Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten: Bilanz und Perspektiven der Forschung. Tagung. Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten - 10.4.-13.4.2008 in Berlin 9783412206239, 3412206237

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Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten: Bilanz und Perspektiven der Forschung. Tagung. Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten - 10.4.-13.4.2008 in Berlin
 9783412206239, 3412206237

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QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR HÖCHSTEN GERICHTSBARKEIT IM ALTEN REICH HERAUSGEGEBEN VON FRIEDRICH BATTENBERG, ALBRECHT CORDES, ulrich eisenhardt, peter oestmann, Wolfgang Sellert

Band 57

Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten Bilanz und Perspektiven der Forschung herausgegeben von Friedrich Battenberg und Bernd Schildt

2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn, sowie der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e. V., Wetzlar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20623-9

Bernhard Diestelkamp dem Nestor moderner Reichskammergerichtsforschung gewidmet

Inhalt

Vorwort .................................................................................................................. XI Einleitung ............................................................................................................ XIII

DAS PROJEKT ZUR INVENTARISIERUNG DER REICHSKAMMERGERICHTSAKTEN BERNHARD DIESTELKAMP Rückblick auf das Projekt zur Inventarisierung der Reichskammergerichtsakten.................................................................................. 3

RAIMUND J. WEBER Praktische Erfahrungen aus der Inventarisierung von Reichskammergerichtsakten am Beispiel südwestdeutscher Staatsarchive.. 11

BERND SCHILDT Wandel in der Erschließung der Reichskammergerichtsakten. Vom gedruckten Inventar zur Online-Recherche in der Datenbank........... 35

PERSONENGRUPPEN VOR DEM REICHSKAMMERGERICHT WERNER TROSSBACH Gar herrlichen […] zu lesen bei dem Zasio – Die Einbeziehung von Prozessen bäuerlicher Untertanen gegen ihre Obrigkeit in die Kameraljudikatur................................................................................................... 63

ANETTE BAUMANN Frauen vor dem Reichskammergericht ............................................................. 93

JOST HAUSMANN Kommentar ........................................................................................................... 117

VIII

Inhalt

STREITGEGENSTÄNDE VOR DEM REICHSKAMMERGERICHT ANJA AMEND-TRAUT Zivilverfahren vor dem Reichskammergericht. – Rückblick und Perspektiven –....................................................................... 125

RALF-PETER FUCHS Ius oder iniuria? Hexenprozesse des Rates von Kaysersberg im Spiegel eines juristischen Diskurses um Ehre und Wahrheit .................................... 157

FRANK KLEINEHAGENBROCK Konservierung oder Weiterentwicklung des Religionsfriedenssystems von 1648 – Das Reichskammergericht in den Konflikten um die Besitzstände der Konfessionsparteien............................................................. 179

WINFRIED SCHULZE Kommentar ........................................................................................................... 197

DAS REICHSKAMMERGERICHT UND ANDERE HÖCHSTGERICHTE IM REICH EVA ORTLIEB Reichshofrat und Reichskammergericht im Spiegel ihrer Überlieferung und deren Verzeichnung.................................................................................... 205

SIEGRID WESTPHAL Dynastische Konflikte der Ernestiner im Spiegel von Reichshofratsund Reichskammergerichtsprozessen.............................................................. 225

PAUL L. NÈVE Die Entstehung der Sollicitatur am Reichskammergericht. Zum Einfluß des Parlement de Paris und des Hohen Rats von Mechelen ...................... 251

NILS JÖRN Das Wismarer Tribunal – Geschichte und Arbeitsweise eines Gerichts sowie Verzeichnung seiner Prozeßakten......................................................... 269

LEOPOLD AUER Kommentar ........................................................................................................... 289

Inhalt

IX

DIE ERFASSUNG DES RAUMES DURCH DAS REICHSKAMMERGERICHT BERND SCHILDT Nähe und Ferne zum Reichskammergericht. – Teilergebnisse einer quantitativen Analyse – ............................................. 295

JÜRGEN WEITZEL Minderungen der räumlichen Präsenz des Reichskammergerichts. Exemtionen, Appellationsprivilegien und vergleichbare Erscheinungen .. 317

INGRID MÄNNL Juristenlandschaften im spätmittelalterlichen Reich. Zum Wirken gelehrter Juristen im Fürstendienst .......................................... 331

MAXIMILIAN LANZINNER Juristen unter den Gesandten der Reichstage 1486-1654............................. 351

SIGRID JAHNS Kommentar ........................................................................................................... 385

ANHANG 1. Abkürzungen und Siglen ............................................................................... 403 2. Autorenverzeichnis......................................................................................... 407 3. Grundsätze für die Verzeichnung von Reichskammergerichts-Akten („Frankfurter Grundsätze“) .......................................................................... 411 4. Inventare der Akten des Reichskammergerichts ....................................... 415 5. Reichskammergerichtsprozesse – Überlieferung....................................... 423

Vorwort

Der vorliegende Sammelband reflektiert die Ergebnisse einer internationalen und interdisziplinären wissenschaftlichen Tagung zur Geschichte der Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich. Sie stand unter dem Generalthema „Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten – Bilanz und Perspektiven der Forschung“. Archivare und Rechtshistoriker sowie Verfassungs- und Sozialhistoriker blickten zurück auf die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit dreißig Jahren geförderte Neuverzeichnung der überlieferten Prozessakten des Reichskammergerichts; die Tagung bildete insoweit den Abschluß dieses monumentalen Langzeitprojekts. Vier Tage lang diskutierten die Teilnehmer auf der Grundlage von insgesamt 19 Vorträgen in vier thematisch strukturierten Sektionen sowohl über einige grundlegende inhaltliche und methodische Themenbereiche als auch über zahlreiche Einzelprobleme. Die Tagung fand vom 10. – 13. April 2008 in Berlin in der ehemaligen Direktorenvilla des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz statt, deren Räumlichkeiten vom Direktor – Prof. Dr. Jürgen Kloosterhuis – zur Verfügung gestellt worden sind. Dafür gilt ihm, und auch seiner Mitarbeiterin Frau Dr. Ingrid Männl für die perfekte Organisation der Tagung, der Dank aller Teilnehmer. Zu danken ist an dieser Stelle für die finanzielle Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die sowohl die Durchführung der „Bilanztagung Reichskammergericht“ als auch die Publizierung ihrer Ergebnisse in der renomierten Reihe „Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich“ erst möglich gemacht hat. Dank gilt ferner der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e.V. in Wetzlar für die Bereitstellung von Mitteln für die Drucklegung dieses Tagungsbandes. Darmstadt / Bochum im Mai 2010

J. Friedrich Battenberg Bernd Schildt

Einleitung

J. FRIEDRICH BATTENBERG / BERND SCHILDT

Über die Probleme der Bilanzierung eines Projekts: Einige einleitende Bemerkungen

I. Die Beiträge dieses Bandes gehen auf die Vorträge zurück, die anlässlich einer vom 10. bis zum 13. April 2008 im Geheimen Staatsarchiv in BerlinDahlem veranstalteten Tagung zum Abschluss des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit 1979 geförderten Projekts zur Inventarisierung der noch erhaltenen etwa 70.000 Prozessakten des Reichskammergerichts veranstaltet wurde.1 Bernhard Diestelkamp hat in seinem ersten einleitenden Beitrag dieses Bandes2 einen unmittelbaren Erfahrungsbericht dazu geschrieben, zumal er als der eigentliche Initiator und Förderer des Projekts gelten muss – und deshalb auch – nicht nur deswegen – ist ihm dieser Band gewidmet. Er jedenfalls hatte schon im November 1970 eine detaillierte Umfrage unter den deutschen Archiven gestartet, um Aufschluss über die noch erhaltenen Archivquellen zum Reichskammergericht zu erhalten.3 Die-

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Vgl. dazu den Bericht von INGRID MÄNNL, Bilanztagung Reichskammergericht, in: Archivar 61. Jg. (2008), S. 406-408. Zahlenangaben nach: FRIEDRICH BATTENBERG, Reichskammergericht und Archivwesen. Zum Stand der Erschließung der Reichskammergerichtsakten, in: BERNHARD DIESTELKAMP (Hg.), Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte. Stand der Forschung, Forschungsperspektiven (QFHG 21), Köln Wien 1990, S. 173-194, 178 f. Etwa 8.000 weitere Prozessakten müssen als verloren gelten. BERNHARD DIESTELKAMP, Rückblick auf das Projekt zur Inventarisierung der Prozessakten des Reichskammergerichts, S. 3. Umfrage vom 11. November 1970, dokumentiert z. B. im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt (StAD), H 59 A Reg. Nr. 492. Dort auch die sehr umfängliche Antwort von Albrecht Eckhardt, dem späteren Archivleiter des StA Oldenburg, der nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrung eines der ersten Inventare der Reihe „Inventare der Akten des Reichskammergerichts“ (Nr. 5, 1982, Staatsarchiv Oldenburg) bearbeitet hat.

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Friedrich J. Battenberg / Bernd Schildt

stelkamp seinerseits hatte sich durch seine 1968 gehaltene Frankfurter Antrittsvorlesung über „Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts“4 zu dieser Recherche anregen lassen, da ihm dabei die Defizite bei der Erschließung der Quellen schmerzlich bewusst wurden.5 Es sollte dann nochmals fast acht Jahre dauern, bis auf Initiative des Hamburger Archivars Rolf Prange als Berichterstatter der Konferenz der Archivreferenten des Bundes und der Länder das Erschließungsprojekt durch einen vom Bundesarchiv gestellten Antrag vom September 1978 auf den Weg gebracht wurde.6 Auch hierzu hatte wiederum Diestelkamp eine Grundlage geliefert, und zwar in Form eines auf einem Brüsseler Kolloquium gehaltenen Referats.7 Unter den ersten Antragstellern der Länder war das Bundesland Hessen, das bereits Anfang 1979 mit den Erschließungsarbeiten beginnen konnte.8 Seit nunmehr 30 Jahren sind Archivare wie auch weitere rechtshistorisch geschulte Mitarbeiter damit beschäftigt, das auf eine Vielzahl von Archiven in Deutschland und auch im Ausland verstreute Aktenmaterial – mindestens 50 Lagerorte sind bekannt9 – nach einheitlichen Grundsätzen10 neu zu verzeichnen und durch Publikation der Findmittel der Forschung zugänglich zu

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Veröffentlicht in der Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, hg. von HANSJÜRGEN BECKER / GERHARD DILCHER / GUNTER GUDIAN / EKKEHARD KAUFMANN / WOLFGANG SELLERT, Aalen 1976, S. 435-480. Ausführliche Rezension dazu: FRIEDRICH BATTENBERG, in: Archiv für hessische Gesch. NF 35, 1977, S. 397-403. Der Rezensent und Erstherausgeber des vorliegenden Bandes erinnert sich noch sehr gut an diese Antrittsvorlesung, die für ihn den Anstoß dazu gegeben hatte, bei Bernhard Diestelkamp über die höchste Gerichtsbarkeit im Alten Reich zu promovieren. Bekannt war vorher lediglich die Übersicht von WALTHER LATZKE, Das Archiv des Reichskammergerichts, in: ZRG GA 78 (1961), S. 320-326, die immerhin einen Einstieg bot. Antrag vom 15. September 1978, StAD (Anm. 2). BERNHARD DIESTELKAMP, Der Stand der Arbeiten zur Erschließung der Quellen des Reichskammergerichts, in: Consilium Magnum 1473-1973, Brüssel 1977, S. 199-213. Antrag vom 21. Januar 1979, StAD (Anm. 2). Zum Projekt insgesamt siehe den Beitrag von JOST HAUSMANN, Nochmals: Das Problem der RKG-Überlieferung – eine Nachlese zum Verzeichnungsprojekt in Hessen, in: FRIEDRICH BATTENBERG / FILIPPO RANIERI (Hg.), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, Köln Weimar Wien 1994, S. 317-327. Angaben bei Battenberg, Reichskammergericht (Anm. 1), S. 177 f., Anm. 18. Grundsätze für die Verzeichnung von Reichskammergerichts-Akten („Frankfurter Grundsätze“) von April 1978, abgedruckt in diesem Band S. 403. Sie waren Voraussetzung für den offiziellen DFG-Antrag im Auftrag der Archivreferentenkonferenz und wurden – unter Beteiligung des Erstherausgebers – von einem Unterausschuss der Archivreferentenkonferenz erstellt.

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Einleitung: Bilanzierung eines Projekts

machen.11 Zwar scheiterte die vollständige Publikation der durch die einzelnen Landesarchivverwaltungen betreuten Inventare an den verfügbaren Geldmitteln. Dennoch liegt der größte Teil von ihnen inzwischen vor, in einer Anzahl von 78 Bänden. Es dürfte damit das bislang ehrgeizigste Inventarisierungsprojekt darstellen, das im Bereich der Bundesrepublik Deutschland jemals gestartet und – abgesehen von einzelnen noch ausstehenden Inventaren – vollendet wurde. Es ist dies zugleich ein Musterbeispiel dafür, wie trotz der bestehenden Kulturhoheit der Länder ein erfolgreiches bundesweites archivisches Vorhaben durchgeführt werden konnte – nicht zuletzt deswegen, weil die Deutsche Forschungsgemeinschaft an die Zahlung von Drittmitteln seinerzeit die Forderung nach Vereinheitlichung der Verzeichnungsgrundsätze geknüpft hatte. Es soll dabei aber auch nicht unerwähnt bleiben, dass das eigentlich nur informelle Beratungsgremium der Konferenz der Archivreferenten des Bundes und der Länder (ARK), das überhaupt erst den Anstoß zur Verzeichnung der überlieferten Reichskammergerichtsakten gegeben hat, spätestens damit demonstrieren konnte, dass es in Deutschland trotz regionaler, historisch und in der Tradition begründeter Besonderheiten und Unterschiede eine einheitliche Archivlandschaft gibt, die sich ihrer gemeinsamen Geschichte auch für die Zeit vor der Reichsgründung durchaus bewusst ist.

II. Angesichts dieser Erfolgsgeschichte lag es durchaus auf der Hand, das Geleistete und auch die bestehengebliebenen Defizite einmal in einer bilanzierenden Tagung gegeneinander aufzuwiegen. Dabei konnte es nicht eigentlich darum gehen, welche Erfahrungen bei den Inventarisierungsarbeiten gesammelt wurden, ob das Ziel der einheitlichen Verzeichnung durch die Anwendung der „Frankfurter Verzeichnungsgrundsätze“ erreicht wurde und ob nicht doch etwa die unbedingte Begrenzung auf die Provenienz „Reichskammergericht“ unter Außerachtlassung von Akten der Prozessparteien einen wesentlichen Überlieferungsstrang ausgeschlossen hatte. Dies alles sind Fragen, über die man lange diskutiert hatte und die schließlich pragmatisch beantwortet wurden. Diese Fragen am Ende des Projekts erneut zu stellen, 11

Vgl. den nach zwanzigjähriger Laufzeit des Projekts erschienenen Erfahrungsbericht des ehemals hessischen Projektmitarbeiters JOST HAUSMANN, Die Verzeichnung von Reichskammergerichts-Akten. Ein Erfahrungsbericht, in: WOLFGANG SELLERT (Hg.), Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis (QFHG 34), Köln Weimar Wien 1999, S. 241-251.

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Friedrich J. Battenberg / Bernd Schildt

ist zwar im Hinblick auf mögliche Folgeprojekte in den Landesarchiven und Archivverwaltungen legitim; daran aber den Erfolg oder den Misserfolg des alten DFG-Verzeichnungsprojekts zu messen, wäre unangemessen und würde der geleisteten Arbeit nicht gerecht. Viel wichtiger erschien die Frage, inwieweit die Prozessakten des Reichskammergerichts als historische Quellen eine Rolle spielen sollten, da sich in ihnen der Alltag der Menschen nicht unmittelbar spiegelt, sondern nur über einen mehr oder wenig zufällig zustande gekommenen Streitgegenstand. Zu dieser Frage hatte bereits zehn Jahre vorher das aus jüngeren Historikern und Rechtshistorikern gebildete „Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit“ in Kooperation mit der in Wetzlar ansässigen „Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung“ eine Tagung zu den „Reichsgerichtsakten als Quelle“ veranstaltet, aus der ein 2001 erschienener Sammelband unter dem Titel „Prozessakten als Quelle“ entstanden ist.12 Auch wenn hier vornehmlich anhand von einzelnen Bereichen und in Fallstudien Einzelaspekte zur Auswertung von Akten der höchsten Reichsgerichte einschließlich des Reichskammergerichts analysiert wurden, so hat dieser Band doch eindrucksvoll zeigen können, dass den Akten der höchsten kaiserlichen Gerichte für die Erforschung der Geschichte der Frühen Neuzeit eine überragende Bedeutung zukommt. Bezeichnend ist, dass die meisten Bände der prominenten rechtshistorischen Publikationsreihe der „Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich“ sich mit Aspekten der Reichskammergerichtsbarkeit beschäftigen, die Quellen dieses Gerichts auswerten, so dass der Eindruck entsteht, dass nahezu jeder Bereich des historischen Lebens anhand der Akten dieses Gerichts in den Blickpunkt genommen werden kann. Jüngstes Beispiel dafür ist die ebenfalls in der genannten Reihe publizierte Schrift Anja Amend-Trauts über die Praxis des Wechselrechts in der Frühen Neuzeit.13 So könnte man durchaus meinen, dass alle inhaltlichen wie auch methodischen Fragen zur Nutzung der Prozessakten des Reichskammergerichts ebenso wie auch alle grundlegenden Fragen zur Überlieferung der Kammergerichtsbestände, zur ergänzenden Bedeutung anderer Archivbestände und zu den Lücken der Überlieferung weitest gehend beantwortet sind. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber dann doch, dass die zweifellos intensive

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ANETTE BAUMANN / SIEGRID WESTPHAL / STEPHAN WENDEHORST PREIS (Hg.), Prozessakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung

/ STEFAN EHRENder Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich (QFHG Bd. 37), Köln Weimar Wien 2001. ANJA AMEND-TRAUT, Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht. Praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit (QFHG 54), Köln Weimar Wien 2009.

Einleitung: Bilanzierung eines Projekts

XVII

Forschung zur Geschichte der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich zwar zahlreiche sinnvolle Schneisen geschlagen hat und manche Probleme gelöst hat, am Ende aber doch noch einige Defizite erkennen lässt – abgesehen davon, dass mit jeder neuen einschlägigen Forschungsarbeit neue Fragen aufgeworfen werden, die erneut die Befragung der inventarisierten Prozessakten erforderlich machen. Es war freilich nicht Aufgabe des vorliegenden Bandes, die bestehenden Lücken auch nur einigermaßen zu füllen. Es sollte „Bilanz“ insofern gezogen werden, als auf etwaige Defizite aufmerksam gemacht und anhand einzelner Fragestellungen der Quellenwert des Gesamtbestands demonstriert werden sollte. Auch wenn dabei eher der Überblick in Längs- oder Querschnitt gefragt war, so konnte doch auf das in der Forschung so beliebte Mittel der – mikrohistorisch ansetzenden – Fallstudie nicht immer ganz verzichtet werden. Anders als in zahlreichen Sammelbänden dieser Art stand bei der Vorbereitung der Tagung an erster Stelle nicht die Suche nach Referentinnen und Referenten, die irgendwie etwas zum Gesamtthema beizutragen in der Lage waren; vielmehr wurde – in Zusammenarbeit mit Frau Ingrid Männl vom Geheimen Staatsarchiv - erst eine geschlossene Konzeption entwickelt und einem formalen Schema von Beiträgen und Kommentaren zugeordnet, bevor gezielt nach Beiträgern gesucht wurde, die hierzu kompetent erschienen. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass Rechtshistoriker, Allgemeinhistoriker sowie Archivare gleichermaßen zu Wort kamen – nicht nur deswegen, weil Interdisziplinarität zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Dass die bei derart ehrgeizig konzipierten Tagungen übliche Zusammenfassung am Ende entfallen musste, war allein der Tatsache geschuldet, dass der dafür vorgesehene Referent unfallbedingt ausfiel; einen gewissen Ersatz bildet deshalb auch die vorliegende Einleitung. Erste Gespräche über die Vorbereitung der Tagung wurden im August 2006 in Darmstadt zwischen Frau Dr. Ingrid Männl und dem Erstherausgeber geführt; Kontaktgespräche mit einschlägig forschenden Rechtshistorikern konnten auf dem im September 2006 in Halle stattfindenden Deutschen Rechtshistorikertag geführt werden, nachdem die Grundlinien des Tagungsprogramms ebenso wie die Zielrichtung des Kolloquiums festgelegt waren. Dank der Großzügigkeit des Leiters des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem, Prof. Dr. Jürgen Kloosterhuis, konnte die Tagung in den Räumen dieses Archivs durchgeführt werden. Nach übereinstimmendem Urteil vieler Tagungsteilnehmer wurde das Kolloquium zu einem vollen Erfolg, nicht zuletzt durch die hervorragende Organisation der Berliner Archivleitung.

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Friedrich J. Battenberg / Bernd Schildt

Für die Publikation der Tagungsbeiträge mussten leider drei der Referate ausfallen, weil sie bereits anderweit zur Publikation vorgesehen waren. Es waren dies einerseits der öffentliche Abendvortrag von Alain Wijffels aus Leiden über „Das Reichskammergericht im Vergleich zu den höchsten Gerichten in anderen europäischen Ländern“. Mit diesem Vortrag wurde die übliche mitteleuropäische Betrachtung der Geschichte des Reichskammergerichts im Hinblick auf fortgeschrittenere Höchstgerichte andernorts relativiert. Doch zur eigenen Geschichte dieses Gerichts konnte er keine zusätzlichen Gesichtspunkte beisteuern, so dass der Ausfall des Beitrags kein Unglück darstellt. Einen gewissen Ersatz bieten hier die vier Referate des Blocks „Das Reichskammergericht und andere Höchstgerichte im Reich“, der auch Einflüsse außerhalb des Reichs berücksichtigt.14 Verwiesen werden kann außerdem auf zwei unter der Verantwortung der Gesellschaft für Reichskammergerichtsordnung und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften bzw. des Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien veranstalteten Tagungen von 1993 und 2006, deren Ergebnisse in einschlägigen Sammelbänden veröffentlicht worden sind.15 Etwas anders sieht es dann mit dem ebenfalls in vorliegendem Band nicht publizierten Beitrag von Peter Oestmann aus Münster aus, der zum Problembereich „Landesherren auf der Anklagebank. Norddeutsche Hoheitsträger als Justizverweigerer“ Stellung bezog. Dieser im Gesamtzusammenhang wichtige Beitrag wird an anderer Stelle und in einen weiteren Kontext gestellt unter dem Titel „Rechtsverweigerung im Alten Reich“ nachzulesen sein.16 Aus ähnlichen Gründen musste leider auch auf einen Abdruck des Referats von Christian Wieland aus Freiburg verzichtet werden, der sich mit dem Adel vor dem Reichskammergericht beschäftigt hat.17

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S. u. S. 203-292. BERNHARD DIESTELKAMP (Hg.), oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der Frühen Neuzeit (QFHG 29), Köln Weimar Wien 1996; LEOPOLD AUER / WERNER OGIS / EVA ORTLIEB (Hg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen (QFHG 53), Köln Weimar Wien 2007. PETER OESTMANN, Rechtsverweigerung im Alten Reich, in: ZRG GA 127 (2010). Dieser Beitrag ist inhaltsgleich in die Freiburger Habilitationssschrift des Referenten von 2009 – "Nach der Fehde. Studien zur Interaktion von Adel und Rechtssystem am Beginn der Neuzeit. Bayern 1500-1600" – eingeflossen.

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Einleitung: Bilanzierung eines Projekts

III. Das Programm der Berliner „Bilanztagung Reichskammergericht“ ebenso wie die Systematik des vorliegenden Sammelbandes bietet nach drei einführenden Beiträgen zum Projekt der Inventarisierung der Reichskammergerichtsakten vier inhaltliche Sektionen, in denen in zwei bis vier Referaten sowie jeweils einem Kommentar ausgewählte, aber unter einigen leitenden Gesichtspunkten stehende Beiträge gestellt sind. Behandelt werden die Generalthemen „Personengruppen vor dem Reichskammergericht“ (unter der Leitung von Wilfried Reininghaus/Münster), „Streitgegenstände vor dem Reichskammergericht“ (unter der Leitung von Filippo Ranieri/Saarbrükken), „Das Reichskammergericht und andere Höchstgerichte im Reich“ (unter Leitung von Wolfgang Sellert/Göttingen) sowie „Die Erfassung des Raumes durch das Reichskammergericht“ (unter Leitung von Werner Ogris/Wien). Dass diese Themenbereiche nicht von allen Autoren übereinstimmend abgedeckt und an sie bisweilen auch nur äußerlich und marginal angeknüpft wurde, konnte und sollte nicht verhindert werden. Durch die jeweils ihnen zugeordneten Kommentare von Jost Hausmann (Koblenz), Winfried Schulze (München), Leopold Auer (Wien) und Sigrid Jahns (München) wurden deshalb Klammern hergestellt, verbindende Gesichtspunkte herausgestrichen und auch nicht behandelte Forschungsfragen angesprochen. In insgesamt drei gewichtigen Beiträgen des einleitenden Themenblocks zum Projekt der Inventarisierung der Reichskammergerichtsakten gibt zunächst Bernhard Diestelkamp einen Rückblick auf das Projekt.18 Er geht dabei vor allem auf die Frage ein, inwieweit die Frankfurter Verzeichnungsgrundsätze eingehalten wurden, welche Fragen offen bleiben mussten und inwieweit das vorhandene Verzeichnungskonzept für die zukünftige Forschung tragfähig genug erscheint. Seine Schlussbemerkung, wonach die Wissenschaft die ihr mit diesem Quellenbestand gebotenen Chancen zu nutzen verstehe, steht zugleich als leitende Frage über Tagungsbeiträgen. Vom zweiten Referenten Raimund J. Weber (Heubach), dem zusammen mit Alexander Brunotte die Verzeichnung der RKG-Akten des Hauptstaatsarchivs in Stuttgart zu verdanken ist, wurde die Frage der praktischen Archiverfahrungen im Hinblick auf den baden-württembergischen Bestand an-

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BERNHARD DIESTELKAMP, Rückblick auf das Projekt zur Inventarisierung der Reichskammergerichtsakten, S. 3-9.

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Friedrich J. Battenberg / Bernd Schildt

gesprochen.19 Die Erfahrungen, die er in seiner langjährigen Tätigkeit bei der Erfassung der Kammergerichtsakten machen musste, dürften in ähnlicher Weise auch von den Projektbearbeitern anderer Bundesländer gemacht worden sein: Ungeordnete Akten in den Magazinen, zahlreiche Irrläufer, die an andere Archive abgegeben werden mussten, Fragen der Bestandserhaltung und Zuordnung und andere facharchivische Probleme erwiesen sich als Hinderungsgründe für eine zügige Verzeichnungsarbeit. Wenn Weber überdies darauf hinweist, dass wichtige Quellengruppen wie die Kommissionsakten nicht erfasst wurden, so spricht er damit ein mögliches Folgeprojekt an, das in der weiteren Verantwortung der Landesarchive vorangetrieben werden sollte. Durch die im DFG-Projekt vorgegebene Tiefenerschließung des Kameralbestands wurde es andererseits auch möglich, fehlende Prozessakten, auf die andernorts Bezug genommen wurde, näher zu identifizieren. Dies geling Weber etwa im Hinblick auf den 1583 ausgelösten Augsburger „Kalender- und Vokationsstreit“, der nur noch abschriftlich in einer späteren Akte erhalten ist. Schon in die Zukunft weist ein dritter einleitender Beitrag von Bernd Schildt (Bochum) über die neuen Möglichkeiten der Online-Recherche nach Reichskammergerichtsakten.20 War das ursprüngliche Ziel des Projekts, die Inventare aller noch erhaltenen Kameralakten21 – zunächst nur derjenigen der auf die westdeutschen Länder beschränkten Bundesrepublik – in gedruckter Form in einer möglichst einheitlich gestalteten Reihe unter dem Titel „Inventare des Reichskammergerichts“ der historischen und rechtshistorischen Forschung zugänglich zu machen,22 so stellte sich mit der zunehmenden Einführung elektronischer Datenbanksysteme die Frage nach einer Online-Verfügbarkeit aller Titelaufnahmen im Interesse einer besseren Zugänglichkeit. Erste Ansätze dafür gab es, nicht zuletzt dank der hier ein-

RAIMUND J. WEBER, Praktische Erfahrungen aus der Inventarisierung von Reichskammergerichtsakten am Beispiel südwestdeutscher Staatsarchive, S. 11-33. 20 BERND SCHILDT, Wandel in der Erschließung der Reichskammergerichtsakten. Vom gedruckten Inventar zur Online-Recherche in der Datenbank, S. 35-60. 21 Schildt geht von ca. 70.000 überlieferten Akten aus, während Battenberg (Anm. 1) nur etwa 69.000 Akten ermittelt hat. Diese leichte Diskrepanz dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die letztgenannte Statistik auf älterem Zahlenmaterial beruht und die Inventarisierungsarbeiten für die RKG-Akten inzwischen weiter vorangeschritten sind und deshalb heute verläßlichere Angaben zur Verfügung stehen. 22 Siehe dazu den Beitrag von JÜRGEN WEITZEL, Das Inventar der Akten des Reichskammergerichts (Forschungsbericht), in: ZNR 21 (1999), S. 408-416. 19

Einleitung: Bilanzierung eines Projekts

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schlägigen Pionierleistungen von Filippo Ranieri aus Saarbrücken,23 auf denen das 1985 auf Initiative von Landgerichtspräsident Georg Schmidt-von Rhein neugegründete Institut für Reichskammergerichtsforschung24 fußen konnte. Den Schritt zur umfassend eingesetzten Datenbank, durch die die gedruckten Inventare jedoch nicht überflüssig werden, machte ein vom Autor des vorliegenden Beitrags geleitetes Projekt am rechtshistorischen Lehrstuhl der Universität Bochum. Sukzessive sollen hier alle bekannten Daten zur Rechtsprechung des Reichskammergerichts erfasst werden, und zwar unter Einbeziehung der digitalisierten, im Bundesarchiv in Berlin aufbewahrten Urteilsbücher sowie anderer Quellen, und via Internet der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Damit vermehrten sich die Abfragemöglichkeiten nahezu exponentiell, da nun nicht mehr die einzelnen Inventarbände anhand der Register bzw. der Systematik durchgearbeitet werden müssen, sondern nach vorgegebenen Suchsystemen das Gesamtmaterial zugleich recherchiert werden kann. Hinzu kommt, dass nicht nur die bloßen Inventardaten berücksichtigt, sondern inhaltliche Auswertungen und Zuordnungen vorgenommen wurden, auch durch Erfassung der bekannten Sekundärliteratur zum Reichskammergericht und zu dessen Prozessen. Die normierte Abfragemöglichkeit sollte zugleich zu einer besseren Vergleichbarkeit der Verfahren führen. Probleme und Grenzen der Digitalisierung der Kameralakten und des begleitenden primären- und sekundären Materials werden in diesem Beitrag anschaulich und erschöpfend behandelt. Das Bochumer Projekt stellt sich damit als sinnvolle Fortsetzung des ausgelaufenen DFG-Projekts dar.

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Seine auf quantifizierenden Datenbankauswertungen beruhenden, Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts einsetzenden Forschungen finden sich in seiner Habilitationsschrift: FILIPPO RANIERI, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption (QFHG 17 I, II), Köln Weimar 1985. Zur Geschichte des Instituts für Reichskammergerichtsforschung und der dieses tragenden Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung in Wetzlar siehe: GEORG SCHMIDTVON RHEIN, Die friedensstiftende Funktion des Rechts: Eine Idee bestimmt: Entstehung und Entwicklung der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, in: FRIEDRICH BATTENBERG / FILIPPO RANIERI (Hg.), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, Köln Weimar Wien 1994, S. 457-464.

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Friedrich J. Battenberg / Bernd Schildt

IV. Durch den Ausfall zweier Beiträge – den von Peter Oestmann und von Christian Wieland zu den Gruppen der Hoheitsträger bzw. des Adels – sind von der ersten Sektion zum Thema der „Personengruppen vor dem Reichskammergericht“ zwei Aufsätze übrig geblieben, die sich mit den eher benachteiligten Gruppen unter den Prozessparteien beschäftigen. Um die dadurch entstandene Lücke wenigstens einigermaßen aufzufüllen, wurde der sich auf alle vier ursprünglichen Referate bezogene Kommentar Jost Hausmanns in dieser Form belassen. Er geht insbesondere auch auf den im Beitrag Wieland angesprochenen Adel ein, benennt aber darüber hinaus weitere Personengruppen, die einer gesonderten Analyse zugeführt werden könnten. Wenn er darüber abschließend feststellt, dass durch die gebotenen Referate viele Fragen aufgeworfen, aber wenige Antworten gegeben wurden, will er damit nicht etwa Defizite der vorgetragenen Beiträge herausstellen, sondern vielmehr deutlich machen, dass durch die Beschäftigung mit den Quellen zur Geschichte des Reichskammergerichts immer neue Probleme aufgeworfen werden, für die erst die weitere Forschung endgültige Lösungen bereitstellen kann. Mit Werner Trossbach (Kassel) konnte sich einer der wohl besten Kenner der bäuerlichen Untertanenprozesse zu Wort melden. In seinem Beitrag25 geht er auf die Frage ein, wie diese Personengruppe den Weg zum Reichskammergericht fand und zum Gegenstand der Kameralliteratur wurde – wie in dem 1578 veröffentlichten, weit verbreiteten Handbuch des Andreas Gail, aus dem auch das titelbildende Zitat (Hinweis auf die Lehren des Ulrich Zasius) entstammt. Wenn für die heutige Forschung der „Untertanenprozess“ ein selbstverständliches Phänomen der frühneuzeitlichen Geschichte ist, so war dies für die Zeitgenossen noch keineswegs so. In einer auf die Bewahrung von Rang und Hierarchien bedachten ständischen Gesellschaft war die Vorstellung, dass Bauern als Prozessgegner von Fürsten auftraten, ungewöhnlich. Damit wird verständlich, dass für Klagen bäuerlicher Untertanen normativ hohe Hürden errichtet wurden. Erst in der Reichskammergerichtsordnung von 1555 wurde klagenden Untertanen die Inanspruchnahme des Mandatsprozesses zugestanden. Rechtliche Unschärfen der normativen Rahmenbedingungen eröffnete auch ihnen im Laufe der Zeit prozessuale Chancen, die sie zu nutzen wussten.

25

WERNER TROßBACH, ‚Gar herrlichen [...] zu lesen bei dem Zasio’. Die Einbeziehung von Prozessen bäuerlicher Untertanen gegen ihre Obrigkeit in die Kameraljudikatur, S. 63-92.

Einleitung: Bilanzierung eines Projekts

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Anette Baumann, die Leiterin der Forschungsstelle der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung in Wetzlar, wendet sich mit ihrem Beitrag zu den „Frauen vor dem Reichskammergericht“26 einem Problembereich zu, der in der jüngeren, rechtshistorisch orientierten Forschung zur Geschichte der Geschlechter zwar allgemein diskutiert, aber noch weniger in Bezug auf die Prozessakten der höchsten Gerichte im Alten Reich behandelt wurde.27 Mangels eingehender Vorarbeiten28 kann Baumann der Frage deshalb auch nicht allgemein nachgehen, sondern muss sich auf einen fallstudienartig angelegten Vergleich zwischen prozessierenden Frauen aus den Reichsstädten Frankfurt am Main und Köln beschränken. Allerdings hat sie selbst schon einige Jahre zuvor in einer sozialgeschichtlichen Analyse von Kameralverfahren einige grundlegende Daten vorgelegt, auf die sie nun aufbauen kann.29 Ihr Anliegen ist vor allem die sinnvolle Verknüpfung überkommener rechtsgeschichtlicher mit geschlechterhistorischen Fragestellungen, insbesondere im Hinblick auf das Problem, inwieweit Frauen die Chancen der Rechtsprechung des Reichskammergerichts zu nutzen verstanden. In diesem Rahmen benennt sie einzelne Fallgruppen und Streitgegenstände, die einer quantifizierenden Betrachtung unterzogen werden könnten. Ob sich damit wirklich „neue Sehweisen auf das Rechtsleben im Reich der Frühen Neuzeit werden gewinnen lassen“, wie Baumann am Ende ihres Beitrags schreibt, wird die weitere Forschungsentwicklung zeigen. Einen größeren Ertrag wird es eher im Hinblick auf die sozialgeschichtliche Forschung geben. Um „Streitgegenstände vor dem Reichskammergericht“ geht es in den drei Beiträgen des zweiten Blocks. Anja Amend-Traut (Würzburg) stellt die Frage nach den „Zivilverfahren“30 und meint damit Verfahren mit privatrechtlichen Gegenständen wie vor allem Schuld- und Wechselsachen, die auch

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ANETTE BAUMANN, Frauen vor dem Reichskammergericht. Frankfurt und Köln im Vergleich, S. 93-115. In dem von UTE GERHARD herausgegebenen Sammelband „Frauen in der Geschichte des Rechts“ (München 1997) finden sich bezeichnender Weise für die Frühe Neuzeit hinsichtlich der Prozesspraxis lediglich Beiträge zur Stellung der Frauen im Strafprozess. Vgl. aber den Tagungsband von SIEGRID WESTPHAL (Hg.), In eigener Sache. Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches, Köln Weimar Wien 2005. ANETTE BAUMANN, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert (QFHG 36), Köln Weimar Wien 2001, S. 80-83 ANJA AMEND-TRAUT, Zivilverfahren vor dem Reichskammergericht. Rückblick und Perspektiven, S. 125-155.

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schon Gegenstand ihrer rechtshistorischen Habilitation waren.31 Es sind dies die eher unspektakulären Verfahren, die indes auch noch kaum die Aufmerksamkeit der rechtshistorischen Forschung gefunden haben. Meistenteils gelangen derartige Streitgegenstände mittels Appellation an das höchste Gericht des Reichs, aber auch durch Nichtigkeitsbeschwerden sowie nach Rechtsverzögerung oder gar Rechtsverweigerung. Amend-Traut versucht, anhand einer großen Anzahl von Fallbeispielen die an das Reichskammergericht gelangten Gegenstände im Einzelnen zu identifizieren und zu Gruppen zusammen zu fassen. Es zeigte sich, dass wirtschaftlich orientierte Streitigkeiten, etwa um Jahresgülten und Zinsen, um Haftungsbeschränkungen in Konkursfällen, und um Handelsgesellschaften, im Vordergrund stehen. Mit seiner Fallstudie zu Hexenprozessen der elsässischen Reichsstadt Kaysersberg32 knüpft Ralf-Peter Fuchs (München) auch an eigene Forschungen an,33 kann sich vor allem aber auf die erschöpfende Monographie Peter Oestmanns über Hexenprozesse am Reichskammergericht34 stützen. Angesichts der insgesamt guten Forschungslage konnte er sich auf den Prozess der Salome Gebweiler’schen Verwandten gegen den Rat der Stadt Kaysersberg aus dem späten 16. Jahrhundert beschränken, der zur Frage der Ehre einige Sondergesichtspunkte erkennen ließ. So geht es Fuchs in seinem Beitrag weniger um den Streitgegenstand der Hexerei, als darum, wie der daraus resultierende Ehrdiskurs zwischen den beiderseitigen Prokuratoren inszeniert wurde. Erst Frank Kleinehagenbrock (Würzburg) wendet sich in seinem Beitrag35 dem Typ der Religionsprozesse zu, die als politische Verfahren36 31

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ANJA AMEND-TRAUT, Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht. Praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit (QFHG 54), Köln Weimar Wien 2009. RALF-PETER FUCHS, ‚Ius oder iniuria?“ Hexenprozesse des Rates von Kaysersberg im Spiegel eines juristischen Diskurses um Ehre und Wahrheit, S. 157-178. RALF-PETER FUCHS, Hexerei und Zauberei vor dem Reichskammergericht. Nichtigkeitsbeschwerden und Injurienklagen (SchrRGesRKGForsch 16), Wetzlar 1994. PETER OESTMANN, Hexenprozesse am Reichskammergericht (QFHG 31), Köln Weimar Wien 1997. FRANK KLEINEHAGENBROCK, Konservierung oder Weiterentwicklung des Religionsfriedenssystems von 1648. Das Reichskammergericht in den Konflikten um die Besitzstände der Konfessionsparteien, S. 179-196. Zur Definition der politischen Prozesse in der Vormoderne siehe: FRIEDRICH BATTENBERG, Herrschaft und Verfahren. Politische Prozesse im mittelalterlichen römisch-deutschen Reich, Darmstadt 1995, S. 7-9. Weitere Präzisierung dazu DERS., Im Bannkreis Stalins? Bemerkungen zu einer Rezension, die keine ist, in: R.hist. Journal 15, hg. von DIETER SIMON, Frankfurt am Main 1996, S. 421-438.

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schon immer die Aufmerksamkeit der Rechts- und Verfassungshistoriker gefunden haben. Es ist dies eine eher reichsgeschichtlich orientierte Studie, die die konfessionellen Prozesse am Reichskammergericht in den Blickpunkt nimmt, einige darunter fallende Verfahren näher beschreibt, aber eine juristisch exakte Definition nicht gibt – angesichts der Vielfältigkeit der hier unter den Begriffen „Religion“ oder „Konfession“ zusammengefassten Verfahren auch nicht geben kann. Kleinehagenbrock macht zudem darauf aufmerksam, dass bei einer Analyse derartiger Prozesse ähnliche politische Prozesse am Reichshofrat nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Mit seinen eindrücklichen Beschreibungen repräsentativer Einzelfällen kann er zugleich deutlich machen, dass sich in diesen Prozessen vielleicht noch am ehesten die allgemeine Verfassungsgeschichte des Reiches spiegelte. Dass dem Reichskammergericht seit seinen ersten Jahren im 16. Jahrhundert gerade durch die Reformationsprozesse eine enorme politische Funktion zukam, ist spätestens seit einem 1990 veranstalteten Kolloquium der Gesellschaft für Rechtskammergerichtsforschung37 in Wetzlar zweifellos fester Bestandteil der rechtshistorischen Forschung. In der Kommentierung des Sozialhistorikers Winfried Schulze38 (München) werden die Ergebnisse der drei Beiträge unter allgemeinen Gesichtspunkten beleuchtet. Schulze macht hier noch einmal auf die verbindenden Elemente der Beiträge einschließlich des für den vorliegenden Druck ausgefallen Referats von Peter Oestmann aufmerksam. Er spricht von einer Neubewertung der Rechtskultur im Heiligen Römischen Reich, wie dies im Laufe einer Generation von einschlägigen Forschungsarbeiten bilanziert werden kann. Insgesamt plädiert er dafür, die Quellengrundlage nun mehr als bisher über die Akten des Reichskammergerichts hinaus auszuweiten. Dennoch zeigten ihm zufolge gerade die Vorträge dieser Sektion, dass die Reichskammgerichtsforschung in den letzten 30 Jahren einen sehr bemerkenswerten Aufschwung genommen hat. Dem Abschnitt „Das Reichskammergericht und andere Höchstgerichte im Reich“ sind vier Beiträge zugeordnet, in denen beispielhaft auf die Wir-

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Der Tagungsband wurde hg. von BERNHARD DIESTELKAMP unter dem Titel „Die politische Funktion des Reichskammergerichts“ (QFHG 23), Köln Weimar Wien 1993. Dort insbesondere die Beiträge von Martin Heckel zu den Reformationsprozessen, von DIETRICH KRATSCH zum „Vierklosterstreit“ und von GABRIELE HAUG-MORITZ zum württembergischen Ständekonflikt unter Herzog Karl Eugen. WINFRIED SCHULZE, Kommentar, S. 197.

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kungsmacht dieser Gerichte, auf informelle Querverbindungen und Vernetzungen, aber auch auf gleichartige und unterschiedliche forensische Prinzipien und Verfahrensgewohnheiten (stilus curiae) Bezug genommen wird. Dabei konnten die Grenzen des Heiligen Römischen Reiches, die ja keine solche im heutigen Sinne waren, nicht immer eingehalten werden; französische und schwedische Gerichte, soweit sie innerhalb der Reichsgrenzen lagen (z. B. für Lothringen und Wismar), waren insofern zugleich Einfallstore für fortgeschrittenere, teils dem römischen Recht mehr verpflichtete Verfahrensgrundsätze. Dies muss auch für das Verhältnis zwischen Reichskammergericht und Reichshofrat gelten, das in gleich zwei Beiträgen angesprochen wird. Hier sind zwar seit einer grundlegenden Monographie Wolfgang Sellerts39 und nachfolgend einem zum Problem der Konkurrenz beider Rechtsprechungskörper 1997 an der Universität Göttingen veranstalteten Symposium der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung40 die wichtigsten Fragen beantwortet; doch haben die Prozessakten dann doch wieder zahlreiche weiteren Fragen aufgeworfen – auch dies ein Ergebnis des DFG-Inventarisierungsprojekts. Eva Ortlieb, als Mitarbeiterin eines erst vor wenigen Jahren neu begonnenen Verzeichnungsprojekts zur Erfassung der Wiener Reichshofratsakten41 mit der Materie bestens vertraut,42 ist der erste einschlägige Beitrag zur

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WOLFGANG SELLERT, Über die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht, insbesondere in Strafsachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Unters.z.dt.Staats.u.R.Gesch. NF 4), Aalen 1965; auch DERS., Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens (Unters.z.dt.Staats.u.R.Gesch. NF 18), Aalen 1973. Die Referate dieser Tagung wurden veröffentlicht in: WOLFGANG SELLERT (Hg.), Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis (QFHG 34), Köln Weimar Wien 1999. Angestoßen wurde dieses von der Akademie der Wissenschaften geförderte Projekt von Wolfgang Sellert in Zusammenarbeit mit Leopold Auer vom Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien und Werner Ogris vom Rechtshistorischen Institut der Universität Wien. Das auf gleichen Prinzipien wie das RKG-Inventarisierungsprojekt aufgebaute Projekt zur Inventarisierung der Wiener Reichshofratsakten konnte im Jahre 2006 seine Arbeit aufnehmen. Zu den Vorüberlegungen vgl. auch WOLFGANG SELLERT, Projekt einer Erschließung der Akten des Reichshofrats, in: DERS. (Hg.), Reichshofrat und Reichskammergericht (Anm. 40), S. 199-210. Ein erster Inventarband konnte 2009 bereits vorgelegt werden: EVA ORTLIEB (Bearb.), Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats, Serie I: Alte Prager Akten, Bd. 1: A – D, hg. von WOLFGANG SELLERT, Berlin 2009 (Eine Publikation der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Österreichischen Staatsarchiv). Zur Prozesstätigkeit des Reichshofrats

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Konkurrenz zwischen Reichshofrat und Reichskammgericht zu verdanken.43 Sie spricht allerdings weniger die grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Probleme an, sondern beschreibt detailliert die bisher nur wenig bekannte archivische Überlieferung ebenso wie die Geschichte bisheriger Verzeichnungen und Ordnungsversuche. Sie beschreibt darüber hinaus die bei der Neuverzeichnung der Reichshofratsakten aufgetretenen praktischen Schwierigkeiten, die in vielerlei Hinsicht an diejenigen bei der Inventarisierung der Reichskammergerichtsakten erinnern. Auf inhaltliche Fragen des Konkurrenzverhältnisses zwischen beiden Höchstgerichten geht anhand einer fallstudienhaften Beschreibung von Verfahren um dynastische Konflikte der Ernestiner Siegrid Westphal (Osnabrück) ein.44 Sie ordnet die untersuchten Verfahren in eine Typologie politischer Verfahren ein, wie sie erstmals von Volker Press entwickelt worden war. Eine gewisse Schwierigkeit der Zuordnung gab es dadurch, dass es um innerfamiliäre bzw. innerdynastische Konflikte um die Interpretation von Hausgesetzen ging, die aber dennoch der Herrschaftssicherung dienten. Etwa neun Zehntel aller derartiger Prozesse wurden, wenn sie an die Reichsgerichte kamen, vor dem Reichshofrat und nur der Rest vor dem Reichskammergericht ausgetragen. Dies war auch bei den thüringischen Dynastien nicht anders – und dies, obwohl es sich um Streitigkeiten innerhalb einer lutherisch orientierten Adelsfamilie ging. So erweist sich bei der Regulierung derartiger Konflikte um Primogenturrechte der Reichshofrat auch als Instrument im Interesse kleinerer und mittlerer Reichsstände. Die Ergebnisse der Fallstudie sind insofern auch für die Verfassungsgeschichte von Bedeutung, als die These von dem einseitig auf den Kaiser und den Katholizismus hin ausgerichteten Reichshofrat relativiert werden muss. Ein auf den ersten Blick marginales Problem behandelt der Nimwegener Rechtshistoriker Paul L. Nève.45 Bekanntlich wurden am Reichskammergericht im Laufe der Zeit Prozesse nur noch dann vorangetrieben, falls entsprechend „sollizitiert“ wurde – eine Praxis, die seit einer vor einigen Jahren

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siehe auch den Aufsatz von EVA ORTLIEB / GERT POLSTER, Die Prozessfrequenz am Reichshofrat (1519-1806), in: ZNR 26 (2004), S. 189-216. EVA ORTLIEB, Reichshofrat und Reichskammergericht im Spiegel ihrer Überlieferung und deren Verzeichnung, S. 205-224. SIEGRID WESTPHAL, Dynastische Konflikte der Ernestiner im Spiegel von Reichshofratsund Reichskammergerichtsprozessen, S. 225-250. PAUL N. NÈVE, Die Entstehung der Sollicitatur am Reichskammergericht. Zum Einfluß des Parlement de Paris und des Hohen Rats von Mechelen, S. 251-268.

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erschienenen Analyse von Bengt Christian Fuchs näher in der Forschung bekannt ist.46 Nève kann nun nachweisen, dass diese Sollizitatur durchaus nicht eine lediglich an den höchsten Gerichten des Reichs praktizierte Einrichtung war, sondern dass auch am Parlament de Paris wie auch am Großen Rat von Mechelen, dem burgundischen Höchstgericht, eine solche Praxis existierte, und zwar schon seit dem 15. Jahrhundert. Vielleicht geht diejenige des Reichskammergerichts mit auf diese westlichen Vorbilder zurück, die zweifellos einer schon früher hochentwickelten Rechtskultur zu verdanken war. Mit dem Beitrag von Nils Jörns(Wismar) zum Wismarer Tribunal47 wird ein weiteres Gericht in die Betrachtung einbezogen, das seit 1653 als Oberappellationsgericht für die Herzogtümer Bremen, Verden und Vorpommern sowie die Herrschaft Wismar und Nebenländer unter schwedischer Herrschaft eingesetzt worden war. Jörn informiert zunächst über die Geschichte dieses bisher wenig bekannten Höchstgerichts, von dem aus keine Rechtszugsmöglichkeit mehr an das Reichskammergericht möglich war. Er informiert weiter über den Verfahrensgang und schließlich über das Projekt einer Erschließung der Gerichts- und Prozessakten. In diesem Zusammenhang macht er auch auf ein Überlieferungsproblem aufmerksam, das in dieser Weise – mit Ausnahme vielleicht für den Bereich des ehemaligen Großherzogtums Hessen – hinsichtlich der Kameralakten nicht existiert: Es ist – nach früheren Kassationen und Kriegsverlusten – allenfalls noch ein Viertel der Prozessakten des Wismarer Tribunals erhalten. Diese Lücke kann zu einem guten Teil durch die Überlieferung von Untergerichten geschlossen werden, die über Abschriften der höchstgerichtlichen Akten verfügen, aber auch durch Urteilssammlungen, soweit sie in den Stadtarchiven Wismar und Greifswald sowie dem Reichsarchiv in Stockholm aufbewahrt werden. Der zusammenfassende Kommentar Leopold Auers vom Haus-, Hofund Staatsarchiv Wien48 hebt deutlich hervor, dass die Referate dieser Sektion haben deutlich machen können, dass durch die Verzeichnungsleistungen der letzten Jahre die einschlägige Forschung beträchtlich hat fortschreiten können, dass damit aber auch neue Defizite erkennbar wurden.

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BENGT CHRISTIAN FUCHS, Die Sollicitatur am Reichskammergericht (QFHG 40), Köln Weimar Wien 2002. NILS JÖRN, Das Wismarer Tribunal – Geschichte und Arbeitsweise des schwedischen Obergerichts im Reich sowie Verzeichnung seiner Prozeßakten, S. 269-287. LEOPOLD AUER, Kommentar, S. 289-292.

Einleitung: Bilanzierung eines Projekts

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Am schwierigsten unter einen einheitlichen, leitenden Gesichtspunkt waren die Referate des vierten Blocks zu fassen, da der Begriff der „Erfassung des Raumes durch das Reichskammergericht“ vieldeutig erschien und die Präsenz des Reichskammergerichts in den unterschiedlichen Regionen des Reichs oder auch dessen Inanspruchnahme durch verschiedene Funktionsund Herrschaftsträger durch eine Vielzahl von möglichen Parametern gemessen werden kann. Das von Peter Moraw für das Spätmittelalter entwickelte Konzept der Nähe und Ferne einzelner Regionen oder einzelner Personengruppen oder Herrschaften zum Königshof (Unterscheidung zwischen königsnahen und königsfernen Landschaften)49 kann jedenfalls kaum eins zu eins übertragen werden, da das Reichskammergericht spätestens seit der Ordnung von 1495 nur noch zu einem Teil den Kaiser repräsentierte und als feste Institution seine Wirksamkeit kaum noch der Nähe oder Ferne bestimmter Personengruppen der Landschaften verdankte. Dennoch ist es ein legitimes Anliegen der Forschung, zu untersuchen, inwieweit das sich nach und nach entwickelnde Legitimitätspotential des Reichskammergerichts an die Ränder des Reichs reichte und wo es – durch rechtliche Beschränkungen von Exemtionen, älteren Gerichtsstands- wie auch jüngeren Appellationsprivilegien, aber auch aus ganz handfesten pragmatischen Gesichtspunkten, wie große Entfernung und damit verbundenen höheren Kosten und einer längeren Verfahrensdauer heraus – keine Wirksamkeit entfalten konnte. Bernd Schildt (Bochum) geht im ersten Beitrag dieses Themenblocks50 dem Problem mittels einer quantitativen Analyse auf der Basis des bisher bekannten und in der Bochumer Datenbank erfassten Quellenmaterials nach, insgesamt über 38.000 Prozessen. Er führt dazu eine sinnvolle zeitli-

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Vgl. die grundlegenden Bemerkungen von PETER MORAW / VOLKER PRESS im Beitrag „Probleme der Sozial- und Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (13. – 18. Jahrhundert), in: ZHF 2 (1975), S. 95-108; auch PETER MORAW, Neue Ergebnisse der deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, in: Lectiones Eruditorum Extraneorum in Facultate Philosophica Universitatis Carolinae Pragensis Factae, Heft 2, Prag 1993, S. 29-59; DERS., Neuere Forschungen zur Reichsverfassung des späten Mittelalters, in: Mittelalterforschung nach der Wende 1989, hg. von MICHAEL BORGOLTE, München 1995, S. 453-484; DERS., Vom Raumgefüge einer spätmittelalterlichen Königsherrschaft: Karl IV. im nordalpinen Reich, in: MICHAEL LINDNER / ECKHARD MÜLLER-MERTENS / OLAF B. RADER (Hg.), Kaiser, Reich und Region. Studien und Texte aus der Arbeit an den Constitutiones des 14. Jahrhunderts und zur Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, Berlin 1997, S. 61-81; DERS., Franken als königsnahe Landschaft im späten Mittelalter, in: BDLG 112 (1976), S. 123-138. Kurze Zusammenfassung auch bei PETER MORAW, Art. „Deutschland: Spätmittelalter“ in: LexMA III 1986, Sp. 835-869, hier: Sp. 837-838. BERND SCHILDT, Nähe und Ferne zum Reichskammergericht. Teilergebnisse einer quantitativen Analyse, S. 295-315.

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che Periodisierung nach der bis 1526 währenden Anfangszeit des Gerichts mit wechselnden Residenzorten, der Speyerer Zeit von 1527 bis 1689 und der Wetzlarer Zeit von 1690 bis zum Ende des Alten Reiches 1806 ein. Offenbar spielten, wie Schildt am Ende seiner Ausführungen feststellen kann, bei der Nutzung des Gerichts, nicht nur die räumliche Nähe oder Ferne zum Sitz des Gerichts eine Rolle, sondern weiterhin auch soziale Rangunterschiede und persönliche Beziehungen, konfessionelle Überlegungen und auch die Konkurrenz zum Reichshofrat. Um hier präzisere Aufschlüsse zu erhalten, müsste der gesamte Quellenkorpus unter eingehender Analyse der Daten zu den einzelnen Klägern noch genauer untersucht werden. Hier hatte es gewiss der Würzburger Rechtshistoriker Jürgen Weitzel mit seinem Beitrag zu den rechtlichen Beschränkungen des Reichskammergerichts durch die privilegiale Praxis des Kaisers schon einfacher,51 nicht nur deshalb, weil er sich selbst in einer diesen Problembereich gründlich erfassenden Monographie damit seit langem beschäftigt hatte52, sondern auch deshalb, weil mit der Zusammenstellung der Appellationsprivilegien durch Ulrich Eisenhardt eine vorzügliche Grundlage für die Ermittlung der einschlägigen Quellen vorliegt.53 Dennoch war es ein kompliziertes rechtliches System, das Weitzel vorzustellen hatte: Die Randgebiete des Heiligen Römischen Reichs waren vielfach durch Exemtionen befreit (wie z. B. die Schweizerische Eidgenossenschaft oder die Niederlande), bis sie schließlich ganz aus dem Reichsverband ausschieden. Die erstmals den Kurfürsten verliehenen Appellationsprivilegien waren in der Folgezeit aber zumeist nach Streitwert differenziert erteilt worden, galten vor allem im 18. Jahrhundert dann aber vielfach unbeschränkt (privilegia illimitata), so z. B. für die beiden hessischen Landgrafschaften 1742 und 1747. Am Ende waren es vor allem die kleineren Reichsstände, in denen das Reichskammergericht „appellationspräsent“ blieb, während in vielen größeren Territorien die neu entstehenden Oberappellationsgerichte an die Stelle der zentralen Reichsgerichte traten.

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JÜRGEN WEITZEL, Minderungen der räumlichen Präsenz des Reichskammergerichts. Exemtionen, Appellationsprivilegien und vergleichbare Erscheinungen, S. 317-330. JÜRGEN WEITZEL, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht (QFHG 4), Köln Wien 1976. ULRICH EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia de non appellando (QFHG 7), Köln Wien 1980.

Einleitung: Bilanzierung eines Projekts

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Von einer ganz anderen Perspektive aus geht Ingrid Männl (Berlin), Schülerin von Peter Moraw, die Frage der räumlichen Präsenz zentraler gerichtlicher Aktivitäten aus an. Sie fragt nach den Juristenlandschaften im Alten Reich für die Zeit des Spätmittelalters, also vor der Entstehung des Reichskammergerichts.54 Auf den ersten Blick erscheint diese Frage für die Geschichte der Höchstgerichtsbarkeit ohne Belang. Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich, dass die Entstehung und räumliche Präsenz des Juristenstandes an den Fürstenhöfen sehr wohl für eine Tradition verantwortlich waren, die sich auf die spätere Nutzung des Reichskammergerichts auswirkte. Die Juridifizierung der administrativen Dienste in den landesherrlichen Höfen bildet einen wichtigen Faktor für die Inanspruchnahme der höchsten Reichsgerichte und könnte damit als weiterer Parameter zur Feststellung von Nähe und Ferne zum Reichskammergericht eine Rolle spielen. Welche Bedeutung nun die von ihr ermittelten spätmittelalterlichen „Juristenlandschaften“ für die Rekrutierung des Kameralpersonals selbst hatte, bedarf allerdings noch einer eingehenden Untersuchung. Zu untersuchen wäre aber auch noch, inwieweit die Gerichtsnutzung davon abhing, dass persönliche Nähen zwischen Prozessführenden und Kameralpersonen bestanden, die mit landschaftlicher Verbundenheit erklärt werden können. Der Beitrag des Bonner Verfassungshistorikers Maximilian Lanzinner über die Juristen unter den Gesandten der früheren Reichstage55 knüpft fast nahtlos an den Ingrid Männls an, verlagert aber die Gewichtung auf eine andere zentrale Reichsinstitution. Dies erscheint insofern gerechtfertigt, als die gleiche Funktionselite der im Reichsrecht bewanderten Juristen austauschbar war und deshalb nicht isoliert von ihrer Tätigkeit am Reichskammergericht her gesehen werden darf. Lanzinners Beitrag, auch wenn er für die Erforschung der Verhältnisse an den obersten Reichsgerichten nur von mittelbarem Interesse ist, verhilft um so mehr dazu, den Blick auszuweiten und eine in Reichsdiensten tätige Personengruppe zu fassen, über die für den fraglichen Zeitraum noch recht wenig bekannt ist. Gerade deswegen kann in diesem Beitrag Abschließendes nicht gesagt, wohl aber Problemfelder beschrieben werden. Der Reichstag als „einzigartiges Forum der Begegnung“ bildete offenbar eine Art Kontaktbörse, durch die Vernetzungen entstanden und Karrieren vorangetrieben wurden. Durch gruppenbiographi-

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INGRID MÄNNL, Juristenlandschaften im spätmittelalterlichen Reich. Zum Wirken gelehrter Juristen im Fürstendienst, S. 331-350. MAXIMILIAN LANZINNER, Juristen unter den Gesandten der Reichstage 1486-1654, S. 351-385.

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Friedrich J. Battenberg / Bernd Schildt

sche Analysen der beteiligten Juristen, die Lanzinner als Forschungsaufgabe beschreibt, könnten letztlich auch die Kommunikationsnetze des Kameralpersonals besser verortet werden. Der Kommentar der Verfassungshistorikerin Sigrid Jahns (München),56 der im Grunde über die Thematik der vier Referate der Sektion hinausgeht, bewertet die Aussagen der Referenten im Hinblick auf die Frage der Nähe und Ferne zum Reichskammgericht. Sie stellt noch einmal grundsätzlich die Fragen nach der räumlichen (geographischen) Wirksamkeit dieses Gerichts, nach der durch die unterschiedlichen Territorien bedingten Rechtsvielfalt und nach der Rekrutierung des richterlichen Personals. Sie stellt fest, dass die Frage nach dem Verhältnis von Gemeinem Recht und Partikularrechten in der Rechtsanwendungspraxis des Reichskammergerichts und damit die Frage nach den Rechtsräumen zu wenig thematisiert wurde.

V. Abschließend muss nochmals betont werden, dass es nicht Aufgabe der in diesem Band zusammengefassten Beiträge war, die rechts- und sozialhistorische Forschung zur höchsten Gerichtsbarkeit im Heiligen Römischen Reich voranzutreiben. Eher sollte Bilanz gezogen werden – über das, was das Inventarisierungsprojekt der DFG leisten konnte, wo dessen Grenzen waren und inwieweit es anregend für die weitere Forschung gewirkt hat. Insofern konnte auch für einige ausgewählte, vier Themenkomplexen zugeordneten Fragestellungen bzw. Forschungsfragen Bilanz gezogen werden, da die Bearbeitung dieser Themen überhaupt erst durch die neu erschlossenen Quellenkorpora der Reichskammgerichtsakten ermöglicht werden konnte. Eines der wichtigen Ergebnisse der Tagung – wie es so nicht von Anfang an klar vor Augen lag – besteht darin, dass die Erforschung der Geschichte des Reichskammergerichts in einen Gesamtzusammenhang der Verfassungs-, Sozial- und Rechtsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches ebenso wie auch vergleichbarer Institutionen anderer europäischer Länder gestellt werden muss, ferner dass neben den Institutionen die beteiligten Personen und Personengruppen (Prozessparteien, Kameralpersonen) stärker als bisher in den Blick zu nehmen sind. Über ganze „Berufsgruppen“ wie die der Advokaten, der Prokuratoren, auch der immatrikulierten Notare wissen wir noch viel zu wenig, um sie richtig in ihren Funktionen bei der Justiznutzung ein-

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SIGRID JAHNS, Die Erfassung des Raumes durch das Reichskammergericht, S. 387-401.

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ordnen zu können. Möge dieser Band dazu beitragen, einige Probleme schärfer als bisher zu sehen, um damit die rechts- und sozialhistorische Forschung auf der Grundlage der reichskammergerichtlichen Quellen weiter vorantreiben zu können.

BERNHARD DIESTELKAMP

Rückblick auf das Projekt zur Inventarisierung der Prozeßakten des Reichkammergerichts I. Gestatten Sie, dass ich meine Ausführungen mit einer Richtigstellung beginne, die ich nicht zum ersten, heute aber wohl doch zum letzten Mal vornehme. Es schmeichelt zwar meiner Eitelkeit, dass man mich für den Initiator des großen Verzeichnungsprojektes für die Prozeßakten des Reichskammergerichts hält. Aber der historischen Wahrheit entspricht es nicht. Richtig ist vielmehr nur, dass ich das Projekt von Anfang an und länger als alle anderen Beteiligten begleiten durfte. Als ich 1967 nach Frankfurt berufen worden war, suchte ich für meine Antrittsvorlesung nach einem Thema, mit dem ich ein neues Arbeitsfeld eröffnen wollte, für das die Quellen in erreichbarer Nähe sein sollten. Dabei stieß ich auf das Reichskammergericht, dessen Untrennbarer Bestand damals noch in der Außenstelle des Bundesarchivs in Frankfurt lag. Aus hier nicht näher darzulegenden hochschulpolitischen Gründen konnten meine Überlegungen zum “Reichkammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts” allerdings erst im Jahre 1976 publiziert werden. Zur selben Zeit hatten auch andere begonnen, die Höchsten Gerichte des Alten Reiches als Forschungsobjekte zu entdecken. Ich nenne nur einige Namen: Volker Press und Peter Moraw mit Sigrid Jahns sowie Winfried Schulze mit seinen Schülern für das Reichskammergericht und Wolfgang Sellert als Schüler von Adalbert Erler den Reichshofrat. 1957 war schon das Findbuch des neu verzeichneten Koblenzer Bestandes der RKG-Akten erschienen. 1966 folgte Münster. Ungedruckt lagen Inventare von Neuverzeichnungen in Wolfenbüttel, Stade und Hannover bereit. Dem allgemeinen Neuerwachen des Interesses an dieser Quellengruppe entsprach es, dass die Konferenz der Archivreferenten des Bundes und der Länder (ARK) sich dafür zu interessieren begann, ob es nicht möglich sei, mit Sondermitteln der DFG alle Teilbestände systematisch neu zu verzeichnen, um damit virtuell den aufgeteilten Bestand wieder zu vereinen. Damit würde diese Quellengruppe wissenschaftlich völlig neu genutzt werden können. Die für die Erarbeitung ein-

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heitlicher Richtlinien für eine solche Neuverzeichnung von der ARK eingesetzte Kommission kooptierten Herrn Ranieri und mich als Berater aus dem zukünftigen rechtshistorischen Benutzerkreis. Herr Ranieri war damals unter den Archivaren vor Ort sicherlich bekannter als ich, weil er für seine 1985 erschienene Habilitationsschrift viele Archive angeschrieben oder aufgesucht hatte. So manchen Wunsch konnten wir in den Diskussionen durchsetzen wie z. B. die Listen der Vorinstanzen und die der Prokuratoren. Mit anderen scheiterten wir – wie ich heute zugeben muß zu Recht – , weil die Herren Archivare uns vorhielten, dass eine zu große Verzeichnungstiefe verhindern würde, in absehbarer Zeit Ergebnisse vorlegen zu können. Das Resultat dieses Kompromisses – die von der Archivreferentenkonferenz am 09. Mai 1978 gebilligten Frankfurter “Grundsätze für die Verzeichnung von Reichskammergerichtsakten” – kann sich durchaus sehen lassen: auf der einen Seite bietet das Schema genügend interessante Informationen für die Forschung und auf der anderen Seite wurden die Bearbeiter nicht durch zu viele Einzelheiten gehindert, ihre Arbeit zügig zu beenden. Ausgestattet mit dem Wissen aus der Arbeit in dieser Kommission konnte ich dann über lange Jahre hin als Mitglied des Bibliotheksausschusses der DFG und vor allem dessen Archivunterausschusses den Fortgang des Projektes kritisch und fördernd begleiten.

