  als  Beginn  der  „Big  Science“  in  der  wirtschaftswissenschaftlichen  hochschulforschung charakterisiert.31 War auch der Bonner ansatz noch weit  entfernt  von  den  Dimen sionen  naturwissenschaftlicher  Großforschung,  so  manifestierte sich in den Projekten doch eine neue Qualität der wissenschaftlichen arbeit. Der hohe auf wand an finanziellen, personellen und technischen  Ressourcen sowie die lange lauf zeit war dabei nicht alles. neu war die interdisziplinäre Kooperation, der Einsatz rechnergestützter Verarbeitung, insbesondere aber die enge Verflechtung von theoretischer und empirischer arbeit.  Die  transformation  der  Ökonomie  von  einer  vergangenheitsbezogenen  zu einer prognostischen Wissenschaft hatte weitreichende Folgen, und zwar  nicht nur für das disziplinäre Selbstverständnis, sondern auch für die gesellschaftliche  Relevanz  des  Faches.  Die  Etablierung  der  ökonomischen  „Zukunftsforschung“ eröffnete vollkommen neue Möglichkeiten der staatlichen  Planung und bildete somit auch eine wichtige Voraussetzung für die keynesianische ausrichtung der Wirtschafts- und Finanzpolitik.32 aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften gab es ein erhebliches professionelles Interesse an einer solchen Politik, weil damit nicht nur eine ausweitung der Forschungsressourcen verbunden war, sondern auch ein Zuwachs an öffentlicher aufmerksamkeit und wissenschaftlichem Prestige. Der 1963 gegründete Sachverständigenrat für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der  die keynesianische Politik in den 1960er Jahren unterstützte, zeugt von dem  neuen Selbstverständnis der Ökonomen.33 Das Gremium besaß eine – auch  international – einzigartige Stellung in der ökonomischen Politikberatung und  war  mit  erheblichen For schungsressourcen  ausgestattet. Der  Sachverständigenrat trat vor allem in den ersten Jahren betont regierungskritisch auf und  unterstrich  damit  nicht  nur  seinen  anspruch  als  unabhängiges  Beratungsgremium, sondern konnte auch die Medien für seine Ziele mobilisieren.34. 30  Insgesamt handelte es sich um 35 Definitions- und 28 Verhaltensgleichungen sowie um  sieben  exogene  Variablen;  WiLheLm KReLLe  u. a.:  Ein  Prognosesystem  für  die  wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, Meisenheim am Glan 1969,  S. 23. 31  Ebd., Vorwort. 32  aLexaNdeR NützeNadeL: Die Vermessung der Zukunft. Ökonometrische Prognostik und  empirische Wirtschaftsforschung in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg,  in: heiNRich haRtmaNN / jaKoB VogeL (hg.): Zukunftswissen. Prognosen in Wirtschaft,  Politik und Gesellschaft seit 1900, Frankfurt am Main 2010, S. 55–75.  33  otto schLecht / uLRich VaN suNtum (hg.): 30 Jahre Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Krefeld 1995; haNs g. faBRitius: Konjunkturtheoretische Vorstellungen des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Eine analyse der bis einschließlich 1972 veröffentlichten Gutachten, Berlin 1975.  34  gaBRieLe metzLeR: Versachlichung statt Interessenpolitik. Der Sachverständigenrat zur  Begutachtung  der  gesamtwirtschaftlichen  Entwicklung,  in:  stefaN fisch / WiLfRied

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3. Finanzpolitik auf neuen Wegen allerdings müssen die Verschiebungen in den wirtschaftspolitischen leitbildern auch auf die veränderten wirtschaftspolitischen anforderungen zurückgeführt werden. Zum einen spielte die Ordnungspolitik seit Mitte der fünfziger Jahre keine große Rolle mehr, an ihre Stelle traten zunehmend Probleme  der Prozesspolitik. hatte in der Gründungsphase der Bundesrepublik die Gestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen im Zentrum gestanden, so  ging  es  nun  darum,  die  wirtschaftspolitischen abläufe  zu  optimieren.35  Im  Bereich der Finanzplanung, die sich in Deutschland aufgrund der föderalen  Struktur besonders kompliziert gestaltete, wurde mehr und mehr auf moderne,  in den USa entwickelte Budgetierungsverfahren gesetzt, die mit einem mehrjährigen  Zeithorizont  operierten.36  Zunehmend  problematischer  gestaltete  sich auch die Währungs- und Geldpolitik.37 nach dem Übergang zur Konvertibilität der D-Mark und der schrittweisen liberalisierung des Kapitalverkehrs  Ende  der  fünfziger  Jahre  wurde  es  für  die  Bundesbank  immer  schwieriger,  sowohl die Zahlungsbilanz auszugleichen als auch Geldwertstabilität zu garantieren.  Im  Bretton-Woods-System  der  festen  Wechselkurse  ließen  sich  beide Ziele mit dem klassischen Instrumentarium der notenbank nicht mehr  gleichzeitig erreichen.38 Erhöhte die Bundesbank ihre Zinsen, so führte dies  regelmäßig zu Kapitalzuflüssen aus dem ausland, womit das Ziel der Inflationsbekämpfung konterkariert wurde. Dieses Dilemma hatte zur Folge, dass  sich die Bundesbank nachdrücklich für eine Verbesserung der konjunkturpo-

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RudLoff:  Experten  und  Politik.  Wissenschaftliche  Politikberatung  in  geschichtlicher  Perspektive, Berlin 2004, S. 127–152. Vgl. z. B. heiNz haLLeR: Zur Frage der wirtschaftlichen Staatsintervention, in: Finanzarchiv 14 (1953/54), S. 230–242; joachim j. hesse (hg.): Politikverflechtung im föderativen Staat. Studien zum Planungs- und Finanzierungsverbund zwischen Bund, ländern  und Gemeinden, Baden-Baden 1978.  geseLLschaft füR WiRtschafts- uNd soziaLWisseNschafteN, VeReiN füR sociaLPoLitiK:  Probleme der haushalts- und Finanzplanung, Berlin 1969; güNteR hagemaNN: Beziehungen  zwischen  mittelfristiger  Finanzplanung  und  Finanzverfassung  im  föderativen  Staat  unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Verhältnisse  in  der  Bundesrepublik  Deutschland,  in:  Beihefte  der  Konjunkturpolitik  (15)  1968,  Mittelfristige  Finanzplanung, S. 47–56; aLfRed haRtmaNN: Die Finanzpolitik – ein Instrument der deutschen  Wirtschafts-  und  Konjunkturpolitik,  in:  fRaNz gReiss / fRitz W. meyeR  (hg.):  Wirtschaft, Gesellschaft und Konjunktur. Festgabe für alfred Müller-armack, Berlin 1961,  S. 189–202; KuRt heiNig: amerikanisches Budgetwesen in bundesdeutscher Perspektive, in: Finanzarchiv 16 (1955/56), S. 423–431.  Vgl. moNiKa dicKhaus: Die Bundesbank im westeuropäischen Wiederaufbau. Die internationale Währungspolitik  der  Bundesrepublik  Deutschland  1948  bis  1958,  München  1996; BjöRN aLecKe: Deutsche Geldpolitik in der Ära Bretton Woods, Münster 1999. caRL-LudWig hoLtfReRich:  Geldpolitik  bei  festen  Wechselkursen  (1948–1970),  in:  deutsche BuNdesBaNK (hg.): Fünfzig Jahre Deutsche Mark. notenbank und Währung  in Deutschland seit 1948, München 1998, S. 347–438.

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litischen  Instrumente  des  Staates  einsetzte.  antizyklische  Fiskalpolitik  erschien aus der Perspektive der sechziger Jahre eine wichtige Voraussetzung  für die Erhaltung der Geldwertstabilität.  Zwar stieß die keynesianische Finanzpolitik anfangs auf den Widerstand  liberaler  Wirt schaftspolitiker  und  Regierungsbeamter,  diese  Widerstände  schwächten sich allerdings seit Ende der fünfziger Jahre zunehmend ab, als  eine jüngere Generation von wissenschaftlich versierten Beamten und Fachpolitkern in die Schlüsselpositionen der Verwaltungen und Regierungsbehörden einrückte.39 hatten viele der ordoliberalen Ökonomen jegliche Form der  quantitativen Wirtschaftsforschung abgelehnt,40 wurden moderne Prognoseverfahren und Steuerungstechniken nun ohne Vorbehalte eingesetzt.41 auch  im politischen Raum gewann die vorausschauende Konjunkturpolitik zunehmend anhänger. Vor allem die oppositionelle SPD, die sich unter dem Einfluss von Karl Schiller und heinrich Deist endgültig von ihren marxistischen  traditionen  gelöste  hatte,  profilierte  sich  seit  Mitte  der  fünfziger  Jahre  mit  dem  Plan  eines  umfassenden  Konjunktur-  und  Wachstumsgesetzes,  das  sie  1956 in den Bundestag einbrachte.42 Doch auch innerhalb der Regierungsparteien setzte sich zunehmend die auffassung durch, dass eine staatliche Steuerung makroökono mischer Zielgrößen unter Einsatz monetärer und fiskalpolitischer Instrumente er forderlich sei. In der cDU traten vor allem Staatssekretär  alfred  Müller-armack  und  Finanzminister  Franz  Etzel  für  einen  wirtschaftspolitischen Kurswechsel ein. Ein moderater Keynesianismus gehörte  nun auch in den bürgerlichen Par teien zum wirtschaftspolitischen common  Sense. ambivalent blieb die haltung Erhards, dessen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik allerdings schon in den letzten Jahren vor seinem Wechsel ins  Kanzleramt deutlich abnahm. Spätestens seit Ende der fünfziger Jahre zeichneten  sich  somit  die  Konturen  jenes  modernisierungspoliti schen  Konsenses  ab, der die Wirtschafts- und Finanzpolitik der „langen“ sechziger Jahre über  Parteigrenzen hinweg prägte, allerdings erst in der Großen Koalition 1966 bis  1969 seine volle Wirkung entfalten sollte. 

39  Vgl. umfassend BeRNhaRd LöffLeR: Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis.  Das Bundeswirtschaftsministerium unter ludwig Erhard, Stuttgart 2002.  40  Vgl. z. B. WiLheLm RöPKe: civitas humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform,  Erlenbach-Zürich  1944,  S.  343;  fRiedRich a. Lutz: Das  Problem  der  Wirtschaftsprognosen, tübingen 1955, S. 10. 41  Vgl. Beiträge in: heRBeRt gieRsch / KNut BoRchaRdt (hg.): Diagnose und Prognose als  wirtschaftswissenschaftliche Methodenprobleme, Berlin 1962.  42  antrag der Fraktion der SPD vom 6. 5. 1956, zu finden: deutscheR BuNdestag, anlagen  zu den stenographischen Berichten, 2. Wahlperiode, Drucksache 2428B.

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4. Europäische Integration und Kalter Krieg Es wäre jedoch irreführend, die Entwicklung in der Bundesrepublik isoliert zu  betrachten. Vielmehr müssen internationale Entwicklungen und transferprozesse berücksichtigt werden, welche die wirtschaftspolitischen leitbilder in  den fünfziger Jahren veränderten. Zwei Dimensionen sind hierbei zu berücksichtigen: auf der einen Seite prägten Westbindung und europäische Integration die Wirtschaftspolitik in wachsendem Maße. Die Einbindung der Bundesrepublik  in  ein  enges  netz  internationaler  Organisationen  und  Verträge  hatte nicht nur vielfäl tige materielle, politische und rechtliche Konsequenzen,  sondern setzte auch lern- und transferprozesse in Gang.43  Die Bundesrepublik war hierbei allerdings nicht nur passiver Empfänger,  sondern  auch  Impulsgeber.  Dies  zeigte  sich  in  den  Jahren  nach  der  Verabschiedung der römischen Verträge, als intensiv über eine gemeinsame Wirtschaftspolitik der EWG-Staaten nachgedacht wurde. So konnte die Bundesregierung  verhindern,  dass  Frankreich  unter  seinem  sendungsbewussten  Präsidenten charles de Gaulle die „planification économique“ als wirtschaftspolitisches  Modell  des  EWG-Verbundes  durchsetzte.44  Um  Frankreich  und  der  nicht  weniger  planungsfreudigen  EWG-Kommission  eine  alternative  gegenüberzu stellen, lancierte die Bundesregierung 1958 die Idee eines europäischen „Konjunk turboards“, stellte also die makroökonomische ablaufspolitik der mikroökonomi schen Staatslenkung gegenüber.45 Diese vor allem von  alfred  Müller-armack  konzipierte  Idee  wurde  auf  europäischer  Ebene  nie  durchgesetzt,  wirkte  jedoch  in  erheblichem  Maße  auf  die  bundesdeutschen  Diskussionen zurück.46 Die staatliche Finanzpolitik rückte ins Zentrum des  rationalen, planvollen Staatshandelns, das die einzelwirtschaftlichen Dispositionen der haushalte und Unternehmen nicht direkt beeinflusste, also mit der  Marktwirtschaft  kompatibel  erschien.  hier  und  in  anderen  Bereichen  (etwa  bei  der  mittel fristigen  Finanzplanung)  wirkte  der  europäische  Integrationsprozess gleichsam als Katalysator für die Durchsetzung neuer Konzepte und  handlungsmuster.  auf  der  anderen  Seite  spielte  die  Konkurrenzbeziehung  zur  DDR  eine  zentrale Rolle bei der Durchsetzung neuer wirtschaftspolitischer Ideen. Dies  43  Dies wird bereits durch die intensive Beobachtung der Wirtschaftspolitik anderer länder  durch  die  verschiedenen  Ministerien  deutlich,  vgl.  Bundesarchiv  Koblenz,  B102,  17917 und 59354, B126, nr. 22311, B136, nr. 7415.  44  geoffRey deNtoN / muRRy foRsyth / maLcoLm macLeNNaN: Economic Planning and  Policies  in  Britain,  France  and  Germany,  london  1968,  S.  364;  vgl.  auch:  BRuce R. scott / audRey t. sPRoat: national Industrial Planning. France and the EEc, Boston  1983.  45  PeteR goNschioR: hemmnisse bei der Koordination nationaler Konjunkturpolitiken in  den Europäischen Gemeinschaften, Baden-Baden 1976.  46  aLexaNdeR NützeNadeL: Die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und die Debatte  über eine europäische Wirtschaftspolitik 1958–65, in: Francia 30/3 (2003), S. 73–98. 

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betraf  weniger  die  materiellen  wirtschaftspolitischen  Beziehungen,  etwa  durch den Interzonenhandel, sondern vor allem die wechselseitige Perzeption  im Rahmen des deutsch-deutschen Systemwettbewerbs. Obwohl die geringe  Effizienz der sozialistischen Planwirtschaft schon in den fünfziger Jahren offensichtlich war, gab es in Politik und Wirtschaft zahlreiche Stimmen, die einen aufholprozess der DDR-Wirtschaft vor allem durch eine systematische  Investitionslenkung erwarteten. So prognostizierte der Unternehmer Otto a.  Friedrich schon 1956 einen „neuartigen koexistentiellen Wettbewerb“ im Bereich  der  wirtschaftlichen  Produktion.47  Das  hauptdefizit  des  marktwirtschaftlichen Systems westlicher Prägung erkannte Friedrich in der fehlenden  Zukunftsorientierung. Während  es  der  zentralen  Plan wirtschaft  gelinge,  die  Konsumquote niedrig zu halten, Investitionsgüter in strate gisch wichtige Sektoren  zu  lenken  und  durch  eine  gezielte  Forschungs-  und  Bil dungspolitik  langfristige Entwicklungsaufgaben in den Blick zu nehmen, besitze die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik einen zu geringen Zeithorizont und vernachlässige  wichtige  Zukunftsprobleme.  Ohne  die  Grundprinzipien  einer  freien Ei gentums- und Verkehrswirtschaft in Frage zu stellen, hielt der hamburger Unter nehmer daher ein „größeres volkswirtschaftliches Plandenken“  für  unverzichtbar.  nach  amerikanischem  oder  britischem Vorbild  sollte  der  Staat  das  gesamtwirt schaftliche  Prognosesystem  verbessern,  insbesondere  aber Finanz-, Geld- und Steuerpolitik zu einer Einheit zusammenführen. Ziel  sei die Vermeidung konjunktu reller Schwankungen und die Sicherung eines  langfristigen Wirtschaftswachstums. Ähnlich sah dies Fritz hellwig, der wirtschaftspolitische Sprecher der cDU. auch er befürchtete einen „Wirtschaftskrieg zwischen Ost und West“, bei dem sich eine „bedrohliche Überlegenheit  totalitärer Sy steme in der Frage der Produktivitätssteigerung und der Sicherung  der  Investitions quote“  abzeichne.48  hellwig  beklagte  1956  die  „Richtungslosigkeit  unserer  Wirtschaftspoli tik“  sowie  die  „hilflose  Behandlung  unserer internen Konjunkturde batten“. Seiner auffassung nach bestand „ein  Urbedürfnis  nach autorität,  Führung  und  lenkung  nicht  nur  bezüglich  der  Gemeinschafts- und politischen Willens bildung, sondern bei den heutigen internationalen Gegebenheiten unabdingbar auch im Bereich der Wirtschaft und  der internationalen wirtschaftlichen Beziehungen.“49  Diese  Äußerungen  machen  deutlich,  wie  sehr  das  Wachstumspotential  der ostdeutschen Wirtschaft in der westlichen Welt überschätzt wurde.50 Diese  47  otto a. fRiedRich:  Konjunkturvorsorge  unter  politischem  aspekt,  Vortrag  vor  dem  Überseeclub in hamburg am 2.5.1956, in: Bundesarchiv Koblenz, B126, 2076. 48  hellwig an Friedrich, 19.6.1956, in: acDP, I-083, a 62. 49  Ebd. 50  Vgl. etwa WoLfgaNg stoLPeR: the Structure of the East German Economy, cambridge  1960; vgl. auch BuRghaRd ciseLa: hinter den Zahlen. Zur Wirtschaftsstatistik und Wirtschaftsberichterstattung in der DDR, in: aLf LüdtKe / PeteR BecKeR (hg.): akten. Ein-

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Fehlwahrnehmung  hatte  weitreichende  Folgen:  Sowohl  die  Wachstumsforschung als auch die Wachstumspolitik erhielt durch den Systemwettbewerb  des Kalten Krieges starke Impulse. Die Bestimmung von Wach stumsprozessen  in Ost und West, aber auch die Suche nach neuen ansätzen für eine marktwirtschaftliche Wachstumspolitik war hierbei ausschlaggebend. Vor allem in den  sechziger  Jahren,  als  die  Konvergenztheorie  in  den  Sozial-  und  Wirtschaftswissen schaften  an  Einfluss  gewann,  wurde  die  systemvergleichende Forschung in der Bundesrepublik stark ausgebaut. Damit einher ging  eine  semantische  neubestimmung  und  Ent ideologisierung  des  Planungsbegriffes,  der  seine  negativen  Konnotationen  fast  voll ständig  verlor.51  Wenn  nach den hintergründen und Motiven für die Durchsetzung wirtschafts- und  finanz politischer Planungskonzepte in der Bundesrepublik gefragt wird, muss  diese Veränderung des politisch-kulturellen Umfeldes berücksichtigt werden.  Der heute kaum noch nachzuvollziehende Planungsoptimismus speiste sich  nicht allein aus den zunehmend komplexer werdenden Betätigungen der Wirtschafts- und Gesell schaftspolitik, sondern war auch das Resultat eines sich in  verschiedenen Feldern diskursiv anbahnenden Politikwandels.52 Genau dies  war allerdings auch der Grund dafür, weshalb die im öffentlichen Sektor sukzessive eingeführten Planungstechniken – von der antizyklischen Fiskalpolitik über die mittelfristige Finanzplanung und die nutzen-Kosten-analyse bis  hin zum Programmbudget – mit außerordentlich großen Erwartungen behaftet  waren, die sich in der Praxis nur schwer erfüllen ließen.  5. Das Ende des keynesianischen Experiments Zwar stellte das als Jahrhundertwerk gefeierte Wachstums- und Stabilitätsgesetz von 1967 ein ungewöhnlich breites Instrumentarium an wirtschafts- und  finanzpoliti schen Interventionsmöglichkeiten bereit, das auch international zu  diesem  Zeitpunkt  ohne  Vorbild  war.53  Die  lange  Zeit  als  planungsresistent  geltende Bundesrepublik hatte sich damit gleichsam an die Spitze derjenigen  länder gestellt, welche die keynesianische Globalsteuerung institutionell und  gaben. Schaufenster. Die DDR und ihre texte. Erkundungen zu herrschaft und alltag,  Berlin 1997, S. 38–55.  51  michaeL RucK: Westdeutsche  Planungsdiskurse  und  Planungspraxis  der  1960er  Jahre  im internationalen Kontext, in: heiNz-geRhaRd hauPt / jöRg Requate (hg.): aufbruch  in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel.  DDR,  ČSSR  und  Bundesrepublik  Deutschland  im  internationalen Vergleich, Weilerswist 2004, S. 289–325.  52  gaBRieLe metzLeR: Konzeptionen politischen handelns von adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005. 53  aLex möLLeR / chRistoPh BöcKeNföRde:  Gesetz  zur  Förderung  der  Stabilität  und  des  Wachstums der Wirtschaft und art. 109 Grundgesetz. Kommentar unter besonderer Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte, hannover 1968. 

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rechtlich zur Grundlage ihrer Wirt schaftspolitik machten.54 Dies geschah freilich zu einem Zeitpunkt, als der Keynesia nismus in vielen westlichen Industriestaaten und namentlich in den USa seinen Ze nit bereits überschritten hatte.  In  wissenschaftlichen  Kreisen  diskutierte  man  dort  längst  über  neue,  vom  Monetarismus und den „supply-side economics“ beeinflusste Konzepte, die  an  den  Möglichkeiten  diskretionärer  nachfragesteuerung  zweifelten  und  stattdessen eine regelgebundene Wirtschaftspolitik favorisierten. In der Bundesrepublik wurden die chancen staatlicher Konjunktur- und Wachstumsbeeinflussung zunächst noch sehr viel optimistischer bewertet, schien doch die  rasche Überwindung der Rezession von 1966/67 zu beweisen, dass eine Verstetigung des krisenfreien nachkriegswachstums möglich war, sofern man die  Stellschrauben  der  Makroökonomik  an  den  richtigen  Punkten  ansetzte  und  von Zeit zu Zeit neu ju stierte. Diese in den Jahren der Großen Koalition von  einer breiten Mehrheit der Wirtschaftspolitiker und der Ökonomen getragene  Zuversicht wich jedoch späte stens Ende der sechziger Jahre einer wachsenden  Skepsis.55  Mehrere Faktoren spiel ten hierbei zusammen. Erstens erwiesen sich die  wissenschaftlichen  Prognosesysteme  als  notorisch  unzuverlässig.  Dies  galt  nicht  nur  für  die  Jahresprognosen,  die  Sach verständigenrat,  Wirtschaftsforschungsinstitute und ein eigens eingerichteter Inter ministerieller arbeitskreis  unabhängig voneinander erstellten, sondern auch für die mittelfristigen Projektionen mit einem Zeithorizont von fünf Jahren, die der Finanzplanung zugrundegelegt  wurden.  nichts  diskreditierte  die  projektive  Wirtschafts-  und  Finanzpolitik mehr als die eklatanten Prognosefehler, die trotz ständiger Verfeinerung der Methoden mit großer Regel mäßigkeit auftraten.  Zweitens stieß die 1967 von Schiller und Strauß eingerichtete „Konzertierte aktion“, mit der die Wirtschaftsverbände in den politischen Entscheidungsprozess  eingebunden  werden  sollten,  schon  nach  kurzer  Zeit  an  ihre  Grenzen.56 Ihre hauptfunktion, die Einkommensentwicklung an die wachstums- und konjunkturpolitischen Ziele anzupas sen, ließ sich aufgrund zunehmender Spannungen zwischen Gewerkschaften und ar beitgebern immer weniger  realisieren.  Die  ständige  Erweiterung  des  teilnehmer krei ses  und  die  Erschließung  neuer  Kompetenzfelder  durch  das  Gremium  konnten  die sen  Grundkonflikt jeweils nur für kurze Zeit überdecken. Vor allem die Gewerkschaften  gerieten  Ende  der  sechziger  Jahre  gegenüber  der  eigenen  Basis  in  54  egoN tuchtfeLdt:  Social  Market  Economy  and  Demand  Management:  two  Experiments in Social Policy, in: German Economic Review 12 (1974), S. 111–133; RüdigeR zucK: Wirtschaftsverfassung und Stabilitätsgesetz, München 1975. 55  Vgl. tim schaNetzKy: Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966–1982, Berlin 2007. 56  tim schaNetzKy: Sachverständiger Rat und Konzertierte aktion: Staat, Gesellschaft und  wissenschaftliche Expertise in der bundesrepublikanischen Wirtschaftspolitik, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 3 (2004), S. 310–331.

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eine legitimationskrise, da ihre Spitzen auf der Grundlage viel zu pessimistischer Projektionen durch Sach verständigenrat und Konjunkturinstitute niedrigen tarifabschlüssen zugestimmt hatten. Von der anfänglichen harmonie, die  1967 unter dem Eindruck der Rezession in dem Gremium vorgeherrscht hatte,  war drei Jahre später nicht mehr viel zu spü ren.  Drittens endete 1969 mit der Großen Koalition auch die Möglichkeit, das  aus gabenverhalten von Bund, ländern und Gemeinden in Einklang zu bringen.  Die  Probleme  der  föderalen  Finanzverfassung  waren  durch  die  Große  Koalition nur vorübergehend ausgesetzt, nicht jedoch wirklich beseitigt worden.  nun  zerbrach  zudem  der  parteiübergreifende  Modernisierungskonsens  der sechziger Jahre, zumal die sozialliberale Koalition jetzt sehr viel stärker  gesellschaftspolitische Reformvorhaben in das Zentrum ihrer Regierungsarbeit stellte, während die Wirt schafts- und Finanzpolitik ins zweite Glied trat  und den Fachpolitikern überlas sen wurde. Für eine Belebung der Konjunktur  blieb ohnehin kaum noch Spielraum, zumal der Bund und die meisten länder  seit den frühen siebziger Jahren mit wachsenden haushaltsdefiziten zu kämpfen hatten.57 Vor allem das bürgerliche lager rückte nun rasch wieder von den  keynesianischen Ideen ab, denen es sich in den sechziger Jahren, dem Zeittrend  folgend  und  einer  latenten  Krisenstimmung  erliegend,  angeschlossen  hatte,  ohne  allerdings  den  Fortschrittsoptimismus  der  Sozialdemokraten  zu  teilen. Umso leichter fiel es den christlichen Volksparteien, nun aus der Opposition heraus die offensichtlichen Schwächen der keynesianischen Makropolitik anzuprangern und  gegen den vermeintlich zum leviathan wuchernden  Staat anzukämpfen.  Viertens erwiesen sich die Instrumente der expansiven nachfragepolitik  angesichts steigender Inflationsraten als unwirksam, ja sogar kontraproduktiv.  Der lange Zeit unterstellte trade-off zwischen Vollbeschäftigung und Inflation, der durch die berühmte Phillips-Kurve dargestellt wurde und der gleichsam  als  Grundprinzip  keynesianischer  Wirtschaftspolitik  gegolten  hatte,  funktionierte nicht mehr.58 Vielmehr war die bundesdeutsche Volkswirtschaft  nun mit dem Phänomen der Stagflation, das heißt rückläufigen Wachstums-  und  Beschäftigungszahlen  bei  gleichzeitig  steigenden  Preisen,  konfrontiert.  auf die Ursachen der Stagflation in den siebziger Jahren kann hier nicht näher  eingegangen  werden.  Ob  es  sich  hierbei  um  eine  langfristige Verschlechterung der angebotsbedingungen oder die kurzfristigen auswirkungen des Ölpreisschocks  handelte,  ist  in  der  Forschung  umstritten.59  Entscheidend  ist,  57  heRBeRt gieRsch / KaRL-heiNz Paqué / hoLgeR schmiediNg: the Fading Miracle: Four  Decades of Market Economy in Germany, cambridge/new York 1992, S. 185ff.  58  Vgl. michaeL BRuNo / jeffRey sachs: Economics and Wordwide Stagflation, cambridge  (Mass.) 1985; LeoN N. LiNdBeRg / chaRLes s. maieR (hg.): the Politics of Inflation and  Economic Stagnation, Washington D. c. 1985. 59  h. gieRsch u. a., Miracle (wie anm. 57).

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dass der keynesianische Politikansatz genau in jenem augenblick versagte, in  dem er seine erste Bewährungsprobe zu bestehen gehabt hätte.60  Fünftens kam es in dieser Phase zu grundlegenden Divergenzen zwischen  Bundesregierung  und  Bundesbank.  letztere  leitete  unter  dem  Eindruck  expansiver ausgabenprogramme  und  dramatisch  zunehmender  Rohstoffpreise  – die Kosten für Rohöl stiegen Ende 1973 um das Zwölffache an – einen restriktiven geldpolitischen Kurs ein. Generell rückte die Bundesbank nun vom  Keynesianismus ab und verfolgte einen monetaristischen ansatz – ein Paradigmenwechsel, der auch vom Sachverständigenrat und anderen politikberatenden Gremien vollzogen wurde.61 Für die Geldpolitik hieß dies, dass das  mittelfristige Wachstum der Volkswirtschaft zur entscheidenden Bezugsgröße  wurde. auf  eine  direkte  Steuerung  von  Inflation  und  Konjunktur  durch  die  notenbank wurde fortan weitgehend verzichtet.62 Sechstens  fiel  mit  dem  Ende  des  Bretton-Woods-Systems  anfang  der  siebziger Jahre ein wichtiges externes Element der keynesianischen architektur weg.63 Zwar hielt die Bundesregierung in der Ära Schmidt an den Methoden keynesianischer Krisenbekämpfung fest und konnte damit vorübergehend  eine gewisse konjunkturelle Stabilisierung erreichen. So war die Bundesrepublik  neben  Japan  das  Industrieland,  das  die  Folgen  des  Ölpreisschocks  am  besten  verkraftete.  Im  Übrigen  verpufften  viele  Programme  jedoch  ohne  große Wirkung, weil sie entweder zu spät begonnen wurden, ihr fiskalischer  Impuls zu gering war oder ihr die entsprechende Flankierung durch die Geldpolitik  fehlte.64  In  der  tat  zeigte  sich,  dass  der  „Keynesianismus  in  einem  lande“  angesichts  wachsender  weltwirtschaftlicher  Verflechtungen  seine  Wirkung zunehmend verfehlte. Eine strukturell so offene Volkswirtschaft wie  die  der  Bundesrepublik  konnte  mit  nationalen  alleingängen  wenig  bewirken.65  Von  einer  Stimulierung  der  gesamtwirtschaftlichen  nachfrage  profi60  RoBeRt j. a. sKideLsKy (hg.): the End of the Keynesian Era: Essays on the Disintegration of the Keynesian Political Economy, new York 1977. 61  Vgl.  sachVeRstäNdigeNRat zuR BegutachtuNg deR gesamtWiRtschaftLicheN eNtWicKLuNg: Gleicher Rang für den Geldwert. Jahresgutachten 1972/73, Stuttgart/Mainz 1972.  S. 131; WisseNschaftLicheR BeiRat Beim BuNdesmiNisteRium füR WiRtschaft: Gutachten  vom März 1973 bis november 1977, Göttingen 1978, S. 633f.  62  Vgl.  jüRgeN VoN hageN:  „Geldpolitik  auf  neuen  Wegen“,  in:  deutsche BuNdesBaNK (hg.):  Fünfzig  Jahre  Deutsche  Mark.  notenbank  und  Währung  in  Deutschland  seit  1948, München 1998, S. 438–473, hier S. 459ff.; aLexaNdeR NützeNadeL: Stunde der  Ökonomen.  Wissenschaft,  Politik  und  Expertenkultur  in  der  Bundesrepublik  1949– 1974, Göttingen 2005, S. 349–350. 63  Vgl. PeteR gaRBeR: the collapse of the Bretton Woods Fixed Exchange Rate System,  in:  michaeL d. BoRdo / BaRRy eicheNgReeN  (hg.):  a  Retrospective  on  the  Bretton  Woods System, chicago 1993, S. 461–495. 64  WeRNeR aBeLshauseR:  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte  seit  1945,  München  2004,  S.  420–423. 65  Vgl. gieRsch u. a., Miracle (wie anm. 56), S. 150ff; zum internationalen Kontext vgl. 

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tierten nicht nur die heimischen Produzenten, sondern auch die ausländischen  anbieter. aus dieser Erkenntnis heraus versuchten die westlichen Industriestaaten, durch internationale Kooperation die weltwirtschaftlichen Probleme  in den Griff zu bekommen.66 So empfahl die OEcD 1975 eine enge internationale  abstimmung  konjunktur-  und  geldpolitischer  Maßnahmen,  die  nicht  nur  deren  Wirksamkeit  erhöhen,  sondern  auch  den  unterschiedlichen  wirtschaftspolitischen Möglichkeiten der einzelnen länder Rechnung tragen sollte.67 Diese ansätze hatten aber nur begrenzten Erfolg, weil sie nicht nur eine  erhebliche  internationale  Koordinationsleistung  erforderlich  machten,  sondern auch die einzelnen länder unterschiedlich belasteten. So hatte die Bundesrepublik  wenig  Interesse,  als  weltwirtschaftliche  „lokomotive“  andere  Volkswirtschaften in Schwung zu bringen, weil dies die eigenen finanzpolitischen Probleme noch zusätzlich verschärft hätte. Ohnehin erschien eine solche Strategie angesichts der nun einsetzenden Globalisierung wenig erfolgversprechend. nicht nur in Deutschland, sondern auch international gehörte  der Keynesianismus zum wirtschaftlichen theorie- und Politikarsenal einer  längst vergangenen Zeit.  

PeteR gouReVitch:  Politics  in  hard  times.  comparative  Responses  to  International  Economic crises, Ithaca/london 1986, S. 181ff. 66  RoBeRt o. KeohaNe / josePh s. Nye jR.: Power and Interdependence. World Politics in  transition,  Boston  1977;  RoBeRt o. KeohaNe:  Beyond  hegemony.  cooperation  and  Discord in the World Political Economy, Princeton 1984.  67  Vgl. oecd: Economic Outlook, Dezember 1975, S. 9; vgl. auch RichaRd N. cooPeR:  turbulance and Interdependence in the World Economy, in: RoBeRt c. BLattBeRg (hg.):  the Economy in transition, new York 1978, S. 29–49; chaRLes P. KiNdLeBeRgeR: Dominance and leadership in the International Economy. Exploitation, Public Goods, and  Free Rides, in: ceNtRe NatioNaLe de La RecheRche scieNtifique: hommage à François  Perroux, Bd. 1, Grenoble 1978, S. 283–291.

„nEOlIBERalISMUS“ alS WIRtSchaFtSPOlItISchES   ORDnUnGSMODEll? DIE BUnDESREPUBlIK DEUtSchlanD   In DEn 1980ER JahREn Andreas Wirsching Zeithistorisch  betrachtet  stellt  die  Epoche  des  „neoliberalismus“  seit  den  1980er  Jahren  noch  ein  unscharfes,  analytisch  wenig  konturiertes  Feld  dar.  Zwar gibt es eine art narrativ, das sich in die Erzählung vom Ende der Wachstumseuphorie einfügt. Der „kurze Sommer der konkreten Utopie“ entwickelte  sich aus dem „kurzen traum immerwährender Prosperität“ (Burkart lutz).1  Mit  dem  Ende  des  aufschwungs,  gekennzeichnet  von  Ölpreis-  und  Wirtschaftskrise,  verlöschten  der  Optimismus  und  die  Orientierung  an  der  Planung. Der Planungskonjunktur und der hochphase des Keynesianismus folgten der „Schock des Globalen“ und die Periode „nach dem Boom“.2 In diesem  narrativ,  wie  es  etwa  in  der  kürzlich erschienenen Geschichte  Europas  seit  1980 des amerikanischen historikers Ivan Berend nachzulesen ist,3 dient der  neoliberalismus als wirksamer ideologischer Kitt für Marktradikalismus und  Entstaatlichung, Rückzug der Politik gegenüber der Wirtschaft und die zielgerichtete Steigerung der Profitraten. Intellektuelle Kronzeugen sind wie immer  Friedrich august von hayek, Milton Friedman und die chicago School. Politische Erfüllungsgehilfen sind Margaret thatcher und Ronald Reagan. nun herrscht kein Zweifel daran, dass in einigen Kernbereichen seit den  1980er Jahren tatsächlich eine durchgreifende liberalisierung politisch intendiert und faktisch durchgeführt worden ist. Das gilt zum einen für den internationalen  handelsverkehr,  ohne  dessen  fundamentale  liberalisierung  seit  den 1980er Jahren die Globalisierung auch nicht vorstellbar wäre. Und das  gilt zum anderen für die Finanzmärkte. hier besteht, wie neuere Studien eindrücklich belegen, ein essentieller Zusammenhang mit den liberalisierungen  in den USa und in Großbritannien während der 1980er Jahre, der extremen  Beschleunigung  und  Differenzierung  der  Finanztransaktionen  weltweit  und  schließlich auch des crashs der new Economy im Jahre 2000 und der Ban1  2  3 

michaeL RucK: Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie. Zur westdeutschen Planungsgeschichte der langen 60er Jahre, in: axeL schiLdt (hg.): Dynamische Zeiten: Die 60er  Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, hamburg, 2000, S. 362–401, hier S. 398. NiaLL feRgusoN u. a. (hg.): the Shock of the Global. the 1970s in Perspective, cambridge 2010; aNseLm doeRiNg-maNteuffeL / Lutz RaPhaeL: nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen ²2008. iVaN t. BeReNd: Europe since 1980, cambridge 2010.

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kenkrise Ende 2008.4 Berühmt wurde der „Big Bang Day“ der londoner city  am 27. Oktober 1986, eine Frucht der thatcher’schen Reformpolitik. Er veränderte auf einen Schlag die Geschäfte der londoner Börse. Dies war der tag,  an dem die händler aufhörten, morgens relativ gemütlich die Börse zu betreten und sodann ihre Geschäfte per Zuruf tätigten. Die Umstellung auf computerbasierten handel und seine gleichzeitige liberalisierung setzten in Europa  neue Standards und trugen maßgeblich zur Stärkung des Finanzplatzes london bei.5 aber wie nachhaltig und wie spezifisch diese Prozesse in Europa, in den  einzelnen ländern und last but not least in der Bundesrepublik gewesen sind,  bleibt schwer einzuschätzen. haben wir es mit einem mehr oder minder abrupten Wandel, ja geradezu einer ideologiegeleiteten, säkularen abkehr vom  Keynesianismus,  zu  tun?  Wird  der  neoliberalismus  ein  umfassendes  wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell für die Zeit nach dem Boom? Oder handelt es sich eher um eine gleichsam inkrementelle hinwendung zu neuen Rezepten im Zeichen des Krisenmanagements? antworten auf diese Fragen sind nicht einfach zu geben und tendieren zur  Widersprüchlichkeit,  zumal  der  Begriff  des  „neoliberalismus“  zum  politischen  Schlagwort  geworden  ist.6  Schon  ein  grober  deutsch-britischer  Vergleich  anhand  des  kritischen  Parameters  der  „Staatsquote“  offenbart  mehr  Unklarheiten als eindeutige Erkenntnisse.  Zwar  spiegelt  hier  die  britische  Entwicklung  die  Wirkung  der  thatcherʼschen Politik seit Mitte der 1980er Jahre deutlich wider,7 und dies  auch und gerade im Unterschied zur Bundesrepublik. Richtet man aber den  Blick auf die längere Zahlenreihe bis 2008, so scheint die Wirkung gar nicht  besonders  nachhaltig  zu  sein.  höchstens  ließe  sich  argumentieren,  dass  die  Bundesrepublik in den 2000er Jahren das nachholte, was Großbritannien in  den 1980er Jahren vorgemacht hatte. Wenn also Ziel und Weg einer „neoliberalen“ Reformpolitik eine Senkung der Staatsquote ist, dann haben sich auf  dieser Basis die deutschen und britischen Verhältnisse in der jüngsten Vergangenheit überraschend stark angeglichen. Umgekehrt würde eine solche these die Entwicklung in der Bundesrepublik  der  1980er  Jahre  definitiv  in  ein  wirtschafts-  und  strukturpolitisches  4  5  6  7 

Vgl. bes. éLie coheN : Penser la crise. Défaillances de la théorie, du marché, de la régulation, Paris 2010, S. 150ff. cohens Studie gehört zu den besten analysen der Finanzkrise. geoRge gRaham:  It  was  ‚absolute  hell  with  a  wooden  floor‘,  in:  Financial  times  25.10.1996. als Beispiel fundiert kritischer Beiträge siehe chRistoPh ButteRWegge u. a. (hg.): neoliberalismus. analysen und alternativen, Wiesbaden 2008. Zu antriebskräften und Ergebnissen des thatcherismus vgl. domiNiK gePPeRt: abschied  vom keynesianischen Konsens. Der Einsturz der britischen nachkriegsordnung und die  Etablierung  des thatcherismus,  in:  Journal  of  Modern  European  history  9  (2011),  S.  170–190.

„neoliberalismus“ als wirtschaftspolitisches Ordnungsmodell?  