II. Als ich 1977 auf dem internationalen Kongress aus Anlaß des 500. Jahrestages der Gründung des Großen Rates von Mechelen über den “Stand der Arbeiten zur Erschließung der Quellen des Reichskammergerichts” berichtete, warnte in der Diskussion ein ausländischer Diskussionsteilnehmer angesichts des Umfangs des Gesamtbestandes vor der Illusion, dass man jemals diesen Quellenberg ganz werde bewältigen können. Eigentlich sei es ja auch genug, wenn schließlich einige Teilbestände neu verzeichnet würden, so dass man wenigstens an einige Akten besser herankomme. Es war dies ein Romanist, der Fortschritte für die Rezeptionsforschung nur von der intensiven Analyse von Einzelprozessen erwartete. Ähnlich dachte übrigens auch der Hannoveraner Archivar und Historiker Ernst Pitz, der mit einer vorbildlichen Analyse einer Einzelakte gezeigt hatte, welchen Erkenntnisgewinn man aus der vertieften Untersuchung einer solchen Quelle erzielen kann. Doch leider verhinderte er mit seiner Meinung die Publikation der damals schon fertigen hannoverschen Teilverzeichnung, die bis heute aus-

Rückblick auf das Inventarisierungsprojekt Reichskammergericht

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steht. Beide urteilten, bevor Filippo Ranieri 1985 mit seiner Habilitationschrift zeigte, wie groß der Erkenntnisfortschritt durch Anwendung statistischer Methoden ist. Obwohl ich durchaus der von dem Diskussionsteilnehmer in Mechelen gegeißelten, illusionären Hoffnung anhing, daß eine vollständige Neuverzeichnnng wünschenswert sei, wagte ich damals jedoch dort nicht zu widersprechen, weil auch mir die Aufgabe in der Tat zu überwältigend erschien. Heute wissen wir nach fast vollständigem Abschluß der Neuverzeichnung, dass es keine Illusion, sondern eine realistische Utopie war, von der vollständigen Erschließung des Gesamtbestandes zu träumen. Und dies ist auch forschungspolitisch wichtig und begrüßenswert, weil es eben nicht nur individualistische Fragen an einzelne Akten gibt, sondern für rechts- und verfassungsgeschichtliche, aber auch wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme schon der Überblick über die Häufigkeit auftretender Probleme Aussagen ermöglicht, die durch die Analyse einzelner Akten allein nicht denkbar wären. Ein Rückblick könnte nun die Zahlen des Bewältigten vorstellen. Doch dafür ist mein Freund und Kollege Bernd Schildt besser gerüstet, weshalb ich diesen Part gern ihm überlasse. Stattdessen möchte ich mich dazu äußern, wozu ich besser legitimiert bin, nämlich zu einem Vergleich des in Frankfurt Intendierten mit dem, was ich als Benutzer der neu erschlossenen Bestände erfahren habe.

III. Ein Rückblick sollte nicht nur dem Lobe dienen, sondern auch kritischen Gedanken Raum geben dürfen. Ich möchte Ihnen daher einige Überlegungen zu Punkten vortragen, die mir im Laufe der drei Jahrzehnte als Benutzer in diesem Sinne aufgefallen sind. 1. Einhaltung der Richtlinien Die von der Kommission aufgestellten Frankfurter Grundsätze sollten eine einheitliche Benutzung gewährleisten. Wer die danach gearbeiteten Inventare parallel zu den davor geschaffenen Verzeichnungen von Koblenz, Münster, Wolfenbüttel und Stade benutzt, weiß diese Einheitlichkeit zu schätzen. Gleichwohl haben einige Häuser gemeint, das Schema ihren besonderen Bedürfnissen anpassen zu sollen wie zum Beispiel schon 1982 Oldenburg. Doch sind diese Abwandlungen nicht so gravierend, dass darunter die Vergleichbarkeit bei der Benutzung litte.

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2. Orts- und Personennamen Unentbehrlich für eine sachgerechte Benutzung ist die klare und richtige Identifizierung der Orts- und Personennamen. Für diesen Punkt erwies es sich als Glücksfall, dass die Akten auf die Regionalarchive aufgeteilt sind. Die Archivare sind in der Regel kenntnisreiche Landeshistoriker, die das Namensgut aus anderen Zusammenhängen her kennen oder im Einzelfall die Hilfsmittel zur Hand haben, um unbekannte Namen zuverlässig identifizieren zu können. Dann kann es nicht passieren, dass plötzlich jemand im Generalrepertorium einen Prozeß aus “Brüssel” findet, den es eigentlich nicht geben dürfte. Der kundige zweite Blick entdeckte denn auch die Namensform “Bruchsel”, aus der dann durch den Sachzusammenhang schnell der richtige Name “Bruchsal” herauszufinden war. 3. Streitgegenstand Schon in Frankfurt war klar, dass die Beschreibung des Streitgegenstandes am schwierigsten sein würde, dass aber gerade auf diesen Punkt besondere Sorgfalt zu verwenden sei. Für die Benutzung von Prozeßakten ist es von zentraler Bedeutung, den juristischen Gehalt des Streites offeriert zu bekommen. An dieser Stelle wirkten sich die unterschiedlichen Qualifikationen der BearbeiterInnen besonders stark aus. Das gilt zunächst für die Fähigkeit, aus den sprachlich nicht einfachen Formulierungen der Schriftsätze das Richtige herauszulesen. Immerhin fällt es selbst einem Rechtshistoriker nicht immer leicht, das umständliche Gemisch von altem Deutsch und Juristenlatein zu verstehen. Die wenigsten BearbeiterInnen waren aber wirklich rechtshistorisch qualifiziert. Sodann war die Fähigkeit, das Verstandene nicht etwa nur vom Aktendeckel wörtlich abzuschreiben, sondern die Streitpunkte in moderner Sprache wiederzugeben, höchst unterschiedlich ausgebildet. Auch auf andere Weise konnten sich Fehler einschleichen. Als ich das Inventar der Akten in (Darmstadt-) Laubach durchsah, erschienen mir die Grafen zu Solms-Laubach als besonders harte und gewaltsame Tyrannen, denen nichts anderes einfiel, als ihre Untertanen im Dorf Freienseen ins Gefängnis zu werfen, ihnen mit roher Gewalt Vieh wegzunehmen und sie auch sonst übel zu drangsalieren. Dieser Eindruck war entstanden, weil die Bearbeiterin allein die Angaben der Freienseener, die dem Mandat gegen ihren Landesherrn zugrundegelegt worden waren, zur Beschreibung des Streitgegenstandes benutzt hatte. Die Grafen sahen dagegen in der Anwendung dieser Gewaltmaßnahmen lediglich die legitime Durchsetzung ihrer landesherrlichen Obrigkeit gegen ihre rebellischen Untertanen in Freienseen. Der Streitgegen-

Rückblick auf das Inventarisierungsprojekt Reichskammergericht

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stand verwandelte sich damit von der Abwehr tyrannisch- willkürlicher Gewalt zum Kampf um die Ausübung der gräflichen Herrschaft im Dorf. Obwohl sich damit die Formulierung des Streitgegensandes als geradezu falsch erweist, halte ich dies in diesem Fall doch für eine läßliche Sünde. Die aus Gründen der Effektivität des Projektes ausgebildete Norm von durchschnittlich mindestens zwei verzeichneten Akten pro Tag hatte wohl kein intensiveres Studium der Akten erlaubt. Immerhin wurde ich durch die – wenn auch in diesem Punkt mangelhafte – Neuverzeichnung darauf aufmerksam gemacht, dass zwischen den Freienseenern und den Grafen zu Solms-Laubach über zweieinhalb Jahrhunderte hin über 45 Prozesse um solche Probleme geführt wurden. Das wäre mir jedenfalls im alten Verzeichnungszustand entgangen. 4. Register Jeder, der selbst einmal ein Register hat anfertigen müssen, weiß, wie mühselig, entbehrungsreich ja stupide diese Tätigkeit ist. Und doch sind gerade solche Werke wie Akteninventare ohne Register nur eingeschränkt sinnvoll zu benutzen. Das hat man gemerkt, als Düsseldorf sich entschloß, bei seinem neunbändigen Inventar auf Register für die Teilbände zugunsten eines Gesamtregisters zu verzichten. Seit dem 1988 zuerst erschienen Band steht das Register noch heute aus, womit dieser reiche Bestand über zwei Jahrzehnte hin nur sehr begrenzt benutzbar geblieben ist. Diese Benutzungsminderung tritt dann besonders deutlich hervor, wenn man die abweichenden Entscheidungen von Stuttgart und München dagegenhält. Da konnte man vom ersten Band an jeweils den Inhalt nach besonders sorgfältig gearbeiteten Indices erschließen. Ich habe davon reichlich Gebrauch machen und somit deren Vorteile genießen können. Zusätzlich zu diesem Problem ist allerdings auch auf höchst unterschiedliche Zuverlässigkeit der Registerarbeit bei den einzelnen Inventaren hinzuweisen. Diese Erkenntnis verdanke ich einem Richter, der nach seiner Pensionierung landesgeschichtlich mit den Prozeßakten des Reichskammergerichts arbeiten wollte. Zu diesem Zweck sah er systematisch einige neue norddeutsche Inventare durch. Selbstverständlich suchte er den Zugang zu seiner Problematik über die Indices und mußte dabei feststellen, dass diese in mehrfacher Hinsicht mängelbehaftet waren. Dabei will ich Zahlendreher bei Jahreszahlen oder der Angabe von Inventarnummern noch als verzeihlich ansehen. Dagegen ist es schon ärgerlicher, wenn nicht alle Namensnennungen aufgeführt werden oder gar einzelne Namensstemmata ganz fehlen.

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Herr Dr. Steffen hat die Ergebnisse seiner Bemühungen den jeweiligen Archiven zugeschickt, ohne daß in jedem Fall Äußerungen der Dankbarkeit zurückkamen; vielleicht aus Scham über das eigene Versagen? Diese nur für Norddeutschland erarbeiteten Leporellolisten sind deutliche Warnzeichen gegenüber dem – nach meiner Erinnerung in Frankfurt gehegten – Optimismus, man brauche am Ende der Verzeichnungsaktion nur die Indices aller Teilbestände zusammenzuwerfen, um zuverlässige Gesamtregister zu bekommen. Welche Probleme Düsseldorf daran hindern, nach den Dateien der Einzelbände, die angeblich schon bei der Bearbeitung für die Registerbereitung gekennzeichnet worden sein sollen, das ausstehende Gesamtregister schnell herzustellen, weiß ich nicht. Doch vermute ich, dass nicht zuletzt technische Probleme eine Rolle spielen. Diese Probleme potenzieren sich bei der Herstellung eines Gesamtregisters. Die Archivverwaltungen der Länder haben keineswegs einheitlich dasselbe EDV-System benutzt, wodurch die für das bloße Zusammenwerfen der Dateien notwendige Kompatibilität nicht gewährleistet ist. Zu meinem größten Bedauern wurde meine Skepsis gegenüber allzu unbeschwertem Optimismus in dieser Hinsicht schon mehrfach bestätigt. Angesichts der langen Laufzeit des Projektes könnte es sogar sein, dass ältere Dateien heute schon nicht einmal mehr innerhalb desselben Systems benutzt werden können. Vorläufig sehe ich für die Herstellung von Gesamtregistern aller Neuverzeichnungsinventare, durch die die einzelnen Teilbestände erst wirklich virtuell zusammengeführt würden, noch erhebliche Schwierigkeiten. Aber mir fehlt mit Sicherheit die technische Phantasie, um mir ausmalen zu können, ob es nicht doch Möglichkeiten gibt, das Problem eines Gesamtregisters technisch zu bewältigen. Vielleicht erübrigen sich solche Überlegungen aber auch, wenn die Bochumer Datenbank einmal alle Neuverzeichnungen erfaßt haben sollte.

IV. Doch damit bin ich vom Rückblick zur Vorschau übergegangen und habe damit meine heutige Aufgabenstellung überschritten. Deshalb will ich an dieser Stelle abbrechen, jedoch nicht ohne noch einmal meiner Freude über das Erreichte auszudrücken. Ich möchte nicht versäumen, den Verantwortlichen der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu danken dafür, dass sie mit viel Geduld über so lange Zeit hin großes Verständnis für die Notwendigkeit aufgebracht haben, so viel Geld in dieses Projekt zu stecken. Ebenso

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bin ich den jeweiligen Archiven und Archivaren dankbar, dass sie sich der undankbaren Aufgabe unterzogen haben, die für einen normalen Archivar schwer zugänglichen Prozeßakten erschließen zu lassen. Dafür mußten die Damen und Herren lange und umständliche Anträge formulieren und regelmäßig der DFG Berichte erstatten. All dies ist lästige Zusatzarbeit zum Normalbetrieb. Doch ich meine, dass das Ergebnis die Mühen und Aufwendungen rechtfertigt, selbst wenn man nur den Gewinn für die landesgeschichtliche Forschung im jeweiligen Haus bedächte. Jedenfalls erweckt das bunte Programm dieser Tagung den Anschein, dass die Wissenschaft die ihr mit diesem Quellenbestand gebotenen Chancen zu nutzen versteht. Glückauf für die Tagung und die weitere Arbeit!

RAIMUND J. WEBER

Praktische Erfahrungen aus der Inventarisierung von Reichskammergerichtsakten am Beispiel südwestdeutscher Staatsarchive

I. Bei der Verzeichnung von Kameralakten und der Redaktion von Inventarbänden im Rahmen des DFG-Projekts sahen sich die Bearbeiter in den einzelnen Bundesländern nicht selten vor praktische Probleme gestellt, mit denen aufgrund der theoretischen Vorgaben in dieser Form nicht immer gerechnet werden konnte. Es galt dann, die knapp gefaßten Verzeichnungsrichtlinien der DFG1 im Zuge der täglichen Ordnungs-, Verzeichnungs- und Registerarbeiten umzusetzen, mit Leben zu erfüllen und gegebenenfalls sachgerecht zu ergänzen. Auch wenn dabei das Ziel einer bundeseinheitlichen Verzeichnung nicht aus den Augen gelassen werden durfte, erwies es doch immer wieder als unvermeidlich, regionalen und archivgeschichtlich bedingten Besonderheiten Rechnung zu tragen. Das südwestdeutsche Verzeichnungsgebiet war durch eine Anzahl unterschiedlich großer und jeweils eigens strukturierter Bestände geprägt, an deren Beispiel sich allgemeine, auch andernorts auftretende Probleme ebenso behandeln lassen wie atypische, nur hier vorkommende Sonderfragen. In Baden-Württemberg und der ehemals bayerischen, heute zu Rheinland-Pfalz gehörenden linksrheinischen Pfalz befinden sich neben drei Großbeständen ein kleiner und ein Kleinstbestand. In Stuttgart,2 Karlsruhe3 und Speyer4 werden zusammen insgesamt 1

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Die sog. „Frankfurter Grundsätze“ von 1978 sind verschiedentlich abgedruckt, u. a. als Anlage zu MARTIN EWALD, Inventarisierung von norddeutschen Beständen des Reichskammergerichts, in: Der Archivar 33 (1980), Sp. 482; vgl. auch Anlage 3 in diesem Bd. Knapp 5.600 Akten, vgl. ALEXANDER BRUNOTTE / RAIMUND J. WEBER (Bearb.), Akten des Reichskammergerichts im HStA Stuttgart, 8 Bde.(Veröffentlichungen der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, hg. von der Landesarchivdirektion, seit Bd. 6 vom Landesarchiv Baden-Württemberg, Bd. 46/1–8), Stuttgart 1993–2008. Das auf fünf Bde. angelegte Karlsruher Inventar verzeichnet annähernd 3.900 Akten, darunter gut 20 % kassierte bzw. fehlende. Es befindet sich teilweise im Stadium der Druckvorbereitung, teilweise in der Redaktion.

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etwa 11.800 Akten mit einem Umfang von rund 450 laufenden Metern verwahrt; dazu kommen 330 Akten in Sigmaringen und 20 im Staatsarchiv Wertheim am Main.5 Bei diesem zuletzt genannten Splitterfond handelt es sich insofern um ein archivgeschichtliches Kuriosum, als er ein Beispiel dafür bietet, daß die heutige Verteilung der Kammergerichtsakten nicht überall mehr dem bekannten Wetzlarer Aufteilungsschema der Zuweisung an Bundesstaaten nach Beklagtenwohnsitz bzw. Vorinstanz folgt. Wertheim war zur Zeit des Deutschen Bundes lediglich Sitz eines standesherrlichen Hauses und damit zunächst nicht von der Wetzlarer Aktenausteilung begünstigt. Das Haus Löwenstein machte aber von der Möglichkeit Gebrauch, aus dem hessischen Staatsarchiv Darmstadt Wetzlarer Akten abzufordern. Sie betreffen mit einer Ausnahme durchweg nicht das heutige Bundesland BadenWürttemberg, sondern, wie dies aufgrund der Archivgeschichte auch nicht anders zu erwarten ist, das heutige Bundesland Hessen, teilweise auch Rheinland-Pfalz.6 Auch sonst besteht im Südwesten bezüglich der Austeilung in regionaler Hinsicht eine Deckungsgleichheit mit dem ehemaligen Bundesstaat bzw. heutigen Archivsprengel allenfalls prinzipiell. Sie erleidet in der Praxis mehr oder weniger große Ausnahmen, so daß dem Forscher bzw. Archivbenutzer zu raten ist, „vorsichtshalber“ auch die Inventare der Nachbarländer einzusehen. Am ehesten kann noch für Stuttgart und Sigmaringen davon ausgegangen werden, daß dort lagernde Akten württembergische bzw. zollerische Betreffe und Parteien enthalten. Dies gilt jedoch schon für Stuttgart mit einigen Ausnahmen. Dort lagern partiell Appellationsakten mit Rottweiler Vorinstanz von Parteien, die außerhalb des Königreichs Württemberg saßen.7 Weitere Ausnahmen sind territorial- oder verfassungsgeschichtlich bedingt. Daß in Stuttgart etwa 40 Akten der im französischen Departement Doubs gelegenen Grafschaft Montbéliard (ehemals Mömpelgard) zu finden

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Die 2006 abgeschlossene Verzeichnung der rund 2.400 Akten soll in drei Textbänden und einem Registerband publiziert werden. Die Redaktion ist im Gang. RAIMUND J. WEBER (Bearb.), Akten des Reichskammergerichts im Staatsarchiv Sigmaringen. Inventar des Bestands R 7. Anhang Akten des Reichskammergerichts im Staatsarchiv Wertheim. Inventar des Bestands R J 10 (Veröff. der staatlichen Archivverwaltung BadenWürttemberg, hg. von der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg 57), Stuttgart 2004. Daß diese Akten in ein standesherrliches, erst viel später staatlich gewordenes Archiv gelangten, hat sie mit großer Wahrscheinlichkeit vor der Kassation bewahrt, WEBER (Anm. 5), S. 483. Vgl. Einleitung zu BRUNOTTE / WEBER, Akten im HStA Stuttgart (Anm. 2), Bd. 1, Stuttgart 1993, S. 32.

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sind, beruht auf deren früherer Zugehörigkeit zum Herzogtum Württemberg. Andere Akten fanden ihren Weg dorthin als Vorakten von Entschädigungsprozessen nach dem Reichsdeputationshauptschluß.8 In noch stärkerem Maß läßt sich die Diskrepanz heutiger Lagerorte von den Wetzlarer Austeilungsmaßstäben in Karlsruhe und Speyer verfolgen. Die Akten streuen hier über das eigentliche Verzeichnungsgebiet hinaus und überlappen sich gegenseitig. Da die Kurpfalz und das Bistum Speyer Besitzungen linkswie rechtsrheinisch hatten, muß man in Speyer damit rechnen, auf Appellationsprozesse rechtsrheinischer Parteien zu stoßen, wie umgekehrt über das Hofgericht Heidelberg linksrheinische Betreffe nach Karlsruhe gelangten. Die Territorialgeschichte vor 1800 macht sich auch bemerkbar, wenn vereinzelt Akten aus der ehem. Grafschaft Sponheim von der Mosel, dem Hunsrück oder dem Nahegebiet nach Baden gelangten. Daß in Speyer Akten aus ehemals bayerischen Kreisen liegen, die zum heutigen Saarland gehören, war schon aufgrund der Wetzlarer Austeilungsprinzipien zu vermuten. Doch überrascht es, wenn der Speyerer Bestand bis weit nach Rheinhessen hinein und darüber hinaus streut.9 Für alle genannten großen Staatsarchive einschließlich München gilt darüber hinaus, daß dort Kameralakten mit Bezug auf das Elsaß und angrenzende, heute französische Gebiete zu finden sind. Sie ergänzen damit die im untrennbaren Bestand in Koblenz und in den französischen Archiven lagernde Überlieferung.

II. Eine Beständebereinigung war bei Beginn des Projekts nicht vorgesehen, vielmehr sollte es im Interesse eines zügigen Ablaufs der Verzeichnung bei den Lagerorten sein Verbleiben haben, die durch die Austeilung im 19. Jahrhundert entstanden waren. Von diesem Grundsatz mußte am Oberrhein aus archivgeschichtlichen und praktischen Gründen in erheblichem 8

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Vgl. Einleitung zu BRUNOTTE / WEBER, Akten im HStA Stuttgart (Anm. 2), Bd. 8 (Nachträge), Stuttgart 2008, S. 7. – Auf diese Weise gelangte etwa ein Prozeß über die Lehensnachfolge in die belgische Herrschaft Reinhardstein nach Stuttgart. Darunter befindet sich etwa auch die mit fast fünf Metern Stapelhöhe umfangreichste Akte im süddeutschen Raum. Sie erwuchs im Prozeß um die Vormundschaft über Philipp Heinrich von Steinkallenfels zu Merxheim und Sobernheim, der von den Wetzlarer Kameralärzten für zurechnungsfähig erklärt wurde, weil er beim Mittagessen Horaz zitieren konnte; vgl. Landesarchiv Speyer E 6, vorl. Nr. 2.630 (BayHStA München RKG 12.155, Wetzlarer Signatur S 5.286).

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Umfang abgewichen werden. Ganz wesentlich war für den südwestdeutschen Raum die Entscheidung, die Akten der ehemals bayerischen Rheinpfalz aus dem Münchener Bestand herauszulösen und als Depositum an das rheinland-pfälzische Landesarchiv Speyer zu überführen. Damit wurden die archivgeschichtlichen Konsequenzen aus der staatsrechtlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg gezogen und die Voraussetzungen für die Erstellung eines eigenen Speyerer RKG-Inventars geschaffen. Dies war eines der beiden Ereignisse, das die „Tektonik“ der süddeutschen Kameralakten im Zuge des DFG-Projekts wesentlich verändert hat. Das andere, das jenem an Bedeutung nicht nachsteht, war die weitere Rekonstruktion des badischen Bestandes im Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA). Zum Verständnis dafür ist es erforderlich, sich die Archivgeschichte der badischen Kameralakten in Erinnerung zu rufen. Sie zeigt, daß die Austeilung der Wetzlarer Akten in der Zeit des Deutschen Bundes nicht lediglich eine Segmentierung und Verlagerung des bis dahin einheitlichen Bestandes zur Folge hatte. Diese Akten teilten vielmehr vom Zeitpunkt des Abtransports aus Wetzlar das Schicksal der partikularen Archivalien. Inhaltlich und der Provenienz nach blieben sie Reichsakten, in ihrer realen archivischen Existenz wurden sie zu Länderakten.10 Das hatte mitunter einschneidende Folgen. Während sich noch die Archivkommission des Deutschen Bundes die Frage gestellt hatte, ob für eine Kassation von Reichskammergerichtsakten überhaupt eine Rechtsgrundlage vorhanden sei, kannten die einzelstaatlichen Verwaltungen solche Skrupel nicht. Zwar kam es im Südwesten nicht zu derart derart drastischen Maßnahmen wie im unmittelbar benachbarten Hessen-Darmstadt, wo fast 90 % der Akten vernichtet wurden,11 dennoch wurden auch hier Kameralakten kassiert. Gänzlich unbeeinträchtigt blieben die Bestände in Stuttgart und Sigmaringen, während in Karlsruhe etwa 20 % kassiert wurden. Betroffen von den Kassationen waren hauptsächlich privatrechtliche Streitigkeiten wie Schuld- und Erbsachen sowie Injurienprozesse, die nach heutigen Rechtsvorstellungen einen gemischt zivil- und strafrechtlichen Charakter besaßen.

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Das folgende nach dem Altrepertorium GLA 71 (Spezialrepertorium für das Großherzogtum Baden) und den Kanzleiakten GLA 450/418 Archiv-Sache, Austausch von Archivalien, Reichskammergericht (1824–1969). Reichskammergerichtsakten im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt und im Gräflich Solmsischen Archiv in Laubach (Repertorien des Hessischen StA Darmstadt 31), bearb. von ANDREA KORTE-BÖGER / CORNELIA RÖSNER-HAUSMANN unter Mitwirkung von FRIEDRICH BATTENBERG / JOST HAUSMANN, Darmstadt 1990, S. IX.

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Die Faustregel war hier, daß an allem was die Frage des „Mein und Dein“ betraf, kein Interesse bestand, während Haus- und Staatsangelegenheiten sowie kommunale Streitigkeiten für archivwürdig angesehen wurden. Es ist aus heutiger Sicht offenkundig, daß damit eine verhängnisvolle Fehlentscheidung getroffen wurde. Wir wissen heute um die große kulturgeschichtliche Bedeutung gerade der Injuriensachen,12 während die Erbstreitigkeiten vor dem Reichskammergericht für die Genealogie von größter Bedeutung sind.13 Es war denn auch kein Zufall, daß die erste Anfrage, die das Generallandesarchiv in Bezug auf die Kameralakten erreichte, familiengeschichtlicher Art war und aufgrund der erfolgten Kassation negativ beschieden werden mußte. Im übrigen muß hier angemerkt werden, daß es nicht das Verdienst des höheren Weitblicks der württembergischen Archivare war, wenn in Stuttgart nicht ebenfalls eine Bestandsminderung erfolgte. Hier hatte sogar eine noch stärkere Kassation gedroht, weil der aus dem württembergischen Archivdienst stammende Bundeskommissar von Seckendorff nach Abschluß der Wetzlarer Ausscheidungsarbeiten vorgeschlagen hatte, zwei Drittel der Akten zu vernichten. Dazu kam es nur deshalb nicht, weil die Stuttgarter Akten zunächst nicht von der Archivverwaltung übernommen, sondern bei der Justiz verwahrt worden waren.14 In Karlsruhe hingegen war auf Betreiben Franz Joseph Mones15 das Wetzlarer Archivgut abweichend von der bundesrechtlichen Bestimmung, die Akten an die oberste Justizstelle auszufolgen, unmittelbar an das Archiv gelangt. Die Karlsruher Kammergerichtsakten traf, etwa zwanzig Jahre nach der Ausfolgung, noch ein weiteres Ungemach. Sie wurden zur Zeit des deutschfranzösischen Krieges 1870/71 in damals wohl schon anachronistischer

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Dazu ALEXANDER BRUNOTTE / HEINRICH ZEHENDER, Ratsherr zu Offenburg, und die Türkenschlacht vor Wien 1532. Ein Beitrag zum Quellenwert reichskammergerichtlicher Injurienprozesse für die Regionalgeschichte, in: Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, hg. von ANETTE BAUMANN / SIEGRID WESTPHAL / STEPHAN WENDEHORST / STEFAN EHRENPREIS (QFHG 37), Köln Weimar Wien 2001, S. 183–193. RAIMUND J. WEBER, Reichskammergerichtsakten als genealogische Quellen. Ein quellenkundlicher Beitrag aus pfälzischen Akten unter besonderer Berücksichtigung des Speyerer Kameralpersonals, in: Genealogische Quellen jenseits der Kirchenbücher. 56. Deutscher Genealogentag in Leonberg 17.–20. September 2004, hg. von VOLKER TRUGENBERGER im Auftrag des Vereins für Familien- und Wappenkunde in Württemberg und Baden e.V., Stuttgart 2005, S. 155–188. Vgl. Einleitung zu BRUNOTTE / WEBER, Stuttgarter Akten (Anm. 2), Bd. 1, S. 44 f. 1796–1871, seit 1835 Vorstand des GLA; vgl. WOLFGANG LEESCH, Die deutschen Archivare 1500–1945,Bd. 2: Biographisches Lexikon, München u. a. 1992, S. 413.

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Weise noch nach der auf den badischen Geheimrat und Archivkommissar Johann Nikolaus Friedrich Brauer zurückgehenden Archivordnung von 1801 unter Gesichtspunkten der Pertinenz und Archivaliengattung in die bestehenden Fonds eingereiht.16 Durchgeführt wurde diese Maßnahme von einem Registrator namens Vetter17 auf Ermächtigung durch den damaligen Archivleiter Karl Heinrich Roth von Schreckenstein,18 in der Verfassungsgeschichte heute noch bekannt als Autor eines Werks über die Reichsritterschaft. Es berührt eigenartig, daß die schlimmsten Schäden, die in der südwestdeutschen reichsgerichtlichen Überlieferung, die weitestgehende Vernichtung der Rottweiler Hofgerichtsakten in Stuttgart sowie die Auflösung und teilweise Kassation der Karlsruher Kammergerichtsakten, von Angehörigen ehemals reichsritterschaftlicher Familien zu verantworten sind, die in ihren Reihen hochgestellte Angehörige des Kameralpersonals vorweisen können. An wenigen Beispielen sei erläutert, was die Anwendung der Brauerschen Grundsätze für die Kameralakten bedeutete. Ein erstes Aufteilungskriterium war geographischer Art. Dabei wurden die Akten in die Überlieferung der Territorien des Alten Reichs oder einzelner Orte eingereiht. Eine Remissionsstreitigkeit der Markgrafen mit dem Hofgericht Rottweil konnte danach entweder in die Abteilungen Baden-Durlach oder Spezialakten einzelner Orte (Abteilung 228) gelangen. Diese Territorial- oder Ortsakten sind ihrerseits nach Sachrubriken geordnet, so daß die Akte unter Baden-Durlach oder Tiefenbronn, Gerichtsbarkeit oder Landeshoheit, eingereiht sein kann. Streitigkeiten, an denen Adelsfamilien beteiligt waren, gelangten vielfach unter dem Namen der betreffenden Familie in die Abteilung „Lehens- und

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Zu Brauer und seinem Rubrikenschema vgl. HERWIG JOHN, Die Reform des badischen Archivwesens zwischen 1771 und 1803 oder landesherrlich sancirte Normen gegen die wandelbare Willkühr jedes Archiv-Beamten, in: Umbruch und Aufbruch. Das Archivwesen nach 1800 in Süddeutschland und im Rheinland. Tagung zum 200jährigen Bestehen des GLA Karlsruhe am 18./19. September 2003 in Karlsruhe, hg. von VOLKER RÖDEL (Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, hg. vom Landesarchiv Baden-Württemberg, Serie A, Heft 20), Stuttgart 2005, S. 306 ff. Der auch als historischer Autor hervorgetretene JOHANNES VETTER, geb. 1831 in Schopfheim im Wiesental (bei Lörrach), kam nach einer Schreiberlaufbahn 1869 als Registrator an das GLA. Er wurde in der Folge mit der Auflösung des Archivdepots Durlach betraut, in dem sich bis anhin auch die nach Baden ausgefolgten RKG-Akten befunden hatten. Bei dieser Tätigkeit zog er sich eine Erkrankung zu, an deren Folgen er im April 1874 starb; vgl. Personalakte GLA 233/23832–23833 (Freundlicher Hinweis von Frau Gabriele Wüst, GLA). 1823–1894, seit 1868 Vorstand des GLA; vgl. LEESCH, Archivare (Anm. 15), S. 502 f.

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Adelsarchiv“ (Abteilung 72). Darüber hinaus wurden „Familiensachen“ des markgräflichen Hauses gesondert behandelt und Akten nach Archivaliengattungen getrennt. Da die Aktivprozesse der badischen Fürstentümer nach dem Kanzleistil der Zeit unter Namen und Titel der Markgrafen geführt worden waren, wurden zahlreiche Akten als „Familiensachen“ angesehen und in den heutigen Abteilungen 46 und 47 (Personalie, Haus- und Hofsachen) abgelegt.19 Remissions-, d.h. Jurisdiktionalstreitigkeiten finden sich auf diese Weise im Hausarchiv als „Personalie“. Auch zahlreiche Schuldklagen gegen den badischen Staat gelangten so dorthin unter dem Namen des beklagten Markgrafen und der Sachrubrik „Schulden“. Natürlich muß bei einem derart komplizierten System mit Mißgriffen gerechnet werden. So hat etwa der Registrator eine Remissionsstreitigkeit nur deshalb unter den Sachbegriff „Minorennität“ subsumiert, weil der Markgraf zur Zeit der Klageerhebung unter Vormundschaft stand.20 Da die Archivalien der Territorien überdies nach Urkunden und Akten getrennt wurden, muß man auch damit rechnen, daß Bestandteile von Kammergerichtsakten in Urkundenfonds auftauchen.21 Es liegt auf der Hand, daß eine Verzeichnung der Karlsruher Akten nur nach vorheriger Rekonstruktion des Bestands möglich war. Die Vorarbeiten dafür liegen weiter zurück. Einige Jahre nach der pertinenzmäßigen Verteilung der Kameralakten hielt auch am Generallandesarchiv das Provenienzprinzip seinen Einzug. Um das Jahr 1900 ordnete der aus München stammende Direktor Friedrich von Weech22 an, daß im Archiv aufgefundene Kammergerichtsakten in den Bestand zurückzuführen seien. Vor Beginn des DFG-Projekts wurden baden-württembergische Archivreferendare damit betraut, anhand der einschlägigen Vermerke des bis zur Neuverzeichnung als Repertorium verwendeten Übergabeverzeichnisses die verteilten Akten zu ermitteln und zurückzuführen. Die Rekonstruktion der Abteilung reichte

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Vgl. etwa die Akte Sponheim / Kurtrier wegen Appellation vom Gericht Strimmig bei Cochem (GLA 71/88). Während die Sache von der RKG-Registratur unter Sponheim rubriziert worden war, kam sie im GLA wegen der Beteiligung des Markgrafen Philibert (als Graf von Sponheim) unter dessen Regierungzeit und der Rubrik „Prozeßsache“ ins Hausarchiv, Abt. 46. GLA 71/98. Dort konnte etwa ein halbes Dutzend Appellationsinstrumente ermittelt werden, das ebenfalls aus Rottweiler Remissionsstreitigkeiten stammt. Da der Rest der Akten bisher nicht auffindbar und möglicherweise kassiert worden ist, stellen diese Urkunden neben dem Eintrag im Übergabeverzeichnis den einzigen noch erhaltenen Teil der Akten dar. 1837–1905, seit 1885 Direktor des GLA, vgl. LEESCH, Archivare (Anm. 15), S. 654.

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jedoch noch in die Projekt- und Redaktionsphase hinein.23 Ungeachtet dieser Bemühungen fehlen heute noch etwa fünf Prozent von Akten, die nachweislich in das Generallandesarchiv gelangt, dort aber bislang nicht ermittelt werden konnten. Mit einer gewissen Restquote an Abgängen, die auf die zeitweilige, pertinenzbedingte Aufteilung zurückzuführen ist, wird man leben können und müssen, weil die zeitraubende Suche nach diesen heute noch fehlenden Akten von dem ohnehin stark belasteten Karlsruher Stammpersonal nicht zu leisten ist und die jeweils nur für begrenzte Zeit eingesetzten Projektmitarbeiter aufgrund der ihnen vorgeschriebenen Verzeichnungs- und Redaktionsarbeiten nur in sehr eingeschränktem Umfang entsprechende Recherchen tätigen konnten. Insgesamt kann gleichwohl festgestellt werden, daß das DFG-Projekt der Rekonstruktion der Karlsruher Reichskammergerichtsakten einen nachhaltigen Impuls geben und die unter Friedrich von Weech angestoßenen Aktivitäten einigermaßen abschließen konnte. Weniger spektakulär als die Umlagerung der pfälzischen Akten und die Rekonstruktion des Karlsruher Bestands war die äußere und innere Bestandsbereinigung während des Projekts. Die Frankfurter Richtlinien sagen darüber nichts aus. Es heißt dort nur, die Bearbeiter hätten die innere Aktenordnung zu überprüfen. Bald nach Beginn der Verzeichnung hatte sich jedoch herausgestellt, daß die innere Bestandsordnung in einem ungleich schlechteren Zustand war, als dies vor dem Projekt angenommen worden war. Eine Ausnahme bildete hier Speyer, das vom Münchener Vorprojekt profitieren konnte, doch kam es auch hier zu vereinzelten Korrekturen. Die Beständebereinigung durch wechselseitigen Abgabeverkehr war zwischen Baden-Württemberg und Bayern relativ rege. Stuttgart erhielt aus München während bzw. nach der DFG-Verzeichnung unter anderem mehrere laufende Meter Akten betr. die Grafschaft Limpurg24 und die im Donaugebiet

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Noch am Schluß der Verzeichnung konnten durch den Bearbeiter ALEXANDER BRUNOTTE in älteren Kanzleiakten Listen entdeckt werden, in denen Akten nachgewiesen waren, die vor und nach der Generalausteilung in das Archiv gelangt waren. Ein beträchtlicher Teil dieser Akten, die im Hausarchiv ermittelt werden konnten, wird im Anhang zu Bd. 5 der Karlsruher Akten publiziert werden. Zur eigentumsrechtlichen Problematik der im Hausarchiv verwahrten Archivalien vgl. ADOLF LAUFS / ERNST GOTTFRIED MAHRENHOLZ / DIETER MERTENS / VOLKER RÖDEL / JAN SCHRÖDER / DIETMAR WILLOWEIT, Das Eigentum an Kulturgütern aus badischem Hofbesitz (Veröff. der Komm. für geschichtliche LK in Baden-Württemberg Reihe B, Fg. 172. Bd.), Stuttgart 2008. BRUNOTTE / WEBER, HStA Stuttgart (Anm. 2), Bd. 8 (Nachträge), S. 105 ff., 120 ff. (Titel Nr. 5.269–5.273, 5.282/5.283).

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begüterten Herren von Freyberg.25 Ziel dieser Bereinigung war dabei selbstverständlich nicht eine umfassende Korrektur der Wetzlarer Generalausteilung, die im Rahmen des Projekts auch nicht hätte geleistet werden können. Nach wie vor bestehen Überschneidungen in Grenzgebieten und bei überregional tätigen Vorinstanzen wie den im Südwesten häufigen kaiserlichen Hof- und Landgerichten. Dagegen wurde der Grundsatz praktiziert, solche Fehlzuweisungen zu korrigieren, die den Bediensteten der Wetzlarer Bundeskommission aufgrund unzulänglicher Identifizierung, d.h. irrtümlich unterlaufen und bislang nicht entdeckt worden waren. Diese sog. „Irrläufer“ wurden abgegeben. Ein Beispiel dafür sind die „Essinger Akten“. Es gibt ein Essingen in Ostwürttemberg, zwischen Schwäbisch Gmünd und Aalen gelegen, und ein gleichnamiges Weindorf in der Vorderpfalz bei Landau. Beide Orte waren ritterschaftlich und deshalb in den Kammergerichtsakten mit mehreren Prozessen vertreten. Da die Pfälzer Akten während des Stuttgarter Projekts noch in München lagerten, gaben die Bearbeiter die von Wetzlar irrtümlich nach Stuttgart ausgefolgten Akten betreffend Essingen bei Landau in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts an das Bayerische Hauptstaatsarchiv ab. Ein Stuttgarter Bearbeiter, der zwischen 2003 und 2006 in Speyer tätig war, fand diese von ihm selbst wenige Jahre vorher nach München abgegebenen Akten dort wieder vor und konnte sie dann doch noch bearbeiten. Als er im Herbst 2006 an das Hauptstaatsarchiv Stuttgart zurückkehrte, stieß er unter zwischenzeitlich eingegangenen Münchner Abgaben wieder auf Akten betr. Essingen/Württemberg, die nun auch verzeichnet sind und im Stuttgarter Nachtragsband publiziert werden konnten.26 Mit der Abgabefrage überschnitt sich das Problem der Aktenfragmente. Wer Kammergerichtsakten im Zuge der Neuverzeichnung sichtete, konnte die Erfahrung machen, daß sich dort gelegentlich Schriftstücke fanden, die nicht zu diesen sondern anderen Prozeßakten gehörten. Sofern sich die einschlägige Prozeßakte im Bestand ermitteln ließ, wurde umgelegt. Gehörte das Stück zu einer Prozeßakte, die in einem anderen Archiv lagerte, gab man es ab. Ließen sich die Fragmente andernorts nicht einfügen, wurde grundsätzlich eine Inventarnummer bzw. Signatur vergeben. Da diese Prozesse im Übergabeverzeichnis bzw. Altrepertorium nicht nachgewiesen waren, erhöhte sich damit die Zahl der überlieferten Kammergerichtsprozesse aufgrund der

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BRUNOTTE / WEBER, HStA Stuttgart (Anm. 2), Bd. 8 (Nachträge), S. 235 ff. (Titel Nr. 5.525–5.549). BRUNOTTE / WEBER, HStA Stuttgart (Anm. 2), Bd. 8 (Nachträge), S. 263 f. (Titel Nr. 5.563/5.564).

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Neuverzeichnung. Für Stuttgart kommt man so auf fast 100 zusätzliche Nummern.27 Diese aus der Sichtung der Akten gewonnene „Neuverzeichnungsdividende“ ist zu unterscheiden von jenen fragmentarischen Prozeßakten, die bereits in Wetzlar in den sog. Produktenschränken gelagert wurden und im 19. Jahrhundert in Form von Konvoluten, jedoch ohne Einzelverzeichnung oder -signierung, an die einzelnen Archive gelangt waren. Aus diesem Material speist sich vermutlich jene, ebenfalls rund 100 Akten bildende Gruppe von Fragmenten, die nach dem Zweiten Weltkrieg für Stuttgart (bzw. damals noch Ludwigsburg) der spätere Leiter des Staatsarchivs Sigmaringen, Eugen Stemmler, geordnet und signiert hatte.28 Während diese zusätzlichen und meist nur aus Fragmenten bestehenden Kammergerichtsakten in München dank des Vorprojekts in die allgemeine Serie eingereiht werden konnten, mußten sie in Stuttgart in einen sehr stattlich ausgefallenen Nachtragsband verschoben werden. Im übrigen beließ man es in Baden-Württemberg aus praktischen Gründen (bändeweise Bearbeitung) bei der Bestandsordnung, die durch die Wetzlarer Übergabeverzeichnisse (Spezialrepertorien) und das dort verwendete Silbenalphabet vorgegeben war. Für Speyer wird dagegen die alphabetische Ordnung mit Hilfe der EDV modernisiert, wie dies auch in München aufgrund des Vorprojekts der Fall ist. Die von den Richtlinien geforderte Überprüfung der inneren Aktenordnung erforderte in allen baden-württembergischen Archiven einen nicht unerheblichen Aufwand, da die vorausgesetzte Ordnung in der Regel gestört war bzw. erst hergestellt werden mußte. Eine Reichskammergerichtsakte besteht nicht aus einer willkürlichen Anhäufung von Schriftstücken. Deren Ordnung wird vielmehr durch das jeder Akte beigefügte Spezialprotokoll und Registraturvermerke auf den einzelnen Schriftstücken festgelegt, wobei sich Protokoll und Vermerke entsprechen. Bei der Überprüfung bzw. Wiederherstellung der Ordnung verhält sich ein moderner Bearbeiter nicht anders als ein Kammergerichtsregistrator, der eine Akte komplettiert. Dabei werden Eingangsdatierung und Numerierung auf den Schriftstücken mit entsprechenden Protokollangaben abgeglichen. Die Aktenbestandteile werden durch einen Eingangsvermerk identifiziert, der das Datum der Einreichung bei Gericht, eine Kurzbezeichnung des Prozesses und eine Nummer enthält.

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BRUNOTTE / WEBER, HStA Stuttgart (Anm. 2), Bd. 8 (Nachträge), S. 174 ff., 186 ff. (Titel Nr. 5.397–5.410, 5.411–5.484). BRUNOTTE / WEBER, HStA Stuttgart (Anm. 2), Bd. 8 (Nachträge), S. 129 ff. (Titel Nr. 5.295–5.396).

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Die Datierung wird mit einer immer gleichbleibenden lateinischen Formel eingeleitet, die zunächst den Gerichtsort im Lokativ angibt, also „productum Spirae“ oder „productum Wetzlariae“, d.h. eingereicht, vorgelegt in Speyer bzw. Wetzlar. Aufgrund dieses Vermerks wurden im kameralen Sprachgebrauch auch die Schriftstücke selbst als „Produkte“ bezeichnet. Das „productum“ wurde in der Schreibweise regelmäßig verkürzt auf die Buchstaben P und D, die durch einige Schleifen mit dem anschließenden Ort verbunden wurden, wobei das einleitende P kalligraphisch hervorgehoben wurde.29 Der markante Produktvermerk war und ist ein wichtiges Bestimmungsmerkmal für die Provenienz kameraler Schriftstücke, wenngleich er sich in Abschrift auch auf Zweitüberlieferungen finden kann. Zum Datum, das die Audienz der Einreichung bezeichnet, kommt eine Kurzbezeichnung der Prozeßparteien und der Prozeßart, die derjenigen auf dem Deckblatt des Spezialprotokolls entspricht. Wichtig für die Reihenfolge ist eine auf die Rückseite des jeweiligen Schriftstücks gesetzte Ziffer, die mit einem Viereck umgeben wurde und deshalb lateinisch „numerus quadrangulatus“, deutsch „Quadrangelnummer“ oder einfach „Quadrangel“ genannt wird. Kleine Reichskammergerichtsakten bestehen aus wenigen Quadrangeln, bei besonders umfangreichen Prozeßakten kann die Zahl der Nummern bis über 1.000 steigen. Eine Quadrangel wurde ohne Rücksicht auf den Umfang des damit bezeichneten Schriftstücks vergeben, so daß sich hinter ihr ein einzelnes Blatt oder ein mehrseitiger Schriftsatz verbergen kann, aber auch ein Voraktenband oder Beweisrotulus mit hunderten von Seiten bzw. Blättern. Mithilfe dieser Nummern konnten die Projektbearbeiter die Ordnung der Akte herstellen, indem sie die einzelnen Schriftstücke in der Reihenfolge der Quadrangel sortierten und ablegten. Das hört sich einfacher an, als es in der Praxis oft ist, weil die Quadrangelordnung bei umfangreichen Vorakten und Beilagenreihen durch zusätzliche Untergliederungen mit Alphabeten und (einfachen) Numerierungen ergänzt wurde, die in extremen Fällen bis Fünffach-A oder Sechsfach-X reichen können. Immer wieder fanden sich in den Akten auch Schriftstücke, auf denen die Quadrangelnummer fehlte. Die Bearbeiter verglichen dann das Datum des Produktvermerks mit dem entsprechenden Protokolleintrag. War dort eine Nummer vorgesehen, wurde sie bei der Neuverzeichnung auf dem Schriftstück nachgetragen und die 29

Abbildungen von Produktvermerken etwa in Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806 (Ausstellungskatalog), hg. von INGRID SCHEURMANN, Mainz 1994, S. 126 (Exponate 66/67), 134 (Exponat 77), 300 (Exponat 207), 318 (Exponat 239).

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noch fehlende Quadrangulierung im Protokoll ergänzt. Diese Praxis des „Nachquadrangulierens“ war nötig, weil sich nur so die Vollständigkeit der Akte feststellen ließ. Sie kann in Baden-Württemberg anhand der Titelaufnahmen überprüft werden, weil nicht nur der aufgrund des Protokolls zu erwartende Sollbestand quadrangulierter Schriftstücke, sondern auch das Fehlen von Nummern nachgewiesen wurde. Die Quadrangelnummer hat aber in der Neuverzeichnung noch eine andere Funktion erhalten. Es hat sich, ohne daß dies in den Richtlinien vorgeschrieben gewesen wäre, in der Praxis durchgesetzt, innerhalb der Darin-Vermerke die Nummer des jeweiligen Beweisstücks anzugeben. Der Sinn dieses Verfahrens liegt auf der Hand. Dem Benutzer wird damit das Auffinden des jeweiligen Stücks vor allem in umfangreichen Akten wesentlich erleichtert. Niemand ist zuzumuten, einen Stapel von einem oder zwei Aktenmetern auf der Suche nach einem interessierenden Archivalie durchzusehen. Darüber hinaus verbessert die Identifizierung der jeweiligen Stücke durch die Quadrangelnummer in Verbindung mit der Archivsignatur auch die wissenschaftlich korrekte Zitierweise. Nicht einheitlich verfuhr die Praxis in der Frage der Positionierung der Quadrangelangaben im Darin-Vermerk. Die meisten Inventare setzten sie an den Schluß, während die in Baden-Württemberg gewählte Form der Voranstellung den Vorteil bot, daß am Ende des Vermerks Platz für die zusätzliche Angabe von Blatt- oder Seitenzahlen bzw. andere Untergliederungen blieb. So wurden genauere Nachweise ermöglicht, die immer dann nützlich waren, wenn die Quadrangel einen mehr oder weniger umfangreichen Voraktenband oder Rotulus bezeichnete. Ein unangemessener zusätzlicher Zeitaufwand während der Verzeichnung entstand dadurch nicht, weil die einschlägigen Stellen zur Fertigung des Darin-Vermerks ohnehin aufgeschlagen werden mußten. Dank dieser projektbedingten Bereinigungen und Ordnungsarbeiten präsentieren sich die Bestände und Akten heute in einem optimalen benutzerfreundlichen Zustand.30

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Dieser Aspekt erscheint umso wichtiger als die Benutzungsfrequenz der RKG-Akten infolge der Neuverzeichnung erfahrungsgemäß deutlich ansteigt, vgl. für das Haupstaatsarchiv Stuttgart, REGINA KEYLER, Der Zusammenhang zwischen Erschließung und Benutzung. Eine Untersuchung an Beständen des Hauptstaatsajrchivs Stuttgart, in: NILS BRÜBACH (Hg.), Archivierung und Zugang. Tranferarbeiten des 34. wissenschaftlichen Kurses der Archivschule Marburg (Veröff. der Archivschule Marburg. Inst. für Archivwissenschaft Nr. 36), Marburg 2002, S. 89.

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III. Bei den folgenden Bemerkungen zum Verzeichnungsschema kann es, im jetzigen Stadium des Projekts, nicht mehr darum gehen, einen nachträglichen Kommentar zu jedem einzelnen der bekannten acht Gliederungspunkte der Frankfurter Richtlinien zu liefern, die der Verzeichnung der Reichskammergerichtsakten einen fest umrissenen Rahmen geben und die bundesweite Einheitlichkeit der sicherstellen sollten. In den bisherigen Äußerungen zu diesem Thema31 konnte man durchweg vernehmen, daß sich dieses Schema bewährt habe. Dem sei auch an dieser Stelle nicht widersprochen, verbindet es doch die Anforderungen einer juristischen Kanzleiregistratur mit denen moderner Archivinventare. Es identifiziert zunächst in den Zeilen 2 und 3 sowie 5 a die Prozesse nach Parteien und Prozeßart. Diese Art, Akten zu registrieren, liegt in der Natur der Sache und war zu Zeiten des Kammergerichts ebenso üblich wie sie es heute noch ist. Täglich werden ungezählte Akten in Gerichts- und Anwaltskanzleien nach den Prozeßparteien und ggf. kurzen Streitgegenstandsangaben herausgesucht. Ein Obergericht muß die Vorinstanzen kennen, für die das DFG-Schema Zeile 6 vorsieht. Auch die Angabe der Anwälte auf der Gerichtsakte, die das Verzeichnungsschema in Zeile 4 übernommen hat, dient heute noch auf einem Aktendeckel der praktischen Information des Richters. Diese gewissermaßen zeitlosen Registraturgewohnheiten, die man für eine Kammergerichtsakte den Spezialprotokollen entnehmen kann, werden eingerahmt von archivisch erforderlichen Angaben wie den Signaturen in Zeile 1 oder den Umfangangaben in Zeile 8. Alle diese Vorgaben sind im Grunde unproblematisch, auch wenn es bei ihrer Umsetzung kleinere Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern und Archiven gegeben hat. Vor neue und archivisch interessante Aufgaben stellte das Verzeichnungsschema dagegen die Bearbeiter durch die Anforderungen von Zeile 5 b und 7 betreffend die Angaben über den Streitgegenstand bzw. die Prozeßgeschichte (Enthält-Vermerk) sowie zu den Beweismitteln und sonst wichtigen Schriftstücken in den Darin-Vermerken. In diesen beiden Punkten kam es, wie sich schon rein äußerlich an den Inventaren leicht feststellen läßt, zu deutlichen Abweichungen – Differen-

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Vgl. zusammenfassend mit weiterer Literatur JOST HAUSMANN, Die Verzeichnung von Reichskammergerichts-Akten. Ein Erfahrungsbericht, in: Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis, hg. von WOLFGANG SELLERT (QFHG 34), Köln Weimar Wien 1999, S. 241–251.

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zierungen, die sich dann auch bei aufmerksamer Lektüre bis in den Stil und die Schwerpunktsetzung hinein nachverfolgen lassen. Nach Umfang und Ausführlichkeit können wir heute drei Projektphasen unterscheiden.32 Durch einen relativ knappen Stil zeichnen sich die in den achtziger Jahren erschienenen Inventare von Hamburg und Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Hessen aus. Seit dem Einsetzen der Verzeichnung in den großen Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg in den neunziger Jahren wurden die Streitgegenstände ausführlicher und die DarinVermerke eingehender erfaßt. Mit dem inhaltlichen und stilistischen Wandel ging eine Veränderung der Formate und Ausstattung der Publikationen einher. Waren die älteren noch in einer relativ schlichten Art publiziert worden, die an den Dissertationsdruck erinnerte, so erschienen die neuen Inventare in größeren Formaten mit verbessertem Satzspiegel und Einband. Eine Ausnahme machte 1994 das Bundesarchiv Koblenz, das aber insofern einen Sonderfall darstellt, als es sich dabei im wesentlichen um eine Zweitverzeichnung handelte, die auf die umfangreichere Behandlung im Koserschen Inventar Bezug nehmen konnte. Dem schloß sich eine dritte Phase an, in der die Bestände großer Reichsstädte im Westen wie Frankfurt und Köln erschlossen wurden, vor allem aber die Fonds der neuen Länder in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg. Sie alle folgten, mit durchaus interessanten Abweichungen im Einzelnen, grundsätzlich dem Modus der großen Länder, der nun auch durch zeitgemäße Verbesserungen in der Ausstattung, etwa der Illustration mit Abbildungen aus den Akten,33 erweitert wurde. Die Richtlinien gaben nicht im Einzelnen vor, wie und wie ausführlich die Streitgegenstände und Prozeßgeschichten der einzelnen Fälle zu behandelt waren. Eine Untergrenze lag allerdings in der ausdrücklichen Anweisung, daß über den Umfang der Angaben in den Spezialrepertorien des 19. Jahrhunderts hinausgegangen werden mußte. Dort war der Inhalt der Akten meist nur sehr kurz mit einem Stichwort wie „Erbstreitigkeiten“ oder „Ius de non evocando“ angedeutet worden. Die Praxis in Baden-Württemberg und der Pfalz ging für die Neuverzeichnung davon aus, daß auf jeden

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Die im Folgenden angesprochenen Länderinventare lassen sich den am Schluß der Inventarbände beigefügten Übersichten (vgl. auch Anlage 4 in diesem Bd.) entnehmen. Auf Einzelnachweise wird daher verzichtet. Ein gutes Beispiel dafür bietet das Frankfurter Inventar, vgl. INGE KALTWASSER (Bearb.), Inventar der Akten des Reichskammergerichts 1495–1806 (Veröff. der Frankfurter Hist. Komm. XXI, hg. von DIETER REBENTISCH), Frankfurt am Main 2000, S. 67–79 (Farbtafeln).

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Fall der faktische Streitanlaß sowie der maßgebende Rechtsbegriff oder Rechtssatz, unter dem dieser Anlaß zum Gegenstand reichsgerichtlicher Befassung wurde, anzugeben seien, also etwa „Bruch des Landfriedens durch Überfall mit bewaffneter Mannschaft“ oder „Verweigerung der Remission und dadurch begangene Verletzung der klägerischen Privilegien“. Dabei wurde Wert darauf gelegt, Streitanlässe nach Personen und Orten konkret und nicht, wie bisher in den Altrepertorien, lediglich abstrakt anzugeben. Das orts- und landesgeschichtlich bedeutsame, in den Registern verarbeitete Namensgut stieg damit deutlich an und erhöhte den Wert der Inventare. Angesichts der heutigen Bedeutung sozial- und familiengeschichtlicher Fragestellungen erschien es den Bearbeitern auch angemessen, nicht nur Dynasten, Regierungen und Adel als Täter und Urheber, sondern immer wieder auch lokale Beamte und Untertanen als Ausführende, Opfer und Leidtragende von Territorial- oder Untertanenstreitigkeiten namentlich aufzunehmen. Besondere Rücksicht wurde auch auf die Namen der in den Akten vorkommenden Juden gelegt, die nicht nur dann ausgeworfen wurden, wenn sie als Parteien agierten.34 Vor dem Dreißigjährigen Krieg sind Kammergerichtsakten nicht selten jene Quellen, die für einzelne Orte die Erstnennung von Juden enthalten.35 Umfang und Stil richteten sich im übrigen nach der Verständlichkeit des Titels und der Bedeutung der Sache. Es konnte hier nicht um schematische Schlagworte gehen wie „nur Stichworte“ oder „auch ganze Sätze“ bzw. „tief“ oder „flach“ verzeichnen. Verwickelte Streitanlässe oder komplexe rechtliche Argumentationen der Höchstgerichtsbarkeit lassen sich, sollen sie

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Zur Bedeutung der Kameralakten für die jüdische Geschichte und Genealogie im Südwesten vgl. WEBER, Reichskammergerichtsakten als genealogische Quellen (Anm. 13), S. 159 f.; ders., Prozesse vor dem Reichskammergericht unter Beteiligung jüdischer Parteien in Südwestdeutschland, insbesondere im baden-württembergischen Franken, in: GERHARD TADDEY (Hg.), ... geschützt, geduldet, gleichberechtigt ... Die Juden im baden-württembergischen Franken vom 17. Jahrhundert bis zum Ende des Kaiserreichs (1918) (Fg. aus Württembergisch Franken, hg. vom Historischen Verein für Württembergisch Franken und dem Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein Bd. 52), S. 61–76. Beispiele dafür anhand zweier Landgemeinden aus dem Umland von Speyer im 16. Jahrhundert bei RAIMUND J. WEBER, Gelle, eine jüdische Frau aus Hanhofen, zwischen kaiserlicher und rabbinischer Justiz, in: 850 Jahre Hanhofen 1156–2006. Streifzüge durch die Ortsgeschichte, hg. von der Ortsgemeinde Hanhofen, Dannstadt 2006, S. 506– 517; DERS., „Ein gar nutzer Weidgang“. Der Prozeß um Weide und Markung zwischen Speyer und Dudenhofen vor dem Reichskammergericht, in: 850 Jahre Dudenhofen. Streiflichter aus seiner Geschichte 1156–2006, bearb. von KARL HEINZ DEBUS (Schr. des Vereins für Heimatgeschichte und -kultur Dudenhofen, hg. von KARL HEINZ DEBUS, Bd. 7), Dudenhofen 2008, S. 89–122, insbesondere S. 98.

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für den Leser einigermaßen nachvollziehbar sein, schlechterdings nicht mit Stichworten allein bewältigen. Weniger bedeutsames, etwa Hinweise auf nicht eingehaltene Fristen oder die Einlegung der Revision, kann dagegen sehr wohl mit einem Substantiv oder mit Halbsätzen abgetan werden. Über den Umfang der Darstellung entscheidet letztlich die Bedeutung des Prozesses. Für Dutzendware wie gewöhnliche Mandatsachen oder einfache Schuldklagen reichen ein oder zwei Sätze. Eine staatsrechtlich wichtige Streitigkeit, die in der Regel auch eine besonders umfangreiche Akte produziert hat, verlangt aber eine eingehendere Darstellung. Wenn dann etwa die Verzeichnung des Hechinger Untertanenprozesses im Sigmaringer Inventar gut zwölf Druckseiten umfaßt, so trägt dies lediglich dem Umstand Rechnung, daß die Angelegenheit die Geschichte eines kleinen Fürstentums während des ganzen 18. Jahrhunderts beherrscht hat, ferner daß die Akte über 1.000 quadrangulierte und weitere 665 nicht quadrangulierte Schriftstücke enthält mit einer Stapelhöhe von knapp zwei laufenden Metern, darunter mehrere Karten und Zeichnungen, so daß sie selbst gut und gerne einen kleinen Fond für sich bilden könnte.36 Die Gefahr, durch allzu ausführliche Darstellungen von Akteninhalten der Forschung ins Gehege zu kommen, konnte dabei nicht auftreten. Zu den dafür erforderlichen Auswertungen hätten die Bearbeiter, selbst wenn es in ihrer Absicht gelegen hätte, angesichts des stets knappen, von der Projektplanung vorgegebenen zeitlichen Rahmens für Verzeichnung und Redaktion ohnehin keine Gelegenheit gehabt. Die Angaben blieben stets auf die einzelne Akte bezogen, so daß eine Verarbeitung des Stoffs unter allgemeinen Fragestellungen, wie sie für die Forschung charakteristisch ist, ausgeschlossen war. Andererseits wurde durchaus eine forschungsbezogene Verzeichnung angestrebt, sehen sich doch die Archive heute nach ihrem eigenen Selbstverständnis nicht mehr als bloße Altregistraturen, sondern als Partner der Forschung. Eine diesen Maßstäben genügende Verzeichnung muß daher auswerfen, was der Forschung dient oder dienen könnte. Um diesem Anliegen gerecht werden zu können, sollten dem archivisch Verzeichnenden potentielle Forschungsinteressen bekannt sein und sein Vorverständnis beim Erfassen und Auswerfen der Akteninhalte beeinflussen. Insofern, aber auch nur insoweit könnte man derartige Inventare als „Forschungsinventare“ bezeichnen. Ähnlich wie beim Inhalt der Akten stellt sich auch für die Darin-Vermerke die Frage nach Auswahl, Ausführlichkeit und Formulierung, und

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WEBER, Staatsarchiv Sigmaringen (Anm. 5), S. 274 ff. (Titel Nr. 265).

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auch hier haben die Richtlinien die Ausgestaltung im Einzelnen offengelassen. Während sich die älteren Verzeichnisse auf pauschale Angaben wie „Vorakten“ oder besonderes herausragende Einzelstücke, hauptsächlich entnommene großformatige Karten und Zeichnungen, beschränkt hatten, warfen die Projektinventare jüngeren Datums wesentlich mehr an Beweismitteln aus. Die Bearbeiter gingen richtigerweise davon aus, daß heutige wissenschaftliche Benutzer eine Angabe des wichtigen Akteninhalts erwarten und nicht mit mehr oder weniger willkürlichen Hinweisen auf Zimelien oder inhaltslose Rubriken wie „acta priora“ abgespeist werden können. Es ist freilich angesichts der Fülle des in den Akten enthaltenen Materials nicht leicht, das rechte Maß zwischen dem „zuviel“ und „zuwenig“ zu finden. Einer gewissen Geschicklichkeit in der formalen Behandlung bedarf es auch, die ebenso wie das treffende Judiz bei der Auswahl nur durch hinlängliche Erfahrung zu erreichen ist. Der zweckdienliche Ansatz für eine praktikable Handhabung der Darin-Vermerke sollte von der Einsicht ausgehen, daß es sich bei Reichskammergerichtsakten nicht schlechthin um Akten im archivischen Sinn handelt. Solche liegen zwar für gewöhnliche Mandatsachen ohne Beweiserhebung oder schlichte Schuldklagen vor. Aus Appellationsprozessen und Verfahren mit Beweisaufnahmen erwuchsen dagegen Konglomerate verschiedenster Archivaliengattungen, die im Idealfall Akten, Bände, Urkunden, Karten und Pläne sowie Drucke umfassen. Diese unterschiedlichen Schriftgutarten können aber nur dann einigermaßen vollständig bearbeitet werden, wenn man sich darüber im Klaren ist, daß ihre Erfassung im Rahmen einer Aktenverzeichnung erfolgt. Das bedeutet beispielsweise, daß gegenüber den Anforderungen einer klassischen Urkundenverzeichnung Abstriche gemacht werden müssen, wenn Urkunden in einer Akte vorkommen. Schon die Richtlinien haben daher gestattet, häufiger vorkommende Stücke wie Privilegien oder Lehenbriefe unter Sammelbetreffen zusammenzufassen. In diesem Sinn wurden etwa im Südwesten Urkunden generell nur mit Jahresangaben aufgenommen, so daß die zeitraubende Tagesdatierung unterbleiben konnte. Weitere Angaben wie Siegler u.ä. mußten Urkundenbüchern vorbehalten bleiben. Karten und Drucke wurden zwar durchweg erfaßt, erstere aber nur mit Abmessung, Autor und wichtigen Orten. Genauere bzw. kartographisch und archivwissenschaftlich erschöpfende Beschreibungen gehören in ein Karteninventar. War damit durch formale Reduktion der Weg für eine vollständigere Aufnahme der Beweisstücke eröffnet worden, mußten wiederum vielfach naheliegende Pauschalangaben im Interesse inhaltlicher Durchdringung aufgelöst werden. Dies galt besonders für die Vorakten und Beweisrotuli, die

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nicht nur häufig schon rein äußerlich den größten Teil der Akten ausmachen, sondern auch inhaltlich nicht selten mehr bieten als die Schriftsätze der Kameralakte im engeren Sinn. In ihnen zeigt sich oft „vis maxima actorum“,37 ein Umstand, der freilich in den älteren Repertorien und Übergabeverzeichnissen noch nicht einmal angedeutet wurde. Man kann Reichskammergerichtsakten insoweit mit jenen bekannten russischen Puppen vergleichen, in denen, nimmt man sie auseinander, wiederum neue erscheinen. Verzeichnungstechnisch müssen solche sekundären Betreffe an die Vorakte bzw. den Rotulus mit erneutem „Darin“, „Darunter“ o.ä. angeschlossen werden. Als Beispiel dafür kann der Appellationsprozeß des Markgrafen Ernst von Baden gegen die Erben des Gernsbacher Hauptmanns Anastasius („Anstatt“) Heuschlaf dienen.38 Er enthält die Vorakten badischer Räte, die als delegiertes Gericht im Streit über Soldzahlungen aus dem Türkenzug des Jahres 1542 entschieden hatten. In den Vorakten der Räte ist wiederum die Vorakte des Stadtgerichts Pforzheim enthalten, und erst diese, nicht die Kammergerichts- oder die Kommissionsakte enthält die eigentlich interessanten Beweismittel des Falls, etwa eine Mannschaftsliste, in der alle Landsknechte des Pforzheimer Aufgebots namentlich und unter Angabe ihres Herkunftsorts erwähnt sind, oder ein Verhör von Beamten des Schwäbischen Reichskreises, aus dem die Zahlungsmodalitäten der Expedition detailliert hervorgehen. Was für die Vorakten und Rotuli der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg gilt, läßt sich auch an den Beilagenreihen des 18. Jahrhunderts exemplifizieren. So enthält etwa der Prozeß über die Entlassung des Offenburger Stättmeisters Franz Ignaz Bach nicht nur, was zu erwarten war, Gutachten der Tübinger Juristenfakultät über die Rechtmäßigkeit der Amtsenthebung.39 Überraschend sind aber zwei weitere Gutachten der genannten Fakultät. Da Bachs Kanzleitätigkeit auch Kriminalsachen umfaßt hatte, fanden sich hier strafrechtliche Konsilien betreffend Kindstötung und Inzest von armen und fahrenden Leuten, die teilweise nicht aus der Ortenau, sondern aus Hohenzollern-Hechingen stammten.40

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Zur sozial- und kulturgeschichtlichen Bedeutung der Rotuli vgl. etwa RALF-PETER FUCHS, Protokolle von Zeugenverhören als Quellen zur Wahrnehmung von Zeit und Lebensalter in der Frühen Neuzeit, in: Prozeßakten als Quelle (Anm. 12), S. 141–164. GLA 71/87. GLA 71/60 Q 24/25. GLA 71/60 Q 94/95.

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IV. Stellt man die Frage nach dem Erreichten und möglichen Desideraten, darf abschließend festgehalten werden, daß im Südwesten wichtige und umfangreiche Bestände an Reichskammergerichtsakten umgelagert, wiederhergestellt, geordnet und bereinigt, nach zeitgemäßen und einheitlichen Grundsätzen erschlossen, zu Inventarbänden redigiert und aufbereitet wurden. Man sollte meinen, daß die Forschung nunmehr wenigstens in den vom Projekt abgedeckten Regionen davon ausgehen kann, auf alle Reichskammergerichtsakten zugreifen zu können. Die praktische Erfahrung mahnt jedoch zur Vorsicht, denn auch heute kann bei Recherchen noch nicht jede Prozeßakte ohne weiteres nachgewiesen werden. 425 Jahre vor dieser „Bilanztagung“, am 1. März 1583, erließ das Kammergericht ein Mandat gegen den katholischen Teil des Augsburger Rats. Dieser hatte am 19. Januar in der damals „fürnehmsten“ Stadt des Reichs die Einführung des reformierten Kalenders beschlossen, der den bis dahin gültigen julianischen ablösen sollte. Die evangelischen Ratsmitglieder sahen darin einen Anschlag des Papstes auf die Protestanten und suchten in Speyer um Rechtshilfe nach. Damit begann ein relativ kurzer, aber wichtiger Mandatsprozeß, in dem es neben der aktuellen Kalenderdiskussion auch um die im konfessionellen Zeitalter streitige Frage der Vokation evangelischer Geistlicher durch einen mehrheitlich katholischen Rat ging. Der Prozeß zog weite Kreise und beschäftigte neben dem Kammergericht auch die evangelischen korrespondierenden Fürsten Süddeutschlands in Stuttgart, Neuburg an der Donau und Ansbach, die kurfürstlichen Höfe in Heidelberg, Dresden und Berlin sowie den kaiserlichen Hof. Die Prozeßakte müßte nach den Austeilungsregeln des Deutschen Bundes heute im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München lagern. Schlägt man im einschlägigen Inventarband des Buchstabens A nach, findet man in der Tat Kameralprozesse der Augsburger Religionsparteien, aber erst aus dem 17. Jahrhundert.41 Hingegen lassen sich die Akten des „Kalender- und Vokationsstreits“, wie er bei den Zeitgenossen genannt wurde, im Hauptstaatsarchiv Stuttgart nachweisen, und zwar in einer so gut wie vollständigen Abschrift in einem Membrum des württembergischen Oberrats, der damals ei-

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BARBARA GEBHARDT / MANFRED HÖRNER (Bearb.), BayHStA Reichskammergericht, Bd. 1. Nr. 1–428 (Buchstabe A) (Bayerische Archivinventare, hg. von der Generaldirektion der staatlichen Archive Bayerns Bd. 50/1), München 1994, S. 370 ff. (Titel Nr. 397–399).

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ne wichtige Anlaufstelle für die evangelischen Augsburger war.42 Natürlich ist die Akte weder im Münchener noch im Stuttgarter Projekt nachgewiesen: in München nicht, weil die Speyerer Originalakte offenbar bei der Generalausteilung nicht dorthin gelangt war, und in Stuttgart nicht, weil eine derartige Sekundärüberlieferung bei der Neuverzeichnung der Kammergerichtsakten nicht berücksichtigt werden konnte. Mit diesem Beispiel wird die Problematik des Pertinenz- bzw. Provenienzprinzips bei der Erschließung der Akten angesprochen. In der Theorie stellte sich diese Frage für das Projekt nicht. Ausgehend von der heute ganz unbestrittenen Herrschaft des archivischen Provenienzprinzips und des Gedankens einer in Inventarform zu verwirklichenden Wiederherstellung des ehemaligen Kammergerichtsarchivs wurde der Verzeichnungsauftrag von den Bearbeitern so aufgefaßt, daß davon nur die von Wetzlar ausgeteilten echten Gerichtsakten betroffen waren, wie sie in den heutigen Stadt- und Staatsarchiven unter der Fondbezeichnung „Reichskammergerichtsakten“ lagern. Nicht Gegenstand des Projekts war eine eventuell in den Länderarchiven vorhandene Zweitüberlieferung. Eine solche liegt etwa in dem genannten Beispiel in Form eines unter Pertinenzgesichtpunkten gebildeten Auswahlbestands vor, hauptsächlich aber in Gestalt der sog. Parteiakten, d.h. der bei den ehemaligen Prozeßparteien gebildeten, aus Mehrfertigungen oder Abschriften bestehenden Schriftstücke.43 Obwohl solche Akten in beträchtlicher Zahl in den Archiven ehemaliger Reichsstände und ritterschaftlicher Herrschaften erhalten sind, wurden sie bei der Neuverzeichnung grundsätz-

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Unverzeichneter Anhang zu Bestand A 140 Augsburg; vgl. HANS-MARTIN MAURER / STEPHAN MOLITOR / PETER RÜCKERT (Bearb.), Übersicht über die Bestände des HStA Stuttgart. Altwürttembergisches Archiv (A-Bestände) (Veröff. der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, hg. von der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg, Bd. 32), Stuttgart, 2. erw. Aufl. 1999, S. 72. – Die RKG-Akte findet sich im ersten, mit „Acta extrajudicialia“ beschrifteten Bd. Das Mandat ist einem Schreiben des Pfalzgrafen Ludwig Philipp von Pfalz-Neuburg vom 1.4.1583 beigefügt (Bl. 63), das RKG-Urteil vom 13./23.5.1584 in Bl. 569–578 überliefert. Die restliche, anscheinend vollständige Akte ist in zahlreichen nichtnumerierten Blättern angebunden. Die Akten dürften über die evangelischen Augsburger Kirchenpfleger als Partei abschriftlich nach Stuttgart gelangt sein. Dafür sprechen gelegentliche Vermerke von der Hand des Augsburger Geheimen Rats und Kirchenpropstes Johann Matthäus Stamler. Dieser korrespondierte namens der evangelischen Augsburger Kirchenpfleger mit Württemberg, insbesondere dem Rat Dr. Martin Aichmann, der mit einer Tochter des aus Augsburg kommenden Tübinger Professors Nikolaus Varnbüler d.Ä. verheiratet war. Zur Bedeutung der Parteiakten bei der Überlieferung des Reichshofrats EVA ORTLIEB, Gerichtsakten und Parteiakten. Zur Überlieferung der kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats, in: Prozeßakten als Quelle (Anm. 12), S. 101–118, insbesondere 110 ff.

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lich nicht beachtet und lediglich im Fall von Karlsruhe punktuell zur Ergänzung lückenhafter Überlieferung bzw. bei Vorliegen untrennbarer Mischprovenienz herangezogen. Bei größeren Ständen, wie etwa dem Herzogtum Württemberg, waren schon im Ancien Regime Fonds unter der Bezeichnung „Reichskammergericht“ gebildet worden, in denen neben Generalakten, welche die Beziehungen des Stands zum Gericht betrafen, auch Prozeßakten enthalten sind.44 Das Stuttgarter Inventar trägt diesem Umstand dadurch Rechnung, daß am Schluß einschlägiger Titel auf die württembergische Parteiakte verwiesen wird, wenn eine solche vorhanden ist. Diese Zweitüberlieferung ist nicht unwichtig, da sich ihr Inhalt zwar regelmäßig, aber nicht immer mit den Gerichtsakten deckt. Sind diese lückenhaft oder gar ganz abgängig, ergänzt die Parteiakte das in der Gerichtsprovenienz fehlende Material. Der in Stuttgart gewählte Weg der Verweisung führt freilich nur dann zum Ziel, wenn eine Akte aus gerichtlicher Überlieferung vorhanden ist. Enthält ein Bestand mit Parteiakten dagegen Prozeßakten, die als Gerichtsprovenienz nicht mehr existieren, läßt das DFG-Inventar die Lücke nicht erkennen. Aus diesem Grund ist es wünschenswert, daß die Parteiüberlieferung mit dem DFG-Inventar abgeglichen wird, um festzustellen, ob hier noch nicht erfaßte Prozesse vorhanden sind. Soweit diese Überlieferung nur mit älteren, nach heutigen Maßstäben unzureichenden Findmitteln erschlossen sind, sollte daran gedacht werden, den Erschließungsstand derartiger Fonds auf ein den Gerichtsakten kompatibles Niveau zu bringen. Eine weitere Ergänzung des Materials an reichsgerichtlichen Prozeßakten könnte die Inventarisierung von Kommissionsakten erbringen. Es handelt sich dabei um Akten, die vor delegierten Reichsrichtern in vor- oder nachgelagerten Verfahrensteilen bzw. in besonderen Verfahren während des Erkenntnisverfahrens erwachsen sind, d.h. in Austrägalprozessen, in der Beweisaufnahme45 und in der Exekution. Akten aller dieser Verfahren finden sich in großer Zahl auch in den Wetzlarer Hauptakten. Zahlreiche Austrägalprozesse und Beweiskommissionen sind in Form von Vorakten und Rotuli enthalten. Sie lagern meist in der alphabetischen Hauptserie, teilweise

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A 41 Württembergische Reichskammergerichtsregistratur; vgl. MAURER / MOLITOR / RÜCKERT, Altwürttembergisches Archiv (Anm. 42), S. 46. RAIMUND J. WEBER, Kaiserliche „Beweiskommissare“ vor dem Dreißigjährigen Krieg: Johann Christoph und Johann Friedrich Tafinger aus Ravensburg, in: Schr. des Vereins für Gesch. des Bodensees und seiner Umgebung 120 (2002), S. 203–250.

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auch einzeln und ohne zugehörige kammergerichtliche Akten in einer der bei der Austeilung gebildeten Spezialserien. Eine Reihe von Kameralakten enthalten auch Vollstreckungsakten, in der Regel nicht getrennt von der Hauptakte sondern dieser angefügt. Für alle diese Akten der Austrägal-, Beweis- und Exekutionsverfahren sind in älterer Zeit Gegenüberlieferungen bei den jeweiligen Kommissaren angefallen. Die bei den Beweiskommissaren vor dem Dreißigjährigen Krieg entstandene Überlieferung dürfte nur noch in der inrotulierten Form der beim RKG abgelieferten Beweisrodel vorhanden sein, weil ihre Urheber als Notare, Syndici oder Kammergerichtsadvokaten Privatleute waren und ihre Archive nicht erhalten sind. Anders verhält es sich mit den von Fürsten bzw. kreisausschreibenden Fürsten, d.h. staatlichen Stellen, durchgeführten Austrägal- und Exekutionsverfahren. Hier lassen sich für mehrere süddeutsche Archive Kommissionsakten außerhalb der RKG-Überlieferung nachweisen. Das Hauptstaatsarchiv Stuttgart besitzt im Bestand „Kaiserliche Kommissionen“ des Herzogtums Württemberg einen Fond, in dem neben einigen Austrägalprozessen hauptsächlich die Vollstreckung reichsgerichtlicher Urteile durch die ausschreibenden Fürsten des Schwäbischen Kreises dokumentiert wird,46 selbstverständlich nicht nur für Urteile des Reichskammergerichts, sondern auch des Reichshofrats. Auch in diesem Fall verweist das Stuttgarter Inventar unter einschlägigen Titeln, soweit vorhanden, auf die Exekutionsakten. Es wäre, parallel zum Vorgang bei den Parteiakten, zu prüfen, ob nicht in diesen Kommissionsakten Kammergerichtsprozesse nachzuweisen sind, für welche sich die Hauptakte Wetzlarer Provenienz nicht mehr erhalten hat. Auch hier wäre es wünschenswert, den Fond in einer dem DFG-Projekt vergleichbaren Form zu erschließen, liegt doch gerade im Fall der Vollstreckung der Schwerpunkt des Verfahrens und damit der archivalischen Überlieferung nicht beim erkennenden Gericht sondern bei den Kommissionshöfen. Und noch an einer weiteren, gerade für Südwestdeutschland wichtigen Stelle ließe sich der vom DFG-Projekt geschaffene Fundus reichsgerichtlicher Inventare ergänzen, wenn es hier auch nicht um oberstrichterliche Rechtsprechung geht. Zu den Erfahrungen in diesem Bereich gehört es, daß die Neuverzeichnung der Kammergerichtsakten in großem Umfang Appel-

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A 232 Oberrat: Kaiserliche Kommissionen, vgl. MAURER / MOLITOR / RÜCKERT, Altwürttembergisches Archiv (Anm. 42), S. 104; RAIMUND J. WEBER, Die kaiserlichen Kommissionen des Hauses Württemberg in der Neuzeit, in: Zs. für Württembergische LGesch. 43 (1984), S. 205–236.

Erfahrungen aus der Inventarisierung von Reichskammergerichtsakten

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lationsprozesse mit darin enthaltenen Akten des kaiserlichen Hofgerichts Rottweil als Vorinstanz erschlossen hat. Die Kammergerichtsakten überliefern einen wesentlich größeren Teil der Rottweiler Spruchtätigkeit als der kleine, durch die Kassation des 19. Jahrhunderts schwer geschädigte Stuttgarter Restbestand. Damit hat das DFG-Projekt für die Zeit nach 1495 eine weitreichende Restitution der umfangreichen Rottweiler Prozeßtätigkeit in Zweitüberlieferung durch das Kammergericht bewirkt. Es wäre somit naheliegend, auch die wesentlich kleinere originäre Gerichtsprovenienz (Bestand Hauptstaatsarchiv Stuttgart C 1)47 verzeichnungstechnisch auf das Niveau des RKG-Projekts zu heben. Mit diesen Desideraten schließt sich der Bogen, der bei Bestandsbildung und -ergänzung begann und sich mit Ordnung bzw. Verzeichnung der Akten fortsetzte. Der theoretische, zunächst noch weitgehend offene Ansatz des Projekts konnte in der archivischen Praxis aufgegriffen und erfolgreich umgesetzt werden. Dadurch wurde das Schema der „Frankfurter Grundsätze“ in den Erfahrungen mehrerer Länder und Archive so verfeinert und vertieft, daß es auch in Zukunft über den engeren Bereich der Kammergerichtsakten Wetzlarer Provenienz eine Modellfunktion für die Erschließung historischer Prozeßakten ganz allgemein beanspruchen darf.

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Dazu MARGARETHA BULL-REICHENMILLER / KONRAD KRIMM (Bearb.), Übersicht über die Bestände des HStA Stuttgart. Neuwürttembergische Herrschaften vor 1803 bzw. 1806–1810 (B-Bestände). Reichs- und Kreisinstitutionen vor 1806 (C-Bestände) (Veröff. der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, hg. von der Landesarchivdirektion BadenWürttemberg Bd. 34), Stuttgart, 2. erw. Aufl. 1994, S. 151 ff.

BERND SCHILDT

Wandel in der Erschließung der Reichskammergerichtsakten Vom gedruckten Inventar zur Online-Recherche in der Datenbank1

I. Angeregt durch die Archivreferentenkonferenz und nicht von Bernhard Diestelkamp, wie wir nunmehr aus berufenem Mund – nämlich von ihm selbst2 – wissen wurde Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre das umfangreiche Projekt zur Verzeichnung der verstreut überlieferten Prozeßakten des Reichskammergerichts auf den Weg gebracht. Dafür haben wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu danken, ohne deren großzügige Unterstützung dieses Mammutvorhaben nicht hätte realisiert werden können. Nach nunmehr 30 Jahren gilt es zu bilanzieren. Von den ca. 77.800 noch heute nachweisbaren Prozeßakten des Reichskammergerichts,3 die in ihrer überwiegenden Zahl (schätzungsweise 71.000, was ca. 91 % entspricht) auch noch aktenmäßig überliefert sind,4 wurden bislang rund 74.800 – das entspricht etwa 96 % – verzeichnet. Von den in deutschen Archiven verwahrten Prozeßakten des Reichskammergerichts sind lediglich die in Hannover lagernden Bestände für die Fsm. Calenberg-Grubenhagen (642) und Lüne-

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Überarbeitete und leicht erweiterte Fassung des mündlichen Vortrages vom 10. 04. 2008. Die statistischen Angaben wurden auf den Stand vom 31. 05. 2010 gebracht. Vgl. BERNHARD DIESTELKAMP, Rückblick auf das Projekt zur Inventarisierung der Prozeßakten des Reichkammergerichts, erster Beitrag in diesem Bd. Da einerseits in einigen Inventaren nicht nur Prozeßakten sondern in geringem Umfang auch andere Akten mit Bezug zum Reichskammergericht (z. B. Urkunden) nachgewiesen sind und andererseits einige Prozesse mehrfach erfaßt worden sind, lassen sich keine absolut exakten Angaben zur Gesamtüberlieferung von Prozeßakten machen. Zum Umfang der Verluste im Kölner Bestand durch den Einsturz des StadtA im Jahr 2009 läßt sich momentan keine auch nur annähernd verläßliche Aussage treffen; glücklicherweise existiert aber eine – auch benutzbare – Sicherheitsverfilmung für offenbar alle Reichskammergerichtsakten.

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burg (380) der späteren preuß. Prov. Hannover5 und damit insgesamt etwas mehr als 1.000 Prozesse bislang überhaupt noch nicht verzeichnet. Das gilt auch für ca. 2.000 Prozeßakten, die in drei ausländischen Archiven (Metz, Lüttich und Wien) verwahrt werden. Leider sind von den Verzeichnungen der 74.800 bereits inventarisierten Prozeßakten bislang nur ca. 60.750 auch allgemein zugänglich, davon mehr als 4.100 lediglich in einer wenig komfortablen Internetversion.6 Es steht zu befürchten, daß die Wissenschaft auf rund 14.050 bislang noch nicht veröffentlichte Verzeichnungen von Reichskammergerichtsprozessen noch geraume Zeit verzichten muß. Das betrifft insbesondere die seit Jahren abgeschlossenen Verzeichnungen in Karlsruhe7 und in München8. Hinsichtlich der Verzeichnungsarbeiten im einzelnen ist zunächst zu unterscheiden zwischen Inventaren die vor Verabschiedung der so genannten „DFG-Richtlinien“ oder „Frankfurter Grundsätze“9 und solchen, die nach dieser Vereinbarung erschienen sind. Zur ersteren Gruppe der älteren Inventare zählen insgesamt vier – Koblenz (2.891), Münster (6.420), Wolfenbüttel (670) und Stade (614); insgesamt handelt es sich also um ca. 10.600 Prozeßakten. Vor allem fällt hier ins Gewicht, daß die Sachverhaltsangaben sehr knapp gehalten sind und keine Prokuratorennamen angegeben werden. Die Mehrzahl der Reichskammergerichtsakten wurde indes nach Vereinbarung der DFG-Richtlinien verzeichnet (etwa 53.400 Verfahren10 aus insge-

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Bereits verzeichnet sind die das FsBsm. Hildesheim (2.164) betreffenden Prozesse. vgl. Anlage 4 Nr. 30. Das betrifft den kassierten Teil des Bestandes Hessen-Darmstadt (4.103 Prozesse). Die druckfertigen Fassungen der Bde. 2–5 liegen lt. Auskunft vom 09.06.2004 bereits seit fünf Jahren vor. Eine erneute Nachfrage vom Juni 2009 ergab, daß diese vier Bde. nunmehr redaktionell überarbeitet werden; die noch für das Jahr 2009 angekündigten Bde. 2 und 3 sind allerdings bislang noch nicht erschienen. Gegenwärtig ist erst etwa die Hälfte der verzeichneten Prozeßakten in bislang 15 erschienenen – im übrigen vorbildlich gestalteten – Inventarbänden für die Fachwelt allgemein zugänglich; vgl. Anlage 4 Nr. 19. Vgl. Anlage 2 in diesem Bd.: Grundsätze für die Verzeichnung von Reichskammergerichts-Akten („Frankfurter Grundsätze“) abgedruckt nach MARTIN EWALD, Inventarisierung von norddeutschen Beständen des Reichskammergerichts, in: Der Archivar 33 (1980) Sp. 482.; vgl. auch die Erläuterungen bei JÜRGEN WEITZEL, Das Inventar der Akten des Reichskammergerichts (Forschungsbericht), in: ZNR 21 (1999), S. 408-416, 409 f. Bei dieser Zählung bleiben die außerhalb des DFG-Projekts – z.T. nur für archivinterne Zwecke – erarbeiteten Verzeichnungen (Aachen, Stettin) und auch die nicht mehr überlieferten Prozesse in den nach der Vereinbarung der „Frankfurter Grundsätze“ publizierten Reichskammergerichtsinventaren unberücksichtigt, da sie hinsichtlich ihrer Verzeichnungstiefe weitestgehend den älteren Inventaren vergleichbar sind.

Wandel in der Erschließung der Reichskammergerichtsakten

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samt 34 Beständen). Allerdings wurden die vereinbarten Grundsätze nicht in jedem Fall konsequent umgesetzt. So erfolgte beispielsweise in Bremen, Hamburg und Lübeck sowie im kassierten Darmstädter Bestand keine fortlaufende, sondern eine buchstabenweise Numerierung der Prozesse, was zu einer gewissen Unübersichtlichkeit führt. Ärgerlich ist auch der Umstand, daß im Inventar Nr. 27 für Frankfurt die Parteieigenschaft in der Vorinstanz nicht mitgeteilt wird, was zu erheblichen Informationsverlusten führt. Ferner weist die Verzeichnung bei einer Reihe von Inventaren Besonderheiten auf, die teils überhaupt nicht, teils unvollständig mitgeteilt werden (z. B. Nr. 20 Aurich). Für den Leser erschließen sich derartige Eigentümlichkeiten oft erst bei einer systematischen Durcharbeitung des gesamten Inventars, was natürlich wenig benutzerfreundlich ist.

II. Trotz des guten Standes der Verzeichnung der Prozeßakten des Reichskammergerichts ist die Quellenmasse insgesamt schwer handhabbar. Die einzelnen Inventare unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihres Schriftbildes und ihrer äußeren Erscheinung nach; daneben weisen sie z. T. auch beträchtliche inhaltliche Abweichungen auf. Dessen ungeachtet entsprechen indes gerade die in den letzten 10 bis 15 Jahren auf EDV-Basis erstellten Inventare überwiegend den DFG-Richtlinien. Gleichwohl bleibt der Gesamtbestand der überlieferten Reichskammergerichtsverfahren nur schwer zu überschauen. Seinerzeit bei der Inangriffnahme des Gesamtvorhabens war an die Erstellung eines Generalregisters am Ende der Verzeichnungsarbeiten gedacht. Die DFG-Richtlinien schreiben deshalb vor, für jedes Inventar einen Sach-, Personen-, Orts- und Prokuratorenindex zu erstellen. Ferner sollten in einem gesonderten Index die Vorinstanzen sowie die Juristenfakultäten und Schöffenstühle erfaßt werden. Diese Aufgabe ist in den einzelnen Inventaren auf recht unterschiedliche Weise realisiert worden. Zunächst einmal stehen für einige Inventare die Indizes noch vollständig aus, so für Düsseldorf, Köln, Marburg (Kurhessen)11, Magdeburg12. Auch 11 12

Die Indizes sind mittlerweile erstellt und stehen im Archiv zur Verfügung. Es fehlt der Sachindex; ob ein solcher noch erstellt werden wird erscheint sehr fraglich, jedenfalls findet sich im 5. und (bisher?) letzten Bd. des Inventars kein diesbezüglicher Hinweis.

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hinsichtlich ihrer Qualität weisen die Indizes z. T. erhebliche Unterschiede auf, was nicht zuletzt auch aus den unterschiedlichen Verzeichnungstiefen bei den Sachverhaltsangaben resultiert. Im übrigen ist es sehr fraglich, ob es jemals zur Erstellung eines Generalregisters unter Einbeziehung aller Inventare kommen wird. Dazu müßten zunächst vergleichbare Indizes für die einzelnen Inventare vorliegen, was für einige bereits abgeschlossene Bearbeitungen noch aussteht und im Fall Münchens wohl erst in 15 Jahren vollständig realisiert sein werden. Für die gegenwärtige Benutzung ist es besonders hinderlich, daß für einzelne Inventare die Indizes bandweise erstellt worden sind – so in Stuttgart – bzw. buchstabenweise – so teilweise in München. Eine Sachrecherche im Stuttgarter Inventar macht z. Zt. die Durchsicht von insgesamt acht Indizes erforderlich. Ein weiteres Problem besteht hinsichtlich der Zuverlässigkeit der inhaltlichen Angaben in den Indizes. Insbesondere die Sachindizes basieren zumeist nicht auf einer inhaltlichen Analyse der einzelnen Sachverhaltsbeschreibungen, sondern knüpfen weitgehend an die Begrifflichkeit des Inventars an. So taucht beispielsweise im ersten Band des Stuttgarter Inventars im Sachindex der Begriff „Darlehen“ auf und verweist u. a. auch auf den Fall Nr. 217. Dort findet sich in der Tat der Begriff Darlehen im Sachverhalt, gleichwohl handelt es sich um einen reinen Injurienprozeß, der nicht das Geringste mit Darlehensproblemen zu tun hat. Auf einen weiteren, ähnlich gelagerten Fall hat jüngst Anja Amend-Traut aufmerksam gemacht. Im Lübecker Bestand wurde im Sachindex unter „Wechsel“ auf die Akte mit der Signatur G 7 verwiesen, der Streitgegenstand dieses Falles hatte aber nichts mit Wechselrecht zu tun; vielmehr lag der Akte lediglich eine Originalwechselurkunde bei.13 Das ist aber nur die eine Seite des Problems. Schließlich stellt sich auch die Frage, ob überhaupt alle relevanten Themenkomplexe ihrer inhaltlichen Bedeutung nach vollständig oder überhaupt im Register begrifflich erfaßt sind. Auch hier einige Beispiele zum Darlehensrecht aus dem Düsseldorfer Inventar, die deutlich machen, wie wenig Volltextabfragen geeignet sind, die vor dem Reichskammergericht verhandelten Gegenstände adäquat zu ermitteln: 13

ANJA AMEND-TRAUT, Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht. Praktiziertes Zivilrecht in der frühen Neuzeit. (QFHG 54), Köln Weimar Wien 2009, S. 89, Anm. 244.

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Im Jahr 1572 klagen die Erben des verst. Straßburger Ratsherrn und Fünfzehners Wilh. Brechter gegen Dietr. Hut bzw. seine Wwe. Gertrud (Köln) wegen einer von Brechter den Beklagten auf der Frankfurter Herbstmesse von 1562 geliehenen Summe von 4.734 fl. gemeiner Frankfurter Währung. (14/0400)14 23 Jahre später rufen die Erben des verst. Straßburger Ratsherrn und Fünfzehners Wilh. Brechter wegen einer Restschuldforderung von 17.026 ½ fl, die aus einer von mehreren Kölner Bürgern im Auftrag des damaligen Kölner Erzbischofs Joh. Gebhard getätigten Anleihe herrührte, erneut das Reichskammergericht an. Beklagter ist der Kurfürst Ernst von Köln sowie Dekan und Kapitel des Domstifts Köln. (14/0401) 1804 verklagt der Handelsmann und Bürger zu Frankfurt am Main Philipp Jakob Claus den regierenden Grafen Ernst zu Limburg-Bronckhorst-Styrum, Erbe zu Schleswig und Holstein, Herr zu Oberstein, „Gehmen, der Winterhauchischen Lande, zu Misch, Borkelohe, Broich, Burg-Wilchling und Wilhemsdorf, Erbpannierherr“ des Hzm.s Geldern und der Gft. Zutphen auf Rückerstattung von mehreren Krediten, die Hofrat Lic. Christoph Sigismund Müller zu Frankfurt, Schwiegervater des Klägers und in Diensten des Beklagten, dem Beklagten in den Jahren 1780 – 1782 eingeräumt hat. (14/0873) In den angeführten Fällen ist die Rede von einer „geliehenen Summe“, einer „getätigten Anleihe“ oder von der „Rückerstattung mehrerer Kredite“. Von einer Wortlautsuche nach dem Begriff „Darlehen“ würden diese Fälle folglich nicht erfaßt werden. Dieser vorgetragene Negativbefund bezüglich der Indizes erfolgt indes aus der Perspektive der Möglichkeiten traditioneller Register. Mit der elektronischen Datenverarbeitung stehen uns heute Werkzeuge zur Seite, von denen wohl niemand vor 30 Jahren sich auch nur ansatzweise realistische Vorstellungen hätte machen können. Heute vermögen die digitalen Erfassungsmethoden selbst unterhalb der Schwelle von Datenbanken Gleiches wie die seit Jahrhunderten üblichen Register sehr viel effektiver und zuverlässiger zu leisten. Es stellt sich deshalb die Frage, was ein Generalregister der verzeichneten Reichskammergerichtsakten – so es denn jemals zustande kommt – zu leisten vermag. Zweifellos würde es zu einer gewissen Zusam-

14

Die Zahl vor dem / verweist auf die Nr. des jeweiligen RKG Inv. (vgl. auch Anlage 4), die danach auf die lfd. Nr. im jeweiligen Inv.; vorliegend handelt es sich also um die lfd. Nr. 0.400 des in Düsseldorf verwahrten Bestandes für die preuß. Rheinprov.

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menführung des zersprengten Reichskammergerichtsarchivs führen; aber selbst das würde man heute besser in digitaler Form vornehmen. Was die registermäßige Erfassung – sei es nun traditionell in Druckform oder digitalisiert – aber nicht kann, ist eine kombinierte Abfrage nach mehreren Suchkriterien: das kann nur eine Datenbank leisten. Hinzu kommt ein inhaltlicher Aspekt: da die Register – wie gesagt – überwiegend sehr stark am Wortlaut des Inventars haften, sind die daraus zu ziehenden Schlüsse insbesondere hinsichtlich des Streitgegenstandes überaus unzuverlässig. Welch kuriose Ergebnisse Abfragen dabei erbringen können, zeigt folgendes Beispiel einer Recherche nach dem Suchbegriff „Kredit“: Im Jahre 1749 appellieren die Brüder Peter und Gottfried Frantzen aus Remscheid ans Reichskammergericht wegen unberechtigter Benutzung ihres Warenzeichens und des Compagnie–Namens durch die Appellaten Johann Theodor Hoddenbrock und Arnold Frantz aus Cronenberg im Amt Elberfeld. Sie hatten 1743 vor der Jül.-berg. Hofkammer Klage erhoben, jemand habe entweder aus schnöder Gewinnsucht oder um sie in Mißkredit zu bringen ihr Zeichen und ihren Namen benutzt. (14/1718) Vor diesem Hintergrund wurde in Bochum – angeregt durch die datenbankmäßige Erschließung der im Bundesarchiv Koblenz überlieferten Urteilsbücher durch Hans Schenk15 – vor einigen Jahren damit begonnen, die verstreut überlieferten Prozeßakten des Reichskammergerichts an Hand der bereits in großer Zahl vorliegenden Inventare digital zu erschließen. Dieses Vorhaben wurde zum einen begünstigt durch die überdurchschnittlich hohe EDV-Kompetenz meiner langjährigen Sekretärin Käthe Wissmann und einer beinahe zufällig entstandenen Verbindung mit dem damaligen Studenten der Wirtschaftsinformatik Michael Leuschner, durch dessen uneigennützigen Einsatz das Projekt eine Dimension erlangte, an die zunächst nicht zu denken gewesen ist. Was die inhaltliche Seite angeht, habe ich aus der seinerzeit (1985) bahnbrechenden Arbeit von Filippo Ranieri überaus wertvolle Anregungen erhalten; darüber wird an anderer Stelle noch ausführlicher zu reden sein.

15

Reichskammergericht, Bestand AR l, Urteilsbücher (Datenbank und Begleitheft), bearb. von HANS SCHENK unter Mitarbeit von ERNST LUDWIG BRUST / CLAUDIA HELM / MICHAEL HOLLMANN (Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs, Bd. 52), Koblenz 1995.

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Nach derzeitigem Stand sind in dieser RKG-Datenbank 39.045 Prozesse aus insgesamt 28 Beständen enthalten. Dabei sind 22 Bestände in 19 Inventaren16 mit insgesamt 36.054 Prozessen bereits vollständig erfaßt und weitere sechs Inventare befinden sich in Bearbeitung.

Vollständig erfaßte Inventare Archive Bremen Bückeburg Darmstadt Detmold Düsseldorf Frankfurt a.M. Hamburg Koblenz Köln Lübeck Maastricht/NL Marburg Münster Schleswig Sigmaringen Stuttgart Wertheim Wetzlar Wiesbaden Wiesbaden Wiesbaden Wolfenbüttel

Zuständigkeit Reichsstadt Bremen Fsm. Schaumburg-Lippe, Gft. Schaumburg GHzm. Hessen-Darmstadt Fsm. Lippe-Detmold RegBez. Düsseldorf der preuß. RheinProv. Reichsstadt Frankfurt Reichsstadt Hamburg Parteien außerhalb des Deutschen Bundes, Prozesse zwischen Souveränen Reichsstadt Köln Reichsstadt Lübeck Kgr. der Niederlande Gft. Waldeck Preuß. Prov. Westfalen Hzm. Holstein, Hzm. Lauenburg Fsm. Hohenzollern-Hechingen und Hohenzollern-Sigmaringen Kgr. Württemberg Fsm. Löwenstein-Wertheim Reichsstadt Wetzlar Hzm. Nassau ohne das ehemalige Amt Reichelsheim in der Wetterau LGft. Hessen-Homburg Preuß. Kreis Wetzlar Hzm. Braunschweig

Gesamterfassung

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Verfahren 463 241 4.562 827 6.495 1.664 1.386 628 1.862 775 312 166 6.41717 611 338 5.544 20 193 1.945 102 833 670

36.054

Die Bestände für die Reichsstadt Wetzlar und den preuß. Kreis Wetzlar wurden zusammen im Inv. Nr. 8, die für das Fsm. Hohenzollern-Hechingen und Hohenzollern-Sigmaringen und das Fsm. Löwenstein-Wertheim im Inv. Nr. 29 verzeichnet und die das Kgr. der Niederlande betreffenden sind als zehnter Bd. des Inv. Nr. 14 erschienen (vgl. Anl. 5). Im Münsteraner RKG-Inventar sind ferner drei RHR-Prozesse verzeichnet, die im folgenden unberücksichtigt bleiben.

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Von den ca. 18.150 Prozeßakten aus den bislang nur teilweise erfaßten Inventaren sind inzwischen fast 3.000 Verfahren in die Datenbank integriert. Abgesehen von dem größten aller RKG-Bestände, nämlich dem für Bayern, werden die übrigen Inventare in durchaus überschaubaren Zeiträumen vollständig in die Datenbank eingearbeitet sein.

Teilweise erfaßte Inventare (Stand: 31.05.2010) Archive Marburg München Oldenburg Osnabrück Stade Th. Archive18

Zuständigkeit Verfahren Kurfsm. Hessen als Nachfolgestaat der 499 von 2.067 LGft. Hessen-Kassel Kgr. Bayern 1.406 von 13.540 GHzm. Oldenburg 91 von 409 FsBsm. Osnabrück, Gft. Bentheim, han294 von 1.130 noversche Teile des Niederstifts Münster RegBez. Stade der preuß. Prov. 429 von 614 Hannover Thüringische Staaten 269 von 392 Gesamterfassung 2.988 von 18.152

Seit dem Herbst des Jahres 2007 ist ein Teilprojekt der Bochumer Datenbank – die Erfassung der Prozesse reichsstädtischer Provenienz – online im Netz unter http://www.hoechstgerichtsbarkeit.rub.de/db/search.aspx zur allgemeinen Nutzung einsehbar. Es ist vorgesehen, die Anzahl der für die Öffentlichkeit zugänglichen Bestände schrittweise zu erhöhen. Das setzt allerdings voraus, daß vor jeder Veröffentlichung eines neu und vollständig in der Datenbank erfaßten Inventars eine gründliche Überarbeitung unter formalen Gesichtspunkten erfolgt. Das betrifft insbesondere die sprachliche Vereinheitlichung identischer Vorinstanzen, die im Inventar unterschiedlich bezeichnet worden sind. So werden beispielsweise bestimmte gräfliche Gerichte nachdem der Gerichtsherr gefürstet worden ist in den Inventaren als fürstliche Gerichte bezeichnet, obwohl sie in vollständiger Kontinuität zu den ehemals gräflichen Gerichten stehen. Es handelt sich also in der Sache um dasselbe Gericht. Ähnlich verhalten sich die Dinge bei städtischen Gerichten, wo als Vorinstanz häufig alternativ Rat und Schöffen, Bürgermeister und Rat, Bürgermeister, Schöffen und Rat und ähnliches genannt wird, wo-

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Es handelt sich im einzelnen um die Archive in Altenburg, Gotha, Greiz, Meiningen, Rudolstadt und Weimar; vgl. auch Anlage 5.

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bei jeweils zu klären ist, ob es sich um dieselben oder um unterschiedliche Spruchkörper handelt. Da offenbar bei der Verzeichnung die jeweilige Bezeichnung des Gerichts wortgetreu aus der Originalquelle übernommen worden ist, spiegelt sich dies in den Inventaren nicht immer adäquat wider und muß von meinen Mitarbeitern oftmals erst mit z. T. beträchtlichem Aufwand ermittelt werden. Die Entwicklung der letzten Jahre eröffnet das Feld für sehr viel weiterreichende Analysen der Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich. Seit einigen Jahren werden auf Initiative und unter Leitung von Wolfgang Sellert die in Wien lagernden Prozeßakten des Reichshofsrats auf vergleichbare Weise wie die des Reichskammergerichts verzeichnet.19 Mittlerweile ist der erste Band bereits erschienen.20 Die Integration auch dieser Prozeßakten in die Bochumer Datenbank, die dadurch de facto zu einer Datenbank der Höchstgerichtsbarkeit wird, ist mittelfristig vorgesehen, wobei mit der probeweisen Eingabe der ersten Datensätze bereits begonnen wurde. Darüber hinaus werden seit einigen Jahren auch die Prozeßakten des Wismarer Tribunals als des höchsten Gerichts für die schwedischen Reichslehen ebenfalls in Anlehnung an die DFG-Richtlinien inventarisiert; die Arbeiten hieran dürften in ein bis zwei Jahren im wesentlichen abgeschlossen sein.21 Auch sie sollten künftig in die Datenbank integriert werden.

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Vgl. WOLFGANG SELLERT, Projekt einer Erschließung der Akten des Reichshofrats, in: Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis, hg. v. WOLFGANG SELLERT (QFHG 34), Köln Weimar Wien 1999, S. 199-210; EVA ORTLIEB, Die ‚Alten Prager Akten‘ im Rahmen der Neuerschließung der Akten des Reichshofrats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien (MÖSTA 51), Wien 2004, S. 593-634. Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats (RHR) Serie I: Alte Prager Akten. Bd. 1: A–D, hg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Österreichischen Staatsarchiv, hg. von WOLFGANG SELLERT, bearb. von EVA ORTLIEB, Berlin 2009. NILS JÖRN, Das Wismarer Tribunal – Geschichte und Arbeitsweise eines Gerichts sowie Verzeichnung seiner Prozeßakten (in diesem Bd.). Zum Forschungsstand insgesamt vgl. den Sammelbd. Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653 - 1806), hg. von NILS JÖRN / BERNHARD DIESTELKAMP / KJELL AKE MODÉER (QFHG 47), 2003; besonders die Beiträge von NILS JÖRN, Das Archiv des Wismarer Tribunals (S. 329-366), HANSKONRAD STEIN, Bericht über den Tribunalsbestand im StadtA Wismar und Vorschläge zur Verzeichnung der Tribunalsakten (S. 367-370), MARTIN SCHÖBEL, Das Wismarer Tribunal in den Beständen des Landesarchivs Greifswald (S. 371-376), UWE KIEL, Die Quellenlage zur Geschichte des Tribunals und Oberappellationsgerichts im StadtA Greifswald (S. 377-381) und JAN LOKERS, Die Akten des Wismarer Tribunals im Staatsarchiv Stade: ein Stiefkind der landesgeschichtlichen und rechtshistorischen Forschung (S. 383-385).

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III. Ziel der datenbankmäßigen Erschließung der Reichskammergerichtsakten war von Beginn an nicht allein die quantifizierende Analyse formaler Daten wie etwa Prozeßaufkommen in Zeit und Raum, ständische und soziale Herkunft der Parteien u.ä., sondern auch und vor allem die Möglichkeit schnell und zuverlässig auf inhaltliche Fragestellungen zugreifen zu können, um so den immer notwendigen Gang ins Archiv sehr viel besser vorbereiten zu können. Mit Blick auf quantitative Auswertungen muß an dieser Stelle auf die ersten Versuche Filippo Ranieris verwiesen werden. Er hat seinerzeit – wenn man so will in der „Steinzeit“ der elektronischen Datenverarbeitung – Bahnbrechendes geleistet.22 Aber nicht nur die elektronische Datenverarbeitung steckte zu Beginn der achtziger Jahre noch in den Kinderschuhen, auch die Inventarisierung war bei weitem nicht auf dem Stand wie sie es heute ist. Bei diesen Gegebenheiten war an eine vollständige, auf elektronische Datenverarbeitung gestützte Auswertung des gesamten Quellenmaterials nicht zu denken. Man mag sich heute gar nicht mehr vorstellen, daß Ranieri vor gut 25 Jahren gezwungen war, wenn seine Gliederungspunkte die Zahl zehn überschritten eine wie auch immer geartete neue Untergliederungsform zu schaffen, um seine Daten erheben zu können. Gleichwohl konnten – wie oben bereits angedeutet – eine Reihe von strukturellen Ansätzen Ranieris, insbesondere was die nähere standes- und statusmäßige Skizzierung der Prozeßparteien sowie deren räumliche Verortung betraf, übernommen und entsprechend den neuen Möglichkeiten weitergeführt werden. Was Ranieri für die Frühzeit des Gerichts analysiert hat, wurde von Annette Baumann für das 17. und 18. Jahrhundert in enger Anlehnung an Ranieris Kriterien fortgeführt.23 Allerdings hat Baumann ihre Daten anscheinend eher nach der traditionellen Zählmethode erhoben. Bis heute hat es keine weiteren derartig umfassenden quantitativen Auswertungen für einzelne Zeitabschnitte auf der Basis mehr oder weniger repräsentativer Stichproben gegeben. Allerdings wurden auf der Basis der fortschreitenden Ergeb22

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FILIPPO RANIERI, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jh. (QFHG 17 I, II), Köln Wien 1985. ANETTE BAUMANN, Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690-1806). (QFHG 51), Köln Weimar Wien 2006.

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nisse der Verzeichnungsarbeiten von verschiedener Seite weitere quantitative Auswertungen unter speziellen Gesichtspunkten an Hand der vorliegenden Inventare vorgenommen; u. a. kann in diesem Zusammenhang auf Beiträge von Diestelkamp24 und Hörner25 verwiesen werden. Gleichwohl stellt sich die Frage, inwieweit Stichprobenanalysen überhaupt ein geeignetes Mittel sind, Schlüsse für die hier in Rede stehenden Quellen zu ziehen. M. E. haben sie zum einen wegen der Heterogenität der Aktenverzeichnung nur einen begrenzten Wert26 und zum anderen können selbst statistisch umfassend abgesicherte Aussagen zum Gesamtumfang der Reichskammergerichtsüberlieferung für einzelne regionale Aktenbestände für die Gesamtsituation wenig besagen. So hatte Bernhard Diestelkamp bereits vor längerer Zeit an Hand der Repertorien der Archive in Aachen, Marburg, Koblenz, Münster und des untrennbaren Bestandes – vermutlich durch zeitaufwendiges Auszählen – für die erste Hälfte des 16. Jh. einen durchschnittlichen Anteil an Landfriedenssachen in der Rechtsprechung des Reichskammergerichts von 7 % ermittelt. 27 Andererseits kann jetzt beispielsweise auf der Grundlage der digitalen Zusammenführung der verzeichneten Reichskammergerichtsakten aus dem Fürstentum Lippe-Det-

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BERNHARD DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, in: Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, hg. von HANS-JÜRGEN BECKER / GERHARD DILCHER u. a. 1976, S. 435-480 S. 435-480, S. 442 ff. MANFRED HÖRNER, Anmerkungen zur statistischen Erschließung von Reichskammergerichtsprozessen, in: Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, hg. von ANETTE BAUMANN / SIEGRID WESTPHAL / STEPHAN WENDEHORST / STEFAN EHRENPREIS (QFHG 37), 2001, S. 69-81. Bei Aktenstichproben nur einer Buchstabengruppe können, auch wenn sie mit der „Totalauswertung“ kleiner Jahresgruppen kombiniert werden, Cluster-Bildungen leider nicht ausgeschlossen werden; vgl. BERND SCHILDT, Reichsstädte vor dem Reichskammergericht, in: Akten des 36. Deutschen Rechtshistorikertages, hg. von ROLF LIEBERWIRTH / HEINER LÜCK, 2008, S. 578-606. Vgl. dazu auch HÖRNER (Anm. 24), der auf die Möglichkeit versteckter Zusammenhänge zwischen den Anteilswerten einer Stichprobe und der Grundgesamtheit hinweist (S. 70 Anm. 6), dort auch die Wiedergabe eines einschlägigen Beispiels von H. KELLER, Theorie und Technik des Stichprobenverfahrens, 1953. Kritisch zur Materialbasis von RANIERI auch schon TOBIAS FREITAG / NILS JÖRN, Zur Inanspruchnahme der obersten Reichsgerichte im südlichen Ostseeraum 1495-1806 in: Die Integration des südlichen Ostseeraums in das Alte Reich, hg. von NILS JÖRN / MICHAEL NORTH (QFHG 35), Köln Weimar Wien 2000, S. 58. DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts (Anm. 23), S. 442 ff. Ähnlich weit auseinander liegen die Zahlenverhältnisse für die von DIESTELKAMP auf seiner Quellengrundlage ebenfalls nachgewiesenen Prozesse wegen Rechtsverweigerung und Nichtigkeit.

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mold nachgewiesen werden, daß dort Landfriedensbruchsachen eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben,28 während in anderen Beständen – so bei den in Darmstadt lagernden Akten für das Großherzogtum HessenDarmstadt – Landfriedensbruchsachen fast 15 % der Gesamtüberlieferung ausmachen. Sowohl Stichproben als auch die auf vollständiger Auszählung einzelner oder mehrerer Inventare basierenden Ergebnisse statistischer Erhebungen sind also offenkundig für Verallgemeinerungen ungeeignet; sie vermögen weder für die Tätigkeit des Reichskammergerichts insgesamt noch bezogen auf die Verfahrensüberlieferung aus anderen Archiven verläßlich Auskunft zu geben. Gleichwohl werden durch die vollständige Untersuchung einzelner oder mehrerer, räumlich oder territorialstaatlich zusammenhängender RKG-Bestände durchaus spezifische Aussagen über die unterschiedliche Entwicklung von Recht und Verfassung in den verschiedenen Regionen des Reiches möglich. Schon jetzt zeigt sich bei einem Erfassungstand von erst etwa 52,2 % der heute noch nachweisbaren Prozesse am Reichskammergericht ganz deutlich, daß mittels der Bochumer Datenbank nicht nur sehr effektiv und zuverlässig statistische Fragestellungen zu beantworten sind, sondern daß darüber hinaus vor allem – je nach Forschungsinteresse – auch der zielgerichtete Zugriff auf den Überlieferungstand zu spezifischen Einzelproblemen, und nicht zuletzt auch dessen Umfang, erheblich erleichtert wird. Freilich vermag die Nutzung der Datenbank – wie im übrigen auch die der Inventare – nicht den Gang ins Archiv zu ersetzen; sie soll aber helfen, diesen präziser vorbereiten zu können. In den Arbeiten, die bislang aus dem Bochumer Datenbankprojekt hervorgegangen sind, wurden auf der Basis vollständig in die Datenbank eingegebener Reichskammergerichtsbestände vertiefte quantitative Analysen vorgelegt. Gegenüber den älteren Arbeiten haben sie den unschätzbaren Vorteil, daß sie bezogen auf ihren jeweiligen Gegenstand – also den entsprechenden Archivsprengel – eine vollständige Auswertung aller relevanten Reichskammergerichtsprozesse beinhalten. So haben sich Anna-Maria Savelsberg29 mit

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Von 827 Fällen spielt nur in 19 Prozessen der Landfriedensbruch eine Rolle, was einer Quote von ca. 2,3 % entspricht. ANNA-MARIA SAVELSBERG, Die Pfändungskonstitution der RKGO 1555, Teil 2 Tit. 22 als ein landesherrliches Mittel zum Ausbau der Territorialstaatlichkeit, 2004; Zugleich Diss. jur. Bochum 2004.

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dem gedruckten Teil des Inventars von GHzm. Hessen-Darmstadt und Kathrin Dirr30 mit den Prozeßakten der Reichsstadt Köln sowie Christian Vajen31 mit den Prozessen aus dem Fsm. Lippe-Detmold befaßt. In einer weiteren Arbeit von Miriam Katharina Dahm32 sind die Prozesse aus dem Hzm. Braunschweig sowie von Parteien aus Territorien außerhalb des (späteren) Deutschen Bundes und die zwischen den Souveränen vor dem Reichskammergericht ausgewertet worden. Bereits übergreifenden Charakter tragen die Untersuchungen zur Prozeßüberlieferung der Reichsstädte (jedenfalls soweit sie inventarisiert sind). Nachdem Kathrin Dirr und Torsten Joecker im Sammelband „Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherungen – Fallstudien – Statistiken“ bereits ein erstes Zwischenergebnis veröffentlicht hatten,33 habe ich selbst auf dem Rechtshistorikertag 2006 in Halle über den Abschluß dieses Teilprojekts berichtet.34 Im folgenden soll etwas näher auf die Erfassungsgrundsätze der Reichskammergerichts-Datenbank und die dabei gemachten Erfahrungen sowie eine mögliche Alternative in Gestalt der Volltextdigitalisierung eingegangen werden. Das Grundkonzept der Datenbank war von Beginn auf die komplexe Erfassung großer Datenmassen zur Rechtsprechung des Reichskammergerichts auf der Grundlage der Informationen in den gedruckten Inventaren und unter Einbeziehung der bereits digitalisierten Urteilsbücher ausgerichtet. Ursprünglich war geplant, die Veröffentlichung in Gestalt einer CDROM durchzuführen; dieses Vorhaben wurde mittlerweile zugunsten einer Internetveröffentlichung aufgegeben. Dabei war es von Beginn an ein vor-

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KATHRIN DIRR, „Hoheitsrechtliche Streitigkeiten zwischen den Kölner Erzbischöfen und der Stadt Köln auf der Grundlage reichskammergerichtlicher Verfahren des 16. und 17. Jahrhunderts“, (RhistR 313), 2005; Zugleich Diss. jur. Bochum 2005. CHRISTIAN VAJEN, Die rechtliche Anerkennung reformierter Reichsstände durch den Religionsfrieden vor Abschluß des Westfälischen Friedensvertrages – Eine Darstellung auf der Basis lippischer Reichskammergerichtsprozesse, (BFR 1), 2006; Zugleich Diss. jur. Bochum 2005. MIRIAM KATHARINA DAHM, Die Pfändungskonstitution gemäß RKGO 1555, Teil 2, Tit. XXII und ihr Verhältnis zum Landfrieden, (BFR 4), 2008; Zugleich Diss. jur. Bochum 2007. KATHRIN DIRR/TORSTEN JOECKER, Die Inanspruchnahme des Reichskammergerichts durch die Reichsstädte, in: Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherung – Fallstudien – Statistiken, hg. von ANETTE BAUMANN / PETER OESTMANN / STEPHAN WENDEHORST / SIEGRID WESTPHAL (QFHG 50), 2005, S. 119-136. BERND SCHILDT, Reichsstädte vor dem Reichskammergericht (Anm. 26), S. 578-606.

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rangiges Anliegen, über den quantitativen Aspekt des Umgangs mit Massendaten hinausgehend nicht allein ein Hilfsmittel für statistische Untersuchungen zu erstellen, sondern diese Arbeit mit einer ersten inhaltlichen Analyse zu verknüpfen, die einen sehr viel leichteren und vor allen Dingen zielgerichteten Zugriff auf vielfältige rechtliche Einzelprobleme ermöglicht. Gerade das zählt zu den unbestreitbaren Vorteilen einer Datenbank gegenüber herkömmlichen Formen des Umgangs mit historischen Massendaten. Es sei aber nochmals betont, daß weder Inventare mit noch so guten Registern noch Datenbanken mit den komfortabelsten Abfragemöglichkeiten den Gang ins Archiv zu ersetzen vermögen. Alle Mitarbeiter des Datenbankprojekt, die zugleich auch Doktoranden sind, müssen den weitaus größeren Teil ihrer Dissertation auf der Grundlage des handschriftlich überlieferten Aktenmaterials erstellen; die quantifizierende Auswertung des von ihnen jeweils bearbeiteten Inventars stellt insoweit lediglich einen Einstieg in die Problematik der Reichskammergerichtsforschung dar. Teil des Konzepts war von Beginn an auch, jeweils fallbezogene andere literarische oder Quellenüberlieferungen und dabei insbesondere die schwer zugängliche Entscheidungsliteratur mit den Prozeßakten virtuell zu verknüpfen. Auch hier zeigen sich die Vorteile einer Datenbank gegenüber herkömmlichen Erfassungsmethoden. So ist die laufende nachträgliche Verzeichnung von Literatur zu einzelnen Prozessen, die entweder zunächst unbekannt war oder erst später erschienen ist, problemlos möglich und kann unter entsprechender Anleitung durchaus durch geschultes Hilfspersonal geleistet werden.35 Neben den bereits regelmäßig in die Datenbank integrierten amtlichen Urteilsbüchern36 wurde an Hand der Arbeit von Baumann37 versuchsweise auch bereits die Verknüpfung mit Relationen und Voten vorgenommen. Die vorgesehene Vernetzung mit weiteren authentischen Texten der bisher nur schwer zugänglichen ungedruckten und gedruckten Entscheidungsliteratur wird künftigen rechtshistorischen Detailforschungen eine ganz neue Dimension erschließen. 35

36 37

Ziel ist es, das aus der Datenbank für jeden einzelnen Prozeß ersichtlich wird, ob und in welcher Form er bereits literarisch behandelt worden ist. Das interessierte Fachpublikum kann durch die Übersendung einschlägiger Sonderdrucke, am besten mit Angabe der verwendeten Prozesse, die angestrebte vollständige Integrierung des gesamten einschlägigen Schrifttums sehr erleichtern. Vgl. SCHENK, Anm. 15. ANETTE BAUMANN, Gedruckte Relationen und Voten des Reichskammergerichts vom 16. bis 18. Jahrhundert. Ein Findbuch (QFHG 48), Köln Weimar Wien 2004.

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Neue, noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbare Möglichkeiten der Nutzung des Internets eröffnen uns heute noch erheblich weiter reichende Perspektiven. Das Schlagwort heißt Online-Recherche. Gedacht ist allerdings nicht an eine von jedermann veränderbare Datenbank im Netz, vergleichbar etwa mit Wikipedia, sondern vielmehr daran, daß durch Hinweise, Ergänzungen, aber selbstverständlich auch Kritik seitens der interessierten Fachwelt ständig inhaltliche und, soweit mit vertretbarem Aufwand realisierbar, auch strukturelle Veränderungen der zentral betreuten Datenbank erfolgen. So sind wir beispielsweise z. Zt. dabei, die Angaben zu den Berufsund Tätigkeitsmerkmalen der Parteien sowie deren territorialstaatliche Verortung neu zu strukturieren, um auf diese Weise die Abfragemöglichkeiten zu verfeinern und zu präzisieren. Was die praktische Nutzung der Datenbank angeht, so gestattet die momentan im Netz verfügbare Version mühelos und auf recht komfortable Weise das Kopieren einzelner Datensätze. So kann z. B. in der Detailansicht an Hand der sechs gelb hinterlegten Registerkarten deren gesamter Inhalt markiert und in die Windows-Zwischenablage kopiert werden und auf diese Weise in eine normale Word-Datei überführt werden, wobei alle aus den einzelnen Registerkarten verzeichneten Daten automatisch in der WordVersion geöffnet werden. Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit unter der Rubrik „Datei drucken“ alle geöffneten Registerkarten auszudrucken. Oberster Grundsatz bei der Erfassung der einzelnen Prozesse in der Datenbank ist es, über die reine Datenübertragung hinaus eine erste summarische inhaltliche Auswertung der Angaben in den Inventaren vorzunehmen. Dem liegt die Überlegung zugrunde, daß auf Grund der stark individuell durch die jeweiligen Bearbeiter geprägten Verbalisierung in den Inventaren, insbesondere bei den Sachverhaltsangaben, Vergleichbarkeit nur sehr bedingt gegeben ist, zumal die wenigsten von ihnen Juristen sind. Deshalb wird ein Höchstmaß an formalisierter Datenerfassung angestrebt, um eben diese Vergleichbarkeit mit Blick auf komfortable quantifizierende und den Zugriff auf Einzelprobleme eröffnende Abfragemöglichkeiten zu gewährleisten. Ferner ist zu bedenken, daß für auf den konkreten Fall bezogene Einzelheiten die Inventare weiterhin zur Verfügung stehen. Wir gehen also von einer kombinierten Nutzung aus. Den Nutzern, die an einem raschen Zugriff auf fallübergreifende spezielle Sachprobleme interessiert sind, bietet die Datenbank beste Voraussetzungen; wer dagegen nach Einzelheiten zu einem konkreten Fall sucht, wird sicher auf das Inventar, vor allem aber natürlich auf die Akten selbst zurückgreifen müssen.

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Gegen diese ganz bewußt und zielgerichtet vorgenommene starke Formalisierung der Dateneingabe wird gelegentlich vorgebracht, sie würde zu Informationsverlusten ohne Zugewinn führen.38 Eine solche Sichtweise verkennt aber folgende Fakten: Erstens führt eine derartige Vorgehensweise nicht notwendigerweise zu Informationsverlusten. Im Gegenteil: erst die konsequente Formalisierung bringt Vergleichbarkeit und insoweit vor allem auch erheblichen Informationsgewinn. Sie schafft damit deutlich bessere Voraussetzungen sowohl für übergreifende quantitative Untersuchungen als auch für spezifisch ausgerichtete inhaltliche Einzelanalysen.39 Zweitens eröffnet die Datenbank ganz neue Forschungsperspektiven.40 Sie macht nicht nur mühelos Abfragen zur regionalen Herkunft und sozialen Stellung der Prozeßparteien, sondern darüber hinaus auch vielfältige, mit zeitlichen und regional/räumlichen Kriterien kombinierte, sachbezogene und zugleich inhaltlich unterschiedlich gestufte Abfragen möglich.41 Drittens beschreiben die Angaben zum Inhalt der Prozesse in den Reichskammergerichtsinventaren Lebenssachverhalte und können insoweit keine auch nur annähernd hinreichende Klassifizierung nach juristischen Inhalten oder rechtshistorisch relevanten Kriterien bieten. Viertens schließlich besteht das Forschungsziel in der Gesamterfassung aller Reichskammergerichtsprozesse in einer mit komfortablen Abfragemög38

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Vgl. die Besprechung von RANIERI zu dem Beitrag von KATHRIN DIRR und TORSTEN JOECKER: Die Inanspruchnahme des Reichskammergerichts durch die Reichsstädte, in dem von ANETTE BAUMANN / PETER OESTMANN / STEPHAN WENDEHORST / SIEGRID WESTPHAL hg. Sammelbd.: Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherungen – Fallstudien – Statistiken (QFHG 50), 2005. S. 119-136, in ZRG GA 124 (2007), S. 593-598; vgl. dazu auch BERND SCHILDT, Reichsstädte vor dem Reichskammergericht (Anm. 26), S. 599 ff. Das alles gilt im übrigen auch für die beabsichtigte Einbeziehung der Prozeßakten des Reichshofrats und des Wismarer Tribunals. Außerdem macht die Datenbank die Suche allein nach den vor dem Reichskammergericht streitigen Rechtsproblemen möglich. Die Sachverhaltsdarstellungen wurden von den archivarischen Bearbeitern häufig auch nach den die Vorinstanzen betreffenden Angaben formuliert, wobei sie verkannten, daß vor dem RKG häufig nur noch über prozessuale Fragen oder Zuständigkeiten gestritten wurde. So kann beispielsweise bei den Verfahrensgegenständen zunächst nach schuldrechtlichen Prozessen gesucht und nachfolgend oder alternativ dazu nach einzelnen schuldrechtlichen Instituten – Darlehen, Kauf, Miete, Pacht, Wechselrecht, Werkvertrag, Forderung, Leistungsstörungen u. ä. – vertieft recherchiert werden. Teilweise besteht dann auch noch die Möglichkeit die Abfragen sogar noch weiter zu verfeinern – so ist beispielsweise beim Kauf eine weitere differenzierende Suche nach Prozessen, in denen es um Fragen der Gewährleistung, des Kaufpreises, eines Vorkaufsrechts oder des Wiederkaufs ging, mit nur jeweils einem zusätzlichen Mausklick ohne Weiteres möglich.

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lichkeiten ausgestatteten Datenbank. Es geht dabei nicht darum, die kompletten Texte der vorhandenen Inventare und lediglich in einer Datenbank zusammenzuführen. Im Gegensatz zu den mit ihr korrespondierenden und entsprechend ihrer andersartigen Funktion stärker auf Einzelheiten zum jeweiligen Prozeß bezogenen Angaben in den Archivinventaren – die ja nach wie vor zur Verfügung stehen – darf die Datenbank gerade nicht den Besonderheiten des konkreten Einzelfalles verpflichtet sein. Die Datenbank stellt insgesamt 38 Abfragekriterien42 zur Verfügung, die prinzipiell alle frei miteinander kombiniert werden können. Die einzelnen Kriterien sind geordnet nach Sachfragen, den Beteiligten am Verfahren, Problemen der archivarischen Erfassung, gerichtsbezogenen und schließlich zeitlichen Daten. Die dafür zur Verfügung stehende Suchmaske greift auf die in Tabellen erfaßten Daten zu. Dabei ist grundsätzlich zu unterscheiden in individuell zu erfassende Daten und in solche, die nach formalisierten aber im Prozeß der Dateneingabe flexibel handhabbaren Auswahllisten einzugeben sind. Zu den individuell zu erfassenden Daten zählen insbesondere: die Generalrepertoriumsnummer, die laufende Nummer des Verfahrens in der Verzeichnung des Inventars, die in der Regel identisch mit der Archivbzw. Bestellsignatur ist, das Verwahrarchiv, die Namen der Parteien, die Vorinstanzen und der Umfang der Aktenüberlieferung. Bei den beiden zuletzt genannten Erfassungsdaten erfolgt zumeist nachträglich eine weitgehende formale Angleichung des Informationsgehalts der Inventare. Diese individuell zu erfassenden Daten haben einerseits den unbestreitbaren Vorteil der Individualität, andererseits weisen sie naturgemäß eine relativ hohe Fehleranfälligkeit auf und sind nur eingeschränkt abfragefähig, was aber auch nur in begrenztem Umfang erforderlich sein dürfte. Die bei der Eingabe so großer Datenmassen unvermeidlichen Fehler43 können durch Nacharbeit aber zumindest teilweise korrigiert werden, so z. B. bei den unterschiedlichen Schreibweisen der Vorinstanzen in den einzelnen Inventaren oder bei Fehlern in der Verzeichnung der laufenden Numerierung und der Vorinstanzen. Dagegen ist eine nachträgliche Bearbeitung der Parteinamen grundsätzlich nicht möglich. Gerade in diesem Bereich sind naturgemäß die Möglichkeiten der Recherche begrenzt.

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Gegenwärtig wird an einer Erweiterung auf 45 Suchkriterien gearbeitet. Die bisherigen Erfahrungen haben im übrigen auch gezeigt, daß durch intensive Schulung und regelmäßige Beaufsichtigung der Bearbeiter die Fehlerquote bei der inhaltlichen Analyse sehr gering gehalten werden kann.

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Nicht zuletzt auch vor diesem Hintergrund erfolgt, wo immer es möglich ist, eine formalisierte Erfassung nach Auswahllisten, wobei durchgängig eine prinzipiell unbegrenzte Mehrfachauswahl möglich ist. Dabei geht es um die regionale, standesmäßige und soziale Verortung der Parteien (Reichskreis, Adel, Juden); Angaben zu den Prokuratoren mit Name, Titel und Datum der Vollmachtserteilung; Zuständigkeitsbegründung des Reichskammergerichts; Verfahrensarten, wobei hier auf grundlegende Typen verallgemeinert worden ist; Streitwert; typisierende Angaben zu den Vorinstanzen wie z. B. Gerichtsart, Hoheitsträger, Reichskreis oder Laufzeiten der Vorinstanz; Verfügbarkeit der Verfahrensakten; Verweise auf Parallelverfahren, Urteilsüberlieferung, Literatur und anderes. Insbesondere in dem sog.Verweisfeld, das auch als Auffangfeld für unvorhergesehene, sich etwa ergebende neue Aspekte der Datenerfassung gedacht ist, besteht ferner die zusätzliche Möglichkeit der im Prinzip unbegrenzten Individualeingabe. Von besonderer Bedeutung sind die inhaltlich aus den Sachverhaltsangaben zu ermittelnden Angaben zur sachlichen Erschließung. Hier erfolgt eine zweifache Verortung in Gestalt einer groben inhaltlichen Unterscheidung nach Lebenssachverhalten – „Lebensbereichen“ – und in eine solche nach juristisch klassifizierten Verfahrensgegenständen“. Daß eine solche inhaltliche Analyse – insbesondere nicht für die zuletzt genannte Fragestellung nach den rechtlichen Kriterien – mit den vorliegenden Registern der Inventare nicht zu leisten ist, wurde bereits dargelegt.44

Verfahrensgegenstand Ehe /Familie Einwendungen/Einreden Erbrecht Feudalrecht Iniurien Konkursrecht Landfriedensbruch Personenrecht Policey Recht/Gericht

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Vgl. oben II. S. 37-39.