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Zwielicht stellen. Ist hier überhaupt eine „neoliberale“ Politik erkennbar, und  wenn ja, in welchem Umfang? Man muss deutlich unterscheiden zwischen einem rhetorisch aufgeladenen Zeitgeist, der die neoliberale Sprache im Munde führte, und der tatsächlichen Wirtschaftspolitik. Unbestreitbar ist, dass sich gegen Ende der 1980er  eine  politische  Sprache  zu  etablieren  begann,  die  die  neoliberalen  Schlagworte in die Breite transportierte. Mit dem Siegeszug der neuen technologien  waren es vor allem die Unternehmensberater, die sich, angetrieben durch anglo-amerikanische Vorbilder,  als  neue  sozio-kulturelle  Elite  verstanden  und  diese politische Sprache des neoliberalismus verbreiteten.8 Politisch dagegen  ist die Bilanz sehr viel weniger eindeutig. Die Frage eines möglichen „englischen“ Vorbildes  gehörte  zu  den  vergleichsweise  wenigen  innenpoli ti schen  the men, zu denen helmut Kohl grundsätzlich Stellung bezog. als 1988 ein  Fraktionsmitglied die „vorbild liche“ Steuergesetzgebung und Industrieförderung in Großbritannien hervorhob, antwortete Kohl:  „Ich glaube nicht an Ihre Philosophie. (…) Ich bin kein anhänger der Marktwirtschaft,  sondern der Sozialen Marktwirtschaft! Ich glaube nicht an jenes Stück Vorstellung von  liberalismus – ich will jetzt nicht das Wort Manchester-liberalismus sagen –, daß der  Reichtum einer ganzen Gruppe automatisch übergreift und immer weiter übergreift, und  dadurch die Schwachen hochzieht. (…) Wir sollten wirklich damit aufhören, ausgerechnet die Briten als unser Beispiel hinzustellen.“9 8  9 

Vgl. hierzu aNdReas WiRschiNg: abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, München 2006, S. 437ff. Fraktionssitzung  vom  5.9.1988, acDP  08–001–1086/2,  S.  108–110  (gegen  die  Intervention von Wilhelm Jung, ebd., S. 105). 

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Wenn  man  die  verfügbaren  Zahlen  analysiert,  dann  findet  man  eine  ganze  Reihe von argumenten, die diese Marschrichtung Kohls untermauern. Sie offenbaren aber auch die ganze ambivalenz und im Kern widersprüchliche Signatur der 1980er Jahre. an zwei Schritten sei dies demonstriert. Erstens sollen einige Konsolidierungsdaten der 1980er Jahre betrachtet werden, an denen sich makroökonomisch eine neoliberale Politik ablesen lassen müsste (I);  daran schließt sich zweitens meine these an, dass es sich faktisch nicht um  eine strukturelle Konsolidierung handelte, sondern ganz überwiegend um eine  scheinbare, konjunkturell bedingte Konsolidierung (II.). In einem dritten Gedankengang sollen dann noch einmal diese Befunde bewertet werden (III). I. Ein kurzer Überblick über die Konsolidierungsdaten konzentriert sich auf drei  Parameter,  nämlich  auf  die  Entwicklung  der  Nettokreditaufnahme,  also  der  neuverschuldung, auf die Sozialleistungsquote und die Staatsquote:

Quelle: göttRiK WeWeR (hg.): Bilanz der Ära Kohl, Opladen 1998, S. 343 u. 347f. 

nach dem Regierungswechsel von 1982/83 ließ die christlich-liberale Koalition keinen Zweifel daran, dass die Sanierung des Etats und der abbau der  neuverschuldung  absolute  Priorität  besaßen.  Ferner  sollten  die  Sozialleistungs-  und  die  Staatsquote  soweit  abgesenkt  werden,  dass  auch  die  Steuer-  und abgabenquote sinken und die bundesdeutsche Wirtschaftskraft im Sinne 

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einer angebotsorientierten Politik dynamisiert werden konnte. alles dies waren  1982/83  entscheidende  Schlagworte  der  ausgerufenen  politischen  „Wende“.  Die  Grafik  scheint  nun  darauf  hinzuweisen,  dass  die  Bundesregierung  ihre Ziele bis zum Ende des Jahrzehnts im Wesentlichen erreichte: Die Sozialleistungsquote wie auch die Staatsquote wurden deutlich verringert; im hinblick auf die neuverschuldung gibt zwar der ausreißer des Jahres 1988 bereits  einigen  anlass  zum  Zweifeln.  Die  erneut  hohe  neuverschuldung  des  Jahres 1990 lässt sich aber natürlich mit den Sondereffekten der Deutschen  Einheit erklären.  Insgesamt  jedenfalls schien  sich  die  Struktur  des  Bundeshaushalts deutlich verbessert zu haben.  hierauf gründete die Ende der 1980er Jahre unverkennbar dominierende  Selbstzufriedenheit in der christlich-liberalen Koalition. Man wiegte sich in  Bonn in der Sicherheit, dass nicht weniger als drei „Jahrhundertreformen“ auf  den Weg gebracht worden waren. tatsächlich konnte es so scheinen, als ob die  Steuerreform 1986/88, die Gesundheitsreform 1988 und Rentenreform 1989  gemeinsam das bundesdeutsche Wirtschafts- und Sozialsystem grundlegend  regeneriert und seine leistungskraft entscheidend gesteigert hätten.10 Zumindest unter den Politikern der Regierungskoalition hatte sich bis Ende 1989 der  Eindruck eingestellt, man habe seine politischen hausaufgaben gemacht. Und  unbestreitbar verfügte die Bundesrepublik über eine Vielzahl leistungsfähiger  Sektoren und war daher auch dynamisch genug, die herausforderungen der  Deutschen Einheit kurzfristig zu bewältigen. II. allerdings müssen diese Grobdaten, die die Regierung Kohl/Genscher immer  wieder mit Stolz vortrug, hinterfragt werden. Dies führt zum zweiten Punkt  und zu der these, dass es sich bei diesen Zahlen weniger um eine strukturelle  Konsolidierung handelte als um eine konjunkturelle und damit lediglich vorübergehende Verbesserung. Das wird zunächst sehr deutlich, wenn man die oben abgebildeten Daten  mit einigen anderen Entwicklungen korreliert. hierzu gehören insbesondere  die Zinsausgaben des Staates, die Entwicklung der Gesamtverschuldung und  der Verschuldungsanteil des Bundes am Bruttoinlandsprodukt.

10  ausführlicher hierzu a. WiRschiNg, abschied (wie anm. 8), S. 277ff. u. 349ff.

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Quelle: g. WeWeR (hg.), Bilanz, S. 343f.

Die  Grafik  offenbart  wie  stark  die  entscheidenden  haushaltsparameter  wie  Gesamtverschuldung und Zinsausgaben nach 1982 weiter gestiegen sind. alleine die neuverschuldung konnte als abhängige Variable von der Konjunkturentwicklung vor allem im konjunkturellen hoch des Jahres 1989 – noch  vor den Belastungen durch die Einheit – einmalig deutlich reduziert werden. Ein  ähnliches  Bild  ergibt  sich,  wenn  man  den  Verschuldungsanteil  am  Bruttoinlandsprodukt ansieht und mit den Wachstumsraten korreliert.

Quelle: g. WeWeR (hg.), Bilanz, S. 343.

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Für  eine  strukturelle  Konsolidierung  würde  man  hier  einen  sinkenden  Verschuldungsanteil erwarten – was aber nur in der konjunkturell besten Phase  von 1990 bis 1992 gelungen ist. ansonsten ist der Verschuldungsanteil kontinuierlich gewachsen bis auf 24,9 Prozent im Jahre 1997. Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten oben genannten Parameter, der  Sozialleistungsquote.

Quelle: g. WeWeR (hg.), Bilanz, S. 348 u. 353.

Zwar sank die Sozialleistungsquote leicht ab, aber die absoluten ausgabenentwicklungen ergeben ein gänzlich anderes Bild. Die Sozialausgaben insgesamt stiegen ebenso regelmäßig wie die Beitragssätze zu den Sozialversicherungen im allgemeinen. Das heißt aber nichts anderes als: auch die Sozialleistungsquote blieb eine abhängige Variable der konjunkturellen Daten. als letzten Wert sollte man die Entwicklung der Staatsquote hinterfragen  und zumindest mit der Steuer- und abgabenquote vergleichen.

Quelle: g. WeWeR (hg.), Bilanz, S. 353.

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Wie die Grafik zeigt, ist die Steuer- und abgabenquote während der gesamten  1980er Jahre nicht nachhaltig gesenkt worden, sondern blieb vielmehr weitgehend  stationär.  Resümierend  ist  daher  festzuhalten: alle ausgabenposten  des  Staates  stiegen  während  der  gesamten  Dekade  linear  an. allein  in  den  Jahren exzeptionell guter Konjunktur – 1988 bis 1990 – mit einer Steigerung  des BIP von 3,6 bis 5,7 Prozent konnte es für einen augenblick so aussehen,  als ob ein nachhaltiger Konsolidierungserfolg erzielt worden wäre. Faktisch  aber war die gute konjunkturelle Entwicklung seit Mitte der achtziger Jahre  kaum zur strukturellen Rückführung der Staatsausgaben genutzt worden. Vielmehr war das Gegenteil der Fall. Denn zu der ohnehin bereits hohen  Interventionslast des Staates traten neue ausgaben und ansprüche hinzu. Sie  gingen  weit  über  die  damals  bereits  unter  Druck  stehenden  Sozialversicherungssysteme  hinaus.  hierzu  gehört  insbesondere  die  Familienpolitik  der  christlich-liberalen  Koalition  mit  ihrem  Kernstück  dem  Bundeserziehungsgeldgesetz und der erstmaligen anrechnung von Kindererziehungszeiten im  Rentensystem.11 Des Weiteren erfolgte der Einstieg in den ausbau der Pflegeversicherung  zur vierten Säule der Gesetzlichen Sozialversicherung. Bereits die Gesundheitsreform von 1988 formulierte innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherungen einen anspruch auf Sach- und Personalleistungen für die häusliche  Pflege und stellte hierfür sieben Milliarden Mark jährlich bereit. Das bedeutete  zum  einen,  dass  mehr  als  die  hälfte  des  durch  die  Reform  generierten  Einsparvolumens  gleich  wieder  ausgegeben  wurde;  zum  anderen,  dass  das  Gesetz für die Zukunft neue ansprüche etablierte. all diese ausgaben blieben im Grunde rein konsumtive Sozialausgaben  und setzten aus sich selbst heraus keine Investitionen frei. Sie haben überdies  ihre Ziele klar verfehlt. Die Familienpolitik der Regierung Kohl, die ja den  demographischen  Rückgang  zumindest  abbremsen  wollte,  ist  schlicht  gescheitert; die Rentenkasse ist mit versicherungsfremden leistungen befrachtet worden; und die Pflegeversicherung ist in der tat zu dem „Kostentreibsatz“ geworden, den niemand anders als horst Seehofer bereits 1988 befürchtete.12 Weitere kontinuierliche ausgabensteigerungen ergaben sich aus den Subventionen  des  Bundes,  das  heißt  aus  direkten  Finanzhilfen  und  Steuervergünstigungen.

11  Vgl.  ebd.,  S.  340ff.;  uRsuLa müNch:  Gebremste  Innovationen  und  demographische  Zwänge – Familien- und Frauenpolitik auf der Suche nach der Balance von Familien-  und Erwerbsarbeit, in: güNteR BuchstaB u. a. (hg.): Die Ära Kohl im Gespräch. Eine  Zwischenbilanz, Köln u. a. 2010, S. 205–236. 12  Fraktionssitzung vom 26.9.1988, in: acDP 08–001–1086/3, S. 48f.

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Summe der Finanzhilfen und Steuervergünstigungen und ihr anteil am BIP 1970–1990 Summe der Finanzhilfen und  Steuervergünstigungen 1970 1975 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990

In Mill. DM 14.272 20.642 25.524 25.908 24.199 25.984 28.680 29.089 30.025 30.260,9 31.302,5 31.988 32.294

1982 = 100 61 85 106 107 100 107 119 120 124 125 129 132 134

anteil der Finanzhilfen  und Steuervergünstigungen am BIP In v. h. 2,11 2,01 1,73 1,69 1,52 1,56 1,64 1,60 1,56 1,52 1,44 1,44 1,33

1982 = 100 139 132 114 111 100 103 108 105 103 100 95 95 88

Quelle: Subventionsberichte der Bundesregierung und eigene Berechnungen.

Die beiden linken Spalten zeigen die absoluten Steigerungen. nachdem die  Regierung  Schmidt/Genscher anfang  der  achtziger  Jahre  die  Subventionen  deutlich  begrenzt  hatte,  erfolgte  bis  1990  eine  erneute  Expansion  von  rund  einem Drittel. Erneut darf man sich also durch die beiden rechten Spalten, die  einen Rückgang suggerieren, nicht irreführen lassen: Es handelt sich aufgrund  der guten Konjunktur um eine optische täuschung. Wie in der Vergangenheit  auch wurden Subventionen aus gestiegenen staatlichen Verteilungsspielräumen  bestritten;  zugleich  freilich  zementierte  ihr  nominaler  anstieg  bestehende Strukturen und ansprüche.  Es ist also problematisch, wenn man allzu schlagwortartig davon spricht,  Ende  der  siebziger  Jahre  hätten  die  westlichen  Industriestaaten  –  und  eben  auch  die  Bundesrepublik  Deutschland  –  eine  grundlegende  Wende  vom  Keynesianismus zum „neoliberalismus“ vollzogen. Zwar fiel der Keynesianismus als Instrument einer dynamischen Wirtschaftspolitik aus Gründen der  Finanzierbarkeit aus. aber zumindest im Falle der Bundesrepublik ist es legitim, von einer art strukturellem oder systemischem Keynesianismus zu sprechen, der seit den 1970er Jahren in die westdeutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik  eingebaut  war  und  auch  im Verlauf  der  1980er  Jahre  nicht  beseitigt 

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wurde. Das quasi institutionalisierte Deficit Spending und die kontinuierliche  ankurbelung  der  Binnennachfrage  durch  staatliche  transferleistungen  verbieten es zugleich, von einem konsequenten neoliberalismus zu sprechen. III. Dies führt zum Schluss zum Versuch einer kurzen Bewertung, die unter drei  aspekten erfolgen kann. Erstens rückt natürlich der wirtschaftliche Strukturwandel in den Vordergrund: Die 1970er und 1980er Jahre bildeten eine Phase des beschleunigten  Übergangs von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. In ihrem Verlauf  verlor  die  deutsche  Wirtschaft  mehr  als  2,5  Millionen  industrielle arbeitsplätze, was jede Regierung vor erhebliche Probleme gestellt hätte.13 tatsächlich  stellte  sich  ja  vielen  Betroffenen  ihre  Situation  verzweifelt  dar. Über die ganzen 1980er Jahre hinweg begleiteten immer wieder massive  Proteste gegen die Stilllegung von Betrieben in den „ewigen“ Krisenbranchen  wie  Stahl,  Kohle  und  Schiffbau,  aber  auch  in  der  landwirtschaft  die Wirtschafts-  und  Sozialpolitik  der  Bundesregierung.  Brennpunkte  bestanden  im  Saarland, wo es Ende 1982 zu Betriebsbesetzungen kam, und im Ruhrgebiet,  das Ende 1987 infolge des Massenprotests gegen die Stilllegung von Duisburg-Rheinhausen geradezu „brannte“.  In der Praxis also stieß die programmatisch eher formelhaft auf Modernisierung,  liberalisierung  und  Strukturwandel  festgelegte  Wirtschaftspolitik  der Regierung Kohl/Genscher auf verhältnismäßig enge Grenzen. Jedenfalls  verknüpfte sie den geförderten und politisch ja gewollten Strukturwandel regelmäßig mit begrenzten Erhaltungssubventionen in den Krisenbranchen. In  den besonders betroffenen Regionen sollte ein behutsamer Umbau den unvermeidlichen  Wandel  sozialverträglich  gestalten.  Mit  dieser  leitlinie  unterschied sich die christlich-liberale Koalition freilich kaum von ihrer sozial-liberalen Vorgängerin, wie unter anderem der oben gezeigte Blick auf die Entwicklung der Subventionen lehrt. auch  in  dieser  hinsicht  ließ  helmut  Kohl  übrigens  keinen  Zweifel  an  seiner  Marschlinie:  als  1988  in  der  cDU/cSU-Bundestagsfraktion  einmal  mehr über Subventionen gesprochen wurde, beendete Kohl brüsk die aufkeimende Diskussion: „Sagen Sie mir doch einmal, (…) wo wir jetzt viel wegnehmen können. Wollen wir jetzt  im Moment die landwirtschaft völlig totmachen? Wollen wir sagen, wir brauchen sie  nicht mehr? (…) Und dann erkenne ich die großen Energiepolitiker. natürlich kann man  sehr gut, wenn man in einer landschaft sitzt, wo man halt einen haufen Kraftwerke hat,  und wo einem lange genug andere geholfen haben, sagen: So, jetzt steigt aber aus dem  13  hierzu und zum Folgenden: a. WiRschiNg, abschied (wie anm. 8), S. 239ff.

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Kohlepfennig aus. (…) Wollt ihr eine ganze Region an der Saar, wollt ihr eine ganze  Region in nordrhein-Westfalen einfach abkappen? Das geht nicht! Wir brauchen hier  Übergangslösungen. Und wir machen es ja auch in diesem Sinn.“14

Ebenso  dramatisch  wie  der  ökonomische  Strukturwandel  war  zweitens  die  seit  den  1970er  Jahren  voranschreitende  Veränderung  der  sozio-kulturellen Maßstäbe individueller lebensgestaltung. traditionelle, im Industriezeitalter  noch hoch standardisierte lebenslaufmuster lösten sich auf. Mehr und mehr  ist  das  Individuum  seit  den  1970er  Jahren  befreit  worden  von  materiellen  Zwängen,  tradierten  Rollenerwartungen,  kulturellen  Bindungen  und  gesellschaftlichen Konventionen. Wohl nie zuvor waren die Freiräume und die Optionen individueller lebensgestaltung so groß, was übrigens für die neoliberale  Rhetorik  ein  entscheidender  ansatzpunkt  war.  Faktisch  hieß  das  aber  keineswegs nur Freiheitsgewinn und Emanzipation, sondern eben auch Freisetzung  aus  tradierten  Versorgungssicherheiten  und  normativen  Gewissheiten. Wenn also die Individualisierung neue chancen bot, so verursachte sie  doch auch neue Risiken. Und es gehörte zu den typischen Phänomenen seit  den siebziger Jahren, dass sich eine in ihren Rechten zunehmend vollindividualisierte Gesellschaft an den Staat wendet, um ihm die Rechnungen für die  gestiegenen Risiken zu präsentieren. Es  war  daher  für  wertkonservative  Beobachter  eine  schwere  Enttäuschung, dass die neue Regierung nach dem Wahlsieg von 1983 keinen augenblick daran dachte, ein gesellschaftspolitisches Rollback zu versuchen. Zwar  betrachteten viele in der Union die sozial-liberalen Reformen etwa des Ehescheidungs-, abtreibungs- und Jugendstrafrechtes als die politisch induzierte  Ursache  moralischen  Verfalls  und  gesellschaftlicher  Krisenerscheinungen.  Eine „Reform der Reform“ blieb aber aus, und das hieß nichts anderes, als  dass eine Mehrheit in der Koalition die beschleunigten Prozesse gesellschaftlicher Individualisierung im Kern akzeptierte oder zumindest ihre Umkehr für  politisch nicht durchsetzbar hielt. Damit ist der dritte aspekt benannt, nämlich die Widersprüchlichkeit des Konzepts der Wende: Dessen Kern bestand darin, einen neuen, auf „Modernität“  verpflichteten  Fortschrittsoptimismus  hervorzubringen,  freilich  unter  gleichzeitiger  Rückbesinnung  auf  traditionelle  lebensweisen  und  wertkonservative  Inhalte.  Die  Rhetorik  der  „Wende“  forderte  daher  einerseits,  den  technischen Fortschritt zu akzeptieren und als chance zu begreifen, den Kräften  des  Marktes,  der  Eigeninitiative  und  des  Wettbewerbs  wieder  stärkere  Geltung zu verschaffen. andererseits verpflichtete sie sich darauf, an einem  christlichen Menschenbild festzuhalten, hiervon ausgehend gesellschaftliche  Solidarität und geschichtliches Bewusstsein neu zu definieren, die Familie zu  fördern  und  traditionelle  Werte  zu  stärken.  In  eigentümlicher  Weise  ver14  Fraktionssitzung vom 19. 9. 1988, acDP 08–001–1086/2, S. 131–134.

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knüpfte  das  Konzept  der  „Wende“  also  christlich-konservative,  liberal-fortschrittsorientierte und individualistische Elemente miteinander. Einseitige Interpretationen der christlich-liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik  verbieten  sich  daher.  Kennzeichnend  war  vielmehr  ihr  durchgängig  widersprüchlicher  charakter.  cum  grano  salis  gesprochen,  wollte die Regierung Kohl/Genscher im Grunde alles: Sie betrieb dort „liberale“ Politik, wo sie die Dynamik des Strukturwandels befördern wollte; zugleich betrieb sie dort „christlich-soziale“, praktisch aber durchaus „sozialdemokratische“ Politik, wo die Folgen des forcierten Strukturwandels zur übermäßigen Belastung gerieten und es galt, die „soziale Symmetrie“ zu bewahren.  Schließlich  wollte  sie  dort  „(wert-)konservative“  Politik  betreiben,  wo  die Folgen der neo-liberal angetriebenen Individualisierungsprozesse den sozialen und kulturellen Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdeten. aus dieser Diagnose erwachsen mehrere Fragen. Die erste, eher vordergründige, lautet, ob hier nicht ein Monumentalprogramm formuliert wurde,  an dem jede Regierungspolitik gescheitert wäre. In längerfristiger Perspektive  drängt sich freilich der Verdacht auf, dass dieses Monumentalprogramm aus  der deutschen Geschichte durchaus bekannte traditionen und Pfadabhängigkeiten widerspiegelt. Wurde in ihm nicht dem Staat eine Problemlösungskapazität beigemessen – und zugewiesen –, die ihn zu überfordern drohte und  zugleich einen zivilgesellschaftlichen Mangel offenbarte? Damit ist schließlich das wohl problematischste, weil kurzfristig folgenreichste Merkmal der  „Wende“ und der sich aus ihr speisenden Regierungspolitik benannt. Denn die  Regierung Kohl verfolgte im Grunde zwei unterschiedliche und auseinanderdriftende  Pfade.  Sie  förderte  Eigeninitiative  und  Individualität,  Markt  und  Wettbewerb dort, wo dies entsolidarisierende Wirkungen nach sich zog. Den  Gedanken  der  sozialen  Verpflichtung  und  Solidarität  förderte  sie  hingegen  dort, wo dies die Zementierung individueller ansprüche und die langfristige  Überforderung des (Sozial-)Staates nach sich zog. Während die Freiheitsdividenden  der  neuen  Gesellschaft  privatisiert  wurden,  verdichtete  sich  deren  langfristiges Risikopotential erheblich. Die hieraus resultierenden haushaltspolitischen  Rechnungen  lassen  sich  an  den  oben  vorgestellten  Ziffern  demonstrieren. Was uns daher fast unausweichlich wiederbegegnet, ist ein alter Bekannter aus der Geschichte des deutschen Interventionsstaates, nämlich seine aus  Überforderung geborene tendenz zum bürokratischen autoritarismus. Demgegenüber  drohen  die  vielbeschworene  Zivilgesellschaft,  die  bürgerliche  Selbstorganisation, das ehrenamtliche Engagement, schlicht auch: der Idealismus  zu  kurz  zu  kommen.  Eben  dieses  Szenario  ist  seit  den  1990er  Jahren  übermächtig geworden: Im Kern liegt ihm kein liberales Konzept zugrunde,  sondern  eher  bürokratisch-autoritäre  lösungen,  häufig  freilich  im  Mantel  neoliberaler Markt- und Effizienzrhetorik. Die Grundlagen hierfür wurden bereits in den 1980er Jahren gelegt. 

DIE DDR alS ÖKOnOMISchE KOnKURREnZ:   DaS SchEItERn DES „ZWEItEn DEUtSchEn StaatES“   alS VERGlEIchSWIRtSchaFt André Steiner als Walter Ulbricht auf dem II. SED-Parteitag im September 1947 eine einheitliche Wirt schaftsplanung verlangte, die auch längere Zeiträume erfassen  sollte, begründete er die neue Wirtschaftsordnung damit, dass „mit hilfe der  Wirtschaftsplanung  und  der  Finanzpolitik  der  demokratischen  Verwaltung  (…) die Wirtschaft so gelenkt werden [sollte], daß die Möglich keit geschaffen  wird, der Gefahr von Krisen zu begegnen. Durch diese Wirtschaftspolitik“ –  so Ulbricht weiter – „werden auch die Voraussetzungen für die spätere Verhinderung der Krisen geschaffen. Das heißt, die arbeiterschaft wird von der  Furcht vor Massenarbeitslosigkeit be freit.“1 Deutlich klang hier der Rekurs  auf die Weltwirtschaftskrise zu Beginn der dreißiger Jahre und de ren politischen und sozialen Folgen an. Dem wurde die sozialistische Utopie gegenübergestellt, die wiederum ihre Bestätigung daraus erfuhr, dass es der darauf  beruhende Ordnungsentwurf – die Planwirtschaft und die damit verbundene  außerkraftsetzung  markt wirtschaftlicher  lenkung  –  ermöglichte,  zur  gleichen Zeit in der So wjetunion mit der Sta linʼschen Indu striali sie rungspolitik  beeindrucken de Wachs tums ra ten zu er ziel en und die arbeitslo sig keit zu beseitigen. nicht zuletzt galt auch der über ragende anteil der Sowjetunion an  der Zer schla gung des „Drit ten Rei ches“ (zu min dest in der Wahr nehmung der  Kommuni sten) als Be weis der lei stungs fä higkeit deren Wirt schaft. Die nach  dem Krieg nicht nur im Osten Deutsch lands an zutreffende Fas zi na tion gegenüber dem Planungsgedanken und gegenüber staatlicher lenkung  beruh te aber  auch auf nichtkenntnis oder Verdrängung der hohen Men schenverluste und  weiterer  Kosten,  die  für  die  nach ho lende  Indu strialisie rung  in  der  Sowjetunion bezahlt worden waren. allgemein versprach man sich von der Planung  eine bessere wirtschaftliche Entwicklung in der SBZ, die dann als Magnet auf  den  Westen  wirken  sollte.2  Somit  war  die  ostdeutsche  Planwirtschaft  von  1  2 

Protokoll der Verhandlungen des 2. Parteitages der SED 20. bis 24. September 1947 in  der Deutschen Staatsoper zu Berlin, Berlin 1947, S. 320f., 324. WiLfRied Loth: Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin  1994, S. 78. Zu ähnlichen Überlegungen im Westen vgl. WeRNeR aBeLshauseR: Zur Entstehung  der  „Ma gnet-theorie“  in  der  Deutschlandpolitik.  Ein  Bericht  von  hans  Schlange-Schöningen über einen Staatsbesuch in thüringen im Mai 1946, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 27 (1979), S. 661-679.

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vornherein  als  Ordnungsentwurf  in  Konkurrenz  zur  westlichen  Marktwirtschaft  gedacht  und  musste  sich  als  ein  solcher  beweisen.  Dem  soll  in  dem  vorliegenden Beitrag nach einer Darstellung der allgemeinen Probleme dieses  Wirt schafts systems anhand der drei Entwicklungsabschnitte der DDR-Wirtschaft nachgegangen werden. Etablierung der Planwirtschaft und die daraus resultierenden  Problemlagen allgemein und für die DDR speziell Zwar sahen die die Errichtung der Planwirtschaft in der SBZ/DDR vorantreibenden  akteure  diese  von  vornherein  als  Gegen mo dell  zum  liberalen  und  marktverfassten Sy stem und als Ver wirklichung der kommunistischen heilserwartungen, gleichwohl verlief dieser Prozess histo risch kontingent. letztlich war die Etablierung die ses Gesellschaftmodells in einem teil Deutschlands ein Er geb  nis der in ter na tio na len nach kriegs ent wick lung, also des Kalten  Krie ges  und  der  da mit  verbundenen  deutschen  tei lung.  Es  sollte  den  haupt pro tagonisten dieser trans formation – den deutschen Kommunisten –  ihre im Wind schatten der sowjetischen Be sat zungs truppen errungene politische Macht sichern. auch deshalb lehn ten sie sich dabei an das Mo dell der  So wjetunion  an,  was  von  dieser  –  ent sprechend  ihrer  jewei li gen  deutschlandpo li ti schen In ten tio n – zurückhaltend oder intensiv ge för dert wurde. In  der Kon se quenz wies die DDR – bei allen Differenzen im ein zel nen – die für  alle  Ostblock-Ge sell schaften  typischen  Sy stem merk ma le  auf,  die  entscheidend auf den Stalinʼschen Vor stel lun gen und sowje tischen Erfah run gen basierten: staatliches Eigentum an den Produktionsmitteln (in der DDR legitimatorisch  als  „Volkseigentum“  bezeichnet),  zentrale  Planwirtschaft  sowie  Primat der Politik und damit der herrschenden kommunistischen Partei, hier  der  SED.  letzten  Endes  waren  es  also  Gründe  machtpolitischer,  visionärheilsgeschichtlicher und hi sto ri scher na tur, die zur „Konstruktion“ dieses Gesellschaftssystems führten. Dieses alternativsystem  sollte,  anknüpfend  an  die  Marxʼ sche ana lyse,  die negativen Seiten kapitalistischer Ökonomie beseitigen. Dazu war das priva te Eigentum an den Produktions mitteln als Ursache der „ausbeutung des  Menschen durch den Menschen“ abzuschaffen  u  nd die Wirtschaft planvoll, ex  ante zu lenken, um die vielfältigen Verlu ste und Kosten zu ver mei  den, wenn  sich die Ergebnisse der Produktion erst im nach hinein auf dem Markt bewähren mussten. Die so zu schaffende Voll be schäf ti gung, Krisenfrei heit, Bedürfnis be frie digung für alle mach ten den wirt  schaftlichen Kern der so zia listischen  Utopie  aus.  Da  die  Bedürfnisse  mit  ihrer  Befriedigung  aber  steigen,  waren  letztlich  auch  Wachstum  und  damit  Inno vatio nen  sowie  glei cher maßen  wirtschaft liche Effizienz erforderlich. Diese ansprüche und Ziele sollten mit  der  Plan wirt schaft  verwirklicht  werden.  Mit  ihr  waren  die  Volkswirt schaft 

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ins gesamt und deren ein zelne teilsy ste me, also bis zu den Be trieben hinunter,  im Vorhinein zu koordinieren und zu len ken. Man meinte, auf der Ebene der  Volkswirtschaft die günstigste lösung für die Ressour cenallokation finden zu  kön nen und zugleich sicherzustellen, dass diese Ressourcen in den Betrieben  auch  effizient  ausgenützt  würden.  Das  Ziel,  wie  es  lenin  formuliert  hatte,  war:  „Die  Orga ni  sierung   der  Rech nungsführung,  die  Kontrolle  über  die  Großbe trie be, die Um wand lung des ganzen staatlichen Wirtschaftsmechanismus in eine einzige große Maschine, in einen Wirt schaftsorga nis mus, der so  arbeitet,  daß  sich  hunderte  Millionen  Menschen  nach  einem  ein zi gen  Plan  richten  (…)“3  Damit  erschien  der  Markt  –  als  Instrument  der  ex  post  Koordinierung  –  ent behr lich.  Die  bewusste  Konstruktion  eines  solchen  Wirtschafts sy stems  erfor derte einen Bau meister, der über das entsprechende Wissen  und  e  inen  Gestaltungsentwurf  ver füg te.  Diese  Position  nahm  in  Ostdeutsch land die in der kom  mu nistischen tradition ste hende  SED ein. aus der  Er fül lung der be nannten an sprü che leitete sie die legiti mität ihrer herrschaft  ab. In ihren augen verfügte nur sie gestützt auf die als Wissen schaft deklarierte Ideologie des Marxis mus-leninismus über das Wis sen  , die zukünftige  Ent wick lung der Gesellschaft und darunter der Wirtschaft zu bestim men. Damit könne auch nur sie das fort  wäh rende Einlösen dieser ansprü che sichern,  wo mit die se faktisch zu einem Mittel wur den, um die Macht der SED zu erhalten. Dieses „konstruktivistische“ Element des Wirtschaftssystem macht einen  der we sentlichen Un terschiede zur Marktwirtschaft aus, die in einem län geren  historischen  Prozess  –  ohne  eine  vor he ri ge  Systemvorstellung  –  durch  das  Wirken vieler Einzelakteure ent stand. Der anspruch, ein alternativsystem zu  etablieren, recht fer tigte neben den po li tisch formulierten Zie len die ständi gen  politischen Eingriffe in die Wirt schaft. Wirtschaftliche Rationalität war nun  politischen  Er wägungen  nachgeordnet.  Um  den  Gesamtplan  eines  solchen  Wirt schafts sy stems durch setzen zu können, mussten die privaten, de zentralen  Ver fü gungs- und aneig nungs rechte beseitigt wer den. In einem mehrstufigen  historischen  Prozess  wurden  in  den  vierziger  und  fünfziger  Jah ren  in  Ostdeutschland große teile der In dustrie verstaatlicht und die Produktionsmittel  in den anderen Wirtschaftsbereichen überwiegend kollektiviert.4 Bis  zur  Gründung  der  DDR  1949  war  die  Planwirtschaft  sowjetischen  typs  zwar  prädispo niert,  aber  sie  war  selbst  im  Sinne  der  Initiatoren  noch  kein funktionierendes System. Ihre Etablierung sollte zunächst vor allem der  Erfüllung  der  sowjetischen  Reparationsforderungen  aus  der  laufenden  Produktion und der Bewältigung der unmittelbaren not der nachkriegszeit die3  4 

Wladimir  I.  lenin:  Referat  über  Krieg  und  Frieden  auf  dem  Siebenten  Parteitag  der  KPR (B) am 7. März 1918, in: Ders.: Werke, Bd. 27, Berlin (Ost) 1960, S. 73-96, hier  76f. Vgl. auch aNdRé steiNeR: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, akt.  und bearb. neuausgabe, Berlin 2007.

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nen. Soweit waren auch die Sowjets essentiell an der nutzung der planwirtschaftlichen lenkungsinstrumente interessiert. Darüber hinaus verbanden die  deutschen Kommunisten und zunächst auch (mit abstufungen) die anderen  politischen  Gruppierungen  damit  den an spruch,  eine  krisenfreie Wirtschaft  mit Vollbeschäftigung und somit sozialer Sicherheit für alle zu schaffen. nicht  zuletzt nutzte die SED die Umsetzung der Planwirtschaft, um ihre machtpolitischen ansprüche durchzusetzen. Vor allem letzteres war entscheidend dafür,  dass die SED-Spitze seit 1947/48 auf dem Weg zum Sozialismus in der Wirtschaft mehr Fakten schuf als in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Dabei  nutzte sie auch Spielräume, die sie gegen über der sowjetischen Besatzungsmacht hatte beziehungsweise ging teilweise weiter, als in Moskau ge wünscht.  Die sowjetische Besatzungs- und spätere hegemonialmacht beeinflusste die  konkrete ausgestaltung der Planwirtschaft massiv, wobei jedoch viele taktische Wendungen und Verzö gerungen aus ihren verschiedenen Optionen in der  Deutschlandpolitik resultierten.  Was sich die Verantwortlichen anfangs unter Planwirtschaft vorstellten,  war  von  per fek tio ni  sti schen  Erwartungen  und  vereinfachten  Vor stellungen  geprägt. Ein führender Wirtschafts funk tionär stellte das 1948 so dar: „Planwirtschaft ist nur denkbar als sozialistische Bedarfs wirt schaft. Planwirtschaft,  wo die Pro duk tion von oben bis unten, von vorn bis hinten durch Pläne ge regelt  wird,  wo  je der  Wirt schaftsvorgang,  Rohstoffbe schaf fung,  transport,  Verarbei tung im Be trieb, ab satzre ge lung durch Pläne vorher bestimmt wird.“5  Die Idee derartiger „total pla nung“ einer Volkswirtschaft war allerdings schon  deshalb illusionär, weil niemand die erforderlichen Informationen in ihrer gesamten Komplexität erfassen konnte. Gleich wohl be tonte man, dass eine solche so zia listische Plan wirtschaft das Ziel, aber noch nicht erreicht sei. Deshalb sollten die Pläne über die von anfang an dominierende Produktion immer mehr auch Kosten, Beschäftigte und löh ne, Investi tio nen, Vor lei stungen  und ab satz er fassen. Die SED-Spitze war wiederum davon überzeugt, dass  mit der Planwirtschaft sowjetischen typs eine höhere Produktivität als in der  Bundesrepublik zu erreichen war. Mängel in der Funk tions wei se und in den  Ergebnissen  wurden  als  zu  überwindende  anfangsschwächen  verstan den.  letztlich sollte so die attraktivität des Systems der eigenen Bevölkerung aber  auch den Westzonen beziehungsweise der Bundesrepublik bewiesen werden.  Von einer sol chen Überlegenheit war die SED-Spitze auch deshalb überzeugt,  weil  sie  in  der  sozialen  Marktwirtschaft  die  Restauration  der  alten Verhältnisse sah und sie nach den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit fest mit einer  krisenhaften Entwicklung des Westens rechnete.6 5  6 

fRitz seLBmaNN: Demokratische Wirtschaft, Dresden 1948, S. 93, 95f. Vgl. dazu im Detail: aNdRé steiNeR: „… der Gefahr von Krisen zu begegnen“. Die Etablierung der Planwirtschaft in der SBZ/DDR: ablauf und Erwartungen, in: jüRgeN eLVeRt / fRiedeRiKe KRügeR (hg.): Deutschland 1949-1989. Von der Zweistaatlichkeit zur  Einheit, Stuttgart 2003, S. 119-133.

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Diese  Konkurrenzsituation  gehörte  zu  den  politischen  und  wirtschaftlichen Rah menbedin gun gen, denen die SED bei ihrer Politik Rechnung tragen  musste.  Durch  die  deutsche tei lung  und  den an spruch,  im  Osten  Deutschlands die alternative zum markt wirtschaftlichen System im Westen zu entwickeln, wurde die Bun des re pu blik quasi automatisch zur Re fe renzgesellschaft  der  DDR. an  deren Wirtschaftskraft  und  vor  allem  an  ihrem Wohlfahrtsniveau bemaß sich der Erfolg der DDR. Der Vergleich mit „dem We sten“ blieb  für  wirt schafts politische  Entscheidun gen  zu  manchen  Zeiten  explizit,  stets  aber implizit ein wich ti ger,  oft  sogar  der  wich tig ste  Para meter. Mehr  noch:  Zugleich  musste  die  SED-Spit ze  aber  den  Blockzu sammenhang  bedenken,  denn er begründete die Existenz der DDR – sowohl in po li tischer und mili täri scher als auch in öko nomi scher und ideologischer hinsicht. Otto Rein hold,  einer der Vor den ker der späten SED, drückte das in der finalen Krise der DDR  im Sommer, herbst 1989 mit bemerkenswerter Klar heit aus: „Ohne Sozialismus in der DDR wird es auf Dau er keine zwei deutschen Staaten geben.“7 Die  SED-Spitze  hatte  im  Interesse  ihrer  eige nen  Macht  also  stets  zu  bedenken,  in wie weit sie sich bei ihren Ordnungsentwürfen von den Vorstellungen ihrer  Moskauer Schirm her ren entfernen konnte. hieraus ergaben sich nur schma le  handlungsspiel räume für die Ge stal tung des eigenen Systems.  Diese Rahmen be din gun gen – die wirtschaftliche her ausfor de rung durch  den Westen und die durch die Blockbindung begrenzte Sy stem variabilität –  stan den in einem la ten ten Widerspruch zuein an der. Das äußerte sich auch in  dem Konflikt zwi schen Macht si cherung und Gewährlei stung wirtschaft licher  Effizienz, wobei einerseits ohne entspre chende ökonomische Er geb nisse mittel- und langfristig die Macht nicht zu ga ran tie ren war. Schließlich war dieses  System in mehrfacher Wei se nicht legitimiert. Wie in anderen Diktaturen und  weit  stärker  als  in  li be ra len  Gesellschaf ten  bedurfte  es  in  der  DDR  eines  Mindestni veaus  an Konsum und  lebensstandard und dafür wie der um einer  wirtschaftlichen Basis, um massenhaf te loyalität der Bevöl ke rung und damit  Sy stem stabilität zu erzeugen. an de rer seits versprach Macht allein noch keine  wirt schaftli che  Effi zienz.  Gleichwohl  wurde  die ses  Dilemma  von  den  Verantwort li chen lange Zeit als auflösbar an ge sehen. Zugleich wies das planwirtschaftliche System von anfang an zwei grundle gen de Pro bleme auf, die zwar von den Verantwortlichen nicht so benannt,  aber  deren  Erscheinungsweisen  durchaus  registriert  wurden:  das  Informations- und das anreizproblem.8 In Marktwirtschaften bilden ideal typisch die  sich nach an  gebot und nachfrage frei herausbildenden Preise für die Unterneh  men  die  in  ihrer  Entwicklung  nicht  sicher  vorhersagbare  Informations7  8 

Vgl. den Diskussionsbeitrag Reinholds auf der ZK-tagung im november 1989 und die  dort angegebe nen literaturverweise in: haNs-heRmaNN heRtLe / geRd RüdigeR stePhaN (hg.): Das Ende der SED. Die letzten tage des Zentralkomitees, Berlin 1997, S. 334. Zum Folgenden liegt eine Fülle an literatur vor. Grundlegend aber: jáNos KoRNai: the  Socialist System. the Political Economy of communism, Oxford 1992.