Sachenrecht Schuldrecht Steuern/Abgaben Stiftungsrecht Strafrecht Strafrechtliche Bezüge Verfahren Verfassung/Verwaltung Vergleich

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Zur Verbesserung übergreifender Recherchen wird mittlerweile daran gearbeitet, diese 19 „Verfahrensgegenstände“ abfragetechnisch in vier Obergruppen – den „Verfahrensgegenstandsbereichen“ – zusammenzufassen: • erstens Privatrecht; mit den acht Verfahrensgegenständen: Sachenrecht, Schuldrecht, Ehe/Familie, Erbrecht, Einwendungen/Einreden, Personenrecht, Konkursrecht, Stiftungsrecht; • zweitens Gerichtsverfassung/Prozeß; mit den drei Verfahrensgegenständen: Recht/Gericht, Verfahren, Vergleich; • drittens Obrigkeit/Staat; mit den vier Verfahrensgegenständen: Feudalrecht, Verfassung/Verwaltung, Policey, Steuern/Abgaben; • viertens Kriminalität; mit den vier Verfahrensgegenständen: Landfriedensschutz, Strafrecht , Strafrechtliche Bezüge, Iniurien Ausgehend von dieser groben Klassifizierung erfolgt dann eine weitere Untergliederung nach folgendem Prinzip:

Allgemeines Gliederungs- und Abfrageschema Privatrecht † Ehe/Familie Privatrecht † Ehe/Familie † Ehe Privatrecht † Ehe/Familie † Ehe † Ehegüterrecht Privatrecht † Ehe/Familie † Ehe † Ehegüterrecht † Ehevertrag Da die jeweils höhere Abfragestruktur die nachgeordneten, spezielleren Abfragen einschließt, kann bei den Abfragen – je nach Bedarf – vom allgemeinen zum besonderen übergegangen werden. Dieser gestufte Abfragemechanismus ermöglicht nicht nur differenzierte quantitative Analysen sondern gestattet vor allem auch den Zugriff sowohl auf übergreifende Problemlagen als auch auf hochspezielle Fragestellungen.45 Mittels dieses durchgängig angewendeten Prinzips ist es möglich, entsprechend den jeweiligen Sachverhaltsangaben in den Inventaren eine allgemeine oder speziellere Zuordnung unter juristischen bzw. rechtshistorischen Gesichtspunkten vorzunehmen. Insgesamt ergeben sich für die vollständige Liste ca. 500 Auswahlmöglichkeiten, die bei Bedarf später auch ergänzt, zusammengeführt oder gestrichen werden könnten.

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Vgl. auch Anm. 41.

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Im Feld Lebensbereich erfolgt eine Zuordnung des jeweiligen Verfahrens nach allgemeinen Lebenssachverhalten ohne Rücksicht auf die streitigen Rechtsfragen. Diese Lebensbereiche lassen sich häufig nur sehr vage bestimmen. Die diesbezüglichen Angaben sind insoweit auch nur bedingt belastbar; sie vermögen aber gleichwohl bestimmte Tendenzen anzudeuten.

Lebensbereiche Archivwesen Armenwesen Bauangelegenheiten Bauerngüter/Rittergüter u.ä. Bergbau Deutschritterorden Dominikanerorden Fabriken/Manufakturen Familienangelegenheiten Forstwesen Geldwesen Gemeindeangelegenheiten Genealogie Gesundheitswesen Handel und Gewerbe Handwerk Jahrmärkte Johanniterorden Juden KA47

Kaiser/Reichsangelegenheiten Kirchenangelegenheiten Klöster und Stifte Kreisangelegenheiten Kriminalität Kurfürsten Liegenschaftswesen Markangelegenheiten Militärwesen Mühlensachen Nur Vorakte46 Rechnungswesen Religionsangelegenheiten/Reformation Schifffahrtswesen Schulwesen Staat/Verwaltung/Justiz Stiftungswesen Unklar Vermögensangelegenheiten Wappen/Siegel

Schließlich ist auf die Angaben zu den Beweismitteln besonders hinzuweisen. Auch sie werden – aus den „Darin-Vermerken“48 ermittelt – durch Auswahl aus einer vorgegebenen und in sich gestuften Auswahlliste erfasst und erweisen sich als eine wahre Fundgrube rechtshistorischer Quellenüberlieferung.

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47 48

Diese Angabe erfolgt immer dann, wenn der vom Rechtsstreit am Reichskammergericht betroffene Lebensbereich mangels Überlieferung der RKG-Akten nicht zu ermitteln war. Keine Angabe. Vgl. Anl. 3.

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Beweismittel Augenschein KA49 Parteienvernehmung Sachverständige Sachverständige † Juristenfakultät Sachverständige † Schöffenstuhl Urkunden Urkunden † Abschied Urkunden † Freiheitsbrief Urkunden † Königsurkunden Urkunden † Lehnsurkunde Urkunden † Privileg Urkunden † Rechtsquellen Urkunden † Rechtsquellen † Dorfordnung Urkunden † Rechtsquellen † Gerichtsordnung Urkunden † Rechtsquellen † Landesordnung Urkunden † Rechtsquellen † Weistum Urkunden † Testament/Vermächtnis/Legat/Kodizell Urkunden † Urteil Urkunden † Urteil † RHR Urkunden † Urteil † RKG Urkunden † Vertrag/Rezeß Urkunden † Zinsregister Verweis auf acta priora50 Zeugen

Volltextdigitalisierung als Alternative? Ein Vorteil der Volltextdigitalisierung würde zunächst zweifellos darin liegen, daß die allgemein beklagte „Zersplitterung" des Reichskammergerichtsarchivs wenigstens im virtuellen Raum überwunden werden könnte. Diese allgemein verbreitete Idee hat aber wohl auch etwas von romantischer Schwärmerei an sich. Wegen der negativen Intention der Formulierung

49 50

Keine Angabe. Bei dem Verweis auf die acta priora handelt es sich nicht um den Nachweis eines Beweismittel im eigentlichen Sinn, sondern vielmehr um die wichtige Information, daß die vorinstanzlichen Prozeßakten überliefert sind

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„Zersplitterung“ sollte man im übrigen auch besser von einer „Aufteilung“ des Archivs im 19. Jahrhundert sprechen. Selbst auf die Gefahr hin, bei einigen Anwesenden auf Widerspruch zu stoßen, möchte ich doch immerhin anmerken, daß dieser Umstand für die moderne Forschung auch bestimmte Vorteile mit sich bringt. Einen ersten würde ich darin sehen, daß die bereits weithin erfolgte Inventarisierung nicht zuletzt auch dadurch so schnell vorangekommen ist, daß gerade durch die disparate Überlieferung der Akten die Möglichkeit einer breiten Parallelerschließung in mehreren Archiven bestanden hat. Man stelle sich nur einmal vor, bei der gegenwärtig laufenden Inventarisierung der Reichshofratsakten würde Herr Sellert gleichzeitig acht oder zehn Mitarbeiter im Haus- Hof- und Staatsarchiv zur Erschließung der Reichshofratsakten einsetzen wollen. Das würde ganz sicher die dortigen Arbeitsmöglichkeiten bei weitem übersteigen. Neben dieser eher praktischen Frage läßt sich auch unter sachlichen Gesichtspunkten ein Vorteil der Aufteilung des Reichskammergerichtsarchivs schwerlich bestreiten. Die Überantwortung der Prozeßakten an die jeweiligen Nachfolgestaaten im Deutschen Bund hat de facto dazu geführt, daß die Verwahrung in den einzelnen Archiven heute zugleich eine grundlegende räumliche Ordnung der Überlieferung darstellt. Daraus ergeben sich selbstverständlich auch sehr viel komfortablere Möglichkeiten, räumliche Abfragen durchzuführen, was beispielsweise bei den Reichshofratsakten in dieser Form nur höchst unvollkommen zu realisieren sein wird. Volltextdigitalisierung ist ein Zauberwort unserer Zeit, das allerdings häufig beschworen wird, ohne sich über deren Möglichkeiten und Grenzen im klaren zu sein. Bezogen auf unsere Datenbank darf ich zunächst einmal feststellen, daß die personenbezogenen und zeitlichen Daten zu den Parteien und Prokuratoren sowie die zu den Vorinstanzen inhaltlich ohnehin komplett in die Datenbank übernommen werden. Ferner werden die Angaben zum Überlieferungsumfang in vereinheitlichter Form ebenfalls weitgehend vollständig wiedergegeben. Im Prinzip erfolgt also lediglich bei den Sachverhaltsbeschreibungen und bei den Darin-Vermerken keine vollständige Aufnahme nach dem Wortlaut der Inventare sondern eine verkürzte und bewußt formalisierte inhaltliche Auswertung. Daß darin angesichts des Umstandes, daß die gedruckten Inventare ja weiterhin zur Verfügung stehen, eher ein Vorteil denn ein Nachteil zu sehen ist, wird noch zu zeigen sein. Zunächst einmal ist jedoch auf einige Problemlagen bei einer Volltextdigitalisierung etwas näher einzugehen. Es stellen sich nämlich sowohl rechtliche als auch praktische und sachliche Fragen: aus rechtlicher Sicht ist zunächst klar, daß eine Volltextaufnahme der Inventare ohne Genehmigung

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durch die entsprechenden Verlage, bei denen die jeweiligen Inventare erschienen sind, nicht möglich sein wird. Daß diese aus verständlichen kommerziellen Gründen nicht an einer derartigen allgemein zugänglichen Internetveröffentlichung interessiert sein können, liegt auf der Hand. Es gibt auch bereits erste und deutliche Signale dafür, daß eine solche Genehmigung zumindest für die zahlreichen jüngeren Inventare zeitnah nicht zu erlangen sein wird. Auch die praktischen Widrigkeiten einer Volltextdigitalisierung dürfen nicht unterschätzt werden. Zahlreiche, vor allem ältere Inventare sind digital nicht verfügbar, selbst das neuere moderne Stuttgarter Inventar ist zwar auf digitaler Basis erstellt, aber nach Auskunft des Archivs in einer technischen Version, die heute nicht mehr lesbar und auch nicht konvertierbar ist. Als Alternative käme Texterkennung in Betracht, die aber wegen der besonderen Struktur der Inventare mit einer Vielzahl von Zahlen und Sonderzeichen wenig sinnvoll ist. Die Fehlerquote wäre selbst bei guten Textvorlagen, deren Existenz für die älteren Inventare keineswegs sicher ist, viel zu groß. Bei dem zu erwartenden Korrekturaufwand wäre alternativ von vornherein an eine Neuaufnahme des Textes zu denken, was wiederum fehleranfällig und außerordentlich arbeitsaufwendig wäre. In Betracht käme auch eine Bildeinscannung, diese würde aber wiederum keinerlei Abfragen ermöglichen. Vor dem Hintergrund dieser praktischen und rechtlichen Schwierigkeiten müssen auch die nachfolgend zu behandelnden sachlichen Probleme gesehen werden. Nach meinen Erfahrungen sind Volltextrecherchen für komplexe und zugleich quantifizierende Abfragen jedenfalls für die hier in Rede stehenden Quellen weitgehend ungeeignet. Lassen Sie mich das an einigen Beispielen verbaler Textabfragen verifizieren: Bei der Datenbankeingabe in die Bochumer Datenbank werden die in der Regel im Inventar mitgeteilten Berufsbezeichnungen der Parteien unverändert aufgenommen; insoweit handelt es sich um eine partielle Volltextaufnahme. Hierzu ein Beispiel aus dem Düsseldorfer Inventar:51 (2) Kläger: Palmatius Haas, Kaufmann, Köln und Düren, (Kl.) (3) Beklagter: Bartholomäus Harper, Düren (Bekl.) Streitgegenstand: Anspruch auf den Nachlaß des Werner Haas, bestehend aus einem Haus in Düren in der Kölner Straße und zahlreichen Grundstücken in und um Düren. Der Appellant ist ein Sohn des Werner Haas und der Catharina Trostorfs, die

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14/2.208.

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nach dem Tode ihres ersten Mannes, während ihr Sohn noch minderjährig war, den Appellaten heiratete. Nach ihrem Tod kam es zum Streit um die Güter, da Palmatius Haas behauptete, er sei der Erbe seines Vaters, seine Mutter sei lediglich Leibzüchterin gewesen; sein Stiefvater habe deshalb keine Ansprüche. Ersichtlich geht es in diesem Fall um Erbstreitigkeiten und nicht um Kaufrecht. Daß dies kein Einzelfall ist, zeigt eine entsprechende Teilfeldabfrage in der Datenbank nach dem Suchkriterium „Namen der Parteien“ nach dem Begriff „Kaufmann“. Die Recherche erbringt in der gegenwärtig im Netz stehenden Version 297 Nachweise; gibt man „Kaufleute“ ein, erhält man 24 Treffer. Eine Recherche nach dem verkürzten Suchkriterium „Kauf“ ergibt sogar 338 Treffer, aber lediglich in 20 Fällen geht es dabei ausweislich der Sachverhaltsbeschreibungen vor dem Reichskammergericht tatsächlich um kaufrechtliche Probleme. Mit Blick auf eine Recherche nach dem Verfahrensgegenstand würden also – je nach Wahl des Suchbegriffes – bis zu 15 mal mehr Treffer erzielt werden, als es dem tatsächlichen Inhalt der so ermittelten Verfahren entspricht. Bei einer Volltextaufnahme der Inventare, die auch noch die gesamte Begrifflichkeit der Sachverhaltsbeschreibungen und der Darin-Vermerke einbezöge, würde sich die Zahl der Treffer bei der Abfrage mit dem Begriff „Kauf“ zweifellos noch deutlich erhöhen. Gleichwohl könnte daraus nicht ohne Weiteres geschlossen werden, daß in einem Verfahren, wo im Sachverhalt bzw. in den Darin-Vermerken der Begriff „Kauf“ oder in einer Wortverbindung beispielsweise als „Kaufvertrag“ vorkommt, zugleich kaufrechtliche Probleme für den Fall relevant gewesen sind. So findet sich beispielsweise in einem Düsseldorfer Fall52 unter den Darin-Vermerken als Beweismittel (offenbar der Vorinstanz) ein „Kaufvertrag“.53 Laut Sachverhalt forderte der Appellant von den Appellaten: Schadensersatz von 1.000 Gulden, die sie daraufhin für die Besetzung des Hauses Antweiler mit Soldaten aufgebracht hatte, ein Legat von 6.000 Gulden samt restierender Leibzucht aus den gen. Gütern sowie den Nießbrauch des Hauses Johanns in Münstereifel, das er von seiner Schwester geerbt hatte, und des Nachlasses seiner Schwester.

52 53

14/0.052. Kaufvertrag betr. 12 Malter Korn Kölner Maßes.

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Kaufrechtliche Probleme haben also am Reichskammergericht auch in diesem Fall ersichtlich keine Rolle gespielt. Recherchiert man demgegenüber allein bei den aus den Sachverhaltsbeschreibungen nach formalen Vorgaben ermittelten Verfahrensgegenständen zeigt sich, daß es sachlich sogar in 379 Prozessen um Probleme des Kaufrechts gegangen ist, wobei in der überwiegenden Zahl der Fälle der Terminus „Kauf“ gar nicht auftaucht. Die Beispiele zeigen, daß reine Wortlautrecherchen auf der Grundlage einer Volltexterfassung der Inventare die die o. g. Mängel54 traditioneller Register sogar noch potenzieren würde. Vor diesem Hintergrund spricht momentan deutlich mehr gegen als für die Volltextvariante einer digitalen Erfassung. Allerdings ist die Entscheidung in dieser Frage keineswegs eilbedürftig – sie kann einstweilen dahinstehen. Eine spätere Ergänzung um den Volltext wäre bei Bedarf problemlos möglich und könnte wegen des zu erwartenden Fortschritts in der Scanntechnik künftig wohl auch effektiver und weitgehend mit Hilfskräften vorgenommen werden. Die Frage bliebe aber noch zu klären, ob und inwieweit Aufwand und Nutzen hier in einem vernünftigen Verhältnis stehen würden. Ein sehr viel dringenderes Problem ergibt sich allerdings aus einem anderen Umstand. Bekanntlich sind die Prozeßakten und die Entscheidungsliteratur (Urteile, Relationen und Voten) getrennt überliefert. Dieser die Forschung überaus erschwerende Zustand sollte mittels einer digitalen Verknüpfung überwunden werden. Die nur schwer verfügbare Entscheidungsliteratur muß dabei unbedingt – anders als die Archivinventare – im Volltext als Bilddatei mit den jeweiligen Verfahrensakten digital vernetzt werden. Darüber hinaus wäre es dringend erforderlich, die Überlieferung von Prozeßakten und Spruchratpraxis des Reichshofrates wie des Wismarer Tribunals und unter Umständen auch die weiterer Höchstgerichte in die bestehende Datenbank zum Reichskammergericht einzuarbeiten. Dies würde einem wichtigen Anliegen entsprechen, nämlich der Überwindung der bei der Erforschung der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Alten Reich leider schon traditionellen einseitigen Konzentration auf das Reichskammergericht. Zugleich würden sich daraus sehr effektive Möglichkeiten vergleichender Analysen für die gesamte höchstrichterliche Judikatur im Alten Reich ergeben.

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Vgl. II.

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Bernd Schildt

Abschließend sei noch auf einen weiteren Gesichtspunkt hingewiesen: Über die Entscheidungsträger der höchstrichterlichen Judikatur wissen wir immer noch viel zu wenig. Deshalb wäre in einer etwas weiter gedachten Perspektive auch die Integration von prosopographischen Daten zur Juristenelite im Alten Reich anzudenken. Hierbei könnte einerseits an einer Reihe von entsprechenden Vorarbeiten (Jahns55, Baumann56, Stein57, Klass58) angeknüpft werden, andererseits ist auf diesem Feld aber auch noch viel Forschungsarbeit zu leisten. Im Ergebnis könnte auf diese Weise in einem „Informationsportal zur Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich“ die Rechtsprechungstätigkeit der höchsten Gerichte des Reiches mit ihren Trägern – der juristischen Funktionselite – virtuell zusammengeführt und so der Forschung leicht zugänglich gemacht werden. Wie das im einzelnen aussehen könnte, mag das nachfolgende Strukturmodell verdeutlichen: Höchstgerichtliche Verfahren – Datenbank –

Entscheidungsliteratur (Urteile, Relationen, Voten) – erschlossene PDF-Dateien –

Juristische Funktionselite – Datenbank –

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SIGRID JAHNS, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. Teil II: Biographien Teile. 1 und 2, (QFHG 26 II 1 u. II 2) , Köln Weimar Wien (2003). Der für die Auswertung vorgesehene erste Bd. ist noch nicht erschienen. ANETTE BAUMANN, Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690-1806). (QFHG 51), Köln Weimar Wien 2006. ANKE STEIN, Advokaten und Prokuratoren am Reichskammergericht (1693-1806) als Rechtslehrer und Schriftsteller (Juristische Reihe TENEA/www.jurawelt.com; 2). ANDREAS KLASS, Standes- oder Leistungselite? Eine Untersuchung der Karrieren der Wetzlarer Anwälte des Reichskammergerichts (1693-1806) (RhistR 260), Frankfurt am Main 2002.

WERNER TROßBACH

Gar herrlichen [...] zu lesen bei dem Zasio Die Einbeziehung von Prozessen bäuerlicher Untertanen gegen ihre Obrigkeit in die Kameraljudikatur

I. Spätestens seit dem Jahr 1500 konnten Bauern auf verschiedene Weise mit dem höchsten Reichsgericht in Kontakt kommen, als Individuen und im Gemeindeverband, als Kläger und als Appellanten. Tatsächlich gehörten Bauern zumindest nach 1648 im Umfeld des Gerichts quasi zum Straßenbild. Als der 1681 nach Speyer gesandte Amtmann Vigelius seinem Auftraggeber, dem Grafen von Isenburg, Bericht erstatteten sollte, schrieb er mit leichter Entrüstung: Es lauffet so voll Bauren auch von andern Orthen hier, daß die Herrn (Assessoren, W. T.) keine Ruhe haben. Beinahe hundert Jahre später gab der RKG-Prokurator Zwierlein den Eindruck wieder, man sehe täglich die Bauren schaarenweis in Wetzlar auf die Sollicitur ziehen.1

In Anette Baumanns Stichproben zur Gerichtsnutzung im 17. und 18. Jahrhundert ist die soziale Kategorie „Bauer“ hingegen nur marginal aufgeführt, und zwar in zwei Fällen unter der Rubrik „Ehemann der Klägerin“2. Ob darunter die Klage der Katharina Legendre aus Steinbiedersdorf in der lothringischen Grafschaft Kriechingen begriffen ist, die 1785 das RKG in einer Erbschaftsangelegenheit einzuschalten versuchte3, sei dahingestellt. 1

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WERNER TROßBACH, Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bauernbewegungen in hessischen Kleinterritorien 1648 – 1806 (Sozialgeschichtliche Bibliothek 1), Weingarten 1987, S. 247 f. ANETTE BAUMANN, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse (QFHG 36), Köln Weimar Wien 2001, S. 151. Auch für das 16. Jahrhundert ist der Anteil der bäuerlichen Bevölkerung an den Klagen als „minimal“ bezeichnet worden: FILIPPO RANIERI, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption: eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert (QFHG 17, I), Köln Wien 1985, S. 229. CLAUDIA ULBRICH, Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts (Aschkenas Beih. 4), Wien Köln Weimar 1999, S. 98.

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Immerhin lassen sich jenseits der Stichproben weitere Einzelfälle4 eruieren, darunter ein Erbschaftsprozess bereits im 16. Jahrhundert, in dem für das Bremer Amt Neuhaus geklärt werden sollte, ob Enkel ihre Großeltern direkt beerben könnten5. In anderem Kontext steht die Klage des Bauern Wichardt aus Steinheim (Westfalen), der 1606 eine Schuldforderung des Juden Samuel über 209 Gulden abzuwehren suchte. Er bekam jedoch nicht recht6. Martin Kötterl aus Neufahrn bei Freising erhielt dagegen ein Jahr später ein Mandat gegen Herzog Maximilian von Bayern, nachdem ihn bayerische Behörden in einem Schuldenverfahren für drei Jahre des Landes verwiesen hatten7. Paul Schuler aus Weilmünster wiederum hatte bereits 1551 Schadensersatz von seinem Landesherrn, dem Grafen von Nassau-Saarbrücken, verlangt, weil er wegen Unterschlagung von Zehntabgaben arrestiert worden war8. Wenngleich Tiefenbohrungen weitere Individualprozesse aus dem ländlichen Milieu zu Tage fördern dürften9, so gilt doch insgesamt die Schlussfolgerung, die aus der Analyse der Injurien-10 wie der Hexenprozesse11 gezogen worden ist: Die Landbevölkerung war weit unterproportional am RKG vertreten, sowohl im Hinblick auf ihren Anteil an der Gesamtgesellschaft wie auf ihre sozusagen erstinstanzliche Betroffenheit. Weniger gilt dies allerdings für die Rolle als Zeugen, die Dorfbewohner in großer Zahl, in dieser Eigenschaft allerdings nur vermittelt und aus der Ferne, mit dem Gericht in Kontakt brachte12. 4

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JOHANNES ARNDT, Der Fall "Meier Cordt contra Graf zur Lippe". Ein Untertanenprozeß vor den Territorial- und Reichsgerichten zwischen 1680 und 1720 (SchrRGesRKGForsch 20), Wetzlar 1997. BERNHARD DIESTELKAMP, Rechtsfälle aus dem Alten Reich. Denkwürdige Prozesse vor dem Reichskammergericht, München 1995, S. 286-291. ARNO HERZIG, Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (SchrR. der Bundeszentrale für Politische Bildung 491), Bonn 2006, S. 106. STEFAN BREIT, Die ganze Welt in der Gemain. Ein paradigmatischer Fall aus Bayern, in: Wald – von der Gottesgabe zum Privateigentum. Gerichtliche Konflikte zwischen Landesherren und Untertanen um den Wald in der frühen Neuzeit, hg. von STEFAN VON BELOW und STEFAN BREIT (QFA 43), Stuttgart 1998, S. 57-236, 195 f. GEORG SCHMIDT, Bauernunruhen in Weilmünster (1563-1588), in: Nassauische Annalen 95 (1984), S. 91-117, 95. PETER OESTMANN, Hexenprozesse am Reichskammergericht (QFHG 31), Köln Weimar Wien 1997, S. 371. RALF-PETER FUCHS, Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht 1525-1805 (ForschRegGesch 28), Paderborn 1999, S. 82. OESTMANN, Hexenprozesse (Anm. 9), S. 369-373. ALEXANDER SCHUNKA, Soziales Wissen und dörfliche Welt. Herrschaft, Jagd und Naturwahrnehmung in Zeugenaussagen des Reichskammergerichts aus Nordschwaben – 16.-

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Die Scharen von Bauern, die Zwierlein 1767 wahrnahm, sind in ihrer großen Mehrheit anderen „Gattungen von Klagen“ zuzuordnen, von denen der Prokurator meinte, sie seien leider in neueren Zeiten so häufig geworden. Es handelt sich um die bekannten Prozesse im Gemeinde- und z. T. auch im Territorialverband, die gegen die eigene Obrigkeit geführt wurden. Im Einzelfall standen sie in Zusammenhang mit einigen der genannten Individualklagen. Katharina Legendre war das RKG aus dem Prozess der Kriechinger Untertanen mit ihrem Landesherrn, dem Grafen von WiedRunkel, bekannt. Umgekehrt konnte 1560 die Gemeinde Weilmünster auf der Erfahrung des Peter Schuler aufbauen, als sie Beschwerden gegen ihren Landesherrn, den Grafen von Nassau-Saarbrücken, an das RKG brachte. Martin Kötterl wiederum unterstützte die Ebersberger Waldgenossenschaft, die es 1607 gewagt hatte, den bayerischen Herzog vor die Schranken des Gerichts zu fordern13. Die von Zwierlein beobachteten Verbandsprozesse waren tatsächlich kameralrechtlich als besondere „Gattung von Klagen“ hervorgehoben14, jedoch nicht sozialgeschichtlich als Bauern-, sondern verfassungsgeschichtlich als Untertanenprozesse. Spezielle Verfahrensvorschriften galten seit 1594 bzw. 165415 nicht nur, wenn Dorf-, sondern auch wenn Stadtgemeinden und landständische Korporationen ihre Landesherren verklagten. In der besonderen verfahrensrechtlichen Behandlung der Untertanenprozesse war in gewisser Weise die Erinnerung aufbewahrt, dass das RKG bei seiner Gründung nicht für das Ringen von Untertanen und Obrigkeiten vorgesehen worden war. In der Ordnung von 1495 waren als Nutzer lediglich Kurfürsten, Fürsten und Fürstenmäßige sowie Prälaten, Grafen, Herren und Reichsstädte genannt. Bürger und Bauern wurden erst im Jahre 1500 vom Reichstag nachgetragen, und zwar nach Anfragen aus der Praxis (dubia cameralia), die das

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17. Jh. (Münchner Studien zur neueren und neuesten Gesch. 21), Frankfurt a. M. 2000; SABINE ULLMANN, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564-1576) (Veröff. des Inst. für europ. Gesch. Mainz 214: Abt. Universalgesch. Beitr. zur Sozial- und VerfG des Alten Reiches 18), Mainz 2006, S. 289 f. Vgl. Anm. 3, 7, 8. JULIA MAURER, Der "Lahrer Prozeß" 1773-1806. Ein Untertanenprozeß vor dem Reichskammergericht (QFHG 30), Köln Weimar Wien 1996, S. 168-178. RITA SAILER, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (QFHG 33), Köln 1999, S. 13.

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Kammergericht 1496 und 1498 vorgebracht hatte16. Ähnlich wie bereits Prälaten, Grafen, Herren und Reichsstädte wurden sie im Falle von Klagen gegen einen Fürsten an die Austrägalgerichtsbarkeit17 verwiesen, allerdings war ausdrücklich nur der Fall vorgesehen, dass der beklagte Fürst nicht der Landesherr der Kläger war18. Klagen von Untertanen gegen die eigene Obrigkeit, ob dem Fürstenstand zugehörig oder nicht, waren nicht geregelt19. E contrario hätte man allerdings folgern können, dass „den unteren sozialen Schichten am Kammergericht ein erstinstanzliches Klagerecht zumindest gegen Reichsunmittelbare unterhalb der Fürsten zustand.“20. Die Austrägalprivilegien der Fürsten wurden 1521 jedoch auf Grafen und Freiherren ausgedehnt21. Ob es an dieser Regelung lag, dass das RKG bis an die Schwelle des Bauernkriegs in den zahlreicher werdenden Konflikten zwischen Bauern und Landesherren nicht zum Zuge kam, sei allerdings dahingestellt. In der Praxis wurden jedenfalls die im Spätmittelalter entwickelten Lösungswege beibehalten, die in der Einschaltung benachbarter Reichsstände bestanden22. Für Klosterherrschaften nahmen diese Verantwortung in besonderer Weise die Vögte wahr23, für Adelsterritorien die Lehensherren24. Sie waren oft als Kommissionen zusätz-

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PETER SCHULZ, Die politische Einflussnahme auf die Entstehung der Reichskammergerichtsordnung 1548 (QFHG 9), Köln Wien 1980, S. 156. SCHULZ, Die politische Einflußnahme (Anm. 16), 171. Vgl. auch NILS MEURER, Die Entwicklung der Austrägalgerichtsbarkeit bis zur Reichskammergerichtsordnung von 1495, in: Prozesspraxis im Alten Reich, hg. von ANETTE BAUMANN / PETER OESTMANN / STEPHAN WENDEHORST / SIEGRID WESTPHAL (QFHG 50), Köln Weimar Wien 2005, S. 17 – 52. HELMUT GABEL, Daß ihr künftig von aller Widersetzlichkeit, Aufruhr und Zusammenrottierung gänzlich abstehet. Deutsche Untertanen und das Reichskammergericht, in: Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, hg. von INGRID SCHEURMANN, Frankfurt a. M. 1994, S. 273-280, 274 f. MALTE HOHN, Die rechtlichen Folgen des Bauernkrieges von 1525 (Schr. zur R.Gesch. 112), Berlin 2004, S. 287. GABEL, Widersetzlichkeit (Anm. 18), S. 274. HOHN, Die rechtlichen Folgen (Anm. 19), S. 287; SCHULZ, Reichskammergerichtsordnung (Anm. 16), S. 158 f. RALF FETZER, Untertanenkonflikte im Ritterstift Odenheim vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des Alten Reiches (Veröff. der Komm. für Geschichtliche LK in BadenWürttemberg: Reihe B, Fg. 150), Stuttgart 2002, S. 127. PETER BLICKLE / ANDRÉ HOLENSTEIN, Agrarverfassungsverträge. Eine Dokumentation zum Wandel in den Beziehungen zwischen Herrschaften und Bauern am Ende des Mittelalters (QFA 42), Stuttgart 1996, S. 5. GÜNTHER FRANZ, Der Deutsche Bauernkrieg, AktenBd., 6. Aufl., Darmstadt 1987, S. 134143; SAILER, Untertanenprozesse (Anm. 15), S. 73.

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lich legitimiert bzw. organisiert, teils durch den Kaiserhof, im Südwesten fast durchgängig durch den Schwäbischen Bund25. Dieser hatte im Jahre 1500 den Communen der vntertan weitreichende Verfahrensgarantien für den Fall erteilt, dass sie iren herren / irer oberkayt und gehorsam nit entziehen und ihre Klagen an die gemaine versamlung des Bunds gelangen ließen26. Die zahlreichen Auseinandersetzungen in den Reichsstädten wurden dagegen noch weitgehend intern gelöst27, wenngleich in Einzelfällen auch kaiserliche Schiedskommissionen zum Einsatz kamen28.

II. Das RKG wurde erst im Bauernkrieg ins Spiel gebracht, und zwar in einer Situation, in der die Vertreter des Schwäbischen Bundes erkennen mussten, dass sie nicht mehr als überparteilich empfunden wurden. Daher boten sie am 16. Februar 1525 dem Hauptmann des Baltringer Haufens eine Schlichtung durch das RKG an29. Im Hintergrund stand offenbar das Vorbild des Hochrheingebietes, wo eine Gruppe von Obrigkeiten am 10. Februar mit ihren Untertanen vereinbart hatte, das RKG in ihre Auseinandersetzungen einzuschalten30. Nachdem sich die Bauern zunächst sogar darauf eingelassen hatten, ihre Klagen Gemeinde für Gemeinde einzugeben, kam es am 20. April 1525 unter dem Einfluss benachbarter Aufständischer zu einer abrupten Wende. Die Formulierung der Zwölf Artikel aufnehmend, erklärten die Bauern, es sei nunmehr ihr will und begeren […,] unsern herren zu thun alleß, dass wir ynen schuldig sind zu thun nach lutt dem gottlichen rechten und ußwysen der gettlichen geschrift.31 Der rechtliche Austrag solle daher still ston. Ul-

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HORST CARL, Der Schwäbische Bund 1488-1534. Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation (Schrswdt.LK 24), Leinfelden-Echterdingen 2000, S. 482-491. BLICKLE, HOLENSTEIN, Agrarverfassungsverträge (Anm. 23), S. 5, Anm. 38. THOMAS LAU, Die Reichsstädte und der Reichshofrat, in: Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis, hg. von WOLFGANG SELLERT (QFHG 34), Köln Wien 1999, S. 129-153. CARL, Der Schwäbische Bund (Anm. 25), S. 489-491. GÜNTHER FRANZ, Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges (Ausgewählte Qu. zur dt. Gesch. der NZ; Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 2), Darmstadt 1963, S. 146 f. HIROTO OKA, Der Bauernkrieg in der Landgrafschaft Stühlingen und seine Vorgeschichte, Konstanz 1998, S. 23 f., 239-260. HOHN, Die rechtlichen Folgen (Anm. 19), S. 285 f.; OKA, Bauernkrieg (Anm. 30), S. 281 f.

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rich Schmid, der Hauptmann der Baltringer, hatte bereits Mitte Februar Verhandlungen vor dem RKG mit dem Hinweis auf das göttliche Recht abgelehnt32. Um so erstaunlicher, dass auch nach der Niederlage das RKG wieder thematisiert wurde, und zwar im ratschlag gemainen fridens, dem zweiten Gutachten des Großen Ausschusses auf dem Reichstag zu Speyer. Demnach sollte Bauern im Konfliktfall freigestellt sein, einen benachbarten Reichsstand als Anwalt vorzuschlagen. Falle dies den Untertanen jedoch beschwerlich, sollten sie ihre Sache selbst führen, wie dies die Kammergerichtsordnung festlege33. Dieser Verweis, wie das Gutachten insgesamt unter Zeitdruck zustande gekommen, übersah, dass die RKGO weder die Zuständigkeit eindeutig regelte noch ein Procedere bei Klagen von Bauern gegen die eigene Obrigkeit vorsah. In den Reichsabschied wurde dieser Vorschlag bekanntlich nicht aufgenommen, lediglich ein allgemeiner Appell an die Reichsstände, ihren Untertanen die Vorlage von Beschwerden gegen eventuelle Verfehlungen der Amtleute zu gestatten. Für die Regelung der Grundprobleme hatte man offenbar nicht – wie möglicherweise der Große Ausschuss – das Beispiel des Hegaus im Auge, sondern andere, kurz nach dem Bauernkrieg entwickelte Vorbilder, etwa die vertragliche Einigung des Fürstabtes von Kempten mit seinen Untertanen im Januar 1526 oder die im Frühjahr 1526 aufgenommenen Verhandlungen des Bauernjörgs, des Truchsessen von Waldburg, der seine eigenen Untertanen aufgefordert hatte, ihm Beschwerden vorzulegen34. Das RKG wurde im Reichabschied zwar erwähnt, aber nur um Klagen bzw. Appellationen von Geschädigten gegen Übergriffe zuzulassen, die im Bauernkrieg von Untertanen eines fremden Fürsten verübt worden waren. Eine solche Regelung war deshalb notwendig, weil es sich bei den Schädigern um Personen handelte, die nicht reichsunmittelbar waren. Die älteren RKGOen sahen eine reichsgerichtliche Klageerhebung gegen diesen Personenkreis nicht vor. Von dieser Neuregelung wiederum ausdrücklich ausgenommen waren Untertanen der im Schwäbischen Bund organisierten Ob-

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HOHN, Die rechtlichen Folgen (Anm. 19), S. 282; FRANZ, Quellen (Anm. 29), S. 146 f. GÜNTER VOGLER, Der deutsche Bauernkrieg und die Verhandlungen des Reichstags zu Speyer 1526, in: ZfG 23 (1975), S. 1396-1410, 1407. PETER BLICKLE, Die Revolution von 1525, München Wien 1981, S. 258.

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rigkeiten, da der Bund Strafen und Schadensersatz selbst durchsetzte35, aber auch wieder als Vermittler auftrat. Die Intention des Reichsabschieds kam daher zunächst nur außerhalb des Bundesgebietes zur Geltung36, u.a. im Elsass, wo die Klöster Weißenburg und Selz Schadensersatz von den im Bauernkrieg höchst aktiven vier großen Dörfern im Hattgau verlangten37. Weniger der Intention des Reichsabschiedes, wohl aber der RKGO entsprach die Klage der Reichsstadt Mühlhausen und ihrer Ratsdörfer, die unter Berufung auf den Landfriedensbruchparagraphen in einer Klage gegen Kurmainz und den Abt des Klosters Reifenstein Strafmaßnahmen und Rachefeldzüge von Adel und Klerus des Eichsfeldes thematisierten38, die in der Endphase des Bauernkrieges stattgefunden hatten. Einwände gegen Strafen und Schadensersatzforderungen brachten schließlich auch Individuen an das RKG, und zwar sogar gegen die eigene Obrigkeit, wobei 1540 der Graf von Hohenlohe als Betroffener unter Hinweis auf die Beschlüsse von 1521 die Anrufung der Austräge verlangte39. Während die Beschwerde des Grafen von Hohenlohe den Prozess zum Erliegen brachte, gelang es Eberhart Augenreich aus Dürkheim in der Pfalz, seinen ehemaligen Landesherrn, den Grafen von Leiningen, in einen langwierigen Prozess zu verwickeln, in dem er die Rückgabe seines als Strafe für sein Verhalten im Bauernkrieg eingezogenen Vermögens forderte40. Da das RKG auf diese Weise Aktivitäten entwickelte, die über den Wortlaut des Reichsabschieds hinausgingen, kann es nicht überraschen, dass 1530 auf dem Augsburger Reichstag Beschwerden von Kurfürsten und Fürsten laut wurden. Der Reichsabschied rügte jedoch nicht die Annahme der vielfältigen Verfahren durch das RKG als solche, sondern lediglich das leichte Er-

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THOMAS F. SEA, Schwäbischer Bund und Bauernkrieg. Bestrafung und Pazifikation, in: Der deutsche Bauernkrieg 1524-1526, hg. von HANS-ULRICH WEHLER, Göttingen 1975, (Gesch. und Ges. Sonderheft 1), S. 129-167. HOHN, Die rechtlichen Folgen (Anm. 19), S. 299-302. JEAN ROTT, Neue Quellen und Darstellungen über den Bauernkrieg im Unterelsaß, in: Reform, Reformation, Revolution, hg. von SIEGFRIED HOYER, Leipzig 1980, S. 212-221; WOLFGANG PRANGE, Vom Reichskammergericht in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (QFHG 42), Köln Weimar Wien 2002, S. 48. THOMAS T. MÜLLER, Bauernkrieg nach dem Bauernkrieg. Die Verwüstung der Mühlhäuser Dörfer Dörna, Hollenbach und Lengefeld durch Eichsfelder Adel und Klerus, Duderstadt 2001. HOHN, Die rechtlichen Folgen (Anm. 19), S. 294. WILLI ALTER, Eberhard Augenreich (1474-1550). Ein Bauernkriegsschicksal, in: Mitteilungen des Hist. Vereins der Pfalz 77 (1979), S. 145-229 und 78 (1980), S. 223-299.

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kennen von Mandaten und Ladungen in Fällen, in denen die Kläger bereits Urfehden geschworen hätten. Selbst bezüglich dieser Praxis kam es nur zu einem relativ milden Tadel; Abhilfe zu schaffen, sollte den Kommissaren, der Visitation also, überlassen werden41. Diese schlugen dann vor, künftig solle das RKG, wenn bereits eine Urfehde vorliege, vor einer Entscheidung die Obrigkeit des Klägers zum Bericht auffordern42. Nach dem Bauernkrieg kamen an das RKG nun endlich auch Fälle, in denen bäuerliche Untertanen Beschwerden gegen ihre Landesherren vorbrachten, die sich nicht primär auf das Bauernkriegsgeschehen bezogen. Es war sicher kein Zufall, dass zunächst Dörfer aus der unmittelbaren Umgebung Speyers vorstellig wurden, z. B. die Gemeinde Münzesheim und die Dörfer des Ritterstifts Odenheim43. Da die betreffenden Dörfer zumeist im Bauernkrieg aktiv gewesen waren, ließen sich ihre Beschwerden – auch wenn sie als neu bezeichnet wurden – jedoch selten von Straf- und Schadensersatzfragen trennen, so z. B. im Fall der bereits erwähnten vier großen Dörfer des Hattgaus, die 1528 ihrerseits den Grafen von Hanau verklagten und u.a. verlangten, er solle die Waldnutzung wieder ermöglichen, wie sie vor der beurisch uffrur üblich gewesen sei44. Das RKG nahm diese zunächst wenig zahlreichen Klagen ohne ausdrückliche reichsrechtliche Kompetenzzuweisung an und ließ z. B. im Hattgauer Fall bereits in den 1520er und 1530er Jahren ganze Kaskaden von Mandaten ergehen. Durch die RKGO war diese Praxis freilich nicht abgedeckt. Somit bestanden dubia cameralia, und das RKG wäre gemäß Art. 32 der RKGO von 1495 verpflichtet gewesen, eine Entscheidung des Reichstags einzuholen. In der Praxis wurde dieser Schritt allerdings – auch außerhalb der Untertanenprozesse45 – immer seltener unternommen. Dem entspricht, dass nach 1530 die Reichstage mehr und mehr ihre Aufsichtskom-

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HOHN, Die rechtlichen Folgen (Anm. 19), S. 341. HOHN, Die rechtlichen Folgen (Anm. 19), S. 341.; KLAUS MENCKE, Die Visitationen am Reichskammergericht im 16. Jahrhundert (QFHG 13), Köln Wien 1984, S. 46. FETZER, Odenheim (Anm. 22), S. 133, Anm. 34; STEFFEN WUNDERLICH, Das private Protokollbuch des Mathias Alber (RKG-Assessor 1523/33) – Innenansichten der Konturierung des „Rechtsraums Altes Reich“ durch Rechtsprechung, in: Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung, hg. von ANJA AMEND / ANETTE BAUMANN / STEPHAN WENDEHORST / SIEGRID WESTPHAL (QFHG 52), Köln Weimar Wien 2007, S. 69-108, S. 99. ROTT, Unterelsaß (Anm. 37), S. 217; Saarbrücker Arbeitsgruppe: Huldigungseid und Herrschaftstruktur im Hattgau (Elsaß), in: JbwdtLgesch. 6 (1980), S. 117-155, 129. SCHULZ, Reichskammergerichtsordnung (Anm. 16), S. 181.

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petenz an die Visitationskommissionen abgaben, die diese wiederum seit der Jahrhundertmitte angesichts der zunehmenden konfessionellen Querelen immer weniger wahrnehmen konnte. Die Kameralen nutzten den Spielraum, das entstehende Vakuum aus einem ihnen gut vertrauten Fundus zu füllen: dem römischen Recht. Seine Bedeutung für den jeweiligen Einzelfall ist bisher zwar nur in bruchstückhaft enthaltenen Stellungnahmen erkennbar46, deutlicher zeichnen sich jedoch die weiter gefassten Konturen und Perspektiven ab. Eine wichtige Schleuse, durch die das gelehrte römische Recht in den deutschen Sprachraum gelenkt wurde, war bekanntlich die Freiburger Rechtsschule des Ulrich Zasius47. Seit längerem wissen wir, dass Zasius über seine Schüler, die sich als Prokuratoren und Assessoren am RKG etablierten, eine ganze Generation von Juristen am Reichskammergericht durch seine Lehren beeinflusst hat48. Dies gilt inhaltlich nun auch für die in Frage stehende Materie. So vermerkt Andreas Gail 1578 in seinem fundamentalen Handbuch der RKGPraxis für einen in Untertanenverfahren mittlerweile weit verbreiteten Streitgegenstand, dass von klagen und missbrauch solcher Hofedienste gar herrlichen zu lesen ist bey dem Zasio …49. Selbst in der Kompilation klingt noch etwas von dem intellektuellen Erlebnis nach, das mit der Übertragung der gelehrten Richtlinien (süd-)westeuropäischer Provenienz auf einen neuen Gegenstandsbereich in einem neuen Erfahrungsraum verbunden sein konnte. Tatsächlich kann die Bedeutung des Zasius auch für die Herausbildung des Bauernrechts in den Reichsterritorien allgemein kaum unterschätzt werden50. 46

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S. die Bezugnahmen des Assessors Mathias Alber im Falle der Bauern zu Münzesheim, WUNDERLICH, Protokollbuch (Anm. 43), S. 99. CHRISTIAN ZENDRI, Gewohnheitsrecht und Gesetz bei Ulrich Zasius, in: Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.-18. Jahrhundert), hg. von CECILIA NUBOLA und ANDREAS WÜRGLER (Schr. des ital.-dt. hist. Inst. in Trient 19), Berlin 2005, S. 339-362. ANETTE BAUMANN, Die Prokuratoren am Reichskammergericht in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens, in: Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451-1527), hg. von BERNHARD DIESTELKAMP (QFHG 45), Köln Weimar Wien 2003, S. 161-196, S. 177. S. auch MANFRED UHLHORN, Der Mandatsprozess sine clausula des Reichshofrats (QFHG 22), Köln Wien 1990, S. 60. Zitiert nach: WINFRIED SCHULZE, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit (NZ im Aufbau 6), Stuttgart-Bad Canstatt 1980, S. 200. PETER BLICKLE, Der Bauernkrieg. Die Revolution des Gemeinen Mannes, München 1998, S. 63; WINFRIED SCHULZE, Die Entwicklung des teutschen Bauernrechts in der Frühen Neuzeit, in: ZNR 12 (1990), S. 127-163, S. 141, 143; MARION WIESE, Leibeigene Bauern und Römisches Recht im 17. Jahrhundert. Ein Gutachten des David Mevius (Schr. zur europ. Rechts- und VerfG 52), Berlin 2006, S. 114 f.

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Andreas Gails Kompendium liefert jedoch weitere Argumentationsstränge, die sich tiefer im Fundus der europäischen Tradition verästeln. Man könnte allgemein eine Hauptfunktion seines Handbuchs darin sehen, dass es darauf abzielte, diesen Fundus für die praktische Judikatur am RKG handhabbar zu machen51. Auf das Thema „Untertanenkonflikte“ bezogen, gewinnen seine Darlegungen dadurch an Brisanz, dass er die Tatbestände, in denen mandata ohne eine iustificatori Clausul am Keyerlichen CammerGerichte zuerkennet werden, auf die zeitgenössische Tyrannis-Lehre bezieht: Wann ein Herr allzu sehr kegen und wieder seine Unterthane Tyrannisiret wütet und tobet / und dieselbe über die massen beschweret und zu ungewöhnlichen Hoff und andern ungebreuchlichen Diensten als Botschafften Schildwachten und andern mit gewalt zwinget in solchem fall mügen die Unterthane wohl der hohen Obrigkeit hülff und Schutz anruffen und begeren, wobei Gail unter der höheren Obrigkeit ausdrück-

lich das Reichskammergericht verstand52. Seine Thesen belegte Gail zunächst mit Stellen aus den Konsilien bekannter oberitalienischer Autoritäten wie Baldus (de Ubaldis). Ihre Äußerungen zum Thema wurden von der modernen Forschung erst in den letzten Jahren genauer unter die Lupe genommen, allerdings weniger auf die Frage des Klagerechts von Untertanen als auf die weiterreichende Problematik eines Widerstandsrechts bezogen53. Die Ansichten von Baldus waren politisch freilich nicht sonderlich profiliert. In diesem Zusammenhang ist zu vermerken, dass Gail zur Frage des Missbrauchs von Herrschaft zwar nicht den eher einschlägigen Bartolus (da Sassoferato) konsultiert, wohl aber Luca da Penna, der tatsächlich für die Fassung eines neuzeitlichen Widerstandsrechts eine gewisse Bedeutung erlangte54. Darüber hinaus lässt Gail eine Reihe weiterer Autoren zu Wort kommen, denen die Vorstellung, dass Herrschaft auch missbraucht werden könne, gut 51

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PETER ARNOLD HEUSER, Zur Bedeutung der Vor- und Nachkarrieren von Reichskammergerichts-Juristen des 16. Jahrhunderts für das Studium ihrer Rechtsauffassungen, in: Juristische Argumentation – Argumente der Juristen, hg. von ALBRECHT CORDES (QFHG 49), Köln Weimar Wien 2006, S. 153-218, 183. SCHULZE, Bäuerlicher Widerstand (Anm. 49), S. 200. DIEGO QUAGLIONI, „Civilis sapientia“. Dottrine giuridiche e dottrine politiche fra medioevo ed età moderna, Rimini 1989, S. 23. ANGELA DE BENEDICTIS, Narrare storie, difendere diritti: ancora su „tumulto“ o „resistenza“, in: Operare la resistenza. Suppliche, gravamina e rivolte in Europa (secoli XVXIX) – Praktiken des Widerstandes. Suppliken, Gravamina und Revolten in Europa (15.19. Jahrhundert), hg. von CECILIA NUBOLA / ANDREAS WÜRGLER (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, Jb. des ital.-dt. hist. Inst. in Trient, Contributi Beitr. 18), Bologna Berlin 2006, S. 29-50, 45 f.

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vertraut war, z. B. den in Piemont geborenen Paris de Puteo (Paride del Pozzo, 1415-1495), der in Neapel lehrte. Aus seinem tractatus de syndicatu führte Gail das Kapitel de Regum, Principum & Baronum excessibus an. Gail beschrieb jedoch nicht nur Einzelexzesse, die er als kammergerichtliche Mandatstatbestände qualifizierte, sondern sah auch die Möglichkeit, dass sich ein Herr wegen missbrauch seiner Iurisdiction oder gewalt insgesamt verantworten müsse. Dass Tyrannei u.a. als Überschreitung der Jurisdiktionskompetenz zu verstehen sei, war eine verbreitete Meinung55, die auch Theodor Beza56, der prominenteste Autor unter den kalvinistischen Monarchomachen, teilte. Die Ansicht, dass ein Herr wegen missbrauch seiner Iurisdiction oder gewalt seines habenden Lehens künne priuiret oder entsetzet werden57, untermauerte Gail jedoch mit zwei anderen Bezügen, zunächst mit der wenig verdächtigen Autorität des Baldus de Ulbaldis, dann aber mit den controversiae illustres seines berühmten Zeitgenossen Fernando Vázquez de Menchaca (1509/10-1569). Dieser Gelehrte, wie Paris de Puteo und Gail selbst tief in der alten Kirche verwurzelt, wird zu den Begründern der modernen Vertrags- und Naturrechtslehre gezählt, wenngleich seine direkten Aussagen zum Herrschaftsverhältnis weniger spektakulär angelegt waren als Gails daraus abgeleitete Schlussfolgerungen58. Die Tatsache, dass zahlreiche Angehörige des Kameralkollegiums – insbesondere aus der Juristengeneration vor 1550 – auf einen breiten europäischen Bildungshorizont zurückgreifen konnten, war demnach nicht allein für die Behandlung der Hexenprozesse59 ausschlaggebend. Wenn wir einstweilen auch über die Entscheidungen und Begründungen in den frühen Untertanenprozessen nur in Umrissen orientiert sind, so ist die souveräne und autonome Annahme bzw. Handhabung dieser Prozesse durch das kammergerichtliche Personal kaum ohne das professionelle Selbstbewusstsein zu erklären, das ihm der römisch-rechtliche, zunehmend naturrechtlich grundierte Fundus verlieh. Auch der Titel des Gail’schen Handbuchs lässt dieses 55 56

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U.a. bei BARTOLUS: D. Quaglioni, Dottrine giuridiche (Anm. 53), S. 77-106. CHRISTOPH STROHM, Ethik im frühen Calvinismus: humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus (Arbeiten zur Kirchengesch. 65), Berlin 1996, S. 381. Beza bezog sich römisch-rechtlich auf den Digestentitel Ad legem Iuliam maiestatis. SCHULZE, Bäuerlicher Widerstand (Anm. 49), S. 200. ERNST REIBSTEIN, Die Anfänge des neueren Natur- und Völkerrechts – Studien zu den Controversiae Illustres des Fernandus Vasquius (1559), Bern 1949, S. 97 f., 138. HEUSER, Reichskammergerichts-Juristen (Anm. 51).

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Selbstbewusstsein deutlich werden: Richtschnur waren für den Verfasser weniger Kammergerichtsordnungen und Reichsabschiede als gerichtliche Entscheidungen und Vorgehensweisen, die teils von südwesteuropäischen Gerichtshöfen, teils vom RKG selbst ausgeübten Gerichtsbreuche60. Darüber darf jedoch nicht vergessen werden, dass sich bereits vor Erscheinen von Gails Kompendium auch die verfassungsrechtlichen Grundlagen im Reich verändert hatten. Bekanntlich wurde auf dem Geharnischten Reichstag in Teil II, Titel VIII der RKGO – und damit erstmals in einem für das Reich insgesamt verbindlichen Dokument – festgelegt, dass ein Fürst bzw. Fürstenmäßiger verklagt werden könne, wenn er eynen seiner eigen underthanen, under ihme selbst gesessen, er were geystlich oder weltlich, vom adel oder nit vom adel, deß seinen … entsetzen würde …61 Das Reichsrecht hatte da-

mit quasi das Niveau der (süd-)westeuropäischen Tradition erklommen: Fürstliche Herrschaft war nunmehr auch im Modus des Missbrauchs denkbar. Dass ein Widerstandsrecht nicht kodifiziert wurde, mag nicht verwundern. Immerhin wurde ein konkreter rechtlicher Lösungsweg angeboten.

III. Für das Bewusstsein einer „auf die Bewahrung von Rang und Statusunterschieden bedachten ständischen Gesellschaft“ war die Vorstellung, dass „Fürst und Bauer vor einer überherrschaftlichen Instanz als gegnerische Parteien auftraten“62, kein leichter Schritt, selbst wenn man nicht davon ausgeht, dass der Gesellschaft des frühen 16. Jahrhunderts „die Vorstellung von legitimen Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen völlig fehlte.“63 Um so mehr gilt es hervorzuheben, dass für die reichsweite Legitimierung von Auseinandersetzungen zwischen Herrschenden und Beherrschten Praktiker von den Bänken des RKG verantwortlich zeichneten.

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ANDREAS GAILL, Deß Keiserlichen CammerGerichts sonderliche Gerichtsbreuche vnnd Rechts Regeln, in zweyen Büchern fein ordentlich zusam verfasset, Hamburg 1601.

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Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Der Reichstag zu Augsburg 1547/48. Zweiter TeilBd., bearbeitet von URSULA MACHOCZEK (Deutsche Reichstagsakten. Jüngerer Reihe, 18), München 2006, S. 1341 (Abdruck der RKGO S. 1231-1438). GABEL, Widersetzlichkeit (Anm. 18), S. 274. WINFRIED SCHULZE, Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert, in: Der Deutsche Bauernkrieg 1524-1526 hg. von HANS-ULRICH WEHLER (Gesch. und Ges. Sonderheft 1), Göttingen 1975, S. 277-302, 280. S. dagegen oben Anm. 25 zur Regelung des Schwäbischen Bundes aus dem Jahre 1500.

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Federführend bei der Erstellung der neuen RKGO waren bekanntlich „zwei alte Beisitzer“64, wie Ranke sie nannte: der mittlerweile als bayerischer Kanzler fungierende Dr. Conrad Braun65 und der nunmehr in Mainzer Diensten stehende Dr. Conrad Visch. Allerdings sah auch die neue RKGO von einer erstinstanzlichen Zuständigkeit des RKG ab. So sollten Fürsten auch von eigenen Untertanen zunächst vor die Austräge gefordert werden. Das RKG kam erst im Verzögerungsfall bzw. als Appellationsinstanz ins Spiel. Tatsächlich war die Behandlung von Herrschaftskonflikten durch Austräge nicht ohne praktisches Vorbild. So hatten sich die bereits erwähnten Bauern und Obrigkeiten des Hochrheingebietes im Vorfeld des Bauernkrieges, bevor sie das RKG anriefen, im Oktober 1524 auf ein Verfahren austreglichen rechtens geeinigt66. Außerdem hatten die RKGOen seit 1495 sukzessive in Gestalt der AchtWege-Regelung für einen Neuzuschnitt der Austrägalinstanz(en) gesorgt67. Einer der acht Wege führte nun aus dem Prinzip einer vom Beklagten steuerbaren Gerichtsbarkeit heraus, als die sich die Austrägalinstanz zuvor dargestellt hatte. Er bestand im Anspruch des Klägers, die Benennung eines commissari durch den Kaiser zu verlangen. Auf dem Reichstag von 1521 wurde die zunächst für Kurfürsten und Fürsten reservierte Acht-WegeRegelung Grafen und Freiherren geöffnet, 1548 wurde sie zuerst auf Prälaten und Reichsstädte, dann auf Anregung Kurtriers auch auf Bürger und Bauern ausgedehnt68. Auch bäuerliche Kläger konnten nunmehr unter der Firma „Austrägalgerichtsbarkeit“ in Auseinandersetzungen mit ihren Fürsten Anspruch auf ein Eingreifen des Reichsoberhaupts erheben. Umgekehrt bot die RKGO damit auch die Perspektive, eine kaiserliche Kommission als Austrägalstufe in den RKG-Prozess zu integrieren. Als in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts der RHR das Kommissionswesen stärker zu lenken begann, ergab sich daraus die Möglichkeit einer Verschränkung von RKG- und RHR-Prozess69. 64

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LEOPOLD VON RANKE, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 5, Berlin 1843, S. 17. S. auch UHLHORN, Mandatsprozess (Anm. 48), S. 59 f. Anm. 81. REIBSTEIN, Anfänge (Anm. 58), S. 188-190. HOHN, Die rechtlichen Folgen (Anm. 19), S. 283, Oka, Bauernkrieg ( Anm. 30), S. 6-8. MEURER, Austrägalgerichtsbarkeit (Anm. 17). SCHULZ, Reichskammergerichtsordnung (Anm. 16), S. 179. Der Komplex ist angesprochen von EVA ORTLIEB, Reichshofrat und Kaiserliche Kommissionen in der Regierungszeit Kaiser Ferdinands III. (1637-1657), in: Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis, hg. von WOLFGANG SELLERT (QFHG 34), Köln Wien 1999, S. 47-81, 55.

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Die neuen Regelungen galten freilich nur für Untertanenklagen gegen Fürsten und Fürstenmäßige. Für die Hauptadressaten von bäuerlichen Klagen, die ständisch unter den Fürsten angesiedelten Grafen/Freyhern und Adligen, so dem Reich ohne Mittel unterworffen, war hingegen keine ausdrückliche Verfahrensregelung getroffen worden. Dies war auf dem Reichs-tag nicht unbemerkt geblieben. Zuerst hatte der Vertreter der Stadt Augsburg auf diese Auslassung aufmerksam gemacht. Es handelte sich gleichfalls um einen Mann der Praxis, nämlich um Dr. Konrad Hel, der bis 1530 als Assessor am RKG amtiert hatte70. Auf dem „Geharnischten Reichstag“ bestand er nun in den Beratungen des ersten Interkurialen Ausschusses auf der Klärung der Frage, wo die stett (und) bauern die prelaten und grafen und die vom adel furnemen. Item der underthan seinen herren. Des weiteren forderte Dr. Konrad Hel, es sollten item simplicis spolii causae gegen Kff., Ff., furstmessigen und grafen etc. am chammergericht auch erörtert werden.71 Die kaiserliche Seite nahm die Bedenken des Protestanten teilweise auf und monierte, es werde der burger, paur und anderer underthanen, wie dieselbigen gegen […] den prelaten, graven, herrn und denen vom adel, recht bekhomen sollen, nit gedacht.72

In ihrer Triplik verwiesen jedoch Kur- und Fürstenrat auf Teil II, Art. 27. Tatsächlich war darin die Zuständigkeit des RKG erstmals direkt geregelt73. Der Artikel bestimmte, dass alle und jede personen und sachen, die unser ksl. Jurisdiction on mittel underworfen und durch sondere austrege […] nit ausgenommen sein, an unserm ksl. Chammergericht furgenommen […] werden sollen.74 Diese Generalklausel – so die gemeinsame Interpretation von Kurfürsten- und Fürstenrat – sei auch auf die von kaiserlicher Seite angesprochene Konstellation zu beziehen, womit diesem irer Mt. Begern gemess und der notturft nach genugsam fursehung gescheen75 sei. Letztlich war zwar auch diese

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MENCKE, Visitationen (Anm. 42), S. 44, Anm. 241. Reichstagsakten (Anm. 61), S. 1031. Ebd., Kaiserliche Duplik, S. 1188. Die RKGO von 1495 formulierte in § 16 nur indirekt (Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, welche von den Zeiten Kayser Conrads des II. bis jetzo, auf den Teutschen Reichs-Tägen abgefasset worden, sammt den wichtigsten ReichsSchlüssen, so auf dem noch fürwährenden Reichs-Tage zur Richtigkeit gekommen sind, hg. von JOHANN JACOB SCHMAUß und HEINRICH CHRISTIAN VON SENCKENBERG, Frankfurt a. M. 1747, Bde. I - III (Neudruck Osnabrück 1967), T. II, S. 8), so dass sich die Zuständigkeit, wie GAIL formulierte, nur à contrario erschließen ließ, GAILL, Gerichtsbreuche (Anm. 60), 1. Buch, S. 7. Reichstagsakten (Anm. 61), S. 1364. Ebd., S. 1204.

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Auskunft rechtlich nicht völlig eindeutig. Politisch jedoch lief sie darauf hinaus, der kaiserlichen Intention gemäß die Austrägalprivilegien der unterfürstlichen Stände in Untertanenprozessen aufzuheben76. Dementsprechend konnte Gail drei Jahrzehnte später unwidersprochen folgern, dass die Untertanen der unterfürstlichen Stände befugt seien, in sachen, die sie wieder ihre Herren haben, alßbalde die prima instantia in Camera in Anspruch zu nehmen77. Im frühen 17. Jahrhundert schließlich erwies sich sogar das 1548 betonte fürstliche Austrägalprivileg als nicht praxisfest. Der Ebersberger Waldgenossenschaft gelang es 1607, ohne Vorschaltung der Austräge eine Ladung des RKG gegen einen prominenten Reichsfürsten wie Herzog Maximilian von Bayern zu erwirken78. Auf dem Reichstag von 1555 wurde dann in einem sog. Memorial zur RKGO auch der Mandatsprozess für klagende Untertanen geöffnet, womit man – ähnlich wie bei der grundsätzlichen Klagegestattung – auf der Verfassungsebene lediglich der längst üblichen Praxis entsprach. Die Begründung zeigt allerdings, dass Untertanenprozesse auf dieser Ebene noch immer nicht als selbstverständlich galten. Im Interesse der Untertanen, so stellt das Memorial klar, solle ein Mandat auch dann ergehen können, wenn der beklagte eigenmächtige Stand sich dazu erbiete, alsbald auszuführen, daß er sein selbst und nicht des gegentheils unterthanen gepfändt oder gefangen". Hierdurch würden, so argumentiert das Memorial weiter, allerley disputationes abgeschnitten, so der unterthanen halber vorfallen, nemlich daß dieselbe in mehrerley wege gepfändt werden, als von wegen des eigenthums oder der gült, von wegen der lehensvogtei, niedergericht, schutz und schirm, fraischlicher, malefitzischer und landsfürstlichen obrigkeit, dergestalt, daß gemeiniglich die arme leute jetzterzähltermassen mehr dann einer herrschaft unterworfen seynd, daß im fall zweifentlicher subjection dem mandat zu parieren, wird sich hernach in außführung wohl befinden, ob der gepfändte oder gefangene des beklagten unterthan, auch ihme dergestalt unterworfen seye, daß er des pfändtens und fahens vielleicht ursach gehabt oder nicht79.

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In einer Schrift aus dem Jahre 1750 wurde Karl V. aus dem Reichsgrafenstand heraus angelastet, er habe seine Machtfülle auf dem Geharnischten Reichstag genutzt, die Austrägalrechte der Grafen einzuschränken; JOHANN FRIEDRICH MORIZ, Abhandlung von denen Austrägen derer unmittelbaren Grafen des Reichs gegen mittelbare Kläger, Frankfurt a. M. 1750, S. 76 f. GAILL, Gerichtsbreuche (Anm. 60), 1. Buch, S. 7. BREIT, Gemain (Anm. 7), S. 169. Die Reichskammergerichtsordnung von 1555, hg. von ADOLF LAUFS (QFHG 3), Köln Wien 1976, S. 28. Zur Erweiterung der Mandatstatbestände bereits 1548, UHLHORN,

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Tatsächlich hatten sich in den „Schütterzonen der Reichsverfassung“ (Volker Press) die Herrschaftstitel – teils bis zum Ende des Alten Reiches – längst nicht so gefestigt, dass sie eindeutige und klar abgrenzbare Obrigkeitsverhältnisse begründeten, schon gar nicht in der Sicht klagender Untertanen. So bestritten die Kläger aus Freienseen massiv die Landeshoheit der Grafen von Solms über ihr Dorf80, und die Hattgauer wollten dem Grafen von Hanau mindestens die Gerichtsherrschaft aberkennen81. Womöglich vermeinten diese Korporationen, sie führten ebenso wenig einen Untertanenprozess wie das keine Obrigkeit anerkennende Land Dithmarschen, das 1527-1544 mit dem Hamburger Domkapitel am RKG im Rechtsstreit lag82. Das Gericht war jedenfalls durch die Beschlüsse und Überlegungen von 1548 bzw. 1555 für weitere Prozesse gerüstet, die in der zweiten Hälfte, verstärkt im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts eingeleitet wurden. Als Gegenstände standen im Mittelpunkt, wie Filippo Ranieri herausarbeitet, die Auswirkungen der fortschreitenden Territorialisierung83, ein ungewohnte(s) Joch, gegen das sich, wie ein Beobachter aus der Endphase des Alten Reiches rückblickend feststellte, die Unterthanen um 1550 noch immer […] sträubten84. Konkret ging es in erster Linie um die Frage der oft miteinander verquickten Erhebung von Landes- und Reichssteuern. Die Probleme kulminierten nach 1580 in einem „Revoltengürtel“, „der vom Hochrhein um den Bodensee einen Bogen bis zum Allgäu“ schlug und damit genuines Bauernkriegsterrain erfasste85. Zur Dämpfung der bäuerlichen Beschwerden und der herrschaftlichen Befürchtungen wurde erstmals wieder in größerem Umfang in Untertanenfragen auf das bewährte Mittel der Kaiserlichen Kommissionen zurückgegriffen86, wobei im jeweiligen Einzelfall noch zu

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Mandatsprozeß (Anm. 48), S. 60. Sie geschah wiederum unter Rückgriff auf die Lehren von Ulrich Zasius. DIESTELKAMP, Rechtsfälle (Anm. 3), S. 111 f. ROTT, Unterelsaß (Anm. 37), S. 217; Saarbrücker Arbeitsgruppe: Huldigungseid und Herrschaftstruktur im Hattgau (Elsaß), in: JbwdtLgesch. 6 (1980), S. 117-155, 129. PRANGE, Reichskammergericht (Anm. 37), S. 21. RANIERI, Recht (Anm. 2), S. 153, 244-246. TROßBACH, Soziale Bewegung (Anm. 1), S. 170. WINFRIED SCHULZE, Oberdeutsche Bauernrevolten zwischen 1580 und 1620. Reichssteuern und bäuerlicher Widerstand, in: Bauer, Reich und Reformation. Festschrift für Günther Franz, hg. von PETER BLICKLE, Stuttgart 1982, S. 120-146, 122. Unter Maximilian II. war dies insgesamt nur für Klagen von vier Einzelgemeinden der Fall gewesen, ULLMANN, Kommissionen (Anm. 12), S. 75 f.

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klären ist, welche Lenkungskompetenzen der sich festigende Reichshofrat beanspruchte87. Das RKG wurde in diese Auseinandersetzungen im habsburgischen Glacis nicht durch die Bauern, sondern durch den Antrag des Freiherrn von Königsegg-Aulendorf einbezogen, die Untertanen der Herrschaft Rothenfels zur Ruhe und zur Zahlung der Reichssteuern zu veranlassen. Mit dem gleichen Ziel hatte der Abt von Kornelimünster das Gericht bereits im Horizont der 1542 beschlossenen Reichstürkenhilfe eingeschaltet88. Obrigkeiten zogen offenbar dann einen RKG-Prozess vor, wenn schwierige Nachbarn in Konflikte eingriffen89, egal ob als Kaiserliche Kommission legitimiert oder nicht. Verfahrensrechtlich konnten sie dabei an den bereits genannten Möglichkeiten der Verquickung von RKG- und RHR-Prozess ansetzen. Auch die bäuerliche Seite nutzte diese rechtlichen Unschärfen, etwa wenn man die Erfahrung zu machen begann, dass das RKG seinen Mandaten nur selten Geltung verschaffen konnte. Die Gemeinde Weilmünster erbat aus diesem Grund nach 15 Jahren Rechtsstreit am RKG 1585 eine Kaiserliche Kommission, der sich schließlich sogar ihr Landesherr fügte, nachdem einer der vorgeschlagenen Kommissare ausgewechselt worden war. Die Rothenfelser Bauern wiederum wollten zunächst die Entscheidungen der bereits eingesetzten Kaiserlichen Kommission abwarten und ein Gerichtsverfahren erst dann akzeptieren, wan sie der Kaiser heissen würd, das sie mit ihrem Herrn zu Speyer solten rechten. Als einer mit Namen Hans Weber jedoch drastisch erklärte, ich schüß auf das Kammergericht, will der Gerichtsbote 87

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Die Problematik ist angesprochen bei GEORG SCHMIDT, Rebellion oder legitime Gegenwehr? Ein Agrarkonflikt in Mühlhausen am Neckar, die kaiserliche Kommission der Reichsstadt Esslingen und das Urteil der Tübinger Juristenfakultät (1600-1620), in: Esslinger Studien 29 (1990), S. 37-59, S. 49. Im Falle der Böhmenkircher [BERTRAM FINK, Die Böhmenkircher Bauernrevolte 1580-1582/83. Herrschaft und Gemeinde im „langen 16. Jahrhundert“ (1476-1618) (Schrswdt.LK 51), Leinfelden-Echterdingen 2004. S. 160-162] und der Owinger Revolte [EBERHARD ELBS, Owingen 1584. Der erste Aufstand in der Grafschaft Zollern, in: Zs. für Hohenzollerische Gesch. NF 17 (1981), S. 11–127] hatten die Kommissionen bereits wenig eigene Spielräume, waren ähnlich eng auf die Entscheidungen des RHR bezogen wie im 18. Jahrhundert, TROßBACH, Soziale Bewegung (Anm. 1), MARTIN FIMPEL, Reichsjustiz und Territorialstaat. Württemberg als Kommissar von Kaiser und Reich im Schwäbischen Kreis (1648-1806), (FrühNZ-Fg. 6), Tübingen 1999, S. 291 f. HELMUT GABEL, Widerstand und Kooperation. Studien zur politischen Kultur rheinischer und maasländischer Kleinterritorien (1648-1794), (FrühNZ-Fg. 2), Tübingen 1995, S. 41, 122. GABEL, Widerstand und Kooperation (Anm. 88), S. 47 f.

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Hans Hopp schlagfertig repliziert haben: Es begert kein Curfürst im römischen Reich ein soliches Scheißhaus.90. Die bäuerliche Geringschätzung des RKG erwies sich in diesem Fall tatsächlich als voreilig. Ähnlich wie der Konflikt der hohenzollerischen Untertanen des Amtes Haigerloch mündete der Allgäuer Fall schließlich in einen längeren Prozess. Auch im Einzugsbereich des Wetterauer Grafenvereins, einem anderen geographischen Schwerpunkt ländlicher Protestbereitschaft91, errang das RKG die Verfahrensherrschaft in den meisten Untertanenprozessen, in diesem Bereich in Konkurrenz mit der Landgrafschaft Hessen, der regionalen Führungsmacht, die bei ihren Interventionen allerdings nicht auf eine Legitimation als Kaiserliche Kommission zurückgreifen konnte. Weiter gestärkt wurde die Rolle des RKG durch die an bedrängte Obrigkeiten gerichtete Aufforderung des Regensburger Reichstags von 1598, bei Verweigerung der beschlossenen Türkensteuern das RKG zu nutzen. Allerdings sollten die Untertanen sich vor Gericht rechtfertigen dürfen92.

IV. Dennoch ist an der Jahrhundertwende die Tendenz unverkennbar, durch Reichstagsbeschlüsse die prozessrechtliche Position der Untertanen zu schwächen. Bereits Gail hatte in seinem Kompendium gefordert, es müssten in Untertanenprozessen alle und jede der thaten umbstende mit fleiß examiniret und betrachtet werden, damit die Unterthane gegen wieder ihre Obrigkeit nicht verhetzet und ihnen zu mehrem ungehorsam gelegenheit und vorschub gegeben würde. Derhalben sol die hohe Obrigkeit so leicht mit solchen Mandaten nicht verfahren. Außerdem habe gemeiner Rechtslehr nach […] ein jeder Magistratus oder Obrigkeit die Präsumption oder stattliche Vermutung vor sich, daß sie jedem Gleich und Recht zu lassen geneigt.93 Dieser später präsumptio pro magistratu94 90 91

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SCHULZE, Bäuerlicher Widerstand (Anm. 49), S. 132, 127 f. GEORG SCHMIDT, Agrarkonflikte im Gebiet des Wetterauer Grafenvereins (ca. 15501650), in: Wetterauer Geschichtsblätter 34 (1984), S. 79-112. Reichs-Abschiede (Anm. 73), Teil III, S. 455. Auch diese Regelung erweiterte die Zuständigkeit des RKG, da Untertanen nicht zum Kreis der Reichsunmittelbaren gehörten, und damit streng genommen auch nicht zum Kreis der Beklagbaren. Allerdings hatte auch in dieser Hinsicht die Praxis den Weg gebahnt; vgl. o. Anm. 88. SCHULZE, Bäuerlicher Widerstand (Anm. 49), S. 201 f. SCHULZE, Bäuerlicher Widerstand (Anm. 49), S. 78.

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genannte Vorbehalt ist ein Indiz, wie schwer es letztlich trotz aller Evidenz und der römisch-recht-lichen Tradition fiel, Unrecht als einen potenziellen Modus von Herrschaft konstitutionell anzuerkennen. Schließlich gab auch der Reichstag dieser Tendenz nach und forderte 1594, in Untertanenprozessen nicht leichtlich Mandate und Ladungen ergehen zu lassen95. Einen gewissen Endpunkt auf diesem Weg markiert die im Jüngsten Reichsabschied von 1654 enthaltene Vorschrift, dass bei Mandatsgesuchen von Untertanen ein Schreiben um Bericht96 ergehen solle: Die Möglichkeit, dass auch ein Landesherr gegen Untertanen unrechtmäßig handeln könne, wurde zwar nicht ausgeschlossen, sollte jedoch gesonderter Überprüfung unterliegen. Die Vorstellung, dass sich Fürst und Bauer […] einer überherrschaftlichen Instanz […] unterwarfen97, blieb auch im 17. Jahrhundert für die Spitzen der ständischen Gesellschaft gewöhnungsbedürftig. Inwieweit sich diese Überlegungen und Beschlüsse auf die konkrete Prozesspraxis auswirkten, bleibt im Einzelnen allerdings noch zu klären98. An der Wende zum 17. Jahrhundert fällt eher ein Professionalisierungsschub auf, von dem zumindest die zu diesem Zeitpunkt wichtigste Materie erfasst wurde. So entwickelte das RKG, konzentriert in der Person des Assessors Thomas Merkelbach, in den prekären Steuerfragen eine Art Pionierkompetenz. Am 13. Juni 1606 verfasste Merkelbach ein Gutachten, das die Steuerverteilung zwischen Württemberg und dem auch von seinen Untertanen bedrängten Ritterstift Odenheim zum Thema hatte99. Am 7. März und am 12. September 1607 erstellte er dann jeweils Gutachten im unvermeidlichen Hattgauer Bauernprozess, in dem inzwischen – dem Zug der Zeit folgend – Steuerfragen die Hauptrolle spielten. Es ging um den Vorwurf der „Umlage

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Reichs-Abschiede (Anm. 73), Teil III, S. 434. SAILER, Untertanenprozesse (Anm. 24) S. 13. Das Schreiben um Bericht hat eine Vorgeschichte, die mit den Verbandsklagen von Untertanen zunächst nichts tun hat. Auf dem Reichstag von 1530 hatten sich Kurfürsten und Fürsten beschwert, Bauernkriegsteilnehmer, die gegen Strafen und Schadensersatzforderungen klagten, seien vom RKG von ihrer Urfehde absolvirt worden, ohne dass die Oberkeit je um einigen Bericht ersucht […] worden. [Reichs-Abschiede (Anm. 73), Teil II, S. 320]. Auf dem Deputationstag zu Speyer (1600) wurde dann beschlossen, bei Klagen armer Parteien solle um Bericht an die Oberkeit oder Unter-Gericht geschrieben werden. [Reichs-Abschiede (Anm. 73), Teil III, S. 475]; Vgl. auch SCHULZE, Bäuerlicher Widerstand (Anm. 49), S. 78. GABEL, Widersetzlichkeit (Anm. 18), S. 274. Vgl. die Überlegungen bei MAURER, Untertanenprozeß (Anm. 14), S. 174 f. ANDREAS SCHWENNICKE, "Ohne Steuer kein Staat". Zur Entwicklung und politischen Funktion des Steuerrechts in den Territorien des Heiligen Römischen Reichs (1500-1800) (IusCommuneSH 90), Frankfurt a. Main 1996, S. 107.

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von Kreissteuern auf die Untertanen und Zuvielforderung umgelegter Steuern durch den Grafen von Hanau“.100 Dazwischen, am 30. August, konnte er in einem Gutachten zum Fall der Untertanen des Freiherrn von Königsegg eine Zuvielforderung von Reichssteuern nachweisen. Er wollte jedoch Modalitäten der Rückerstattung festlegen, die den Bauern keinen materiellen Vorteil gewährt hätten101. Immerhin referierte er im April 1615 im Rechtsstreit um Tranksteuern zwischen dem Städtchen Korbach und dem Grafen von Waldeck die Erfahrung, dass heutigen tages bei der Erhebung der Steuern ein missbrauch offtermals verspüret also dass der Armen underdanen mit blütigem Schweiß eroberten Armutthey ubel verschwendet werde und dass bei Reichs- und Kreissteuern fast alle Stände ihre Underthanen höher dann ihre portion sich thut belauffen ins gemein anschlagen102.

Die offenbar auch in diesem Falle als notwendig empfundene Ausgewogenheit103 wurde dadurch hergestellt, dass Merkelbach eine prinzipielle Verpflichtung der Untertanen anerkannte, Beiträge zum landesherrlichen Hofstaat zu leisten. Offenbar trugen auch Änderungen im professionellen Habitus der Assessoren dazu bei, Schranken abzubauen. Noch in Friedrich Weigandts Entwurf für die Verhandlungen einer in Heilbronn geplanten Versammlung führender Bauernkriegsteilnehmer war ihr Verhalten als pompisch, stolzirlich, spatziglich oder zerlich gebrandmarkt worden. Damit scheint Weigandt verbreitete, sozial und konfessionell grundierte Vorbehalte des „gemeinen Mannes“ gegen die Doctores in der Kammer104 aufgegriffen zu haben. In einer 100 101

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Ebd., S. 33, 106, Anm. 26. Ebd., S. 106: Der Freiherr sollte die Untertanen auf Schadensersatz für angebliche Injurien verklagen, die in einer Streitschrift des Untertanenadvokaten enthalten waren, und diesen mit den zuviel erhaltenen Steuern verrechnen, BERNHARD DIESTELKAMP, Reichskammergericht und deutsche Rechtsstaatskonzeption, in: Friedenssicherung und Rechtsgewährung, hg. von BERNHARD DIESTELKAMP / INGRID SCHEURMANN, Bonn Wetzlar 1997, S. 131-143, 136. SCHWENNICKE, Steuer (Anm. 98), S. 53, 120. Wie weit eine solche Praxis verbreitet war, vgl. u.a. bei: MARTIN ZÜRN, "Ir aigen libertet". Waldburg, Habsburg und der bäuerliche Widerstand an der oberen Donau 1590 – 1790 (Oberschwaben - Gesch. und Kultur 2), Tübingen 1998, S. 309 f. Der vom Niederrheinisch-Westfälischen Kreis präsentierte Assessor erhielt 1615 vom Herzog von Lüneburg-Celle eine goldene Kette im Werte von über 100 Goldgulden verehrt: BERNHARD RUTHMANN, Das richterliche Personal am Reichskammergericht und seine politischen Verbindungen um 1600, in: Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis, hg. von WOLFGANG SELLERT (QFHG 34), Köln Wien 1999, S. 1-26, 15. GABEL, Widersetzlichkeit (Anm. 18), S. 275. Tatsächlich gehörten zahlreiche Assessoren zu diesem Zeitpunkt dem geistlichen Stand an.

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Neubebesetzung des Gerichts mit 16 Assessoren, von denen sechs den Städten, vier den Communen und Gemainden im Reich angehören sollten, sah er eine Möglichkeit zum Gegensteuern105. Trotz des Ausbleibens von Reformen scheint sich die sozial-mentale Distanz zwischen Bauern und Assessoren im Laufe des 16. Jahrhunderts jedoch erheblich verringert zu haben. Am Ende wurden Momente der Nähe möglich, wie sie bisher nur für das 18. Jahrhundert bezeugt sind106. Vertreter der Ebersberger Waldgenossenschaft kolportierten 1608, ein RKG-Assessor habe ihren Prozess sogar mit finanziellen Zuwendungen unterstützt.107 Die an der Wende zum 17. Jahrhundert aus verschiedenen Gründen erreichte Festigung und regionale Erweiterung der RKG-Nutzung lässt nun eine an der Intensität der Prozessführung orientierte vorläufige Hierarchisierung der – zwar nicht überwältigenden, aber noch immer nicht in Gänze katalogisierten - Anzahl von Untertanenprozessen möglich erscheinen, die von bäuerlichen Korporationen geführt wurden. Auf einer eher niedrigen Stufe der Erheblichkeitsleiter wären demnach Mandatsgesuche zu nennen, die die Energien des Gerichts nur sporadisch banden, wie sie z. B. die mehrfach an Adlige verpfändete badische Gemeinde Münzesheim im Kraichgau bereits kurz nach dem Bauernkrieg bzw. die ebenfalls im Kraichgau gelegene Gemeinde Menzingen kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg108 vorbrachten. Auf der höchsten Stufe standen unbestritten die vier Dörfer im elsässischen Hattgau, die das Gericht in Intervallen bereits ein Jahrhundert nutzten, dicht gefolgt von den Gemeinden des Ritterstifts Odenheim, deren Prozessserien sich im Laufe des 16. Jahrhunderts gleichfalls zu einer cause celèbre109 der Kameralliteratur aufbauten. Um die Jahrhundertwende schickten sich die Ämter Greifenstein bei Wetzlar110 und Wolferborn im Vogelsberg an, in diese Fußstapfen zu treten.

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FRANZ, Quellen (Anm. 29), S. 373, 377. WERNER TROßBACH, Die Reichsgerichte in der Sicht bäuerlicher Untertanen, in: Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte, hg. von BERNHARD DIESTELKAMP (QFHG 21), Köln 1989, S. 129-142, S. 135-139. Ein markantes Einzelbeispiel: MARKUS MÜLLER, Gemeinden und Staat in der Reichsgrafschaft Sayn-Hachenburg 1652-1799 (Beitr. zur Gesch. Nassaus und des Landes Hessen 3), Wiesbaden 2005, S. 353. BREIT, Gemain (Anm. 7), S. 195. SAILER, Untertanenprozesse (Anm. 15), S. 82. SCHWENNICKE, Steuer (Anm. 98), S. 33. SCHMIDT, Agrarkonflikte (Anm. 91); DIESTELKAMP, Rechtsfälle (Anm. 5), S. 126-143; WERNER TROßBACH, Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet 1648-1806, Darmstadt Marburg 1985, S. 273-294.

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Mittlere Frequenz und Intensität wiesen die Klagen der Gemeinden Freienseen, Weilmünster, Mühlhausen am Neckar sowie des riedeselschen Gerichts Moos im Vogelsberg auf, womöglich auch der Allgäuer Herrschaften Rothenfels und Haigerloch sowie der Gemeinde Gronsveld in der gleichnamigen maasländischen Reichsgrafschaft, die 1599111 ihre Klagen in Speyer aufnahm. Als Besonderheit des späten 16. Jahrhunderts sind auf dieser mittleren Stufe einzelne Konfessionsprozesse zu nennen, die – wie in den isenburgischen Gerichten Wolferborn und Wenings112 – auch zu profanen Beschwerden überleiten konnten. Nicht alle Untertanenprozesse überlebten den Dreißigjährigen Krieg. In den Gemeinden des Ritterstiftes Odenheim waren die Bevölkerungsverluste so hoch, dass die Erinnerung nachhaltig geschädigt und an der Wende zum 18. Jahrhundert eine Serie von RHR-Prozessen quasi ab ovo begonnen wurde113. Die Prozesstätigkeit der Ämter Greifenstein und Wolferborn hingegen erlosch auch im Krieg nicht und wurde Ende des 17. Jahrhunderts zu einem für die Kläger positiven Ende gebracht. Trotz einer prozessrechtlichen Schikane, des Schreibens um Bericht, die im J.R.A. verlangt wurde und Untertanenprozesse endgültig als besondere Gattung abgrenzte, kamen bereits unmittelbar nach Kriegsende neue Verfahren auf das Gericht zu, zunächst auf mittlerer Intensitätsebene. Ein Großteil der unmittelbar nach 1648 entstandenen Konflikte wurde jedoch vom RHR absorbiert. Dabei spielte eine Rolle, dass sich 1654 zahlreiche Bauerndelegationen am Regensburger Reichstag einfanden, um ihre Klagen dem Kaiser persönlich vorzulegen. Aus der Umgebung des Kaisers wurden die Bauern jedoch an den RHR als die zuständige Behörde gewiesen, wo sie ihre Prozesse weiterführen mussten, auch nachdem der RHR mit dem Kaiser Regensburg verlassen hatte und wieder in Wien tagte. Der erste Versuch, Untertanenprozesse als besondere Gattung quantitativ zu erfassen, stammt nicht aus dem 17. Jahrhundert, sondern aus der Spätaufklärung. Zumindest im Ansatz nahm damit der Schriftsteller, verspä-

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Prozessakten des HStA Düsseldorf im Rijksarchief Limburg in Maastricht (Bestand 02.01.), bearb. von MARTINA WIECH unter Mitarbeit von PAUL HOFFMANN / TH. J. VAN RENSCH (Veröff. der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen : Reihe A, Inventare staatlicher Archive, das HStA Düsseldorf und seine Bestände, 9), Siegburg 2002, S. 116-119; GABEL, Widerstand (Anm. 88), S. 115. SCHMIDT, Agrarkonflikte (Anm. 91); TROßBACH, Bauernbewegungen (Anm. 110), S. 273294; BERNHARD RUTHMANN, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht (15551648) (QFHG 28), Köln Weimar Wien 1996, S. 293 f. FETZER, Odenheim (Anm. 22), S. 347.

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tete Reichsreformer und spätere Schinderhannes-Jäger Johann Nicolaus Becker114 moderne quantifizierende Verfahren vorweg. Mit Hülfe eines guten Freundes, der Zutritt im Archive hat, und der hiesigen Kalender gelang es dem ehemaligen RKG-Praktikanten115, die Anzahl der Sachen zusammen zu bringen, die Unterthanen gegen ihre Fürsten seit 24 Jahren am K.G. anhängig gemacht haben, und meine Bemerkungen darüber zu machen. Ich habe gefunden, daß seit 1772 bis 1796 überhaupt 456 Prozesse der Unterthanen gegen ihre Fürsten hieher gebracht worden sind. Es kommen also auf ein Jahr gerade 19. Davon wurden 324 erkannt, in 17 eine Ordination erlassen und 115 abgeschlagen. Es war mir nicht auffallend, daß in den Jahren 1775 und 1776, also um die Zeit der großen Hungersnoth mehr als gewöhnlich vorkommen. Aber seit 1789 geht die Anzahl jährlich über 24 hinaus. Wer verkennt hier den Einfluß der großen französischen Revolution wohl? Unter 9 Sachen sind 5 gegen geistliche Fürsten gerichtet, ein Beweiß, dass sich unter dem Krummstabe nicht gut wohnen läßt. Bey weitem die meisten sind aus Schwaben, Franken und vom Rhein, und gegen reichsstädtische Magistrate kommen unter 97 Sachen 19 vor. Seit 1788 betreffen unter 3 Klagen etwas über 2 Leibeigenschaft, Verschwendung, Rechnungsablage, widerrechtliche Entsetzungen, Zehnten, Wildbahnen, Kriegssteuer, Rekrutierung u.dgl.116

Für eine bilanzierende Forschung sind Beckers Auszählungen jedoch nur von begrenztem Wert. Er trennt nicht Stadt und Land, differenziert nicht nach Intensitätsstufen und bezieht die sich in der Spätaufklärung häufenden Beschwerden von Beamten gegen Dienstentlassungen ein117. Insofern sollen an dieser Stelle weiteren Quantifzierungsversuchen qualifizierende Überle-

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WOLFGANG GRIEP, Nachwort, in: JOHANN NICOLAUS BECKER, Fragmente aus dem Tagebuche eines reisenden Neu-Franken, Frankfurt a. M. Leipzig 1798, Neuausgabe: Bremen 1985, S. 159-166; WOLFGANG BURGDORF, Die Geschichte der Versuche, die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zu reformieren, in: Wege in die Frühe Neuzeit, hg. von ARNDT BRENDECKE / WOLFGANG BURGDORF, Neuried 2001 (Münchner Kontaktstudium Gesch. 4), S. 257-280, 273 f. WOLFGANG BURGDORF, Die Reichsrechtliche Peregrinatio Academica im 18. Jahrhundert., in: Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich, hg. von ANETTE BAUMANN / PETER OESTMAN / STEPHAN WENDEHORST / SIEGRID WESTPHAL, Köln Weimar Wien 2003 (QFHG 46), S. 21-58, 36. BECKER, Fragmente (Anm. 114), S. 34. MARIA SCHIMKE, MANFRED HÖRNER, Prozesse zwischen Untertanen und ihren Herrschaften vor dem Reichskammergericht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Europa im Umbruch 1750-1850, hg. von DIETER ALBRECHT / KARL OTMAR FREIHERR VON ARETIN / WINFRIED SCHULZE, München 1995, S. 279-303, 280.

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gungen vorangestellt und zunächst ins 17. Jahrhundert zurückgekehrt werden. Die Szenerie nach 1654 unterschied sich dadurch gründlich von der Vorkriegssituation, dass die Verfahrensherrschaft des RKG in einem einmal begonnenen Untertanenprozess kaum noch in Frage gestellt wurde, allein lehensherrliche Interessen dienten bisweilen als Legitimation für Einmischungsversuche. Nach Bedarf wurden sie von den streitenden Parteien zu instrumentalisieren versucht118. Eine Verquickung von RHR- und RKGProzessen kam dagegen kaum noch vor119. Der mit einem Stillstand verbundene „Ingelheim’sche Streit“ führte allerdings ähnlich wie der Reichstag von 1654 erneut zur Aufnahme zahlreicher frischer Untertanenprozesse durch den RHR. Die Reichsstände achteten jetzt jedoch darauf, dass der RHR Verfahren nicht auch noch übernahm, die bereits am RKG anhängig waren. Allein bei Aufstands- und Gewaltaktionen wie 1698 der Ermordung des Abtes von Kornelimünster120 und 1733 dem Aufstand in HohenzollernHechingen121, wo sich außerdem eine habsburgische Festungsbesatzung befand, wurden Eingriffe des RHR geduldet. Regional waren mit der Grafschaft Lippe122 und zahlreichen niederrheinischen Herrschaften123 bereits unmittelbar nach 1648 Gebiete stärker ins Gesichtsfeld des Gerichts gerückt, die zuvor höchstens auf einer niedrigen Intensitätsstufe vertreten waren. Dazu gehörten auch mittlere Territorien mit einem ausgebildeten Instanzenzug, von denen im Laufe des 18. Jahrhunderts einzelne Prozesse per Appellation an das RKG gelangten. Die

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GEORG SCHMIDT, Agrarkonflikte im Riedeselischen Gericht Moos im 17. Jahrhundert, in: Archiv für hessische Gesch. und Altertumskunde NF 37 (1979), S. 215-327; WERNER TROßBACH, Der Schatten der Aufklärung. Bauern, Bürger und Illuminaten in der Grafschaft Wied-Neuwied (Deutschlands 18. Jahrhundert 1), Fulda 1991, S. 99. SIEGRID WESTPHAL, Revolution in Rudolstadt? Der Bulisiussche Landstreit im Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: ZVThG 61 (2007), S. 131-156. GABEL, Widerstand (Anm. 88), S. 174-214. VOLKER PRESS, Von den Bauernrevolten des 16. zur konstitutionellen Verfassung des 19. Jahrhunderts. Die Untertanenkonflikte in Hohenzollern-Hechingen und ihre Lösungen, in: Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, hg. von HERMANN WEBER, Wiesbaden 1980, S. 85-112. BERND HÜLLINGHORST, Rebellion im Amt Iggenhausen. Bäuerlicher Widerstand gegen feudale Herrschaft in Lippe, dargestellt am Streit um die Leibeigenschaft der Vitifreien (1589-1721), in: Lippische Mitteilungen 61 (1992), S. 41-98. GABEL, Widerstand (Anm. 88), S. 50-65.

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Gutsherren der westfälischen Herrschaften Gesmold124 und Canstein125 legten am RKG gegen die Entscheidungen fürstlicher Hofgerichte ebenso Beschwerde ein wie das nordosthessische Tagelöhnerdorf Schwebda126, das 1746 mit dem jungen Johann Stephan Pütter127 einen Sachwalter gewinnen konnte, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im nicht weit entfernten Göttingen zu einem der führenden Reichsjuristen aufsteigen sollte. Aus den Gebieten südlich der Donau, dem Schwerpunkt der habsburgischen Interessen im Reich, wurde das Wetzlarer Gericht nach 1648 hingegen kaum noch beansprucht128. Von den Verfahren, die an der Wende zum 18. Jahrhundert einsetzten, wuchsen sich wieder einige zu Dauerbrennern aus – trotz der starken Konkurrenz, die seit 1654 von einem gefestigten RHR-Prozess ausging. Verhandelt wurden in diesen Prozessen – ähnlich wie in den reichshofrätlichen Entsprechungen – durchgängig komplizierte Materien wie staatlichhoheitliche Rechte“129, oft in Kombination mit lediglich lokal zu spezifizierenden Einzelregelungen auf dem Gebiet der Bodenwirtschaft. Die Komplexität der Materien ging Hand in Hand mit intransigenten Ansprüchen der Parteien. Zudem verfügten offenbar beide Seiten „über das nötige Geld, um den Rechtsstreit beliebig auszudehnen“130, die Bauern allerdings oft nur um den Preis starker kommunaler Verschuldung131. Einzelgemeinden gelang es demzufolge meistens nicht, in die Reihen der Dauerprozesse aufzusteigen. 124

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CHRISTINE VAN DEN HEUVEL / GERD VAN DEN HEUVEL, Begrenzte Politisierung während der Französischen Revolution. Der Gesmolder Bauerntumult von 1794 im Hochstift Osnabrück, in: Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution, hg. von HELMUT BERDING, (Gesch. und Ges. Sonderheft 12), Göttingen 1988, S. 111-129. BARBARA KRUG-RICHTER, Eß gehet die bauren ahn und nicht die herren. Die Auseinandersetzungen um die Einführung neuer Dienste in der westfälischen Herrschaft Canstein 1710 bis 1719, in: Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften, hg. von JAN PETERS (Veröff. des MPI für Gesch. 120), Göttingen 1995, S. 153-200. SCHULZE, Bäuerlicher Widerstand (Anm. 49), S. 244-246. JOCHEN EBERT / INGRID ROGMANN / PETER WIEDERSICH / HEIDE WUNDER, Schwebda – Ein Adelsdorf im 17. und 18. Jahrhundert, Kassel 2006 (Hessische Fg. zur geschichtlichen Landes- und Volkskunde 46), Kassel 2006, S. 49-52. Er befand sich noch im Praktikantenstatus, u.a. am RKG: BURGDORF (Anm. 115), S. 44 f. ZÜRN, "Ir aigen libertet" (Anm. 102), S. 638. TOBIAS FREITAG / NILS JÖRN, Zur Inanspruchnahme der obersten Reichsgerichte im südlichen Ostseeraum 1495-1806, in: Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich, hg. von NILS JÖRN / MICHAEL NORTH (QFHG 35), Köln 1999, S. 39-142, 123. FREITAG / JÖRN, Inanspruchnahme (Anm. 129), S. 124. TROßBACH, Bauernbewegungen (Anm. 110), S. 455-458.

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Permanent wie der Reichstag wurden dagegen die Fälle ganzer Territorialoder mindestens Amtsverbände, der niederrheinischen Abtei Kornelimünster132, der Grafschaft Hohenzollern-Hechingen133, der von den badischen Markgrafschaften bedrängten Klosterherrschaft Schwarzach134, der beiden Wittgensteiner Grafschaften135, der Grafschaften Neuwied136 und SaynHachenburg137, einer Reihe saarländischer Herrschaften138, darunter der nassau-weilburgischen Exklave Saarwerden139, sowie der lothringischen Grafschaft Kriechingen140. Bey weitem die meisten (der Untertanenprozesse, W.T.) sind aus Schwaben, Franken und vom Rhein141, hatte Johann Nicolaus Becker aus seinen statistischen Erhebungen gefolgert. Für die Dauerprozesse, die die Energien des Gerichtspersonals ebenso banden wie das Konfliktverhalten der Untertanen nachhaltig veränderten142 und schließlich auch die öffentliche Diskussion bestimmten143, traf dies jedoch nur bedingt zu: Sie waren in auffälliger Weise entlang der Rheinschiene angeordnet, während der Großteil der Dauerprozesse, die den RHR beschäftigten, weiter südlich und östlich zu verorten ist.

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GABEL, Widerstand (Anm. 88). PRESS, Bauernrevolten (Anm. 121). HARTMUT ZÜCKERT, Die sozialen Grundlagen der Barockkultur in Süddeutschland (QFA 33), Stuttgart New York 1988, S. 326-328. WERNER TROßBACH, Widerstand als Normalfall. Bauernunruhen in der Grafschaft SaynWittgenstein-Wittgenstein 1696 - l806, in: Westfälische Zs. 135 (1985), S. 25 – 111. TROßBACH, Schatten (Anm. 118). MÜLLER, Sayn-Hachenburg (Anm. 106). KLAUS RIES, Obrigkeit und Untertanen. Stadt- und Landprozesse in Nassau-Saarbrücken im Zeitalter des Reformabsolutismus (Veröff. der Komm. für Saarländische LGesch. und Volksforschung 23), Saarbrücken 1997. ANDREAS WILHELM, Nassau-Weilburg 1648-1806. Territorialverfassung und Reichsrechtsordnung (Veröff. der Hist.Komm. für Nassau 77), Wiesbaden 2007. ULBRICH, Shulamit (Anm. 3); EVA KELL, „Excesse und Freveltaten“ – Vom Widerstand der Saarwellinger Bürger gegen ihre Obrigkeit im 18. Jahrhundert, in: JbwdtLgesch. 21 (1995), S. 439-453. BECKER, Fragmente (Anm. 114), S. 34. TROßBACH, Reichsgerichte (Anm. 106); JOACHIM GESSINGER, Schriftlichkeit in sozialen Konflikten, in: Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England Frankreich, hg. von PAUL GOETSCH (ScriptOralia 65), Tübingen 1994, S. 169-182. BECKER, Fragmente (Anm. 114). Allgemein: ANDREAS WÜRGLER, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert (FrühNZ-Fg. 1), Tübingen 1995.

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Von der Rheinschiene als großflächigem Einzugsgebiet ist die engere regionale Schwerpunktwirkung zu unterscheiden, die sich Ende des 17. Jahrhunderts mit dem Gerichtssitz verlagerte. Die Scharen von Bauern, die Zwierlein 1767 bemerkte, sind nicht allein den breiter gestreuten Endlosprozessen zuzuordnen, sondern auch den eher auf einer zweiten Frequenz- und Intensitätsstufe angesiedelten Verfahren aus der mittelbaren Umgebung Wetzlars und Gießens. Es wurden zahlreiche Gemeinden und Gemeindeverbände aus den Ritterherrschaften Schlitz144 und Staden145, den Grafschaften Nassau146 und Solms vorstellig, wobei auch Modernisierungsschritte wie zunehmender Kartoffelanbau prozessuale Spuren hinterließen147. Endgültig in den Orbit des Gerichts einbezogen wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts der Nordwesten des Reiches, der bereits unmittelbar nach 1648 stärker in Erscheinung getreten war, gleichfalls meistens auf der zweiten Intensitäts- bzw. Frequenzstufe. Die im Horizont der Französischen Revolution zugespitzten Auseinandersetzungen in der Grafschaft SchaumburgLippe und dem Stift Hildesheim drehten sich um den traditionellen Bereich Steuer und Repräsentation148, während im Hochstift Osnabrück und im Paderborner Land, nicht allein, aber in erster Linie Allmenderechte149 strittig wurden. Denkt man an die Hattgauer Waldprobleme, kann man darin gleichfalls einen traditionellen Gegenstandsbereich erkennen. Vor dem Hintergrund säkularer Übernutzung wurde in den angesprochenen Prozessen des Nordwestens jedoch nicht allein zwischen Bauern und Herrschaftsträgern gestritten. Bereits im Jahre 1710 hatten sich die Großkötter des lippeschen Dorfes Reelkirchen an einer Allmendeklage gegen ihre Gutsherrschaft nicht beteiligt, die von den Handdienste leistenden Kleinköttern an das RKG gebracht wurde150. 144

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ANDRÉ HOLENSTEIN, Die Huldigung der Untertanen (QFA 36), Stuttgart 1991, S. 262270, 317-320. TROßBACH, Bauernbewegungen (Anm. 110), S. 189-227. WILHELM, Nassau-Weilburg (Anm. 139). DIESTELKAMP, Rechtsfälle (Anm. 5), S. 117-125; HARTMUT ZÜCKERT, Allmende und Allmendeaufhebung. Vergleichende Studien zum Spätmittelalter bis zu den Agrarreformen des 18./19. Jahrhunderts (QFA 47), Stuttgart 2003, S. 289-292. CARL-HANS HAUPTMEYER, Die Bauernunruhen in Schaumburg-Lippe 1784-1793, in: Niedersächsisches Jb. für LGesch. 49 (1977), S. 149-207; CARL-HANS HAUPTMEYER, Der Hildesheimer Bauernprozeß 1789-1800. Territoritorialverfassungen und bäuerliche Oppositionen im Niedersächsischen Raum am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Staat und Gesellschaft in Mittelalter und Früher Neuzeit, Gedenkschrift für Joachim Leuschner, Göttingen 1983, S. 260-284. BAUMANN, Gesellschaft (Anm. 2), S. 88 f. ZÜCKERT, Allmende (Anm. 147), S. 263.

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Nach 1750 spiegeln sich zunehmende Differenzierungen an der Basis der ländlichen Gesellschaften – zusammen mit einsetzenden Markenteilungen151 in einigen Prozessen in und zwischen ländlichen Gemeinden wider, die das Gericht auf dem Weg der Appellation erreichten152. Nach 1789 wurden freilich nicht diese eher diffusen Agrarkonflikte, sondern die klassischen Untertanenprozesse von zahlreichen Beobachtern als Kern der kammergerichtlichen Aktivität verstanden. Zugleich wurden sie von den Beteiligten, nicht zuletzt Teilen des RKG-Personals, einer fundamentalen Politisierung unterzogen, nicht unvermittelt allerdings, denn seit der josephinischen Visitation hatten u.a. die eingangs genannten verfahrensrechtlichen Sonderregelungen Anlass zu verstärkten Reflexionen über das Phänomen der Untertanenprozesse gegeben153. Den intellektuellen Höhepunkt in dieser Galerie stellt sicher die Einschätzung des RKG-Notars Hoscher dar, eines Angehörigen des Illuminatenordens. Er wollte bereits 1790 eine Art von deutschem Sonderweg in die Moderne erkennen, der – anders als in Frankreich – bereits über Jahrhunderte beschritten worden sei. Auf diesem Weg sei es weitgehend gelungen, Untertanenrechte zu etablieren und zu verteidigen, ohne sich dem Verderben eines Bürgerkriegs auszusetzen154. Monika Neugebauer-Wölk hat Hoschers Publikation zu Recht das „politische Manifest der Illuminaten am RKG“ genannt155.

V. Für die Formulierung der Grundlagen des Untertanenprozesses als einer kameralrechtlich definierten „Gattung“ gaben nicht reichsstädtische Bürgerzwiste oder mecklenburgische Ständekämpfe den Ausschlag, sondern Konflikte zwischen ländlichen Gemeinden und Obrigkeiten, die somit den Kern der Untertanenprozesse darstellen. Bereits im 15. Jahrhundert hatten außenstehende, meist benachbarte Reichsstände in solchen Konflikten vermittelt.

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STEFAN BRAKENSIEK, Agrarreform und ländliche Gesellschaft. Die Privatisierung der Marken in Nordwestdeutschland 1750 - 1850 (ForschRegGesch 1), Paderborn 1991. ZÜCKERT, Allmende (Anm. 147), S. 285. PETER LEYERS, Reichshofratsgutachten an Kaiser Josef II., Jur. Diss. Bonn 1976, S. 139141. Zit. nach TROßBACH, Soziale Bewegung (Anm. 1), S. 178. MONIKA NEUGEBAUER-WÖLK, Reichsjustiz und Aufklärung. Das Reichskammergericht im Netzwerk der Illuminaten (SchrRGesRKGForsch 14), Wetzlar 1993, S. 57.

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Das neu gegründete RKG trat hingegen zunächst nicht in Erscheinung. Erst im Bauernkrieg besannen sich bedrängte Obrigkeiten im äußersten Südwesten auf die Potenziale des Gerichts. Seine Stunde kam bei der Bewältigung der unmittelbaren Bauernkriegsfolgen. Bei der Annahme von Prozessen und der Erteilung von Mandaten setzte sich das Gerichtspersonal über teils enge, teils unklare Zuständigkeitsregelungen hinweg, wie sie z. B. noch im Reichsabschied von 1526 enthalten waren. Dieser Entwicklung wurde schließlich auf dem Reichstag von 1548 verfassungsrechtlich durch die unmissverständliche Etablierung eines Klagerechts bedrängter Untertanen Rechnung getragen. Für die Praxis kann bestätigt werden, dass die entscheidenden Impulse für die Verrechtlichung gesellschaftlicher Konflikte vom Bauernkrieg ausgingen, zumindest dann, wenn man unter Verrechtlichung nicht lediglich die Fortführung der spätmittelalterlichen Schlichtungspraxis versteht, sondern eine institutionelle Verlagerung bzw. Bündelung im Sinne einer Bindung an die neu organisierte Reichsgerichtsbarkeit mit den damit verknüpften römisch-rechtlich fundierten Perspektiven. Klagenden Untertanen öffnete sich damit in Gestalt der Prozesstaktik ein neues Handlungsfeld, das zuerst von den Hattgauer Bauern virtuos genutzt wurde. Für die Umsetzung war eine Praxis ausschlaggebend, die keine Rücksicht auf normative Unsicherheiten nahm, wie sie bis mindestens 1548 bestanden. Die Praxis wurde seit dem Bauernkrieg im Dreiklang von Klägern, Beklagten und Gerichtspersonal langsam eingeübt. Entscheidend waren molekulare Abläufe, darunter die durch die Kenntnis des römischen Rechts gesteuerten Überlegungen auf seiten des RKG-Personals, die in den um 1600 publizierten Kompendien und Konsilien freilich nur ein fernes Echo hinterlassen haben. Mindestens ebenso wichtig waren die Erfahrungen auf seiten der klagenden Untertanen, die freilich erst für das 17. und 18. Jahrhundert genauer nachvollzogen werden können156. Für das 16. Jahrhundert warten sie noch auf detaillierte Rekonstruktion. Immerhin ist kürzlich die Einschätzung eines bayerischen Söldenbesitzers mitgeteilt worden, der – allerdings erst an der an der Wende zum 17. Jahrhundert – berichtete, er habe auf seinen Touren als Schweinetreiber, die ihn auch nach Speyer führten, gehört, am RKG müeß der Herzog eben sowol thun, was man ime dorten schaff, alls wann man inen ettwas aufferlade.157

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TROßBACH, Bauernbewegungen (Anm. 1); TROßBACH, Reichsgerichte (Anm. 106). BREIT, Gemain (Anm. 7), S. 153.

ANETTE BAUMANN

Frauen vor dem Reichskammergericht Frankfurt und Köln im Vergleich

I. Die historische Frauenforschung oder besser Geschlechtergeschichte hat in Deutschland eine kurze Tradition. Erst zu Beginn der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts als sich die allgemeine historische Forschung der Geschichtslosen, der kleinen Leute, Randgruppen und Minderheiten zuwandte, begann man auch in Deutschland sich stärker für Frauen und ihre Rolle in der Allgemeinen Geschichte zu interessieren. Beeinflusst vor allem vom der amerikanischen Forschung begann man neue Wege zu beschreiten und sich für Beziehungen zu interessieren, und zwar nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch innerhalb der Geschlechter. Standesfragen wurden aktuell. Dabei griff man jedoch nur sehr zögerlich Themenfelder wie Staat, Verfassung, Politik, Krieg und Öffentlichkeit auf, obwohl gerade diese Themen zentrale Rahmenbedingungen weiblichen Lebens und Handelns bildeten.1 Auch in der deutschen Rechtsgeschichte griff man geschlechterspezifische Themen eher am Rande auf: Juristische Standardwerke bzw. Handbücher2 geben zwar über weibliche Lebenswelten Auskunft, aber die Forschungen basieren im Wesentlichen auf der Untersuchung der Rechtsnormen. Dabei lag der Schwerpunkt vor allem auf dem Ehe- und Familienrecht und dem damit verbundenen ehelichen Güterrecht.3 Interesse weckte auch

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CLAUDIA OPITZ, Um-Ordnungen der Geschlechter. Einführung in die Geschlechtergeschichte, Tübingen 2005, S. 50 f. Z. B. HRG 11971 ff. Es ist zu hoffen, dass die 2. völlig überarb. und erw. Aufl. des HRG 2004 ff. auch geschlechtergeschichtliche Aspekte mit einbindet. Siehe z. B. ARNE DUNCKER, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700-1914, Köln Weimar Wien 2005. ELISABETH KOCH, Maior Dignitas est in sexu virili. Das weibliche Geschlecht im Normensystem des 16. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1991. DIETER SCHWAB, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 1967.

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Anette Baumann

der Sachverhalt der Geschlechtsvormundschaft und der sogenannten Weiblichen Rechtswohltaten.4 Gleichzeitig entstand ab Ende der 1990er Jahre eine Forschungsrichtung in der Geschlechtergeschichte, die die spezifischen weiblichen Handlungsspielräume im politischen Gefüge des Alten Reiches genauer untersuchte und in den Mittelpunkt ihrer Forschungen stellte. Hier sei nur der Sammelband von Ute Gerhard mit dem Titel „Frauen in der Geschichte des Rechts“5 erwähnt. Das Reichskammergericht blieb ebenso wie die Rechtsgeschichte von geschlechterspezifischen Forschungen lange Zeit unberührt. Die Rolle der Frauen wurde nicht näher hinterfragt. Handlungsspielräume von Frauen erkannte man nicht als solche an oder qualifizierte sie höchstens als vernachlässigbare Kategorie. Auch Ranieris Auswertung der Reichskammergerichtsprozesse aus dem Jahre 1985 folgte dieser Tendenz.6 In der bahnbrechenden quantitativen Untersuchung vor allem für das 16. Jahrhundert, brachte Ranieri in seiner Analyse eine Fülle von neuen Erkenntnissen über Prozesseingangszahlen, Streitgegenstände und die Parteien, die am Gericht klagten. Frauen standen jedoch nicht im Fokus seiner Untersuchung. Ranieri spricht nur ganz allgemein von einer Handvoll Witwen und nennt in diesem Zusammenhang keine konkreten Zahlen.7 In Einzelfallanalysen fanden dagegen Frauen in den unterschiedlichsten Zusammenhängen durchaus Erwähnung, allerdings ohne dass ihre spezifische Rechtsstellung innerhalb der Ständegesellschaft und der damit verbundene Handlungsspielraum ausdrücklich bedacht und analysiert wurden. So berichtet Rita Sailer über eine Witwe, die mit dem Fürstbischof von Speyer um ein Apothekenmonopol streitet.8 Ein Theologe, Hans Seehase, hat zudem zur

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ERNST HOLTHÖFER, Die Geschlechtsvormundschaft. Ein Überblick von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, in: Frauen in der Geschichte des Rechts, hg. von UTE GERHARD, München 1997, S. 390-451. GERHARD, Frauen (Anm. 4). FILIPPO RANIERI, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption (QFHG 17 I, II), Köln Weimar 1985. RANIERI, Recht und Gesellschaft (Anm. 6), S. 227: Die Frau scheint im damaligen Rechtsleben kaum eine aktive Rolle zu spielen, in den wenigen Fällen, in denen Frauen als Prozessparteien auftreten, handelt es sich um Witwen oder um durch eigene Ehemänner vertretene Frauen. Hier ist allerdings zu beachten, dass die damalige Verzeichnissituation der Reichskammergerichtsakten es zum größten Teil auch nicht erlaubte, Aussagen über die Beteiligung von Frauen am Prozessgeschehen zu machen. RITA SAILER, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht (QFHG 33), Köln Weimar Wien 1999, S. 335-371.

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Frauen vor dem Reichskammergericht

Eherechtssprechung des Reichskammergerichts gearbeitet.9 Allerdings sind seine Ergebnisse sehr mager, da er Teile der reichskammergerichtlichen Forschung ignoriert. Auch in Bernhard Diestelkamps Buch „Rechtsfälle aus dem Alten Reich“10 nutzten in rund einem Drittel seiner Beispiele Frauen das Reichskammergericht. Peter Oestmann hat neben Hexenprozessen11 weitere Reichskammergerichtsfälle, in denen Frauen als Klägerinnen oder Beklagte auftraten, untersucht. Sein Interesse gilt den Rechtsprechungsmethoden und strategien12. In all diesen Werken findet keine Analyse darüber statt, ob bestimmte Verhaltensweisen geschlechtsspezifisch sein könnten. Man sieht: die Untersuchungen stehen am Anfang. Oft werden rechtshistorische und geschlechtergeschichtliche Fragen nicht miteinander verknüpft und damit Forschungspotential verschenkt. Umso wichtiger ist es, methodische Ansätze zu formulieren und zur Diskussion zu stellen. Erst nach diesen Vorarbeiten kann dann die eigentliche Frage gestellt werden: Gab es geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Nutzung des Reichskammergerichts? Wie sahen sie gegebenenfalls aus? Welche Kriterien bestimmten die Justiznutzung von Frauen am Reichskammergericht? Wenden wir uns nun den bis jetzt erzielten Ergebnissen der Forschung zu.

II. In dem Tagungsband „In eigener Sache“ fordert Siegrid Westphal, die Frage nach der Rechts- und Handlungsfähigkeit von Frauen und die Bedeutung der Kategorie Geschlecht bei der Urteilsfindung mit Hilfe der Rechtspraxis zu überprüfen, um damit Rahmenbedingungen aufzuzeigen, in denen Frauen handelten.13

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HANS SEEHASE, Ehesachen vor dem Reichskammergericht. Die Ehe im Spannungsfeld zwischen Recht und Theologie sowie zwischen Reich, Territorien und Kirche am Beginn der Neuzeit. Inaug. Diss., Münster 1999. BERNHARD DIESTELKAMP, Rechtsfälle aus dem Alten Reich. Denkwürdige Prozesse vor dem Reichskammergericht, München 1995. Insgesamt handelt es sich um 25 Prozessfälle. In fünf Fällen sind auch Frauen alleinige Kläger oder Klägerinnen. PETER OESTMANN, Hexenprozesse am Reichskammergericht (QFHG 31), Köln Weimar Wien 1997. PETER OESTMANN, Germanisch-deutsche Rechtsaltertümer im Barockzeitalter – ein Fallstudie (SchrRGesRKGForsch 26), Wetzlar 2000. SIEGRID WESTPHAL, Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches: Eine Einführung, in: In eigener Sache. Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches, hg. von

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Anette Baumann

Zur Beantwortung dieser Frage scheint der methodische Rückgriff auf quantitative Auswertungsverfahren besonders vielversprechend. In der Untersuchung von Anette Baumann zur „Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse“, die im Jahre 2001 erschien14, konnten erste reichsweite Ergebnisse geliefert werden. So stellt sie fest, dass insgesamt in 9,3 % der Prozesse im Zuständigkeitsgebiet des Reichskammergerichts im 17. und 18. Jahrhundert von Frauen geführt wurden.15 Dabei wurde in der Untersuchung der Status der Frau nach ihrem Ehestand definiert und bei der Auswertung zwischen ledigen Frauen, Ehefrauen und Witwen unterschieden. Es konnte festgestellt werden, dass Witwen als Prozessbeteiligte eindeutig in der Überzahl waren. Das entspricht der in den Rechtsnormen beobachteten Tendenz eines größeren Handlungsspielraumes von Witwen. Den überwiegenden Anteil der Klägerinnen stellten hochadelige Frauen, gefolgt von reichsunmittelbaren Adeligen. Aber auch die Klassifizierung „arme Partei“ kam vor.16 Häufig scheinen Frauen aus Reichsstädten geklagt zu haben. Die weitere Untersuchung nach der regionalen Herkunft dieser Frauen zeigte, dass es Gebiete gab, aus denen grundsätzlich keine Frauen klagten. Diese Territorien stimmen mit denen überein, in denen die Geschlechtsvormundschaft17 galt. So fanden sich in der Stichprobe keine Frauen als alleinige Klägerinnen, die aus der Reichsstadt Hamburg stammten. Hier stand die Frau unter unbeschränkter Geschlechtsvormundschaft. Dies galt ebenso für Ostfriesland. In dem Geltungsraum des gemeinen Sachsenrechtes, in Thüringen, Magdeburg, Kurpfalz, Westfalen und Holstein waren die Frauen dagegen nur zum Teil einer Geschlechtsvormundschaft unterworfen.18 Diese Ergebnisse warfen die Frage auf, ob Frauen auch schon im 16. Jahrhundert das Reichskammergericht nutzten. Ranieri hatte hierzu ja keine Zahlen geliefert. In Anbetracht des Umfangs einer reichsweiten Untersuchung und der Tatsache, dass die Verbreitung der Geschlechtsvormundschaft ein sehr uneinheitliches und für bestimmte Territorien voraussehbares Bild entstehen lassen könnte, beschränkte sich eine weitere Studie dar-

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SIEGRID WESTPHAL, Köln Weimar Wien 2005, S. 1-20, 11. ANETTE BAUMANN, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse (QFHG 36), Köln Weimar Wien 2001. BAUMANN, Gesellschaft der Frühen Neuzeit (Anm. 14), S. 80. BAUMANN, Gesellschaft der Frühen Neuzeit (Anm. 14), S. 81. DIETER SCHWAB, Art. Gleichberechtigung (der Geschlechter), HRG I 11971, Sp. 1696 ff. HOLTHÖFER, Geschlechtsvormundschaft (Anm. 4 ), S. 390-451, 420 ff.

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auf, die quantitative Auswertung zunächst auf zwei Territorien zu konzentrieren. Dabei schien es ratsamer, Territorien des gleichen Typs, also z. B. zwei Reichsstädte, zu untersuchen, um so gleichzeitig nicht nur im Groben, sondern auch in Feinabstimmung die Unterschiede der Justiznutzung durch Frauen im 16. Jahrhundert erstmalig beispielhaft festzumachen und ihre ökonomische Rolle zu verdeutlichen. Hierzu wurden Frankfurt und Köln im Zeitraum von 1495 bis 1650 ausgewählt19. Frankfurt am Main konnte im 16. Jahrhundert bereits auf eine lange Tradition als Reichsstadt zurückblicken. In der Mitte des Reiches gelegen, war sie zudem eine bedeutende Messestadt und vor allem Wahl- und Krönungsort der deutschen Könige und damit immer sehr eng dem Kaisertum verbunden.20 Ab 1520 wurde die Stadt Initiator und Hauptzentrum der reformatorischen Bewegung. Seit 1554 kam es in mehreren Wellen zur Einwanderung wallonischer und flämischer Calvinisten sowie Lutheranern aus den spanischen Niederlanden, was zu einem demographischen und wirtschaftlichen Aufschwung führte. Gleichzeitig wandelte sich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in der Wirtschaftskraft der Stadt: Die Frankfurter Patrizier zogen sich immer mehr aus dem Groß- und Fernhandel zurück und widmeten sich vorwiegend dem Messegeschäft.21 Gleichzeitig war die Reichsstadt Nachrichtenbörse und zu Beginn des 16. Jahrhunderts Hauptzentrum des europäischen Buchdrucks und -handels.22 Köln hatte den Status einer Freien Stadt erst nach langem Kampf gegen die Erzbischöfe von Köln 1475 erhalten. Kaiser Friedrich III. hatte jedoch mit der Verleihung der städtischen Rechte alle überkommenen Rechte des Erzbischofs nochmals bestätigt. Das bedeutete, dass die Zuständigkeiten in der Stadt nie endgültig geregelt wurden und sich beide Parteien bis zum Ende des Alten Reiches vor Reichshofrat und Reichskammergericht um ihre Zu-

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Vgl. ANETTE BAUMANN, Frauen aus Köln und Frankfurt am Main vor dem Reichskammergericht, in: Geschichte in Köln 54, 2007, S. 95-111. SIGRID JAHNS, Frankfurt am Main im Zeitalter der Reformation (um 1500-1555), in: Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, hg. von der Frankfurter Hist.Komm., Sigmaringen 1994, S. 151-204, 151. JAHNS, Frankfurt am Main (Anm. 20), S. 153. JAHNS, Frankfurt am Main (Anm. 20), S. 154.

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ständigkeiten stritten.23 Köln blieb auch in der Reformation und danach katholisch und stark durch geistliche Einrichtungen geprägt. Die Stadt war durch drei gesellschaftliche Großgruppen bestimmt: Klerus, Universitätsangehörige und Bürger. Die Bürgerschaft wurde dabei von kleineren und mittleren kaufmännischen und handwerklichen Unternehmern dominiert. Es gab keine geschlossene Oberschicht. Köln besaß großes wirtschaftliches Potenzial und konzentrierte sich als Export und Fernhandelsstadt besonders auf die Sektoren Textil- und Metallgewerbe sowie Wein- und Gewürzhandel. Köln galt zu Beginn des 16. Jahrhunderts mit ca. 40.000 Einwohnern als die größte Stadt im Reich.24 Beide Städte – Frankfurt wie Köln – besaßen umfassende Rechtsnormen, die von der Forschung intensiv untersucht worden sind. So ist es möglich, Rechtsnorm und Rechtspraxis zu vergleichen. Die Kölner Stadtgesetze, die Statuten genannt wurden, waren 1437 verabschiedet, 1513 mit einem Transfixbrief reformiert, und dann ohne große Veränderungen bis 1794 gültig.25 Die Statuten beschäftigten sich nicht systematisch mit allen Rechtsmaterien. Zudem wurde in Köln gelehrtes römisches Recht nicht zur Ergänzung der eigenen lückenhaften Gesetzgebung benutzt. Es gab auch niemals einen amtlichen Druck von Statuten, vielmehr wurden sie immer wieder den aktuellen Gegebenheiten angepasst.26 Das wirkte sich ganz besonders in Bezug auf die Kölner Frauen aus. Frauen hatten eigene Rechte und waren gleichberechtigte Teilhaber am Geschäftsverkehr, falls dies dem wirtschaftlichen Nutzen der Stadt diente. Köln gewährte nur in Ausnahmefällen Gütertrennung; dies hatte zur Folge, dass Witwen und Ehefrauen für die Schulden ihres Ehemannes mit ihrem gesamten Vermögen, also auch ihrem Heiratsgut, hafteten. Der Kölner Rat legte Wert darauf, dass die Gläubiger auf das gesamte Vermögen der Eheleute zurückgreifen konnten. Eine Ausnahme bestand lediglich dann, wenn

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GERHARD KÖBLER, Historisches Lexikon der deutschen Länder, München 31990, S. 273 und HANS MICHAEL BECKER, Köln contra Köln. Von den wechselvollen Beziehungen der Stadt zu ihren Erzbischöfen und Kurfürsten, Köln 1992. WOLFGANG HERBORN, Köln, in: Das Bild der Stadt in der Neuzeit (1400-1800), hg. von WOLFGANG BEHRINGER / BERND ROECK, München 1999, S. 256. ULF HEPPEKAUSEN, Die Kölner Statuten von 1437. Ursachen, Ausgestaltung, Wirkungen, Köln Weimar Wien 1999. HEPPEKAUSEN, Kölner Statuten (Anm. 25), S. 2 und 256.

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die Frauen ein eigenes Handelsgewerbe betrieben. Wenn es sich um eine Ehefrau handelte, konnte in diesem Fall sogar Gütertrennung zwischen den Eheleuten vereinbart werden.27 Insgesamt gab es in Köln 1.287 Prozesse im Zeitraum von 1495 bis 1650. Rund 35128 von diesen wurden mit weiblicher Beteiligung geführt; das entspricht etwa einem Anteil von über 27 %. Kölnerinnen nahmen schon seit Eröffnung des Reichskammergerichts dessen Dienste in Anspruch. Prozesse mit weiblicher Beteiligung fielen jährlich in ungefähr gleichen Anteilen aller Kölner Prozesse an. So fand der erste Reichskammergerichtsprozess mit weiblicher Beteiligung bereits 1495 statt. Verstärkt nahmen die Frauen das Reichskammergericht von 1508 bis 1518 in Anspruch. Nach einem kurzen Abschwung in den 1520er Jahren setzte dann das Interesse an dem Gericht erneut ein, um dann parallel zum Kölner Gesamtaufkommen ab Mitte des Jahrhunderts anzusteigen. Das deckt sich auch mit den reichsweiten Eingangszahlen des Gerichts und setzte sich bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts fort.29 Versucht man, die Frauen nach ihrem Personenstand zu klassifizieren, so stellen Witwen mit fast 70 % den überwiegenden Anteil, 7 % aller Prozesse werden von Ehefrauen geführt. Eine weitere Gruppe mit einem Anteil von rund 19 % wird überhaupt nicht nach ihrem Personenstand klassifiziert; es wird nur der Name genannt. Einen besonderen Platz nehmen Ledige ein. Es handelt sich dabei überwiegend um geistliche Funktionsträgerinnen, z. B. um Äbtissinnen und Priorinnen.30 Frankfurt gilt in der deutschen Rechtsgeschichte als der Vorreiter der Rezeption, deren Wirkung in den Stadtrechtsreformationen von 1509 und 1578 sichtbar wird. Die Überarbeitung der Reformation nach römischrechtlichen Prinzipien von 1578 stammte aus der Feder des ehemaligen Reichskammergerichtsprokurators Johann Fichard.31 27 28

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BAUMANN, Frauen aus Köln und Frankfurt (Anm. 19), S. 100 f. Es wurden nur Prozesse gezählt, bei denen Frauen die alleinigen Klägerinnen oder Beklagte sind. BAUMANN, Frauen aus Köln und Frankfurt (Anm. 19), S. 101. BAUMANN, Frauen aus Köln und Frankfurt (Anm. 19), S. 102. HELMUT COING, Die Frankfurter Reformation von 1578 und das Gemeine Recht ihrer Zeit. Eine Studie zum Privatrecht der Rezeptionszeit, Weimar 1935. Reformacion der Stat Franckenfort am Meine des heiligen Romischen Richs Cammer anno 1509, Frankfurt am Main 1509, Neudruck mit Einleitung, bibliographischen Hinweisen und Sachregister in fotomechanischer Verkleinerung […], hg. von GERHARD KÖBLER, Gießen 1984.

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Im Zeitraum von 1495 bis 1650 kamen insgesamt 645 Prozesse aus Frankfurt an das Reichskammergericht. In 19,3 % der Fälle waren Frauen als Klägerinnen oder Beklagte beteiligt. Ebenso wie in Köln entspricht der Anteil der Prozesseingänge mit weiblicher Beteiligung dem allgemeinen Trend aller jährlich aus Frankfurt kommenden Prozesse. In den Reichskammergerichtsprozessen aus Frankfurt wurden die Frauen ebenfalls nach ihrem Personenstand klassifiziert. Witwen stellten, wie in Köln, mit 59,2 % den größten Anteil. Er ist allerdings 10 Prozentpunkte niedriger als in der Stadt am Rhein. Eine sehr kleine Gruppe wird als „Ehefrau“, „Tochter“ oder „Schwester“ bezeichnet.32 Bürgerliche Ehefrauen treten dagegen, wie in Köln, meist nur bei einem Prozessgegenstand als Klägerinnen oder Beklagte auf; und zwar wenn es um die Schuldenhaftung der Ehefrau ging. Es bestand aber ein beträchtlicher Unterschied: Ähnlich wie in Köln war das „Senatus Consultum Velleianum“ in Frankfurt nur noch in Teilbereichen gültig. Entscheidend war dabei die Frage, ob die Ehefrau zusammen mit ihrem Mann Geschäfte betrieben hatte oder nicht. Hatte sie zusammen mit ihrem Mann ihren Lebensunterhalt verdient, so haftete sie mit ihrem gesamten Vermögen einschließlich ihrer Mitgift. Das Schutzbedürfnis der Frau musste hinter dem Gläubigerschutz zurücktreten. War sie dagegen in die beruflichen Tätigkeiten ihres Mannes nicht involviert, konnte sie sich auf die Weiblichen Rechtswohltaten berufen. Ansonsten treffen wir auf die wenigen bürgerlichen Frankfurter Ehefrauen, die als Beklagte oder Klägerinnen vor dem Reichskammergericht in Erscheinung traten, nur noch in Streitigkeiten in Zusammenhang mit Erbschaften. Ledige Frauen aus Frankfurt führten keine Prozesse am Reichskammergericht. Daneben wird in den Prozessen aus Frankfurt eine Klassifizierung von Frauen vorgenommen, die in Köln nur ein einziges Mal vorkommt, in Frankfurt aber bei knapp einem Viertel (24,8 %) aller Prozesse mit weiblicher Beteiligung zu finden ist. Es handelt sich um Frauen, die als frühere Witwe und jetzige Ehefrau bezeichnet werden. Diese Frauen scheinen den gleichen Rechtsstatus wie Witwen, d. h. die volle Prozessfähigkeit, besessen zu haben, obwohl sie inzwischen eine neue Ehe eingegangen waren. Streitgegenstände waren dabei immer Auseinandersetzungen, die sich auf ihren früheren Status als Witwe und neuerliche Ehefrau bezogen.33

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BAUMANN, Frauen aus Köln und Frankfurt (Anm. 19), S. 106. BAUMANN, Frauen aus Köln und Frankfurt (Anm. 19), S. 108 f.

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Als vorläufiges Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Frauen das Reichskammergericht von Beginn seiner Existenz bis zu seinem Ende 1806 unterschiedlich nutzten und dass dabei neben der Rezeption des Römischen Rechts die rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten des jeweiligen Territoriums eine bedeutende Rolle spielten. Deutlich wird aber auch, dass weitere Forschungen nötig sind, um die Zugangsmöglichkeiten von Frauen an das Gericht differenzierter aufzuzeigen. Gerade der Zugang über die Handhabung der Weiblichen Rechtswohltaten in den einzelnen Territorien scheint hier vielversprechend zu sein.

III. Auch die Frage, warum sahen sich Frauen gezwungen, am Reichskammergericht zu klagen beziehungsweise wann wurden sie beklagt, wurde von Forschern bereits gestellt. Hier gibt es neben quantitativen Forschungen auch zahlreiche Einzelfallanalysen. Die wenigen Zahlen ergeben für das 17. und 18. Jahrhundert folgendes Bild: Vor allem Witwen klagten wegen Schuldforderungen aller Art. Sie mussten meist versuchen, die Gehälter und Honorare ihrer verstorbenen Männer zu erhalten, um so den weiteren Lebensunterhalt ihrer Familie zu sichern. Erbschaftskonflikte standen dagegen im Hintergrund. Bei den Ehefrauen und Töchtern sind die Streitgegenstände dagegen anders verteilt. Hier hielten sich Streitigkeiten um familiäre und geldwirtschaftliche Dinge fast die Waage. Innerhalb der Familien wurde meistens um das Heiratsgut der Ehefrau gestritten. Auffällig viele Prozesse befassten sich allerdings auch mit Schadenersatz und Schuldforderungen aus Darlehen.34 In Bezug auf den Zeitraum von 1495 bis 1650 konnte für Köln festgestellt werden, dass sich mit Ausnahme der geistlichen Würdenträgerinnen die Frauen um Schuldforderungen, Beleidigungen, Gültigkeit von Testamenten und Ähnlichem stritten. Besonders häufig spielte die Frage der Haftung der Ehefrau bzw. Witwe für die Schulden des Mannes eine Rolle. Daneben gab es in Köln in diesem Zeitraum sehr viele Beleidigungs- und Ehrverletzungsprozesse. Immerhin 9,3 % aller Prozesse beschäftigten sich damit.35

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BAUMANN, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit (Anm. 14), S. 82 f. BAUMANN, Frauen aus Köln und Frankfurt (Anm. 19), S. 102 f.