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quelle, an denen sie ihre Entscheidungen ausrich ten. Da man den wirt schaftlichen Prozess bewusst und im Vor hin ein ge stal ten woll te, sollten die Preise  kei ne Quelle für Unsicherheiten mehr sein wie in einer Markt  wirt schaft. Zugleich  be deu  tete  das  den  Verzicht  auf  die  Preise  als  un ab hän gi ge  aus  dem  Wirtschaftsprozess  selbst  ge wonnene  Infor mationsquelle. alternativ  konnte  die Zen tra le die für die wirtschaftlichen Entscheidungen er forderlichen Informationen aus dem Planungspro zess selbst ge win nen. aller  dings wurden diese  Informationen in dem bürokratischen  und hierarchischen Prozess durch die  verschiedenen  Interessen  der  nach-  und  übergeordneten  Ebenen  verfälscht.  Da es aber der Zentrale angesichts der Vielfalt und der Komplexität des Wirtschaftsprozesses un möglich war, alle erforderlichen Informationen in der notwendigen  Qua lität  zu  erhalten,  konn te  sie  keine  wirtschaftlich  optimalen  Entscheidun gen treffen. So ver wundert es  nicht,  dass sie sich entspre chend  ihrem Führungsanspruch vor nehmlich an po li tisch ge setzten Prioritäten orientierte. Das heißt, das Wirtschaftssystem war so ge stal tet, dass es politische  Ent schei dungen über wirtschaftliche Belange erforderte. Darüber hinaus barg die gegebene Systemstruktur ein anreizproblem: Es  war schwierig, Be trie be und Beschäftigte zu höchsten leistungen zu motivieren.  Das  anfänglich  bemühte  Ideal bild  vom  „neuen  Menschen“  erwies  sich  schnell als Fiktion, denn formaler Besitz an Maschinen und Fabriken war kein  Garant für eine höhere ar beitsmotivation. Daher entstand das an reiz pro blem  aus dem Widerspruch zwischen dem wirtschaftlich notwen di gen leistungsdruck  und  den  legitimationsgrundlagen  des  Systems.  Zu  letzterem  gehörte  der an spruch, Vollbe schäf ti gung zu realisieren. Er stand jedoch einer anwendung der Ultima Ratio bei wirt schaft lich un zu rei chen den Ergebnissen – für  den  Be trieb  dem  Konkurs  und  für  die  Beschäftigten  der  Ent las sung  –  entgegen. außerdem le gi timierte die SED-Spitze ihre herrschaft als „arbeiterund-Bauern-Macht“ und musste gleichzei tig den arbeitern aber als eine art  „Gesamtunternehmer“  ge gen über treten,  der  immer  höhere  lei stun gen  forderte. Jeder zusätzliche leistungszwang ge fähr dete daher potentiell die le gitimität der SED-Macht; der Verzicht auf leistungszwang gefährdete die legimität  über  den  Verlust  an  wirt schaftlicher  lei stungsfä hig keit  aber  ebenso.  Das war ein weiteres Dilemma, dem versucht wurde, mit vielfältigen Mechanismen beizukommen , um so bei Betrieben und Be schäf tig  ten über den bloßen Zwang und ideologisch ver bräm ten Druck hinaus höhere lei stungen zu  för dern. außerdem war der Planungsmechanismus gerade in den fünfziger Jahren  so ge stal tet, dass die Betriebe vor allem dafür belohnt wurden, wenn sie ihre  Brutto-Produk tion  quantitativ  erfüllt  hatten.  Qualitative  aspekte  spielten  meist eine nachgeordnete Rolle. Insofern  erschien jede neuerung bei den Produkten und im Fertigungsprozess als eine Stö rung, weshalb die Betriebe kaum  an Innovationen interessiert wa ren und diese eher vermieden. Das war für sie  auch nicht problematisch, weil sie bei dem herrschen den all ge mei nen Mangel 

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an Waren ihre Produkte ohnehin absetzen konnten. Der Man gel entstand sy ste  misch durch das nicht knapp gehaltene Geld und durch die damit zusammen hängenden  all ge gen wärtigen  hortungserscheinungen  und  die  geringen  anreize zum spar sa men Res sour cen ein satz bei den Betrieben. Das staatliche  außenhandelsmonopol, gedacht als Schutz der Volks wirtschaft vor „Störungen“ von außen, tat das seine, denn es schottete die Betriebe von der Kon kurrenz auf den außen märkten ab. Folge dieser beiden Systemelemente war die  sy stemim ma nen te Innovationsschwäche. Gleichwohl konnten mit dieser Form der Planwirtschaft in den fünfzi ger  Jahren die zunächst brachliegenden Produktionsfaktoren mobilisiert und hohe  Wachs tums ra ten  erreicht  wer den.  Im  Zu ge  dieses  extensiven  Wachstums  wurde  –  verstärkt  durch  die  inner deutschen  Wande rungs ver luste  –  die arbeitslosigkeit reduziert  und  schließlich  beseitigt. ab der  zwei ten  hälf te  der  fünf zi ger Jahre zeigte sich ein akuter Mangel an arbeitskräften. Damit wurde  zwar  die  ver spro che ne  Voll be schäf ti gung  gewährleistet.  aber  da hin ter   ver bar gen  sich  hor tungs erschei nungen  der  Be trie be  und  da mit  erhebliche  Pro duk ti vi tätsreserven. auch die Inve sti tionseffekti vität sank Ende der fünfziger Jahre. arbeitskräftemangel und zurückgehende Investitionseffek tivität  offenbarten, dass die Grenzen des extensiven Wachstums in der DDR erreicht  waren  und  die Wirtschaft  mit  dem  etablierten  len kungs me cha nis mus  nicht  auf  einen  intensiven  Wachs tumspfad  zu  bringen  war  –  also  überwiegend  durch  Pro duk tivitäts stei gerung  bewirktes  Wachstum.  Ein  solcher  Übergang  konnte mit der in den fünf z iger Jahren typischen ten denz, die Pla nung möglichst auf alle wirtschaftli chen akti vitäten auszudehnen, nicht gelingen, weil  das systemimmanente Informations- und das anreizproblem nur auf weitere  Bereiche ausgedehnt wurden. Jedoch zogen die durchaus bekannten Schwierigkeiten auch Diskussionen  unter  Wirtschafts wissenschaftlern  nach  sich,  die  den  bisherigen  Ordnungsentwurf  grundsätzlicher  in  Frage  stell ten.  Mit  Fritz  Beh rens  an  der  Spitze hatten einige Wissenschaftler begonnen , sich Fra gen der Zentralisierung und De zen tra li sie rung sowie der ausarbeitung ökonomi scher Me tho den  für die Wirt schaftslen kung mit tels Plan zu wid men. Sie hatten sich mit dem  Verhältnis von Politik und Wirtschaft, der Stel lung und Rolle öko no mi scher  Kategorien im Zusammenhang mit der Wert theo rie so wie dem für eine Planwirtschaft  wichtigen  Problem  von  „spontanen“  und  „bewusst  herbeigeführten“ wirtschaftlichen Prozessen be schäftigt. Sie skizzierten die ökonomischen  Schwie rig kei ten in der DDR (unkontinuier li che Pro duktion, hortung, nichtab setz bare  Erzeugnisse  und  Kauf kraft überhang)  und  führ ten  diese  auf  die  Wirtschaftslenkung zurück, die sie als überzentra li siert, reglementierend, administrierend und büro kratisch cha rakterisierten. Dem setzten sie ein theoretisches Konzept planmäßi ger Wirt schaftsführung mit ökonomischen Mitteln  auf der Basis tat sächlicher Vergesellschaftung – von ihnen als wirt schaft liche  Selbstverwaltung  begriffen  –  ent gegen.  Danach  soll te  die  zentrale  lei-

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tungsinstanz nicht mehr jede Einzelheit im auge haben, sondern nur die Rahmenbedingungen setzen, um das handeln sowohl der Betriebe als auch der  Be schäf tig ten  in  die  von  der  Zentrale  ge wünschte  Rich tung  zu  führen.  Ein  Minimum zen traler anwei sun gen und ein Ma xi mum an Ini tiative und Selbständigkeit  „von  unten“  sollten  mit  der  bewussten  aus nutzung  wirt schaftlicher Instrumente, also einzelnen Marktka te gorien, erreicht werden. Das erfordere hand lungs spielräume für die Be triebe, um auf den sich wandelnden  Be darf reagieren zu kön nen. Um angebot und nach fra ge ins Gleichgewicht  zu bringen, mussten ihres Erachtens die Prei se inner halb bestimmter Bandbreiten beweg lich ge stal tet werden. Das so aktivierte wirt schaft li che In teresse  bei  den  Betrie ben  galt  ihnen  a ls  hauptanreiz  für  eine  sozialistische  Entwicklung.9 Mit diesem Ent wurf hat ten die beiden Wirtschaftswissenschaftler  zwar nicht den Boden der Marxʼschen theo rie verlassen, aber die herrschende  staatssozialistische lesart in Frage gestellt. Doch auch bei ihnen gab es Widersprüche. So wäre die abkehr von Festpreisen und die Instru men talisie rung  der Prei se zur Wirt schafts lenkung sicher ein Fortschritt gewesen. Das Problem  der  Preisbe stim mung  aber  blieb  auch  bei  ihnen  theo re tisch  un ge löst.10  Gleichwohl nahmen sie in ihren the sen konzeptio nelle Gedanken der Wirtschaftsreform  der  sechziger  Jahre  vorweg.  Ins be sondere  die  Wahr nehmung  und Indienstnahme wirt schaft licher Interessen waren zentrale Punk te der späte ren Reform. Ihre Forderung nach einer realen Vergesellschaftung war zwar  – sy stem immanent be trachtet – konsequent, berührte aber das herr schaftsmono pol der SED. Des halb wurden die zunächst theo retisch an ge legten Posi tionen von Behrens und arne Benary schon bald von Ulbricht auf einer ZK-tagung  als  „Revisio nis mus“  diffamiert.11  Die  Bezichtigung  des  „Revisionismus“ richtete sich direkt und indirekt gegen alle Ver su che, reformsozialistische Ideen außer halb der SED-linie zu ver fol gen. Die von der SED-Spit ze  inszenierte „Revisionismus-Debatte“ fand erst nach drei Jah ren mit mehrfach  er zwungenen und entwürdigenden Selbst kritiken der Be zichtigten anfang der  sech zi ger  Jah re  ihr  Ende.12  Vor her  war  Behrens  bereits  von  seinen  Re gierungsfunk tionen ab ge löst und Benary 1958 „in die Pro duk tion“ versetzt worden.

9 

fRitz BehReNs: Zum Problem der ausnutzung ökonomischer Gesetze in der Übergangsperiode, in: Wirt schafts wissen schaft 5 (1957), 3. Son der heft, S. 105–140; aRNe BeNaRy:  Zu Grund pro blemen der politi schen Öko no mie des Sozialismus in der Übergangsperiode, in: Ebd., S. 62-94. 10  Vgl. für eine theoretische analyse: susaNNe BecKeR / heiKo dieRKiNg: Die herausbildung der Wirt schaftswissenschaften in der Frühphase der DDR, Köln 1989, S. 424-439. 11  Grundfragen  der  Politik  der  SED.  Referat  auf  der  30.  tagung  des  ZK  der  SED  vom  30.1.57,  in: WaLteR uLBRicht:  Zur  Geschichte  der  deutschen arbeiterbewegung. aus  Reden und aufsätzen, Bd. VI, Berlin (Ost) 1962, S. 305ff. 12  Vgl.: S. Becker / h. dieRKiNg, herausbildung (wie anm. 10), S. 467-473.

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So  blieb  es  dabei,  dass  das  Planungssystem  in  seiner  bisherigen  Form  ausgebaut wurde, indem die verschiedenen Bereiche und Sphären des Wirtschaftens zunehmend seinem Zugriff unterla gen. Wirtschaftliche anreize in  Form  finanzieller  Boni  oder  ähnliches  spielten  weiterhin  nur  eine  nachgeordnete Rolle und so blieben die Probleme zunächst dieselben.13 Deklarierte Konkurrenz: Vom „Überholen und einholen“   zum „Überholen ohne ein zuholen“ trotz der bekannten Funktionsprobleme wähnte sich die SED-Spitze mit ihrer  Wirtschaftsord nung aber auf der Siegerseite der Geschichte und wurde nicht  müde,  immer  wieder  die  Überle genheit  des  Sozialismus  zu  verkünden  und  den daraus letztlich resultierenden höheren lebens standard zu versprechen.  als der aufbau des Sozialismus 1952 forciert werden sollte, was im Volksaufstand am 17. Juni 1953 endete, verkündete Ulbricht: „Durch den [ersten] großen Fünfjahrplan wird ein solcher aufschwung der Wirtschaft erreicht werden, daß bis zum Jahre 1955 die lebenshaltung des Volkes [der DDR] die der  Bevölkerung einer Reihe kapitalistischer länder übertreffen wird.“14 auch im  unmit tel ba ren  Gefolge  des  aufstands  for mulierte  die  SED-Spitze  mit  dem  „neuen Kurs“ öffentlich die aufgabe: „Bei uns soll der Werk tätige mehr essen und besser mit Konsumgütern versorgt werden als in Westdeutsch land.“15  Und im März 1956 stellte Ulbricht in einem Referat, die Ordnungskonzepte  des Ostens und des Westens und deren lenkungsinstrumente – die volkswirtschaftlichen Pläne versus die Marktpreise als Regulator der Produktion – sowie deren Konsequenzen – „ständige aus nutzung aller Produktionskapazitäten“ versus unvermeidliche periodische Wirtschaftskrisen – direkt gegenüber,  wobei erstere als überlegen markiert wurde.16 Jedoch  versuchte  man  wohl   zu  dieser  Zeit  noch  nicht  ernsthaft,  dieses  Ziel in den Plänen kon kret wirtschaftlich zu untersetzen, son dern es war eher  13  Siehe  zu  den  fünfziger  Jahren:  jöRg RoesLeR:  Die  herausbildung  der  sozialistischen  Planwirtschaft  in  der  DDR. aufgaben,  Methoden  und  Ergebnisse  der  Wirtschaftsplanung  in  der  zentralgeleiteten  volks eigenen  Industrie  während  der  Übergangsperiode  vom Kapitalismus zum Sozialismus, Berlin (Ost) 1978. 14  Die gegenwärtige lage und die neuen aufgaben der SED. aus dem Referat auf der II.  Parteikonfe renz der SED, 9. bis 12. Juli 1952, in: WaLteR uLBRicht: Zur Geschichte der  deutschen  arbeiterbewe gung.  aus  Reden  und  aufsätzen.  Bd.  IV,  Berlin  (Ost)  1958,  S. 371-499, hier 405, auch 446. 15  Der neue Kurs und die aufgaben der Partei. 15. tagung des Zentralkomitees der SED,  24. bis 26. Juli 1953, Berlin (Ost) 1953, S. 42. 16  Der zweite Fünfjahresplan und der aufbau des Sozialismus in der DDR. Referat auf der  3.  Parteikonfe renz  der  SED  24.-30.3.1956,  in: WaLteR uLBRicht:  Zur  Geschichte  der  deutschen  arbeiterbewegung.  aus  Reden  und  aufsätzen.  Bd.  V,  Berlin  (Ost)  1960,  S. 669–742, hier 698f.

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allgemein po li tisch gemeint. Dass man mit eigenen Mitteln  nicht in der lage  war, das bestehende Produktions- und Ver sor gungs ni veau der Bun des republik  zu er reichen und zu über schrei ten, war der SED-Spitze bewusst und wurde  von ihr ge gen über der Moskauer Führung als  argument benutzt, um von dieser größere Rohstofflie ferungen, höhere Kre dite und andere leistungen zugesichert zu be kommen.17 Die sem argument konnte sich die Sowjetspit ze nicht  ganz verschließen, denn schließ lich sollte die DDR zum „Schaufenster“ des  Sozia lis mus gemacht wer den.18 Jedoch zeigten die 1956/57 wieder auf neue  höchstwer te gestiegene Zahl von 289.954 beziehungsweise 273.716 aus der  DDR nach Westen geflohenen Personen am deut lichsten,19 dass das Sy stem  vielfältige ge sell schaft liche und wirt schaftliche Defizite auf wies.  Um die „Republikflucht“ einzu däm men und ein Zeichen der attraktivität  nach innen und außen zu setzen, ver kün dete Ul bricht schließlich Mitte 1958  die „ökono mi sche hauptaufgabe“, wo nach bis 1961 „der Pro-Kopf-Ver brauch  unserer  werk tä ti gen  Be völ kerung  mit  allen  wich ti gen  le bens mit teln  und  Kon sum gü tern  den  Pro-Kopf-Ver brauch  der  Gesamt be völkerung  in  Westdeutsch land erreicht und über trifft“ und damit „die Überlegenheit der sozialistischen Gesell schaftsordnung der DDR gegenüber der herrschaft der imperialistischen Kräfte im Bonner Staat eindeutig bewiesen wird“.20 an lass, ein  sol ches Ziel ins auge zu fas sen, dürf te auch ge wesen sein, dass die KPdSU im  Februar 1956 be schlossen hat te, „die am meisten entwickelten kapi ta li stischen  län der hin sichtlich der Pro duk tion je Kopf der Be völ kerung einzu holen und  zu über holen“.21 Grundlage dieser auf ga be in der DDR war der Glaube an die  Möglichkeiten des eigenen Systems, der sowohl auf eini gen tech ni schen Spitzenleistungen der Sowjet union (Sputnik-Euphorie) als auch auf den sich im  eige nen land seit  1957 wieder günstiger gestal tenden Wirtschaftser geb nissen  beruhte. Darüber hin aus sah  man  mit der kon junk tu rel len Zwi schen schwä che  1958 in der Bun des re publik eine durch greifen de Wirt schafts kri se heran rei fen,  was das Überholen erleichtert hätte. Das Jahr 1961 war als Ziel ausgewählt  17  Vgl. u. a. Ulbricht an Bulganin und chruschtschow, 17.12.1955, in: Siftung archiv der  Parteien und Mas senorganisationen der DDR im Bundesarchiv (im Folgenden: SaPMOBa)  DY30  J  IV  2/202/48;  Büro  des  Po lit bü ro  an  die  Mitglieder  und  Kandidaten,  3.7.1956, in: SaPMO-Ba DY30 J IV 2/202/28. 18  Vgl.  michaeL LemKe:  Die  Berlinkrise  1958  bis  1963.  Interessen  und  handlungspielräume der SED im Ost-West-Kon flikt, Berlin 1995, S. 46ff. 19  Ein schät zung der Verluste, die der Volkswirt schaft durch ab wer bung von arbeitskräften  ent stan den sind, in: SaPMO-Ba, nY4182/972. 20  Vgl.  Protokoll  der  Verhandlungen  des  V.  Par teitages  der  SED.  10.  bis  16.  Ju li  1958,  Berlin  (Ost)  1959,  S.68,  70.  Mit  der  Fest legung  auf  unter schiedliche  Bevölke rungskategorien woll te man sich eine stati stisches hintertür offen lassen, worauf Kleßmann  schon verwies: chRistoPh KLessmaNN: Zwei Staa ten, eine nation. Deutsche Geschichte  1955-1970, Göttingen 1988, S. 310. 21  Rechenschaftsbericht  des  Zentralkomitees  der  KPdSU  an  den  XX.  Partei tag,  Berlin  (Ost) 1956, S.175.

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worden, weil die Bundesrepublik bis dahin ihre Streit kräf te mit atom waffen  aus ge rüstet  haben  wollte  und  dem  mit  deutlich  propagan di sti scher absicht  etwas auf dem Feld des Konsums ent ge gen gesetzt wer den sollte.22 Die SEDSpitze ging wohl tat säch lich davon aus, diese an spruchs  vol le auf gabe be wälti gen zu kön nen. allerdings rechnete man dabei mit grö ße rer Unterstützung  der Sowjetunion.23 Zwar war dieses Ziel von dort an geregt worden, aber es  hatte auch eine innere logik, da sich die eigene Bevölkerung immer mit dem  westlichen  teil  Deutschlands  ver glich.  Den  Verantwortlichen  war  be kannt,  dass  die  „ökonomische  haupt aufgabe“  nur  mit  be trächt lichen  zusätz li chen  Rohstoffi m por ten  auch  aus  dem  Westen  ge löst  wer den  konn te,  wo für  die  hilfe der UdSSR er for der lich war.24 nur auf dieser Basis war der Pro-KopfVer  brauch  in  wichtigen  Positionen  im  Ver gleich  mit  der  Bun desrepu blik  schnell  zu  erhöhen.25  Die  Vor stel lung,  die  Sowjetunion  würde  der glei chen  möglich machen, erklärt auch den Wider spruch, dass mit dem 1959 beschlosse nen Sieben jahresplan die Bun des re pu blik bei der arbeits produk ti vi tät erst  bis 1965 einge holt und über flü gelt werden soll te.26 Offenbar war selbst der  SED-Spitze klar, dass der nach eigener Einschätzung 24 bis 28 Prozent be tragende Pro duktivitäts rückstand der Industrie27 nicht innerhalb von zwei Jah ren  aufge holt wer den konn te. So unrealistisch diese aufgabe wirtschaftlich erschien, so konsequent war  sie politisch. nur mit dem öffentlichen nachweis wirtschaftlicher leistungsfähigkeit waren das System sowie die DDR und damit die Macht der SED  langfristig  zu  sichern.  Die  hinter  diesen  Vor gaben  stehen de  Wachs tums euphorie hatte ihre Grundlagen aber in unzulässigen Extra po lationen der im  22  Selbmann: Referat in leipzig, 9.4.1959, in: SaPMO-Ba nY4113/13; arbeits material.  Einschätzung  der  sich  aus  der  Entwicklung  bis  1961  ergebenden  auswir kun gen,  18.1.1961, in: Bundesarchiv Berlin-lichterfelde (im Folgenden: Ba) DE1/49122. 23  Ulbricht an chruschtschow, 19.1.1961, in: SaPMO-Ba DY30 J IV 2/202/30. als Dokument veröffentlicht in: aNdRé steiNeR: Politische Vorstellungen und ökonomische Probleme im Vorfeld der Errich tung der Ber liner Mauer. Brie fe Walter Ulbrichts an nikita  chruschtschow,  in:  haRtmut mehRiNgeR  (hg.): Von  der  SBZ  zur  DDR.  Studien  zum  herr schafts sy stem in der Sowjeti schen Besatzungszone und in der Deut schen Demokratischen Re pu blik, München 1995, S. 233-268. 24  leuschner an Ulbricht, 3.3.1959, in: SaPMO-Ba DY30 J IV 2/202/29; arbeitsma te rial.  Ein schät zung  der  sich  aus  der  Entwicklung  bis  1961  ergebenden  auswir kun gen,  18.1.61, in: Ba DE1/49122. 25  laut den Planungen der SPK sollte bis 1961 in der DDR der Ver brauch Westdeutschlands  von  1956/57  er reicht  werden.  (Vgl.:  Bemerkungen  zum  überarbeiteten  Projekt,  1.7.58,  in:  SaPMO-Ba  nY4062/99)  Bei  die sem Ver gleich  wiesen  die  Statistiken  der  DDR  bei  aus ge wähl ten  nahrungs mit teln  und  Kon sum gü tern  zum  Zeit punkt  des  Beschlus se s bereits einen höhe ren Pro-Kopf-Ver brauch als die Bundesrepub lik aus . Vgl.  statistisches jahRBuch deR ddR 1962, Berlin (Ost) 1962, S. 573. 26  Gesetzblatt der DDR 1959, teil I, S. 705. 27  Übersicht  über  die  Entwicklung  des  niveaus  der  arbeitsproduktivität,  in:  Ba  DE1/51761.

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Zuge extensiver Ent wick lungen erreichten Zuwachs ra ten sowie in der festen  Überzeugung  von  der  Über legen heit  des  eige nen  Systems.  Diese  bestätigte  sich  auch  noch  einmal  in  den anfang  1960  entwickelten  Vor stel lungen  ab  1965 gar die USa in Produktivität und lebens standard über ho len zu wol len.  Dies wurde zwar rasch zu rück ge wie sen.28 aber solche Ideen tru gen ihren teil  zu  dem  Entschluss  bei,  die  Ent wick lung  einer  sozialistischen  Gesellschaft  weiter vor an zu treiben und in der land wirt schaft die Kol lek ti vie rung zum abschluss  zu  bringen.  Das  führte  ebenso  wie  die  Überforderung  des  eigenen  Potentials  durch  die  „ökonomische  hauptaufgabe“  schließlich  in  die  Krise  1960/61. In ihr stellte die Flucht in den Westen für die SED-Spit ze das größte  Problem dar: Politisch offen barte sie die ab lehnung des Systems; wirt schaftlich  ver stärkte  sie  kurzfristig  die  akute  Kri sen situation,  weil  die  feh lenden  arbeitskräfte die Pro duk tions aus fälle in der Indu strie erhöhten. Dar über hinaus  ver hinderte  die  mas sen hafte  Flucht  in  die  Bundesrepublik,  dass  gegenüber  den  Beschäf tig ten  konsequent  leistungs for de rungen  beziehungsweise  -anreize durchgeset zt werden konnten. Der mit der ab wanderung ver bun dene  arbeits kräf te man gel war letzt lich so wohl Fol ge als auch Ursa che der Pro duk tions rück stände, der Defizite bei Vorleistun gen in der Industrie und im Warenangebot für die Be völ ke rung. Für die Spitzen von Partei und Wirtschaft stand  jeder  Plan  unter  dem  Vor behalt,  wie  viele  Men schen  im  Plan zeit raum  die  DDR verlassen würden. auch das machte die Planung unsicher. Mit tel- und   lang fri stig entzog die Fluchtbewegung der DDR-Wirtschaft außerdem Wachstums potentia le in Form von humankapital. Dies musste die Ver antwortlichen  noch mehr beunruhigen. alle wirt schaftlichen aus w   e ge mussten in der gegebenen lage die Fluchtbewe gung weiter verstärken. Im Inter es se des eige nen  Machterhalts suchte die SED-Spitze einen außer -öko no mi schen Weg, sie zu  unter bin d en und damit die gesamte Planung wieder kal ku lier bar zu machen.  Danach konnte sie ver su chen, die der ab wanderung nach Westen zugrundeliegen den wirt schaftlichen Pro bleme zu lösen. Des halb ent schloss sich die SEDSpitze  in  abstim mung  mit  der  Sowjet union,  im  august  1961  die  Berliner  Mauer  zu  er rich ten  und  damit  die Westflucht  gewaltsam  zu  stop pen.  Intern  wurde dieser akt wirt schaft lich begründet, obwohl er nach außen hin politische Probleme und vor allem die von der SED-Spitze selbst mit ange heizte  Ber lin-Kri se lösen sollte.29 28  ha Perspektivplanung: the sen für die Grundlinie der Entwick lung(…), 14.1.1960, Ba  DE1/49121;  nie der schrift  über  die  wichtigsten  Bemerkungen  in  der  Beratung  (…),  4.3.1960, in: Ba DE1/3054. 29  Siehe die „Begründung“ in: Ulbricht an chruschtschow, 4.8.1961: Information über die  Ursachen  der  wirt schaft lichen  Schwierigkeiten  der  DDR,  in:  SaPMO-Ba  DY30  J IV 2/202/30. Veröffentlicht in: a. steiNeR, Vorstellungen (wie anm. 23), S. 254-268.  Zur Wirtschaftskrise 1960/61 vgl. aNdRé steiNeR: Vom Überholen eingeholt. Zur Wirtschaftskrise 1960/61 in der DDR, in: BuRghaRd ciesLa / michaeL LemKe / thomas LiNdeNBeRgeR  (hg.):  Sterben  für  Berlin?  Die  Berliner  Krisen  1948–1958,  Berlin  1999, 

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Im Schutz der Mauer versuchte man zunächst eher kurzfristig orientierte  lösungen für die Krise zu finden. Zugleich war aber der SED-Spitze und den  Wirtschaftsverantwortlichen be wusst, dass auf die se Weise legitimation und  Stabilität der eigenen Macht nicht gesichert wer den konn ten, die einer dynamischen  und  kri sen freien  Wirt schafts entwicklung  mit  entspre chen den  Wohlfahrts ef fek ten für die allgemeinheit be durf ten. Dazu wurde inzwischen  über eine Modifikation des wirtschaft lichen len kungs me cha nismus nachgedacht.   Der Ge dan ke, eine solche Re form durch zu füh ren, reifte über längere  Zeit,  da  man  sich  der  Inkon sistenzen  bei  der  Wirt schafts len kung  und  der  Schwierigkeit,  die  Grenzen  des  extensiven  Wachs tumspfades  zu  über springen, bereits seit Ende der fünf zi ger Jahre bewusst war. ausschlaggebend dafür, dass die Reform tat säch lich in angriff genommen wurde, war jedoch die  von  der  Parteiführung  als  exi sten tiell  wahr genommene  Wirt schafts krise  1960/61. Die Moskauer Füh rung musste nach ihrer Weigerung, die DDR stärker  zu  ali men tieren,  einem  solchen  Reformver such  zustimmen,  zumal  mit  ihm die Vorherrschaft der Partei oder die Eigentumsverhältnisse nicht angerührt wer den sollten.30 In der ge ge benen deutschland- und innenpolitischen Situation blieb aber  das eigentliche Ziel der Reform, sich als kon kur renzfähige alternative zum  westlichen System zu prä sen tieren. aller dings sah man es jetzt – im Gegensatz zur Ende der fünfziger Jahre ver kündeten „öko no mi schen haupt auf gabe“  – als unerlässlich an, die eigene Wirtschaftsordnung so umzugestalten, dass  sie die erfor derlichen an triebs kräfte freisetzte. So stell te Ulbricht am 17. novem ber  1962  fest:  „Wir  können  den  hohen  lebensstandard  nur  erreichen,  wenn wir in der arbeits pro duk tivität den Westen über tref fen. Das ist die Frage  von Wis sen schaft und technik sowie der mate riel len Inter es siert heit.“31 Dazu  mussten seines Erachtens die Branchenleitungen – die Ver einigungen Volkseigener  Be trie be  (VVB)  –  ihrer  Rolle  als  leitung  „eines  großen  Konzerns,  sogar eines Mam mut konzerns“ gerecht wer den  .32 Die VVB als Konzer ne zu  bezeichnen, deu tete an ge sichts des in der DDR üblichen Sprach gebrauchs auf  erhebliche Veränderungen hin. Um praktikab le Vor schläge zu erhalten, verlang te  Ulbricht,  die arbeit  von  Kon zernen  in  West deutsch land  zu  untersuchen. Da mit offenbarte sich jener Wider spruch, der die gesamte Re form  proS.  245-262.  Zur  Vorgeschichte  des  Mauerbaus  liegt  eine  Fülle  an  literatur  vor.  Vgl.  jüngst u. a.: KLaus-dietmaR heNKe (hg.): Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung, München 2011. 30  Vgl. im Detail aNdRé steiNeR: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül, Berlin 1999, S. 44-60. 31  niederschrift über die ausführungen des Genossen Walter Ulbricht …, 18.11.1962, in:  SaPMO-Ba DY30 J IV 2/202/50. 32  Stenographische niederschrift der 2. Plenartagung des Forschungsrates am 12.11.1962,  in: Ba DE4/8867. Die Rede Ulbrichts wurde zum großen teil auch im „neuen Deutschland“ veröffentlicht.

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gram matik prägen soll te . auf der einen Seite wollte man infol ge ihrer evidenten lei stungs fä hig keit den Koordi na tionsmechanismus marktwirtschaftlicher  Ordnungen imi tieren, ohne auf der anderen Seite deren ordnungs po litischen  Rahmen zu übernehmen, zu dem das eige ne System vielmehr nach wie vor  die alternative bleiben sollte. letztlich  war  mit  der  Wirtschaftsreform  –  laut  deren  offiziellen  Programms – die Volkswirt schaft wis  senschaftlich und technisch zu modernisieren und damit die Produktivität permanent zu stei gern, „um im Interesse der  gesamten nation die Überlegenheit unserer sozialistischen Ordnung gegenüber dem kapitalistischen System in Westdeutschland auch auf öko nomischen  Gebiet  zu  beweisen“.33  Dazu  waren  Innovationen  und  die  mit  ihnen  verbundenen  Struk tur ver än de rungen  auf  der  Grundlage  höherer  Eigenverantwortung  der VVB  und  Betriebe  unter  Zu hil fenahme  ihrer  wirt schaftlichen  Inter es sen  und  der  „schöpfe ri schen aktivitäten  der  Werktäti gen“  im  Rahmen eines nur Eck daten vor ge ben den zentra len, perspektivisch orientierten Planes anzuregen und durchzu setzen. Die Planung als auch die leitungstätigkeit sowie das „in sich ge schlossene System ökonomischer hebel“ sollten dem nach eine organische Ver bindung ein gehen. Jedoch blieben trotz der  von den Verantwortli chen hoch ge steck ten Ziele und Erwar tungen die vor gese henen Innovationsanreize schwach. Die nach geordneten Wirtschaftsein heiten sollten „lediglich“ angeregt werden, eigenständig und mit größerer Effektivität in eine Rich tung zu wirtschaften, die von einem zen tral gesetzten Rahmen  bestimmt  war.  aus  die ser  Sicht  erschien  es  folgerichtig,  nur  die  im  lenkungsmecha nis mus  wurzelnden  Innovations hemm nisse  zu  be sei tigen,  aber  keine  starken anreize  zu  schaffen,  denn  die  Richtung  sollte  der  Plan  festleg en. außerdem unterstellte man, dass die aufga ben des Perspektivplans  „wis sen schaft lich“  ohne hin  besser  bestimmt  werden  konn ten,  als  es  wirtschaft liche Regu lative ver mochten. Die „ökonomi schen hebel“ sowie die erhöhte  Eigen ständigkeit  und  Verantwortung  der  Wirtschaftsein hei ten  zielten  daher mehr auf eine Öko nomisierung des Ressourceneinsatzes und insoweit  auch auf eine größere wirt schaftliche Ratio na li tät, weniger auf die Effizienz  ihrer Vertei lung und die Frei set zung autonomer dynamischer Impulse.34 nicht nur deshalb, sondern vor allem auch wegen der stufenweise Einführung der Reform, die für beträchtliche Reibungsverluste sorgte, blieben die  Resultate der Reform ambivalent: Die wirtschaftliche lage verbesserte sich  zwar gegen über der Kri se   1960/61 , was wiederum in erster linie eine Folge  erhöhter Investitionen war. Zugleich zeigten sich aber neue Schwierig keiten.  Die  lage  spiegelte  sich  auch  i n  einer  Ende  1965  durchgeführ ten  Meinungsumfra ge wider,  nach der reichlich die hälfte der in den Be trie ben  33  hier und auch zum Folgenden: Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und leitung der Volkswirtschaft, Berlin (Ost) 1963, S. 7, 10, 15. 34  a. steiNeR, DDR-Wirtschaftsreform (wie anm. 30), S. 65-71.

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Befragten  der auffassung  war,  dass  die  DDR  in  den  drei  zurückliegenden  Jahren – also seit Reformbeginn – wirtschaftlich „große Er folge erzielt“ habe,  ein knappes Vier tel billigten ihr „we niger große Erfolge“ zu und etwa 15 Prozent  meinten,  dass  sie  nur  geringe  beziehungsweise  keine  Erfolge  zu  verzeichnen hatte. Gleichzeitig schätzten aber knapp drei Viertel reali stisch, dass  die wirtschaftliche Entwicklung nicht ausreiche, „um gegen über West deutschland aufzuholen“.35 Gleich zeitig stellten die Beschäf tig ten zu nehmend so ziale  Forde rungen,  wie  die  Einfüh rung  der  Fünf-tage-Woche,  Erhöhung  des  Grund ur laubs und der löh ne und Renten, wo bei die eige ne Situation mit der  in  der  Bun des re pu blik  ver gli chen  wurde.36  Sie  verlangten  damit,  das  Versprechen zu erfüllen, dass mit der Reform die Wirtschaft besser funk tionieren  und sich  ihre persönliche lebens lage verbessern werde. auch Ulbricht war das klar und er betonte im September 1965 in Moskau  gegenüber Bresch new: Es müsse die Par tei füh rer der RGW-länder doch „mit  Sor ge erfüllen“, wenn im We sten „die technische Revolution konsequent und  mit höherem ökonomischen nutz ef fekt durchge führt wird, als in ihren ländern.“  nur  mit  Zusammenar beit  und  Spezialisierung  sei  die ser  her aus forderung zu begegnen. nur so sei – im Übrigen – eine größere attraktivität des  Sozia lis mus zu er rei chen, was in Deutschland besonders wichtig sei, denn erst  wenn der lebensstandard in der DDR dem Westdeutschlands entspreche, wären sowohl die DDR-Bevöl ke rung wie auch „breite Schich ten der west deutschen Werktätigen“ von den Vorzügen der neuen Ordnung zu überzeugen.37  Um den dafür erforderlichen Strukturwandel zu beschleu nigen, modifizierte  die  SED-Spitze  das  Reformkon zept  erneut.  Das  war  wegen  der  unbefriedigenden Reformergebnisse bereits seit längerem bedacht worden, wurde aber  erst 1967/68 praktisch wirksam.38  Es wurde nun ein zweistufiger Mecha nismus entwickelt, in dem zen tral  mit direk ten Methoden die Pro duktion und Inve sti tio nen in jenen Branchen  und  Erzeugnisgruppen  gesteuert  wer den  sollte,  die  mit tels  pro gnosti scher  ana ly sen als zukunftsträchtig bestimmt worden wa ren. Die sen Bereichen waren bei der lenkung der Volkswirtschaft vorrangig Res sour cen und Finanzmit tel  zuzu weisen.  Die  anderen  wirt schaftlichen  abläufe  hatten  die  Wirtschafts einheiten unter einan der auf der Basis des Planes innerhalb bestimmter  35  In sti tut für Meinungsforschung: Bericht über eine Umfrage zu einigen Problemen der  technischen  Re vo lu tion  und  der  automatisierung,  26.1.1966,  in:  SaPMO-Ba  DY30  IV a2/2021/87. 36  VWR:  2.  Information  der  leitung  und  Probleme  bei  der  ausarbeitung  des  Planvorschlags 1966, 14.8.1965, in: Ba DE4-S/18-8-65. 37  Ulbricht an Breschnew, 6.9.1965: Über einige grundlegende aspekte der lage und der  auseinanderset zung in Deutschland, der Entwicklung und der Politik der DDR, Material  für  die  Beratungen  auf  dem  öko no mi schen  Gebiet,  in:  SaPMO-Ba  DY30  J IV 2/202/341. 38  Zum Prozess der ausarbeitung, den Details der Regelungen und den Konsequenzen vgl.  a. steiNeR, DDR-Wirtschaftsreform (wie anm. 30), S. 136-144, 407-441.