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In Frankfurt bildete vor allem die Rechtsstellung von Frauen, die nach dem Verlust des Ehemannes noch einmal heirateten, Konfliktpotential. Bei rund 24,8 % aller Prozesse mit weiblicher Beteiligung war dies der Fall. Die Ursachen finden sich hier in der so genannten Frankfurter Reformation.36 Prozesse wegen Injurien spielten dagegen so gut wie keine Rolle. Quantitativ untersucht wurden inzwischen auch Scheidungsprozesse vor dem Reichskammergericht. Eine stichprobenartige Auswertung verschiedener Repertorien hat ergeben, dass Scheidungen keine besonders große Rolle spielten.37 Allerdings kann festgestellt werden, dass ein deutlicher zeitlicher Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts liegt. Dabei stammte die Gruppe der Kläger zu rund zwei Dritteln aus dem bürgerlichen bzw. städtischen Umfeld, und ein Drittel aus dem niederen Adel. Das Verhältnis der Geschlechter war bei der Gruppe der Kläger ausgewogen.38 Meist bildete die Scheidung auch nicht den Ausgangspunkt der Klagen, sondern es geht vielmehr um die vermögensrechtlichen, gesellschaftlichen und politischen Folgen von Scheidungen. Bei den Prozessen handelte es sich überwiegend um Appellationen. Häufig ging es um die Vollstreckung untergerichtlicher Entscheidungen oder es wurde um Fragen der Zuständigkeit gestritten oder aber auch verweigerte Justiz geltend gemacht. Auch Klagen um die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand kamen vor.39 Grundsätzlich stand die Rechtslage im Vordergrund auch mit der Folge, dass die individuellen vermögensrechtlichen Interessen einer geschiedenen Frau über den ordnungspolitischen und wirtschaftlichen Interessen der Obrigkeit gestellt wurden. Das Reichskammergericht versuchte gerade bei Auseinandersetzungen von Scheidungen, Recht an Stelle von Moral zur Grundlage der Rechtsprechung zu machen.40 Im Gegensatz zu quantitativen Analysen haben Einzelfalluntersuchungen den Nachteil, dass sie sich kaum verallgemeinern lassen. Das ist auch bei dem Aufsatz mit dem Thema „Ihrem Herzen und Charakter Ehre machen“. Frauen wenden sich an das Reichskammergericht“ von Irene Jung der Fall. Hier wird erstmalig der Frage nachgegangen, welche Streitgründe Frauen aus Wetzlar überhaupt veranlassten, eines der höchsten deutschen

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BAUMANN, Frauen aus Köln und Frankfurt (Anm. 19), S. 109. SIEGRID WESTPHAL, Ehen vor Gericht – Scheidungen und ihre Folgen am Reichskammergericht (SchrRGesRKGForsch 35), Wetzlar 2008, S. 13. WESTPHAL, Ehen vor Gericht (Anm. 37), S. 14. WESTPHAL, Ehen vor Gericht (Anm. 37), S. 14. WESTPHAL, Ehen vor Gericht (Anm. 37), S. 51.

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Gerichte anzurufen. Nahe liegend waren natürlich Familien, Erbrecht und Vormundschaftsbestallungen sowie Scheidungen und Unterhaltsforderungen. Es gab aber auch Prozesse um Schuldrecht, die Qualität von Waren und Dienstleistungen sowie Nachbarschaftsrecht und Baurecht. Besonderes Augenmerk richtete Jung auf zwei Frauen, die um das Recht der Berufsausübung klagten. Jung stellt fest, dass die Wetzlarer Frauen des 18. Jahrhunderts das Reichskammergericht in vollem Umfang nutzten und sich ihrer Rechte und Pflichten bewusst waren.41 Allerdings beschränkt sich ihre Untersuchung auf ein räumlich sehr kleines Territorium mit wenigen Einwohnern, dem auf Grund seiner Stellung als Sitz des Reichskammergerichts zudem noch eine Sonderrolle zukommt, so dass diese Ergebnisse kaum verallgemeinert werden können. Der Tagungsband „In eigener Sache“42 bezieht dagegen das ganze Reich mit ein. Hier wird ebenfalls in Einzelfällen die Motivation deutlich, warum Frauen aus verschiedenen Territorien und unterschiedlichen Ständen überhaupt den Gang an das Reichskammergericht und den Reichshofrat suchten. Caroline Sophie von Massenbach verklage zu Anfang des 19. Jahrhundert zwei Nassauische Prinzessinnen wegen ausbleibenden Gehalts für ihre Gouvernantentätigkeit. Ihr Anwalt argumentierte, „wie ungern und mit innigsten Leidwesen“ seine Mandantin die Hilfe des Gerichts anrufe und wie der Schritt „ihren Empfindungen und ihrer Handlungsweise so sehr widerstrebt, welche ihr aber jetzt höhere Pflichten zum gebietherischen Gesetze machen.“43 Der Anwalt spielt auf den Umstand an, dass Sophie sich als Ehefrau und Mutter um die Versorgung ihrer eigenen Familie kümmern musste, um so für die adelige Familie das standesgemäße Auskommen zu sichern. Ihre Gouvernantentätigkeit und der daraus resultierenden Vereinbarung jährlich bis an das Lebensende 400 fl zu erhalten, hatten dem 11. Kind eines Reichsritters überhaupt erst eine standesgemäße Ehe möglich gemacht44. Gerade dieser Prozess zeigt, dass Forschungen zu Prozessen des Reichskammergerichts mit adeligen Frauen nicht nur Erkenntnis fördernd

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IRENE JUNG, Thema „Ihrem Herzen und Charakter Ehre machen“. Frauen wenden sich an das Reichskammergericht“ (SchrRGesRKGForsch 21), Wetzlar 1998. WESTPHAL, In eigener Sache (Anm. 13). Hessisches HStA Wiesbaden, Abt. 1, Bestand Reichskammergericht Nr. 1110, Q 5. ANETTE BAUMANN, Klagen auf Unterhaltssicherung von Frauen vor dem Reichskammergericht: Caroline Sophie von Massenbach gegen die Prinzessinnen von Nassau-Weilburg, in: In eigener Sache, hg. von WESTPHAL (Anm. 13), S. 107-118.

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für die Geschlechtergeschichte sind, sondern auch wichtige Beiträge für das Selbstverständnis des Adels im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation liefern können.45 Auch in einem anderen Fall werden zusätzlich zum eigentlichen Prozessgeschehen neue weibliche Handlungsebenen erschlossen, die wichtige Impulse für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte geben. Konkret geht es um eine Frankfurter Handelsfrau. Anja Amend kann zeigen, wie eine Schuldnerin die Frankfurter Handelsgesetzgebung und ihren dort festgelegten Status als Handelsfrau nutzt, um damit die aus ihren Wechselgeschäften stammenden Geldforderungen zurückzuweisen.46 Auch Streitigkeiten über Ehe und Konfession weisen über den eigentlichen Streitfall hinaus und zeigen territoriale Herrschaftsmuster auf. Besonders beim Streit über die Konfessionszugehörigkeit der Kinder bei konfessionell gemischten Ehen lassen sich bei Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht neue Erkenntnisse gewinnen. Am Beispiel der Familie von Albini und die Konfessionsbestimmung ihrer Kinder konnte Dagmar Freist zeigen, dass der Rechtsfindungsprozess auf Reichsebene aufgrund sich überschneidender Rechtsräume sehr erschwert wurde. Das Verhältnis der Geschlechter und mit ihr die unbestrittene Herrschaft des Mannes in Form der väterlichen Gewalt musste immer wieder neu ausgehandelt werden. Dies machte sich auch Frau von Albini, gestützt auf ihre Anwälte, zu Nutze, indem sie an der rechtlichen Einschränkung der väterlichen Gewalt bei der Erziehung ihrer Töchter festhielt, die durch die geschlechtsspezifische Gesetzgebung zu Mischehen in Hessen-Kassel vorgegeben war.47

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Vgl. dazu ausführlich HEIDE WUNDER, Einleitung. Dynastie und Herrschaftssicherung. Geschlechter und Geschlecht, in: Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit Geschlechter und Geschlecht hg. von HEIDE WUNDER, Berlin 2002, S. 9-28, 14 f. ANJA AMEND, Frauen in der handelsrechtlichen Jurisdiktion des Reichskammergerichts. Über die Frage, ob „Weibs=Persohnen mit Wechsel contrahiren können“, in: In eigener Sache, hg. von WESTPHAL (Anm. 13), S. 119-152. DAGMAR FREIST, Der Fall von Albini – Rechtsstreitigkeiten um die väterliche Gewalt in konfessionell gemischten Ehen, in: In eigener Sache, hg. von WESTPHAL (Anm. 13), S. 245-270, 269. Ehescheidungen und -zwistigkeiten im Zusammenhang mit Konfessionswechsel hat auch Manfred Hörner untersucht. Allerdings stammt sein Fall aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, während der Fall Albini im 18. Jahrhundert am Reichskammergericht anhängig war. Siehe hierzu MANFRED HÖRNER, Brudermord und Ehezwist. Die Reichsammergerichtsprozesse der Brüder Gregor und Augustin Einkürn, in: Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherungen – Fallstudien – Statistiken (QFHG 50), hg. von ANETTE BAUMANN / PETER OESTMANN / STEPHAN WENDEHORST / SIEGRID WESTPHAL, Köln Weimar Wien 2005, S. 181-211.

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Frauen vor dem Reichskammergericht

Als Ergebnis kann die Herausgeberin des Bandes, Siegrid Westphal, festhalten, dass das Geschlecht in den Verfahren vor dem Reichskammergericht eher von nachrangiger Bedeutung war. Gerade das Reichskammergericht habe sich durch „Geschlechtsneutralität“ ausgezeichnet.48 Entscheidend waren Stand und Konfession. Gleichzeitig scheint sich die These Westphals zu bestätigen, dass die Rechts- Geschäfts- und Handlungsfähigkeit aller Frauen nicht so sehr auf die Rezeption des römisch-kanonischen Rechts zurückzuführen sei, sondern dass vielmehr die ökonomischen Funktionen von Frauen eine zentrale Rolle gespielt haben dürften.49

IV. So interessant Einzelfallstudien auch sind, ergeben sie jedoch kein umfassendes Bild und werden der Masse der reichskammergerichtlichen Akten nicht gerecht. Quantitative Aussagen, die den Einzelfall nicht berücksichtigen, sind dagegen wiederum oft zu allgemein und pauschal. Deshalb müssen beim jetzigen Stand der Forschung Strategien entwickelt und diskutiert werden, um dieses Dilemma zu beheben. Eine Kombination von Einzelfallanalyse zu quantitativen Aussagen wäre dabei besonders Erkenntnis fördernd. Dies könnte erreicht werden, indem man bestimmte Gruppen von Frauen mit einer eindeutigen Funktion herausgreift und analysiert. Zu denken wäre hier z. B. an Soldatenwitwen, Bürgerfrauen einer Reichsstadt, adelige Frauen aus der Reichsritterschaft oder dem landesherrlichen Adel. Eine besonders interessante Gruppe sind die geistlichen Würdenträgerinnen.50 Ein erster Ansatzpunkt wäre, die Handlungsspielräume von Äbtissinnen in reichsunmittelbaren Damenstiften wie Quedlinburg, Herford, Gandersheim und Essen51 auszuloten.52 Schlug sich ihre privilegierte Stellung innerhalb

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WESTPHAL, Einführung (Anm. 13), S. 17. WESTPHAL, Einführung (Anm. 13), S. 6. Vgl. auch UTE KÜPPERS-BRAUN, Dynastisches Handeln von Frauen in der Frühen Neuzeit, in: Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit. Geschlechter und Geschlecht. ZHF Beih. 28, Berlin 2002, S. 221-238. Gerade das Stift Essen ist in jüngster Zeit gut erforscht worden: vgl. z. B. UTE KÜPPERSBRAUN, Frauen des hohen Adels im kaiserlich-freiweltlichen Damenstift Essen (1605-1803). Eine verfassungs- und sozialgeschichtliche Studie. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Stifte Thorn, Elten, Vreden und St. Ursula in Köln (Qu. und Studien. Veröff. des Inst. für kirchengeschichtliche Fg. des Bistums Essen 8), Münster 1997. Ferner KURT ANDERMANN

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des Reiches auch in Reichskammergerichtsprozessen nieder? Ging es nur um Konflikte mit Untertanen oder machten auch die Nachbarn Schwierigkeiten? Wie wurden die Territorien regiert? Welches Verhältnis hatte die Äbtissin zu ihrem Konvent und auch zu ihrer eigenen Familie? Welches Selbstverständnis pflegten sie? Wie waren sie formell und zeremoniell in das Reich eingebunden und hatte das Folgen bei Reichskammergerichtsprozessen? etc. Gerade mit der Erforschung reichsunmittelbarer Äbtissinnen und ihren Handlungsspielräumen vor den Höchsten Gerichten des Alten Reiches könnten auch neue Erkenntnisse über das Verfassungsgefüge des Alten Reiches gewonnen werden.53 Die stärkere Berücksichtigung geistlicher Territorien, besonders unter weiblicher Herrschaft, ist ein dringendes Desiderat der Forschung.54 Ein kurzer Blick in die Repertorien zeigt zudem: in fast 50 Prozessen traten die Äbtissinnen von Essen als Klägerinnen auf.55 Besonders häufig führten sie Prozesse in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.56 Auch um 1803 waren sie aktiv.57 Die Kolleginnen aus Quedlinburg nutzten das Gericht dagegen weit weniger intensiv. Nur 10 Prozesse wurden am Reichskammergericht geführt. Prozesse häuften sich hier gegen Mitte des 16. und gegen Ende des 17. Jahrhunderts.58 Die Buchauer Äbtissinnen klagten ebenfalls häu-

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(Hg.), Geistliches Leben und standesgemäßes Auskommen. Adlige Damenstifte in Vergangenheit und Gegenwart, Tübingen 1998. Siehe auch HEIDE WUNDER, Herrschaft und öffentliches Handeln von Frauen in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: GERHARD, Frauen (Anm. 4), S. 27-54, 43 ff. Hier scheint sich in jüngster Zeit ein neuer Forschungsschwerpunkt anzubahnen. Siehe die gedruckte Antrittsvorlesung von MATTHIAS SCHNETTGER, Kleinstaaten in der Frühen Neuzeit. Konturen eines Forschungsfeldes, in: HZ 286 (2008), S. 605-640. Siehe hierzu auch: SCHNETTGER, Kleinstaaten in der Frühen Neuzeit (Anm. 53), S. 605650, 638. Reichskammergericht E-G, bearb. von WOLFGANG ANTWEILER / BRIGITTE KASTEN unter Mitarbeit von PAUL HOFFMANN (Veröff. der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe A: Inventare staatlicher Archive, Das HStA Düsseldorf und seine Bestände, hg. von Nordrhein-Westfälischen HStA Bd. 9 Teil 3), Siegburg 1989, Nr. 1.597 bis Nr. 1.643. Repertorium Düsseldorf (Anm. 55): Nr. 1.602-1.606, 1.610-1.615, 1.618-1.627, 1.631. Repertorium Düsseldorf (Anm. 55): Nr. 1.607, 1.608. Findbuch der Akten des Reichskammergerichts im Landesarchiv Magdeburg – LHA, Buchstabe N-S(im), bearb. von DIETRICH LÜCKE, Halle 2001 (Veröff. der Staatlichen Archivverwaltung des Landes Sachsen-Anhalt, Reihe A: Qu. zur Gesch. Sachsen Anhalts, hg. von Landesarchiv Magdeburg – LHA Bd. 16): Nr. 1.139-1.148.

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fig. Insgesamt handelt es sich hier um 28 Prozesse.59 Auch die Prozesse von Regentinnen von Kleinterritorien wären ein interessantes Untersuchungsfeld. Ging es beim Reichskammergericht nur um Klagen wegen vormundschaftlichen Fragen oder handelten die Frauen auch als Personen, die eigene Regierungsvorstellungen besaßen und diese auch durchsetzten wollten? Welche Rolle spielte dabei das Reichskammergericht? In der Frühen Neuzeit wurden adelige Töchter von der persönlichen Sukzession meist ausgeschlossen, erlangten aber als fürstliche Ehefrauen eine Reihe von herrschaftlichen Befugnissen, die an die Ausübung von Landesherrschaft gebunden waren. So konnte der Fürst, der außer Landes ging, weil er sich in die Dienste beim Kaiser oder einem größeren Landesherrn begab, die Ehefrau mit der Statthalterschaft beauftragen.60 Von dieser Art der Stellvertretung muss man die Regentschaft verwitweter Landesherrinnen unterscheiden. Anders etwa als in den großen Territorien des Reiches erlangten in den mittleren, und besonders in den kleinen Territorien gräfliche und fürstliche Witwen vielfach die Vormundschaft über die unmündigen Kinder sowie die Regentschaft bis zur Volljährigkeit des Erben.61 Vormundschaft und Regentschaft sind von der Forschung in unterschiedlichen Maß diskutiert worden. Das Rechtsinstitut der Vormundschaft ist seit dem 19. Jahrhundert ein zentraler Bestandteil privatrechtlicher Forschungen.62 Das Rechtsinstitut der Regentschaft fand dagegen in der Forschung weit weniger Aufmerksamkeit als die dem Privatrecht zugehörige Vormundschaft. So findet sich nur im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte ein Artikel mit dem Titel Regentschaft.63 Ansonsten sind

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Akten des Reichskammergerichts im HStA Stuttgart A-D, Inventar des Bestands C 3, bearb. von ALEXANDER BRUNOTTE / RAIMUND J. WEBER (Veröff. der Staatlichen Archivverwaltung Baden Württemberg; hg. von der Landesarchivdirektion Baden Württemberg Bd. 46/2), Stuttgart 1995: Nr. 457-475, 477-486. Siehe hierzu auch BERNHARD THEIL, Geistliche Einkehr und adlige Versorgung. Das Damenstift Buchau zwischen Kirche und Reich, in: ANDERMANN (Hg.), Geistliches Leben (Anm. 51), S. 43-58. WUNDER, Herrschaft und öffentliches Handeln (Anm. 52), S. 46. Siehe auch JOHANNES ARNDT, Das niederrheinisch-westfälische Reichsgrafenkollegium und seine Mitglieder (1635-1806), Mainz 1991, S. 248-256, 265-330. WUNDER, Herrschaft und öffentliches Handeln (Anm. 52), S. 48. Siehe hierzu auch PAULINE PUPPEL, Die Regentin. Vormundschaftliche Herrschaft in Hessen 1500-1700, Frankfurt New York 2004. PUPPEL, Die Regentin (Anm. 61), S. 25. PUPPEL, Die Regentin (Anm. 61), S. 25; ARMIN WOLF, Art. Regentschaft HRG IV 11990, Sp. 485-487.

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eher knappe Überblicksdarstellungen in den Handbüchern zur deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte die Regel.64 Eine besonders energische Regentin war Charlotte Amalie von NassauUsingen. Sie regierte von 1718 bis 1735. Nach dem Tode ihres Gemahls übernahmen Georg August Samuel von Nassau-Idstein, Friedrich Wilhelm Adolph von Nassau-Siegen zusammen mit Charlotte Amalie die Vormundschaft.65 Charlotte Amalie sollte dabei als Regentin agieren. Es kam jedoch sofort zu Konflikten, da Charlotte Amalie bei der Testamentseröffnung eine klare Trennung zwischen Hof- und Landesverwaltung verlangte.66 Ihre fürstlichen Mitvormünder wollten es jedoch beim Status quo belassen, da sie dem zukünftigen Fürsten in seinen Entscheidungen nicht vorgreifen wollten. Es kam zu Streitigkeiten, bei denen erheblicher Druck auf Charlotte Amalie ausgeübt wurde.67 Da diese Strategie nichts nützte und sich Charlotte Amalie weiterhin unbeugsam zeigte, versuchten die Mitvormünder, die Untertanen auf ihre Seite zu ziehen und das Reichskammergericht für sich zu gewinnen. Der Streit eskalierte und es kam zu tätlichen Auseinandersetzungen.68 Nassau-Siegen ging das Vorgehen der Idsteiner schließlich zu weit, zumal Charlotte Amalie Hessen-Darmstadt als Vertreter ihrer Interessen gewinnen konnte. 1721 starb Georg August von Idstein. Der Streit erlosch, weil Idstein nun an Usingen fiel.69 Charlotte Amalie stritt sich aber nicht nur mit den Mitvormündern. Auch gegen ihren eigenen Bruder klagte sie vor Gericht. Dabei ging es um die Einweisung von Episkolparechten, niedere und hohe Jurisdiktion sowie andere Gerechtigkeiten.70 Insgesamt, so kann man festhalten, benutzte Charlotte Amalie das Gericht, um ihre Vorstellungen von Regentschaft durchzusetzen.

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PUPPEL, Die Regentin (Anm. 61), S. 25. Dort werden auch die entsprechenden Werke vorgestellt. Abt. 1: Reichskammergericht, Teil 1: Nassauische Prozessakten, Bd. 1 A-M, Bd. 2, N-Z, Bd. 3, Anhang, Indices; bearb. von CLAUDIA HELM und JOST HAUSMANN (Repertorien des Hessischen HStA Wiesbaden, hg. von dem Hessischen HStA in Verbindung mit der Hist.Komm. für Nassau), Wiesbaden 1987, Nr. 1.272. Vormundschaftsbestätigung und Hinterlegung beim Reichskammergericht. Darin befindet sich auch ein Auszug aus dem Testament Wilhelm Heinrichs. KARL ERNST DEMANDT, Geschichte des Landes Hessen, Kassel 21980, S. 431. ELISABETH GECK, Das Fürstentum Nassau-Saarbrücken-Usingen im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des deutschen Kleinstaates, Diss. Mainz 1953, S. 17, 19. Repertorium Nassau (Anm. 65), Nr. 1.274. GECK, Das Fürstentum Nassau-Saarbrücken (Anm. 67), S. 6. Repertorium Nassau (Anm. 65), Nr. 1.280.

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Eine weitere Untersuchungsstrategie könnte darin bestehen, Eingaben von Frauen an das Reichskammergericht zu untersuchen. Die nicht streitige Gerichtsbarkeit des Reichskammergerichts ist bis jetzt unerforscht. In der üblichen Sekundärliteratur wird lediglich festgestellt, dass das Reichskammergericht sie ausübte. Hier werden die Forschungen auch nicht durch die Neuverzeichnung der Reichskammergerichtsakten unterstützt, denn ein großer Teil der Akten zur nicht streitigen Gerichtsbarkeit befindet sich im Untrennbaren Bestand und wurde bei der Neuverzeichnung nicht berücksichtigt. Im Neuverzeichnis des Bundesarchivs zum Untrennbaren Bestand von 1994 heißt es: „Als zu umständlich erwies sich die Erfassung der Akten aus der streitigen Gerichtsbarkeit mit denen der freiwilligen Gerichtsbarkeit in einem gemeinsamen Inventar“71. Ein getrenntes Inventar ist noch nicht erschienen und meines Wissens auch nicht geplant. Meine Ausführungen beruhen deshalb zum Teil auf der Verzeichnung von Koser aus dem Jahre 1933.72 Es finden sich aber auch in anderen Repertorien Beispiele für nicht streitige Gerichtsbarkeit.73 Insgesamt handelt es sich um ca. 400 Vorgänge.74 Das scheint bei der Masse der Akten eine vernachlässigbare Größe, verfälscht jedoch das Allgemeinbild entscheidend, da es sich um Vorgänge aus einer bestimmten Kategorie der Gerichtsbarkeit des Reichskammergerichts handelt. Die Trennung von „Freiwilliger Gerichtsbarkeit“ und streitiger Gerichtsbarkeit ist seit dem Mittelalter bekannt. Die Bedeutung der Freiwilligen Gerichtsbarkeit stieg umso mehr, je stärker man erkannte, dass des Aufgabe der Obrigkeit sei, fürsorgend für Hilfsbedürftige tätig zu werden.75 Einen wichtigen Teil der Freiwilligen Gerichtsbarkeit bildete die Entgegennehme rechtsverbindlicher Erklärungen durch das Gericht und ihre Sicherung gegen Erinnerungsverlust.76

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Reichskammergericht, Bestand AR 1, Prozessakten, bearb. von URSULA HÜLLBÜSCH / HANS SCHENK (Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs, Bd. 46), Koblenz 1994, S. XIII. OTTO KOSER, Repertorium der Akten des Reichskammergerichts. Untrennbarer Bestand. Bd. I, Prozessakten aus der Schweiz, Italien, den Niederlanden und dem Baltikum sowie der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Nachdruck von 1933, Hildesheim 2006. Siehe z. B. Abt. 1: Reichskammergericht, Teil 3: Prozessakten des preußischen Kreises und der Stadt Wetzlar, Bd. 1 Kreis Wetzlar A-K, Bd. 2 Kreis Wetzlar L-Z, bearb. von JOST HAUSMANN (Repertorien des Hessischen HStA Wiesbaden, hg. von dem Hessischen HStA in Verbindung mit der Hist.Komm. für Nassau), Wiesbaden 1984. Nur bezogen auf das Koser`sche Repertorium. INA EBERT, Art. Freiwillige Gerichtsbarkeit HRG I 22008, Sp. 1784-1786, 1785. ERICH DÖHRING, Art. Freiwillige Gerichtsbarkeit, HRG I 11971, Sp. 1252-1262, 1254

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Die nicht streitige Gerichtsbarkeit des Reichskammergerichts konnte bei Bestätigung der Volljährigkeit, Bekräftigung der Primogenitur, Bestätigung, Hinterlegung und Eröffnung von Testamenten, Verträgen und Vergleichen, Geleitschutzerteilungen, Adoptionen, Vormundschaftsbestallungen, Standeserhöhungen und bei der Erteilung von Privilegien praktisch werden. Grundsätzlich waren Frauen bei allen diesen Vorgängen beteiligt. Besonders auffällig ist die Hinterlegung von Testamenten. Rund 30 Testamente von Frauen konnten bis jetzt in einer Stichprobe ermittelt werden. Das älteste entstand 163277 und das jüngste 179578. Die Frauen, die diese Testamente hinterlegten, kann man in drei Gruppen teilen: Adelige Frauen, die durch ihren Ehemann mit dem Reichskammergericht verbunden waren. Es handelt sich hier um die Ehefrau eines Kammerrichters aber auch um eine einfache Assessorengattin79. Daneben gab es landesherrliche und reichsritterschaftliche Frauen aus allen Territorien des Reiches sowie bürgerliche Frauen. Betrachtet man die adeligen Frauen näher, so handelt es sich z. B. um Sophie Auguste von Anhalt, eine geborene Prinzessin von Nassau-Usingen, die als Witwe und kinderlos ihr Testament am Reichskammergericht am besten aufgehoben sah.80 Auch Sophie Agnes von Mecklenburg-Schwerin81 und Amalia von Wied-Runkel82 hatten keine Kinder. Daneben wandten sich einfache Adelige aus sächsischen und fränkischen Territorien an das Gericht. Interessant ist der Fall der Johanna von Greiffenclau, die aus dem Haus Dehrn stammte. Sie war die „Erbtochter“, die der Familie Vollrads ein beträchtliches Vermögen einbrachte. Auch sie zog es vor, ihr Testament am Reichskammergericht aufbewahren zu lassen.83 Daneben gab es zahlreiche bürgerliche Frauen: Dorothea Sachs hinterlegte ihr Testament, da sie schwanger war und ihr Mann sich in Kriegsdiensten befand,84 bei Margare-

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Es handelt sich um das Testament von Catharina von Köteritz, geb. von Sponheim, KOSER (Anm. 72), Nr. 304. Es handelt sich um das Testament der Tochter eines Kammergerichtsboten Dorothea Sachs; KOSER (Anm. 72), Nr. 496. Prozessakten des preußischen Kreises und der Stadt Wetzlar (Anm. 73), Nr. 3.362, Sophia von Reuss von 1781. KOSER, Untrennbarer Bestand (Anm. 72), Nr. 11. KOSER, Untrennbarer Bestand (Anm. 72), Nr. 380. KOSER, Untrennbarer Bestand (Anm. 72), Nr. 667. Prozessakten des preußischen Kreises und der Stadt Wetzlar (Anm. 73), Nr. 2.962. KOSER, Untrennbarer Bestand (Anm. 72), Nr. 496.

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tha Susanne Möller85, Catharina Paulino86, Maria Elisabeth Rehwinckel87 und NN. Weiskirch88 kennen wir die Gründe im Moment noch nicht. Wichtig erscheint außerdem, dass auch reichsunmittelbare Äbtissinnen ihr Testament am Reichskammergericht hinterlegten.89 Die wenigen Beispiele zeigen, dass das Reichskammergericht als eine vertrauenswürdige Institution galt, die für fähig gehalten wurde, den letzten Willen von Frauen und Männern auch tatsächlich durchzusetzen. Auch hier wären weitere Forschungen über den geschlechtergeschichtlichen Aspekt hinaus erforderlich, um die Vertrauensstellung des Gerichts und die daraus resultierende Bedeutung für den Rechtsfrieden zu analysieren. Neben den eigentlichen Streitgegenständen können auch Beweismittel neue Aspekte in Bezug auf die Geschlechtergeschichte zu Tage fördern. Peter Oestmann beschreibt einen Prozess aus Lübeck in dem es um eine Enterbung geht. Beweismittel, die vor Gericht in diesem Fall vorgelegt wurden, geben interessante Aufschlüsse über das Verhältnis von Emotion und materiellen Erwartungen bei einer Eheschließung in der Frühen Neuzeit.90 Major Conrad Ludwig Heyer hatte sich in Lübeck in die gerade fünfzehnjährige Katharina Levefer „verliebt“. Der Mecklenburger Major hielt sich aus geschäftlichen Gründen in Lübeck auf und war dort rasch mit den führenden Familien der Hansestadt in Kontakt gekommen. Zu ihnen zählte auch die weitverzweigte Kaufmannsfamilie Lefever. Die Eltern von Katharina waren 1693 kurz nacheinander verstorben, so dass die Waise im Hause ihres Schwagers Bartels lebte. Heyer verkehrte bald täglich dort, lernte die junge Frau immer besser kennen und beabsichtigte, sie zu heiraten. Allerdings war Katharina noch minderjährig und stand unter der Vormundschaft ihrer Brüder und Schwäger, die der Eheschließung zustimmen mussten. Major Heyer hielt daher bei der Verwandtschaft um die Hand von Katharina an, die jedoch eine Verlobung ablehnten. Die Gründe hierzu sind nicht eindeutig. Mangelnde Ebenbürtigkeit spielte jedenfalls keine Rolle, vielmehr

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Prozessakten des preußischen Kreises und der Stadt Wetzlar (Anm. 73), Nr. 3.261. Prozessakten des preußischen Kreises und der Stadt Wetzlar (Anm. 73), Nr. 3.324. Prozessakten des preußischen Kreises und der Stadt Wetzlar (Anm. 73), Nr. 3.363. Prozessakten des preußischen Kreises und der Stadt Wetzlar (Anm. 73), Nr. 3.608. Abt. 1 Reichskammergericht Teil 2 Prozessakten der Landgrafschaft Hessen Homburg bearb. von JOST HAUSMANN, Wiesbaden 1984, Nr. 2.642. PETER OESTMANN, Lübecker Rechtspraxis um 1700. Der Streit um die Entführung der Catharina Lefever, in: Aus den Akten des Reichskammergerichts. Prozessrechtliche Probleme im Alten Reich, hg. von PETER OESTMANN, Hamburg 2004, S. 69-104.

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kursierte in der Stadt das Gerücht, die Vormünder wollten das Erbe Katharinas nicht herausgeben. Offiziell hielten die Brüder ihre Schwester noch für zu jung, um zu Heiraten. Deshalb verlobte sich die Fünfzehnjährige mit dem Major heimlich. Die beiden tauschten die Ringe und überreichten sich je einen handschriftlichen Eid, in dem es hieß, sie würden niemals einen anderen Menschen „lieben“ und heiraten. Falls sie sich nicht verheiraten könnten, wollten sie lieber sterben. Major Heyer wurde schließlich in dienstlichen Angelegenheiten nach Hamburg gerufen, hörte aber in den folgenden Wochen nichts von seiner heimlichen Braut. Er war sehr besorgt, vor allem als ihn endlich ein Brief Katharinas erreichte, in dem sie berichtete, ihre Verwandten hätten von der heimlichen Verlobung erfahren und sie stünde deshalb unter Hausarrest. Heyer stiftete daraufhin Katharina zur Flucht aus dem Hause ihrer Schwester an. Er versprach ihr, er wolle sie sofort nach Mecklenburg mitnehmen, um dort zu heiraten. Sein Landesherr sei schon von allem unterrichtet. Dabei, so betonte er in seinem Brief an Katharina, ginge es ihm keinesfalls um den Brautschatz. Katharina floh heimlich aus dem Haus des Schwagers und das Paar heiratete mit der Zustimmung des Mecklenburger Herzogs heimlich. Bei der Betrachtung des Falles aus geschlechtergeschichtlichen Perspektive wird schnell klar, dass neben dem rechtlichen Problem einer Enterbung es um „Liebes“- und Ehevorstellungen geht, die die historische Forschung schon seit geraumer Zeit beschäftigen. Allgemein herrscht bei den Historikern Konsens, dass im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts der kulturelle Code der „romantischen Liebe“ entstand, der zuerst in England populär wurde. Diesen Liebescode griffen vor allem die deutschen Romantiker auf und entwickelten ihn zu einem neuen Ideal der Liebe weiter. Die kulturellen Vorgaben von Liebe und Ehe, die gerade in der Frühen Neuzeit oft getrennte Wirklichkeiten darstellten, wurden dadurch zu einer Einheit gebracht.91 Es wurde ein Individualitätsanspruch gefordert, der der Frühen Neuzeit fremd war. Im ausgehenden 18. Jahrhundert setzte sich schließlich die Liebesheirat als kulturelles Leitbild des Bürgertums durch.92 In unserem vorlie91

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Zu diesem Forschungskomplex hier eine Literaturauswahl: EDELTRAUD KAPL-BLUME, Liebe im Lexikon. Zum Bedeutungswandel des Begriffes „Liebe“ in ausgewählten Lexika des 18. und 19. Jahrhunderts. Ein Forschungsbericht, in: „Liebe“ im Wandel der Zeiten: Kulturwissenschaftliche Perspektiven, hg. von KLAUS TANNER, Leipzig 2005, S. 107-129. MARION LISCHKA, Liebe als Ritual: Eheanbahnung und Brautwerbung in der frühneuzeitlichen Grafschaft Lippe (ForschRegGesch 55), Paderborn 2006 und CLAUDIA JARZEBOWSKI, Art. Liebe EdN Sp. 896-905 m.w.N. KARL LENZ, Soziologie der Zweierbeziehung, Wiesbaden 22003, S. 259 ff.

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genden Fall wäre zu fragen, welche Vorstellungen denn Heyer und Katharina von „Liebe“ eigentlich hatten? Wie weit spielten materielle Überlegungen bei dem Paar eine Rolle? Für wen war die Eheschließung überhaupt heimlich? Die Entführung Katharinas wurde jedenfalls von Heyer sehr gut vorbereitet. Auch versäumte er es in seiner Eigenschaft als Offizier nicht, vor seiner „heimlichen Eheschließung“ seinen Dienstherren, den Herzog von Mecklenburg, um Erlaubnis zu fragen.93 Dieser Prozess erscheint sehr gut geeignet, Antworten auf verschiedene Ehe- und Liebeskonzepte in der Frühen Neuzeit zu geben und das Verhältnis zwischen Emotion und materiellen Gegebenheiten auszuloten94. Reichskammergerichtsprozesse könnten also auch bei der Beantwortung der Frage helfen, was überhaupt unter Liebe und Ehe in der Frühen Neuzeit zu verstehen ist.95 Weiter Beispiele können angeführt werden: So gibt es in einer Reichskammergerichtsakte von 1743 einen Brief der Sophie Elisabeth Prinzessin von Waldeck, die ihre Flucht mit dem niederadeligen August von Vogelsang aus dem fürstlichen Elternhaus mit einem „Trieb“ erklärt.96 Ich nehme den allerwißenden Gott zum Zeugen, dass meine Abraise nicht aus Trieb einer Liederlichkeit, sondern aus einer rechtmäßigen und wie ich versichert bin, Gott gefälligen Ursach herrühret, denn mein Gewissen gibt mir Zeugniß, dass ich alles mit Gott angefangen.

Denn nachdem vor einem Jahre, gewisse Leuthe von meiner jedoch wie Gott weiß, unschuldigen Aufführung übel zu denken und sprechen angefangen, so habe täglich auf meinem Angesicht und Knien und mit heißen Thränen Gott inbrünstig angeflehet, dass wenn gegen mein Wissen meine Neigung und Aufführung nicht richtig seyn sollte, er mir nach seiner Gnade solches zu erkennen geben und mich lassen wolle, wie ich meinen Wandel anstellen solle; worauff ich dann meinen Trieb in mir verspühret von dem

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StadtA Lübeck, F 6, Q 14b, S. 300: Von Gottes Gnaden Friederich Wilhelm, Herzog zu Mecklenburg Ehrbar und mannhafter, Lieber Getreuer. Wir geben die auff den unterthänigstes anhalten, umb ertheilung unseres fürstlichen Consensus zu derer mit Catharina Lefevers vorhabenden Heirath, zur gnädigsten Antwordt: Daß wir in solche Heurath gnädigst consentiren, welches wir dir also in Gnaden anfügen wollen. Datum auff unser Residenz Schwerin den 21. Aprilis anno 1697 Friederich Wilhelm Dem ehrbaren und mannhaften unserm Major und lieben Getreuen Heyern

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JARZEBOWSKI, Art. Liebe (Anm. 91), Sp. 896-905. PETER OESTMANN benutzt zwar Begriffe wie „Vernunftheirat“ und „Liebesehe“ stellt sie aber nicht in einen geschlechtergeschichtlichen Kontext. OESTMANN , Lübecker Rechtspraxis um 1700 (Anm. 90), S. 103. StA Marburg, Bestand 140 Waldeck, Nr. 91-94, Q 106, 1743.

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ich sonst nicht gewust, nemlich diesen Menschen zu heyraten und mich von hier zu entfernen. Weil ich nun nicht wuste, wo diese Bewegung herrührte, so suchte selbige so viel möglich zu unterdrücken, verdoppelte auch deswegen meine Inbrunst zum Gebet, und hielt Nacht und Tag um den göttlichen Beystand dazu an: da aber dem allen ohngeachtet, dieser Trieb immer stärkker wurde, so habe endlich geglaubt und glauben müssen, den götlichen Willen hierunter zu erkennen, welcher vielleicht seine heilige nur Uns verborgene Ursachen dazu […]. In einer weiteren der Prozessakte des 18. Jahrhunderts befinden sich „Liebesbriefe der Klägerin Johanna Rosina Kraus und dem Beklagtem Johann Christian Friedrich Weselius.97 In einem dritten Beispiel streitet sich Anna Büschler mit der Stadt Schwäbisch Hall um ihre Gefangennahme. Auch hier dienen „Liebesbriefe“ als Beweismittel.98 Ein vierter Fall stammt ebenso wie das dritte Beispiel aus dem 16. Jahrhundert. Barbara von Bieberehren, Ehefrau des fürstbischöflich speyerischen Schaffners Sebastian Spuels zu Kirrweiler, klagte gegen ihren eigenen Bruder wegen der Heiratsgeldzahlung nach einer unstandesgemäßen Verehelichung. Auch hier finden sich Liebesbriefe.99 Dies alles sind zufällige Hinweise. Eine sorgfältige Suche brächte wahrscheinlich eine Fülle weiterer Prozesse zu Tage.100

V. Betrachtet man die Gesamtheit aller Projekte, die Geschlechtergeschichte und Reichskammergericht zum Thema hatten, so muss man bilanzieren: Wir stehen am Anfang. Im Moment gibt es nur Fragen und kaum Antworten. Es ist bis jetzt nur in einem ersten Überflug gelungen, Handlungsspielräume und -ebenen von Frauen aus der Masse mehr oder weniger wahllos herauszugreifen. Das geschah durch Einzelfallanalysen, aber auch durch räumlich und zeitlich begrenzte quantitative Untersuchungen. Eine systematische Gesamtanalyse hat noch nicht stattgefunden. Erste Untersuchungsstrategien 97 98

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BayHStA München, Nr. 6.045, Q 17b. Stuttgart (Anm. 59), Nr. 529. Diese Briefe wurden auch schon vor über 60 Jahren wissenschaftlich analysiert. Siehe GERD WUNDER, Liebesbriefe aus dem 16. Jahrhundert, in: Württ. Franken NF 30 (1955), S. 69-89. BayHStA München Nr. 1262, Q 6. Ich danke hiermit herzlich Dr. MANFRED HÖRNER, München, für seine Hinweise. Siehe hierzu die Bochumer Datenbank www.hoechstgerichtsbarkeit.rub.de; zuletzt eingesehen am 12. Dezember 2008.

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wurden vorgeschlagen und mit allgemeinen historischen Fragestellungen verknüpft. So wurde aufgezeigt, dass sich durch die Einbeziehung der Geschlechtergeschichte in die Reichskammergerichtsforschung, neue Sehweisen auf das Rechtsleben im Reich der Frühen Neuzeit werden gewinnen lassen.101

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Projekte werden in Angriff genommen. So planen SIEGRID WESTPHAL / INKEN SCHMIDTVOGES / ANETTE BAUMANN eine Publikation mit dem Arbeitstitel „Venus und Vulkan. Ehen in der Frühen Neuzeit“. Ihr Anliegen ist es, die Thesen zur Zweierbeziehung des Soziologen KARL LENZ u. a. auf Quellen aus dem reichskammergerichtlichen Umfeld anzuwenden. Ehe soll als Zweierbeziehung mit sozialen Wechselwirkungen aufgefasst werden, die als Prototyp der Vergemeinschaftung gilt.

Jost Hausmann

Personengruppen vor dem Reichskammergericht Kommentar

I. Meine Damen und Herren, Sie sehen mich in der schwierigen Situation, vier so komplexe Beiträge mit einem roten Band zu verbinden. Als angefragt wurde, ob ich einen Kommentar zum Thema „Personengruppen vor dem Reichskammergericht“ geben könnte, habe ich mir in der Vorbereitung Gedanken darüber gemacht, worauf wird es ankommen. Zunächst könnte gefragt werden, mit welcher Prozessart – erst- oder zweitinstanzlich – haben wir es zu tun, wer klagt in welchem Verfahren mit welcher Zielstellung, handelt es sich um Aktiv- oder Passivprozesse, welche Personengruppen werden am Reichskammergericht aktiv, sind sie Verfahrenssubjekt oder -objekt. Es könnte nach Personengruppen gefragt werden, die vor dem Reichskammergericht tätig geworden sind, und die aus der archivarischen Perspektive des Verzeichners von Reichskammergerichtsakten als Prozessbeteiligte benannt werden können: Zu denken ist an die ständische Gesellschaft, eingeteilt in: • Adel, (Hochadel, Niederadel, Ritterschaft), • Personenverbände (Untertanen, Gemeinden, Zünfte), • Angehörige von Territorien wie Reichsstädter/Freistädter/Städter, Gemeindebürger, Vollbürger, Minderbürger, Pfahlbürger, Bauern. Weiter ist zu denken: • an Berufe, Berufssparten wie Reichsbeamten und territorialstaatliche Beamten, Juristen, Kamerale, Studenten, Intellektuelle, Zünfte, Handwerker, Händler und Industrielle, Handelsgesellschafter, Bankiers, Kreditgeber/Kreditnehmer, Offiziere, Soldaten, Landsknechte, Ärzte, Barbiere, Wirte, Gutsbesitzer, Bauern, Tagelöhner,

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• an (bürgerliche) Familien, Eheleute, Frauen, Kinder, Vormünder, • an Konfessionsangehörige wie Katholiken, Protestanten – Orthodoxe und Pietisten –, Calvinisten und Angehörige religiöser Sondergruppen (insbesondere Juden), Dissidenten, Sektierer, • an Kleriker – Pfarrer, Welt- und Ordensgeistliche –, an Glöckner, Kantoren und Lehrer, Immigranten wie Hugenotten, • an Randgruppen, Aufständische, Revolutionäre, Bauernkrieger, Gefangene, Kriminelle, Hexen, Zauberer, Arme, Kranke, Nichtsesshafte.

II. Beginnt man bei der ständischen Gesellschaft und hier beim Adel, haben wir den Übergang zu Christian Wieland und seinem Beitrag „Adel vor dem Reichskammergericht“. Zunächst besteht das Problem, „Adel“ zu definieren. Herr Wieland, Sie haben Ihren Vortrag auf den fränkischen Reichsadel, auf die dortige Ritterschaft, deren Verdichtung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, deren Selbstverständnis in Distanz zur Kurpfalz und weiterhin auf das Beispiel der Familie von Gemmingen im Kraichgau konzentriert. Sie haben die Grundlagen der rechtlichen Position der Ritterschaft im 17. Jahrhundert in deren geschichtlichem Verständnis als aus der „germanischen Urbevölkerung gegen die Römer“ stammende, überkonfessionelle und überterritoriale Korporation mit tausendjähriger Freiheit dargestellt. Aus diesem Selbstverständnis wollten sie sich nicht in Rechtsstreitigkeiten vor eine territoriale Gerichtsbarkeit ziehen lassen und mit dem „Pöbel“ gemein machen. Dass der ritterschaftliche Adel – um Ihre Formulierung aufzugreifen – zunächst „rechtsabgeneigt“ war, ist eine ebenso interessante Feststellung wie die, dass er erkannte, dass aus dem Recht, den Kaiser anzurufen, die Gerichtsbarkeit des Reichskammergerichts eigene Positionen stützen konnte. Auch das Reichskammergericht selbst wurde als individuelle Karrieremöglichkeit für Mitglieder der Ritterschaft zunehmend attraktiv, denn für die dortigen adligen Führungspositionen brauchten sie nicht die Voraussetzungen des stiftsfähigen Adels aufzuweisen. Damit korreliert, dass auch bürgerliche Kamerale durch ihre Tätigkeit am Reichskammergericht nobilitiert werden und in den ritterschaftlichen Adel aufsteigen konnten.

Personengruppen vor dem Reichskammergericht – Kommentar

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Sie haben dann gefragt, inwieweit der ritterschaftliche Adel vor dem Reichskammergericht vorstellig geworden ist. Zur Frage der Inanspruchnahme des Reichskammergerichts wurde in dieser Sektion bereits ausgeführt, dass die aktivste Phase des Reichskammergerichts das 16. Jahrhundert bis 1648 war. Das ist sicher richtig. Bezogen auf die Reichsritterschaft mag man sich über Streitgegenstände wie Erb- oder Nutzungsrechte hinaus auch fragen, woran es gelegen haben könnte, dass die Prozessfrequenz im Bereich der grundlegenden Sachen wie Streitigkeiten mit Reichsständen oder Verfassungsfragen abgenommen hat. Wiederum aus der archivarischen Verzeichnerperspektive kann angemerkt werden, dass solche, die Reichsverfassung betreffenden Prozesse sehr aufwändig und langwierig sein konnten. So hatte etwa die niederrheinische Reichsritterschaft einen Prozess vor dem Reichskammergericht gegen Kurtrier um die Reichsstandschaft geführt, der im frühen 16. Jahrhundert begonnen und erst 1756 abgeschlossen worden war. Wenn aber ein Prozess unerledigt anhängig war, so konnte in der gleichen Sache kein weiterer Prozess anhängig gemacht werden.

III. Damit leite ich über zum Beitrag Werner Troßbachs zum Thema ständische Gesellschaft und zur Einbeziehung von „Prozessen bäuerlicher Untertanen“ gegen ihre Obrigkeit in die Kameraljudikatur. Zunächst stellt sich die Frage nach den Inhalten dieser Bauernprozesse: um welche Streitgegenstände – Verfassungsfragen, wirtschaftliche Fragen, auch Glaubensfragen – ging es. Die Beobachtung ist interessant, dass die von Zeitgenossen konstatierte hohe Inanspruchnahme des Reichskammergerichts durch Bauern zwar schon mit dem Bauernkrieg einsetzte, aber erst die RKGO 1548 den bäuerlichen Untertanen ein Klagerecht gegen ihre Herrschaft einräumte. Herr Diestelkamp hatte schon gestern die Freienseener Prozessserie angesprochen und Herr Troßbach auf Freienseen und auf die Serie der Weilmünsterer Prozesse Bezug genommen. Beide Prozessserien begannen um 1555 – also nach der RKGO 1548 und dem dort normierten bäuerlichen Klagerecht – und waren, obwohl beides Bauernuntertanenprozesse, inhaltlich vollkommen unterschiedlich. Man sollte daher die unterschiedlichen Streitgegenstände berücksichtigen, wenn man über Untertanenprozesse spricht. Herr Diestelkamp, Sie sagten, bei Freienseen habe nicht nur das eigentliche bäuerliche Untertanen- sondern das Wiedertäuferproblem eine

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Rolle gespielt. Schon die Prozessfrequenz bei Freienseen mit 35 Mandats-, zwei Zitations- und acht Appellationsprozessen und die Dauer der Verfahren – der letzte Prozess wurde 1777 beendet – zeigen eine andere Dimension, als bei Weilmünster. Bei Weilmünster handelte es sich zwar auch um eine Prozessserie mit 50 Verfahren, die aber in 25 Jahren abgehandelt waren. Hier ging es um einen einzigen Fundamentalprozess, bei dem der Landesherr Graf Albrecht von Nassau-Weilburg einen im Eigentum Weilmünsters stehenden Wald nutzen wollte, was Weilmünster ablehnte. So begann die Serie mit einem Zitationsprozess, mit dem wegen Pfändungen und Arrestverhängungen durch den Landesherrn rund 50 Mandatsklagen Weilmünsters verbunden wurden. Der Zitationsprozess wurde nach 15 Jahren durch Urteil des Reichskammergerichts beendet. Das Reichskammergericht gab Weilmünster Recht, gestattete aber dem Landesherrn, die Rechte Weilmünsters abzulösen. Das tat er umgehend und damit änderte sich die Situation, denn nun gingen die Prozesse weiter und das Reichskammergericht war nach seiner Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage, materiell noch etwas zu tun. Es konnte nur noch die weiter anhängigen Mandatsprozesse verhandeln; entschieden wurde die Serie der Prozesse schließlich durch eine Kommission. Prozesse, die aus der gleichen Konstellation begannen, konnten sich ganz anderes entwickeln. „Untertanenprozesse“ sind daher, je nachdem Land oder Stadt, vielschichtig. Sie betreffen „Bauernprozesse“ auf dem Lande ebenso wie Bürgerstreitigkeiten in den Städten gegen die Obrigkeiten. Auch hier ist zu fragen: Um welche Streitgegenstände handelt es sich, sind es wirtschaftliche Fragen, sind es Territorialisierungs- und Verfassungsoder auch Konfessionsfragen. In welcher historischen Situation, in welcher Zeit wurden die Prozesse geführt; Untertanen- und Bauernprozesse sind im 16., 17. und 18. Jahrhundert deutlich unterschiedlich. Und letztlich ist zu fragen, was das Reichskammergericht in bei ihm anhängigen Verfahren entscheiden konnte, wenn es im materiellen Kern um Konfessionsfragen ging oder wenn die Prozesse abgeschlossen waren und auch andere „Instanzen“ wie der Kaiser, Kommissionen, oder der Reichstag involviert wurden.

Personengruppen vor dem Reichskammergericht – Kommentar

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IV. Eine weitere Personengruppe vor dem Reichskammergericht behandelt Anette Baumann in ihrem Beitrag „Frauen vor dem Reichskammergericht“. Wir haben in der Diskussion darüber gesprochen, dass auch bei der Personengruppe der Frauen die Streitgegenstände in den Blick genommen und gefragt werden muss, wann Frauen in Prozessen auftreten. Was sind typische Frauenthemen – Familienfragen, Eheprobleme, Beziehungsfragen, eheliches Güterrecht, Vollmündigkeit und darüber hinausgehend die wirtschaftliche Tätigkeit der Frauen mit den Rechtswohltaten der Frauen wie das „Senatus Consultum Velleianum“, auf das sich Frauen in Reichskammergerichtsprozessen häufig beriefen. Neben den geschlechtsspezifischen Problemen müssen aber auch diejenigen Rechtsfragen in den Blick genommen werden, in denen Frauen in Fragen der Herrschaft als Funktionsträger betroffen waren, sei es in Fragen geistlicher Herrschaft etwa als Äbtissin, als Landesherrin oder als vormundschaftliche Regentin, wie auch Pauline Puppel in ihrer Dissertation zu den hessischen Regentinnen gezeigt hat. Sie haben dargelegt, dass die historische Frauenforschung noch recht jung und in den Forschungen zur Höchstgerichtsbarkeit bisher nur wenig thematisiert worden ist. Zwar geben zu den gestellten Fragen – erstens welche Frauen durften das Reichskammergericht in Anspruch nehmen, zweitens welche Konflikte veranlassten Frauen zu klagen und wann wurden sie beklagt und drittens gab es Situationen, in denen Frauen freiwillig die Dienste des Reichskammergerichts in Anspruch nahmen – die Prozessakten des Reichskammergerichts Antworten, doch steht die Höchstgerichtsforschung hier noch am Anfang.

V. Ich komme nun zum letzten Beitrag, der zunächst als Inanspruchnahme des Reichskammergerichts durch Randgruppen angekündigt war. Peter Oestmann hat als Spezialist der Randgruppe „Hexen“ vor dem Reichskammergericht einen anderen Schwerpunkt gesetzt. Ganz unberücksichtigt bleiben sollte die ursprünglich angekündigte Thematik aber nicht, denn es lassen sich Angehörige der unterschiedlichen Randgruppen als Prozessparteien vor dem Reichskammergericht nachweisen.

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Jost Hausmann

Erwähnt seien Bauernkrieger – wir haben zuvor davon gehört –, die im Nachhinein um Schadensersatzansprüche stritten. Wiedertäufer, Sektierer oder vermeintliche Dissidenten kämpften vor dem Reichskammergericht in Injurienprozessen um Ruf und Existenz; Aufständische, in den letzten Jahren des Reichskammergerichts im linksrheinischen Raum Revolutionäre – auch ein Georg Forster wird in einem Reichskammergerichtsprozess erwähnt –, nutzten die Höchstgerichtsbarkeit. An solche Fallgestaltungen sollte man ebenfalls denken. Andere Angehörige von Randgruppen wie Hexen und Zauberer, Arme und Kranke, entlassene Landsknechte und Soldaten, nicht Zurechnungsfähige, nicht Sesshafte sind Subjekte und Objekte von Reichskammergerichtsprozessen. Peter Oestmann hat in seinem Beitrag „Landesherren auf der Anklagebank“ erörtert, wie Landesherren vor dem Reichskammergericht wegen Rechtsverweigerung belangt werden konnten, und dies an einem norddeutschen Beispiel dargestellt. Verweigerte ein Landesherr verbotenerweise die Justiz, so konnte das Reichskammergericht erstinstanzlich im Hauptverfahren im Wege der citatio super denegata iustita oder durch Promotoriale oder Mandate tätig werden. Der referierte Reichskammergerichtsprozess schleswig-holsteiner Provenienz Bodeck/Rantzau zeigt, dass auch ein Verfahren wegen Rechtsverweigerung generationenübergreifend sehr lange dauern konnte. Dabei stellt sich die Frage, wer in der Lage war, auf territorialer Ebene Prozesse anzustrengen und dann wegen Rechtsverweigerung das Reichskammergericht anzurufen. Das ist auch eine prosopographische Frage der Ermittlung der handelnden Personen. Der Kläger Bonaventura von Bodeck war keine unbedeutende Persönlichkeit, sondern ein reicher Frankfurter Großkaufmann, der sich einen langen Rechtsstreit leisten konnte – das konnte aber nicht jeder.

VI. Abschließend möchte ich als Versuch eines vereinigenden Bandes zu den Vorträgen dieser Sektion auf die Formulierung Anette Baumanns in ihrem Beitrag zurückgreifen: viele Fragen, wenig Antworten.

ANJA AMEND-TRAUT

Zivilverfahren vor dem Reichskammergericht Rückblick und Perspektiven

I. „Bei der Masse der Schuld- und Wechselklagen“ und anderer Zivilklagen der „kleinen Herrn“ handele es sich zwar um einen häufig auftretenden Streitgegenstand, inhaltlich jedoch seien sie die „allergewöhnlichsten Prozesse“1. Soweit die Einschätzung von Paul Wigand, königlich preußischer Stadtgerichtsdirektor in Wetzlar und seit 1839 mit der Aufteilung des Reichskammergerichtsarchivs auf die einzelnen Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes beschäftigt2 und als bester Kenner der Reichskammergerichtsakten aus dem 19. Jahrhundert angesehen3. Mit dieser Beurteilung dürfte er es ausnahmsweise auch ernst gemeint haben: Obwohl die jüngere Reichskammergerichts-Forschung Wigands Vorgehensweise durchaus kritisch beurteilt – vor allem ließ er Dritte über die Relevanz der ReichskammergerichtsAkten vermutlich bewusst im Unklaren, um sie für eigene Zwecke ungestört nutzen zu können4 – regte er in seinem Zwischenbericht an die deutsche Bundesversammlung aus dem Jahre 1845 an, die fraglichen Prozesse würden es unbedingt verdiene[n], statt mit großen Kosten transportirt, lieber als Maculatur 1

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PAUL WIGAND, Denkwürdigkeiten für die deutsche Staats- und Rechtswissenschaft, für Rechtsalterthümer, Sitten und Gewohnheiten des Mittelalters, gesammelt aus dem Archiv des Reichskammergerichts in Wetzlar, Leipzig 1854, § 11, S. XXI. Dazu SÖNKE LORENZ, Das Reichskammergericht. Ein Überblick für den angehenden Benutzer von Reichskammergerichts-Akten über Geschichte, Rechtsgang und Archiv des Reichsgerichts mit besonderer Berücksichtigung des südwestdeutschen Raums, in: Zs. für Württembergische LGesch. 43 (1984), S. 175-203, hier S. 176. FRIEDRICH BATTENBERG, Reichskammergericht und Archivwesen – Zum Stand der Erschließung der Reichskammergerichtsakten, in: BERNHARD DIESTELKAMP (Hg.), Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte. Stand der Forschung, Forschungsperspektiven (QFHG 21), Köln Wien 1990, S. 173-194, PETER OESTMANN, Hexenprozesse am Reichskammergericht (QFHG 31), Köln Weimar Wien 1997, S. 7. BATTENBERG, Reichskammergericht und Archivwesen (Anm. 3), S. 174.

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Anja Amend-Traut

in eine Papiermühle geliefert zu werden. Dahin zu zählen […] sind so viele alte Prozesse wegen Schuldforderungen, Injurien, Besitzstörungen, und manchen andern Privatstreitigkeiten, die jedes historischen und praktischen Werthes entbehrten“5. Dieser Empfehlung kam man jedoch – glücklicherweise – nicht nach.

Nach einer zusammenfassenden Bilanz der bislang erfolgten Auswertung des mithin erhaltenen zivilrechtlichen Aktenmaterials, seiner größenmäßigen Einordnung im Rahmen der insgesamt erschlossenen reichskammergerichtlichen Vorgänge und der Klärung der Frage, auf welchem Weg Zivilverfahren vor das Reichskammergericht gelangten, wird inhaltlich aufschlüsselt, welche Streitsachen zivilrechtlicher Natur im Einzelnen nachweisbar sind , um schließlich die Möglichkeiten anzudeuten, die dieser Teil der reichskammergerichtlichen Quellen der Forschung im Übrigen bietet.

II. Wigand selbst, aber auch andere quellenkundige Juristen wie Rudolf Brinkmann, deren Arbeiten Beleg dafür sind, dass schon einmal in der Geschichte der Erforschung der obersten Gerichtsbarkeit die Akten selbst im Zentrum des Interesses standen, warfen zwar schon im 19. Jahrhundert Schlaglichter auf ausgesuchte Rechtsfälle, die zuletzt an das Reichskammergericht gelangt waren. Hauptsächlich waren es die Aufsehen erregenden, den Entscheidungen zugrunde liegenden Sachverhalte, weniger die juristische Arbeit, also letztlich die Entscheidungsfindung, die zu ihrer Darstellung führten. Dass bei dieser Vorgehensweise Zivilklagen auf eher geringes Interesse bei den Bearbeitern stießen, verwundert nicht weiter. Gleichwohl haben einige von ihnen Eingang in die Sammlungen spektakulärer Fälle – selbst bei dem Kritiker Wigand – gefunden6. Im Gewand einer einfachen Zahlungsklage konnte sich eben auch ein politisch oder sozial hochbrisanter Vorgang verber-

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WIGAND, Denkwürdigkeiten (Anm. 1), § 11, S. XXI f. WIGAND, Denkwürdigkeiten (Anm. 1), Fall 10, S. 89-97, in dem es um die Bezahlung von sechs Fässern Wein ging, die nach Ansicht des Käufers nicht der ordnungsgemäßen Qualität entsprachen, weil in ihnen ein großes Speckstück hing; nach gegnerischer Auffassung handelte es sich hierbei jedoch allein um eine Maßnahme, die weitere Gärung des Weins zu verhindern. Außerdem Fälle 27 bis 35, S. 221-268, und Fälle 40, 41 und 42, S. 285-296, in denen ehegüter- bzw. erbrechtliche Aspekte im Zentrum des Rechtsstreits stehen, oder, wie in den Fällen 36 und 37 (S. 269-275), doch zumindest einen maßgeblichen Anteil hieran einnehmen.

Zivilverfahren vor dem Reichskammergericht

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gen7. So setzte sich Brinkmann bei seinen Schilderungen von bedeutenden Fällen des kammergerichtlichen Processes mit zivilrechtlichen Verfahren auseinander, bei denen er sich ausnahmsweise auf prozessuale8, mehr aber auf verfassungspolitische Aspekte konzentrierte, indem er etwa anlässlich eines Kaufvertrages über mehrere Ochsen, zu dessen Bezahlung der schuldnerische Kaufmann durch das örtliche Handelsgericht zweimal verpflichtet wurde, die Existenzberechtigung territorialer Rechtsprechungshoheit in Frage stellte: „So wäre es allerdings heilsamer und der Gerechtigkeit ersprießlicher“, den höchsten Gerichten die Befugnis einzuräumen, „endgültiges Recht zu sprechen“9. Doch im Übrigen haben erst jüngere Forschungsarbeiten, und diese letztlich auf der Grundlage des durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekts zur Verzeichnung reichskammergerichtlicher Akten, auf die große Bedeutung von Verfahren um Geldforderungen hingewiesen10 und den eigenständigen Wert der Zivilverfahren zur Erforschung der Privatrechtsgeschichte wieder unterstrichen11. Gleichwohl fällt die Bilanz, also der Anlass der in Berlin stattgefundenen Tagung, was die hier interessierenden Zivilverfahren betrifft, recht einseitig aus: Auf der einen Seite stehen rund 72.800 heute noch nachweisbare Prozessakten, von denen der mit Abstand größte Teil Zivilverfahren sein dürften. Auf der anderen Seite steht der Be-

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So etwa der bei BERNHARD DIESTELKAMP, Rechtsfälle aus dem Alten Reich. Denkwürdige Prozesse vor dem Reichskammergericht, München 1995, geschilderte Fall 20: „Ein mißlungener Soldatenkauf“, S. 264-270. So wird ein erbrechtlicher Streit wegen seiner Besonderheiten hinsichtlich der nach Landesrecht zu erbringenden Eidesleistungen beschrieben; nach dem sog. Jütischem Low war ein Wahrheitseid, der Zwölfmanneneid, zu schwören, RUDOLF BRINKMANN, Aus dem Deutschen Rechtsleben. Schilderungen des Rechtsganges und des Kulturzustandes der lezten drei Jahrhunderte, Kiel, 1862, XXIII. Rechtsfall, S. 257-264. Bei einem weiteren Erbfall ging es materiell-rechtlich an sich um die Frage, ob für halbbürtige und vollbürtige Neffen väterlicherseits das gleiche Erbrecht besteht, I. Rechtsfall, S. 52-61. Der Streit wurde vor dem Reichskammergericht nicht weiter verhandelt, weil die Appellanten wegen des ausschließlich mündlichen Verfahrens keine schriftlichen Akten beibringen konnten. BRINKMANN, Rechtsleben (Anm. 8), XXVI. Rechtsfall, S. 265-272, hier S. 271. So zuletzt PETER OESTMANN, Höchstrichterliche Rechtsprechung im Alten Reich – einleitende Überlegungen, in: ANETTE BAUMANN / PETER OESTMANN / STEPHAN WENDEHORST / SIEGRID WESTPHAL (Hg.), Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherungen – Fallstudien – Statistiken (QFHG 50), Köln . Weimar . Wien 2005, S. 1-15, hier S. 14. Vor allem ANJA AMEND-TRAUT, Die Spruchpraxis der höchsten Reichsgerichte im römischdeutschen Reich und ihre Bedeutung für die Privatrechtsgeschichte (SchrRGesRKGForsch 36), Wetzlar 2008, Dies., Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht (QFHG 54), Köln Wien, 2009.

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Anja Amend-Traut

fund, dass fast sämtliche der noch vorhandenen Akten im Rahmen des Inventarisierungsvorhabens neu verzeichnet wurden, doch auf ihrer Grundlage eine beeindruckend übersichtliche Zahl von Untersuchungen entstanden ist, in deren Zentrum Zivilverfahren im Allgemeinen und Schuldklagen im Besonderen stehen12. Tatsächlich im Vordergrund der bisherigen Forschungen, die sich mit der Rechtsprechung des Reichskammergerichts auseinandersetzen, stehen vor allem Konflikte, die das Bild von der politischen Funktion des Gerichts geprägt haben. Hier entstanden Beiträge auf dem Gebiet der Juden-13 und Religionssachen14, der Hexen-15 und der Untertanenprozesse16, als auch zu den Fragen, wie aufgeklärtes Gedankengut Geltung erlangte oder wie sich die Rechtsstaatsidee im 18. Jahrhundert durchsetzte17.

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Siehe jedoch ANJA AMEND, „Schulden“, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3, [13.12.2004], URL:http://www.zeitenblicke.de/2004/03/amend/index.html#headline_quote (26.03.2009), DIES., Wechselverbindlichkeiten (Anm. 11). FRIEDRICH BATTENBERG, Juden am Reichskammergericht in Wetzlar – Der Streit um die Privilegien der Judenschaft Fürth, in: BERNHARD DIESTELKAMP (Hg.), Die politische Funktion des Reichskammergerichts (QFHG 24), Köln Weimar Wien 1993, S. 181-213. DIETRICH KRATSCH, Justiz-Religion-Politik. Das Reichskammergericht und die Klosterprozesse im ausgehenden 16. Jahrhundert (Jus Ecclesiasticum, 39), Tübingen 1990. GERHARD SCHORMANN, Die Haltung des Reichskammergerichts in Hexenprozessen, in: HARTMUT LEHMANN, OTTO ULBRICHT (Hg.), Vom Unfug des Hexen- Processes. Gegner der Hexenverfolgungen von Johann Weyer bis Friedrich Spee, Wiesbaden 1992, S. 269280, OESTMANN, Hexenprozesse (Anm. 3). WERNER TROßBACH, Der Schatten der Aufklärung. Bauern, Bürger, und Illuminaten in der Grafschaft Wied-Neuwied (Deutschlands achtzehntes Jahrhundert. Studien 1), Fulda 1991, RITA SAILER, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (QFHG 33), Weimar Wien 1999. WERNER TROßBACH, Die Reichsgerichte in der Sicht bäuerlicher Untertanen, in: BERNHARD DIESTELKAMP (Hg.), Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte. Stand der Forschung, Forschungsperspektiven (QFHG 21), Köln Wien 1990, S. 129-142, MONIKA NEUGEBAUER-WÖLK, Reichsjustiz und Aufklärung. Das Reichskammergericht im Netzwerk der Illuminaten (SchrRGesRKGForsch 14), Wetzlar 1993, JÜRGEN WEITZEL, Das Reichskammergericht und der Schutz von Freiheitsrechten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: BERNHARD DIESTELKAMP (Hg.), Die politische Funktion des Reichskammergerichts (QFHG 24), Köln Weimar Wien 1993, S. 157-180, HELMUT GABEL, Daß ihr künftig von aller Widersetzlichkeit, Aufruhr und Zusammenrottierung gänzlich abstehet. Deutsche Untertanen und das Reichskammergericht, in: INGRID SCHEURMANN, Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht 1495 bis 1806, Mainz 1994, S. 273-280, BERNHARD DIESTELKAMP, Reichskammergericht und Rechtsstaatsgedanke. Die Kameraljudikatur gegen die Kabinettsjustiz (Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe 210), Heidelberg 1994.