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Rahmenvor gaben selbst zu regeln. Die ser Rah men war aus dem Perspektivplan abzuleiten, dem in erster linie die aus ge wählten „struk turbe stim men den  aufga ben“ zugrunde lagen. Die Vorgaben für die Wirt schafts ein hei ten sollten  aus mittelfristig kon stant zu haltenden wirtschaftlichen nor ma tiven beste hen,  die  die  ab ga ben  an  den  Staatshaus halt  und  damit  faktisch  die  zu  erwirtschaftende Min destrentabilität sowie die Bonuslei stun gen für die Beschäftigten regel ten. Sie bildeten wie derum die Grund lage für die Jahresplanung, die  für die nicht-strukturbe stim menden Berei che verein facht wur de. auf der oberen  Ebene  sollten  also  Inno vations pro zes se  und  die  mit  ihnen  ver bundenen  Strukturveränderungen durch zen tra len Zugriff for ciert durch ge setzt werden.  auf der unte ren Ebene erhiel ten die Wirtschaftseinheiten – so weit nicht von  der  „strukturbestim men den  Pla nung“  erfasst  –  mehr  Spiel raum,  um  so  die  Effizienz zu steigern. Das größte Problem eines solchen Mecha nis mus lag in der auswahl der  zu för dernden Prozes se und in der Begrenzung ihres Umfangs. Die Möglichkeit,  mit  der auf nah me  in  diesen  Kreis  vor ran gig  Ressourcen  zuge teilt  zu  bekommen,  rief  bei  den  VVB  und  Betrie ben  in  der  allge mei nen  Mangelsituation und bei nur unzureichend durchge setz ter har ter Budget re strik tion  ein starkes Inter es se hervor, ihren Vorhaben diese zen tra le „anerken nung“ zu  ver schaf fen. Die auswahl der zu för dern den Pro zes se sollte zwar durch Progno se arbeit und die Einbeziehung von Experten stär ker ver sachlicht und besser fundiert wer den. aber dafür lagen keine kla ren wirt schaftlichen Kriterien  vor,  weil  die  Preise  im  Prin zip  keine  nachfrage-  und ange bots ver hält nisse  wider spie geln sollten. Somit waren nach wie vor kei ne wirt schaft lich endo genen Grundlagen für Strukturentschei dun gen vorhanden, so dass diese oft auf  der Basis poli ti scher Erwägungen fielen oder indem man sich an internatio nalen Entwicklungen orien tierte. Dar über hinaus musste das Inter es se der Wirtschafts  ein hei ten  dazu  füh ren,  dass  der  Gesamtumfang  der  von  ihnen  als  beson ders wich tig erach teten Projekte die volks wirt schaftlichen Möglichkeiten übertraf. Da aber die Zen trale selbst mög lichst hohes Wachstum und raschen Struktur wan del errei chen wollte, musste der be schrie bene Mechanismus  durch  das  Zu sammen tref fen  von  Res sourcenhunger  von  „unten“  und  Wachstumsfetischismus von „oben“ ten den ziell wiederum zur Überfor de rung  des volks wirtschaftlichen Po ten tials füh ren. außerdem garan tier ten die un zurei chen den Entschei dungs grundlagen keine optimale allo ka tion der tat sächlich eingesetzten Ressourcen. nicht zuletzt kon kur rierten der struk tur be stimmen de und der nicht be son ders her vorge hobene Bereich der Volks wirtschaft  um  die  knappen  Ressourcen.  Des halb  waren  ver stärkt  zen trale  Ein grif fe  in  den  nicht-struk turbestimmenden  Bereich  notwendig,  so  dass  sich  die  ursprüng lich zumindest par tiell auf Dezentralisierung und Eigen ver antwor tung  der teilsy ste me zie lende Re form wirt schaftlich selbst blockierte. hin ter dieser Modifizierung der Reform,  stand die Vorstellung, auf den  entscheiden den Gebie ten der wissenschaftlich-tech ni schen Entwicklung das 

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jeweils in der Welt führen de land schnell zu überholen und mit sol cher forcierten anstrengung eine sprung hafte Stei ge rung der Pro duktivität zu erreichen. Dabei wurde nach Diskussion verschiedener Varianten im april 1969  davon aus gegangen, dass die Bundesrepublik im Ent wicklungs tem po und niveau sowohl der Produktivität als auch des lebensstandards bis 1977/78 zu  übertreffen sei. Die dafür als erforderlich angesehenen zehn Prozent Zuwachs  der Produktivität pro Jahr stellten in den augen Ul brichts bereits „genügend  hohe an for de rungen“ dar.39 In diesem Kontext wurde von ihm auch der oft  zitierte Slogan „Überholen ohne einzuholen“ geprägt und immer wieder propagiert.40 allerdings gab es auch mehr oder weni ger ver deck te Kri tik an Ulbrichts Konzeption. alfred neumann, eines der konservativeren Politbüromitglieder,  brachte  in  einem  Schre i ben  an  Ul bricht  vor:  „Die se Ver glei che  mit  kapitalistischen Spit zenlei stungen rufen bei mir immer aver sionen hervor, die  mit dem auftreten des Re vi sionisten Ota Sik zusammenhängen.“ Man solle  sich  solche  Ver glei che  „politisch  und  ideologisch  sehr  gut  überlegen.  (…)  Sollen  wir  etwa  die  losung  aufstellen:  ‚Die  DDR  muß  auf  ökonomischem  Ge biet besser als Westdeutschland werden?‘ Das geht doch nicht!“ Es komme  darauf  an,  die  konkreten  Vor züge  und  Vor teile  der  sozialistischen  DDR  heraus zu stel len,  die  sich  eben  nicht  in  den  Zuwachsraten  nie der schlagen.41  Dabei dachte er wohl an erster Stelle an die Beseitigung der arbeitslo sig keit.  Diese  Einwände  machen  das  tiefe  Unbehagen  der  konservativ  orien tierten  Spit zen funk tio nä re deutlich. Sie sahen wohl durchaus richtig, dass man nicht  einerseits  den  alternativen  charakter  des  eigenen  Systems  behaupten  und  gleichzeitig bedin gungs los dem „über lebten“ System hinterherrennen konnte,  ohne eige ne ansprüche aufzu geben, wobei sie sich sowohl durch den „Prager  Früh ling“ als auch durch die im Westen zu die ser Zeit nicht unpo pu läre Konvergenztheorie bestä tigt fühlten.42 andererseits hatte Ul bricht erkannt, wenn  der Sozialis mus in Deutschland über lebensfähig und mehr noch für die Menschen  in  Ost  und West  attraktiv  sein  sollte,  musste  die  wirtschaftliche  leistungsfähigkeit  der  DDR  höher  als  die  der  Bundesrepublik  sein,  was  nicht  zuletzt anhand der Produktivität zu mes sen war. Da bei konnte er sich auch auf  lenin  beru fen,  der  die arbeitsproduktivität  als  „in  letzter  Instanz  das  aller   wichtigste,  das  ausschlag ge bende  für  den  Sieg  der  neuen  Gesellschaftsord-

39  Stenographische niederschrift der Beratung zu Problemen der weiteren arbeit am Perspektivplan am 18.4.1969, in: SaPMO-Ba DY30 IV a2/2021/450. 40  Zur Geschichte dieser Formel siehe: a. Steiner, DDR-Wirtschaftsreform (wie anm. 30),  S. 445. 41  neumann:  Überlegungen  zu  einigen  Fragen  des  Perspektivplanes,  17.4.1969,  in:  SaPMO-Ba nY4182/974.  42  Vgl.  dazu aLexaNdeR NützeNadeL:  Stunde  der  Ökonomen.  Wissenschaft,  Politik  und  Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949-1974, Göttingen 2005, S. 187-197.

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nung“ be zeichnet hatte.43 Beide Sichtweisen hat ten mit hin ihre Berechtigung.  Zudem gab es damals auch im Westen Stimmen, die den Wett streit der Systeme noch nicht für ausgemacht hielten.44  Jedoch verstärkte die Forcierung des Wachstums durch die SED-Spitze  noch  die  aus  dem  modifizierten  Reformmechanismus  resultierenden  Probleme:  Es  machten  sich  1969/70  große  Un gleichgewichte  in  der  volkswirtschaftlichen Entwicklung bemerkbar. Diese Defi zi te zogen nach sich, dass der  Plan streckenwei se nicht er füllt werden konnte, was wiederum neue lücken  in  die  geplan ten  Verflechtungsbe zie hun gen  riss.  angesichts  hoher  Wachstumsvorgaben be schleu nig te sich die ser Kreis lauf. außerdem waren mit der  forcierten Strukturpolitik bestimm te Industriebe rei che „planmä ßig“ unter propor tio nal mit Investitionen aus gestattet wor den, so dass sie in ihrer Ent wicklung  zurück blie ben  und  damit  das  gesamte  Wachstum  gefährdeten.  Dazu  gehör ten insbe son de re die Vor lei stungs pro du zen ten sowie die Ener gie erzeuger. als dann noch die ungün sti gen Witterungsbedingungen 1969/70 zu Ernteaus fällen in der land wirt schaft, Pro duktionsrück ständen in der Industrie und  Störungen im Ver kehrs sy stem führ ten, ver schlech terte sich die bereits angespannte wirt schaftliche lage wei ter. Die  erneute  Krise  war  für  die  Betriebe  in  den  fehlenden Vorleistungen  spürbar. Dadurch konn ten die Beschäftigten während der regulären arbeitszeit oft mangels Ma te rial nicht arbeiten und soll ten dann am Wochenende die  Rückstände aufholen. Die kritische Situa tion machte sich auch in wachsenden  angebotsdefiziten  des  Ein zel han dels  be merk bar,  die  oft  die  kleinen,  aber  wich ti gen Dinge betrafen, etwa Zahnbürsten und toilettenpa pier. Die zentralen  Instanzen  ver such ten  zuneh mend  mit  ope ra ti ven  Ein grif fen  ins  Wirtschafts ge sche hen die lage zu sta bi li sieren. Mit diesem „Kri sen ma na ge ment“  wur den  die  Pro ble me  aber  nicht  gelöst,  son dern  be stenfalls  punktuell  entschärft. Dar über hinaus setzte man da mit das wirt schaft li che Regel werk der  Reform immer weiter außer Kraft, so dass sie lange vor ihrem Ende bereits  schleichend aus ge höhlt wurde. Die Krise diente letztlich als Grund, um 1971  sowohl  Ulbricht  ab-  als  auch  die  Wirtschaftsreform  formal  außer  Kraft  zu  setzen.45

43  Vgl.  WLadimiR i. LeNiN:  Die  große  Initiative,  in:  deRs.,  Werke,  Bd.  29,  Berlin  (Ost)  1963, S. 416. 44  Siehe beispielsweise haNs aPeL: Wehen und Wunder der Zonenwirtschaft, Köln 1966;  joachim NaWRocKi: Das geplante Wunder. leben und Wirtschaften im anderen Deutschland, hamburg 1967. Einordnend dazu jetzt: michaeL RucK: Vom „geplanten Wunder“  zur „Pleite der Praxis“. Wahrneh mungen der DDR-Planwirtschaft in der westdeutschen  Wirtschaftspresse während des Jahrzehnts der Entspannung, in: detLeV BRuNNeR / maRio NiemaNN (hg.): Die DDR – eine deutsche Geschichte. Wir kung und Wahrnehmung,  Paderborn 2011, S. 389-409. 45  Vgl. a. steiNeR, DDR-Wirtschaftsreform (wie anm. 30), S. 503-550.

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Verlust der Utopie und aufgabe des Offensivgedankens angesichts der neuerlichen Krise musste die SED im Interesse ihrer Macht   die la ge kon so li die ren: Dazu verfolgte der neue SED-chef Erich honecker  anstelle  des  bisherigen  Mo der ni sierungskurses  ab  1971  eine  Beschwichtigungspolitik, mit der zweierlei erreicht werden sollte: Die ar bei ter waren mit  bes serer Ver sorgung zu sta bi len Preisen und einer ausgeweiteten So zialpolitik  zu befrieden. Diese lebensstan dard wirksame Po li tik sollte wiederum die leistungen der Be schäftigten steigern. Da aber die so zial politischen Regelungen  nicht  als  ent spre chende anreize  fungierten,  blieben  die  er hoff ten  Re sul ta te  aus. Vielmehr wirkte die nicht mit eige ner leistung erreichte Besserung des  ma teriellen le bens niveaus, einschließlich der scheinbar ga rantierten sozialen  Sicherheit auf die lei stungsmotiva tion lang fristig nega tiv. Da Einkommenszuwachs  und  konsumwirksame  leistungen  Produktion  und  Pro duk tivität  nicht den erhofften auftrieb gaben, fehlten mittelfristig Waren und leistungen zur Be friedigung der kaufkräftigen nachfrage. Zunächst konnte zwar die  wirtschaftliche lage im ersten Drittel der siebziger Jahre stabilisiert werden,  aber  bereits  dafür  wa ren  zusätzliche  Importe  erforderlich.  Das  ausgedehnte  Konsum-  und  So zial politik-Programm,  das  nun  aufgelegt  wurde,  beanspruchte jedoch viel umfangreichere Mit tel und Einfuhren. Da es den DDRProdukten auf den Weltmärkten aber an Konkurrenzfähigkeit mangelte, konnten  die  Ex por te  nicht  so  gesteigert  werden,  dass  ihre  Erlöse  diese  Importe  hätten  fi nanzieren  kön nen.  Zudem  wurde  nach  und  nach  wieder  verstärkt  westliche technologie ein ge führt, was alles zusam men nur mit einer zunehmenden Westver schuldung zu rea li sie ren war. Das wurde durch die Ent spannungspolitik zwischen West und Ost erleichtert. Insgesamt aber war weniger  die bessere Ver sor gung der Be völ kerung, sondern vielmehr die nachlassende  in ter na tio na le Konkurrenzfähigkeit des Inve sti tions gütersektors und die Rohstoffabhängigkeiten für die wachsende aus lands verschuldung in den siebziger Jahren ver ant wortlich. Der man geln den Konkurrenzfähigkeit der eigenen  Produkte sollte abgeholfen werden, indem man in der zweiten hälfte der siebzi ger Jahre ein Programm zur forcierten Ent wicklung der Mikroelek tronik in  Gang  setzte,  das  aber  trotz  ei nes  immensen aufwands  nicht  die  erwarteten  Erträge brachte. Zu sammen mit dem in der zweiten hälfte der siebziger Jahre  ausgeweiteten Wohnungsbau pro gramm wurden damit aber erhebliche Mittel  der Volkswirt schaft gebunden.46 Mit alldem sollte auch die attraktivität des  DDR-Sozialismus im Vergleich zur Bundesrepublik erhöht werden. Zugleich  jedoch  war  die  Frage,  inwieweit  das  lenkungs system  eine  entsprechende  leistungsfähigkeit garantieren konnte. Mit  dem  Machtwechsel  zu  honecker  war  der  lenkungsmechanismus  wieder stärker an dem so wje tischen Modell und seinen zentra li sti schen Struk46  a. steiNeR, Plan (wie anm. 4), S. 189-209.

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tu ren und güterwirtschaftlich orientier ten Instrumenten ausgerichtet worden.  Damit versuchte man auch das Regelvertrauen bei den akteuren in der Wirtschaft  wiederherzustellen,  das  in  der  Reformzeit  durch  die  ständig  wechselnden, teilweise experimentellen Regeln verloren gegangen war. Zugleich  wurde auf diese Weise auf die Unwägbar kei ten und Eigen wil ligkeiten im Verhalten der VVB und Betriebe reagiert, die sich während der letzten Phase des  Ul bricht ʼschen Reformex pe ri ments ge zeigt hatten, indem die   len kung wieder mehr zentralisiert wurde. Und da die Verantwort li chen vor allem den Gütermangel als  P   roblem sahen,  sollte die lenkung auch wieder stärker auf einzelne Erzeugnisse und weniger auf monetäre Größen  o  rientiert werden. Mit  dies er Rückkehr zu alten Mu stern und der ab kehr von den kom plizierten Reformregeln hoff te man einen Wachs tumspfad zu fin den, der Gleich ge wich tigkeit versprach, also die „Proportio na lität der Volkswirt schaft“ ga ran tierte, auf  die Ulbricht im In teresse ihrer Dynamik verzichtet hatte.  Damit kamen für die Betriebe selbst die geringen Effizienzpo ten tiale der  Reform  nicht  mehr  zum  tragen:  Es  wurde  die  Zahl  zentral  vor ge ge be ner  Kenn ziffern und Güterverteilungsbi lan zen erhöht. Einen besonderen Schwerpunkt der lenkung bildeten entsprechend dem „neuen“ Ziel der Wirtschaftspolitik   die Konsumgüter. ab 1973 wurden etwa 90 Prozent des Erzeugnisangebots für die Bevölkerung nach einzelnen Positionen zentral  w   ert- und mengenmäßig ge plant und bilanziert. Die gü terwirtschaftliche len kung er reichte  damit  bei  den  Kon sum gü tern  zu  dieser  Zeit  den  höchsten  Durchdringungsgrad. Mit diesem Fokus ver loren die finanzwirt schaft  lich en Instru mente und  anreizmechanismen  die  ihnen  in  den  sechziger  Jahren  zu gedachte  Be deutung, wurden aber nicht vollkom men be seitigt. Das bedeutete, dass nicht mehr  der Ge winn – wie in der Re form zeit – als die zentrale Kennziffer fungierte,  mit de r die leistungen der Be trie be be wer tet werden sollten, sondern die Warenproduktion. Ihrem Wachstum blieb alles an dere untergeordnet und da mit  galt im Prinzip wieder das al te Brut toprinzip: Je auf wendiger ein Betrieb produzierte, desto mehr konn te er ab rech nen. Die verbliebenen in direkten lenkungs in stru mente  wurden  k  on sequent  an  den  Plan  und  seine  Erfüllung  gebunden.47 Der cha rak ter des lenkungsme cha nis mus hat te sich damit grundlegend geändert. Dafür waren auf ausdrückli ches Geheiß der SED-Spitze sowjetische Erfahrungen heran gezogen worden. 48 47  SPK, Vorsitzender: Information über die bisherige Verwirklichung der (…) festgelegten  Maßnahmen  zur Ver bes serung  der  Planung,  leitung  und  Bilanzierung,  17.2.1971,  in:  Ba Berlin DE1/51851; SPK: Vor schläge zur wei te ren Durchführung der Beschlüsse des  VIII. Parteitages der SED über die Pla nung und Bilanzierung (…), [14.4.1972], in: Ba  Berlin Dc20-I/3-953; a. steiNeR, DDR-Wirtschaftsreform (wie anm. 30), S. 546f. Vgl.  auch iaN jeffRies / maNfRed meLzeR: the new Economic System of Planning and Management 1963-70 and Re cen tra li sation in the 1970s, in: dies. (hg.): the East German  Eco nomy, london u. a. 1987, S. 35ff. 48  Protokoll  der  Politbürositzung  am  29.6.71: anlage  3: aufgaben  aus  den  Beschlüssen 

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Die Ineffizienzen konnten so allerdings nicht beseitigt werden: Die Betriebe hor teten ar beits kräfte und materielle Res sourcen aller art und neigten  noch stärker als frü her dazu, sich „Pol ster“ zuzulegen. Die Be triebs leitungen   meinten: „Wir kaufen teilweise höhere Be stän de ein, um tauschmaterial zu  haben.“49 Die Starrheit und Dichte der zen tra len lenkung nahm im Verlauf  des  Jahrzehnts  weiter  zu.  Die  Infle xi bi li täten  des  Planungssystems  wurden  noch da durch verstärkt, dass nach der Machtübernahme honeckers 1972 die  verbliebenen kleinen und mittleren priva ten und halb staat li chen Betriebe sowie  größere  gewerbliche  Genossenschafts betriebe  enteignet  wurden,  womit  bewegliche Wirtschaftseinheiten beseitigt wurden, die ein Stück anpassungselastizität in der Wirtschaft gewährleistet hatten. Zugleich konzentrierte man Ende der siebziger Jahre die Industriebetriebe  durch gängig in Kom  bi na ten. Diesen Konglomeraten sollten jeweils entweder  alle  Betriebe  mit  glei chen  Er zeugnissen,  Fertigungsprozessen  beziehungsweise  zu  verarbeitenden  Rohstoffen  (horizontale  Inte gra tion)  oder  die  Betriebe gekoppelter Fertigungsstufen (ver ti kal I ntegration) angehören. Sie hatten  je weils  die  gesamte  Wertschöpfungskette  von  der  Forschung  und  Entwicklung  bis  zum  absatz  zu sam menzufassen.  Von  diesen  Kombinaten  erhoffte  man  sich  neben  der  schnel len  Um set zung  von  Inno vationen,  verbesserte  Verflechtungsbeziehun gen,  ef fi zien te  Ma schi nennutzung  und  andere  Kostenvorteile,  kurz  Synergieeffekte.  Die  Be triebe  blieben  zwar  juristisch  selbständig,  waren  aber  ökonomisch  den  Kombinaten,  insbesondere  dessen  Generaldirektor, untergeord net.50 Die Kom binatsbildung steigerte somit nicht  nur  die  Konzentration,  sondern  auch  die  Zentralisa tion.  Die  Kon zen tra tion  war per se nicht negativ. Sie ent sprach bis zu einem ge wis sen Grad objekti ven  Er for der nissen  der  wirtschaftlichen  Ent wick lung.  Durch  sie  konnten  wachsen de Skalener trä ge realisiert und die Produktion rationeller organisiert werden. an de rerseits  wurden  jedoch  auch   Kom bi nate  allein  nach  tech no kratischen  Gesichtspunkten  und  ohne  aus reichende  ökono mische  Be rech nungen  gegründet.51 Offensichtlich hatte das fordisti sche Pro duktionsmodell für die  Verantwortlichen eine starke anziehungskraft, weil sich mit im mer größe ren  und  damit  weniger  Produktionseinheiten  für  sie  die  Komplexität  des  lenkungs prozes ses verringerte. Dass die Wirtschaft mit einer solchen Organisation aber auch an Fle xi bilität verlor und deshalb international in den siebziger  Jahren  bereits  die  ab kehr  von  die sem  Pro duktionsmodell  begonnen  hatte,  wurde  offenbar  nicht  gesehen.  Man  schuf  bewusst  Monopole  und  schal tete  al les  aus,  was  zwischen  den  Be trie ben  oder  Kom bi na ten  Wettbewerb  oder  des VIII. Partei ta ges der SED auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik, in: SaPMO-Ba  DY30, J IV 2/2a/1522 u.1523. 49  Material über die Plandurchführung 1971, [Januar 1972], in: SaPMO-Ba DY30/2733. 50  Vgl. PhiLLiP j. BRysoN / maNfRed meLzeR: the Kombinat in GDR Economic Organisation, in: i. jeffRies / m. meLzeR: Eco nomy (wie anm. 47), S. 51-68. 51  Vgl. a. steiNeR, DDR-Wirtschaftsreform (wie anm. 30), S. 461-465.

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Kon kurrenz hätte nach sich ziehen kön nen. In der Konsequenz konnten sie die  lieferbedingungen diktieren und In no va tionen blieben eben so wie die Qualität auf  der Strecke. Zudem entwickel ten sich  die Kombinate ten den ziell zu  autar ken Wirtschaftseinheiten. In der Sicht der Kom bi nate war das ganz rational, so lange es ungewiss schien, ob sie auf andere Weise die benötigten Vorleistungen erhalten wür den. Volkswirtschaftlich jedoch reduzierte dieses Verhalten den Grad der arbeitsteilung und be deu tete einen erheblichen Effizienzverlust.52 So wie bei der Gestaltung der Wirtschaftsordnung mit dem Machtantritt  honeckers  jegliche  Innovativität  verlorenging,  so  gestalteten  sich  die  Perspektivvorstellungen defensiver: Es wur de weniger für die fer ne Zu kunft versprochen, lei stun gen sollten mehr im hier und heute honoriert werden; die  utopisch-vi sio nä ren aspekte des Sozia lis mus-Pro jek tes gingen verloren. Zugleich wurde darauf verzichtet, im Wettstreit mit dem Westen konkrete Vorgaben zu ma chen. Gleichwohl betonte man die Vorzüge des eigenen Systems:  angesichts  der Weltwirt schaftskrise  1973/75  hob  honecker  1976  „die Vorzüge  der  krisenfreien,  sozialistischen  Plan wirtschaft“  hervor,  die  (1971  bis  1975) ein höheres Wachstum gewährleisteten als in den ent wickelten kapitalistischen Industrieländern.53 Ähnlich betonte er 1981, dass „angesichts der  Krisen und Rückschläge in fast allen kapitalistischen ländern“ in der DDR  „Stabilität  und  Kon tinuität“  durch  die  „Vorzüge  des  Sozialismus“  und  die  „Möglichkeiten der Planwirtschaft“ gewährleistet seien.54 Zur gleichen Zeit  befand sich die DDR aber bereits in einer Verschul dungskrise.55 Die als existentiell bedrohlich wahrgenommene Situation anfang der achtziger Jahre und  die da mit geänderten Rah menbedingungen stellten für die SED-Spitze, aber  auch  für  die  realwirtschaftliche  Entwicklung  der  DDR  einen  wesentlichen  Einschnitt dar. Um dem Wandel der weltwirtschaftlichen Gegebenheiten gerecht zu werden und die eigene Wirt schaft endlich zum intensiven Wachs tum zu zwin gen,  sollte seit anfang der achtziger Jahre der len kungs mechanismus wiederum  – wie es hieß – „vervollkommnet“ werden. Die bessere ausnutzung aller vorhandenen Produktionsfaktoren war nötiger denn je, denn es soll ten weiter der  konsum-  und  sozialpo li tische  Schwer punkt  verwirklicht,  das  zukünftige  Wachs tumspotential garantiert und die außen ver schul dung abgebaut werden.  Die Fortführung des sozialpolitischen Programms war in der SED-Spitze anfang der achtziger Jahre angesichts der sich verschlechternden Rahmenbedin52  Vgl.: güNteR Kusch u. a.: Schlußbilanz – DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und  Sozialpolitik, Berlin 1991, S. 46ff., 92-99. 53  Protokoll  der Verhandlungen  des  IX.  Parteitages der  SED,  18.-22. Mai  1976,  Band  1,  Berlin (Ost) 1976, S. 45f. 54  Protokoll der Verhandlungen des X. Parteitages der SED, 11.-26. april 1981, Band 1,  Berlin (Ost) 1981, S. 51. 55  Vgl. zu Ursachen und lösung a. steiNeR, Plan (wie anm. 4), S. 217-231.

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gun gen nicht unumstritten gewesen, aber für den Fall einer abkehr von dieser  Politik rechnete man mit ähn lichen Reaktionen wie in Polen. Deshalb mussten die SED-Oberen – und die meisten taten es wohl auch – weiter auf die  Potenzen  der  Planwirtschaft  vertrauen.  Die  Intensivierung  war  zwar  im mer  wie der  gefordert,  aber  lediglich  punktuell  beziehungsweise  in  ansätzen  durchge setzt worden. Dazu soll te nun die zentrale Planung präzi ser werden  und  das  Kosten-nutzen-Denken  bei  den  Führungs kräften  der  Betriebe  und  Kombi nate  gestärkt  werden.  Mit  etwa  90  Plan kenn ziffern  woll te  man  die  Wirtschaftseinheiten von der Zentrale aus steuern, wobei vier – die nettoproduk tion, der nettogewinn, Er zeugnisse und leistungen für die Bevölke rung  sowie der Export – von be son de rer Bedeutung sein sollten. Damit trennte man  sich  wieder  von  der  Warenproduktion  als  zen tralem  Erfolgs kri te rium.  Man  hatte erkannt, dass diese als Brut tokennziffer die Res sour cen ver schwen dung  tendenziell för derte und damit dem Intensivierungsziel entgegenstand. Im Bestre ben, die Ressourcenverwen dung noch stärker zu lenken und zu kontrollieren, wurden nun etwa 76 Prozent der industriellen Inputs direkt zentral gesteuert. neben dieser aufwertung zen tra ler und direkter lenkungs instrumente  sollten die Kombinate aber auch wieder durch finan zwirtschaftliche Mechanismen zu effizienterem Wirtschaften ge zwun gen werden. Dem nettogewinn  kam – verschämt zwar – wieder eine größere Rolle bei der Be ur teilung der  leistun gen zu. In der zweiten hälfte der acht zi ger Jahre sollten die indirekten,  finanz wirtschaftlich  orientierten  lenkungsinstrumente  aus gebaut,  zugleich  zusätzliche  Kontrollme cha nismen  eingeführt  und  die  Zahl  der  Plankennziffern weiter erhöht werden. Beispiels weise wurde ab 1988 erneut mit der  be reits während der Reform der sechziger Jahre praktizierten „Eigen erwirtschaf tung der Mit tel“ in 16 Kom bi naten experimentiert. Dabei sollten die Betriebe und Kombinate nicht nur die laufen den aus gaben, sondern auch ihre  Investitionen konsequent durch eigene Ein nah men decken. Gleich wohl blieben Betriebe und Kombinate ein gezwängt in ein zentral fest ge legtes Kor sett,  sodass sich ähnliche Probleme wie schon in den sechziger Jahren zeigten und  letztlich die Metho den der di rek ten lenkung weiter dominier ten.56 Ins gesamt  sollten be stimm te Elemen te und In stru mente, die in den sech ziger Jahren in  der Wirt schaftsreform be reits diskutiert oder an ge wen det worden wa ren, nun  eine gewisse Re nais sance er leben. aber der Gesamt cha rak ter die ses Me chanismus wurde nicht ent spre chend geändert. Des halb blieben es Versatzstücke,  die keinen durchgreifenden Ef fekt auf die Ra tio nalität des Wirt schaf tens und  die  real wirtschaftliche  Er geb nis se  entfalten  konnten.  Der  len kungsmechanismus blieb auch in den achtziger Jahren zen tra listisch und da mit inflexibel.  Die Grenzen des Sy stems zeig ten sich nach wie vor dort und dann, wenn es  56  maNfRed meLzeR: the Perfecting of the Planning and Steering Me cha nism, in: I. Jeffries  /  M.  Melzer: Eco nomy (wie anm. 479, S. 99-118; PhiLLiP j. BRysoN  / maNfRed  meLzeR: the End of the East German Econo my. From honecker to Reunifi cation, london 1991, S. 31-47; G. Kusch u. a., Schlußbilanz (wie anm. 52), S. 100-120.

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um das hervorbringen von In no va tio nen und die Förderung inten si ver Wachstums pro zes se ging. Die bereits mehrfach erörterten Grund probleme der anreize  für  Be trie be  und  Be schäf tigte  sowie  der  Informationen  für  den  lenkungsprozess waren infolge der sich ins gesamt verschlechternden wirtschaftlichen lage weniger denn je zu lösen. als der – im Vergleich zu den DDR-Oberen – jüngere neue KPdSU-chef  Gorbatschow Mitte der achtziger Jahre antrat, die Sowjetunion mit Perestroika  und  Glasnost  auch  wirt schaft lich  aus  der  Stagnation  herauszuführen,  wähnte sich die SED-Spitze davon nicht betroffen. Schließ lich prä sentierten  sich die Wirtschaft und der lebensstandard in der DDR auf deutlich höherem  niveau  als  in  der  UdSSR.  tatsächlich  wa ren  die  ungelö sten  Probleme  der  DDR  an de  re  als  die  sowjetischen. aber  die  vermeintliche  „Überlegenheit“  verhinderte in der Führungs riege um honecker selbst angesichts der augenschein lichen wirt schaft li chen Schwie rig keiten jeden Gedanken an eine Wirtschaftsreform. So ver kün dete der SED-chef im Politbüro Ende 1987:  „Wir  brauchen  keine  neue  theorie  für  die  Ent wick lung  der  Planwirtschaft  der  DDR.  Be währ tes muß man weiterführen, was uns hemmt, muß man ab stoßen. Klar ist, daß wir  die Bevöl ke rung hinter uns haben. Wenn wir aber die vor lie gen den Sig nale nicht verstehen, wer den wir das Vertrauen nicht erhalten.“57 

Offensichtlich aber verstand man die Signale nicht. Re for men kamen nicht in  Frage, weil man mögliche politische Konsequen zen fürchtete. In einer Beratung  bei  honecker  konstatierte  das  für  handel  und  Versorgung  zu stän dige  Politbü ro mitglied un widersprochen: „niemand [in den anderen Ostblockländern]  hat  mit  soge nannten  Wirtschaftsreformen  bessere  lösungen  erreicht.  Schulden haben sie alle, aber gleich zeitig wur de die Vertrauensbasis und der  Optimismus zerstört. Wir müssen die DDR sta bil halten.“58 al ler dings wären  wohl die für eine Reform erforderlichen ökonomischen Spiel räu me nur mit  Unterstützung der Bundesrepublik zu schaffen gewesen, da sich die Sowjetunion  in  der  zwei ten  hälfte  der  achtziger  Jahre  zunehmend  aus  ihren  Verpflichtungen gegenüber ihren Ver bündeten löste. außerdem war nach den Erfahrungen  der  sechziger  Jah re  ein  aufschwung   wohl  nur  durch  eine  konsequen te re  Flexibilisierung  der  Systemsteuerung,  durch  den  weitge henden  Rückzug des Staates und der Zentrale zu erreichen. Doch das lag jenseits  dessen, was die SED-Spitze im Interesse ihres eigenen Macht erhalts zu lassen  konnte, denn es hätte das Gesamt sy stem auf gehoben. So gesehen folgte die in  den achtziger Jahren zu neh mende Iso lie rung der SED-Spitze im Ostblock als  hort der Orthodoxie einer gewissen logik.

57  niederschrift über die Beratung des Politbüros zum Entwurf des Volkswirtschaftsplanes  und des Staatshaushaltsplanes 1988 am 17.11.1987, in: SaPMO-Ba DY30/3755. 58  [Wenzel:] arbeitsniederschrift über eine Beratung beim Generalsekretär (…), 6.9.1988,  in: SaPMO-Ba DY30/3755.

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Während die DDR-Bürger angesichts von Glasnost und Perestroika in der  Sowjetunion auf ein verjüngtes SED-Politbüro und von ihm angestoßene Reformen hofften, blieb es beim Status quo des etablierten Systems. Das handeln der Betriebe und Kombi na te und auch in den zen tra len Instanzen konzentrierte sich daher in den achtziger Jahren in erster linie auf die Be wältigung der wechselnden binnen- und außen wirt schaft lich verursachten klei nen  und großen Krisen. Je größer die Schwierigkeiten desto mehr verstärkte die  Zentrale ihre Kontrolle. Das aber lud die Führungskräfte in den Betrie ben und  auf den mittleren Ebenen noch mehr als früher da zu ein, ihr Zahlenwerk zu  ma nipulieren, was wieder um die Effizienz der Kontrolle verringerte. Seit den  siebziger Jahren kam es bereits zunehmend auf Impro vi sation an und für das  Füh rungs per so nal  war  es  eine  „Pha se  des  ‚Durchwurstelns‘  und  vielfachen  Impro vi sierens, aber auch Re sig nierens“.59 Wirtschaftlich litt die DDR aber an einer zunehmenden auszehrung. Die  Konzentration der vorhandenen Ressourcen auf Schwer punk te, wie das Mikroelektronikprogramm, verstärkten das, da dadurch großen teilen der Wirtschaft die Erweiterungs-, ja sogar die Ersatzmittel entzogen wurden. auch die  Schäden  an  der  Umwelt  nahmen  zu.  Die  lebenslage  der  Bevölke rung  verschlechterte sich durch die immer größer wer denden lücken in der Versorgung. Zwar stieg die aus stattung der haus hal te mit technischen Konsumgütern, sie blieb aber im Ver gleich mit den – aus dem Westfernsehen, den Intershops oder von Reisen in die Bundesre publik bekannten – west li chen an geboten  qua litativ  und  quan titativ  entscheidend  zurück.  Viele  moderne  Konsum gü ter waren zudem überhaupt nicht zu erhalten. neue und zunehmende  ansprüche der nach wach sen den Ge ne rationen konnten nicht mehr befriedigt  werden.60 Die Pro duk tivität der DDR lag an ihrem Ende etwa zwei Drittel hinter der  der  Bun des republik  zurück.61  Die  Vergröße rung  des  Rück standes  aber  seit  anfang der fünfziger Jahre, wo er noch ein Drittel betragen hatte, war in er ster  linie dem Wirtschaftssystem zuzuschreiben. Die Start bedingungen konnten  dafür nur noch sehr vermittelt verantwortlich gemacht werden. Das eine Drittel, um die sich die lücke er wei terte, gibt einen Eindruck von den dem System  geschulde ten  Wachstumsverlusten.  Insofern  war  ohne  durchgreifende  59  PeteR hüBNeR: Industrielle Manager in der SBZ/DDR. Sozial- und mentalitätsgeschichtliche aspekte, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 55–80, hier 74. 60  a. steiNeR, Plan (wie anm. 4), S. 235-251. 61  Eine  Zusammenfassung  des  entsprechenden  älteren  Forschungsstandes  in:  aLBRecht  RitschL: aufstieg und niedergang der Wirtschaft der DDR: Ein Zahlenbild 1945-1989,  in: Jahrbuch für Wirtschafts geschichte 1995/2, S. 11-46, hier S. 16. neuere Versuche,  die volkswirtschaftliche Gesamtleistung der DDR zu schätzen, sind problematisch. Vgl.  geRhaRd hesKe: Volkswirtschaftliche  Gesamtrechnung  DDR  1950–1989.  Daten,  Methoden, Vergleiche, Köln 2009; jaaP sLeifeR: Planning ahead and Falling Behind. the  East German Economy in comparison with West Germany 1936-2002, Berlin 2006.

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Ver än de rung der wirtschaftlichen Sy stem be dingungen der öko nomische Zusam menbruch ab zusehen. Ein sol cher Wandel aber hätte sich wohl nicht auf  eine lockerung der bestehenden Rigiditäten des Sy stem beschränken dürfen,  wie  beispielsweise  eine  etwas  pluralere  politische  herrschaft  und  we ni ger  zentrali stische  Wirtschaftslenkung  bei  größerer  Vielfalt  der  Eigentumsformen. Da mit war die Plan wirtschaft nicht nachhaltig ef fi zienter zu machen und  genau das war jedoch un ter den Bedin gungen der unausweichlichen Konkurrenz mit marktwirt schaftlich verfassten Syste men not wendig. Weitergehende  Schritte mussten dann aber über die Grenzen der Planwirtschaft hin ausweisen.  Damit aber wäre die Exi stenzberechtigung der DDR als eigener Staat neben  der  Bun desrepu blik  aufgeho ben  worden.  Im  Sommer,  herbst  1989  war  jedoch die ohnehin stets fragwürdige po li ti sche legitimität des Sy stems auch  durch die mit den händen zu greifende wirtschaftliche Schwäche verbraucht.  Die Un fähigkeit, den wachsenden Konsumansprüchen der Be völkerung quantitativ  und  qualitativ  zu  ge nügen,  und  eine  Kumulation  politischer  Fehlentscheidungen beschleunigte den niedergang und trug mit zum politischen  Um bruch des herbstes 1989 bei, der schließlich zum Fall der Berliner Mauer  im november 1989 führte und damit die Exi stenz der DDR als einer (relativ)  geschlossenen Volkswirtschaft beendete.

III. Bilanz und Ausblick

hat DIE DEUtSchE EInhEIt DIE SOZIalE MaRKtWIRtSchaFt  VERÄnDERt? EInE ZWISchEnBIlanZ 1990–2010 Karl-Heinz Paqué Die Berliner Mauer fiel am 9. november 1989. Knapp ein Jahr später wurde  Deutschland wiedervereinigt. Beides war ökonomisch ein Sieg der westdeutschen Ordnung – „Soziale Marktwirtschaft“ genannt – über die sozialistische  Planwirtschaft. Es folgte über zwei Jahrzehnte lang das, was die Politik „aufbau Ost“ nennt. Dieser ist bis heute nicht abgeschlossen, aber er hat längst die  ostdeutsche  Wirtschaft  radikal  verändert  und  in  die  neue  gesamtdeutsche  Wirtschaft  eingegliedert.  Der  Prozess  der  anpassung  erhielt  den  namen  „transformation“: Die sozialistische Planwirtschaft verschwand, die Soziale  Marktwirtschaft kam. Diese anpassung war radikal und spektakulär. historiker werden vielleicht eines tages feststellen, dass es eine der schnellsten und  dramatischsten Umwälzungen war, die jemals in einem Industrieland stattfanden. Ob sie auch erfolgreich war, darüber wird bis heute intensiv diskutiert –  offen, laut, kontrovers. Die „transformation“ der ostdeutschen Wirtschaft und ihre Folgen sind das  thema dieses Beitrags. Die zentralen Botschaften lauten: •  Die  transformation  war  erfolgreich.  Sie  war  es  jedenfalls  dann,  wenn  man sie an dem politisch, wirtschaftlich und sozial Möglichen misst – und  nicht  an  einer  utopischen  traumvorstellung,  wie  sie  auch  aus  wissenschaftlichen Modellwelten entstehen kann. •  Die transformation hat die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland stark  verändert.  Sie  hat  einen  Problemdruck  massiv  verschärft,  der  ohnehin  durch  die  Globalisierung  bestand.  Wirtschaft  und  Politik  haben  darauf  reagiert, wenn auch mit Verzögerungen. Der Beitrag besteht aus drei teilen. Im ersten teil präsentiere und bewerte ich  die  zentralen  wirtschaftspolitischen  Weichenstellungen  der  Deutschen  Einheit.  Mein  Ergebnis  wird  sein:  Sie  waren  richtig.  Es  gab  keine  realistische  alternative,  weil  die  Mobilität  der  Menschen  in  unmittelbarer  nähe  zum  westlichen Wohlstand jedes zeitliche und sachliche Strecken der transformation unmöglich machte. Sodann fasse ich zusammen, wo wir heute stehen –  nach gut zwanzig Jahren aufbau Ost. Mein Ergebnis wird sein: Wir haben viel  erreicht, aber manches auch nicht. Vor allem: keine West-Ost-angleichung.  Die ostdeutsche Industrie ist noch immer zu weiten teilen eine verlängerte  Werkbank, allerdings eine mit hoher Wettbewerbsfähigkeit.

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Karl-heinz Paqué

Im zweiten teil des Beitrags untersuche ich, in welchen zentralen Punkten sich die Soziale Marktwirtschaft im Zuge der letzten beiden Dekaden für  Deutschland insgesamt verändert hat. Mein Ergebnis wird sein: Sie hat sich  tatsächlich verändert, vor allem hat sie an Flexibilität gewonnen. Vereinfacht  formuliert: Die Soziale Marktwirtschaft hat sich ein Stück weit dem angloamerikanischen Wirtschaftsmodell angenähert, ohne allerdings ihre Identität  aufzugeben. Und dies geschah vor allem wegen des inneren Drucks der Problemlage im wiedervereinigten Deutschland, bei gleichzeitigem äußeren Druck  der Globalisierung. Kernpunkte der Veränderung sind dabei die massive lockerung  des  Flächentarifvertrags  und  erste ansätze  zur  Reform  des  Sozialstaats. Diese Entwicklung hat die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf Dauer verbessert. Das „Modell Deutschland“ wurde dadurch revitalisiert, eine für sich genommen überaus positive Entwicklung. Im dritten, dem spekulativen teil des Beitrags prüfe ich, welche Rückwirkungen diese Entwicklung auf Europa haben könnte. Diese Rückwirkungen  sind  überaus  zweischneidig,  wie  schon  die  derzeitige  Schuldenkrise  eindrucksvoll belegt. Vieles deutet darauf hin, dass dahinter eine grundsätzliche  Veränderung steht, und zwar das Ende einer wirtschaftlichen Konvergenz, die  über Jahrzehnte andauerte und das politische Klima maßgeblich positiv beeinflusste.  I. Wiedervereinigung und aufbau Ost1 1. Der Weg Der Fall der Berliner Mauer war nicht nur ein großartiger triumph der Freiheit. Er war auch ein lautes Startsignal der Mobilität. ab diesem tag konnte  jeder ostdeutsche arbeitnehmer als deutscher Staatsbürger in den nahegelegenen Westen abwandern. Die Verlockung war sehr groß, dies auch zu tun, denn  es gab kaum natürliche hindernisse: gleiche Sprache, gleiche Kultur, gleiche  industrielle tradition. aber im Westen gab es einen hochmodernen Kapitalstock, eine im Weltmarkt bewährte Produktpalette, recht sichere arbeitsplätze  und vor allem hohe löhne, die im globalen Vergleich mit an der Spitze lagen.  Der kapitalistische Westen war attraktiv für Millionen Ostdeutsche, vor allem  für die Fachkräfte und leistungsträger unter ihnen. Genau dies schränkte das politisch Mögliche nach dem Mauerfall stark  ein. theoretisch war es natürlich vorstellbar, eine Massenwanderung zuzulassen.  Dies  hätte  bedeutet:  „Erweiterung  West“  statt  „aufbau  Ost“.  Es  hätte  1 

Wesentliche aussagen  des  folgenden  ersten teils  finden  sich  in  ausführlicherer  Form  und mit detaillierten angaben zur literatur in KaRL-heiNz Paqué: Die Bilanz. Eine wirtschaftliche analyse der Deutschen Einheit, München 2009.

hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?

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vielleicht sogar recht gut funktioniert, so wie die Integration der Vertriebenen  in Westdeutschland in den 1950er Jahren, die ja ein Wirtschaftswunder befeuerte. Es wäre im Westen zu einem Investitions- und Bauboom gekommen –  bei vorübergehendem Druck auf die Reallöhne, aber mit schneller Erweiterung der bereits vorhandenen leistungsfähigen Industrieanlagen. all dies war  ökonomisch denkbar. Politisch lag es aber jenseits aller Vorstellungskraft: ein  „Morgenthauplan Ost“ mit den ehemals stolzen mitteldeutschen Industrieregionen als Rentnerparadies, grünem Biotop und landwirtschaftlicher nutzfläche – das wäre eine historische und soziale Bankrotterklärung der nation gewesen. Es gab deshalb für die deutsche Politik ein ceterum censeo (frei nach  cato dem Älteren): „Und im Übrigen muss eine massive abwanderung von  Ost nach West verhindert werden!“ Damit  hätte  eigentlich  jedem  klar  sein  müssen:  Die  Deutsche  Einheit  würde extrem schwierig und sehr teuer. Denn jede wichtige politische Entscheidung hatte fortan drei Grundbedingungen zu erfüllen: Sie musste schnell  sein; sie musste Vertrauen schaffen; und sie musste löhne in aussicht stellen,  die  nicht  allzu  weit  unter  dem  westdeutschen  niveau  liegen.  nur  so  lassen  sich die drei großen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen verstehen, die  das Jahr 1990 mit sich brachte: die Wirtschafts- und Währungsunion, die Einrichtung der treuhandanstalt und der Beginn einer massiven Wirtschaftsförderung. Mitte 1990 wurde im Osten die D-Mark eingeführt. Von nun an gab es  eine überaus stabile Währung. Dies war ein wichtiger Schritt der Vertrauensbildung, was inzwischen weithin anerkannt ist. Kritisiert wird die Währungsunion allerdings bis heute dafür, dass sie angeblich durch den Umstellungskurs von Mark (Ost) zu D-Mark von eins zu eins zu einer drastischen Erhöhung der lohnkosten im Osten führte – und damit zu einem ruckartigen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Industrie. tatsächlich betrug  das lohnniveau des Ostens nach der Umstellung etwa ein Drittel des Westens.  Ohne Zweifel hätte ein Umrechungskurs von, sagen wir, zwei Mark (Ost) für  eine D-Mark rein arithmetisch die arbeit im Osten verbilligt, auf ein Sechstel  des Westniveaus. Die Frage ist allerdings: Für wie lange? In Magdeburg, Erfurt und chemnitz ein lohn von einem Sechstel des niveaus von hannover,  Kassel  und  nürnberg?  Das  ist,  wenn arbeitnehmer  mobil  sind,  bestenfalls  träumerei. Selbst das Drittel des Westniveaus erwies sich ja schnell als unhaltbar. nur mit staatlichen lohnkontrollen und massiven Mobilitätsbarrieren  wäre ein anstieg der löhne und ein anschwellen der abwanderung zu verhindern gewesen. Dies hätte bedeutet: eine neue Mauer, und das kam nicht in  Frage. Insofern ist die Kritik am Umstellungskurs der Währungsunion auch  im Rückblick realitätsfern. Ähnliches gilt für die Politik der zügigen Privatisierung. Die treuhandanstalt  als  Wirtschaftsholding  des  Ostens  wurde  nach  der  Wiedervereinigung  mit einem Mandat zum möglichst schnellen Verkauf der staatlichen Betriebe 

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und Vermögen ausgestattet. Sie arbeitete dann auch in Rekordgeschwindigkeit. Bei ihrer auflösung Ende 1994 war der Großteil der 14.000 Unternehmen beziehungsweise Unternehmensteile privatisiert. Es war ein gigantischer  Kraftakt – und nicht ohne Erfolg. Es gelang der treuhand, einen zukunftsfähigen, industriellen Kern zu schaffen. Die Investitions- und Beschäftigungszusagen wurden im Wesentlichen eingehalten, zum teil sogar übererfüllt. Die  Geschäftsmodelle der Erwerber – ob auswärtige Firmen oder frühere Manager – erwiesen sich in der großen Mehrzahl der Fälle als tragfähig. Ein beträchtlicher teil der ostdeutschen Industriebetriebe, die heute rentabel arbeiten, stammt aus ehemaligen Unternehmen der treuhandanstalt. hinzu kommt  eine leistung, die heute oft übersehen wird: Es gab keine massenhafte Dauersubventionierung von maroden Industriestätten. Genau vor diesem horrorszenario hatten viele Ökonomen zu Recht gewarnt.  auf der negativseite der treuhandbilanz standen schließlich ein Defizit  von über 200 Milliarden D-Mark zu lasten des Steuerzahlers und der abbau  von etwa 2,5 Millionen industriellen arbeitsplätzen. hinzu kamen kriminelle  Machenschaften und eine schwere Diskreditierung in teilen der ostdeutschen  Bevölkerung. Emotional war dies verständlich, denn es lag nahe, dem wirtschaftlichen aufräumkommando die Schuld für verlorene arbeitsplätze anzulasten, zumal die Praktiken der treuhandanstalt vor Ort nicht immer den nötigen Respekt vor der lebensleistung der Menschen im Sozialismus erkennen  ließen.  Volkswirtschaftlich sehen die Dinge allerdings anders aus. Die treuhandanstalt übernahm einen industriellen Kapitalstock, der sich fast durchweg als  marode, verschlissen und veraltet herausstellte. Viel schlimmer noch war die  tatsache, dass nur wenige Industrieunternehmen Markenprodukte vorweisen  konnten, die bei radikaler Modernisierung des Kapitalbestandes auf dem nationalen und globalen Markt noch eine absatzchance hatten, und zwar zu einem Preis, der die Deckung der Kosten und angemessenen Gewinn erlaubte.  Wo es solche Produkte doch gab, lief der Prozess recht reibungslos. So konnten zum Beispiel in der Ernährungswirtschaft Brauereien mit berühmten Marken aus der Vorkriegszeit („Radeberger Pils“, „Köstritzer Schwarzbier“) zügig verkauft werden, und die Biere tauchten schnell und erfolgreich in modernisiertem Gewand auf dem gesamtdeutschen Markt wieder auf. In den Investitionsgüter- und Grundstoffindustrien (also von Fahrzeug- und Maschinenbau über die Feinmechanik und Elektrotechnik bis hin zur chemie) war dies  sehr  viel  schwieriger.  hier  zeigte  sich  der  Flurschaden  des  Sozialismus  in  seiner ganzen tragweite: In den vier Jahrzehnten der abschottung vom Weltmarkt  hatten  längst  westliche  Konkurrenten  alle  Marktnischen  der  technischen Spezialisierung besetzt. Selbst die besten Ingenieure waren nur selten  in der lage, aus dem Bestand der Produkte in absehbarer Zeit neues und Innovatives zu entwickeln.

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tatsächlich liegt es im Rückblick nahe, das ausmaß von treuhanddefizit  und Personalabbau als jenen Preis des Sozialismus zu interpretieren, den die  Wirtschaft Ostdeutschlands entrichten musste, um in der laufenden Globalisierung überhaupt noch einmal am Weltmarkt Fuß zu fassen. Weil die ostdeutschen arbeitnehmer stets die alternative hatten, im Westen zu arbeiten, war es  nicht möglich, in gelassener Ruhe jenen teil der Industrie zu erhalten, dessen  Produktpalette am Weltmarkt nur einen sehr kleinen Bruchteil der westdeutschen Wertschöpfung pro arbeitsplatz erwirtschaftete. Dieser teil der Industrie musste – anders als in Mittel- und Osteuropa – unter dem Druck der Verhältnisse  verschwinden.  Es  gab  einfach  nicht  die  Option  des  evolutionären  Wandels, mit Industrielöhnen wie in tschechien, der Slowakei, Ungarn und  Polen, die damals bei unter 20 Prozent des westdeutschen niveaus lagen und  selbst heute noch 30 Prozent nicht überschreiten. Stattdessen musste ein revolutionärer Umbruch stattfinden. Und die treuhandanstalt war der agent dieser  Revolution. Parallel zur treuhandaktivität lief die Wirtschaftsförderung an, und zwar  massiv:  ausbau  und  Renovierung  der  Infrastruktur  sowie  Förderung  von  neuansiedlungen und Erweiterungsinvestitionen der Industrie. Die Förderung  wirkte. Es gab zunächst einen Boom der Bauwirtschaft, der zügig zur Erneuerung  des  Baubestands  führte,  dabei  allerdings  auch  längerfristig  zu  hohen  leerständen, weshalb die Förderung zu Recht immer stärker auf das verarbeitende  Gewerbe  konzentriert  wurde.  Ökonomen  übten  wiederholt  Kritik  an  Einzelheiten der Förderung. Vor allem die starke Fixierung auf Investitionen  wurde bemängelt, weil sie zu einem überhöhten Kapitaleinsatz pro arbeitsplatz verleitete. Ob sie tatsächlich zu Fehlentwicklungen führte, ist bis heute  strittig; die empirische Evidenz bleibt unklar. andererseits gab es gewichtige  praktische  argumente  für  die  Beschränkung  auf  die  Investitionsförderung,  denn nur sie erlaubte eine scharfe trennung zwischen einmaliger Förderung  und der anschließend folgenden Produktion, die unsubventioniert blieb. Dies  half,  den  politischen  Druck  in  Richtung  Dauersubventionen  (der  horrorvision) in Grenzen zu halten. Dem Bauboom folgte ein kräftiges Wachstum der  industriellen Wertschöpfung, das bis 2008 anhielt und seit einigen Jahren sogar wieder die Beschäftigung ein Stück weit nach oben zog. 2. Das Erreichte Was hat der aufbau Ost gebracht? Zunächst ganz klar: eine Re-Industrialisierung des Ostens. Im Jahr 1992 wurde noch gerade mal 3,5 Prozent der gesamtdeutschen  Industrieproduktion  im  Osten  erstellt,  und  dies  weitgehend  von  hoch  subventionierten treuhandbetrieben.  Im  Jahr  2008  lag  der anteil  Ostdeutschlands an der gesamtdeutschen Industrieproduktion wieder bei fast 

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10 Prozent.2 Während die Bauwirtschaft seit Mitte der 1990er Jahre kontinuierlich schrumpfte, holte das verarbeitende Gewerbe auf. auch in der wirtschaftlichen leistungskraft gab es deutliche Fortschritte.  Ein ostdeutscher Industriebeschäftigter erwirtschaftet heute pro Jahr fast 80  Prozent  der  Wertschöpfung  seines  westdeutschen  Kollegen;  1991  waren  es  weniger als ein Viertel, um die Jahrtausendwende etwa Zweidrittel. Von einer  Stagnation des aufholprozesses, die oft behauptet wird, kann also keine Rede  sein, zumindest nicht für die Industrie. Gesamtwirtschaftlich dagegen verlief  der Zuwachs der Produktivität in jüngerer Zeit schleppend, nach anfänglich  rasantem tempo. Dies liegt aber vor allem an der Schrumpfung der Bauwirtschaft, der Stagnation der Dienstleistungsgewerbe und dem Rückgang staatlicher aktivität. Dabei handelt es sich um notwendige anpassungen: nur durch  einen  Strukturwandel  weg  von  der  binnenmarktorientierten Produktion  von  Bauleistungen und Diensten hin zum exportfähigen verarbeitenden Gewerbe  kann der Osten aus seiner transferabhängigkeit herauswachsen. Der Motor  des  Wachstums  muss  die  weltmarktorientierte  Industrie  sein.  Die  Entwicklung der letzten Jahre geht deshalb volkswirtschaftlich in die absolut richtige  Richtung. Die  Folgen  dieser  Entwicklungen  zeigen  sich  seit  einigen  Jahren  auch  sehr  deutlich  in  dem,  was  man  die  gesamtwirtliche  „leistungsbilanz“  Ostdeutschlands nennen könnte, also die Differenz zwischen dem Wert der Produktion und des Verbrauchs. Diese „leistungsbilanz“ wies in den 1990er Jahren riesige Defizite auf, und zwar jährlich in der Größenordung von 100 Milliarden Euro. Im Jahr 2006 betrug das Defizit noch 31 Milliarden Euro, seither  ist es noch weiter geschrumpft. Dieser nachhaltige Fortschritt erklärt sich in  erster  linie  aus  der  kräftigen  Zunahme  der  industriellen  Produktion,  aber  auch aus der Konsolidierung der öffentlichen (und privaten) ausgaben in den  ostdeutschen ländern. Was an Defizit derzeit noch übrig bleibt, resultiert aus  den  West-Ost-transfers  innerhalb  des  Renten-  und  Sozialsystems,  die  auf  Rechtsansprüchen beruhen. Bei allen Fortschritten der Industrie verbleibt derzeit noch ein zählebiges  innerdeutsches  Produktivitätsgefälle.  Im  Jahr  2008  betrug  die  Bruttowertschöpfung pro Erwerbstätigen 78,3 Prozent des Westens; pro arbeitsstunde  waren es 71,0 Prozent, da die arbeitszeit in der ostdeutschen Industrie rund 10  Prozent höher liegt als im Westen. Wie lässt sich dieser Rückstand erklären?  alle  Indizien  sprechen  dafür,  dass  der  hauptgrund  in  der art  der  Produkte  liegt, die im Osten hergestellt werden. Diese weisen offenbar charakteristika  2 

Wir wählen hier und im Folgenden, soweit möglich, stets das Jahr 2008 für eine Zwischenbilanz, da dieses das letzte Jahr ist vor der weltweiten Finanz- und Konjunkturkrise, die auch die innerdeutschen Strukturdaten vorübergehend verzerrt, und zwar zu  Gunsten des Ostens, weil die großen westlichen Industriezentren besonders hart getroffen wurden. Diese sind aber schon dabei, sich besonders dynamisch von der Krise zu  erholen.

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auf,  die  im  Durchschnitt  eine  niedrigere  Wertschöpfung  pro arbeitseinsatz  erzielen als ihre westlichen Gegenstücke. So bleibt die industrielle Forschung  und Entwicklung (F&E) immer noch sehr stark auf den Westen Deutschlands  konzentriert. Im Jahr 2006 lag der anteil der Erwerbstätigen, die in F&E tätig  sind, in Ostdeutschland mit 0,43 Prozent nur etwa bei der hälfte des westdeutschen  niveaus  von  0,88  Prozent.  Diese  anteile  haben  sich  seit  Mitte  der  1990er Jahre kaum verändert. Die Re-Industrialisierung des Ostens war also  bisher nicht mit einer stärkeren Forschungsorientierung verbunden. auch die  Exportausrichtung ist in Ostdeutschland noch immer schwächer als im Westen, wenngleich sich der abstand in den letzten Jahren deutlich verringert hat.  Im Jahr 2008 lag die Exportquote im Westen bei fast 46 Prozent, im Osten bei  etwa 33 Prozent, nach nur 12 Prozent noch Mitte der 1990er Jahre. Schließlich arbeitet die ostdeutsche Industrie im Durchschnitt in außerordentlich kleinen betrieblichen Einheiten. auch dies ist derzeit noch ein gravierender struktureller nachteil.  all dies führt zu einer einfachen Schlussfolgerung: Die ostdeutsche Industrie ist noch immer zum Großteil eine verlängerte Werkbank des Westens.  Die Direktinvestitionen westlicher Firmen haben viel gebracht an Modernität  und Effizienz, aber wenig an Brutstätten des Wissens und industrieller Innovationskraft. Obendrein ist die ostdeutsche Industrie noch nicht groß genug,  um den Produktivitäts- und Einkommensabstand zum Westen auch in den Bereichen  lokaler  Dienstleistungen  deutlich  zu  verringern.  Kurzum:  Sie  hat  Fortschritte gemacht, aber der Weg ist noch lange nicht zu Ende. Ein teilerfolg – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dabei bedeutet die strukturelle Schwäche der ostdeutschen Industrie keineswegs einen Mangel an Wettbewerbsfähigkeit. allerdings liegt dies vor allem an einem lohnniveau, das seit über zehn Jahren bei 67–68 Prozent des  Westniveaus  verharrt.  Die  ostdeutschen  Industrielöhne  sind  also  fast  exakt  dem  westdeutschen trend  gefolgt  –  und  nicht  dem  sehr  viel  steileren aufwärtstrend  der arbeitsproduktivität  im  Osten.  Entsprechend  sind  die  lohnstückkosten, definiert als das Verhältnis von arbeitskosten zu arbeitsproduktivität, relativ zum Westen kontinuierlich gesunken. Im Jahr 2008 lagen sie im  verarbeitenden Gewerbe bei 86 Prozent des Westniveaus. Industriell ist also  der Osten – was die lohnstückkosten betrifft – ein überaus wettbewerbsfähiger Standort geworden, trotz des fortdauernden Rückstands der Produktivität.  Der hauptgrund für diese Entwicklung liegt in der Erosion des Flächentarifvertrags. Wir werden in abschnitt II.2. dieses Beitrags ausführlich darauf zurückkommen. Was ist der aufbau Ost wirtschaftlich wert? Zweifellos hat er geholfen,  das ausbluten des Ostens durch abwanderung drastisch einzudämmen, wenngleich auch heute noch pro Jahr rund 50.000 Menschen mehr die Region verlassen als zuwandern. ansonsten hilft ein Seitenblick zu den mitteleuropäischen  nachbarländern,  um  die  leistung  des aufbaus  Ost  zu  ermessen. Vor 

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allem nach tschechien, einem land, das als hochentwickelte Industrieregion  sowohl in der Zwischenkriegszeit als auch in den vierzig Jahren der sozialistischen abschottung die größte strukturelle Ähnlichkeit mit Ostdeutschland  hatte. Wo steht die tschechische Industrie heute? Die antwort lautet für 2007:  bei etwa 31 Prozent der arbeitsproduktivität von West- und 41 Prozent von  Ostdeutschland, und damit wohl viel niedriger als in der Zwischenkriegszeit.  Klar ist: tschechien hatte keinen „aufbau Ost“ im Sinne eines massiven staatlichen Programms und privater Direktinvestitionen durch einen benachbarten  kapitalistischen  Westen  innerhalb  derselben  nation.  Insofern  ist  der  Rückstand nicht verwunderlich. allerdings zeigt er auch, wie schwierig die postsozialistische aufgabe des aufholens gegenüber dem Westen offenbar ist. Viel  schwieriger jedenfalls, als anfang der 1990er Jahre erwartet wurde. Der Sozialismus wirkt wirtschaftlich überall lange und tiefgreifend nach. Ostdeutschland hat einen guten Mittelfeldplatz erobert – ein Stück weg noch vom Westen,  aber  ein  großes  Stück  vor  den  postsozialistischen  nachbarländern  aus  Mitteleuropa. hierin vor allem liegt der Wert des aufbaus Ost. Die  Frage  lautet  heute:  Was  kann  die  Wirtschaftspolitik  tun,  um  Ostdeutschland weiter voranzubringen? Sie muss versuchen, die Industrie im Osten zu stärken, und zwar in Größe und Produktivität. Dies muss die Priorität  der Politik werden. Dabei bedarf es einer Umschichtung von Mitteln: weg von  Projekten der Infrastruktur und arbeitsbeschaffung und hin zu Maßnahmen,  die  der  ostdeutschen  Industrie  zu  mehr  Innovationskraft  verhelfen.  Es  geht  dabei vor allem um das Entstehen neuer Zentren der privaten Forschung im  Zusammenspiel mit öffentlichen Wissenschaftseinrichtungen, die sich zu industriellen  Ballungszentren  verdichten  können.  Erste ansätze  dazu  gibt  es,  zum Beispiel in der Mikroelektronik im Raum Dresden und in der Photovoltaik im Raum Bitterfeld-Wolfen. Erheblich mehr muss folgen.  Bei dieser Umorientierung sind alle politischen Ebenen des bundesdeutschen  Föderalismus  gefordert.  Die  Bundespolitik  muss  darauf  hinwirken,  dass wissenschaftspolitische Exzellenzprogramme keine negativen regionalpolitischen nebeneffekte haben. Der Osten – und im Übrigen auch der norden – dürfen nicht wegen ihrer weit schwierigeren Startposition von der Entwicklung  neuer  Schwerpunkte  öffentlicher  und  privater  Forschungszusammenarbeit  abgehängt  werden.  Daneben  muss  das  hohe  Maß  an  Flexibilität  und Betriebsnähe, das die ostdeutsche Industrie auszeichnet, als besonderer  Standortvorteil erhalten bleiben. Jede Form der Re-Regulierung des arbeitsmarkts (zum Beispiel durch flächendeckende Mindestlöhne) ist dabei schädlich.  Die  landes-  und  Kommunalpolitik  muss  weiter  standortpolitische  Schwerpunkte setzen, die vielversprechende Ballungsvorteile von Industrien  gewährleisten,  ohne  die  chancen  für  neue  Entwicklungen  zu  verschließen.  Und sie muss die Förderung darauf richten, die private Forschung und Entwicklung  in  der  Region  zu  stärken.  Die  kommunalen  Entscheidungsträger 

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brauchen  Freiräume,  um  bei  der anwerbung  von  Investoren  mit  westdeutschen und ausländischen Städten und Gemeinden konkurrieren zu können. Es  geht  also  um  eine  Mischung  von  anspruchsvoller  Innovationsförderung, einfacher anwerbung von Investoren und pragmatischer Stärkung des  vorhandenen industriellen Mittelstands. Dies ist eine moderne Industriepolitik – nicht branchenspezifisch, aber branchenbewusst und zukunftsorientiert.  auch  von  dieser  Mischung  darf  man  sich  natürlich  keine  Wunder  versprechen.  Es  ist  eben  eine  langwierige aufgabe,  die  Flurschäden  der  Planwirtschaft zu beseitigen. II. Dynamik der Sozialen Marktwirtschaft 1. Das Erbe der 1980er Jahre Eine Soziale Marktwirtschaft, wie sie in der tradition des deutschen Ordoliberalismus konzipiert wurde, besteht aus einer Reihe von konstitutiven Elementen. Es lässt sich trefflich darüber streiten, welche Elemente im Einzelnen  dazugehören  und  wie  sie  ausgestaltet  sein  sollten.  Unstrittig  ist  allerdings,  dass  zwei  Elemente  von  wesentlicher  Bedeutung  sind:  die  tarifautonomie  und der Sozialstaat. In beiderlei hinsicht gab es im Westdeutschland der 1980er Jahre, also im  Jahrzehnt vor der Deutschen Einheit, eine intensive Diskussion darüber, ob  die Soziale Marktwirtschaft in der Krise stecke. Erinnern wir uns:3 Der stufenweise anstieg der arbeitslosigkeit im Zuge der beiden Ölkrisen 1973/74  und 1979/80, gefolgt von den weltweiten Rezessionen 1974/75 und 1981/1983,  hatte den arbeitsmarkt ganz grundsätzlich verändert. In fast allen marktwirtschaftlichen Industrieländern Europas gab es fortan auf Dauer – und nicht nur  in Rezessionen – eine krasse Unterbeschäftigung. am meisten Sorgen bereitete die völlig neue tatsache, dass ein beträchtlicher teil entlassener Industriearbeiter  überhaupt  nicht  mehr  den Weg  in  die  Beschäftigung  zurückfand  und zum „Sockel“ der langzeitarbeitslosigkeit wurde. Es entstand eine „gespaltene Gesellschaft“ mit einem zweigeteilten, segmentierten arbeitsmarkt. Die  neue  lage  wurde  damals  schnell  als  zentrale  herausforderung  erkannt – zum einen für die Wirtschaftspolitik, zum anderen für die tarifautonomie und den Sozialstaat. Was die tarifautonomie betraf, beklagten vor al3 

Zur Krise der Sozialen Marktwirtschaft in den 1980er Jahren, bedingt durch die Entwicklung  am arbeitsmarkt,  siehe  im  Detail:  heRBeRt gieRsch / KaRL-heiNz Paqué / hoLgeR schmiediNg: the  Fading  Miracle.  Four  Decades  of  Market  Economy  in  Germany, cambridge 1994. Speziell zu arbeitsmarkt und tarifautonomie mit ausführlicher  analyse der theoretischen Konzepte, die damals zur Erklärung entwickelt wurden, sowie der empirischen Evidenz: KaRL-heiNz Paqué: Structural Unemployment and Real  Wage Rigidity in Germany, Kieler Studien 301, tübingen 1999. 

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lem liberale Ökonomen, dass die tarifpartner nur die Interessen derjenigen  vertraten, die tatsächlich in den Gewerkschaften und den arbeitgeberverbänden Stimme und Einfluss hatten (die „Insider“). Dies waren auf der arbeitnehmerseite die tatsächlich Beschäftigten, nicht die arbeitslosen und schon gar  nicht die langzeitarbeitslosen, deren Kontakt zu den Gewerkschaften oft völlig  verlorenging. auf  der arbeitgeberseite  waren  es  die  starken  etablierten  Unternehmen  und  nicht  die  jungen  Start-ups,  die  in  Verbänden  noch  keine  lobby  hatten.  Die  Interessen  der  „Outsider“  blieben  also  unberücksichtigt,  und zwar auf beiden Seiten des arbeitsmarkts. Die Folge war ein Fehlen von  (niedrigen) Einstiegslöhnen, die es strukturell benachteiligten arbeitskräften  erlaubt hätten, den Weg in Beschäftigung zurückzufinden, und die es neuen  arbeitgebern ermöglicht hätten, durch niedrige Kosten wettbewerbsfähig zu  sein, zu wachsen und schließlich auch mehr arbeitskräfte zu beschäftigen. Üblich war damals der Vergleich des deutschen mit dem amerikanischen  arbeitsmarkt. In den USa, wo der Einfluss von Gewerkschaften und arbeitgeberverbänden gering ausfiel, gelang recht schnell die Rückkehr zur Vollbeschäftigung.  Der  hauptgrund:  Potentiell  langzeitarbeitslose  akzeptierten  Jobs im niedriglohnsektor, und es entstand über marktwirtschaftliche Wege  eine lohndifferenzierung, die es in Deutschland nicht gab, eben wegen der  tarifautonomie und des damit verbundenen starren Flächentarifvertrags. Die  Soziale Marktwirtschaft war also in einer Krise, zumindest was die Folgen der  tarifautonomie betrifft. So jedenfalls wurde es von Wirtschaftswissenschaftlern in Deutschland und anderswo weithin diagnostiziert.  Eine ähnliche Krise entstand damals im Sozialstaat, dem zweiten der erwähnten Säulen der Sozialen Marktwirtschaft. Die dauerhaft hohe arbeitslosigkeit belastete die beitragsfinanzierte arbeitslosenversicherung, die für arbeitslosigkeit bis zu einem Jahr (in ausnahmefällen auch länger) zuständig  war.  Die  dauerhaft  hohe  langzeitarbeitslosigkeit  sorgte  zusätzlich  für  eine  massive  Belastung  der  allgemeinen  öffentlichen  haushalte:  Jene arbeitslosen, die über ein Jahr keine Beschäftigung fanden, erhielten die sogenannte  arbeitslosenhilfe, die im Gesetz nach einer Bedürfnisprüfung, in der Praxis  aber weitgehend unkonditioniert bezahlt wurde, als fester anteil des letzten  erhaltenen nettolohns (in der Größenordnung von 60 Prozent). Die arbeitslosenhilfe entwickelte sich zu einer zentralen Position der Kosten des Sozialstaats. Es entstand eine art „Sozialfalle“, die weithin als Folge der mangelhaften  Konstruktionsprinzipien  des  deutschen  Sozialstaats  wahrgenommen  wurde: Waren arbeitslose  einmal  langfristig  ohne  Beschäftigung,  so  hatten  sie wenig anreiz, sich nach einer niedrig bezahlten tätigkeit umzusehen. Sie  belasteten auf Dauer die Sozialkassen. auch in dieser hinsicht schien sich der  amerikanische Kapitalismus von der deutschen Sozialen Marktwirtschaft positiv abzuheben, allerdings um den Preis einer relativ harten Regel der Zumutbarkeit von schlechter bezahlter tätigkeit für langzeitarbeitslose.

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tatsächlich erreichte die ordnungspolitische Krisendiskussion in Deutschland und in Europa gegen Ende der 1980er Jahre einen höhepunkt. Dies lag  vor allem daran, dass sich in der Schlussphase der Regierung Reagan in den  Vereinigten Staaten ein sogenanntes Jobwunder abzuzeichnen begann. Innerhalb weniger Jahre erreichte die amerikanische Wirtschaft die Vollbeschäftigung,  bei  gleichzeitiger  Schrumpfung  ihres  riesigen  haushalts-  und  leistungsbilanzdefizits. Dies stand in augenfälligem Kontrast zur zähen Erholung  in Europa, die sich erst spät – in Deutschland 1988/89 – am arbeitsmarkt mit  einer substantiellen Entlastung bemerkbar machte und selbst dann nicht annähernd zu einem Grad der Beschäftigung führte, wie er zwei Jahrzehnte zuvor  geherrscht hatte. Zunehmend sprach man – fast resignierend – von einem tiefen transatlantischen Unterschied der Modelle: dort in den USa „Kapitalismus“, hier in Europa „Korporativismus“, wobei das europäische Modell eben  wegen seines anspruchs an soziale Gerechtigkeit eine gewisse Starrheit und  mangelnde  Dynamik  am arbeitsmarkt in  Kauf  nehmen  müsse.  Diese  sollte  mit ergänzenden Instrumenten der arbeitsmarktpolitik im (allerdings engen)  Rahmen des Möglichen verbessert werden.4 Soweit die lage Ende der 1980er Jahre. Sie ist nicht ohne Ironie, denn der  politische „Erfinder“ der Sozialen Marktwirtschaft ludwig Erhard und seine  intellektuellen  Mitstreiter  wie  Walter  Eucken,  alfred  Müller-armack  und  Wilhelm  Röpke  waren  alles  andere  als  Freunde  einer  korporativistischen  Wirtschaftsordnung im Sinne der Dominanz von Verbänden, denen es – auf  welchen Wegen auch immer – faktisch gelang, Märkte abzuschließen und die  Kosten davon in Form der arbeitslosigkeit auf den Sozialstaat abzuwälzen.  tatsächlich  war  bereits  in  den  frühen  1950er  Jahren  von  liberaler  Seite  die  zunehmende Macht der Verbände überaus scharf (und treffend) kritisiert worden.5 Die  Wiedervereinigung  Deutschlands  drängte  zunächst  die  Reformdiskussion der 1980er Jahre in den hintergrund. Zu brennend waren die anliegenden Fragen der transformation, als dass man sich in der Umbruchphase ab  dem november 1989 eine Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft hätte vorstellen können. Im Gegenteil, ähnlich wie bei der politischen Frage nach einer  neuen Verfassung griff zumindest auf bürgerlich-liberaler Seite die Befürchtung um sich, allfällige Reformen des Systems könnten eher dazu führen, dass  sozialistische statt mehr marktwirtschaftliche Elemente in die Wirtschaftsordnung  Einzug  halten  würden.  tatsächlich  konzentrierte  sich  damals  die  Reformdiskussion  auf  die  Einführung  eines  Rechts  auf  arbeit,  das  mit  den  Grundprinzipien  von  Marktwirtschaft  und  tarifautonomie  überhaupt  nicht  vereinbar  gewesen  wäre.  hinzu  kam  der  enorme  Zeitdruck,  der  es  nötig  4  5 

So  im  tenor  ganz  explizit  michaeL emeRsoN:  What  Model  for  Europe?,  cambridge  1988. am  wortgewaltigsten  von  theodoR escheNBuRg:  herrschaft  der  Verbände?,  Stuttgart  1955.

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machte, ganz schnell auf im Wesentlichen praktisch Bewährtes und rechtlich  abgesichertes  zurückgreifen  zu  können,  auch  wenn  es  im  Einzelnen  seine  eigenen, durchaus bekannten Schwächen aufwies. In allen Kernpunkten der  Sozialen  Marktwirtschaft  wurden  deshalb  die  alten  westdeutschen  auf  die  neuen ostdeutschen Verhältnisse übertragen.6 2. Die Veränderung des Systems Welche  Folgen  hatte  die  vollständige,  ruckartige  Übertragung  der  Sozialen  Marktwirtschaft von West nach Ost für die tarifautonomie und für den Sozialstaat? Um diese Fragen zu beantworten, ist es nützlich, zwischen einer kurzen und einer langen Frist zu unterscheiden. Mit „kurzer Frist“ meine ich damit die aufbauphase bis in die zweite hälfte der 1990er Jahre, mit „langer  Frist“ die Zeit seither. Dabei gibt es an der Scharnierstelle zwischen kurzer  und langer Frist keinen klaren Bruchpunkt, der kalendarisch präzise zu identifizieren wäre. Es geht stattdessen um eine Übergangsphase von einigen Jahren, deren Beginn am besten mit dem formalen Ende der tätigkeit der treuhandanstalt zu datieren ist, also 1994, und deren Ende kurz nach der Jahrtausendwende liegt, etwa zum abschluss der neuverhandlung des Solidarpakts  II  (als  nachfolger  des  Solidarpakts  I)  und  dem  Beginn  der  Konzeption  der  hartz-Reformen der arbeitslosenhilfe. In der kurzen Frist kann man fast von einem „triumphzug“ der westdeutschen Institutionen der Sozialen Marktwirtschaft reden. Sie wurden dem Osten praktisch „übergestülpt“, und zwar gleichermaßen in Bezug auf die tarifautonomie und auf den Sozialstaat. Was tarifverhandlungen betrifft, ergriffen sofort die westdeutschen Gewerkschaften die Initiative. Sie bauten – wie alle anderen Verbände auch –  ihre Organisationsstrukturen im Osten schnellstmöglich auf und besetzten die  zentralen  Positionen  mit  erfahrenen  Funktionären  aus  dem  Westen.  Deren  erste hauptaufgabe bestand nun darin, in der Industrie den Gewerkschaftseinfluss zu sichern und für die Beschäftigten tarifverträge mit tariflichen Mindestlöhnen  auszuhandeln  und  durchzusetzen.  Dies  schien  nach  lage  der  Dinge der entscheidende Weg, um im Osten die eigene Position zu stärken,  die  Sympathien  der  ostdeutschen arbeitnehmer  zu  erobern  und  dann  auch  mehr  Mitglieder  zu  gewinnen.  Dabei  lag  das  Standardmotto  auf  der  hand:  gleicher lohn für gleiche arbeit; also die gewerkschaftliche Grundphilosophie des Flächentarifvertrages, wie sie in Westdeutschland über vier Dekaden  zwar nicht perfekt, aber doch annähernd umgesetzt war. Wenigstens innerhalb  der  jeweiligen  Branchen  sollte  es  auf  Dauer  kein  zementiertes  lohngefälle  zwischen  West  und  Ost  geben.  natürlich  auch  mit  Blick  darauf,  dass  eine  6 

Dazu im Detail geRhaRd a. RitteR: Der Preis der deutschen Einheit, München 2006.

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Konkurrenz  aus  einer  niedriglohnregion  innerhalb  Deutschlands  für  die  große  Zahl  von  Gewerkschaftsmitgliedern  in  Westdeutschland  unzumutbar  erschien. Deren Interessen hatten in den großen Gewerkschaften, allen voran  in der IG Metall, ein gewaltiges Gewicht.  Für tarifverhandlungen braucht eine Gewerkschaft einen Verhandlungspartner, und dies konnte für die ostdeutsche Industrie im Wesentlichen nur die  treuhandanstalt sein. Dies hatte allerdings geradezu groteske Konsequenzen.  als holdinggesellschaft, die fast vollständig am tropf staatlicher Subventionen hing, hatte die treuhandanstalt kaum Veranlassung, wirklich hart zu verhandeln. Denn nach einer Privatisierung würde ohnehin ein neuer Eigentümer  neue Daten setzen und bis dahin war es relativ leicht, etwaige Defizite dem  Steuerzahler zu überantworten. Es kam deshalb so, wie ökonomische Modelle  von tarifverhandlungen mit „weichen“ Restriktionen vorhersagen: Die Gewerkschaften konnten kräftige lohnsteigerungen durchsetzen. Und sie konnten  dies  ihren  Mitgliedern  oder  Interessenten  als  einen  beachtlichen  Erfolg  verkaufen. Soweit  die  historische  Entwicklung,  über  die  weitgehende  Einigkeit  herrscht. Wer in den frühen 1990er Jahren auf das wiedervereinigte Deutschland  blickte,  der  konnte  tatsächlich  zu  folgendem  Ergebnis  kommen:  nach  der deutschen Wiedervereinigung gelang es arbeitgebern und Gewerkschaften, ihr tradiertes System des Flächentarifvertrags auch auf die Industrie der  neuen länder zu übertragen, trotz extrem stark steigender arbeitslosigkeit im  Zuge der dort einsetzenden industriellen Krise. Dies konnte als ein geradezu  bespielloser machtpolitischer Erfolg der Interessen des tarifkartells gewertet  werden. So urteilte damals eine Reihe von Wirtschaftswissenschaftlern, allen  voran der spätere Präsident des Ifo-Institutes München hans-Werner Sinn. In  dieser  Interpretation  wurde  die  deutsche  Wiedervereinigung  nachgerade  zu  einem Gipfel der Durchsetzungsfähigkeit der tarifpartner – und vor allem der  Gewerkschaften – gegenüber einem hilflosen Subventionsstaat. Dabei trugen  die lohnerhöhungen, so die Sichtweise, maßgeblich zur abwertung des industriellen Kapitalbestands in Ostdeutschland bei. Sie erschwerten die industrielle Umstrukturierung; und sie verstellten der ostdeutschen Wirtschaft den  Weg in eine Entwicklung mit höherer Beschäftigung, einem bescheideneren  Kapitaleinsatz pro arbeitsplatz und niedrigeren löhnen. Kurzum: Sie machten es der ostdeutschen Wirtschaft unmöglich, wenigstens ein Stück weit den  mittel- und osteuropäischen Weg einzuschlagen.7  Diese Sichtweise beruht auf theoretischen Überlegungen, die zum Standardrepertoire der Wirtschaftswissenschaft gehören. Sie ist insofern absolut  nachvollziehbar. allerdings stellt sich die Frage, wie viel sie wirklich zur Er7 

So erstmalig geRLiNde siNN / haNs-WeRNeR siNN: Kaltstart. Volkswirtschaftliche analyse der deutschen Vereinigung, München 1991 und im Rückblick haNs-WeRNeR siNN:  Germany’s Economic Unification: an assessment after ten Years, in: Review of International Economics 10 (2002), S. 113–128.