Zivilverfahren vor dem Reichskammergericht

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Was indes die Zivilverfahren betrifft, kündigen zwar einschlägige Arbeitstitel die Untersuchung reichskammergerichtlicher Verfahren, etwa zu Besitzschutz und Ehesachen, an. Einige der Arbeiten basieren jedoch nur auf exemplarischen18 oder schlicht gar keinen19 Quellenauswertungen. Dies ist um so bedauerlicher, als mittels einer umfassenderen Analyse einschlägiger Judikatur etwa verbindliche Aussagen über eine materielle Privatrechtsgeschichte getroffen werden können, wie dies anhand der Untersuchung von Wechselverbindlichkeiten nunmehr erprobt wurde20. Bereits Ebert-Weidenfellers Analyse von Hamburger Kaufmannsrecht im 17. und 18. Jahrhundert zu Beginn der 1990er Jahre greift verschiedene Institute materiellen Kaufmannsrechts anhand von jeweils exemplarisch vorgestellten Verfahren aus der Hamburger Provenienz auf, darunter den Kaufvertrag, das Warentermingeschäft, den Kommissions- und Speditionsvertrag, Verwahrung und Darlehen21. Er konnte u. a. nachweisen, dass das Reichskammergericht die Hamburger Rechtsprechung weitgehend bestätigte; immerhin fußen etliche Vorschriften des Stadtrechts auf dem römischen Recht. Zudem ließ sich feststellen, dass auch neue Entwicklungen in der Handelspraxis juristisch gewürdigt wurden und dass bei den obligationenrechtlichen Streitfällen – im Gegensatz zu sachenrechtlichen Grundsätzen, die im Verfahren tangiert waren – auswärtige Kaufleute begünstigt wurden, was vor dem Hintergrund merkantilistischer Bestrebungen, durch gesetzgeberische Akte auswärtige Konkurrenz zu verdrängen, handelspolitisch bemerkenswert ist und der durch die Hamburger Kaufmannschaft betriebenen Pflege internationaler Handelsbeziehungen entgegenkam. Darüber hinaus beschäftigen sich einige Beiträge – und zwar jeweils auf der Basis handelsrechtlicher Verfahren – mit dem generellen Verhältnis zwi-

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So HANS SEEHASE, Ehesachen vor dem Reichskammergericht: Ehe im Spannungsfeld zwischen Recht und Theologie sowie zwischen Reich, Territorien und Kirche am Beginn der Neuzeit, Diss., Münster 1999. FRITZ CZERMAK, Der Besitz in der Rechtsprechung des Reichskammergerichts. Dargestellt auf Grund der Observationen von J. MYNSINGER und A. GAILL, Diss. Frankfurt am Main 1954, JESSICA JACOBI, Besitzschutz vor dem Reichskammergericht. Die friedenssichernde Funktion der Besitzschutzklagen am Reichskammergericht im 16. Jahrhundert, dargestellt anhand der Kameralisten (RhistR 170), Diss. Frankfurt am Main 1998. AMEND-TRAUT, Wechselverbindlichkeiten (Anm. 12). ANDREAS EBERT-WEIDENFELLER, Hamburgisches Kaufmannsrecht im 17. und 18. Jahrhundert (RhistR 100), Frankfurt am Main Berlin Bern u. a. 1992.

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schen gerichtlicher Streitbeilegung und außergerichtlicher Konfliktlösung22, speziell mit Justiznutzung durch Handelsgesellschaften23 und mit der Präsenz von Handelsfrauen vor Gericht24. Letztgenannter Beitrag war Gegenstand eines Workshops, der im Rahmen der Nachwuchsgruppe „Eigentums- und Besitzrechte von Frauen in der Rechtspraxis des Alten Reiches (1648-1806)“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena veranstaltet wurde. Dabei konnten einzelne Aspekte der Stellung von Frauen in der Rechtspraxis auch mit zivilrechtlichem Einschlag beleuchtet werden, ohne freilich einzelne Rechtsinstitute näher zu erforschen25. Doch auch dort spielte – ebenso wie bei neueren Ansätzen, die Quellen unter allgemeinhistorischen Fragestellungen zu verwerten26 – der zivilrechtliche Gehalt der Verfahren nur eine untergeordnete Rolle.

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ANJA AMEND-TRAUT, Konfliktlösung bei streitigen Wechseln im Alten Reich. Der Kaufmannstand zwischen der Suche nach Alternativen zur gerichtlichen Geltendmachung von Forderungen und strategischer Justiznutzung, in: ROLF LIEBERWIRTH / HEINER LÜCK (Hg.), Akten des 36. Deutschen Rechtshistorikertages Halle an der Saale, Stuttgart 2008, S. 153-175, DIES., Brüder unter sich – die Handelsgesellschaft Brentano vor Gericht. Elemente privater Konfliktlösung im Reichskammergerichtsprozess, in: Albrecht Cordes/ Serge Dauchy (Hrsg.), Justice publique – justice privée: Une frontière mouvante (= Schriftenreihe des Historischen Kollegs), erscheint voraussichtlich 2010. AMEND-TRAUT, Brüder (Anm. 22). ANJA AMEND, Frauen in der handelsrechtlichen Jurisdiktion des RKG. Über die Frage, ob „Weibs=Persohnen mit Wechsel contrahiren können“, in: SIEGRID WESTPHAL (Hg.), In eigener Sache. Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches, Köln Weimar Wien 2005, S. 119-151. SIEGRID WESTPHAL, Eigentums- und Besitzrechte von Frauen in der Rechtspraxis des alten Reiches (1648-1806) an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, in: zeitenblicke 3 (2004), [13.12.2004], URL: http://www.zeitenblicke.de/2004/03/westphal/index.html (26.03.2009) – Projektvorstellung. die Ergebnisse eines Workshops sind veröffentlicht bei WESTPHAL, In eigener Sache (Anm. 24). Außerdem: NICOLE GROCHOWINA / HENDRIKJE CARIUS (Hg.), Eigentumskulturen und Geschlecht in der frühen Neuzeit (Comparativ 15), Leipzig 2005. Als Beiträge zur Geschlechterforschung sind etwa IRENE JUNG, „Ihrem Herzen und Charakter Ehre machen“. Frauen wenden sich an das Reichskammergericht (SchrRGesRKGForsch 21), Wetzlar 1998 oder auch PAULINE PUPPEL, Reichsgerichtsakten als Quelle: Frauen, publiziert in: zeitenblicke 3 (2004), [13.12.2004] URL:http://www.zei tenblicke.de/2004/03/puppel/index.html#headline_quote> (26.03. 2009), WESTPHAL, In eigener Sache (Anm. 24), und DIES., Ehen vor Gericht – Scheidungen und ihre Folgen am Reichskammergericht (SchrRGesRKGForsch 35), Wetzlar 2008, zu nennen. RALFPETER FUCHS, Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht (1525-1805) (ForschRegGesch 28), Paderborn 1999, untersucht den Begriff der Ehre u. a. auch anhand von „civiliter“ eingelegten Injurienprozessen, vgl. etwa S. 51 ff., 71 ff. Schließlich kann anhand von Zeugenverhören, die auch zur Beweiserhebung in zivilrechtlichen Verfahren durchgeführt wurden, frühneuzeitlichen Wissensbeständen hinsichtlich Zeit und Raum nachgegangen werden. Dazu RALF-PETER FUCHS, Protokolle kai-

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Größere Fortschritte sind bei der Verwendung der einschlägigen Verfahren für zivilprozessuale Untersuchungen zu verzeichnen. Denn anhand der Quellen zur zivilrechtlichen Prozesspraxis des Reichskammergerichts kann freilich nicht nur materiellrechtlichen Fragen nachgegangen, sondern auch in hervorragender Weise studiert werden, wie sich der frühneuzeitliche Zivilprozess gestaltete. Dieser prozessuale Forschungsansatz ist in der Vergangenheit zunächst normengeschichtlich verfolgt worden27, daneben wurden zivilprozessuale Beobachtungen zum Zeugenbeweis anhand reichskammergerichtlichen Aktenmaterials – freilich mit allgemeinhistorischen Fragestellungen28 – oder, mittelbar über die Auswertung von Konsiliensammlungen, zur Gutachtenpraxis gemacht 29. Nachdem Ernst Pitz im Jahr 1969 im Rahmen einer Einzelfallanalyse, der ein Streit aus dem frühen 16. Jahrhundert um den Saldo aus kaufmännischen Geschäften zugrunde lag, die Rezeption des gemeinen Rechts anhand der Beweiskraft von Urkunden und des schriftlichen Prozessverfahrens und das Nebeneinander römisch- und partikularrechtlicher Argumente und Rechtsanschauungen bestimmte30, und Andreas Ebert-Weidenfeller zu Beginn der 1990er Jahre insbesondere Fragen der Beweiswürdigung anhand einzelner zivilrechtlicher Verfahren Hamburger Provenienz aufgriff31, beschäftigt sich quellengestützt seit einiger Zeit

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serlich-kommissarischer Zeugenverhöre in Reichskammergerichts-Akten, publiziert in: zeitenblicke 3 (2004), [13.12.2004] URL:http://www.zeitenblicke.de/2004/03/fuchs2/ index.html (26.03.2009), und DERS., Erinnerungsschichten: Zur Bedeutung der Vergangenheit für den „gemeinen Mann“ der Frühen Neuzeit, in: RALF-PETER FUCHS / WINFRIED SCHULZE (Hg.), Wahrheit, Wissen, Erinnerung. Zeugenverhörprotokolle als Quellen für soziale Wissensbestände der Frühen Neuzeit (Wirklichkeit und Wahrnehmung in der frühen NZ 1), Münster Hamburg London 2002, S. 89-154. BETTINA DICK, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555 (QFHG 10), Köln Wien 1981. Mit besonderem Blick auf den Reichshofrat WOLFGANG SELLERT, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens (Unters.z.dt. Staats.u.R.Gesch. NF 18), Aalen 1973. ANETTE BAUMANN, Die Fugger als Kläger vor dem Reichskammergericht (1496-1806), in: Die Fugger und das Reich. Eine neue Forschungsperspektive zum 500jährigen Jubiläum der ersten Fuggerherrschaft Kirchberg-Weißenhorn, JOHANNES BURKHARDT (Hg.), (Veröff. der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft, 4/32; Studien zur Fuggergeschichte 41) Augsburg 2008, S. 151-182, hier S. 166 ff., zur Bedeutung des Zeugenbeweises bei Verfahren unter Beteiligung der Fugger als klägerische Partei. ULRICH FALK, Consilia. Studien zur Praxis der Rechtsgutachten in der frühen Neuzeit (Veröff. des MPI für europ.R.Gesch. 22), Frankfurt am Main 2006. ERNST PITZ, Ein niederdeutscher Kammergerichtsprozeß von 1525 (Veröff. der niedersächsischen Archivverwaltung 28), Göttingen 1969, hier insbes. S. 110-116, 124 f. EBERT-WEIDENFELLER, Hamburgisches Kaufmannsrecht (Anm. 21), S. 70 ff.

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insbesondere Peter Oestmann auf breiter Basis mit diesen und anderen zivilprozessualen Aspekten. Hauptsächlich ist hier seine Habilitationsschrift zu erwähnen, die sich mit einem der zentralen Probleme des Usus modernus auseinandersetzt, nämlich der Frage, in welchem Verhältnis einheimisches deutsches und rezipiertes römisches Recht zueinander stehen32. Daneben sind jüngst Beiträge zu einzelnen zivilprozessualen Aspekten in einem Band erschienen, der die Ergebnisse der Tagung der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung im September 2007 zum Thema „Formalismus und Formalitäten. Eine vergleichende Untersuchung des Kameralprozesses“ zusammenfasst33. Zu den Beiträgen, die auf reichskammergerichtlicher Aktenbasis zivilrechtlicher Natur beruhen, zählen insbesondere Oestmanns Untersuchung zur Formstrenge34 und Diestelkamps Aufsatz zum Verhältnis von Mündlichkeit und streng förmlicher Schriftlichkeit35. Schließlich können neuerdings anhand der Edition einer einzelnen reichskammergerichtlichen Akte, die einen erbrechtlichen Rechtsstreit beinhaltet, die Grundstrukturen eines Kameralprozesses, die zeitgenössische Relationstechnik und die frühneuzeitliche Aktenführung studiert werden36. Bei näherer Betrachtung des privatrechtlichen Postens der Bilanz ergibt sich, dass Zivilverfahren nicht nur eines unter mehreren typischen Konfliktfeldern waren, die durch das Reichskammergericht bestellt wurden. Durch die Erschließung der Reichskammergerichts-Akten weiß man heute vielmehr, dass die Zivilverfahren den weitaus größten Teil des gesamten Bestandes ausmachen. Und mit Rücksicht auf die besonders große Anzahl der überlieferten Verfahren, bei denen um Schulden und andere zivilrechtliche Aspekte gestritten wurde, müssen sie als das Hauptgebiet reichskammergerichtlicher Tätigkeit schlechthin angesehen werden.

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PETER OESTMANN, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich (Rechtsprechung. Materialien und Studien. Veröff. des MPI für europ. R.Gesch. 18), Frankfurt 2002. PETER OESTMANN (Hg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit (QFHG 56), Köln Weimar Wien 2009. PETER OESTMANN, Die Zwillingsschwester der Freiheit. Die Form im Recht als Problem der Rechtsgeschichte, in: DERS., Formstrenge (Anm. 33), S. 1-54. BERNHARD DIESTELKAMP, Beobachtungen zur Schriftlichkeit im Kameralprozeß, in: OESTMANN, Formstrenge (Anm. 33), S. 105-115. PETER OESTMANN, Ein Zivilprozess am Reichskammergericht. Edition einer Gerichtsakte aus dem 18. Jahrhundert (QFHG 55), Köln . Weimar . Wien 2009.

Zivilverfahren vor dem Reichskammergericht

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Anhand zweier Bestände sei dies folgendermaßen beziffert37: Der Frankfurter Bestand zählt insgesamt 1.666 Verfahren38. Davon entfallen auf schuldrechtliche Materien verschiedenster Natur mehr als 1.000. Hinzu treten rund mehr als 400 Verfahren, bei denen es um allein sachen-, familien-, erb- oder konkursrechtliche Fragen ging39. Dies entspricht insgesamt einem Anteil von 84 %. Im Wetzlarer Bestand entfällt immerhin ein Anteil von rund 67 % auf zivilrechtliche Verfahren40. Ähnliche Größenordnungen herrschen bei anderen Beständen vor. Diese Verteilung gilt freilich nicht für den gesamten Zeitraum zwischen 1495 und 1806 gleichermaßen. Schon die von Filippo Ranieri gebildeten Kategorien deuten auf eine entsprechende Häufung zivilrechtlicher Verfahren insgesamt hin, zeigen aber auch Trends und einen Funktionswandel reichskammergerichtlicher Judikatur auf: So stellten noch im 16. Jahrhundert die Streitigkeiten aus dem Bereich Geldwirtschaft ohne Handel und Gewerbe41 ca. 21 % und schon seit Mitte des 17. Jahrhunderts mehr als ein Drittel, danach zeitweise sogar mehr als die Hälfte der Verfahren42.

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Wegen verschiedenster Überscheidungsmöglichkeiten kann es sich an dieser Stelle freilich nur um eine grobe Schätzung handeln, deren Grundlage die unter der Leitung von BERND SCHILDT erstellte und jüngst veröffentlichte Datenbank „Die Rechtsprechung des Reichskammergerichts (1495-1806) bildet. http://www.hoechstgerichtsbarkeit.rub.de/index.htm (26.03.2009). Die Gesamtzahl der im Inventar nachgewiesenen Prozesse ist um die separat erfassten Bestände der Reichsstädte ergänzt. Insgesamt weist die Datenbank 1.010 schuldrechtliche, 337 erbrechtliche, 295 sachenrechtliche Verfahrensgegenstände aus, 163 rekurrieren sich aus dem Bereich „Ehe/Familie“ und 139 aus dem Bereich „Konkurs“. Berücksichtigt man die Überschneidungen der genannten Gegenstände mit dem „Schuldrecht“ (Ehe/Familie + Schuldrecht: 89; Erbrecht + Schuldrecht: 105; Konkurs + Schuldrecht: 125; Sachenrecht + Schuldrecht: 192) ergibt sich ein bereinigte Zahl von 1.433. Der Bestand weist insgesamt 197 Prozesse auf. Hiervon sind dem Bereich Schuldrecht 100 Verfahren zuzuordnen. Hierzu sind über 30 weitere zivilrechtliche Vorgänge hinzuzufügen. Die Gruppenbildung und ihre Benennung folgt der von FILIPPO RANIERI, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, zwei Bde. (QFHG 17/1 und 17/2), Köln 1985, die auch ANETTE BAUMANN, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert (QFHG 36), Köln . Weimar . Wien 2001, beibehalten hat. RANIERI, Recht und Gesellschaft II (Anm. 41), S. 482-487, 505-507. Diese Analyse wurde von BAUMANN, Gesellschaft (Anm. 41), S. 84 f., 153, 158 f., auf das 17. und 18. Jahrhundert und auch inhaltlich auf die Anfangsbuchstaben A bis E erweitert.

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Dieser zahlenmäßige Befund korrespondiert mit einer von Johann Stephan Pütter, also im 18. Jahrhundert vorgenommenen Charakterisierung der reichskammergerichtlichen Tätigkeit. Danach sollten eher nur beiläufig prominente politische Auseinandersetzungen, vordringlich dagegen Streitigkeiten des täglichen Lebens beigelegt werden: Die ganze Machine [gemeint ist das Reichskammergericht, A. A-T.] ist, nur gewisse bestimmte Ferien abgerechnet, Jahraus Jahrein in beständig gleicher Thätigkeit. Aber die Gegenstände dieser Thätigkeit […] sind […] ungleich mehr Rechtssachen bloßer Privatpartheyen, als solche, die Reichsstände betreffen, und ihrer Art zugleich als Staatssachen angesehen werden können“ oder andere „häkeliche Fragen43.

III. Die hier interessierenden Zivilverfahren konnten primär mittels einer Appellation vor das Reichskammergericht gelangen, mit denen Urteile territorialer und reichsstädtischer Obergerichte angefochten werden konnten44. Für diesen Bereich übte das Gericht die Kontrolle über die partikulare Gerichtsbarkeit aus45. Wenngleich zahlenmäßig keine größere Rolle spielend, konnten Zivilsachen aber auch durch Klagen wegen Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung oder aufgrund von Nichtigkeitsbeschwerden zur Verhandlung beim Reichskammergericht kommen46. Für künftige Untersuchungen sind solche Prozesse von Zivilsachen des höchsten Gerichts nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil beide Verfahrensarten von Appellations-

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JOHANN STEPHAN PÜTTER, Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs, Bd. 3, Göttingen 1787, S. 232 f. Zur Zuständigkeit des Reichskammergerichts neuerdings BERND SCHILDT, Die Entwicklung der Zuständigkeit des Reichskammergerichts. Von der Kayserlichen CammerGerichts-Ordnung Anno 1495 zum Concept der Cammer-Gerichts-Ordnung vom Jahr 1613 (SchrRGesRKGForsch 32), Wetzlar 2006 m.w.N., BERNHARD DIESTELKAMP, Zur ausschließlichen Zuständigkeit des Reichshofrats für die Kassation kaiserlicher Privilegien, in: LEOPOLD AUER / WERNER OGRIS / EVA ORTLIEB (Hg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen (QFHG 53), Köln Weimar Wien 2007, 163-176. Freilich vor dem Hintergrund etwaiger Appellationsprivilegien, die jedoch tatsächlich von den Parteien häufiger umgangen wurden. Vgl. dazu etwa die Arbeit von EBERT-WEIDENFELLER, Hamburgisches Kaufmannsrecht (Anm. 21). Auf die von PETER OESTMANN in diesem Zusammenhang, anlässlich derselben Tagung in seinem Vortrag über „Landesherren auf der Anklagebank. Norddeutsche Hoheitsträger als Justizverweigerer“, getroffenen Unterscheidungen wird an dieser Stelle ausdrücklich Bezug genommen.

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privilegien nicht betroffen waren, und so Streitigkeiten höchstrichterlich untersucht wurden, die ansonsten der Kontrolle durch die Reichsjustiz entzogen gewesen wären. Anschauliches Beispiel hierfür ist etwa die Rechtsprechung in Ehesachen, die an sich in die territoriale Zuständigkeit fiel47; gleichwohl konnten aber auf verschiedenen Umwegen etliche Fälle dennoch an die höchsten Gerichte gelangen. Und schließlich war auch der Mitte des 16. Jahrhunderts eingeführte Mandatsprozess geeignet, privatrechtliche Konflikte, wenngleich auch nur in der mit dem Schnellverfahren verbundenen Kürze, an das Reichskammergericht heranzutragen48. So wurde bei eingeklagten Schulden häufiger um einstweiligen Rechtsschutz angesucht. Die Anträge lauteten etwa auf Arrestanlage bzw. -aufhebung oder Befriedigung des Gläubigers aus hinterlegter Kaution, auf Verhaftung des flüchtigen Schuldners, auf Verfügungen zur Rechtshilfe oder Durchführung von Vollstreckungshandlungen. Der nachfolgende Überblick zeigt, welche zivilrechtlichen Konflikte es im Einzelnen waren, die das Reichskammergericht beschäftigte49. Bis auf vereinzelte, entsprechend nachgewiesene Forschungsarbeiten deuten sich in diesem Zusammenhang einige der noch weißen Flecken auf der Landkarte der Erforschung einer materiellen Privatrechtsgeschichte an. Zunächst sind Streitigkeiten zu nennen, die sich aus der Abwicklung von Warenhandelsgeschäften unterschiedlichster Natur ergaben. Daneben wurden auch die verschiedensten Aspekte des Geldverkehrs zum Gegenstand gerichtlicher Verfahren. Vertreten sind neben den Zahlungs-50 und Schadensersatzklagen aus Kaufgeschäften und anderen Verfahren, die zur Bei-

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Dazu unten mehr. Im Rahmen von Mandatsverfahren wurden insbesondere die Besitzstreitigkeiten abgehandelt, vgl. hierzu JACOBI, Besitzschutz (Anm.19), ANJA AMEND, Aktuelles und Historisches zur richterlichen Anerkennung des possessorischen Besitzschutzes* – BGH NJW 1999, 425, in: JuS 2001, S. 124-130. Die hier genannten Beispiele stammen aus dem Frankfurter, Hamburger und Stuttgarter Bestand und bieten freilich nur einen exemplarischen Einblick. Nähere Einzelheiten zu den denkbaren zivilrechtlichen Streitigkeiten auch bei AMEND-TRAUT, Spruchpraxis (Anm. 11). DIESTELKAMP, Rechtsfälle (Anm. 7), schildert in Fall 20: „Ein mißlungener Soldatenkauf“, S. 264-270, die vergeblichen Bemühungen, einen bereits vorgeleisteten Teil des Kaufpreises für die versprochene, gleichwohl nicht geleistete „Lieferung“ von Soldaten zurückzuerhalten. In Fall 21: „Weinverfälschung oder nur Verbesserung des Weins?“, S. 271-278; siehe dazu bereits die Schilderung auch bei WIGAND, Denkwürdigkeiten (Anm. 1).

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treibung von Entgelten für erbrachte Dienst51- oder Werkleistungen52 angestrengt wurden, auch Klagen wegen ausgebliebener Darlehensrückzahlung53, solche aus Abtretungen54 oder Streitigkeiten um Schenkungen55. Während in der Sache der Gräflich Solms-Hohensolmsschen Vormundschaft gegen Friedrich Philipp von Atzenheim Letzterer auf der vertraglich festgelegten Rückzahlungsvereinbarung über Kapital und Zinsen in jedesmahl gültigem guten Geld nach dem Wechsel-Cours, der auf der Frankfurter Messe notiert worden war, bestand, verlangten die Gläubiger, die Berechnung abweichend vom Wechselkurs, und zwar entsprechend den geliehenen Münzen56. Die Erben des kaiserlichen Hofratsagenten Johann Caspar Schumann verweigerten die Vollziehung einer 1756 von ihm beurkundeten Schenkung. Darin bekommt Anna Regina Amalia Mößner, die bei dem Erblasser 20 Jahre als Haushälterin tätig gewesen war, aus Danckbarkeit und Remuneration [Belohnung] weil für meine Gesundheit und Wohlseyn Sorge getragen, auch aus ihrem Vermögen mir auf Bedörfnuß Beystand geleistet, ohne dafür Lohn zu bekommen, ein Kapital von 4.000 Reichstalern zugesprochen. Insbesondere

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DIESTELKAMP, Rechtsfälle (Anm. 7), schildert im 2. Fall: Der Türkenkrieg – ein schlechtes Geschäft für einen braven Soldaten, die – vergeblichen – Bemühungen des Obristen Johann von Selbach um die Erfüllung eines Solddienstvertrages, der anlässlich des Türkenkrieges abgeschlossen worden war, S. 57-61. Zu eingeklagten Vergütungen u. a. für Schlosser-, Schneider-, Wäschereiarbeiten, wenngleich nicht mit Blick auf die spezifisch zivilrechtlichen Aspekte der vorgestellten Fälle, JUNG (Anm. 26), S. 18 f. Dazu, wenngleich nicht mit Blick auf die spezifisch zivilrechtlichen Aspekte der vorgestellten Fälle, JUNG (Anm. 26), S. 16-18. Statt vieler weiterer: ISGF RKG Nr. 896, darin Kopie des Darlehensvertrags vom 29.08.1567 [Q] 8, Nr. 1402, dazu sogleich. Wie etwa der von DIESTELKAMP, Rechtsfälle (Anm. 7), vorgestellte Fall 22: „Ist hansische Kaufmannschaft immer ehrliche Kaufmannschaft?“, S. 279-285, zeigt. ISGF RKG Nr. 1.080, 1103, darin Schenkungsurkunde aus dem Jahr 1494 von Kaiser Maximilian I. an Graf Philipp zu Nassau-Idstein, ohne [Q]. Um die Wirksamkeit eines Schenkungsvertrages ging es bei StA Hamburg RKG Nr. O 13. Denn der Vertrag datierte auf den 03.08.1718, ohne [Q], Lit. E, fol. 3. Doch bereits im Juli war zu des Schenkers Berend Otte Schwachheit ein Schlag gestoßen …, wodurch Er gantz ausser sich gesetzet, des Verstandes, der Sprache, und des Gehörs beraubet waere, auch in solchem paroxismo etliche Tage arbeitete, bis almählig das Gehör, und die Sprache wieder kam, der Verstand aber nach Verlauff einiger monath sich allererst einfand“. Die Appellatin habe das streitige „Instrumentum […] selbsten eigenhändig geschrieben“ und Otte „zur Unterschrifft vorgelegt, und praesentiret […], ohne daß er vorhero gewusst was es eigentlich wäre, ohne [Q], Lit. C, fol. 9 r. Insgesamt wurden 66.000 fl. geschuldet, ISGF RKG Nr. 1402, darin Aufstellung der Einzelposten und Abschrift der Darlehensurkunde vom 30. Sept. 1743, [Q] 44, Sortenzettel [Q] 50.

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stritten die Parteien um die Zulässigkeit des ausdrücklichen Vorbehalts, unter dem die Schenkung stand: Wann Jungfer Mößer ledig oder verheurathet ohne Kinder sterben solte, sollten die Mittel für Schulgeld dörfttiger Kinder gewidmet werden57. Auch um Forderungen aus Kautionen58, Vergleichen59, Bürgschaften,60

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ISGF RKG Nr. 1080, Schenkungsurkunden vom 01.03.1749 und 07.09.1756, [Q] 10, 11. U. a. ISGF RKG Nr. 677 – der Appellant Löw zum weißen Spiegel widersprach einer Kautionsforderung der Fürstlich Bambergischen Regierung in Höhe von 2.000 Gulden, die als Zoll für Waren erhoben wurden, die auf einem Marktschiff transportiert worden waren, mit dem Argument, die Leistung sei bereits beglichen, [Q] 4 –, Nr. 1040 und 1041, Nr. 1211 – Streit um die Herausgabe einer in Frankfurt deponierten Kaution. Z. B. ISGF RKG Nr. 186 – Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines zwischen den Parteien abgeschlossenen Vergleichsvertrages, da er auf der Basis angeblich falsch saldierter Handelsbücher beruhe, vgl. das von Frankfurter Kaufleuten hierzu erstellte Parere, in Aktennr. 354, [Q] 13, Vergleichsvertrag vom 24.08.1771 in Aktennr. 354, [Q] 15 –, Nr. 1296 und 1447 – Caspar Schlarpff hatte mit seinen Gläubigern ohne Zustimmung der Stadt einen Vergleichsvertrag abgeschlossen, nachdem dieser als insuffizient abgelehnt worden war, Vergleichsvertrag vom 26.06.1598 in [Q] 14. Dazu ANJA AMEND, Gerichtslandschaft Altes Reich im Spiegel einer Wechselbürgschaft, in: ANJA AMEND / ANETTE BAUMAMM / STEPHAN WENDEHORST / SIEGRID WESTPHAL (Hg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung (QFHG 52), Köln Weimar 2007, S. 7-15. Weitere Verfahren, bei denen materiellrechtliche Fragen zu Bürgschaften erörtert wurden, sind etwa ISGF RKG Nr. 38 (Kopie der Bürgschaftserklärung von 22.09.1614 in Tom. I, fol. 67 v.), Nr. 181 – Wirksamkeit einer Bürgschaft, die von einem Minderjährigen eingegangen war –, Nr. 249 – Wirksamkeit einer von Susanna Dorell geleisteten Bürgschaft, die sich nachträglich auf die Einrede aus dem Senatus Consultum Velleianum und der Authentica si qua mulier berief, vgl. [Q] 5 –, Nr. 347 – Anspruch gegen Lucas Jenissen auf Zahlung von 1.000 Kronen aus einer Bürgschaft, die dieser für den später in Konkurs gegangenen Johann Brink geleistet hatte, vgl. [Q] 5 –, Nr. 467, Nr. 588, Nr. 655 – Mänle zum Rosenkranz wurde von dem Amsterdamer Handelsmann Abraham Engel über 2.800 Rtlr. in Anspruch genommen, als Engels Schuldner, für den Mänle sich verbürgt hatte, mit der Zahlung ausgefallen war, vgl. Aktenstück Nr. 6, ohne [Q], fol. 2 v. –, Nr. 699 – in einem im Jahr 1699 zwischen dem Bamberger Juden Gabriel Hayum und dem Frankfurter Bierbrauer Dietrich Stein aufgesetzten Vertrag über die Lieferung von Hafer wurde der Frankfurter Jude Wolf Moses Ganß als Bürge eingesetzt und als solcher später in Anspruch genommen. In dem Vertrag heißt es, er habe sich für Jud Gabriel verbündtlich gemacht, daß er solchen Contract zu halten mit einem seßhafften Juden in Furth verbürgen wolte, [Q] 24, fol. 1 v. –, Nr. 1040, [Q] 3, Nr. 1149 – auch Dorothea Orth wurde unterinstanzlich zur Zahlung von 2.000 Rtlrn. verurteilt, nachdem sie für ihren Schwiegersohn, den Studiosus juris […] und verunglückten Handelsmann Fabian Schedel, gebürgt und auf die Einrede des Senatus Consultum Velleianum verzichtet hatte. Vor dem Reichskammergericht brachte sie u. a. vor, dass sie über ihren Verzicht nicht ausreichend aufgeklärt worden sei, [Q] 4, fol. 3 v. –, Nr. 1154 – Elisabeth Otto, die mit ihrem Mann in gemeinschafftlicher Eisen=Krämerey und Laden gesessen und noch sitzt, Geld eingenommen, ausgezahlt, die Correspondenz in die Bücher getragen … hatte, hatte für ihren Ehemann in Höhe von 1.000 Rtlrn. gebürgt. In den von

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Pfandbestellungen61 sowie aus Renten und Gülten62, wurde gekämpft. Bei

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ihr unterschriebenen drei Bürgschaftsverpflichtungen hatte sie sich ihrer Weiblichen Freyheiten, vermöge deren sich eine Frau für ihren Mann nicht verbürgen kan, hiermit […] läuterlich begeben. Doch zu der Bürgschaftserklärung sei sie gezwungen worden, während ihr Mann auf Reisen gewesen sei, vgl. [Q] 9-11, acta priora, [Q] 47, fol. 210 v., 211 v. –, Nr. 1.185, HStA Stuttgart RKG Nr. 4.803 – Erbe eines Bürgen, der sich für insgesamt 550 fl. selbstschuldnerisch verpflichtete, wehrt sich gegen seine Inanspruchnahme, nachdem von der Gesamtschuld in Höhe von 2.900 fl. bereits 1.400 fl. abgetragen waren, [Q] 3; vgl. zu diesem Verfahren auch die Ausführungen in Anm. 67 –, StA Hamburg RKG Nr. E 27 – streitig war, inwieweit der Hamburger Bürger Hermann Panning als Bürge belangt werden konnte, da er sich zuvor in einem Ehevertrag verpflichtet hatte, seine Erbgüter […] nicht zu verkauffen, zu verpfanden, oder sunst mit arglistiger beschwerung zu versehen, demzufolge auch die Übernahme einer Bürgschaft unter diese Aufzählung fallen konnte, acta priora, ohne [Q], fol. 16 r., Bürgschaftserklärung von 1561, acta priora, ohne [Q], fol. 11 r. Z. B. ISGF RKG Nr. 29, 178 – Anspruch auf Herausgabe von Tapisserien, die als Pfand für Darlehensschulden eingesetzt worden waren, bei deren Fälligkeit jedoch unter Wert weiterverpfändet wurden –, Nr. 517 – öffentliche Versteigerung der als Pfand hinterlegten Pretiosen und Silbergeschirr gefordert, vgl. [Q] 5 –, Nr. 1471. So etwa ISGF RKG Nr. 230 und 231 – Streitig war, ob der zwischen den drei Frankfurter Stiftskirchen St. Bartholomäus, St. Leonhard und Unserer Lieben Frauen einerseits und der Stadt andererseits bestehende Vertrag betr. ewige zinsen gekündigt werden kann, Aufkündigungen der ewigen Zinsen durch Frankfurter Bürger in den jeweiligen Stiften in Nr. 231, [Q] 19, 20, 21 –, 432 – Abgabe von Korn- und Weingülte streitig, vgl. [Q] 5/8, fol. 13-15 –, Nr. 520 – Anspruch auf Rückzahlung ausstehender Gülten, die im Jahr 1533 von Graf Ludwig zu Stolberg-Königstein ausgestellt worden waren. Die insgesamt 5.000 geschuldeten Gulden sollten „in fünfzehn batzen oder 60. Creutzer gerechter, landläufiger Wehrung für ein gulden gerechnet“ mit jährlich 250 Rtlrn. verzinst werden, Gültverschreibung in Aktennr. 904, [Q] 11, fol. 20 v.-42 –, 1.275 – Anspruch auf Bezahlung ausstehender Gülten aus zwei Gültbriefen aus den Jahren 1616 und 1617, Kopien der städtischen Gültbriefe in Aktennr. 1912 und 1913, jeweils [Q] 2 –, Nr. 1.312 – die Erben des „würdigen, hochgelehrten Herrn Laurentio Vomelis Staperten der Rechten doctori, Kayserlicher Cammergerichts Advocatu und Procuratori“ machten 1639 vor dem Reichskammergericht rückständige Gülten aus insgesamt drei städtischen Obligationen aus den Jahren 1580, 1588 und 1601 geltend. Gegen die Forderung wurde v. a. geltend gemacht, in Frankfurt würden in „diesen beschwerlichen Kriegszeiten“ keine Gülten mehr ausgezahlt, da die finanziellen Belastungen durch die Unterhaltung der Garnisonen „mit Munition, Proviant und ander Kriegsmaterial“ sämtliches Vermögen verschlängen, [Q] 8, Kopien der Gültbriefe in [Q] 3-6. Unterschieden wurde die Fruchtgülte von der Geldgülte. Erstere wurde vornehmlich mit Getreide entrichtet; die sog. Fruchtzinsen, Korngülte. Im Unterschied hierzu bestanden die Geldgülten in barem Geld. In engerer Bedeutung handelte es sich dabei um einen Zins, den ein Besitzer dem Grundherrn für den Nießbrauch des ihm übertragenen Grundstückes oder den der Schuldner einer Geldsumme zu entrichten schuldig ist. Siehe zu Einzelheiten JOHANN GEORG KRÜNITZ, Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Land-, Haus- und Staats-Wirthschaft in alphabetischer Ordnung, Bd. 1-242, Berlin 1773-1858, online unter http://www.kruenitz1.uni-trier.de (26.03.2009).

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dem Streit um ein in den Lombard [Pfandhaus, A. A.-T.] zu Franckfurth pfandschafftlich eingesetztes Schmuckstück63 rangen die Parteien u. a. um nicht erfüllte Zinsansprüche des Pfandhauses und Herausgabepflichten bezüglich des Pfandscheins. Als Druckschrift ist dem Verfahren die Ratsverordnung vom 20. Januar 1739 über das neu errichtete Pfandhaus beigefügt64. Solche Leihhäuser waren nach einer zeitgenössischen Definition öffentliche Einrichtungen, die in einigen Städten von der Obrigkeit selbst, in andern wieder von Privatpersonen, unter obrigkeitlichem Privilegio und Aufsicht, zu dem Zwekke bestimmt worden, daß daselbst Leute von geringem Vermögen Geld in kleinen Posten, in der Geschwindigkeit gegen Pfand, erhalten können65.

Ebenso waren Konflikte über Zugriffsmöglichkeiten des Gläubigers beizulegen – zu nennen sind hier etwa dinglicher und persönlicher Arrest66. Und schließlich spielen auch Novation67, Aufrechnung68 und andere Streitigkeiten 63 64

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ISGF RKG Nr. 1.471 [Q] 10, fol. 5 r. ISGF RKG Nr. 1.471 [Q] 34. Vermerk des Pfandamtschreibers vom 17.06.1769 mit detaillierter Beschreibung des versetzten Schmuckstücks, der hierauf geliehenen Summe, dem Verfalldatum und der Androhung der Versteigerung, „wan die Interessen nicht bezahlet werden“, [Q] 42. KRÜNITZ, Encyclopädie (Anm. 62). Unterschieden wurden 2 Arten: solche, wo zwar Pfand aber keine Zinsen, und wieder solche, wo von den Geldbedürftigen Pfand und Zinsen gegeben werden. U. a. ISGF RKG Nr. 696 – vier kurmainzische Pferdehändler, allesamt Mainzer Schutzjuden, verstießen gegen das Verbot, Pferde in Gebiete zu verkaufen, die in der Nachbarschaft des französischen Feinds belegen waren, woraufhin sie selbst und ihre Ware mit Arrest belegt wurden, vgl. Species Facti der Statt Franckhfurt [Q] 8. Dazu auch ANJA AMEND, Art. Arrest, Arrestverfahren HRG I 22005, Sp. 302-309. HStA Stuttgart RKG Nr. 3764 – Forderungen aus einem Gültbrief über 600 fl. aus dem Jahr 1617, [Q] 2, 6, seien erloschen, weil er durch eine neue Verschreibung mit consens gemeltes [des Heilbronner, A. A.-T.] Raths […] abgelöst worden sei, [Q] 3 –, HStA Stuttgart RKG Nr. 4.401 – die Novation einer Schuldverschreibung sei Ursache dafür, dass die ursprüngliche Obligation cassiert und infringiert sei, dahero dem Herrn Appellaten, so wol propter novationem alls propter exceptionem ordninis Ansprüche aus einer auf die ursprüngliche Schuld gegebenen Bürgschaft erloschen seien, [Q] 9. Siehe zur Novation schließlich noch HStA Stuttgart RKG Nr. 4803 – dort wurde um die Rückzahlung eines dem Mühlenbesitzer Eßlinger gewährten Darlehens über insgesamt 550 fl. gestritten, das der mittlerweile verstorbene Vater des Appellanten beim Kauf einer Mühle unter Anrechnung auf den Kaufpreis von 2.900 fl. im Wege der Novation übernommen hatte, [Q] 4, p. 4; vgl. dazu auch die Ausführungen in Anm. 60. HStA Stuttgart RKG Nr. 5.063 – Appellant Zaunberger hatte dem Schweizer Fridle Weißmann 100 Scheiben Salz verkauft. Den noch ausstehenden Kaufpreis in Höhe von 53 fl. verlangte er vom Appellaten Gmainder, der die Ware dem zahlungsunfähigen Schweizer abgekauft und die Kaufsumme mit einer Verbindlichkeit des Schweizers aufgerechnet hatte; darin Schuldbrief Weißmanns von 1550 für Gmainder über 120 fl. für geliefertes Salz, [Q] 3, fol. 12.

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zum Abrechnungsverkehr eine nicht unerhebliche Rolle im Rahmen des streitigen Zahlungsverkehrs69: Zweifelhaft war etwa, welcher Zinssatz zugrunde gelegt werden durfte, ohne sich dem Vorwurf des Wuchers auszusetzen70, oder welche Wertigkeit einzelne Münzen hatten, die untereinander verrechnet werden sollten. Vor allen sind jedoch im Rahmen der zivilprozessualen Auseinandersetzungen beim Zahlungsverkehr die Wertpapiere, namentlich der Wechsel71 und die Inhaberschuldverschreibung72, von großer Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Lotterien hinzuweisen, die ihre Blütezeit im 18. Jahrhundert hatten und eine Fülle von Prozessen auslösten73. Wie bei der Schuldverschreibung kann auch beim Lotterielos der jeweilige Inhaber von dem Aussteller die Leistung des urkundlich Versprochenen verlangen.

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Hierzu etwa KARL OTTO SCHERNER, Wandlungen im bild des Kontokorrents, in: DERS., Handel, Wirtschaft und Recht in Europa. Abhandlungen zum Handels- und Wirtschaftsrecht in Deutschland und Europa des 16. bis 19. Jahrhunderts (Bibliotheka Eruditorum 27), Goldbach 1999, S. 171-181. Diesen Komplex erörtern DIESTELKAMP, Rechtsfälle (Anm. 7), geschilderte Fall 17: „Jüdischer Wucher oder christlicher Betrug?“, S. 238-242, AMEND-TRAUT, Wechselverbindlichkeiten (Anm. 12), unter Punkt E.III.15.h). Zu ihm AMEND-TRAUT, Wechselverbindlichkeiten (Anm. 12). ISGF RKG Nr. 1348 – Anspruch aus Schuldverschreibungen, die die Appellatin Marie Elisabeth Lersner gemeinsam mit ihrem später verstorbenen Ehemann mit den Worten in solidum, eines für das ander einstehen zu wollen, mitunterzeichnet und hinsichtlich der sie bei der Frankfurter Unterinstanz ihr Separationsrecht erfolgreich vorgebracht hatte, vgl. insgesamt 16 Schuldverschreibungen in einer Gesamthöhe von 12.196 Gulden aus der Zeit zwischen 20.12.1707 und 12.12.1712 [Q] 9-16 –, HStA Stuttgart RKG Nr. 1.819 – die von Georg Friedrich, Crafft und Philipp Ernst von Hohenlohe zugunsten des ReichskammergerichtsAdvokaten Dr. Andreae Huber im Mai 1617 ausgestellte Schuldverschreibung über 1.200 Königs- oder Philippstaler wurde 1659 Gegenstand eines Mandatsverfahrens, als die Erben des Gläubigers rückständige … gült sechzighalb an gantzen undt halb an ortteren Königischen Philipps thalern jahrlich geltend machten, in Kopie der Akte beigefügt in [Q] 3; die Zahlung wurde u. a. deshalb verweigert, weil die Schuldübernahme selbst zweifelhaft geworden war –, StA Hamburg RKG Nr. L 48. Nachgewiesen in etlichen Beständen, wie etwa im Frankfurter und Wetzlarer und StA Hamburg RKG Nr. K 38 – dort diverse Resolutionen zur Errichtung der Lotterie, teilweise gedruckt, [Q] 26-31, ein Original-Los, [Q] 32; hieraus geht der allgemeine Zweck der Lotterien anschaulich hervor: Zu wißen sey hirmit, dem nach S. Königl. Maytt. zu Dennemarck, an mich Johan Hinrich Thomsen eine Octroy zu einer Lotterey allergnädigst accordiret, alß verspreche ich I. solche von mir projectirte Lotterey zum behuf der im verwichenen Jahr durch die erschrekliche Maßenflucht ruinirten Leüte, der Landschaft Süder Dittmarschen ins Werk zu richten, und alles dazu diensahme und nöthige zu veranstallten, also daß ich sowol die Einricht- alß Forttsetzung und ziehung dieser Lotterey auf meine eigenen Kosten also besorgen will […], [Q] 27. fol. 1 r. Darüber hinaus siehe die am Ende dieses Beitrags angekündigte Untersuchung – freilich für die Rechtsprechung des Wismarer Tribunals.

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Bei den Verfahren, die im Zusammenhang mit Vermietung und Verpachtung stehen, ging es vor allem um Wohnraum74 oder gewerblich oder anderweitig genutzte Flächen, wie etwa eine Eisenhütte mit aller deroselben Zubehörd, Freyheit, Recht und Gerechtigkeit, zu Berg undt Thal […] biß zu End und Verfließung gedachter Zeit75, eine Kornmühle, hinsichtlich der der Pachtvertrag wegen vertragswidrigen Verhaltens vorzeitig gekündigt worden war76, oder das Wormser Johanniterhaus, bei dem die Fortsetzung des Vertrages bzw. die Fälligkeit von Pachtzinsen u. a. wegen der Einquartierung von Soldaten bestritten wurde77. Aus dem Gebiet des Familienrechts stechen in der Judikatur des Reichskammergerichts besonders die Bereiche Ehe78 und Vormundschaft79 hervor. Zu den Ehesachen zählen Verfahren wegen nicht erfüllter Eheversprechen80, 74

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So etwa ISGF RKG Nr. 228 – der Frankfurter Steinmetz Philipp Schweitzer sah sich 1531 einer Appellation ausgesetzt, mit der das Bartholomäus-Stift noch ausstehende Miete für eine Stifftsbehausung einforderte –, Nr. 613 – Frage der Wirksamkeit eines Mietvertrages über eine im Saalhof belegene Wohnung, in den entgegen einer vertraglichen Vereinbarung aus dem Jahr 1760 nicht sämtliche Eigentümer eingewilligt hatten. Danach sollten hiergegen verstoßende Mietverträge völlig unverbindlich, nichtig und kraftlos sein; Vertrag der Eigentümer in [Q] 13, hier fol. 4, unter 3. –, u. a. war Prinz Ludwig Georg Carl von Hessen-Darmstadt die Hausmiethe für seine Heilbronner Behaussung auf der Sülmerstrase nebst Stallung und Hofraithe in Höhe von 1.148 Gulden 30 kr. schuldig geblieben, weil durch den Krieg mit Frankreich elsässische Einkünfte ausstünden, auf dren Nachzahlungen er hoffte, HStA Stuttgart RKG Nr. 3.651, geschuldeter Mietzins als Zahlungsposten Nr. 14 in [Q] 3, p. 8, Zahlungsversprechen und Bestätigung des Mietverhältnisses durch Schuldner, [Q] 16. Streit des Frankfurter Schutzjuden Michael zum weißen Stein gegen den Eisenhändler Heinrich Conrad Decker, ISGF RKG Nr. 682, ohne [Q], Num. 1, fol. 1. Dem Müller Balthasar Nicolaus Stephan wurde u. a. vorgeworfen, er habe durch uffggehengten Taback eine Feuersgefahr heraufbeschworen, ISGF RKG Nr. 1.450 [Q] 18, fol. 1, Pachtvertrag vom Juli 1693, [Q] 3. HStA Stuttgart RKG Nr. 2.225, Abschrift des Pachtvertrags vom 28.08.1622 in [Q] 6, fol. 3 r.-5 v. Dazu SEEHASE (Anm. 18). Diskutiert wurden etwa Dauer, Umfang oder Abwicklung der Vormundschaft oder, wie in der Sache des Johann Balthasar Wasserhuhn, die Frage, welche Voraussetzungen an die Bestellung eines Vormunds geknüpft sind, ISGF RKG Nr. 1.564, [Q] 4, fol. 6. Näher dazu und zu weiteren Verfahren aus diesem Bereich JUNG (Anm. 26), S. 15 f., AMENDTRAUT, Spruchpraxis (Anm. 11). Peter Thombsen etwa setzte sich gegen ein angebliches Eheversprechen mit der Begründung zur Wehr, er sei lediglich der Tanzpartner der Näherin Catharina Böring gewesen. Als er „sich zu Altona bey Hamburg auffgehalten, und alda von einem Tantzmeister in Hamburg nahmens Zahn, tantzen gelernet“, habe „nun dießer tantzmeister umb H. Ppalen im tantzen desto beßer zu exerciren, eine seiner geheimen Freundinnen Catharina Böhring“ zugeführt, StA Hamburg RKG Nr. T 36, [Q] 5, fol. 1 v.

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solche zum Ehegüterrecht und zum Ehevertrag und Prozesse um Aufhebung der Ehe gleichermaßen81. Hauptsächlich zu dem letztgenannten Komplex sind in den letzten Jahren einige Arbeiten erschienen, wenn auch nicht mit dem Anspruch, den spezifisch zivilrechtlichen Kerngehalt zu analysieren. Im Vordergrund ihres Interesses stehen vor allem die gesellschaftlichen und politischen Folgen von Scheidungen82. Insbesondere während des 16. Jahrhunderts geht es bei diesen Prozessen häufig nicht vorrangig um die Sache selbst, sondern um das Recht zur Ausübung der Ehegerichtsbarkeit83. Die konfessionelle Spaltung bewirkte im Reich eine durch die jeweilige Religion bestimmte Definition des Rechtsbegriffs der „geistlichen Sache“ und damit auch der „Ehesachen“. Denn nach kanonischem Recht war und ist die Ehe ein Sakrament. Doch für res ecclesiastica war der weltliche Richter grundsätzlich nicht zuständig. Nach protestantischer Auffassung hingegen war die Ehe weltlicher Natur und dadurch auch vor dem weltlichen Richter zu verhandeln84. Damit spiegeln die Ehesachen einerseits Aspekte eines verfassungs- und gesellschaftspolitischen Umbruchs wider. Andererseits geben sie

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DIESTELKAMP, Rechtsfälle (Anm. 7), Fall 4: „Ehezwist im Hause von Diez nebst Trennung von Tisch und Bett“, S. 76-82. JUNG (Anm. 26), S. 27 f., MANFRED HÖRNER, Brudermord und Ehezwist. Die Reichskammergerichtsprozesse der Brüder Gregor und Augustin Einkürn, in: ANETTE BAUMANN / PETER OESTMANN / STEPHAN WENDEHORST / SIEGRID WESTPHAL (Hg.), Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherungen – Fallstudien – Statistiken (QFHG 50), Köln Weimar Wien 2005, S. 181-211, hier S. 193-201, WESTPHAL, Scheidungen (Anm. 26). So etwa eine seit dem Jahr 1588 verhandelte Sache, ISGF RKG Nr. 184, bei der zunächst das Frankfurter Gericht Adam Keck zu einer Geldstrafe verurteilt hatte, doch das erzbischöfliche Konsistorium zu Mainz mit einem Unterlassungsmandat intervenierte und den Frankfurter Rat aufforderte, Keck vor dem Konsistorium erscheinen zu lassen. Keck hatte sich mit einer anderen Frau andernorts vermehlett, nachdem sich er und Lucia Bücher ein förmliches Eheversprechen gegeben hatten. Bürgermeister, Schöffen und Rat der Stadt Frankfurt empfanden das Vorgehen des Konsistoriums als Eingriff in die Gerichtshoheit der lutherischen Stadt Frankfurt und wandten sich mehrfach in Protestnoten an den Kaiser, wonach Frankfurt die Entscheidungen der geistlichen Richter des erzbischöflichen Stuhls „vor keine superiors noch concurrentes judices erkhennen thun“. Ungeachtet dessen verurteilte das Mainzer Konsistorium Adam Keck neben einer Geldbuße die clegerin vor deine Hausfraue zurordnen […] mit abschaffung der nichtiglich andernorts erwelten. Das Reichskammergericht betonte in seinem Vollstreckungsmandat, dass das Mainzer Konsistorium in Matrimonialsachen zuständig und hiervon auch die Stadt Frankfurt bishero und ohnzweiffentlich jeder Zeit betroffen sei. Aktennr. 349, [Q] 1. Der Hinweis des Frankfurter Rats, wonach dies dem Religionsfrieden stracks zuwider laufe, blieb ungehört, Keck wurde exkommuniziert. Aktennr. 349, Instrumentum protestationis wider das geistliche Gericht […] No. 4. Dazu näher ANJA AMEND, Rezension der Dissertation von SEEHASE, Ehesachen (Anm. 18), in: ZRG GA 118 (2001), S. 682-684.

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aber auch das Ausmaß des sozialen Wandels in eindrucksvollster Weise wider, ist an ihnen doch der Ausbau der persönlichen Rechte seit der dreihundertjährigen Existenz des Reichskammergerichts nachvollziehbar, nämlich von der altständischen Ordnung ausgehend bis hin zur Aufklärung und der Französischen Revolution, die die persönliche Freiheit des Einzelnen zeitigte85. Die Erbschaftsauseinandersetzungen spiegelt nicht nur familiäre Eigentums- und Vermögensverhältnisse – zum Teil sehr anschaulich anhand von aufwändigen Stammbäumen und genealogischen Zeichnungen – wider86. Die erörterten Fragen zur testamentarischen und gesetzlichen Erbfolge bilden auch die Wechsellagen gemein- und deutschrechtlicher Tradition ab. Allgemein konnte die Erbberechtigung, etwa des unehelichen Kindes87 oder des Fiskus88, bestritten werden89, oder es ging um die Erfüllung von Nachlassverbindlichkeiten90. Andere Klagen richteten sich gegen nichtberechtigte Besitzer91, oder es wurden Testamente, etwa wegen Form- oder Willensmängeln, angefochten92.

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Vgl. dazu etwa STEPHAN BUCHHOLZ, Art. Ehe HRG, 22007, Sp. 1192-1213 m.w.N. Hierauf hat insbesondere JUNG (Anm. 26), S. 9-15, ihr Augenmerk gelegt. So bei DIESTELKAMP, Rechtsfälle (Anm. 7), in Fall 24: „Das Testament eines Spätheimkehrers“, S. 292-297, dargestellt. StA Hamburg RKG Nr. K 58. Streitig konnte etwa sein, ob der alte sächsische Rechtsgrundsatz nechst blut, nechst erbe noch gilt und damit die Kinder nach dem Tod ihrer Eltern erbberechtigt sind, StA Hamburg RKG Nr. L 47, [Q] 9, fol. 1 v. Theodor Lavezzari wehrte sich gegen die von ihm eingeforderten Erbansprüche der Flaminia Massi mit der Begründung, bei ihr handele es sich nicht um die Mutter seiner verstorbenen Frau, die als Opernsängerin nach Hamburg gekommen war, sondern um eine bejahrte Matrona bey der Opern Gesellschaft, welche sich von den meisten der jungen Sängerinnen und Actricen, die sie zu ihrer Profession auferzogen hatte, der Gewohnheit gemäs, als Mutter angab, StA Hamburg RKG Nr. L 24, 1. Teil, [Q] 12, fol. 38 v. ISGF RKG Nr. 46: Dort heißt es hinsichtlich des Schuldenausgleichs im Erbfall, die Erben hätten ihme [dem Erblasser, Anm. d. Verf.] den Schlüßel auffs Grab gelegt und solchergestalt alle Creditores bezahlet, Schreiben betreffend den Schuldenausgleich im Erbfall v. 1721, ohne [Q]. U. a. um die Herausgabe eines Inventars ging es in StA Hamburg RKG Nr. D 18. StA Hamburg RKG Nr. N 8. Der Streit zwischen dem mecklenburgischen Hofmarschall Rudolf von Neuendahl und den beiden Neffen seiner Ehefrau Elisabeth, den Hamburger Brüdern Schott, entbrannte über einen in Hamm belegenen Hof, den die Ehefrau Neuendahls ihrem Gatten im Rahmen eines auf den 17.04.1754 datierten wechselseitigen Testaments zugesprochen hatte, danach jedoch Schotts die Immobilie in einem Vergleich vom 06.10.1758 zugesprochen hatte, den sie aber noch vor ihrem Tod am 23.06.1760 widerrief, Testament [Q] 15, Vergleich [Q] 17, Widerruf des Vergleichs [Q] 16. StA Hamburg RKG Nr. C 21.

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Im erbrechtlichen Kontext hervorgehoben seien etwa Streitigkeiten um das gebundene Familiengut, das eine Neuschöpfung der rechtsgeschäftlichen Praxis des Usus modernus war und unter dem Begriff Fideikommiss Eingang fand93. Auch mit der Frage, ob Halb- und Vollgeschwister der Eltern des Erblassers dasselbe Intestaterbrecht besitzen, hatte sich das Reichskammergericht auseinanderzusetzen; dabei scheint sich in der Folge der reichskammergerichtlichen Judikatur die Gleichbehandlung sämtlicher Geschwister als Rechtsgrundsatz manifestiert zu haben94. Neben vielen weiteren umstrittenen erbrechtlichen Fragen, mit denen sich auch das Reichskammergericht auseinanderzusetzen hatte, sei hier schließlich jene erwähnt, ob Enkel Erbansprüche auf den Nachlass ihrer Großeltern im Fall des Vorversterbens ihres Elternteils geltend machen konnten. Obwohl der Reichsgesetzgeber zur Klärung dieser Fälle u. a. durch den Erlass entsprechender Edikte und Kaiserlicher Konstitutionen ausnahmsweise eine privatrechtliche Regelung traf, wonach zugunsten der Enkel ein Repräsentations- bzw. Eintrittsrecht gelten sollte, konnten sich vor allem in Gebieten des Gemeinen Sachsenrechts althergebrachte Grundsätze, wie etwa „erben tut nur das nächste Blut“ erhalten. Dem Reichskammergericht oblag die Aufgabe, den neueren, reichsweit geltenden Vorschriften Geltung zu verschaffen95.

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Der Esslinger Stadtsyndikus Philipp Knipschild übernahm 1626 in seiner Straßburger Dissertation für diese neue dogmatische Figur den Namen des römischen Vorausvermächtnisses. Dazu OTTO STOBBE, Handbuch des Deutschen Privatrechts II, Berlin 21883, S. 549-554. Zum Streit über männliche und weibliche Erbfolge im Rahmen eines Fideikommisses StA Hamburg RKG Nr. M 55: In dem Fideikommiss hieß es, dass der Erblasser vorzüglich auf seine männliche Erben, und falls bei seinem Ableben derer keiner vorhand[en] wäre, auf seine brüder und Schwestern nach dem Alter successive für sich und ihre männliche Descendenz vererben wolle, Factum, § 3, [Q] 11, fol. 29 v. Ebenfalls streitig etwa bei HStA Stuttgart RKG Nr. 2.621 – darin Testament des Generals Moser von Filseck von 1668 nebst Anordnung eines Familienfideikommisses [Q] 29. Dieses bot der Stadt Schwäbisch Hall Anlass, die Zahlung von Zinsen für eine vom Erblasser geliehenen Summe von insgesamt 44.000 fl. zu verweigern. Dazu Gutachten der Juristenfakultät Tübingen vom 26.01.1716 v.a. zu der Frage, ob das Fideikommiss erloschen ist, [Q] 32, und Bestätigung des „renunciations Vergleichs mit benamßung aller und jeder Interessenten“, d.h. Zustimmung der Erben Mosers von Filseck, von denen der Verzicht auf das Fideikommiss erforderlich ist, [Q] 60, unter Bezugnahme auf beigefügte Genealogie [Q] 61. Dazu zuletzt OESTMANN, Edition (Anm. 36), S. 7. Bei einem bei BRINKMANN, Rechtsleben (Anm. 8), geschilderten, in der Sache nicht entschiedenen Erbfall ging es materiellrechtlich an sich um die Frage, ob für halbbürtige und vollbürtige Neffen väterlicherseits das gleiche Erbrecht besteht, I. Rechtsfall, S. 52-61. Ein in diesem Kontext angestrengtes Verfahren schildert DIESTELKAMP, Rechtsfälle (Anm. 7), in Fall 23: „Erben Enkelkinder neben den Kindern?“, S. 286-291.

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Zahlreiche Prozesse tangieren den Bereich des Assekuranzwesens96: In einschlägigen Fällen ging es um die Verweigerung der Auszahlung der Versicherungssumme, etwa weil die Versicherungsnehmer das verassecurirte Schiff nicht allein von Hamburg nach der Stör, sondern auch von dannen weiter, ja endtlich gar von der Elbe gantz NB. ohne Convoye abgehen laßen obwohl doch […] die eingeklagte 6 Policen vorgesehen hätten, dass das Schiff mit der damahlß auf der Elbe liegenden Englischen undt Hambürger Convoyen undt zudehm von keinem andern Orthe dan von Hamburg … nach London abgehen sollen. Als

es vor Dünkirchen von einem französischen Kaperschiff aufgebracht worden war, stritten die Versicherer ihre Einstandspflicht mit Hinweis auf das vertragswidrige Verhalten ab97; oder die Einstandspflicht der Versicherung wurde mit Hinweis auf Übersicherung98 oder auf eine ausgebliebene Prämienzahlung abgelehnt99: Mit außtrücklichen Worten sei im Versicherungsvertrag begriffen, das die praemien bahr und content sollen und müßen gezahlt werde, wie dan die formalia buchstäblich darin alß lauten, hingegen habe der Appellat guth und selbsten eingeräumt, das die praemia nicht gezahlet, und also ahn seiner seithen der contract nicht adimpliret sey100. In einigen Fällen brachten die Versicherungen ihre Geschäftsbedingungen im Prozess bei oder verwiesen auf den Inhalt der beigefügten Policen101.

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StA Hamburg RKG Nr. L 46. StA Hamburg RKG Nr. V 9, [Q] 3, fol. 2 v. Eine Ladung Körns war nicht nur in Hamburg, sondern gleichsam in Holland versichert. Als nun gedachtes Schiff nebst der Ladung auf der See verunglücket, so haben die Assekurrateurs in holland den Schaden mit 98 pcto würcklich bezahlet. hierauf meldete sich Appellat auch bey seinem Assekurateur in Hamburg derer Appellanten Erblasser, StA Hamburg RKG Nr. B 116, [Q] 7-10, fol. 1 r. In der Sache des Hamburger Assekuradeurs Schwiersen gegen Kaufmann Budier wird im appellatischen Schriftsatz eingeräumt, dass eine fehlende Prämienzahlung in der Tat eine erschreckliche malita wehre. Die Behauptung selbst wird dann im Übrigen bestritten, StA Hamburg RKG Nr. H 127 Teil 1, [Q] 4, fol. 2 v., K 75, [Q] 20, fol. 11 r. StA Hamburg RKG Nr. K 74, [Q] 65. StA Hamburg RKG Nr. H 90a – ausgefüllter Vordruck einer Police auf Güter vom 04.01.1799, in der die gezeichnete Summe von 8.200 Mark Banco für 40 Booten Remones Wein und 100 Tragen Rosinen gegen eine 12 %ige Prämie versichert wurde. In der Police war weiter vorgesehen, dass Schiffer Friedrich Sievert […] von Malaga wo selbst es diese Güter eingenommen, nach Ostende transportieren sollte, [Q] 10 –, H 90b – gedruckte Bedingungen, nach welchen diejenigen Hamburgischen Assekuradeuts, welche sich bey ihren Unterschriften darauf beziehen, vom Isten Januar Anno 1800 an, Versicherungen übernehmen, ohne [Q], Nr. 14 –, H 147 – gedruckte Verfassungs-Artikel der Association Hamburgischer Einwohner zur Versichrung gegen Feuers-Gefahr nebst Beilagen, in Kraft getreten am 01.10.1795, [Q] 53, hierzu gedruckte Additional-Artikel, [Q] 54.

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Andere Versicherungen lehnten eine Auszahlung ab, weil der Versicherungsfall nicht ordnungsgemäß nachgewiesen worden sei. So verweigerte eine Seeassekuranz dem Kaufmann Alessandro della Rocha die Auszahlung der Schadenssumme, weil er den Beweis schuldig geblieben sei, dass seine Schiffsladung Korn ihren Bestimmungshafen nicht mehr habe erreichen können. Die Ladung sollte von Hamburg nach Italien gehen. Doch infolge eines Sturm[s] und Ungewitter[s] und der Beschießung durch Piraten musste der Hafen von Lissabon angelaufen werden. Aber Della Rocha brachte keine Bestätigung der örtlichen Behörden bei, wonach das Schiff nicht mehr repariert werden konnte, um anschließend die vertragsmäßigen Bestimmungshäfen Genua oder Livorno anzulaufen. Für die Versicherung lag deshalb der Verdacht nahe, della Rocha habe das Korn zu Lißbona außgeschiffett, und verkaufft und auf die Weiterfahrt nur wegen des nicht hoch im Preiß gewesenen Getreides und des schlappen Marcktes in Italien eigennützig verzichtet102. Es darf davon ausgegangen werden, dass sich wie hier auch bei anderen der aufgeworfenen Untersuchungsgegenstände regionale Spitzen bzw. Eigentümlichkeiten zeigen dürften: So müssen Verfahren aus dem Bereich des Assekuranzwesens als eine Spezialität des Hanseraums gelten. Ebenso ist in Handelsstädten wie Frankfurt, Hamburg oder Köln der Bereich Geldwirtschaft im Rahmen des gesamten Prozessaufkommens eines Gerichtssprengels bedeutender als etwa in ländlichen Bereichen103. Eine nicht nur privatrechts- sondern auch wirtschaftsgeschichtlich außerordentlich bedeutungsvolle Sondergruppe stellen die Verfahren dar, die sich mit besonderen Handelsgeschäften und Handelsgesellschaften befassen104: Zu

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StA Hamburg RKG Nr. K 62 – acta priora, fol. 94 v., 183 v.; Abschrift des Versicherungsscheins vom 06.11.1591 über eine Ladung Korn, ausgestellt von Hamburger und Antwerpener Assekuradeuren, acta priora, fol. 47-55, Abschrift des Versicherungsscheins vom 13.10.1593 gleichen Inhalts, acta priora, fol. 118-129. Darauf weist neuerdings auch MATTHIAS KORDES, Eine Akte ist noch keine Quelle. Eine Standortbestimmung der Kölner Reichskammergerichtsforschung, in: Geschichte in Köln 53 (2006), S. 75-98, hier S. 87 f., hin. Eine rechtshistorische Untersuchung zu Handelsgesellschaften des Mittelalters liefert ALBRECHT CORDES, Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel im Hanseraum, Köln 1998.