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klärung der Realität in den frühen 1990er Jahren beiträgt – zumindest jener  Realität, die über die kurze Frist hinausgeht. Zwar ist unstrittig, dass höhere  löhne  bei  den  treuhandunternehmen,  die  ihre  laufenden  Kosten  ohnehin  nicht decken konnten, diese Kosten noch weiter nach oben trieben, und damit  auch den Bedarf an Subventionen. Die Kernfrage ist allerdings, ob dies wirklich  auf  die  chancen  der  Privatisierung  und  die  Pläne  der  Erwerber  einen  nachhaltigen Einfluss hatte. Genau hier sind Zweifel angebracht. Um zu sehen warum, ist es nützlich,  sich die Situation eines potentiellen Investors zur damaligen Zeit ganz konkret vor augen zu führen, je konkreter desto besser. Stellen wir uns vor, ein  treuhand-Unternehmen  des  Maschinenbaus  steht  1991  zum  Verkauf.  Ein  Kaufinteressent – sagen wir, ein westdeutscher Unternehmer derselben Branche  –  plant  eine  neue  Produktionsstätte  in  Ostdeutschland  mit  einem  branchenüblichen  Zeithorizont,  sagen  wir:  fünfzehn  Jahre.  Er  macht  für  diesen  Zeitraum – explizit oder implizit – eine Schätzung der Kosten. Er macht auch  eine grobe Prognose, mit welchem lohnniveau er im Osten zu rechnen hat. Er  wird in dieser Prognose natürlich maßgeblich beeinflusst von dem, was die  öffentliche  Meinung  sagt,  und  die  wähnt  auf  mittlere  Sicht  den  trend  zur  West-Ost-lohnangleichung, und zwar in erster linie wegen der hohen innerdeutschen Mobilität. Was auf kurze Sicht passiert, ist mit Blick auf den langen  Zeithorizont der Investitionsentscheidung für seine Entscheidung nur von geringer Bedeutung. Ob 30 oder 50 Prozent des Westniveaus, es handelt sich  ohnehin  um  eine  vorübergehende  Situation;  und  ob  diese  dann  in  wenigen  Jahren vorbei ist, beeinflusst wohl kaum die technologie und die art des Maschinenparks, den er auf lange Sicht für die künftige Produktion wählt. hier  stoßen  wir  wieder  auf  die  grundlegende  Signalwirkung  der  Deutschen Einheit: Mit dem Fall der Mauer, der Wirtschafts- und Währungsunion  sowie der politischen Wiedervereinigung wurde es auch für Unternehmer völlig abwegig zu unterstellen, dass eine Ost-West-lohndifferenz von 1:3 (oder  1:2) auch nur annähernd Bestand haben konnte. Diese Erwartungshaltung war  einfach  da.  Sie  konnte  nicht  mehr  aus  der  Welt  geschafft  werden,  völlig  gleichgültig,  wie  hoch  oder  niedrig  der  prozentuale tariflohnanstieg  in  den  Unternehmen der treuhandanstalt nach 1990 ausfiel. tatsächlich ließ ja selbst  dieser anstieg noch ein großes Maß an Freiräumen für die spätere anpassung.  Es  gab  ja  für  Investoren  grundsätzlich  die  Möglichkeit,  auf  eine  Mitgliedschaft  im  arbeitgeberverband  zu  verzichten  und  eigene  lohnhöhen  und  lohnstrukturen  auf  betrieblicher  Ebene  oder  für  Einzelverträge  auszuhandeln. Dies geschah dann ja auch, und möglicherweise hatten dies viele Unternehmer ohnehin schon vor. Genau an dieser Stelle setzt der Übergang zwischen der „kurzen“ und der  „langen“ Frist ein, der zum Verständnis der Dynamik der Wirtschaftsordnung  nach der Deutschen Wiedervereinigung von zentraler Bedeutung ist. Es zeigte  sich nämlich zur Verblüffung vieler Beobachter einschließlich professioneller 

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Ökonomen, dass ab etwa Mitte der 1990er Jahre bei offiziellen arbeitslosenquoten von rund 20 Prozent und inoffiziellen Quoten der gesamten Unterbeschäftigung von 30 bis 40 Prozent der arbeitsmarkt im Osten ganz anders zu  funktionieren begann, als dies traditionell im Westen der Fall war, wo solche  Quoten niemals erreicht worden waren. Wenige Jahre nach der Wiedervereinigung  wurde  es  nämlich  für  einen  normalen arbeitgeber  im  Osten  völlig  unattraktiv, sich den Bedingungen eines Flächentarifvertrags zu unterwerfen,  der für ganz andere Marktbedingungen geschaffen war. tatsächlich gelang es  den Unternehmen im Osten ohne Mühe, arbeitslose hochqualifizierte Fachkräfte zu finden, die bereit waren, zu löhnen und arbeitsbedingungen zu arbeiten,  die  deutlich  unter  dem  westlichen  tarifniveau  lagen.  Dies  führte  schließlich zum faktischen Ende des Flächentarifvertrags in Mittel- und Ostdeutschland. Und es ist ein teil der Erklärung für die tatsache, dass bis heute  das lohnniveau in der ostdeutschen Industrie etwa ein Drittel unter dem westdeutschen  niveau  liegt,  und  dies  schon  seit  der  zweiten  hälfte  der  1990er  Jahre.8 Die  auflösung  des  Flächentarifvertrags  verlief  dabei  schleichend  und  wurde auch von der Wissenschaft erst allmählich wahrgenommen.9 Zunächst  wurde schon in der ersten hälfte der 1990er Jahre beobachtet, dass tarifliche  Bedingungen auf Betriebsebene – zumeist stillschweigend – umgangen wurden oder nicht zur anwendung kamen. Später wurde auch statistisch deutlich,  dass die neu entstehende, kleinteilige Industrie Mittel- und Ostdeutschlands  von  vornherein  nur  einen  sehr  niedrigen  Organisationsgrad  aufwies,  weit  niedriger als Unternehmen im Westen.10 Entscheidend war dabei – entgegen  der verbreiteten öffentlichen Meinung – nicht die geringe Mitgliedschaft der  arbeitnehmer in Gewerkschaften, sondern vor allem die mangelnde Bereitschaft  der arbeitgeber,  Mitglied  in  tariffähigen  Verbänden  zu  werden.  nur  durch eine flächendeckende Durchsetzung einer harten Regelung der allgemeinverbindlichkeit von tarifverträgen durch den Staat hätte also überhaupt  der  Flächentarifvertrag  gerettet  werden  können.  Gerade  dazu  war  aber  die  Politik bei der hohen arbeitslosigkeit nicht bereit, denn dieser Weg hätte ganz  8 

S. dazu im Detail K.-h. Paqué, Bilanz (wie anm. 1), S. 142–161, und konkret zur lohnentwicklung 1991–2008 das Schaubild 7 auf S. 151. 9  In  dieser  hinsicht  besonders  aufschlussreich  sind  die  insgesamt  19  Berichte  mit  dem  titel  „Gesamtwirtschaftliche  und  unternehmerische  anpassungsfortschritte  in  Ostdeutschland“,  die  von  drei  wirtschaftswissenschaftlichen  Forschungsinstituten  –  dem  Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin, dem Institut für Weltwirtschaft  (IfW),  Kiel,  und  dem  Institut  für  Wirtschaftsforschung  halle  (IWh)  –  in  den  1990er Jahren im halbjährlichen Rhythmus veröffentlicht wurden. Sie enthalten erst gegen Ende der Dekade eigens erhobene Informationen zum Organisationsgrad von arbeitgebern in der Industrie, mithin zu einem Zeitpunkt, als der Prozess der Erosion des  Flächentarifvertrags längst im Gang war.  10  Vgl. dazu K.-h. Paqué, Bilanz (wie anm. 1), S. 150.

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offensichtlich  die  marktwirtschaftliche  Regeneration  in  Mittel-  und  Ostdeutschland maßgeblich erschwert. all dies deutet übrigens darauf hin, dass die Rechnung der Gewerkschaften  auf  lange  Sicht  überhaupt  nicht  aufging.  Es  gelang  ihnen  keineswegs,  durch die schnellen lohnerhöhungen auf Dauer in Mittel- und Ostdeutschland  eine starke Kraft zu werden. Im Gegenteil, die neuen Unternehmen und Investoren gingen in zunehmendem Maße vor Ort eigene Wege. Und die Beschäftigten machten mit, nolens volens. Sie taten eben alles, um ihren arbeitsplatz  zu sichern, und dazu gehörte auch der Verzicht auf aggressive lohnforderungen, als die umstrukturierten Unternehmen begannen, wieder am Markt Fuß  zu  fassen.  Gewerkschaftsforderungen  aus  dem  Westen  Deutschlands,  man  müsse härter auftreten, fanden da kaum Gehör. Die Dichotomie der Interessen  – zwischen Insidern und Outsidern – verlor die frühere Brisanz. Die Entwicklung im Osten hatte natürlich Rückwirkungen auf den Westen.  Der  Grund  liegt  auf  der  hand:  Mittel-  und  Ostdeutschland  macht  ein  Fünftel der Bevölkerung und immerhin ein Drittel der Fläche des wiedervereinigten  Deutschland  aus.  Zwischen  beiden  teilen  des  landes  besteht  seit  1990 eine hohe Mobilität der arbeitskräfte und des Kapitals. Es wäre völlig  lebensfremd zu vermuten, dass die tarifpolitik im Westen in den letzten beiden  Dekaden  unbeeinflusst  von  der arbeitsmarktsituation  im  Osten  ablief.  tatsächlich  wirkte  die arbeitslosigkeit  des  Ostens  dämpfend  auf  den tariflohnanstieg im Westen, ähnlich wie das Überangebot an arbeitskräften durch  den Zuzug von circa sechs bis sieben Millionen Vertriebenen im Westdeutschland der späten 1940er und der gesamten 1950er Jahre. OEcD-ländervergleiche  der  Entwicklung  der  lohnstückkosten  (löhne  relativ zur arbeitsproduktivität) als grobes Maß für die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit belegen, dass Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre eine  überaus  günstige  Entwicklung  aufzuweisen  hat,  deutlich  günstiger  als  die  länder  der  europäischen  „Peripherie“.11  Das  statistische  Bild  ist  beeindruckend:  Gegenüber  Deutschland  stiegen  die  lohnstückkosten  im  Zeitraum  1999–2008 in Irland um 37,7 Prozent, in Spanien um 33,5 Prozent, in Griechenland um 32,7 Prozent und in Portugal um 25,7 Prozent.12 anders formuliert: Die gesamtwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der Peripherie Europas  verschlechterte sich gegenüber Deutschland um rund ein Drittel, eine gigantische Verschiebung, auf die wir weiter unten im dritten teil zurückkommen  werden.  tatsächlich hat Deutschland als einziges land der Europäischen Union in  der  Zeit  1999–2008  keine  Zunahme  der  lohnstückkosten  zu  verzeichnen.  Selbst  der  nachbar  Österreich  mit  ähnlicher  Wirtschaftsstruktur  wie  Süd11  Dazu im Detail KaRL-heiNz Paqué: Wachstum! Die Zukunft des globalen Kapitalismus,  München 2010, abschnitte 5.2 und 5.3. 12  Eigene Berechnungen mit Daten aus OEcD: Main Economic Indicators, Paris 2011.

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deutschland erlebte eine – allerdings nur moderate – Zunahme um rund sechs  Prozent. Dies zeigt, dass nicht allein die Kräfte der Globalisierung am Werk  waren, denn die trafen Deutschland und Österreich etwa in gleichem Maße.  Es zeigt stattdessen, dass „deutsche Sonderfaktoren“ wohl eine Rolle spielten,  allen voran die Deutsche Einheit. Dabei ist zusätzlich zu bedenken, dass die  Entwicklung in Deutschland als relativ großem land durchaus auch dämpfende Rückwirkungen auf die Kostenentwicklung der nachbarländer im Westen und Süden hatte, ähnlich wie innerhalb Deutschlands der Osten auf den  Westen. Insofern mag die Deutsche Einheit durchaus substantiell zu einer art  wettbewerblichen Gesundung des „industriellen Kerneuropa“ beigetragen haben. neben dem gesamtwirtschaftlichen lohndruck gab es im Westen Deutschlands  einen  trend  zu  mehr  Flexibilität  der  tarifgestaltung. auch  in  dieser  hinsicht wirkten Deutsche Einheit und Globalisierung gleichzeitig, mit einer  klaren Dominanz der Effekte der Deutschen Einheit. tatsächlich ist seit der  zweiten  hälfte  der  1990er  Jahre  zu  beobachten,  dass  sich  auch  im  Westen  immer mehr differenzierte betriebliche Vereinbarungen durchsetzen und der  Flächentarifvertrag in seiner starren Form eher auf dem Rückzug ist. Dieser  Prozess vollzieht sich allerdings schleichend und ist im Einzelnen empirisch  nur  schwer  nachzuweisen,  zumal  sich  manches  formal  innerhalb  des  Rahmens von tariflichen Regelungen abspielt, die einfach mehr Spielräume zuließen, als dies früher der Fall war. Jedenfalls hat gerade die Erfahrung des überaus scharfen konjunkturellen Einbruchs im Gefolge der Weltfinanzkrise 2008  gezeigt, dass die deutsche Industrie längst eine Kostenflexibilität erreicht hat,  die vor zwei Dekaden kaum ein Beobachter für möglich gehalten hätte, weil  es sie seinerzeit eben auch nicht gab.  Fazit:  Was  die  tarifautonomie  betrifft,  hat  sich  die  Soziale  Marktwirtschaft  in  den  letzten  beiden  Dekaden  grundlegend  verändert.  Die  Deutsche  Einheit hat maßgeblich den trend zu mehr Flexibilität und Betriebsnähe gestärkt. Die Globalisierung tat ihr Übriges. Was  für  den  Flächentarifvertrag  gilt,  das  lässt  sich  in  ersten  ansätzen  auch für den deutschen Sozialstaat erkennen. tatsächlich sorgte erst die hohe  arbeitslosigkeit – und vor allem die hohe langzeitarbeitslosigkeit – für eine  derart dramatische anspannung der Sozialkassen, dass nach der Jahrtausendwende erstmals intensiv über eine tiefgreifende Reform nachgedacht wurde.  Es kam schließlich zu den hartz-Reformen, also zur bisher grundlegendsten  Umgestaltung des Systems der arbeitslosenhilfe. Dies geschah aus der wissenschaftlichen  und  politischen  Erkenntnis  heraus,  dass  die  Konstruktionsprinzipien  des  Systems  bei  dem  herrschenden ausmaß  der arbeitslosigkeit  enorme Kosten verursachten und – schlimmer noch – wegen falscher anreize  die langzeitarbeitslosigkeit perpetuiert.

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Dieses Problem war längst vor der Deutschen Einheit unter arbeitsmarktökonomen  bekannt.13  Eine Fülle von Studien  belegte, dass  eine langfristig  gewährte  Zahlung  von arbeitslosenunterstützung  zur Verfestigung  segmentierter Strukturen beiträgt, weil typischerweise nach einem Jahr arbeitslosigkeit  die  Suchintensität  von  beschäftigungslosen  Erwerbspersonen  deutlich  nachlässt. auch bekannt waren die eher mäßigen Erfolgsaussichten von Qualifizierungs-  und  arbeitsbeschaffungsprogrammen  zur  Re-Integration  von  langzeitarbeitslosen. In beiderlei hinsicht brachte jedoch die Deutsche Einheit  eine art  Qualitätssprung des  Problems: Ging  es  im Westen traditionell  „nur“  um  beschäftigungspolitische  Randgruppen,  so  nahm  das  Problem  im  Osten eine gesamtgesellschaftliche Dimension an. Der Reformdruck wurde  schließlich so stark, dass es tatsächlich mit den hartz-Reformen zur abschaffung der arbeitslosenhilfe kam. Diese wurde über das sog. arbeitslosengeld  II  in  das  Sozialsystem  neu  integriert  –  als  eine art  „Variante“  der  früheren  Sozialhilfe und damit auch mit anderen, generell schärferen Regeln der Zumutbarkeit. Bis  heute  sind  die  hartz-Reformen  politisch  und  wissenschaftlich  umstritten. Insbesondere bleibt vorerst offen, inwieweit sie wirklich kausal verantwortlich sind für die überaus günstige – weil rückläufige – Entwicklung,  die sich bei der arbeitslosigkeit im allgemeinen und bei der langzeitarbeitslosigkeit im Besonderen im Zuge des Konjunkturaufschwungs 2005 bis 2008  einstellte. auch  ist  noch  offen,  inwieweit  sie  dazu  beitrugen,  die  negativen  Wirkungen der dann folgenden Finanz- und Konjunkturkrise am arbeitsmarkt  abzudämpfen. andere Kandidaten der Erklärung, vor allem die günstige Entwicklung  der  lohnkosten  und  die  einsetzenden  demographischen  Veränderungen, sind mindestens ebenso plausibel. In jedem Fall steht fest, dass die  hartz-Reformen im Zusammenwirken mit den anderen Kandidaten die positive anpassung am arbeitsmarkt eher beschleunigten als behinderten. Insofern gingen auch sie in die Richtung von mehr Flexibilität der Sozialen Marktwirtschaft. aus historischer Sicht spricht vieles dafür, die anpassung des Sozialstaats  durch  die  hartz-Reformen  in  engem  Zusammenhang  zur  Erosion  des  Flächentarifvertrags  und  der  moderaten  lohnkostenentwicklung  als  eine  gemeinsame längerfristige Folge der Deutschen Einheit zu sehen. Der Druck der  Problemlage wirkte auf mehreren Ebenen gleichzeitig: wirtschaftlich auf die  tarifautonomie, politisch auf den Sozialstaat. Insofern hat die Deutsche Einheit  die  Soziale  Marktwirtschaft  in  Deutschland  auf  Dauer  verändert.  Genauer: Sie hat in einer Zeit der Globalisierung dafür gesorgt, dass gar keine  andere Wahl blieb als pragmatische Wege der anpassung zu beschreiten. Dies  geschah in den arbeitsmärkten eher schleichend und dezentral; bei der Re13  Siehe z. B. das früheste umfassende lehrbuch  zu  diesem themenkomplex WoLfgaNg fRaNz: arbeitsmarktökonomik, Berlin 1991, das bereits die Problematik klar skizziert.

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form  des  Sozialstaats  geschah  es,  wie  nicht  anders  zu  erwarten,  in  einem  Klima  der  harten  polemischen auseinandersetzung,  die  auch  die  politische  landschaft  maßgeblich  verändert  hat,  vor  allem  mit  der  Stabilisierung  der  Partei Die linke (vormals PDS) und dem partiellen niedergang der für die  Reform federführend verantwortlichen SPD. III. Spaltet sich Europa aufs neue? 1. Die Schuldenkrise Die Regeneration der Sozialen Marktwirtschaft ist für Deutschland ein Grund  zu nationalem Optimismus. Weit zweischneidiger sind dagegen die Folgen für  Europa. Vieles deutet darauf hin, dass die vergangene Dekade für lange Zeit  die letzte war, in der Europa ein aufholen der länder der „Peripherie“ gegenüber dem Zentrum erlebte. Die derzeitige Schuldenkrise ist da eher das Symptom als die tiefere Ursache. Ein kurzer Blick zurück macht dies deutlich. länder wie Griechenland,  Irland, Portugal und Spanien lebten seit den späten 1990er Jahren über ihre  Verhältnisse; und die Kapitalmärkte erlaubten es ihnen – zu günstigen Bedingungen, ohne erkennbare Spannungen. Es war die Zeit der „Great Moderation“, mit weltweit niedrigen Zinsen sowie reichlich vorhandener liquidität.  Das Muster war dabei überall ähnlich, bei allen Unterschieden im Detail: Es  gab einen Boom im jeweiligen nationalen Binnenmarkt, die lokalen Dienstleistungen und Immobilien verteuerten sich und die löhne stiegen rasant an,  weit schneller als die arbeitsproduktivität. Das Ergebnis: eine drastisch verschlechterte Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Zentrum Europas, wie in  abschnitt II.2. dieses Beitrags anhand der Entwicklung der lohnstückkosten  gezeigt  wurde.  Dies  ging  lange  gut,  bis  die  Binnenmarktblase  schließlich  doch platzte – im Zuge der Weltfinanzkrise. Danach wurde die gesamtwirtschaftliche  Schieflage  schonungslos  aufgedeckt:  riesige  Defizite  im  Staatshaushalt  und  in  der  leistungsbilanz,  gefährdete  Bankensysteme,  massiver  Vertrauensverlust an den Kapitalmärkten, schließlich die Schuldenkrise.  Die kurzfristige Konsequenz der Krise wird derzeit überall politisch exekutiert, und zwar in aller härte: drastische Sparpakete der Regierungen mit  ausgabenkürzungen,  Steuererhöhungen  und  Verzicht  auf  privaten  Konsum  und  ambitiöse  Investitionsprojekte. Das  alles  ist  in  der  Eurozone  schwierig  genug – ohne die Möglichkeit, die eigenen Produkte über eine abwertung der  Währung  ruckartig  gegenüber  dem  Rest  der Welt  zu  verbilligen  und  damit  wenigstens einen teil der nötigen anpassung eben nicht durch mehr Verzicht,  sondern durch mehr Produktion zu erreichen. Dabei geht es um Einschnitte,  wie es sie jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland noch nie gegeben hat.  Man muss schon in die schwierige Zeit der Weimarer Republik zurückgehen, 

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um hierzulande Vergleichbares zu finden. niemand kann sicher sein, dass die  anpassung letztlich gelingen wird. Es bleiben große Unwägbarkeiten, selbst  mit  Rettungsschirm  der  Europäischen  Union,  Beistand  des  Internationalen  Währungsfonds und bestem politischen Willen. alternativen dazu sind aber  kaum erkennbar, es sei denn, die Politik wäre bereit, die Eurozone zu sprengen oder einzelne länder in die Zahlungsunfähigkeit zu entlassen. Kurzum:  Der  regenerierten  Sozialen  Marktwirtschaft  in  Deutschland  steht heute eine überaus harte Politik der austerität in der Peripherie Europas  gegenüber.  Selbst  wenn  man  unterstellt,  dass  deren anpassung  erfolgreich  sein wird, bleibt die Frage, wie es dann weiter geht. 2. Die strukturelle Spaltung Zunächst gilt es festzuhalten: Seit den 1950er Jahren ist Europa wirtschaftlich  zusammengewachsen,  und  zwar  mit  einer  Dynamik,  die  keine  Vorläufer  kennt. Dies geschah allerdings in zwei Stufen: zunächst getrennt im kapitalistischen  West-  und  sozialistischen  Ostteil,  und  nach  dem  Fall  des  Eisernen  Vorhangs ab anfang der 1990er Jahren gemeinsam in einem einzigen marktwirtschaftlichen System. nach allen historischen Maßstäben ist das Ergebnis  ein gigantischer Erfolg: Europa ist heute ein Wirtschaftsraum des Freihandels,  der Freizügigkeit und des freien Kapitalverkehrs, wie es ihn allenfalls auf dem  höhepunkt der liberalen Ära des 19. Jahrhunderts gegeben hat, damals allerdings unter ganz anderen politischen Voraussetzungen. treibende  Kraft  dieses  Zusammenwachsens  war  stets  die  Europäische  Union  bzw.  ihr  Vorläufer,  die  Europäische  Gemeinschaft.  Sie  sorgte  über  Jahrzehnte für die nötige politische Dynamik: von Freihandel und Zollunion  über  den  gemeinsamen  Markt  bis  hin  zur  Einführung  einer  gemeinsamen  Währung. Dabei war es im Wesentlichen eine Wirtschaftsgeschichte der Konvergenz: alle länder wuchsen, aber die ärmeren länder wuchsen schneller  als die reicheren. Der abstand zwischen dem wohlhabenden Zentrum und der  ärmeren Peripherie nahm im trend ab. Der Geist der Konvergenz beherrschte  alle: die Finanzmärkte, die Wissenschaft und die Politik. Ein lange gehegter  traum schien in Erfüllung zu gehen. Gerade die Entwicklung des mediterranen  Raums  belegt  dies  eindrucksvoll.  Griechenland,  Portugal  und  Spanien  sind allesamt „Spätentwickler“, also industrielle aufholländer, die erst in den  letzten  Jahrzehnten  begannen,  ihren  wirtschaftlichen  Rückstand  gegenüber  dem industriellen Kerneuropa zu vermindern. Dieser Rückstand ist sehr alt.  Er entstand spätestens im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung, zum teil  sogar schon im 17. Jahrhundert, als die Iberische halbinsel die chance verpasst hatte, ihr „Goldenes Zeitalter“ zur wirtschaftlichen Entwicklung zu nutzen statt die niederlande, England und Frankreich sowie später auch Deutschland  an  sich  vorbeiziehen  zu  lassen.  Das  aufholen  des  Rückstands  wurde 

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deshalb weithin als großer historischer Erfolg gewürdigt, eine art Rückkehr  nach Europa – wirtschaftlich, gesellschaftlich, politisch. Die Konvergenz galt fast als naturgesetz, vor allem in Brüssel. Wer die  Rhetorik der Kommission über die Jahrzehnte verfolgt, dem kann kaum der  stets optimistische Geist des natürlichen Zusammenwachsens entgehen. Dieser Geist herrschte zunächst mit Blick auf Südeuropa, ab 1990 dann auch mit  Blick auf die postsozialistischen neumitglieder Mittel- und Osteuropas. Spiegelbildlich dazu gab es in den wohlhabenden industriellen Kernländern des  Kontinents  eine  selbstkritische  Debatte  über  das  eigene  Wirtschaftsmodell.  Besonders intensiv wurde sie in Deutschland geführt. Man sah sich hierzulande zunehmend umzingelt von wachstumshungrigen tigern, die mit niedrigen löhnen und gut qualifizierter arbeiterschaft riesige Wellen der Direktinvestitionen auf ihre Mühlen lenken. So ist es noch keine zehn Jahre her, dass  ein viel gelesenes Buch eines namhaften deutschen Ökonomen den titel trug:  „Ist Deutschland noch zu retten?“14. Bei all dem wurde etwas Wichtiges übersehen: aufholen heißt noch lange  nicht  Einholen.  tatsächlich  lehrt  die  Geschichte  des  globalen  Wachstums,  dass – mit ausnahme von Japan und Singapur (eines ungewöhnlichen Stadtstaats)  –  kein  einziges  außereuropäisches  aufholland  der  Welt  bisher  die  Kernländer der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts in Pro-Kopf-Einkommen und arbeitsproduktivität wirklich erreicht hat. Südkorea zum Beispiel,  ein  zweifellos  erfolgreiches  Schwellenland,  weist  nach  fünf  Dekaden  des  aufholens 70, aber nicht 100 Prozent der arbeitsproduktivität von Kerneuropa  und  den  USa  auf. auch  die  Kapitalmärkte  verwechselten  „aufholen“  mit  „Einholen“,  wie  die  jüngste  Misere  des  mediterranen  Raums  deutlich  zeigt. In diesen ländern wurde die letzte große Etappe des aufholprozesses in  allen Erwartungen der wirtschaftlichen akteure vorweggenommen. Es kam  zu einer art gigantischer abschlagszahlung auf eine antizipierte Konvergenz.  Man lebte über seine Verhältnisse, aber man tat es nur deshalb, weil alle erwarteten, dass sich diese Verhältnisse in Kürze nochmals grundlegend verbessern  würden.  Den  noch  bleibenden  Rückstand  der  arbeitsproduktivität  zu  Deutschland – bei Spanien etwa 20 Prozent, bei Griechenland 30 Prozent, bei  Portugal über 40 Prozent –, das würden die länder schon bald schaffen, und  zwar  mit  genau  der  Dynamik  wie  in  den  Jahrzehnten  zuvor.  Dies  ist  nicht  geschehen, die Schuldenkrise ist der Beleg dafür. Wird es in der Zukunft geschehen? Setzt sich die Konvergenz bald fort?  Große Zweifel sind angebracht. Der wichtigste Grund dafür ist die mangelnde  Innovationskraft der Industrie. Es gelang zwar allen mediterranen aufholländern (plus Irland), massiv Direktinvestitionen anzuziehen und eine durchaus  moderne Industrie aufzubauen, die effizient arbeitet. Weitgehend handelt es  sich dabei aber um „verlängerte Werkbänke“, die wenig eigene Innovations14  haNs-WeRNeR siNN: Ist Deutschland noch zu retten?, München 2003.

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kraft  mitbringen.  Es  fehlt  noch  an  einem  wissenschaftlichen  Umfeld,  das  höchstleistungen  in  enger Verzahnung  mit  der  Industrie  hervorbringt.  Eine  ingenieurwissenschaftliche  Infrastruktur  von  hervorragenden  technischen  hochschulen, wie sie zum Beispiel der deutschsprachige Raum aufweist, ist  nicht vorhanden. Und auch ein amerikanischer Weg mit einer Start-up-Kultur  hochinnovativer junger Unternehmer zeichnet sich nicht ab. alle Maßzahlen  der Forschungsintensität in der Produktion belegen den Rückstand der mediterranen länder (und auch Irlands): Ob nun der anteil der Forscher am gesamten  Personalbestand,  ob  das  Verhältnis  von  Forschungs-  und  Entwicklungsausgaben  zu  Wertschöpfung  oder  Umsatz,  ob  Patentanmeldungen  pro  Kopf insgesamt oder in hochtechnologiebereichen, stets liegt die mediterrane  Peripherie deutlich hinter Deutschland bzw. den industriellen Kernregionen  Europas. Sie liegt sogar noch hinter Ostdeutschland, das unter einer ähnlichen  Schwäche leidet (siehe oben abschnitt I.2. dieses Beitrags). Es  gibt  somit  ein  ernstes  dauerhaftes  Problem,  wirtschaftlich  und  politisch. Einen Rückstand der Innovationskraft zu beseitigen, das ist eine Sache  von  Jahrzehnten,  manchmal  sogar  Jahrhunderten,  jedenfalls  nicht  Jahren.  Ohne die nötige Innovationskraft ist aber das niveau der industriellen Kernregionen Europas nicht erreichbar. Es bleibt also – wider früheres Erwarten  – ein persistentes nord-Süd-Gefälle in der EU. Ein teil dessen, was schon an  lebensstandard und Beschäftigung erreicht wurde, hat sich als „Blase“ erwiesen. Das Produktionspotential war künstlich aufgebläht, vor allem im Dienstleistungssektor. Ein Großteil davon verschwindet auf Dauer. Mit weitreichenden Folgen: In Spanien zum Beispiel ist der Fortschritt am arbeitsmarkt – von  einer arbeitslosenquote von 20 Prozent in den frühen 1980er Jahren auf unter  fünf  Prozent  in  der  letzten  Dekade  –  vollständig  rückgängig  gemacht;  die  Quote liegt heute wieder bei 20 Prozent. Darauf müssen sich alle einstellen.  Dies ist überaus schmerzhaft, zumal am Ende des tunnels der aktuellen Sparpolitik keine Rückkehr zu einem beschleunigten aufholwachstum mit aussicht auf Konvergenz steht. allenfalls wird es ein normales Wachstum geben.  Das ist vielleicht genug, um die Position zu halten, aber nicht genug, um das  industrielle Kerneuropa auf absehbare Zeit zu erreichen. Was an struktureller Schwäche für die südeuropäischen EU-Mitgliedsländer (und Irland) gilt, das zeigt sich in ähnlicher Form für die mitteleuropäischen. Diese leiden noch heute am langfristigen Flurschaden des Sozialismus,  also  der  Zerstörung  kapitalistischer  Strukturen  durch  die  langjährige  politische  Gefangenschaft  in  einer  Planwirtschaft  mit  extrem  innovationsfeindlicher arbeitsteilung. Einige dieser länder – allen voran tschechien – gehörten  vor  dem  Zweiten  Weltkrieg  zum  industriellen  Kern  Europas,  ähnlich  wie  Sachsen  und  Mitteldeutschland,  jedoch  anders  als  der  mediterrane  Süden.  aber  ihre  Innovationskraft  wurde  durch  vier  Dekaden  abschottung  vom  Weltmarkt  schwer  beschädigt.  Sie  muss  mühsam  wiederaufgebaut  werden.  Bis dahin bleibt die Region tendenziell ebenfalls eine verlängerte Werkbank. 

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auch dies lässt sich an den Statistiken ablesen: Forschung und Entwicklung  spielt  in  der  Industrie  der  post-sozialistischen  länder  eine  untergeordnete  Rolle. Innerhalb Mittel- und Osteuropas gibt es dabei ein Gefälle zwischen  mehr westlichen und mehr östlichen Regionen, aber selbst in den westlichen  liegt  man  noch  weit  hinter  den  industriellen Kernregionen  Europas  zurück.  allerdings hat das postsozialistische Mitteleuropa gegenüber dem Süden der  Europäischen  Union  zumindest  kurz-  und  mittelfristig  einen  Vorteil:  Der  Großteil der Bevölkerung und der Staat hatten sich in ihren ausgabenplänen  noch lange nicht auf eine schnelle Konvergenz eingestellt. lediglich in Ungarn hat es in jüngster Zeit eine Überschuldungskrise gegeben, während Polen, tschechien, die Slowakei und Slowenien nach den tief greifenden Reformen der 1990er Jahre den eingeschlagenen Stabilitätskurs beibehielten. Das  ernüchternde  Fazit  lautet:  Die  Zeit  der  natürlichen  Konvergenz  ist  vorbei,  Europa  bleibt  vorerst  wirtschaftlich  ein  gespaltener  Kontinent.  Die  Spaltung verläuft dabei zweifach mitten durch die Europäische Union: zwischen nord und Süd und zwischen West und Ost, und in dieser hinsicht mitten durch Deutschland. Die Politik muss sich darauf einstellen. Es wird dabei  zunehmend schwieriger, mit dieser Spaltung zu leben. Der Grund ist die Freizügigkeit, eine der ganz großen liberalen Errungenschaften innerhalb der Europäischen Union. Sie sorgt dafür, dass die Menschen innerhalb der 27 EUländer ihren aufenthalts- und arbeitsort frei wählen können. Die  Freizügigkeit  hat  weitreichende  Konsequenzen.  traditionell  wurde  sie eher in den Empfängerländern, also in den hochindustrialisierten Zentren,  mit einer gewissen Skepsis betrachtet. Vielerorts befürchtete man dort die Zuwanderung  gering  qualifizierter arbeitskräfte,  die  zur  unangenehmen  Konkurrenz wurden, die löhne drückten und die arbeitslosigkeit der Einheimischen erhöhten. Diese Furcht wird zunehmend der Vergangenheit angehören.  Sie  ist  ein  Relikt  der  letzten  dreieinhalb  Jahrzehnte,  in  denen  selbst  in  den  Zentren während der Boomzeiten noch hohe arbeitslosigkeit herrschte, seit  Mitte der 1970er Jahre die Babyboom-Generation in den arbeitsmarkt hineinwuchs und die Ölkrisen zu einer dauerhaften industriellen Schrumpfung führten. Die Zukunft sieht ganz anders aus. In Deutschland und den meisten seiner  nachbarländern sorgt die demographische Entwicklung dafür, dass die Zahl  der  Erwerbspersonen  drastisch  zurückgehen  wird.  Die  Folge:  arbeitgeber  werden arbeitskräfte aller art händeringend suchen, allen voran natürlich gut  qualifizierte. Und dies umso mehr, je robuster das industrielle Wachstum ausfällt, das sich bereits heute in den innovationskräftigen Zentren andeutet. Dem  steht in der Peripherie eine neue Generation von jungen Fachkräften gegenüber, die keine große Scheu haben wird, ihre berufliche Zukunft in den Zentren zu suchen und dies vielleicht schon durch ein Studium an den dortigen  Universitäten  und technischen  hochschulen  vorzubereiten. anders  als  ihre  Eltern und Großeltern spricht diese Generation von vornherein gut Englisch, 

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bewegt sich gewandt in einer globalisierten Welt und fühlt sich in den zunehmend kosmopolitischen Großstädten des hochindustriellen Europas viel wohler, als dies „Gastarbeiter“ oder „Exilakademiker“ zu früheren Zeiten taten.  Überall steht eine mobile Facebook-Generation zum Ortswechsel bereit. aus humanitärer Sicht ist dies eine gute Entwicklung. Es geht hier um die  Früchte der Freiheit in einem vereinten Europa, und die dürfen niemandem  vorenthalten werden. allerdings droht damit ein ausbluten des Südens und  des Ostens, zumal dort die demographische Entwicklung gleichfalls die Bevölkerungszahl schrumpfen lässt. Es bahnt sich deshalb europaweit eine Situation an, wie sie nach der deutschen Wiedervereinigung im Osten Deutschlands besonders dramatisch zu beobachten war. Die deutsche Politik reagierte  mit einem beispiellosen „aufbau Ost“, einem nationalen Programm von ungeheurem ausmaß, das auf europäischer Ebene völlig undenkbar wäre. allerdings wird sich auch in Europa die Frage stellen, wie dem Wanderungsdruck  politisch  zu  begegnen  ist.  Denn  eines  ist  klar:  Ein  massiver  „Brain  Drain“  vom Süden und Osten in das westliche Zentrum mag für theoretische Ökonomen akzeptabel sein, er birgt aber für die politische Praxis enormen Sprengstoff. Es wäre wohl das Ende des traums von einem gemeinsamen Weg der  europäischen nationen in die Prosperität. Was ist zu tun, um dies zu verhindern? Oberste wachstumspolitische Priorität muss das Ziel haben, die industrielle Innovationskraft in den ländern  der Peripherie zu stärken. nur so können die Krisenländer – zumindest langfristig  –  auf  einen  realwirtschaftlichen  Wachstumspfad  zurückkehren,  der  dann auch wieder Fortschritte bei der Konvergenz verspricht. Dies liegt natürlich in erster linie in der hand der jeweils nationalen Wirtschaftspolitik, aber  die  Europäische  Union  hat  durchaus  Spielraum,  den  Prozess  nachhaltig  zu  fördern. Dies gilt insbesondere dann, wenn durch allfällige Preissteigerungen  an  den  Weltagrarmärkten  der  EU-haushalt  insgesamt  entlastet  wird.  Dabei  gehört das gesamte Instrumentarium der regionalen Förderung der EU auf den  Prüfstand. Es bedarf einer Verlagerung der Schwerpunkte – von konsumnahen Förderprogrammen hin zu regional-, wissenschafts- und bildungspolitischen Initiativen, die geeignet sind, neue Schwerpunkte der Wissensbildung  in  der  Peripherie  entstehen  zu  lassen.  Es  geht  dabei,  ähnlich  wie  in  Ostdeutschland  um  eine  art  moderne  wachstumsorientierte  Industriepolitik:  nicht  branchenspezifisch,  sondern  innovationsorientiert;  nicht  „picking  the  winners“, sondern „paving the ground for winners“. all dies wird Zeit brauchen und Geld kosten. Denn es geht ja letztlich um  das Schaffen jener Bedingungen für industrielle Qualitätsproduktion, die in  ländern wie Deutschland, Österreich oder der Schweiz seit dem späten 19.  Jahrhundert  entstanden  sind  und  sich  offenbar  bewähren  –  von  der ausbildung von Facharbeitern bis zum Ingenieurstudium an technischen hochschulen. In der EU wird dies vor allem auch Deutschland finanziell belasten. aber  nur so wird ein Kontinent entstehen können, in dem die Wirtschaftskraft sich 

hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert?

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nicht allein auf das westliche Zentrum konzentriert, sondern große teile der  EU im Süden und Osten einschließt. Genau dies bleibt ein großes politisches  Ziel. Fazit: Die Regeneration der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland ist  zu beachtlichen teilen gelungen. Die zentralen aufgaben, die nun anstehen,  liegen auf europäischer Ebene.

WaS Kann DER Staat, WaS DaRF DIE WIRtSchaFt?1 Karen Horn Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft? Das ist die Frage, die mir aufgegeben ist. Diese Formulierung enthält vielfältige Reibungsflächen und bietet  griffige  ansatzpunkte  für  notwendige  begriffliche  Klärungen.  Zunächst  möchte ich mich ein wenig dem Begriffspaar „Staat und Wirtschaft“ widmen,  denn daraus ergeben sich schon Erkenntnisse für alles weitere. anschließend  werde ich das Spektrum um die vorgegebenen und auch um andere Verben  erweitern,  um  mich  so  noch  näher  der  eigentlichen  Frage  zuzuwenden.  Schließlich hätte man den titel auch andersherum konstruieren können: Was  darf der Staat, was kann die Wirtschaft? Man hätte auch fragen können: Was  darf der Staat, was darf die Wirtschaft? Oder: Was soll der Staat, was soll die  Wirtschaft?  Solche  Korrekturen  der Wortwahl  wären  sicher  nicht  ohne  Bedeutung.  Und  die  hier  nun  einmal  vorgenommene  Wahl  der  Verben  sagt  durchaus etwas aus, möchte ich vermuten, über unsere Perspektive, über unsere Wahrnehmungen und impliziten, gesellschaftlich über Jahrzehnte eingeübten Wertungen.  lassen Sie mich zunächst also die beiden Subjekte unter die lupe nehmen, Staat und Wirtschaft. Mit diesen beiden Begriffen spannt sich schon ein  ganzer theorieraum auf. Staat und Wirtschaft, das sind kollektive Entitäten,  und es sind vor allem gesellschaftliche Sphären. Beginnen wir mit dem Staat;  mit der Wirtschaft haben wir es nachher leichter. Wenn wir vom Staat sprechen, ist dies in diesem Zusammenhang natürlich kein rein geopolitischer Begriff, auch wenn der am einfachsten zu fassen  wäre. aber was ist der Staat sonst? Kaum ein Begriff schillert mehr als der  Begriff  „Staat“.  Das  Gemeinwesen?  Die  Summe  der  Bürger?  Die  Politik?  Fürst hans-adam II. von liechtenstein, als Regent einer, der es wissen muss,  bedient uns mit einer Metapher:  „Der moderne Staat ist ein sehr komplexes Gebilde, das sich aus vielen Systemen zusammensetzt, die aufeinander abgestimmt sein müssen. Man kann den Staat mit einem  großen Verkehrsflugzeug vergleichen. Das Verkehrsflugzeug transportiert seine Passagiere durch den Raum; der Staat seine Passagiere – das Volk – durch die Zeit.“2  1  2 

Dieser  Essay  basiert  auf  einem  Vortrag  im  Rahmen  des  theodor-heuss-Kolloquiums  2010, gehalten am 30. Oktober 2010 in der liederhalle Stuttgart. füRst haNs-adam ii. VoN LiechteNsteiN: Der Staat im dritten Jahrtausend. Bern 2010,  S. 101. 

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Das Volk ist also der Kunde: Das ist schon einmal ein ansatz. aber so richtig  weit führt er auch nicht.  „Ich wünschte, dass man einen Preis stiftet – nicht fünfhundert Franc,  sondern eine Million mit Siegerkranz und Verdienstkreuz am Band für den,  der eine gute, einfache und einsichtige Definition des Wortes gibt: der Staat“3  – so seufzte einst, im Jahre 1848, Frédéric Bastiat, der geniale, wortgewaltige,  scharfzüngige, witzige und bis heute erfrischende französische Ökonom, Politiker und Publizist, in seinem bissigen Essay „Der Staat“. Für ihn war der  Staat nur der Vermittler in der ausbeuterischen gegenseitigen Umverteilungsorgie gieriger Bürger. Der Staat war für ihn „die große Fiktion, nach der sich  jedermann bemüht, auf Kosten jedermanns zu leben.“4 Bastiat führt aus:  „heute wie ehemals will jeder gern ein bisschen mehr oder weniger von der arbeit anderer profitieren. Dieses Gefühl wagt man nicht offen zu zeigen, man verheimlicht es  vor sich selbst. Was macht man also? Man verschafft sich einen Vermittler, man wendet  sich an den Staat (…) [und] der Staat hat nur allzu viel neigung, dem teuflischen Rat zu  folgen. Denn er besteht aus Ministern, aus Beamten, aus Menschen eben, die wie alle  Menschen herzlich verlangen und eifrig nach jeder Gelegenheit greifen, ihren Reichtum  und Einfluss zu vermehren. Der Staat versteht also ganz schnell den Vorteil, den er aus  der Rolle ziehen kann, die ihm die Öffentlichkeit anvertraut. Er wird der Schiedsrichter  sein, der herr aller Geschicke: Er wird viel nehmen, also wird ihm viel für sich bleiben,  er wird die anzahl seiner Beamten vervielfachen, er wird den Umfang seiner Zuständigkeiten erweitern, er wird schließlich erdrückende ausmaße annehmen. aber bemerkenswert ist, wie erstaunlich blind die Öffentlichkeit dabei ist. (…) Was müssen wir von einem Volk  denken,  wo  man  nicht  zu  ahnen  scheint,  dass  die  gegenseitige Plünderung  nicht weniger Plünderung ist, weil sie gegenseitig ist; dass sie nicht weniger verbrecherisch ist, weil sie sich gesetzmäßig und in aller Ordnung vollzieht; dass sie nichts zum  öffentlichen Wohl beiträgt; dass sie es im Gegenteil um all das vermindert, was der verschwenderische Vermittler kostet, den wir Staat nennen?“5

Bastiats Philippika zeugt von einer politökonomischen hellsichtigkeit, die die  Väter der Public choice theory erbleichen lassen müsste. Ein Jahrhundert vor  ihnen war Bastiat glasklar, dass Politiker, amtsträger und Bürokraten Eigeninteressen verfolgen, die mit dem – wie auch immer zu definierenden – Gemeinwohl kollidieren können; er sah, dass der Staat so abstrakt ist, dass er  schließlich den Grundsatz der Reziprozität außer Kraft setzt, der das Miteinander  der  Menschen  im  normalfall  regiert,  im  nahbereich  aufgrund  von  Wohlwollen und im Fernbereich aufgrund einer evolutionär herausgebildeten  allgemeinen Vorstellung von Gerechtigkeit, wie adam Smith, der Moralphilosoph  der  schottischen aufklärung  und  Begründer  der  klassischen  nationalökonomie,  einst  herausgearbeitet  hatte.  Die abstraktheit  des  Staates  macht  3  4  5 

fRédéRic Bastiat: Der Staat, in: maRiaNNe diem / cLaus diem: Der Staat – die große  Fiktion. Ein claude-Frédéric-Bastiat-Brevier, thun 2001, S. 61. Ebd., S. 64. Ebd., S. 64f.

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ihn – den Staat, nicht Smith – zum Komplizen bei der gegenseitigen Plünderung der Bürger.  Bastiat denkt damit voraus und in den politischen alltag fort, was Franz  Oppenheimer später über Wesen und Ursprung des Staates sagt. nach Oppenheimer  ist  der  Staat  nämlich  eine  Einrichtung,  „die  von  einer  siegreichen  Menschengruppe einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen wurde mit  dem einzigen Zwecke, die herrschaft der ersten über die letzte zu regeln und  gegen innere aufstände und äußere angriffe zu sichern.“6  Es ist in der tat so, dass wir in der Regel weniger die einzelnen akteure  meinen, die den Staat ausmachen, wenn wir vom Staat sprechen, also im einzelnen die vielen Politiker, abgeordneten, Minister, Kanzler, Präsidenten, die  vielen Bürokraten in den ausführenden Organen und Behörden. Mit dem Wort  „Staat“  bezeichnen  wir  vielmehr  einen  Komplex  der autorität,  die  hoheit,  früher sagte man untertänig: die Obrigkeit. Zum Staat gehört eine politische  Instanz, die für die Schaffung und Wahrung von Recht und öffentlicher Ordnung in der Gesellschaft zuständig ist und diese mit hilfe einer Verwaltung,  dem  Staatsapparat,  auch  durchsetzen  kann.  Unter  dem  Staat  verstehen  wir  damit  die  Verkörperung  der  politischen  Gewalt,  den  Setzer  und  hüter  von  gesellschaftlichen Regeln, den hoheitlichen Entscheider und Gestalter, in der  Demokratie legitimiert durch das Volk, den Souverän. Um noch einmal auf  Frédéric Bastiat zurückzukommen, der seinerzeit alles so trefflich formuliert  hat:  „Wir unsererseits denken, dass der Staat nichts anderes ist oder sein dürfte als die institutionalisierte Kollektivgewalt – nicht als ein Instrument aller Bürger zur gegenseitigen  Unterdrückung und Plünderung – sondern im Gegenteil, um jedem das Seine zu garantieren, und Gerechtigkeit und Sicherheit herrschen zu lassen.“7 

Beliebig sind sie dabei weiß Gott nicht, die Grundwerte, die der Staat zu sichern hat. Sie sind die Quintessenz der westlichen Zivilisation, wie sie sich  historisch auf dem Weg der kulturellen Evolution herausgebildet haben, darunter  Freiheit,  Rechtsstaatlichkeit,  Gerechtigkeit.  Etwa  hundert  Jahre  nach  Bastiat forderte alexander Rüstow in einer beeindruckenden Rede vor dem  Verein  für  Socialpolitik  „einen  starken  Staat“  genau  in  diesem  Sinne,  und  damit meinte er auch „einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessen, da, wo er hingehört.“8 Er meinte den Staat als oberste, neutrale Instanz.  Und doch kann man sich daran reiben, dass der Staat, wenn man so von  ihm spricht, auch zu jenem abstrakten kollektiven Subjekt wird, das man ver6  7  8 

fRaNz oPPeNheimeR: Der Staat. Eine soziologische Studie, Berlin 1929, S. 14. f. Bastiat, Staat (wie anm. 3), S. 71. aLexaNdeR RüstoW: Freie Wirtschaft, starker Staat. Rede gehalten auf der tagung des  Vereins für Socialpolitik, Dresden 1932, in: fRaNz Boese (hg.): Schriften des Vereins  für Socialpolitik, Bd. 187, Deutschland und die Weltkrise, München, S. 69.

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mittels seiner vom Volke abgeleiteten Souveränität als eigenen konsistenten  akteur imaginiert. Dabei läuft doch vielmehr auf dem vielstimmigen Markt  der Meinungen und der argumente ein komplexer politischer Prozess ab, der  von erheblichen, oftmals kaum zu überblickenden Eigengesetzlichkeiten geprägt ist. Der Fokus auf die hoheitliche Gewalt, der in unserem Diskurs üblicherweise mitschwingt, wenn wir das Wort vom Staat gebrauchen, zeigt, wie  schwer es uns fällt, den Staat nicht gleichsam organisch zu sehen, sondern ihn  in unserer Wahrnehmung individualistisch aufzudröseln und auf den einzelnen  Bürger  zurückzuführen. Das  ist  ein  Ergebnis  seines  Konstruktionsprinzips, abgelöst von der bürgerlichen Reziprozität, ganz wie es Bastiat herausgearbeitet hat, und es ist nicht zuletzt wohl auch eine Folge jahrhundertelanger Prägungen, um nicht zu sagen schlechter Gewohnheiten.  Dem Staat wird in einem demokratischen Gemeinwesen gern das „Primat  der Politik“ zugeschrieben. Was nun wieder ist Politik? Der ausdruck Politika  bezeichnete schon in den Stadtstaaten des antiken Griechenlands alle diejenigen tätigkeiten, Gegenstände und Fragestellungen, die das Gemeinwesen, die  Polis  betrafen,  und  das  ist  im  Grunde  auch  noch  heute  in  der  Moderne  so.  Politik ist Regierungshandeln, Politik ist Ringen um die Macht im Staat, Politik ist Ringen mit den Inhalten, die bei der hoheitlichen Gestaltung des staatlichen Gemeinwesens von Belang sind. Dem Soziologen niklas luhmann ist  die  Bezeichnung  von  Politik  als  jenen  „Komplex  sozialer  Prozesse“  zugeschrieben, „die speziell dazu dienen, das akzept administrativer (Sach-) Entscheidungen zu gewährleisten. Politik soll verantworten, legitimieren und die  erforderliche Machtbasis für die Durchsetzung der sachlichen Verwaltungsentscheidungen  liefern.“9  Der  einstige  Bürgermeister  Berlins,  der  Sozialdemokrat Otto Suhr, brachte die Dinge deutlich knapper auf den Punkt: „Politik  ist Kampf um die rechte Ordnung.“10 Die in der gängigen Floskel vom „Primat der Politik“ verborgene aussage ist eine gewissermaßen erbittert legitimatorische: Wenn das, was der demokratisch verfassten Gemeinschaft widerfährt, auf der Grundlage einer regulären,  demokratisch  legitimierten  politischen  Entscheidung  zustande  kommt, dann hat es damit schon seine Richtigkeit. Dass es ganz so einfach  nicht ist, sieht man freilich schon an der sich hinziehenden auseinandersetzung  um  den  neuen  Stuttgarter  Bahnhof,  an  der  auseinandersetzung  um  „Stuttgart 21“. Wie der Staat seine Entscheidungen fällt, bevor er Bäume fällt,  ist offenbar auch von Belang.  Mit dem „Primat der Politik“ ist nur gemeint, dass alle herrschaft vom  Volke ausgehen muss, dass die Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung in  der hand des legitimen Souveräns zu liegen hat. Man sollte meinen, in der  9  Siehe z. B. thomas meyeR: Was ist Politik? Wiesbaden 2010, S. 38. 10  Zit.  nach  otto heiNRich V. d. gaBLeNtz:  Einführung  in  die  Politische  Wissenschaft,  Köln 1965, S. 14.

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Demokratie sei dies eine Selbstverständlichkeit. In der modernen Diskussion  hat das „Primat der Politik“ aber noch zwei weitere, kämpferische Konnotationen, beflügelt noch von der antikapitalistischen Systemdebatte im Gefolge  jener  Krise,  die  im  Jahr  2007  auf  den  amerikanischen  Immobilienmärkten  begann, dann Stück für Stück auf die Finanzmärkte übergriff und 2008 mit  dem Zusammenbruch der Bank lehman Brothers auch international richtig in  Gang kam. Im Zuge dieser Krise wandten sich viele Kapitalismuskritiker wie  zum Beispiel der – nun einmal systemtheoretisch geschulte und naheliegender  Weise auch so argumentierende – Soziologe Dirk Baecker gegen den Kapitalismus als „Wirtschaftssystem“11, das die Menschen überfordere, ihr Verhalten korrumpiere und entmenschliche und das zudem auch noch krisenanfällig  sei, weshalb am Ende besser der Staat die Zügel wieder in die hand nehme.  als ob blutleere „Systeme“ plötzlich organisch würden und zu gewalttätigen  lebewesen mutierten, als ob Menschen all ihres freien Willens verlustig gegangen wären und nun von abstrakten und düsteren Mächten zu irgendwelchen  handlungen  gezwungen  würden…  welch  seltsame,  finstere  Überhöhung! Das eine Postulat, das sich hinter dem Ruf nach einem „Primat der Politik“ gern versteckt, ist die bewusste abgrenzung von einem angeblichen „Primat der Wirtschaft“. Die Wirtschaft, das ist in dem hier verhandelten Zusammenhang wieder eine Sphäre, eine gesellschaftliche Sphäre, die Sphäre der  Unternehmen, die im wesentlichen gewinnorientiert sind und somit vornehmlich  materielle  Ziele  verfolgen;  die  Sphäre  aber  auch  aller  anderen  Wirtschaftssubjekte, die sich begegnen auf einer von der Privatrechtsordnung bereitgestellten und gestalteten Plattform, dem Markt. Die Wirtschaft, das sind  ja wohlgemerkt nicht nur Unternehmen und Banken. Die Wirtschaft, das ist  nicht nur das Großkapital und die hochfinanz. Wir alle sind wirtschaftliche  akteure, die meisten kleine, aber bis auf die Größe unterscheidet uns nichts  wesentlich von den großen Fischen. Wir alle bewegen uns auf Märkten, im  Rahmen der Ordnung, mit der sich die Beiträge dieses Buches beschäftigen. Über ein fehlgeleitetes, faktisches Primat der Wirtschaft zu klagen, gehört  zu  den  gängigen  Verteidigungslinien  gegen  den  neoliberalismus,  wohlgemerkt gegen den neoliberalismus in seiner heute üblichen polemischen Verkürzung und Fokussierung auf liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung,  verbunden  mit  dem  Phänomen  der  immer  weiter  voran  schreitenden  Globalisierung. Diese Klage bündelt sich in der Behauptung, der Staat, die  Politik,  die  demokratisch  legitimierte  Gewalt  habe,  ideologisch  fehlgeleitet  von neoliberalen Empfehlungen, das heft des handelns aus der hand gegeben  und  die  Gestaltung  der  wirtschaftlichen  und  gesellschaftlichen  Realität  11  diRK BaecKeR: Die Firma ist eine Zumutung, in: Frankfurter allgemeine Zeitung, 11. 5.  2009. Wiederabgedruckt in: fRaNK schiRRmacheR / thomas stRoBL (hg.): Die Zukunft  des Kapitalismus. Berlin 2010, S. 31–35.

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dem  Wildwuchs,  dem  chaos,  oder  schlimmer  noch,  den  gierigen,  gemeinwohlwidrigen Interessen der Wirtschaft ausgeliefert. So oder so ähnlich verläuft auch die hauptargumentation der Globalisierungsgegner, die unter dem  schmerzlich  so  empfundenen  Kontrollverlust  der  Regierungen  erschauern,  die ächzen unter dem Druck der hochreagiblen internationalen Märkte, unter  der abwanderungsdrohung des scheuen Rehs, das da heißt hochmobiles Kapital. Wenn die Politik also nach Wahrnehmung der Kritiker die Gestaltungsaufgabe  niederlegt,  entweder  weil  sie  „schief  gewickelt“  ist  oder  weil  der  Druck der Märkte faktisch dazu zwingt, sich mit Eingriffen immer mehr zurück zu halten, dann sehen die Kritiker des Kapitalismus darin mitnichten eine  sinnvolle  Disziplinierungsleistung  des  Wettbewerbs,  sondern  vielmehr  das  Ende der demokratischen Selbstbestimmung der Völker.  Der  Bayreuther  Soziologe  Michael  Zöller  hat  in  seinem  Beitrag  zu  der  lesenswerten Serie „Die Zukunft des Kapitalismus“, die die Frankfurter allgemeine Zeitung im Jahr 2008 zur so genannten Systemdebatte auflegte, zwar  seinerseits  eine  schlichte  Frage  gestellt:  „haben  wir  denn  im  Kapitalismus  gelebt?“12 Von einer völlig liberalisierten und deregulierten Wirtschaft konnte  auch vor der Krise nicht die Rede sein, noch nicht einmal mit Blick auf das  Finanzgewerbe. Von wegen „Primat der Wirtschaft“. Was es gab, das waren  Fehlregulierungen, Fehlanreize, anreizinkompatibilitäten und Regulierungslücken aufgrund von technischen Innovationen. In der Politik wurde gehandelt, aber es wurden Fehler gemacht, und das aus vielen Gründen: naivität,  Fehlanalysen, irreführende Ideologien, Einfluss von Partikularinteressen.  Es ist hier jetzt nicht die Zeit und nicht der anlass, um den Weg in die  globale  Finanz-  und Wirtschaftskrise  noch  einmal  vollständig  nachzuzeichnen. nur soviel hierzu: Der Kern dessen, was man erkennt, wenn man diesen  Weg in die globale Finanz- und Wirtschaftskrise noch einmal nachvollzieht,  ist, dass an ihrer Wurzel vor allem ein Steuerungsversagen des Staates, der  Politik,  der  Gestaltungskräfte  des  Gemeinwesens  stand.  Das  Problem  war  eine dysfunktionale ausformung des Ordnungsrahmens, eine üble Mischung  von  Fehlregulierungen,  haftungsvergessenheit,  Privilegienvergabe,  einer  hemmungslosen, anmaßenden, an Rechenhaftigkeit wenig interessierten Sozialpolitik und einer prinzipienlosen Geldpolitik – und all das war natürlich,  bei lichte besehen, gewachsen auf dem Boden einer in der Politik latent immer vorhandenen Verlockung, die letztlich stärker, kürzerfristig gedacht und  moralisch auch nicht weniger verwerflich ist als das viel gegeißelte Gewinnstreben  und  jede  Orientierung  an  Shareholder  Value  in  der  Wirtschaft:  die  Wählerstimmenmaximierung; die Gier verantwortungsloser akteure auf dem  politischen Markt. Das Versagen der Politik, die mit den Märkten der Wirt12  michaeL zöLLeR: haben wir denn im Kapitalismus gelebt?, in: Frankfurter allgemeine  Zeitung, 3. 8. 2009. Wiederabgedruckt in: f. schiRRmacheR / th. stRoBL: Zukunft (wie  anm. 11), S. 107–111.

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schaft gespielt, sie manipuliert und verzerrt hat bis zur Entstellung, durchaus  mit deren Einverständnis, lässt sich dabei auch nicht relativieren durch das  nachfolgende, zu einem gut teil nur reaktive Fehlverhalten privater akteure.  Und  doch  rührt  man  offenbar  an  ein tabu,  wenn  man  hierüber  spricht.  Warum  eigentlich?  Es  geht  hier  nicht  um  Schuldzuweisungen  an  einzelne,  sondern um Korrekturen am System, und, wie wir seit der Erfindung des Public choice wissen, gibt es keinen Grund, die politische, die staatliche Sphäre  von  unseren  Überlegungen  in  diesem  Zusammenhang  auszunehmen.  Wie  wichtig  die  Regelebene  des  Gemeinwesens  ist,  die  konstitutionelle  Ebene,  betont auch Fürst hans-adam II. von liechtenstein in seinem bereits zitierten  Buch:  „Ist das Verkehrsflugzeug eine Fehlkonstruktion, die dazu neigt, dann und wann abzustürzen, so versucht man, die Konstruktionsmängel zu beheben und schiebt die Schuld  nicht den Piloten oder Passagieren zu. Bei den Staaten neigt man dazu, die Schuld den  Politikern  in  die  Schuhe  zu  schieben  oder  dem Volk,  das  diese  Politiker  gewählt  hat,  anstatt Staatssysteme zu konstruieren, die möglichst sicher sind und, falls sie trotzdem  abstürzen, den Passagieren das Überleben ermöglichen.“13 

Das ist nicht nur Selbstschutz eines Regenten, der schon zwei Jahrzehnte in  einer konstitutionellen Monarchie „am Ruder“ ist. Es ist auch, und vor allem,  der Verweis darauf, dass an politischen Ordnungen immer weiter gefeilt werden muss, dass wir aus Fehlern der Vergangenheit lernen und unsere Erkenntnis konstruktiv nutzen sollten. Das entspricht auch im Wesentlichen dem ansatz und der Weisheit des nobelpreisträgers James M. Buchanan. Buchanan  hat in seinem ganzen Werk Wert auf die Feststellung gelegt, dass Politikversagen nicht auf eigennützige Motive, sondern auf ungeeignete Beschränkungen  politischen  handelns  zurückzuführen  ist.  Damit  liegt  der  Schlüssel  bei  der politischen Verfassung. nur leider ist jeder, der darauf hinweist, dass es  auf dem Weg in die Krise ein Steuerungsversagen des Staates, der Politik, der  Gestaltungskräfte des Gemeinwesens gab, in der Regel schnell konfrontiert  mit  dem totschlag-Vorwurf,  eine  unergiebige  Frontstellung  entlang  der  linien Staat vs. Markt fortzuschreiben. Ich finde diese Frontstellung gar nicht so  unergiebig, wenn es darum geht, Fehlentwicklungen zu diagnostizieren. Man  muss sie schließlich auch verorten. Wenn man nun also nicht nur wie bisher Staat und Wirtschaft, sondern  auch Staat und Markt voneinander abgrenzt, wovon sprechen wir dann? Wir  sprechen von Plattformen, auf denen die Koordination des menschlichen Miteinanders stattfindet. Es griffe freilich zu kurz, wenn wir diese Plattformen  nur als eine ökonomische (den Markt) und eine politische (den Staat) charakterisieren  und  voneinander  abgrenzen  wollten.  Denn  auch  im  Staat  gibt  es  Markt und das, was Menschen auf dem Markt tun: austauschbeziehungen im  Wettbewerb.  Und  auch  auf  dem  Markt  gibt  es  hierarchien,  Regeln,  Mehr13  h.-a. V. LiechteNsteiN: Staat (wie anm. 2), S. 101.

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heitsbeschlüsse. Was Markt und Staat als Plattformen und damit als Erscheinungsformen menschlicher Koordinationsbemühungen unterscheidet, ist der  dahinter  liegende  Impuls,  der  Modus,  und  im  Ergebnis  die  Perspektive  im  Fluss der Zeit, der Unterschied zwischen Dynamik und Statik. Das hat zu tun mit der art und Weise, wie Entscheidungen gefällt werden.  Im  Markt,  der  durch  die  Privatrechtsordnung  konstituiert  wird,  fallen  Entscheidungen singulär und dezentral, auf der Ebene der einzelnen transaktion  zwischen  den  einzelnen  transaktionspartnern,  freiwillig,  zum  beidseitigen  Vorteil. Wenn es um einen schlichten Güterhandel geht, ist der Preis, zu dem  die Ware über den ladentisch geht, ein spontanes Ergebnis. Über diesen und  viele andere Preise werden Informationen produziert und verbreitet, und auch  dies ist ein spontanes Ergebnis, das niemand im Vorhinein kennt oder simulieren kann. Dass die transaktionen auf dem Markt ablaufen können, setzt allerdings einen Rechtsrahmen voraus – die Sicherung von Eigentum, von Verträgen etc. Im Staat, in der Politik, wird über gesellschaftliche Zustände oder auch  über den Rahmen, der darüber herrschen soll, mehrheitlich entschieden. Im  Staat gibt es nicht ausschließlich freiwillige austauschbeziehungen zwischen  den  Bürgern  oder  zwischen  Bürger  und  Regierung  zum  allseitigen  Vorteil.  hier gibt es stets auch Verlierer. außerdem werden hier unmittelbar Resultate  gesetzt.  Zwar  hat  die  Politik  zwei  grundsätzlich  verschiedene  Register  des  handelns  zur  hand:  die  Ordnungspolitik  und  die  Prozesspolitik.  Die  Ordnungspolitik, die nur den Rahmen setzt, sich aber der partikulären Eingriffe  enthält, ist noch eher ergebnisoffen – auf gewisse Weise stellt sie selbst aber  auch  eine  Setzung  dar  und  keinen  spontanen  Prozess.  hier  herrscht  herrschaft,  und  hier  herrscht  Statik. Was  der  Evolution  verbleibt,  wo  sich  noch  Dynamik entfalten kann, das ist in der anpassung der Menschen an neue Zustände und Rahmenordnungen – und in der anpassung der Politik selbst hieran.  Sowohl hinter dem Markt als auch dem Staat stecken freilich Menschen.  Fehlbare Menschen. Wenn das Regelsystem Markt nicht das vollbringt, was  es üblicherweise leisten kann, dann haben Menschen gefehlt und die Ordnung  nicht so ausgestaltet, wie es nötig ist. an der Wurzel dysfunktionaler Märkte  stehen immer Menschen und ihre Fehler – wir alle, je nach unserer Rolle, der  einzelne akteur auf dem Markt, an seinem arbeitsplatz in einer Bank, in einem Industrieunternehmen, im Parlament oder sogar in einem Ministerium.  Ursächlich  verantwortlich  für  die  Krise  sind  Menschen,  nicht  irgendetwas  abstraktes wie „das System“.  Damit eine Krise so groß werden kann, wie es zwischen 2008 und 2010  geschehen ist, reicht es nicht aus, dass einige wenige Menschen einen Fehler  gemacht oder ihre Freiheit egoistisch missbraucht haben. Diese tatsache wiederum bedeutet aber nicht, dass „das System“ auf ganzer linie versagt und  die Menschen korrumpiert habe, wie es Kurzdenker nun behaupten. Es muss 

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vielmehr schon eine autonome Mentalitätsentwicklung auf breiter Front in der  Gesellschaft gegeben haben, die uns blind gemacht hat – die großen und kleinen akteure  auf  den  Finanzmärkten,  in  den  Regulierungsbehörden,  in  den  Ministerien und auch in den Universitäten. Sich pauschal gegen „das System“  zu wenden, statt hier präzise nachzubohren, ist nichts als eine feige Verdrängungs- und Vernebelungsstrategie. Das andere Postulat, das sich hinter dem „Primat der Politik“ gern versteckt, ist eine Weiterung aus der abgrenzung vom angeblichen „Primat der  Wirtschaft“. Wenn es darum geht, die hoheit der Politik wieder zurückzuerobern, wie es heißt, dann verspricht man sich zwar logischerweise auch etwas  davon, den Gegenstandsbereich jener Entscheidungen, die überhaupt im politischen Prozess verhandelt werden können, mindestens prophylaktisch auszuweiten.  Diese  Forderung  indes  beruht  auf  einem  grundlegenden  Missverständnis über das Wesen und die legitimität der Demokratie, und sie führt auf  gefährliche Weise in die Irre. Dass die herrschaft vom Volke ausgeht, heißt  nicht, dass die mehrheitliche Entscheidung des Volkes in der direkten oder der  repräsentativen Demokratie auf alles und jedes Zugriff hat beziehungsweise  haben darf.  Der österreichische Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich august von  hayek, der vor ziemlich genau 50 Jahren sein Opus Magnum „Die Verfassung  der Freiheit“14 herausgebracht hat, grenzte sich von jenem naiven Glauben an  die Demokratie, der heute zur Political correctness gehört, bewusst ab: Wo  Kollektive mehrheitlich entscheiden, muss der Bereich, über den sie hierbei  verfügen  dürfen,  durch  verfassungsrechtliche  Grenzen  fest  eingehegt  sein,  sonst ist die Freiheit des einzelnen gefährdet und es kommt zu akten der Willkür. Der Mensch benötigt eine Privatsphäre, er braucht Rechte, in die niemand  eingreifen darf. Der Souverän darf nicht alles. Keine Macht darf absolut sein.  hayek,  inspiriert  unter  anderem  von  Benjamin  constant  und Voltaire,  setzt  deshalb vor allem auf die herrschaft des Rechts. Gleich, ob die herrschaft in  händen eines einzelnen, weniger oder vieler liegt, immer bedarf die politische  autorität einer Selbstbeschränkung durch das Recht, damit die persönlichen  Freiheitsrechte gewahrt bleiben. Der Mensch braucht private Gärten, die er  frei nach Voltaires berühmtem candide bebauen kann. Ich steige jetzt ein bisschen tiefer das Wesen des Staates ein. Der Freiburger Soziologe, Ordnungstheoretiker und Verfassungsökonom Viktor Vanberg  sieht zwei grundsätzlich zu unterscheidende Ordnungsbereiche, auf die sich  die erwähnten staatlichen Gestaltungsbemühungen beziehen können: den Bereich der Privatrechtsordnung einerseits und den Bereich der staatlichen Verbandsordnung  andererseits15.  Diese  beiden  Ordnungsbereiche  intellektuell  14  fRiedRich august VoN hayeK: Die Verfassung der Freiheit. tübingen 1960. 15  Vgl. u. a. ViKtoR VaNBeRg: Markt und Staat in einer globalisierten Welt, in: ORDO 59  (2008), S. 3–29.

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klar von einander zu differenzieren, auch wenn sie sich in der Realität natürlich überlappen, ist Voraussetzung dafür, dass die staatliche Ordnung gelingt  – und dass konzeptionelle Unschärfen überwunden werden wie jene, die der  Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ widerspiegelt.16 „Soziale Marktwirtschaft“ – dieser Begriff, so sehr er uns über die Jahre ans herz gewachsen ist,  ist weder Fisch noch Fleisch. Den Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ hat bekanntlich der Kölner Ökonom alfred Müller-armack erfunden, der spätere Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, und er hat ihn erstmals 1947 in einem wissenschaftlichen  Werk  verwendet  –  und  ihn  tatsächlich  schon  damals  mit  großen anfangslettern überhöht.17 Der name entfaltete eine ungeheuere Suggestivkraft,  um nicht zu sagen Werbewirkung. Und so bürgerte er sich rasch ein, selbst  ludwig Erhard übernahm ihn zähneknirschend. In Müller-armacks Sozialer  Marktwirtschaft gehen das Soziale und der Markt eine Symbiose ein. Diese  Symbiose sorgt in der Gesellschaft für ausgleich und stiftet Frieden. Müllerarmack nannte den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft deshalb auch eine  „irenische“, eine friedensstiftende Formel. Sinn der Sache war es, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem Prinzip des sozialen ausgleichs zu  verbinden“18, wie er es in der schönen altmodischen Sprache der damaligen  Zeit formulierte. Es ging darum, die produktiven, dynamischen Kräfte in der  Wirtschaft freizusetzen, das heißt „auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft  die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche leistung  gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden.“19 Und das harmonisch, nicht  etwa durch einen triumph des einen über das andere. Was das genau heißen  sollte, blieb freilich unscharf. Eine leerformel ist es deshalb noch nicht. Müller-armacks Konzept sollte „atmen“ und sich stetig fortentwickeln können. In  der Praxis hat es vor allem dadurch neben vielen wahren auch mitunter falsche Freunde angezogen.  Das ist gar kein Wunder. Das Soziale und die Marktwirtschaft sind zwei  verschiedene  Ebenen,  die  man  zumindest  konzeptionell  scharf  voneinander  trennen muss, betont Viktor Vanberg, an den ich mich im Folgenden anlehne.  Die relevante Unterscheidung ist wie gesagt jene zwischen dem Bereich der  Privatrechtsordnung einerseits und den Bereich der staatlichen Verbandsordnung andererseits. „Die Privatrechtsordnung gibt den Regelrahmen ab, in dem  Menschen die handlungsrechte ausüben, die in ihrer Privatautonomie liegen,  und in dem sie ihr handeln untereinander auf der Grundlage freiwilliger Ver16  Vgl. KaReN hoRN: Die Soziale Marktwirtschaft, Frankfurt a. M. 2010. 17  aLfRed müLLeR-aRmacK:  Wirtschaftslenkung  und  Marktwirtschaft,  hamburg  1947.  Vgl.  auch  deRs.:  Unser  Jahrhundert  der  Ordnungsexperimente,  in:  deRs.:  Genealogie  der Sozialen Marktwirtschaft, Bern/Stuttgart ²1981, S. 150f. 18  aLfRed müLLeR-aRmacK: Soziale Marktwirtschaft, Bern 1956, S. 390. 19  aLfRed müLLeR-aRmacK:  Wirtschaftsordnung  und  Wirtschaftpolitik,  Bern,  1976,  S.  245.

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einbarungen  koordinieren.“20  auf  den  Rechtswissenschaftler  Franz  Böhm,  neben Walter Eucken einen der führenden Köpfe der Freiburger Schule, geht  die Erkenntnis zurück, dass die Marktwirtschaft jene wirtschaftliche Ordnung  ist,  die sich  im Rahmen einer Privatrechtsordnung  als ausfluss  freiwilligen  austauschs  und  freiwilliger  Kooperation  zwischen  ihre  Privatautonomie  wahrnehmenden akteuren  herausbildet.  In  der  Privatrechtsgesellschaft  und  Marktwirtschaft begegnen die Bürger einander als autonome Rechtssubjekte.  Das ist aber nur die eine Sphäre des Gemeinwesens, und hier ist der Staat der  Regelsetzer, zuständig für die Setzung, Durchsetzung und Pflege der Privatrechtsordnung.  Die andere Sphäre ist jene, in der sich die Menschen als Bürger im staatlichen Verband begegnen und in einer art Mitgliedschaftsbeziehung zueinander stehen. Sie sind Mitglieder, in den Worten von John Rawls, in einem „Unternehmen der Zusammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil“, in einer „cooperative venture for mutual advantage“21. Vanberg vergleicht das demokratische Gemeinwesen gern mit einem genossenschaftlichen, mitgliederbestimmten Verband, mit einer Bürgergenossenschaft. hier versorgen sich die Bürger  mit leistungen, an denen sie ein gemeinsames Interesse haben, und die sich  durch staatliche Organisation besser erbringen lassen als in privatrechtlichen  Vertragsformen.  Dazu gehören auch „Solidarleistungen, die  mit  der Besonderheit des Staates als Intergenerationenverband zusammenhängen“22 – also  der gesamte Komplex der sozialen Sicherung. Die  Bedeutung,  die  den  Unterschieden  zwischen  diesen  beiden  Ordnungsbereichen für die Frage des Maßstabes zukommt, an dem die tätigkeit  des Staates zu messen ist, hat nicht zuletzt hayek mit seiner Unterscheidung  zweier arten von Ordnung deutlich gemacht, der spontanen Ordnung einerseits  und  der  korporativen  Ordnung  organisierter  Zusammenarbeit  andererseits. Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft sind spontane Ordnungen,  deren Koordinationsleistung auf allgemeinen Verhaltensregeln beruht, die den  einzelnen akteuren, also auch den Unternehmen in der Wirtschaft, äußere Beschränkungen  auferlegen,  ihnen  aber  ansonsten Wahlfreiheit  belassen.  hierum geht es in der Ordnungspolitik. hier fungiert der Staat als Instanz, die  Regeln setzt und durchsetzt, denen alle unterworfen sind, die sich innerhalb  seiner territorialen Grenzen aufhalten oder das betreffende hoheitsgebiet für  ihre Zwecke nutzen wollen, seien es die eigenen Bürger in der ausübung ihrer  Privatautonomie,  seien  es  nicht-Bürger.  Den  Staat  in  dieser  Funktion  kann  man mit Vanberg als eine art Standortunternehmen bezeichnen, als ein Unternehmen, dass einen Standort mit bestimmten Qualitäten – insbesondere den in  20  ViKtoR VaNBeRg:  Ein  Mängelbegriff,  in:  Katja geNtiNetta / KaReN hoRN (hg.): abschied von der sozialen Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2009, S. 30. 21  johN RaWLs: a theory of Justice, Oxford 1971, S. 4. 22  V. VaNBeRg, Mängelbegriff (wie anm. 20), S. 34.

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ihm  geltenden  Regelungen  –  Standortnutzern  zur  Verfügung  stellt,  und  für  dieses nutzungsrecht einen Beitrag erheben kann, zu deutsch: Steuern. Die Ordnungsprobleme, die in beiden Bereichen, der Privatrechtsordnung  und der staatlichen Verbandsordnung, jeweils zu lösen sind, sind nicht dieselben. Die Marktwirtschaft ist das Ergebnis der Privatrechtsordnung, die von  dem Staat in seiner Eigenschaft als Regelsetzer – Vanberg zieht sogar die Parallele  zu  einem  Standortunternehmen  –  gesetzt  und  gepflegt  wird,  und  die  Menschen  sind  deren  nutzer.  hier  ist  Ordnungspolitik  gefragt.  Mehr  noch:  hier gilt ein klares Primat der Ordnungspolitik. Der Staat ist vor allem für die  Setzung, Erhaltung und Pflege des Ordnungsrahmens zuständig, nicht zuletzt  mit Blick auf die Wirtschaft. Der Eingriffe in den spontanen ablauf des Wirtschaftsprozesses, der so genannten Prozesspolitik, sollte er sich weitgehend  enthalten.  Sonst  würde  er  den  Preismechanismus  stören  und  die  segensreichen,  Wohlstand  und  Wissen  schaffenden  Wirkungen  der  Wettbewerbsordnung unterlaufen. auf der anderen Seite geht es um das Soziale. Das Soziale  ist Ziel und Ergebnis der Interaktion der Bürger als Mitglieder in einer Bürgergenossenschaft, die ihrerseits einer Verbandsordnung unterliegt, an die die  Bürger in der Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks Rechte delegieren. Was  hier zustande kommt, ist zumindest manchmal Prozesspolitik. Ordnungspolitik, Prozesspolitik, was ist damit gemeint? Das Begriffspaar  „Ordnungspolitik“ und „Prozesspolitik“ hat sich aus der Zeit der Freiburger  Schule bis heute erhalten – allerdings nur im deutschen Sprachraum. Dabei  scheint „Ordnungspolitik“ eingängiger und weniger missverständlich zu sein  als  „Prozesspolitik“;  der  letztere  Begriff  ist  heute  weniger  geläufig.  Ordnungspolitik hat, wie es der name schon sagt, mit dem Ordnungsrahmen zu  tun. Mit Blick auf die Wirtschaft sucht sie die Rahmenbedingungen richtig zu  setzen, sie zu erhalten, sie an immer neue Entwicklungen anzupassen und zu  verbessern. Sie zielt auf den großen Zusammenhang. Prozesspolitik hingegen  fußt nicht so sehr auf der Vorstellung einer atmenden Ordnung, sondern bedeutet gezielte, engmaschige Steuerung. Prozesspolitik besteht aus Eingriffen  in den Marktprozess; sie verfolgt das Ziel, bestimmte Ergebnisse direkt herbeizuführen. Ordnungspolitik setzt an den allgemeinen Spielregeln an, Prozesspolitik steuert stattdessen unmittelbar die politisch für erwünscht erklärten  Spielergebnisse  an.  Ordnungspolitik  arbeitet  mit  universellen  Gesetzen,  Prozesspolitik  regelt  Einzelfälle.  Ordnungspolitik  ist  grundsätzlich  zurückhaltend, Prozesspolitik verfällt fast zwangsläufig einer anmaßung von Wissen. Ordnungspolitik ist langfristig orientiert, Prozesspolitik operiert nach aller  Erfahrung  eher  kurzfristig.  Gute  Ordnungspolitik  dient  somit  dem  Gemeinwohl,  Prozesspolitik  läuft  leicht  Gefahr,  von  Sonderinteressen  vereinnahmt zu werden. Ein wesentlicher Grund für das Primat der Ordnungspolitik liegt schlicht  und ergreifend in den begrenzten Fähigkeiten dieser Entität und dieser autorität, die wir Staat nennen. Krisenzeiten, in denen die Regierungen das heft 

Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?

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des handelns wieder fest ergreifen, mögen von dieser tatsache ablenken. Dabei werden wir in Krisenzeiten noch mehr als sonst auf die ernüchternde und  gern  verdrängte  tatsache  zurückgeworfen,  dass  jeder  Einzelne  immer  nur  über recht wenig Wissen verfügt, so schlau er auch sein mag. Jedermann weiß  zwar einigermaßen über sich selbst Bescheid, über das, was er will, und das,  was er kann – aber das war es dann auch schon. Wenn die Menschen freiwillig, spontan und von außen nicht künstlich ferngesteuert miteinander handel  treiben und Verträge schließen, dann bringen sie darin aber ihr privates, „lokales“ Wissen ein, um mit hayek zu sprechen23. So legen die Menschen in  ihrer Interaktion miteinander ihr jeweiliges Wissen zusammen. Und auf diese  Weise  entsteht  dann  sogar  neues  Wissen.  hayek  nennt  das  Wissensteilung,  analog zum herkömmlichen Begriff der produktiven arbeitsteilung. Das neue  gesellschaftliche Wissen entsteht in diesem Prozess aber nur, wenn keine Instanz von außen vorgreift, wenn die spontane Ordnung sich entfalten und wirken kann. Die Volksvertreter und Mandatsträger der Politik können und dürfen zwar  selbstverständlich  eigene  Vorstellungen  darüber  haben,  wie  Wirtschaft  und  Gesellschaft aussehen sollten. aber sie können nicht wissen, was für die aus  lauter Individuen zusammengesetzte Gesellschaft aus deren eigener Sicht gut  und richtig ist. Das ist etwas, was die Menschen in ihrem Miteinander immer  wieder aufs neue selbst entdecken müssen. Sie müssen es mit sich geschehen  lassen. Dafür sind wettbewerbliche Prozesse erforderlich, die so offen sind,  dass die leute auf ganz alltägliche Weise herausfinden können, wie sie leben  wollen und was gut für sie ist. Das ist es, was am Ende das Gemeinwohl ermöglicht und ausmacht – und nicht die gezählte Mehrheitsmeinung, die sich  aus den zunehmend beliebten Umfragen ergibt und an der sich die Politiker  mangels eigener Überzeugungen so gern orientieren. Demoskopische analysen sind immer nur Momentaufnahmen, und außerdem haben Mehrheitsmeinungen  mit  den Wünschen  des  Individuums  nun  einmal  nur  sehr  wenig  zu  tun.  Um die Offenheit der gesellschaftlichen Prozesse zu sichern, sollte sich  der Staat also auf Ordnungspolitik beschränken. Er sollte mit hilfe von allgemeinen Regeln die Bedingungen dafür schaffen, dass eine solche Selbstfindung – hayek sprach von einer „spontanen Ordnung“ – möglichst frei und  offen ablaufen kann. So entsteht dann ein nicht vorhersagbares soziales Erfahrungswissen.  Wenn  die  Politik  diese  spontane  Koordination  aber  verstopft,  indem sie der Gesellschaft im Wege der Prozesspolitik die Endergebnisse diktiert und den Bürgern die Vielfalt nimmt, dann nimmt sie den Menschen und  der Gesellschaft die Fähigkeit, sich immer wieder selbst zu erfinden.

23  fRiedRich august VoN hayeK:  the  Use  of  Knowledge  in  Society,  in: american  Economic Review 35 (1945), S. 519–30.

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Wie  schädlich  eine  politische  „anmaßung  von Wissen“  ist,  die  auf  die  spontanen Ergebnisse des Marktes verzichtet und die Menschen ohne Verluste  bevormunden zu können glaubt, hat Friedrich august von hayek mehrfach  betont. Besonders prägnant in diesem Zusammenhang ist hayeks Rede, die er  im Jahr 1974 in Stockholm hielt, als er dort den Wirtschafts-nobelpreis verliehen bekam.24 hayek ermahnte dort auch seine Kollegen, die Ökonomen,  zur Bescheidenheit – ebenso wie die Politik, die sich nur allzu gern auf deren  Berechnungen und Empfehlungen verlasse.  Was  bedeutet  nun  die  Vanbergʼsche  Unterscheidung  der  zwei  Sphären  staatlicher  Ordnung?  Sie  macht  uns  das  leben  ein  bisschen  schwerer.  Wir  können  uns  nicht  länger  auf  den  Standpunkt  stellen,  wie  man  das  als  alter  neoliberaler gern tut, der Staat sei allein für die Regeln zuständig, nur Ordnungspolitik sei zulässig. Es gibt auch noch etwas neben dieser Sphäre. auch  Solidarität will im Gemeinwesen organisiert und institutionalisiert sein. Das  ahnten  die  Väter  der  Sozialen  Marktwirtschaft,  nur  unterschieden  sie  hier  noch nicht so sauber wie heute Viktor Vanberg, nach dem man das Konzept  der Sozialen Marktwirtschaft in dem Sinne interpretieren kann, dass der Staat  in seiner Rolle als Standortunternehmen für die Pflege der marktwirtschaftlichen  Wirtschaftsordnung  zuständig  ist,  und  dass  er  in  seiner  Rolle  als  Gemeinschaftsunternehmen der Bürger ein solidarisches Unterstützungssystem  organisiert, durch das sich die Bürger wechselseitig gegen grundlegende Einkommensunsicherheiten und lebensrisiken absichern.  Die Väter der Sozialen Marktwirtschaft ahnten vielleicht auch, dass dieses  nebeneinander  oder  Miteinander  schwierig  werden  könnte,  weil  sich  beide Sphären überlappen, weil die eine auf die andere wirkt. Das dürfte der  Grund sein, warum alfred Müller-armack meinte, dass das Soziale und die  Marktwirtschaft einander nicht übertrumpfen oder korrigieren, sondern einander durchdringen sollten. Die Bürgergenossenschaft kann in ihrer Sphäre zu  Regeln gelangen, die in der Sphäre der Privatrechtsgesellschaft dysfunktional, ja schädlich sind, was im Endergebnis beiden Sphären schadet – und zwar  genau  deshalb,  weil  die  Regelkreise  zusammenhängen. Walter  Eucken,  der  führende Kopf der Freiburger Schule, hat hierfür das Wort von der „Interdependenz  der  Ordnungen“  geprägt.  Weil  die  Väter  der  Sozialen  Marktwirtschaft  diesen  Zusammenhang  erkannten,  bestanden  sie  auf  Formulierungen  wie  jener  von  alfred  Müller-armack,  dass  Staatseingriffe  „den  sozialen  Zweck sichern (sollten), ohne störend in die Marktapparatur einzugreifen“25.  Es steht auf einem anderen Blatt, dass derlei leichter gesagt ist als getan.  Was soll der Staat? Was darf der Staat? Was kann der Staat? Was ist seine  aufgabe,  was  sind  seine  legitimitätsgrenzen,  was  sind  die  Grenzen  seiner  24  fRiedRich august VoN hayeK: the Pretence of Knowledge, unter: http://nobelprize.org/ nobel_prizes/economics/laureates/1974/hayek-lecture.html (2.9.2011). 25  a. müLLeR-aRmacK, Marktwirtschaft (wie anm. 18), S. 246.

Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?

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Fähigkeit? Das ist wohl die richtige Reihenfolge und Umschreibung, in der  diese Fragen aufzureihen und zu beantworten sind. Was also soll der Staat?  Mit Frédéric Bastiat sehe ich den Staat als eine „institutionalisierte Kollektivgewalt“, mit der aufgabe, dem Sollen also, „jedem das Seine zu garantieren,  und Gerechtigkeit und Sicherheit herrschen zu lassen.“26 Wilhelm von humboldt wiederum stellte in seinen „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der  Staatstätigkeit zu bestimmen“ genau diese Frage: „Zu welchem Zweck [soll]  die ganze Staatseinrichtung hinarbeiten und welche Schranken [soll] sie ihrer  Wirksamkeit setzen?“27 Für ihn war es das oberste Ziel des Staats, die höchste  Bildung der individuellen menschlichen Kräfte zu einem Ganzen zu ermöglichen. Grundlage dieser Forderung war sein humanistisches Ideal, das unter  liberalen übrigens ziemlich umstritten ist, weil es dem Menschen die Wahl  seiner eigenen Ziele und Zwecke nicht offen lässt, sondern einen Zweck vorschreibt: „Der wahre Zweck des Menschen (…), welche die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt, ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“28 auf Grundlage dieser Prämisse verlangte  humboldt  Freiheit  und  Vielfalt.  Und  die  wichtigsten  aufgaben  des  Staates  sind  demnach  die  Gewährung  eines  höchstmaßes  an  individueller  Freiheit für die Bürger sowie die Erhaltung der inneren und äußeren Sicherheit. In der Sphäre der Privatrechtsgesellschaft soll der Staat also Regelsetzer  und hüter einer Verfassung der Freiheit, der spontanen Ordnung sein, in der  Sphäre der Verbandsordnung soll der Staat der hüter von materieller Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Bürgersinn sein – was auch immer den Bürgern in ihrer Eigenschaft als Mitglieder der Bürgergenossenschaft Staat und  als Stimmbürger in der Demokratie wichtig ist. Die Kunst besteht darin, im  alltag die beiden Sphären in ein glückliches Miteinander zu bringen und dafür zu sorgen, dass nicht das eine das andere unterläuft. Man muss also nicht  so streng und so einseitig sein wie humboldt: „Der Staat enthalte sich aller  Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde  notwendig ist; zu keinem andren Endzwecke beschränke er ihre Freiheit.“29  Bekanntlich fiel ja auch humboldt selbst seinerzeit von dieser seiner Überzeugung ab, und zwar spätestens in dem Moment, in dem er als preußischer  Minister die hoheit über das Bildungswesen bekam. Was aber passiert, wenn  dieser  Balanceakt  zwischen  den  ansprüchen  von  Privatrechtsordnung  und  Bürgergenossenschaft misslingt, das wusste eben Bastiat: Der Staat wird bekanntlich, um es noch einmal zu zitieren, zu der „großen Fiktion, nach der  26  f. Bastiat, Staat (wie anm. 3), S. 71. 27  WiLheLm VoN humBoLdt:  Ideen  zu  einem  Versuch,  die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staats zu bestimmen. Stuttgart 1991 (erstmals 1792), S. 13. 28  Ebd., S. 22. 29  Ebd., S. 52.

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sich jedermann bemüht, auf Kosten jedermanns zu leben.“30 hieraus ergibt  sich, was der Staat nicht darf.  Der  Staat,  der  das  soll,  was  wir  eben  beschrieben  haben,  der  darf  sich  selbst und seine ureigene aufgabe nicht konterkarieren, indem er Freiheitsrechte unterdrückt, die Vielfalt der lebensentwürfe schmälert, die spontane  Ordnung  und  ihre  evolutionäre  Kraft  zur  Generierung  von  neuem  gesellschaftlichem  Wissen  ausschaltet.  Er  darf  die  Menschen  nicht  manipulieren  oder in Versuchung führen, und er soll nicht gaukeln. Um hierfür einen Kompass  zu  haben,  haben  die  ordoliberalen  Vordenker  der  Sozialen  Marktwirtschaft die bereits angeführte begriffliche trennung von Ordnungspolitik und  Prozesspolitik erfunden. Wie aktuell das ist, sieht man, wenn man sich vor  augen führt, wie Menschen in amerika mit einer allzu lockeren Geldpolitik  und entsprechenden sozialpolitischen Programmen zum Kauf von Eigenheimen verlockt wurden, und wie landesbanken jenseits ihres auftrags und ihrer  Kompetenz an den Finanzmärkten um immer höhere Rendite „gezockt“ haben. noch hilfreicher ist gedanklich aber vielleicht die Struktur, die sich aus  den arbeiten des nobelpreisträgers James M. Buchanan ergibt. Ähnlich wie  hayek geht es Buchanan vor allem um das Regelsystem, also um die Ordnung, um die Verfassung.31 Um eine Verfassung der Freiheit. Ihm geht es um  die  Begründung  des  Staates  und  seiner  angemessenen  Funktionen  aus  den  Interessen der Bürger. Dem methodologischen Individualismus der Buchananschen analyse  entspricht  sein  normativer  Individualismus  und  damit  das  Kriterium der freiwilligen Zustimmung der Betroffenen. Politik ist vor allem  dann konsensfähig und legitimiert, wenn es nicht um spezifische Spielzüge  geht, also um prozesspolitische Eingriffe, sondern um grundlegende Spielregeln und deren neutrale Durchsetzung, also um Ordnungspolitik. Grundprinzipien sind mithin: nicht-Diskriminierung oder auch allgemeinheit, Generalität beziehungsweise Universalisierbarkeit der Regeln; rückblickend zumindest potentieller Konsens aller Beteiligten. Selbst eine solche kontrakttheoretische Konstruktion ist inhaltlich nicht beliebig – auch hier landet man, wie  schon  gesagt,  letztlich  bei  Freiheit,  Rechtsstaatlichkeit  und  Gerechtigkeit.  Diese  Prinzipien  bestimmen  die  Grenzen  der  legitimität  staatlichen  handelns. Was nun aber kann der Staat? Der Staat kann alles, und leider auch mehr  als das, was er darf. Er hat das Gewaltmonopol. nur eines kann er nicht, und  insofern darf man auch sagen, dass er vielleicht insgesamt doch weniger kann,  als er darf: Er kann nicht Fünfe gerade sein lassen. Und das ist auch gut so, das  hält den Staat und seinen Gestaltungsanspruch zumindest potentiell in Schach,  das heißt im Rahmen des Möglichen und des Vernünftigen. auch der Staat  30  f. Bastiat, Staat (wie anm. 3), S. 64. 31  Vgl. KaReN hoRN: Roads to Wisdom, cheltenham 2009, S. 85–90.

Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?

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kann nicht von vornherein verlorene Kämpfe doch noch erfolgreich für sich  entscheiden. Das kann niemand. Ich kann mir vornehmen, die Sonne heute  abend  nicht  untergehen  zu  lassen,  es  wird  mir  nicht  gelingen.  Die  Bürger  können sich als Mitglieder der Bürgergenossenschaft vornehmen, dafür sorgen zu wollen, dass ihr See sauber bleibt, doch wenn der Oberlauf des in den  See einmündenden Flusses unter der hoheit eines anderen Staates steht, dem  das gleichgültig ist, dann kann dies verlorene liebesmüh sein. Ein wahrhaft  tragisches Beispiel hierfür ist der allmählich austrocknende, versalzende und  verschwindende aral-See.  Und  das  Klima  insgesamt  ist,  je  nach  Dramatik,  die man der Sache verleihen will, auch ein Beispiel. Und, vielleicht noch einschlägiger: Wir können uns auch den Märkten nicht entgegenstemmen. Man  denke an den Fall Griechenland: Wer eine solche haushaltspolitik hinlegt und  die Öffentlichkeit nach Strich und Faden betrügt, der muss sich über Sanktionen in Form von astronomischen Renditezuschlägen nicht wundern, und er  hat sie auch verdient. Wenn sich die Politik dem entgegenstemmen will, wird  das entsprechend teuer – und so ist es ja auch gekommen. Die Geschichte ist  auch noch nicht ausgestanden. Wir können nun auch unsere europäischen Finanzmärkte regulieren, wie wir wollen, wenn der Rest der Welt oder zumindest eine kritische Masse nicht mitzieht, werden wir nur Kapitalanleger verlieren. als Deutschland leerverkäufe verbot, was sowieso ein nicht-sachgerechter Unsinn war, lachte man sich in der londoner city ins Fäustchen. In  der Globalisierung verändert man mit alleingängen gar nichts, man schadet  sich nur selbst.  In  der  bestechenden  Vanbergʼschen  logik  zwingt  uns  diese  tatsache,  dass wir nicht allein sind auf der Welt, die Globalisierung, die Funktionen des  Staates als Gemeinschaftsunternehmen der Bürger und als Standortunternehmen in Zukunft nicht nur konzeptionell, sondern auch im politischen handeln  und  in  dessen  Kommunikation  deutlicher  voneinander  zu  trennen.  Denn  in  einer Welt fast ungehinderter Mobilität kommt die Unterscheidung zwischen  den  beiden  Funktionen  des  Staates  zur  vollen  praktischen  Entfaltung.  hier  können Menschen zum einen frei darüber entscheiden, welchem politischen  Gemeinschaftsunternehmen sie als Mitglied angehören möchten, und sie können zum anderen ebenso frei entscheiden, in welchem staatlichen hoheitsgebiet sie mit welchen ihrer wirtschaftlichen Ressourcen tätig werden wollen.  Beide Entscheidungen treffen sie in abwägung der damit jeweils verbundenen Kosten und nutzen; und das Ergebnis muss nicht dasselbe sein. Was heißt  das  für  den  Staat?  Man  sollte  beispielsweise  auf  den  Versuch  verzichten,  Standortnutzer mit den Kosten von leistungen zu belasten, die allein Bürgern  als Mitgliedern des Gemeinwesens Vorteile bringen, aber nicht dazu beitragen, die attraktivität des Standorts für dessen nutzer zu erhöhen. 

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Karen horn „Der  Standortwettbewerb  schränkt  keineswegs  die  Mitglieder  einer  Bürgergenossenschaft  in  ihren  Möglichkeiten  ein,  sich  mit  den  öffentlichen  leistungen  und  solidarischen absicherungen zu versorgen, die sie gemeinschaftlich zu finanzieren bereit sind.  Die wettbewerblichen Zwänge, die ihnen die höhere Mobilität der Standortnutzer in einer globalisierten Welt auferlegt, schränken lediglich ihre Möglichkeiten ein, die Kosten  solcher Vorhaben Dritten aufzuerlegen, die daraus keine Vorteile ziehen können. anders  gesagt,  der  Standortwettbewerb  zwingt  zur  Kostenwahrheit  in  der  Finanzierung  der  leistungen, die das Gemeinschaftsunternehmen Staat für seine Bürger bereitstellt, und  er  zerstört  die  Illusion,  dass  man  Standortnutzer  zur  Finanzierung  dieser  leistungen  über das Maß hinaus heranziehen kann, in dem sie daraus Vorteile ziehen.“32 

Das klingt meines Erachtens nach größerer Rationalität des staatlichen handelns, nach größerer Effizienz und größerer Gerechtigkeit. natürlich wird es  dann aber so sein, dass der Staat bestimmte Dinge nicht mehr kann – einfach  weil der Preis zu hoch ist, die Sanktion der mobilen Standortnutzer in Form  von abwanderung zu drastisch. Das ist es, um auf den zweiten teil der mir  gestellten Frage zu kommen, was die Wirtschaft kann. Die Wirtschaft zeigt  mit ihren Reaktionen untrüglich an, was vom Standort zu halten ist. Diesen  Wahrheiten muss man sich dann in der Bürgergesellschaft auch stellen, statt  wie bisher gern die augen davor zu verschließen.  Was aber darf nun die Wirtschaft? Diese antwort fällt leicht, und ich kann  mich hier auch kurz fassen. Die Wirtschaft darf alles, was nicht verboten ist.  Wie jeder akteur alles darf, was von der Rahmenordnung toleriert wird, was  ihm das rechtsstaatlich und demokratisch verfasste Kollektiv nicht verboten  hat. Die Wirtschaft darf, wie jeder akteur, freiwillige Verträge abschließen im  Rahmen  des  Rechts,  und  sie  darf  ihren  materiellen Vorteil  verfolgen.  „the  business  of  business  is  business“,  wie  es alfred  P.  Sloan  (1875–1966),  der  langjährige President und chairman von General Motors einmal formulierte.  Sie darf auch astronomisch hohe Managerlöhne zahlen, um kurz noch eine der  beliebtesten Säue durchs Dorf zu jagen. Ob das klug ist, ist eine andere Frage.  Was aber, wenn der Wirtschaft die gegebene Ordnung nicht passt? Wenn  sie ihren Zwecken zuwiderläuft? Es gibt eigentlich nur drei logische Möglichkeiten, die sich hieraus ergeben. Entweder: Die Wirtschaft, also die Unternehmen oder auch andere Wirtschaftssubjekte, also auch wir, wir bemühen uns,  die Schlupflöcher in der Ordnung zu finden und zu nutzen, gerade so wie jeder  Bürger, der viel Zeit und Mühe darauf verwendet, seine Steuererklärung so  auszufüllen, dass er zwar im Rahmen des Rechts bleibt, seine Steuerlast aber  minimiert.  Oder  wie  die  Banken,  die  bestehenden  Regulierungen  dadurch  ausweichen, dass sie Produkte schneidern, die den herkömmlichen Zweck erreichen, von der Regulierung aber nicht erfasst werden. Die zweite Möglichkeit: Wir brechen die Regeln. Wie ein Steuerhinterzieher. Oder wie Bernard  Madoff. Oder auch: Wir bringen uns in den politischen Prozess ein, um die  32  V. VaNBeRg, Markt (wie anm. 14), S. 23.

Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?

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Regeln nach unseren Vorstellungen zu ändern. In Bezug auf alle drei Optionen fragt sich: Dürfen wir das? Darf die Wirtschaft das? Das „Dürfen“, das jetzt zum tragen kommt, ist kein juristisches. Sondern  ein moralisches, und es ist wie im Fall des „Staates“ aufs Engste verbunden  mit dem „Sollen“. Erstens: Schlupflöcher zu suchen, ohne aus der legalität zu  fallen, ist ein korrosives Verhalten. Es macht die jeweilige Regelung, um die  es geht, weniger effektiv. Wie James M. Buchanan und Geoffrey Brennan in  ihrem Buch „the Power to tax“33 betont haben, ist das aber genau richtig:  Wenn die Staatsgewalt auf bürgerliche Resistenzen stößt, verfällt sie nicht so  leicht in den trott, die wahren Interessen des Bürgers zum missachten. Wer  Schlupflöcher sucht und nutzt, hält die Staatsgewalt in Schach und sichert die  individuelle  Freiheit.  Dass  die  Regierung,  wie  im  Fall  der  Regulierung  der  Finanzmärkte,  den  kreativen akteuren  dabei  immer  hinterherläuft  und  niemals vollständig effizient proaktiv handeln kann, mag uns ärgerlich erscheinen. Doch wenn es anders wäre, befänden wir uns im totalitarismus.  Zweitens: In einer legitimen, rechtsstaatlichen Ordnung ist es illegal, gesetzliche  Regeln  zu  brechen.  Regelverstoß  wird  geahndet.  Man  muss  kein  Mitleid  mit  Steuerhinterziehern  haben,  die  auffliegen  und  büßen  müssen,  wenn man einmal von den mitunter höchst zweifelhaften Methoden zur Beschaffung  der  hierfür  nötigen  Informationen  absieht.  Um  Friedrich august  von hayek zu zitieren:  „Zwang nach bekannten Regeln, der im allgemeinen die Folge von Umständen ist, in  die sich die zu zwingende Person selbst begeben hat, wird auf diese Weise ein Werkzeug, das den Individuen bei der Verfolgung ihrer eigenen Ziele hilft, und kein Mittel,  das zur Erreichung der Ziele anderer verwendet wird.“34 

Und dennoch, und das sieht auch hayek so, muss es in einer offenen Gesellschaft möglich sein, Regeln zu brechen. anders kommt das neue nicht in die  Welt, anders gibt es kein gesellschaftliches lernen. Fälle von Steuerhinterziehung sind keine Bagatelle, aber sie sind auch ein hinweis darauf, dass an der  höhe der Steuersätze etwas nicht stimmen mag – und sie sind möglicherweise  ein anstupser,  ein  „nudge“35  nicht  an  die  Bürger,  sondern  vielmehr  an  die  Politik, sich des themas noch einmal anzunehmen. aus moralischer Perspektive wird dieses terrain sehr schwierig. Es ist wieder einmal eine konzeptionelle Unterscheidung angezeigt, und zwar jene zwischen Individualethik und  Ordnungsethik.36  33  geoffRey BReNNaN / james m. BuchaNaN: the Power to tax: analytical Foundations of  a Fiscal constitution, new York 1980. 34  f. a. V. hayeK, Verfassung (wie anm. 14), S. 30. 35  In anlehnung an RichaRd h. thaLeR / cass R. suNsteiN: nudge, new haven 2008. 36  Vgl. KaReN hoRN: Markt und Moral, tübingen 1996. Oder auch chRistoPh Lütge: Gegen eine Ethik der Mäßigung, in: K. geNtiNetta / K. hoRN (hg.), abschied (wie anm  20), S. 99–106.

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Karen horn

Individualethik ist tugendethik. Sie hat das Individuum im Blick und formuliert  möglichst  präzise  handlungsanleitungen.  Sie  ist  die  lehre  von  den  normen, handlungsregeln, Maximen, Sitten, die in der Gesellschaft immer  wieder neu entstehen und das Miteinander der Menschen regulieren. Ein teil  dieser normen fußt auf einer bewussten abwägung dessen, was sich im alltag  für die Menschen lohnt. Ein anderer teil indes ist tradiert. Man hat gelernt,  was „sich gehört“ und was nicht, und nur selten wird das hinterfragt. Dass  manche normen nicht hinterfragt werden, ist kein Fehler – es spart gleichsam  kognitiven aufwand. Ordnungsethik bezieht sich demgegenüber darauf, wie  eine gesellschaftliche Rahmenordnung auszusehen hat. Ihre handlungsanleitungen sind antworten auf die Frage, nach welchen Prinzipien eine gute Ordnung ausgestaltet sein sollte.  Wer die Ordnungsethik sauber von der Individualethik scheidet, betreibt  keine  haarspalterei.  Wenn  man  individualethische  Maßstäbe  auf  die  Frage  anwendet,  wie  die  Wirtschaftsordnung  gestaltet  werden  sollte,  kommt  man  leicht  zu  falschen  Ergebnissen.  Das  liegt  daran,  dass  man  von  einem  Menschen etwas anderes erwarten darf als von einem System. Von einem Menschen  hofft  man, dass  er sich wie ein guter Mitmensch  benimmt, also zum  Beispiel  respektvoll,  anständig  und  hilfreich. Von  einem  Unternehmer  oder  einem Manager kann man darüber hinaus erwarten, dass er ehrlich und verantwortungsbewusst seine Geschäfte führt. Vom Verbraucher ist zu erwarten,  dass er sich als mündig erweist. Von einem System hingegen ist vor allem zu  verlangen, dass es funktioniert. Selbst wenn sich die Menschen nicht bewusst  moralisch  verhalten,  muss  eine  gute  Wirtschaftsordnung  noch  zuverlässig  funktionieren. Sie muss den Einzelnen von der Moralität der anderen so weit  wie möglich unabhängig machen. Der entscheidende Vorteil der Marktwirtschaft ist genau dies. Wie schon adam Smith schrieb: „Wir wenden uns nicht  an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die  eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.“37  Die Vorschriften der tugendethik sind heute nicht mehr unmittelbar auf  die  gesellschaftliche  Ordnung  übertragbar.  Dies  ist  gleichsam  der  Preis  der  Moderne. Im Zusammenhang der traditionellen Stammesgesellschaften war  die tugendethik mit ihrer Betonung der Solidarität durchaus sinnvoll und angemessen. Sie brachte im Prozess der kulturellen Evolution klare Vorteile, wie  hayek  betonte.38  In  der  heutigen  ausdifferenzierten  Großgesellschaft  indes  sind solche Verhaltensweisen, wenn sie auf der falschen Ebene angewendet  werden, eher dem Gemeinwohl schädlich. hier ist der systematische Ort der  Moral eher die Rahmenordnung.39 Eine moderne gesellschaftliche Ordnung  37  adam smith: Vom Wohlstand der nationen, hamburg 1977 (erstmals 1776), S. 17. 38  Vgl. u. a. fRiedRich august VoN hayeK: Die drei Quellen der menschlichen Werte, tübingen 1979; wiederabgedruckt in: deRs.: Die anmaßung von Wissen, tübingen 1996,  S. 37–75. 39  KaRL homaNN / fRaNz BLome-dRees: Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 

Was kann der Staat, was darf die Wirtschaft?

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muss  in  der  lage  sein,  selbst  bei  unmoralischem  Individualverhalten  so  zu  funktionieren,  dass  sie  den  Menschen  Freiheit  und  Wohlstand  bietet.  Das  heißt freilich nicht, dass wir in individualethischer Perspektive das tun von  Regelbrechern gutheißen müssten.40 aber es heißt, dass dies in gewisser hinsicht nur ein nebenkriegsschauplatz ist. Drittens:  Die Wirtschaft  kann  sich  einbringen,  um  die  Regeln  in  ihrem  Sinne zu ändern. Darf sie das? Der Münchner Wirtschaftsethiker Karl homann sagt ja, und er hat hierfür sogar eine Kategorie erfunden: die Kategorie  der  „ordnungsethischen Verantwortung“  der Wirtschaft.  Die Wirtschaft  soll  nicht nur Gewinn erzielen und auch die Stakeholder angemessen berücksichtigen, sie soll auch nicht bloß brav die Gesetze beachten, sie soll sich auch  darüber  hinaus  aktiv  für  die  Ordnung  des  Gemeinwesens  einbringen. trotz  der letztlichen Maßgeblichkeit der Rahmenordnung sind Unternehmen in der  homannschen  Perspektive  keineswegs  von  aller  weiteren  moralischen Verantwortung entlastet. So schreibt er: „Bei Defiziten der Rahmenordnung ergeht an Unternehmen der auftrag, die im normalfall an die Ordnungsebene  abgegebene  moralische  Verantwortung  wieder  auszufüllen,  um  so  das  entstandene Verantwortungsvakuum zu füllen.“41 Dies kann durch den Beitritt zu  freiwilligen  Kodizes  oder  durch  das  Eintreten  für  Gesetzesänderungen  geschehen.  Mir ist bei dieser postulierten ordnungsethischen Verantwortung von Unternehmen mulmig, denn dafür hat die Wirtschaft kein unmittelbares Mandat.  andererseits ist nicht einzusehen, warum nicht auch die Wirtschaft im Konzert  der  öffentlichen  Meinung  ihre  Stimme  erheben  sollte. auch  sie  ist  ein  Stakeholder, ein Stakeholder des Staates in seiner Eigenschaft als Standortunternehmen, wie es Vanberg nennt. In der Konsequenz mag das Einflussnahme  und lobbyismus bedeuten. Warum nicht? Die Politik behandelt lobbyisten  bekanntlich  regelmäßig  wie  lästige  Störenfriede.  Dabei  erfüllen  Interessengruppen in einer Demokratie übrigens durchaus eine wichtige Funktion. als  Betroffene politischer Maßnahmen haben sie naturgemäß gewisse Informationsvorsprünge, und diese Erkenntnisse stellen sie der Politik und der Öffentlichkeit zur Verfügung. Sie teilen mit, was aus ihrer Sicht, unter anwendung  ihrer  eigenen  Kriterien,  die Vorteile  und  nachteile  einer  bestimmten  politischen Maßnahme oder Weichenstellung sind. Zu beurteilen, ob diese Kriterien berücksichtigenswert sind, und ob und wie diese Vorteile und nachteile  ins Gewicht fallen sollen, das obliegt dann freilich den verantwortlichen Politikern selbst. Die chancen einer lobby, Gehör zu finden, stehen dabei umso  1992, S. 113. 40  Vgl. michaeL hütheR: Ordnung und Gewissen, in: K. geNtiNetta / K. hoRN (hg.), abschied (wie anm. 20), S. 37–47. 41  K. homaNN / f. BLome-dRees, Wirtschafts- und Unternehmensethik (wie anm. 39), S.  35.

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besser, je größer die teile der Gesellschaft sind, die von einer Verwirklichung  ihrer Vorschläge begünstigt wären. Es geht in diesem Buch insgesamt um das Verhältnis von Krise, Krisenverlauf, Wissen, Wissensgenerierung und Krisenüberwindung. Das führt mich  abschließend zu der Frage, was wir denn nun in Bezug auf das, was der Staat  kann und was die Wirtschaft darf, an lehren ziehen können aus jener großen  Wirtschaftskrise,  die  nun  hinter  uns  zu  liegen  scheint,  auch  wenn  beileibe  noch  nicht  alles  ausgestanden  ist  –  man  denke  nur  an  den  Fall  der  Bank  „hRE“.  Ich  möchte  warnen  vor  allen  allzu  einfachen Wahrheiten.  Es  kann  jetzt nicht darum gehen, den eingeschlagenen Weg in eine neue Ära des Dirigismus  einzuleiten  unter  dem  Motto  des  „Primats  der  Politik“  zur abwehr  eines angeblichen „Primats der Wirtschaft“. In der staatlichen Sphäre unseres  gesellschaftlichen Miteinanders, in der Politik, muss es jetzt um eine angemessene  Definition  des  Ordnungsrahmens  gehen,  und  uns  allen  dürfte  klar  geworden sein, dass es vor allem darauf ankommen wird, dem auf dem Weg  in die Krise ein wenig aus dem Blickfeld geratenen Prinzip der haftung und  der Verantwortung für das eigene tun wieder Geltung zu verschaffen – also  einem Prinzip, das bei allen liberalen als Kehrseite und Korrolar der Freiheit  seit jeher höchsten Stellenwert genießt. So schreibt hayek: „Freiheit bedeutet  nicht nur, dass der Mensch sowohl die Gelegenheit als auch die last der Wahl  hat, sie bedeutet auch, dass er die Folgen seines handelns tragen muss und  lob und tadel erhalten wird“.42 Und das gilt für die Menschen im Staat wie  in der Wirtschaft. ansonsten fürchte ich, wir müssen uns mit der tatsache abfinden, dass  eine erhebliche Krisenanfälligkeit dem Miteinander von Menschen in der Gesellschaft immanent ist, und dass wir der Klärung immer nachlaufen. Unser  Dasein ist geprägt von fundamentaler Unsicherheit, von Unwissenheit, und  von  regelmäßigen  Interessenskonflikten.  natürlich,  Krisen  sind  teuer.  Man  muss sie wohl begreifen als den Preis für das, was wir durch sie lernen, auch  wenn immer wieder neue herausforderungen kommen, auf die wir dann immer noch nicht vorbereitet sind. aber immerhin die alten Fehler macht man  nicht allzu bald wieder. Diesen lernprozess kann man leider nicht simulieren,  man muss das Entdeckungsverfahren real ablaufen lassen. Es ist dies ein pathologisches lernen – aber immerhin. So schmerzlich uns das lehrgeld trifft,  wir sollten froh sein, dass wir als Gesellschaft solche evolutionären lernprozesse haben, und das sie diesmal abgelaufen sind ohne physische Gewalt.

42  f. a. V. hayeK, Verfassung (wie anm. 14), S. 93.

DIE aUtOREn DES BanDES

KaReN hoRN,  Dr.  rer.  pol.,  Dozentin  für  ökonomische  Ideengeschichte  und  Geschäftsführerin der Wert der Freiheit gGmbh in Berlin michaeL KisseNeR,  Dr.  phil.,  Professor  für  Zeitgeschichte  an  der  Johannes  Gutenberg-Universität Mainz RomaN KösteR, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für  Wirtschafts-, Sozial- und technikgeschichte an der Universität der Bundeswehr München aLexaNdeR NützeNadeL,  Dr.  phil.,  Professor  für  Sozial-  und Wirtschaftsgeschichte an der humboldt-Universität zu Berlin KaRL-heiNz Paqué, Dr. sc. pol., Minister a. D., Professor für Volkswirtschaftslehre an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg WeRNeR PLumPe, Dr. phil., Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an  der Goethe-Universität in Frankfurt am Main joachim schoLtysecK, Dr. phil., Professor für neuere und neueste Geschichte  an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn aNdRé steiNeR,  Dr.  oec.,  leiter  der  abteilung  Wirtschaftliche  und  soziale  Umbrüche  im  20.  Jahrhundert  am  Zentrum  für  Zeithistorische  Forschung  Potsdam und außerplanmäßiger Professor an der Universität Potsdam jocheN stReB, Dr. rer. pol., Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Mannheim  aNdReas WiRschiNg, Dr. phil., Direktor des Instituts für Zeitgeschichte und  Professor  für neuere und  neueste Geschichte an der ludwig-MaximiliansUniversität in München

PERSOnEnREGIStER abelshauser, Werner  119 abs, hermann Josef  112  adamo, Mark  66 adenauer, Konrad  113 althoff, Friedrich  32 aly, Götz  104 amonn, alfred  45 asmussen, hans  92 Baecker, Dirk  209 Ballods, carl  52 Banken, Ralf  66 Barkai, avraham  76f Bastiat, Frédéric  206–208, 219 Bauer, Walter  92 Bauman, Zygmunt  55 Beckerath, Erwin von  91–93 Behrens, Fritz  157f Benary, arne  158 Berend, Ivan  139 Bernhard, ludwig  39 Bethmann-hollweg, theobald von  35 Bieberstein, Freiherr Marschall von  90  Bismarck, Otto von  22f, 29f, 33f, 115 Bloq-Mascart, Maxime  98 Boelcke, Willi  76 Böhm,  Franz  88f,  91,  107,  111,  124,  125,  215 Böhm, hans  92 Bonaparte, napoleon  102 Bonhoeffer, Dietrich  91, 93 Bonn, Moritz Julius  37 Borchardt, Knut  123f Brennan, Geoffrey  223 Brentano, lujo  28–31, 34f, 37, 45 Brüning, heinrich  122f Buchanan, James B.  211, 220, 223 Bücher, Karl  45 Buchheim,  christoph  62,  65,  67f,  72f,  76,  82 Budraß, lutz  79 Bulganin, nikolai  160 Bülow, Bernhard von  35 Burke, Edmund  27

caprivi, leo von  35 chruschtschow, nikita  160–62 clay, lucius D.  113 constant, Benjamin  213 courtin, René  97 curtius, lionel  95 Degner, harald  66 Deist, heinrich  130 Delp, alfred  94f Dibelius, Otto  92 Dietze, constantin von  88, 91f Duisberg, carl  34 Ehrenberg, Richard  39 Ehrlicher, Werner  123 Elser, Johann Georg  85 Erbe, Rene  75f, 78 Erhard, ludwig  12, 83, 101, 109, 111–113,  130, 189, 214 Eschenburg, theodor  113 Etzel, Franz  130 Eucken,  Walter  52,  88–92,  107,  110,  124,  189, 215 Föhl, carl  126 Fontane, theodor  9 Fremdling, Rainer  64 Friedman, Milton  139 Friedrich, Otto a.  132 Gall, lothar  26 Genscher, hans-Dietrich  143, 147f, 150 Genz, Manfred  68 Giersch, herbert  125 Goerdeler, carl Friedrich  90, 92f Goethe, Johann Wolfgang  102 Gorbatschow, Michail  174 Göring, hermann  65 Görtemaker, Manfred  113 Gottl-Ottilienfeld, Friedrich von  51, 54 Graf, Rüdiger  57f Grimmer-Solem, Eric  27f, 30 Großmann-Doerth, hans  125 Grotkopp, Wilhelm  122 Grünig, Ferdinand  126 hamilton, alexander  105

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Personenregister

Harnack, Arvid 85 Haselbach, Dieter 52 Hasenclever, Wilhelm 31 Hayek, Friedrich August von 50, 110, 139, 213, 215, 217f, 220, 223, 226 Hayes, Peter 61–63, 67f, 73, 79 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 28 Heimann, Eduard 51 Hellwig, Fritz 132 Hensler, Ulrich 66 Hentschel, Volker 26 Hicks, John 125 Hildebrand, Klaus 107 Hitler, Adolf 12, 81, 83, 85f, 91, 94, 101–104, 107, 115 Hoffmann, Walter 125 Homann, Karl 225 Honecker, Erich 169, 171f, 174 Humboldt, Wilhelm von 219 Jöhr, Walter 122 Junkers, Hugo 62, 79f Kahn, Daniela 74 Kessler, Harry Graf 47 Keynes, John Maynard 11, 18–20, 39–42, 74, 93, 119f Kirdorf, Emil 34 Kloten, Norbert 74 Knapp, Friedrich Georg 30, 39 Knies, Karl 24, 37 Kohl, Helmut 141–43, 146, 148, 150 Krelle, Wilhelm 125, 127f Kroll, Gerhard 122 Lampe, Adolf 88, 91f, 124f Langelütke, Hans 123 Lasker, Eduard 30 Leber, Julius 94 Leuschner, Bruno 161 Liechtenstein, Hans-Adam II. von 205, 211 Lindner, Stefan 68 Lohmann, Theodor 29, 33 Löwe, Adolf 52 Luhmann, Niklas 19, 101, 208 Lutz, Burkart 139 Madoff, Bernard 222 Mann, Thomas 110 Mannheim, Karl 59 Marx, Karl 37, 39, 152, 158 McCloy, John 113 McCulloch, John R. 24 Menger, Carl 27f, 38f

Mierendorff, Carlo 94 Miksch, Leonhardt 125 Mises, Ludwig 50 Moltke, Helmuth James Graf von 93f, 95 Monnet, Jean 117 Müller-Armack, Alfred 107, 110, 123, 125, 130f, 189, 214, 218 Mussolini, Benito 107 Myrdal, Gunnar 117 Nasse, Erwin 30, 35 Nathan, Otto 73 Neumann, Alfred 167 Neumark, Fritz 125 Nipperdey, Thomas 20, 22, 25, 28f, 33 Ohlendorf, Otto 102 Oppenheimer, Franz 52–54, 207 Overy, Richard 62, 76, 82 Perels, Justus 92 Peter, Hans 126 Petzina, Dietmar 73, 122 Peukert, Detlev 57f Plenges, Johann 52 Pohle, Ludwig 39 Predöhl, Andreas 122 Prollius, Michael von 65, 73 Rathenau, Walther 102 Rawls, John 215 Reagan, Ronald 139 Reger, Erik 47 Reinhold, Otto 155 Ritter, Gerhard 90, 92 Roosevelt, Franklin 105, 110 Röpke, Wilhelm 110, 125, 189 Rosenberg, Hans 20 Rüstow, Alexander 52, 125, 207 Rüther, Daniela 87f, 90 Salz, Arthur 46 Samuelson, Paul 125 Sartorius, Georg Friedrich 11 Scherner, Jonas 62, 65, 67–73, 76, 78–82 Schiller, Karl 130, 134 Schivelbusch, Wolfgang 74 Schlesinger, Helmut 121 Schmidt, Helmut 147 Schmoller, Gustav 11, 20f, 27–31, 33–42, 45 Schmorell, Alexander 86 Schneider, Erich 125 Scholl, Hans 86 Schumacher, Hermann 45

Personenregister Schumpeter, Joseph  19f, 24, 41 Schwarz, hans-Peter  106, 109  Siegenthaler, hansjörg  88 Sik, Ota  167 Sinn, hans-Werner  191 Sloan, alfred P.  222 Smith, adam  11, 24, 27f, 206f, 224 Solow, Robert  125 Sombart, Werner  37–38, 44f, 56 Spann, Othmar  51, 54 Speer, albert  102 Spiethoff, arthur  45 Spoerer, Mark  71f, 78, 111 Stalin, Josef  151 Strauß, Franz Josef  134 Stucken, Rudolf  122 Suhr, Otto  208 tarnow, Fritz  52 taylor, a. J. P.  116 temin, Peter  61–63, 67, 73, 79 thatcher, Margaret  139f 

231

thielicke, helmut  92 tooze, adam  77 torp, cornelius  26, 35 treitschke, heinrich von  31 turner, henry  72 Ulbricht, Walter  152, 158–163, 165, 167f Vanberg, Viktor  215f, 218, 221 Voigt, andreas  39 Voltaire  213 Wagenknecht, Sahra  18 Wagner, adolph  9, 29, 33, 45 Wagner, Josef  66 Weber, adolf  39, 51 Weber, alfred  113, 125 Weber, Max  37f, 44f, 56 Wehler, hans-Ulrich  20, 23, 26, 35 Weizsäcker, carl christian von  125 Werner, Stefanie  66 York, Peter Graf  94 Zöller, Michael  210

stif tung bundespräsident t heodor heuss-haus



wissenschaf tliche reihe

Die Bände 1–6 sind bei der Deutschen Verlagsanstalt (München) erschienen.

Franz Steiner Verlag

7.

8.

ISSN 1861–3195

Wolfgang Hardtwig / Erhard Schütz (Hg.) Geschichte für Leser Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert 2005. 408 S., 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08755-1 „Die Veröffentlichung von Hardtwig und Schütz leistet Grundlagenarbeit für ein bislang viel zu stark vernachlässigtes Thema.“ Stefan Jordan, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56, 2008/1 „Den vorliegenden Sammelband möchte man mit dem Ausruf Endlich! begrüssen. […] Historisch interessierte Leser/innen und lesende Historiker/innen [werden ihn] gleichermaßen mit großem Gewinn studieren.“ Winfried Halder, H-Soz-u-Kult, 23. Juni 2006 Frieder Günther Heuss auf Reisen Die auswärtige Repräsentation der Bundesrepublik durch den ersten Bundespräsidenten 2006. 178 S., 28 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08819-0 „Günther’s study is a welcome addition to the literature on Theodor Heuss and on the Federal Republic’s relations with the wider world in the 1950s. It successfully uses the medium of state visits to provide important insights on West German society during the same era.“ Thomas W. Maulucci, jr., German Studies Review 32, 2009/1

9.

Andreas Wirsching / Jürgen Eder (Hg.) Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik Politik, Literatur, Wissenschaft 2008. 330 S., geb. ISBN 978-3-515-09110-7 „This stimulating essay collection seeks to breathe new life into the concept of Vernunftrepublikanismus.“ Eric Kurlander, www.h-net.org, 16. März 2009

10. Angelika Schaser / Stefanie Schüler-Springorum (Hg.) Liberalismus und Emanzipation In- und Exklusionsprozesse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik 2010. 224 S., geb. ISBN 978-3-515-09319-4 „Most of the findings here complement Anglo-American research quite well, reminding us of the many complexities of class, religion, ethnicity, and place in defining the relationship between liberal theory and practice. These rich contributions provide both a useful summary of existing views and, in some cases, effective models for future research on German liberalism.“ Eric Kurlander, L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 22, 2011/209 11.

Werner Plumpe / Joachim Scholtyseck (Hg.) Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik 2012. 231 S., 6 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10142-4

Der Staat setzt Rahmenbedingungen für die Wirtschaft – der Staat reagiert auf ökonomische Entwicklungen – die Wirtschaft richtet sich nach den gegebenen Umständen – die Wirtschaft geht eigene, neue Wege. Dieses eigentümliche Spannungsfeld von Wirtschaftsordnung, Wirtschaftspolitik und ökonomischer Entwicklung beleuchten Wirtschaftshistoriker aus wechselnder Perspektive: Wodurch kam es zum Aufstieg des Kathedersozialismus? Der Nationalsozialismus – ein indirekter Sozialismus? War die Soziale Marktwirtschaft eine Innovation? Prägte der Keynesianismus die Bundesrepublik? Verstand sich die DDR vor allem als Vergleichswirtschaft zur BRD? Prägte der Neoliberalis-

mus wirklich das Westdeutschland der 1980er Jahre? Hat die Deutsche Einheit die Soziale Marktwirtschaft verändert? Schließlich allgemein: Was kann der Staat und was darf die Wirtschaft? Im Fokus steht die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands seit dem späten 19. Jahrhundert mit ihren Brüchen, Krisen und Boomphasen. Das Buch leistet damit auch einen Beitrag zu aktuellen Problemdiagnosen. Denn erneut stehen Fragen der politischen Gestaltung der Wirtschaft, der Regulierung ihrer Entwicklung und ihrer Handlungsspielräume im Zentrum des wissenschaftlichen und des politischen Streits.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10142-4