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den besonders relevanten Handelsgeschäften gehören der Frachtvertrag105, das Konnossement106, und die Kommission107. Bei dem Kommissionsgeschäft konnte es etwa vorkommen, dass der Kommissionär den ihm überlassenen Handelsgegenstand zu einem niedrigeren Preis verkaufte als abgemacht: Schadensersatz forderte der aus Lissabon stammende Kaufmann Joseph Moreira-Leal, der Brasilianischen Tabak an den Hamburger Kaufmann Johann Ludwig Hübener in Commission nach Hamburg versendet hat, mit der ausdrücklichen schriftlichen Ordre, solchen Taback zu vier Schilling, aber nichts minder, zu verkaufen. Doch Kommissionär Hübener verstieß hinsichtlich der ihm anvertraueten 184 Rollen Taback quaest gegen des klagenden mandatis bemerkten deutlichen Befehl[s], 179 Rollen zu 3 ¼ ß und die übrigen 5. Rollen zu 3 S abzusetzen, mithin die ganze Quantitaet um 3586 Mk. 8 S Bco weniger, als wozu ihn die gehabte positive Ordre befugt gehabt, zu verkaufen108. Oder es wurde be-

hauptet, Schadensersatzansprüche wegen der Nichteinhaltung eines unstreitig abgeschlossenen Kommissionsgeschäftes seien aufgrund höherer Gewalt ausgeschlossen:

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Da bei ihm typischerweise Absender, Frachtführer und Empfänger beteiligt sind, ist er heute als Vertrag zugunsten Dritter ausgestaltet, geregelt in §§ 425 ff. HGB. Dazu etwa der Vertrag zwischen John Thornton Handelsmann dieser Stadt [Hamburg, A. A.-A.] Befrachter, eines Theils und … Kapitain Hendrick de Jongh, führend das Hamburger Schiff genannt de Vriendschop, gros ungefähr achtzehn Keels Steinkölne, Verfrachter am andern Teile. In diesem Vertrag verpflichtet sich der Befrachter u. a., durch Empfänger dem Capne oder seiner Order die stipulirte Fracht zehn Pfund Sterling guter gesezmäßiger Münze Großbrittaniens, […] promt und unweigerlich zu bezahlen, StA Hamburg RKG Nr. T 32, Teil 1, [Q] 7. StA Hamburg RKG Nr. B 126 – 2 Konnossements vom 15. und 16.08.1709 über 3 Ballen Stoff, die auf dem Schiff Der fliegende Adler nach Hamburg gebracht werden sollten, gedruckte englische Formulare, nach [Q] 32, acta priora, Beil. Lit. E., F., Übersetzung [Q] 20; ein Konnossement vom 09.09.1709 über einen Pack mit Kaufmannsguth, gedrucktes niederländisches Formular nebst Übersetzung, [Q] 7. –, M 35 – Konnossement vom 23.03.1759: Ick Jan Claessen van Hamburg Schipper naes t Godt van myn Schip, genaemt de Fortuna als nu ter tyd gereet leggende voon Hamburg om met den ersten goeden Wind, die Godt verlunen hat, te heylen na London, alwaer myn rechte ontladinge zyn hat, bekenne ontfagen te hebben onder den overloop van myn Schip, van DHr. Jan Wolterse Sechs Kisten Linn Een kist ditto Al droog ende wel geconditioneert […], acta priora [Q] 21, Bl. 346-350, Anlage Num. 6. In dieser Streitsache war das Konnossement dagegen nicht selbst streitgegenständlich, sondern es wurde die Verletzung des Rechtsgrundsatzes Hand muss Hand wahren behauptet. Zum Kommissionsgeschäft sowohl in der Rechts- und kaufmännischen Literatur als auch in der Legislative in der Frühen Neuzeit siehe die Arbeit von TORSTEN LANDWEHR, Das Kommissionsgeschäft in Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtspraxis vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (RhistR 277), Frankfurt a. M. u. a. 2003. StA Hamburg RKG Nr. H 176, [Q] 2, fol. 4.

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Die Hamburger Kommissionäre Vogt und Tamme hatten auf den karibischen Inseln Martinique und St. Christopher Wein gegen Zucker und Tabak gekauft, konnten diese Waren dann jedoch nicht dem Kommissionsgeschäft entsprechend mit ihrem Schiff „St. Anna“ transportieren, da französische Compagnie Schiffe […] ein königlich Mandat mit sich [brachten] daß keine Güther der Holländer Hamburger und andere[r] Fremde[r] aus dem Lande als durch französische Compagnie Schiffe geführet und über Frankreich spediret werden sollten109. Schließlich war streitig, ob überhaupt ein Anspruch aus einem

Kommissionsgeschäft bestand. So behaupteten die beiden Frankfurter Schutzjuden Schmuel zum Krachbein und Mändle zum Goldenen Fass, die vermeintlichen Kommissionswaren von ihrem Vertragspartner, dem Straßburger Handelsmann Jost Heinrich Rüdinger, gekauft und bezahlt zu haben. Bevor sich das Reichskammergericht mit der Sache auseinandersetzen musste, entschied der Frankfurter Schöffenrat, dass man die Jud[en] in Römer beschicken, und nicht darauß lassen soll, biß sie die von Rüdingern geclagte wahren selbst oder aber den angegebenen Werth derselben, nemblich 1.400 Reichsthaler., doch darvon die von Rüdingern gestandene 88 Reichsthaler uff rechnung abgezogen, in Römer geliffert und deponirt sein word[en]110.

Streitige Fragen zu Handelsgesellschaften leiten sich aus ihrem Innenverhältnis oder ihrer Liquidation ab: So gab es Streit unter Mitgliedern um Ansprüche auf Gewinnzuteilungen oder andere Abrechnungsmodalitäten111, oder Uneinigkeiten bei der Auflösung einer Handelsgesellschaft112 oder

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StA Hamburg RKG Nr. V 12, [Q] H, fol. 2 r. Vertrag über das Kommissionsgeschäft ohne [Q]. Entscheidung vom 16.06.1624, ISGF RKG Nr. 644, [Q] 5. StA Hamburg RKG Nr. T 44, HStA Stuttgart RKG Nr. 1.734 – bei dem im Jahr 1516 am Reichskammergericht anhängig gewordenen Streit ging es um die Einhaltung eines zwischen den ehemaligen vier Gesellschaftern einer Weinhandlung geschlossenen Vergleichs, der die Geschäfte der aufgelösten Gesellschaft zum Abschluss bringen sollte, dazu näher [Q] 6. Ebenso hierzu der bei PITZ, Kammergerichtsprozeß (Anm. 30), geschilderte Fall. Zur so genannten actio pro socio WALTHER HADDING, Actio pro socio. Die Einzelklagebefugnis des Gesellschafters bei Gesamthandansprüchen aus dem Gesellschaftsverhältnis (Marburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen, Reihe A 15), Diss., Marburg a.d. Lahn 1966, STEPHAN MEISSEL, Zur Konkurrenz von actio pro socio und actio communi dividundo, in: Orbis Iuris Romani – Journal of Ancient Law Studies V (1999), S. 15-47. HStA Stuttgart RKG Nr. 2.163 – Streit um Abrechnung und Auseinandersetzung einer im Jahr 1743 begründeten Compagnie, die v.a. Hafer an die französische Armee lieferte. Nach dem zwischen dem kaiserlichen Faktor Johann Georg Hupfer, Ludwig David Glück und Johann Ludwig Seyffert geschlossenen Contractus Societatis sollte was durch Gottes Seegen und Gnade verdient und erworben wirdt, […] unter diese Drey zugleich zu theillen, wie dan auch darum in denn einem oder andren Schaden entstehen mögte selbige ebenfalß über sie Drey, wenn es nicht durch schändliche verwahrlosung des einem oder

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beim Austritt eines Gesellschafters113, namentlich die Fragen, wer für Verbindlichkeiten der Gesellschaft114 oder für Gesellschafterschulden115 haften müsse. Häufiger Gegenstand der höchstrichterlichen Verfahren waren schließlich auch Konkurse: Hier konnten Fragen rund um einen Vergleich klärungsbedürftig sein116, oder es war streitig, wem Vorzugsrechte zustanden117, wer ferner den Gläubigern haftbar war118, oder ob der Ehefrau des Falliten das Recht zustand, ihr Vermögen zu separieren. So machten in der Sache

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andren verursachet worden, ergehet., Kopie des Vertrages [Q] 4, fol. 16 v., unter Punkt 2. Bei der Auseinandersetzung behauptete Mitgesellschafter Hupfer v.a., die Seyffertsche und Glücksche Quittungen seien bey der Liquidation, so ohnehin nur einseitig vorgenommen worden, nicht zugegen gewesen, [Q] 9, fol. 39 r. –, bei einer Mascopey, ein in den niedersächsischen Handelsstädten übliches Wort für Gesellschaft, und besonders für Handelsgesellschaft, StA Hamburg RKG Nr. K 29. Zu letzterem Verfahren siehe auch ANJA AMEND-TRAUT, Brentano, Fugger und Konsorten – Handelsgesellschaften vor dem Reichskammergericht (SchrRGesRKGForsch 37), Wetzlar 2009. So etwa der Streit zwischen den Gesellschaftern der Handelsgesellschaft Dominico Brentano und Söhne“, ISGF RKG Nr. 132. Dazu näher AMEND-TRAUT, Brüder (Anm. 22). ISGF RKG Nr. 676, StA Hamburg RKG Nr. L 55, O 18, S 198 – zu diesen Verfahren näher AMEND-TRAUT, Handelsgesellschaften (Anm. 112). Z. B. StA Hamburg RKG Nr. M 4: Appellant Magens brachte vor, die Appellatin Hettling habe zuvor zugesagt, die Verbindlichkeiten der ehemaligen Firma ihres verstorbenen Mannes und seines Kompagnons Magens begleichen zu wollen: […]denn dinge, welche er [der verstorbene Hettling, A. A.-T.] bei seinem Leben würcklich mit contrahiret, wollte und müßte sie alle bezahlen, [Q] 10, fol. 23 r. Fristversäumnis beim Einspruch gegen einen Vergleich unter Gläubigern des Hamburger Falliten Hirsch Moses, StA Hamburg RKG Nr. S 54. ISGF RKG Nr. 51 – die Frankfurter Kaufleute Johann de Bary und Alexander Barth begehrten die Aufhebung des unterinstanzlichen Urteils, das zugunsten der Appellatin Sorle Salomon auch Jüdinnen beim Konkurs des Ehemanns den Vorrang des Heiratsgutes vor den Ansprüchen christlicher Gläubiger einräumte, vgl. [Q] 4, fol. 2 –, Nr. 200 – vergleichsbereite und nicht zum Vergleich geneigte bzw. zugelassene Gläubiger des in Konkurs geratenen Kölner Handelsmanns Jeremias Baudewin streiten sich um Vorzugsrechte bzw. die Rangfolge bei der Befriedigung ihrer Außenstände –, Nr. 450 – die Lyoner Sozietät Michael Benigne, Martel et Mante forderte eine Kiste seidener Handschuhe zurück, die als Kommissionsware an eine Hamburger Handelsgesellschaft gelangt war, bevor diese in Konkurs ging; das Frankfurter Recht räumte Gläubigern ein Rückforderungsrecht für Waren ein, die bey ausbrechendem Falliment, kurtz oder längstens 8. Tage vorher dem Schuldner ausgehändigt worden waren, vgl. [Q] 8, fol. 8, 9 –, Nr. 864 – der jüdische Gläubiger Löw Schuch zum Salmen protestierte dagegen, dass die noch vorhandenen Waren seines Schuldners allein den christlichen Kreditoren zugute gekommen waren, vgl. No. 1 ohne [Q]. In der Sache Mahuis gegen Hintz sollte Caspar Hintz für die Verbindlichkeiten seines verstorbenen Bruders Michael eintreten, StA Hamburg RKG Nr. M 5.

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Wortmann gegen Carstens & Sohn die Appellanten geltend, sie hätten gegenüber den anderen Gläubigern des Falliten Küsel ein Pfand- und Zurückbehaltungsrecht an 776 Stück kupferner Schiffsbladen, die als Sicherheit für zuvor geliefertes Rohkupfer an sie verabfolgt worden seien119.

IV. Wie die bereits vorgenommenen Untersuchungen zivilrechtlicher Verfahren zum Teil schon zeigen konnten und nachfolgende Aspekte akzentuieren, ist das zivilrechtliche Aktenmaterial entgegen des eingangs mitgeteilten Ansinnens Wigands durchaus kein unbrauchbarer Überrest, sondern bietet vielfältige Perspektiven für künftige Forschungen, die die Akten – dies gilt übrigens für die reichshofrätlichen Akten gleichermaßen, deren Verzeichnung allerdings noch nicht abgeschlossen ist – u. a. nach dem Gesichtspunkt der praktischen Rechtsanwendung auswerten können. Denn gerade das zivilrechtliche Material kann wegen seiner Gleichförmigkeit, seines häufigen Vorkommens und vor allem mit Rücksicht auf die dort angewandten Rechtsquellen oder zu Hilfe genommenen Materialien Fragestellungen unterzogen werden, auf die verfassungspolitisch motivierte Prozesse naturgemäß keine Antwort geben können und wollen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass für Erkenntnisse über Bedeutung und Wirksamkeit der Justiz Definitivsentenzen, deren Zahl ja im Vergleich zu den Neuzugängen eher bescheiden ausfällt, nicht zwingend im Vordergrund des Interesses stehen müssen. Einerseits ist zu beachten, dass die richterliche Tätigkeit der Beisitzer sich nicht nur zum geringsten Theile in Endurteilen erschöpfte, daß sie vielmehr in den […] Zwischenbeschlüssen bestand, die ihrerseits oft ebensoviel Aktenstudium und Anwendung juristischen Scharfsinns erforderten, wie die Urteile selbst120. Auch im

Übrigen können aus dem vorhandenen Aktenmaterial mannigfache Erkenntnisse gewonnen werden121: 119 120

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StA Hamburg RKG Nr. W 57, [Q] 10. KARL DEMETER, Das Reichskammergericht in Wetzlar zu Goethes Zeit, in: GoetheKalender 33 (1940), S. 41-68, hier S. 50. Darauf haben schon BERNHARD DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation (SchrRGesRKGForsch 1), Wetzlar 1985, S. 9 f. und später insbesondere PETER OESTMANN, Die Rekonstruktion der reichskammergerichtlichen Rechtsprechung, in: ANETTE BAUMANN / SIEGRID WESTPHAL / STEPHAN WENDEHORST / STEFAN EHRENPREIS (Hg.), Prozessakten als Quelle (QFHG 37), Köln Weimar Wien 2001, S. 15-54, hingewiesen.

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Anhand der Frage nach den Prozessparteien lassen sich verschiedene sozialgeschichtlische Aspekte ablesen, nämlich ob und inwieweit das fragliche Rechtsinstitut von der breiten Bevölkerung genutzt wurde, oder es eher einer gesellschaftlichen Elite, wie etwa dem Patriziat vorbehalten war; ob es von einer berufsmäßigen Sondergruppe, zum Beispiel der Kaufmannschaft, in Anspruch genommen wurde; ob Frauen und Männer gleichermaßen zu den Streitgegnern gehörten; ob konfessionelle Eigentümlichkeiten feststellbar sind. Durch die Feststellung des Streitwerts lassen sich Aussagen darüber treffen, in welchem Ausmaß die Justiz in Anspruch genommen wurde, d.h. wer auf die höchstrichterliche Rechtsprechung vertraute – ob also auch eine Justiznutzung durch die „kleinen Leute“ stattfand; in sozioökonomischer Hinsicht geben die Zahlen Aufschluss darüber, wie viel Finanzkraft hinter dem jeweiligen Rechtsinstitut steckte, d.h. über die wirtschaftliche Bedeutung des Rechtsinstituts im Alten Reich. Bei den einzelnen zivilrechtlichen Streitpunkten lassen sich unter Umständen chronologische Verschiebungen feststellen, die bei einem bestimmten Rechtsinstitut entstehen können. Entgegen seiner gegebenenfalls statischen Darstellung in zeitgenössischer Literatur könnte es rechtstatsächlich einer dynamischen Entwicklung unterliegen, und zwar abhängig von politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einflüssen, aber auch bedingt durch das Hinzutreten etwaiger Verkehrsschutzgedanken. So wird sich etwa anhand des Darlehens und des mit ihm stetig diskutierten Wucherproblems hervorragend die Säkularisierung des Kreditwesens im Spiegel der Rechtsprechung darstellen lassen. Da das Darlehen über den gesamten Zeitraum der Jahre zwischen 1495 und 1806 kontinuierlich in den Prozessen vor dem Reichskammergericht nachzuweisen ist, bietet das Rechtsinstitut die ideale Gelegenheit, entsprechende Entwicklungslinien anhand von Prozessakten nachzuzeichnen. Bei anderen zivilrechtlichen Untersuchungsgegenständen lässt sich möglicherweise die zunehmende Ausdifferenzierung und Systematisierung von einem zunächst holzschnittartigen und auf wenigen Rechtssätzen beruhenden Institut hin zu einer sublimen Einrichtung nachzeichnen. In diesem Zusammenhang eröffnen zivilrechtliche Untersuchungen auf der Grundlage höchstrichterlicher Prozessakten eine neue Dimension für das alte Thema der deutschen bzw. europäischen Rechtsgeschichte, nämlich der Rezeption des Gelehrten Rechts als Grundlage der modernen Zivilrechtsentwicklung. Bislang wurde die Thematik immer nur anhand der – dürftigen – Normen und vor allem der rechtsgelehrten Literatur bearbeitet. Zwar ist der Kenntnisstand auf den Gebieten des Zivilprozesses und des

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materiellen Zivilrechts nicht schlecht, weil man sich in den klassischen Lehrund Handbüchern zum Deutschen Privat- und Prozessrecht oder in Coings Handbuch zumindest grob über Vieles informieren kann. Doch die dort gesammelten Informationen rekurrieren ausschließlich auf Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Offen bleibt bei dieser Vorgehensweise, ob und wie tief das Gelehrte Recht in die Praxis eindringen konnte und damit wirklich von einer Rezeption gesprochen werden kann122. Dies kann allein durch Heranziehung von Quellen der Rechtspraxis, wie sie Prozessakten darstellen, gelingen, also durch eine materielle Privatrechtsgeschichte123. Daraus ließe sich mit entsprechenden Vorarbeiten womöglich eine Geschichte der Institutionen skizzieren; dabei würde unter Umständen auch transparent werden, ob dem Usus modernus als „Epoche der Jurisprudenz zwischen Mittelalter und Aufklärung eine eigenständige Bedeutung zukommt oder nicht“124. Angaben über einschlägige Fundstellen aus der Fachliteratur, die durch die Schriftsätze der Parteien oder durch die den Akten beigefügten Gutachten von Juristenfakultäten in den Prozess eingeführt wurden, geben Aufschluss über die juristische Arbeitsweise und den Grad der Verwissenschaftlichung des untersuchten Rechtsinstituts. Neben diesen rechtshistorischen Forschungsansätzen zur Auswertung des Aktenmaterials zeigt sich dessen Wert auch nach folgenden Gesichtspunkten als Anstoß für weitere Untersuchungen: Häufig sind den Gerichtsakten Schuldbriefe und Verträge zum Beweis der behaupteten Forderung beigefügt. Auch finden sich andere Beilagen wie etwa Kaufmannsbücher. Damit rücken auch Reichskammergerichtsakten, die ihre Entstehung solchen zivilrechtlichen Verfahren zu verdanken haben, in das Blickfeld von Allgemeinund Wirtschaftshistorikern. Mit Hilfe solcher Aktenkonvolute kann einer Vielzahl nichtjuristischer Fragen nachgegangen werden, die, bezogen auf die 122

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Zum Stand der Rezeptionsforschung siehe etwa WOLFGANG SELLERT, Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in Deutschland von den Anfängen bis zum Beginn der Frühen Neuzeit: Überblick, Diskussionsstand, und Ergebnisse, in: HARTMUT BOOCKMANN / BERND MOELLER / LUDGER GRENZMANN / MARTIN STAEHELIN (Hg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, I. Teil: Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1994 und 1995, (AbhAk Philol.-hist. Kle. 3. Folge 228), Göttingen 1998, S. 115-166. Einen ersten praktischen Ansatz dieser Rezeptionsforschung liefert OESTMANN, Rechtsvielfalt (Anm. 32). Dazu auch AMEND-TRAUT, Spruchpraxis (Anm. 11). DIETMAR WILLOWEIT, Der Usus modernus oder die geschichtliche Begründung des Rechts, in: Ders., ELISABETH MÜLLER-LUCKNER (Hg.), Die Begründung des Rechts als historisches Problem (Schr. des Hist. Kollegs. Kolloquien 45), München 2000, S. 229-245, hier S. 230.

Zivilverfahren vor dem Reichskammergericht

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Reichskammergerichtsakten, in weiten Teilen noch als Forschungsdesiderate zu bezeichnen sind. In ähnlicher Weise hat Winfried Schulze die Überzeugung geäußert, Reichskammergerichtsakten könnten „für eine ganze Reihe von Gebieten der frühneuzeitlichen Wahrnehmungsgeschichte“ genutzt werden, „wo es bekanntlich noch viele Fragen gibt, auf die wir noch keine Antwort gefunden haben“125. Für die hier interessierenden Verfahren zählen dazu ökonomische Entwicklungslinien, die mit Hilfe von Prozessakten verfolgt werden können. An der jeweiligen Prozessfrequenz der vorgeschlagenen Rechtsinstitute lassen sich ökonomische Krisen und Konjunkturen im Wirtschaftsleben des Heiligen Römischen Reiches nachzeichnen. Zudem machen gerade die im Kontext von Handelskompanien, Handelsgeschäften und Konkursen stehenden Prozesse nicht nur auf die den Sachen eigentümlichen juristischen Aspekte aufmerksam, sondern informieren darüber hinaus häufig über spezielle Kaufmannsgebaren und regionale wie überregionale Handelsbeziehungen mit ihren vielfältigen Waren- und Geldströmen. Wie die bereits eingangs erwähnt, wurde darüber hinaus schon früher der Erkenntniswert der reichskammergerichtlichen Akten für weitergehende sozialgeschichtliche Aspekte hervorgehoben: So wird etwa im Rahmen der reichskammergerichtlichen Schuldklagen ein zwar nicht seltener, doch in sonstigen Überlieferungen des täglichen Lebens „nur selten faßbarer Typ“ greifbar, nämlich der des zunächst erfolgreich operierenden, später scheiternden Geschäftsmannes – eines Charakters, wie er „in den großen Handelsstädten zu keiner Zeit gefehlt hat“126. An die Aktenauswertung können sich weitere, übergeordnete, hier nur exemplarisch aufgeworfene Fragen anschließen: • Welche Bedeutung kam der Höchstgerichtsbarkeit im Wirtschaftsleben des Heiligen Römischen Reiches insgesamt zu? • Zog die Ansiedlung des Reichskammergerichts einen Wirtschaftsaufschwung nach sich? • Welche Auswirkungen hatte die höchstrichterliche Rechtsprechung auf die gerichtliche Geltendmachung von Schuldforderungen?

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WINFRIED SCHULZE, Gerichtsakten als Quelle. Möglichkeiten und Grenzen, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr.18, [13.12.2004],URL:http://www.zeitenblicke.de/2004/03/interview/schulze.htm (26.03.2009). PITZ, Kammergerichtsprozeß (Anm. 30), S. 95 f. Außerdem etwa die Forschungsansätze zur Wahrnehmungsgeschichte, FUCHS / SCHULZE (Hg.), Wahrheit, Wissen, Erinnerung (Anm. 30).

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Anja Amend-Traut

• Spornte sie zur Justiznutzung an oder aktivierte sie die friedliche Beilegung von Streitigkeiten? • Lässt sich zwischen Rechtspraxis und Normativität eine Divergenz feststellen, stellt sich die Frage, ob nicht die Bedeutung der Rechtsprechung nach zeitgenössischer Beurteilung – bewusst oder unbewusst – unterschätzt wurde. • Daran knüpft die Frage an, welche Konsequenzen aus einer etwa festzustellenden Abweichung für das Bild über die Juristenausbildung zu ziehen sind. Sie erfolgte auf der Grundlage von Lehrbüchern, die ihr Wissen vermutlich allein oder zumindest vorrangig auf Rechtsquellen stützten. • Mit diesem Ansatz aufs Engste verknüpft ist die grundsätzliche Frage, ob eine der Hauptwirkungen, die der Rezeption nachgesagt wird, nämlich der Wandel der gesamten geistigen Grundlagen, tatsächlich so unmittelbar mit der Übernahme des römischen Rechts in Zusammenhang steht.

V. Wenig Antworten, viele Fragen – die Bilanz der auf der Grundlage der gedruckten Inventare entstandenen Untersuchungen zivilrechtlicher Verfahren weist noch bemerkenswert wenige Aktivposten auf. Ein Blick in die Zukunft zeigt jedoch bereits Anstrengungen auf, die unternommen werden, um diesem Defizit entgegenzusteuern: So wird im Spätsommer des Jahres 2010 unter Beteiligung der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung und dem Akademieprojekt zur Verzeichnung reichshofrätlicher Akten in Göttingen eine Tagung zum Thema „Geld und Gerechtigkeit im Spiegel der Rechtsprechung des Alten Reichs“ stattfinden127. In diesem Rahmen werden u. a. Beiträge zu Jahrgültverschreibungen, dem Lotteriewesen, Haftungsbeschränkungen im Konkurs und Handelsgesellschaften erwartet. Bei den Inventaren als Basis dieser und weiterer statistischer und vor allem inhaltlicher Auswertungen auch anderer Materien, aber in besonderem Maße einzelner privatrechtlicher Institute, wird freilich zu berücksichtigen sein, dass die Repertorien keineswegs ein einheitliches Bild abgeben. Insbe-

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Veranstalter sind Prof. Dr. em. WOLFGANG SELLERT, Göttingen, Prof. Dr. ALBRECHT CORDES, Frankfurt am Main, und Prof. Dr. ANJA AMEND-TRAUT, Würzburg.

Zivilverfahren vor dem Reichskammergericht

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sondere kann bei ihnen eine verantwortungsvolle Erstellung der Stichwortverzeichnisse – maßgeblich hinsichtlich der Berücksichtigung juristischer Fachtermini – nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dem ungeachtet verdeutlichen die aufgeworfenen Fragen, wie wertvoll die Inventarisierungsarbeiten für die künftige Erforschung insbesondere auch der Zivilverfahren sind und welche Chancen sie ihr bieten.

RALF-PETER FUCHS

Ius oder iniuria? Hexenprozesse des Rates von Kaysersberg im Spiegel eines juristischen Diskurses um Ehre und Wahrheit

I. Die besondere Bedeutung des Kriminalverfahrens gegen Salome Gebweiler in der elsässischen Reichsstadt Kaysersberg liegt darin, daß es sich hierbei um den einzigen Fall von Zauberei bzw. Hexerei handelt, zu dem ein ausführliches Votum des Reichskammergerichts überliefert ist. Ich bin auf diesen Fund, den Text eines anonymisierten Gutachtens, erstellt von einem Assessor, und das abschließende reichsgerichtliche Urteil bereits einmal aus1 führlich eingegangen . Peter Oestmann hat im Anschluß daran eine genauere Datierung vornehmen und den Bezug zum Gebweiler-Prozeß herstellen 2 können . Die folgenden Überlegungen zu diesem Fall knüpfen an einige Fragen an, die Peter Oestmann und ich damals gestellt haben. Es geht um das 3 Machbare, insbesondere das Sagbare zur Dekonstruktion von Hexereiprozessen. Das Verfahren ist jedoch ein anderes. Nicht der Nullitätsprozeß, den die Verwandten der Salome Gebweiler gegen Bürgermeister und Rat zu Kaysersberg geführt haben, steht hier im Mittelpunkt, sondern ein Injurienverfahren, das der Reichskammergerichtsprokurator Dr. Johann Grönberger, Vertreter der Partei Gebweiler, im Jahre 1583 einleitete, um im Gegenzug mit einer Gegenklage des Rates zu Kaysersberg und des dortigen Syndi-

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2 3

RALF-PETER FUCHS, Hexerei und Zauberei vor dem Reichskammergericht. Nichtigkeiten und Injurien. Wetzlar 1994 (SchrRGesRKGForsch 16), S. 50-58. Hierzu PETER OESTMANN, Hexenprozesse am Reichskammergericht, Köln Weimar Wien 1997, S. 117-123. Zum „Sagbaren“ und „Machbaren“ im Rahmen einer historischen Diskursanalyse, die sprachliches Handeln als Basis, politische „Wirklichkeiten“ zu generieren betrachtet, siehe WILLIBALD STEINMETZ, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume: England. 1780-1867. Stuttgart 1993.

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Ralf-Peter Fuchs

kus Dr. Malachias von Rammingen, selbst ebenfalls Reichskammerge4 richtsprokurator zu Speyer, bedacht zu werden . Es ging um über die Parteischriften ausgetauschte Injurien. Das Verfahren reiht sich damit in eine Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten ein: Im Eifer des Gefechts wurden, wie eingehendere Analysen frühneuzeitlicher Injuri5 enprozesse ergeben haben , häufig Dinge behauptet und Formulierungen verwendet, die von den jeweiligen gegnerischen Parteien als Ehrverletzun6 gen gedeutet wurden . Deren Reaktion bestand oftmals in einer Klage gegen die Verfasser solcher Prozeßschriften, wobei Anwälte und Mandanten in der Regel zusammen ins Visier genommen wurden. Daneben versuchte man, die Schreiber bzw. Advokaten dafür zur Rechenschaft zu ziehen, an einem höchstverbotenen und verwerflichen Akt mitgewirkt zu haben. Das Vokabular, das die Kläger einsetzten, verwies teilweise auf die im Spätmittelalter praktizierten Ehrverletzungen in Schuldenangelegenheiten, bei denen die sogenannten „schmähcarten“ oder auch „famoßschriften“, zumeist bebilderte Texte zur Schändung säumiger Personen, zum Einsatz gekommen wa7 ren . Man versuchte damit, die Abfassung und Verbreitung gerichtlicher „Schmähschriften“ als etwas fundamental Unehrenhaftes darzustellen. Dabei konnte man sich auf kaiserliche und landesherrliche Bestimmungen berufen, die das Beleidigen über Schriften als besonders strafwürdig bezeich8 neten . Auch im Schrifttum des gelehrten Rechts galt die „iniuria scripta“ als 9 besonders schwerwiegend . Vor Gericht eingebrachte Argumente ließen sich somit, indem man mit Fingern auf diejenigen zeigte, die sie verwendet hatten, unter Umständen radikal umdeuten. Daß Obrigkeiten vor höheren Gerichten gelegentlich auf den den Vorwurf, Verfahrensfehler begangen und damit das Recht gebrochen zu haben, reagierten, indem sie ihrerseits scharf zurückschossen und die Integrität ihrer Gegner in Zweifel zogen, ist vielleicht nicht einmal besonders erstaunlich. Angesichts einer strafgerichtlichen Praxis, die grausame 4 5 6 7

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BayHStAMünchen, RKG 6.066. RALF-PETER FUCHS, Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht (1525-1805). Paderborn 1999. FUCHS, Um die Ehre (Anm. 5), S. 172 ff. FUCHS, Um die Ehre (Anm. 5), insbs. S. 167. Zu diesen Schandbriefen insbesondere siehe jetzt MATTHIAS LENTZ, Konflikt, Ehre, Ordnung. Untersuchungen zu den Schmähbriefen und Schandbildern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hannover 2004. Siehe etwa CCC Art. 110: Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina). 6. Aufl., hg. von A. KAUFMANN, erl. v. G. Radbruch, Stuttgart 1975. FUCHS, Um die Ehre (Anm. 5), S. 49 f.

Ius oder iniuria?

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Strafen und einen Ehrverlust für die Delinquenten implizierte, waren eben Fehler oder auch eine bewußte Rechtsverweigerung besonders gravierend. Das Wechselspiel von Ehrabsprechungen, die im Zuge des Hexenprozesses gegen Salome Gebweiler erwuchsen, war somit keineswegs eine singuläre Erscheinung10. Es veranschaulicht jedoch besonders plastisch, warum die rhetorischen Mittel, die im frühneuzeitlichen Gerichtsalltag zum Einsatz kamen, leicht zu erbitterten Diskussionen um Wahrheit und Lüge führen konnten. Die Diskussion über die rechten bzw. unrechten Worte, die die Anwälte vor Gericht führten, scheint wiederum Einblicke in das berufliche Selbstverständnis von Juristen zu gewähren, wobei der Begriff der Ehre, genauer: einer Juristenehre, im Prozeß dezidiert erörtert wurde. Die Frage nach dem Mitwirken des Mandanten bei der Erstellung der Schriften wurde in solchen Injurienverfahren nämlich regelmäßig zurückgedrängt zugunsten der Frage nach der Haftbarmachung der Anwälte für die ehrverletzenden Behauptungen. Sowohl den Eigenschaften des Wahrheitsdiskurses als auch der Juristenehre soll im Folgenden anhand der Prozeßunterlagen nachgegangen werden. Damit verknüpft ist die Frage, inwieweit die anhebende Reflexion über anwaltliche Texte und ihren Wahrheitsgehalt ein spezifisches Wahrheitsverständnis frühneuzeitlicher Juristen hervortreten läßt. Meine Hypothese ist, daß die Anwälte beachtliche Freiräume zur „Konstruktion von Wahrheit“ über die Parteischriften in Anspruch nahmen, denen, der modernen Diskursanalyse nicht ganz unähnlich, ein Bewußtsein dafür zu Grunde lag, daß Sprache Handlung ist, die in der Lage ist, „Wirklichkeiten“ hervorzubringen 11 und zu formen . Umfassende Überlegungen darüber, daß die Frühe Neuzeit eine Pluralisierung des Wahrheitsbegriffes hervorgebracht hat, hat Markus Friedrich jüngst in seinen Analysen des theologischen „Hofmannstreites“, in welchem eine zentrale Auseinandersetzung um den Begriff der „doppelten Wahrheit“ 12 stattfand, angestellt . Auch der frühneuzeitliche anwaltliche Wahrheitsbegriff schien mit einem zweiten, absolut gesetzten Wahrheitsbegriff, der sich 10

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Ich danke STEFAN BREIT, München, für den Hinweis auf dieses Reichskammergerichtsverfahren, das er bei seinen Verzeichnungsarbeiten im BayHStA München entdeckt hat. Hierzu etwa ACHIM LANDWEHR, Historische Diskursanalyse. Frankfurt a. M. 2008, S. 23. Siehe MARKUS FRIEDRICH, Die Grenzen der Vernunft. Theologie, Philosophie und gelehrte Konflikte am Beispiel des Helmstedter Hofmannstreits und seiner Wirkungen auf das Luthertum um 1600. Göttingen 2002. Der Begriff der „doppelten Wahrheit“ geht auf Martin Luther zurück, der im Rahmen seiner Lehre von den zwei Reichen dem säkularen und dem geistlichen Bereich unterschiedliche Validitätskriterien zuschrieb.

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Ralf-Peter Fuchs

nicht zuletzt in der Urteilssprechung manifestierte, zu kollidieren. Am Schluß des Beitrags möchte ich daher noch einen kurzen Blick auf das Votum und die Gerichtsentscheidungen werfen und einige Bezüge zum Injurienprozeß herstellen: Über das Reichskammergerichtsgutachten aus dem Jah13 re 1588 läßt sich genauer umreißen, welche Argumente letztlich als rechtlich relevant für die Urteilssprechung in den miteinander verquickten Verfahren angesehen wurden. Beginnen möchte ich aber mit einer kurzen Darstellung des Falles Salome Gebweiler.

II. Der Ehemann der im September 1579 zu Kaysersberg wegen Hexerei angeklagten Salome Gebweiler, Johann Baptist Gebweiler, war eine nicht unbedeutende Persönlichkeit innerhalb der elsässischen Reichsstadt. Im Injurienverfahren wurde darauf hingewiesen, daß er mehrere Jahre lang das Amt des 14 Stadtschreibers bekleidet hatte . Dies weist auf juristische Kenntnisse hin, die den Kontakt zum Reichskammergericht erleichtert haben mögen, nachdem die Untersuchungen gegen seine Frau ins Rollen gekommen waren. Salome Gebweiler wurde in der Hauptsache vorgeworfen, einen Bader namens Friedrich Butzmann durch Schadenzauber, genauer: einen verab15 reichten Trunk, umgebracht zu haben . Der Rat zu Kaysersberg verwies darauf, daß Butzmann kurz vor seinem Tod den Verdacht, wegen dieses Trunks erkrankt zu sein, im Beisein mehrerer Ratsmitglieder geäußert hatte. Daneben war Salome Gebweiler, wie das Votum des Reichskammergerichts erkennen läßt, in den Verdacht geraten, weitere Personen, u. a. einen ehema16 ligen Stadtschreiber, auf die gleiche Weise getötet zu haben . Nach der Verhaftung der beschuldigten Frau leiteten die Verwandten umgehend einen 17 Mandatsprozeß vor dem RKG ein, um eine Freilassung zu bewirken . Die13 14 15 16

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Hierzu auch OESTMANN, Hexenprozesse (Anm. 2), S. 117 ff. BayHStAMünchen, RKG 6066, Q 20, „Exceptiones und Responsiones“ (präs. 27.2.1595) (unfol.). Hierzu OESTMANN, Hexenprozesse (Anm. 2), S. 456 ff. ADRIAN GYLMAN, Symphorema supplicationum pro processibus super omnibus ac singulis Imperii Romani Constitutionibus in Supremo Camerae Imperialis Auditorio impetrandis [...] maxime ex parte e nobilissimi et clarissimi I.C. Domini Andreae Gailii aliorumque Supremi Auditorii adsessorum lucubrationibus excerptis, Bd. 2 der hier benutzten Ausg. Frankfurt a.M. 1605, S. 79. OESTMANN, Hexenprozesse (Anm. 2), S. 456.

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ses Mandat wurde zunächst erteilt, die Freilassung blieb jedoch aus, woraufhin ein Nichtigkeitsprozeß, wiederum beim RKG, eingeleitet wurde. Dieses Nichtigkeitsverfahren wurde auch fortgeführt, nachdem das Mandat kassiert worden war. In der Folgezeit versuchte Johann Baptist Gebweiler, das Reichsgericht dazu zu bewegen, die Fortführung des Hexenprozesses über eine Inhibitio förmlich zu verbieten. Dem verweigerte sich das Reichsgericht jedoch. Der Rat verurteilte somit Salome Gebweiler 1580 auf der Basis seiner Untersuchungen, in denen auch Besagugungen eine Rolle gespielt hatten, zum Tod durch Verbrennen. Allerdings wagte er es angesichts des zu Speyer schwebenden Verfahrens nicht, zur Exekution zu schreiten. Versuche seitens des Rates zu Kaysersberg, das Reichskammergericht in mehreren Audienzen zu einer Genehmigung der Hinrichtung zu veranlassen, mißlangen. Die langjährige Blockierung der Justiz durch das Nichtigkeitsverfahren konnte Salome Gebweiler nur bedingt helfen. Zwar wurde ihre öffentliche Verbrennung verhindert. Sie starb jedoch im Juni 1586 in der Haft. Trotz der vor dem Reichsgericht schwebenden Verfahren, die den Hexenprozeß betrafen, scheint sich der Magistrat zu Kaysersberg dazu entschlossen zu haben, den Leichnam über eine schmähliche Prozedur, das Einschließen in 18 einem Faß, zu entehren . Anschließend wurde die Tote unter dem Galgen 19 begraben . Gegen das Vorgehen des Rates leitete Johann Baptist Gebweiler 1587 ein Realinjurienverfahren direkt beim Reichskammergericht ein. Im Injurienprozeß seines Vertreters vor Gericht, des Prokurators Grönberger, wird nur kurz auf die Umstände des Todes von Salome Gebweiler wie auch die Ehrverletzung der Toten eingegangen. Der Anwalt war inzwischen mit einer Gegenklage konfrontiert worden, welche seine Glaubwürdigkeit in Frage stellte.

III. Dr. Johann Grönberger war offensichtlich noch zu Lebzeiten von Salome Gebweiler mit Vertretern des Magistrates in mündlichen Streit geraten. Von

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Siehe hierzu die Angaben im Repertorium der Akten des Reichskammergerichts, Untrennbarer Bestand, Bd. 2: Prozessakten aus dem Elsaß, aus Lothringen und angrenzenden ehemaligen Reichslanden, hg. von OTTO KOSER, Heppenheim 1936. S. 58: ihre Leiche wurde in ein Faß geschlagen und unter dem Galgen begraben. Hierzu auch BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 20, Exceptiones und Responsiones, Punkt 32.

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dieser Seite wurde später nämlich behauptet, dieser sei einmal mit einem Notar nach Kaysersberg gekommen, nachdem er in Erfahrung gebracht hatte, daß Salome Gebweiler zum erneuten Male gefoltert werden sollte. Er ha20 be den Rat zum Einhalten bewegen wollen . An anderer Stelle wurde beschrieben, daß er das Reichskammergerichtsmandat wie bereits zuvor schon 21 die Supplikation persönlich im Rat abgegeben hatte . Die eingereichten Schriften Grönbergers, u. a. die angesprochene Mandatssupplikation und eine Responsionsschrift, nahm man in Kaysersberg zum Anlaß, um ihm persönliches Fehlverhalten vorzuwerfen. Grönberger reichte daraufhin eine Injurienklage beim Reichskammergericht ein und bewirkte, daß eine Ladung auf den 25. Juni 1583 gegen Rat und Syndikus zu 22 Kaysersberg erging . Ihnen wurde nun vorgeworfen, behauptet zu haben, daß Grönberger in vorsätzlicher und mutwilliger Weise wider die Reichskammergerichtsordnung und sein Gewissen gehandelt habe. Grönberger versuchte zunächst gegenüber dem Reichsgericht glaubhaft zu machen, daß er dadurch tief in seiner Ehre gekränkt sei. Er mußte nämlich dem Prinzip des „ad animum revocare“ als Voraussetzung für eine Injurienklage Genüge 23 tun . Diesem Zweck war die Aussage geschuldet, daß er lieber tot sein wolle, als solche Injurien zu erdulden. In seinem Klaglibell bezifferte er dann, wie dies im zivilrechtlichen Injurienprozeß üblich war, den Ehrenschaden mit einer konkreten Geldsumme. Er setzte sie, u. a. seinem hohen Standesbewußtsein als Jurist in Diensten eines Reichsgerichts entsprechend, sehr hoch an, indem er 10.000 Reichstaler als Wiedergutmachung einforderte. Zudem verlangte er einen Widerruf, der von Rat und Syndikus zu Kaysersberg vor dem Reichskammergericht, jenem Forum, vor dem die Schmach 24 ausgegossen worden war, abgeleistet werden sollte . Zum Beweis wies Grönberger auf eine Prozeßschrift der Gegenseite hin, 25 die er nun als „famoßschrift“ bezeichnete. Neben den bereits genannten Vorhaltungen enthielten sie weitere Bemerkungen, die seinen Arbeitsstil diskreditierten. Er habe die Herren Beisitzer mit „vergebenlicher arbeyt be-

20 21 22 23 24 25

BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 17, Defensionales et Peremptoriales Articuli (präs. 19.11.1586). BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 12, Articulirt Reconvention Libell, Art. 6 u. 8. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 2. Zu den rechtlichen Grundlagen des Injurienprozesses siehe FUCHS, Um die Ehre (Anm. 5), S. 43 ff. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 3, Libellus injuriarum summarius. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 3, Libellus injuriarum summarius.

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mühet, das sie wegen solcher unformblicher responsionen interloqiren mü26 ßen.“ Im Mittelpunkt stand jedoch die mehrfach erhobene Behauptung, Grönberger habe mit der Abfassung und Einreichung seiner Schriften gegen sein eigenes Gewissen und – in Anspielung auf die Juristenehre – mutwillig 27 „wider seinen stand“ gehandelt. Der Rat zu Kaysersberg ließ sich zunächst nicht recht auf Grönbergers Vorwürfe ein und stritt sie lediglich pauschal ab. Zudem verweigerte er ihm die namentliche Nennung des Advokaten, der an den Schriften mitgewirkt hatte. Niemals sei ein Prozeßvertreter dazu verpflichtet gewesen, dies zu tun. Vielmehr weise es die tägliche Erfahrung aus, daß hier eine Geheimhal28 tung sinnvoll sei . Man sah offensichtlich zunächst Chancen, dem Injurienverfahren dadurch zu entgehen, daß man die Litiskontestation, die sogenannte Befestigung des rechtlichen Kriegs, verweigerte, da man die Klage 29 als äußerst „baufällig“, als „unrichtig“ und „unförmlich“ ansah . Erst nachdem Magistrat und Syndikus am 4. Oktober 1585 von Seiten des Reichskammergerichts aufgefordert wurden, sich auf die Klage einzulassen, ging er in die Offensive. Nun betonten die Ratsvertreter, daß sie es waren, die gegen „Schmähschriften“ operierten: Als solche bezeichneten sie nämlich die im GebweilerProzeß gegen sie ergangenen Schreiben. Eine erste Schmähung sahen sie in der Art und Weise der Darstellung, wie die von ihnen beauftragten Stadtpförtner Salome Gebweiler eines Tages auf ihrem Weg zu ihrem Weingarten angefallen und verhaftet hätten. In diesem Zusammenhang sei unterstellt worden, daß es das Ziel des Rates gewesen sei, ihrem Ehemann darüber Nahrung, Hab und Gut, welches ihm Gott beschert habe, abzunehmen. Eine weitere Injurie sah der Rat zu Kaysersberg in der Behauptung, daß es ihm nicht zugestanden habe, Salome Gebweiler zu verhaften, er habe vielmehr 30 damit eine Nullität begangen. Die Behauptung, daß der Vorwurf der Nichtigkeit gegenüber einer ehrwürdigen Stadtobrigkeit an sich als Injurie anzusehen sei, sollte noch häufiger wiederholt werden. Zu den konkreten Nichtigkeitsvorwürfen gehörten die Bedrohung von verschiedenen Frauen mit der Folter zur Erzielung von Geständnissen und 26 27 28 29 30

BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 4. [...] daß hoch zuverwundern, das gegenanwalds keinen scheu tregt, wider seinen stand und gewißen mutwillig zuehandeln. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 4. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 9, Ableinung der vermeinten anzeig. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 10. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 12, Punkt 6.

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die Verletzung der Gefangenen. Auffällig ist, daß sich der Rat von Kaysersberg dabei im Wesentlichen darauf beschränkte, die Darstellungen Grönbergers einfach wiederzugeben. Allerdings waren diese nun, im Unterschied zu den Schriften der Gegenseite, anders eingeklammert: Vorausgegangen waren allgemeine Hinweise auf die Unrechtmäßigkeit von Ehrverletzungen und die Selbstcharakterisierung des Magistrats als pflichtbewußter Obrigkeit, einer Obrigkeit, die niemals jemanden wegen zeittlichen gutts auß haaß und neydt […] unschuldiger weiß in hafftung ziehen, mit scharffer tortur ohne vorgehende gnugsame indicia torqiren und jämerlich martern vom leben zum todt ve31 rurtheylen und hinrichten haben lasse. Am Ende wurde zudem die Bemerkung festgehalten, daß die atrocissimae injuriae der Gegenseite mit keinem 32 Wort erwiesen seien.

Und dennoch: Eigentlich waren es sehr ähnliche Texte, die sich nun gegenüberstanden. Hatte der eine von beiden allerdings die Wirkung erzielen sollen, das beschriebene Verhalten des Magistrates wie etwa die Brechung der Knochen einer gefolterten Frau, daß ihr ein rohr woll einer hand lang auß 33 dem fleisch gangen , als Grausamkeit anzuprangern, so sollte der nun vom Magistrat beim Reichskammergericht eingereichte Text nichts anderes bewirken, als die Ungeheuerlichkeit eines solchen Vorwurfes deutlich zu Tage treten zu lassen. Es ist eine merkwürdige Wandlung zu konstatieren, die sich mittlerweile über wenige rhetorische Eingriffe, allein durch die Setzung eines neuen Rahmens, vollzogen hatte, um die Richter in Speyer von einer ganz anderen Wirklichkeit zu überzeugen.

IV. Ich möchte hiermit zunächst die Darstellung des Prozeßgegenstandes unterbrechen, um einige allgemeine Überlegungen zum juristischen Diskurs anzustellen. Ich habe bereits angedeutet, daß man in der Welt der Juristen recht gut darüber Bescheid wissen mußte, daß es – bei aller Beteuerung der Suche nach einer einzigen Wahrheit und einem unteilbaren Recht – sehr unterschiedliche Sichtweisen auf die Lage der Dinge gab. Andrea Griesebner hat das Ringen der Parteien um die Durchsetzung ihrer Deutungen mit dem

31 32 33

BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 12, Punkt 4. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 12, Punkt 20. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 12, Punkt 17.

Ius oder iniuria?

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Begriff der „konkurrierenden Wahrheiten“ recht gut auf den Punkt ge34 bracht . Darüber hinaus war man sich innerhalb der Jurisprudenz darüber im Klaren, daß sich selbst die Gelehrten nicht in allen Dingen einig waren. Wir werden im Zusammenhang mit dem Votum zum Fall Gebweiler noch auf die Gegenüberstellung verschiedener Autoritäten und ihrer unterschiedlichen Meinungen eingehen. Wie beurteilten frühneuzeitliche Anwälte ihr eigenes Tun? Was uns fehlt, ist eine neuere Kulturgeschichte der anwaltlichen Rechtspraxis, insbesonde35 re der Tätigkeit der Prokuratoren . Zwar läßt sich etwa über die Ordnungen des Reichskammergerichts erfahren, daß sie unter Umständen für ihre Arbeitsweise Rechenschaft ablegen mußten. Es war ihnen nicht zuletzt verboten, die Unwahrheit zu behaupten, Prozesse zu verschleppen und ihre Geg36 ner zu schmähen . Der Malitieneid sollte eine Amtsausübung im Sinne der 37 Gerechtigkeit sicherstellen . Andererseits lehrt uns das Lesen von Schriften und Gegenschriften, die vor den frühneuzeitlichen Gerichten ausgetauscht wurden, daß diese Bestimmungen sehr weit ausgelegt worden sein müssen. Oftmals bleibt kein anderer Schluß als der, daß zumindest eine der beiden Parteien die schlichte Unwahrheit behauptet haben muß. Immer aber läßt sich der juristische Wettstreit auf der Basis von Probatorialartikeln, die ein „wahr, daß …“ setzten, und den exceptiones, die dem jeweils ein „nicht wahr, daß“ gegenüberstellten, als ein rhetorisches Spiel begreifen, das im 16. Jahr38 hundert bereits fest zum Rechtssystem gehörte .

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36 37 38

ANDREA GRIESEBNER, Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert, Wien 2000. Dies wird man trotz neuerer sozialgeschichtlicher Arbeiten zu den Prokuratoren des Reichskammergerichts feststellen dürfen. Siehe ANETTE BAUMANN, Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht in Wetzlar (1690-1806). Köln Weimar Wien 2006, und DIES., Anwälte am Reichskammergericht. Die Prokuratorendynastie Hofmann in Wetzlar (1963-1806), Wetzlar 2001. Siehe hierzu den Prokuratoreneid – Die Reichskammergerichtsordnung von 1555, hg. von ADOLF LAUFS (QFHG 3), Köln Wien 1976, S. 154 ff. Der Malitieneid beinhaltete den Schwur der Parteien, an die Gerechtigkeit der eigenen Sache zu glauben. Freilich reduziert sich juristische Rhetorik nicht auf die unterschiedliche Darstellung von Sachverhalten und Ereignissen. Einen Überblick über aktuelle rhetorische Praxisfelder geben etwa WOLFGANG GAST, Juristische Rhetorik. Auslegung, Begründung, Subsumtion. Heidelberg 21992 und FRITJOF HAFT, Juristische Rhetorik. München 31985. Siehe dort etwa die Ausführungen zu den unterschiedlichen Argumentationstypen und -techniken auf S. 93 ff.

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Mit Blick auf die Geschichte des Prokuratorenstandes, der sich im 13. Jahrhundert an der päpstlichen Kurie ausbildete, läßt sich ein stetiges Spannungsfeld zwischen den normgebenden hochgerichtlichen Foren und den um ihre Parteien bemühten Anwälten, die zur Disziplin und Wahrheitstreue 39 angehalten wurden, nachzeichnen . Letztlich zeigen juristische Gelehrtenschriften wie die erstmals 1601 unter dem Pseudonym Adrian Gylman erschienenen Votensammlungen jedoch, daß das rhetorische Gegenspiel der parteigebundenen Wahrheiten auch von den Richtern prinzipiell akzeptiert war. Den Urteilern wurden nun mit solcherlei Drucken erprobte Mittel an die Hand gegeben, um die eigentliche Wahrheit auf der Basis von Parteischriften wie auch der vorgelegten Beweise, Urkunden und Zeugenverhöre, auszumachen. Alle Beteiligten, so läßt sich folgern, waren sich somit der Tatsache bewußt, daß anwaltliche Schriften versuchten, parteigebundene „Wahrheit“ darzustellen. Unter der Voraussetzung daß höhere Richter wie am Reichskammergericht oftmals keine anderen Möglichkeiten zur Beurteilung der Sachlage nutzten, als in die eingebrachten Schriften zu blicken, war dabei höchste Geschicklichkeit geboten. Die Prokuratoren traten, das Gericht unmittelbar ansprechend, in einen Wettbewerb ein, um jeweils die Anliegen 40 ihrer Mandanten anschaulich zu machen . Für diese Überzeugungsarbeit wurden m.E. zwei Arten von Diskursebenen beschritten. Den einen Typus möchte ich als Diskurs über schriftliche Rechtsnormen bzw. rechtswissen41 schaftlichen Diskurs bezeichnen, den anderen als moralischen Diskurs .

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41

RUDOLF VON HECKEL, Das Aufkommen der ständigen Prokuratoren an der päpstlichen Kurie im 13. Jahrhundert, Rom 1924. Siehe zur Problematik der Festlegung des Mandanteninteresses etwa MARLIS DÜRKOP, Was sind Mandanten-Interessen?, in: Strafverteidiger als Interessenverteidiger. Berufsbild und Tätigkeitsfeld, hg. von WERNER HOLTFORT, Neuwied Darmstadt 1979, S. 152-166. Ich sehe in dieser Unterscheidung eine Parallele zur Unterscheidung verschiedener Sprachformen innerhalb des juristischen Diskurses. So konstatiert MICHEL PAROUSSIS, Trotzdem lassen sich im juristischen Diskurs sämtliche Stratifikationen der Diskursivität verfolgen: Positivitäten, die umgangssprachlich zum Ausdruck kommen, gemischte Sprachformen nicht-wissenschaftlicher Bereiche, wissenschaftlich formierte Aussagen bis formalisierte Zeichensequenzen. [...] Die Diskussion, ob die Rechtssprache eine Fachsprache, eine Wissenschaftssprache, oder einfach eine rhetorische Verdichtung zu einer sozialen Steuerungssprache ist, sollte stattdessen lieber in bezug auf die variierende Beschaffenheit der multiplen juristischen Teildiskurse nuanciert werden. MICHEL PAROUSSIS, Theorie des juristischen Diskurses. Eine institutionelle Epistemologie des Rechts. Berlin 1995, S. 67. – Moralische Diskurse, wie ich sie verstehe, sind demzufolge umgangssprachlich strukturiert und beziehen sich auf lebensweltliche Erfahrungen und Werte eines allgemeinen gesellschaftlichen Wissensbestandes.

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Unter einem rechtswissenschaftlichen Diskurs verstehe ich die Argumentation auf der Grundlage von Gesetzen, Edikten, Gelehrtenautoritäten etc. Die rechtshistorische Forschung juristischer Prägung wendet sich hauptsächlich diesem Diskurs zu. Als moralischen Diskurs möchte ich das definieren, was Natalie Zemon Davis im Zusammenhang mit französischen Gnadenge42 suchen des 16. Jahrhunderts als „Erzählen“ vor Gericht bezeichnet hat . Die Ehre der Beteiligten steht bereits von daher im Zentrum dieses Erzählens, als Charaktere zum Vorschein kommen müssen, die im Rahmen einer „shortstory“ leicht zu verorten sind. Vor allem auf dem Feld des Kriminalrechts, aber keineswegs nur dort, handelt es sich dabei um gutartige Charaktere auf der einen und bösartige Charaktere auf der anderen Seite. Zur Konstruktion dieser Charaktere wird auf gesellschaftliche Normbestände zurückgegriffen, die es ermöglichen, die beschriebenen Handlungen einzuordnen. Bei diesen Normen kann es sich durchaus um rechtliche Normen handeln, denn oftmals sind Ehre und Recht deckungsgleich. Daneben wird aber auch aus einem Reservoir an gesellschaftlichen Wissensbeständen geschöpft, in dem die Normen weiter gefaßt sind. Hier reichen oftmals Andeutungen, um Gut und Böse eine Gestalt zu verleihen. So führte Grönberger in seinem Schreiben die Szenerie von einer unbescholtenen Frau vor Augen, die sich friedlich mit ihren Kindern auf den Weg zum Weingarten ihres Ehemannes gemacht hatte, um von den Häschern des Rates auf grobe Weise angefallen zu werden. Eine Aura des Authentischen wird in dieser Parteischrift über eingestreute angebliche Zitate erzeugt: „Das ist die rechte, die man begehrt und die das Geldt hinweg zu führen gemeint“ 43 , so die wiedergegebenen Worte der Pförtner des Rates. Über genauere Hintergründe des Geschehens bleibt der Leser im Unklaren. Es genügte dem Verfasser offensichtlich die Andeutung eines Konfliktes um Geld und Eigentum, um die Zaubereianklage als unrechtmäßiges Konstrukt erscheinen zu lassen. Die anschließend von Grönberger beschriebenen Ereignisse lassen dann den im Raum stehenden Vorwurf einer illegalen Hinwegführung von Geld aus der Stadt endgültig zerplatzen: Die Ratsdiener entwenden Salome Gebweiler einen Sack, in dem sie das Geld vermuten, und entdecken darin nichts als Brot – die einem jedem Menschen zustehende Nahrung. Die Darstellung einer erfolglosen Suche nach Geld trägt vor diesem Hintergrund 42

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NATALIE ZEMON DAVIS, Fiction in the Archives: Pardon Tales and their Tellers in Sixteenth-Century France, Stanford Cambridge 1987 (deutsch: Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler. Frankfurt a.M. 1991). BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 12, Punkt 6.

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dazu bei, den Gedanken der Gier auf Seiten der Feinde Salome Gebweilers aufkommen zu lassen, ein Gedanke, der an anderer Stelle dann noch mehr44 fach deutlich formuliert wurde . Diese Geldgier sei der eigentliche Grund gewesen, die alte Frau ins Gefängnis zu werfen, sie im Winter inhaftiert zu 45 halten und die Folterungen im Rahmen des Hexenprozesses vorzunehmen . Auf niederträchtige Weise, über Drohungen und Lügen, habe der Rat sie zu Geständnissen verleiten wollen und andere verhaftete Frauen dazu zu brin46 gen versucht, sie als Hexe zu besagen . Die Grönberger vom Rat zu Kaysersberg angekreidete Strategie bestand somit im Kern darin, die Vertreter der Ortsobrigkeit als Charaktere beschrieben zu haben, die die furchtbaren Waffen der Justiz aus Motiven des 47 Eigennutzes, aus „Neid, Geiz und Begierlichkeit“ heraus eingesetzt hätten. In diesem Rahmen wurde sogar die Verantwortung des herrschaftlichen Vogtes über die Stadt Kaysersberg für das Geschehen gelegentlich angedeutet. Es handelte sich dabei um niemand Geringeren als den kaiserlichen Berater Lazarus von Schwendi, der in der Religionsfrage um eine Politik des 48 Ausgleichs und der Verständigung bemüht war , in der Hexereifrage dagegen eine Politik der Strenge befürwortet zu haben scheint. Grönberger beließ es jedoch in seinen Schriften bei einer insgesamt undurchsichtig er49 scheinenden Rolle dieser Persönlichkeit und fokussierte seine Kritik auf Rat und Syndikus der Reichsstadt. Konfrontiert mit dem Injurienvorwurf des Rates aus dem Jahre 1585, sah sich Grönberger veranlaßt, seine Strategie zu rechtfertigen: Ein Teil der Behauptungen, die der Rat zu Kaysersberg in seiner eigenen Injurienklage

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49

Siehe die Bekräftigung dieses Vorwurfs durch Grönberger, BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 12, Punkt 17. Ein weiterer Streit der beiden Parteien um die Verfahrenskosten des Hexenprozesses sollte von ähnlichen Vorwürfen bestimmt werden. Es ging um 1.643 Gulden, die der Rat von der Familie Gebweiler einforderte, was ihn dazu bewogen hatte, Hausrat ihrem Besitz zu konfiszieren und einige Weinfässer zu verkaufen. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 17, Defensionales et Peremptoriales Articuli (präs. am 19.11.1586). BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 12, Punkt 12 und 13. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 12, Punkt 16. Zu Schwendis Ansichten über konfessionelle Pluralität siehe etwa WINFRIED SCHULZE, Pluralisierung als Bedrohung: Toleranz als Lösung, in: Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, hg. von HEINZ DUCHHARDT, München 1998, S. 115 – 140, hier S. 131. Lazarus von Schwendi war dann neben dem Rat zu Kaysersberg Mitangeklagter im Realinjurienprozeß, der 1580 vor dem RKG von Johann Baptist Gebweiler eingeleitet wurde. Siehe die Angaben im Repertorium von Koser 1936 (Anm. 18), S. 58.

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aufstellte, wurde durchaus bestätigt. Dabei handelte es sich um unverfängliche allgemeine Bemerkungen des Gegners zum Recht oder um Informationen, die vom Reichskammergericht leicht überprüft und bestätigt werden konnten: Die für Injurienverfahren übliche Einleitung, daß niemand „wes Standes, Würdens oder Wesens auch immer,“ eine andere Person beleidigen dürfe, wurde etwa mit der Bemerkung kommentiert: „Ist rechtens, hätte 50 man gewünscht daß Gegenteil sich selbst daran gehalten hätte.“ Unbestritten blieb z. B. auch der Hinweis der Gegenseite auf die Kassation des Reichskammergerichtsmandats am 26. Juni 1580. Eine zweite Gruppe von Argumenten machen die Versuche des Reichskammergerichtsprokurators aus, die Beteuerungen des Rates von Kaysersberg, die eigene Ehre hoch zu schätzen, als unerheblich darzustellen. Daß die Ratsleute ihre Ehre für das höchste „kleinott dieser weltt“ hielten, bestritt Grönberger nicht direkt, stellte diese Behauptung jedoch letztlich als nicht zur Sache gehörig dar. Zum dritten wendete sich Grönberger rigoros gegen die zentralen in der Rekonventionsklage gegen ihn erhobene Vorwürfe: So erklärte er, daß er seine Schriften keineswegs in der Absicht, den Rat zu schmähen, im „animus iniuriandi“, verfaßt habe. Folglich versuchte er konsequent, jeden Vorwurf, in dem ihm eine Injurie unterstellt wurde, mit einem „nicht wahr“ zu 51 entkräften . Ebensowenig gab er zu, daß der Rat aus guten rechtlichen Gründen veranlaßt worden sei, gegen ihn vorzugehen. Auf die ebenfalls gegen ihn gerichtete Behauptung, der Rat sei eine pflichtbewußte Obrigkeit und habe niemals eine Übeltat begangen und niemals wegen „zeittlichen gutts auß haaß und neydt jemandt unschuldiger weiß in hafftung ziehen, mit scharffer tortur ohne vorgehende gnugsame indicia torqiren und jämerlich 52 martern vom leben zum todt verurtheylen und hinrichten“ lassen, reagierte er auf kämpferische Weise, indem er darauf verwies, daß die Wahrheit darüber aus den Akten der Mandats- und Nichtigkeitsprozesse klar hervortre53 te . Er hielt damit grundsätzlich an seinen Behauptungen, daß seine Gegner grausam gegen das Prozeßrecht verstoßen hatten, fest. Grönberger entschied sich überdies, seinen Behauptungen, die nun als Injurien umgedeutet werden sollten, weiteren Nachdruck zu verleihen. Er

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BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 12, zu Punkt 1. Unbestritten blieben auch z. B. Hinweise der Gegenseite auf die Termine der Einreichung verschiedener Prozeßschriften. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 12, etwa Stellungnahme zu Punkt 5. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 12, Punkt 4. Grönbergers Stellungnahme zu diesem Punkt 4 lautet: Facti alieni und das letztere aus den actis prioribus gnugsamb am tag.

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versuchte über Quellenangaben deutlich zu machen, wie die Geschichten auf dem Papier entstanden waren. In der Hauptsache berief er sich dabei auf die Äußerungen seines Mandanten, Johann Baptist Gebweiler, dessen Glaubwürdigkeit durch den Hinweis auf seine ehemalige Position als Stadt54 schreiber unterstrichen wurde . Zudem verwies er auf Informationen, die im Zuge einer Überprüfung des Falles Gebweiler durch eine nicht näher 55 spezifizierte Kommission entstanden waren . In einem weiteren Falle machte er den Versuch, eine Unterscheidung zwischen einem pauschalen und einem persönlichen Vorwurf der Tyrannei zu treffen: Er habe nicht beabsichtigt, die Ratsmitglieder persönlich als Tyrannen zu bezeichnen. Ihr konkretes Vorgehen gegen Salome Gebweiler, die Art und Weise der Prozeßführung gegen die kranke Frau, ihre Haft, ihre Tortur bis zu ihrem Tod, das Begraben der Leiche unter dem Galgen, sei jedoch kaum anders als ty56 rannisch zu bezeichnen .

V. Der Vorwurf der Tyrannei ist neben dem der Habgier als zentraler Punkt zu betrachten, in dem der Rat zu Kaysersberg seine Ehre verletzt sah. Die Ehre, hier begriffen als Identitätszuschreibung auf der Basis gesellschaftlicher 57 Normen , versuchte er sowohl vor dem Reichskammergericht als auch vor einer sehr weit gefaßten, wenngleich imaginären Öffentlichkeit, der „Posterität“, der Nachwelt, zu verteidigen. In diesem Zuge gab er ausdrücklich zu verstehen, die Norm, deren Überschreitung ihm vorgeworfen wurde, zu akzeptieren und sogar hoch zu halten. Der Rat zu Kaysersberg wollte eben nicht als „tyrannisch“, sondern offensichtlich als gerecht gelten. Beweise für ein gerechtes, nicht tyrannisches Verhalten legte er dagegen nicht vor. Aus-

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BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 12, Stellungnahme zu Punkt 10. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 12, Stellungnahme zu Punkt 6. Ist nicht gemeint gewesen, Gegenteile persönlich als Tyrannen zu achten, sonder weil der von anfangs inn wehrender gefengnuß, tortur, marter und pein mit der verstricktern biß zu ihrem jämmerlichen ableiben proceß gehalten, redt und widerredt gefallen, und sie under den galgen begraben, das alles möge unschwer für tyrannisch gehalten werden. BayHStAMünchen, RKG 6066, Q 12, Stellungnahme zu Punkt 32. Ich beziehe mich dabei auf HANS WELLMANN, Der historische Begriff der ‚Ehre’ sprachwissenschaftlich untersucht, in: BACKMANN, SIBYLLE / KÜNAST, HANS-JÖRG / ULLMANN / SABINE, TLUSTY / B. ANN (Hg.), Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, Berlin 1998, S. 27–39, hier S. 38.

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reichende Widerlegungsgründe glaubte er offensichtlich lediglich daraus beziehen zu können, daß ein solcher Vorwurf an sich gravierend und injuriös sei. Er verließ sich in diesem Zusammenhang auf die ihm nicht abzusprechende Rolle als eine rechtmäßig eingesetzte Obrigkeit, ein Status, der in seinen Augen genügen sollte, um die gegnerischen Behauptungen als absurd erscheinen zu lassen. In diesem Kontext ist allerdings noch einmal darauf hinzuweisen, daß die konkrete Rechtspraxis zu Kaysersberg in den parallel zum Injurienverfahren laufenden Nichtigkeitsverfahren vom Reichskammergericht genauer begutachtet wurde. Wie läßt sich das Bedürfnis des Rates, seine eigene Ehre zum Gegenstand des Diskurses zu machen, interpretieren? Möglicherweise bestand angesichts der Konflikte, die Hexenprozesse in einem Gemeinwesen auslösen konnten, ein besonderes Stabilisierungsbedürfnis hinsichtlich der eigenen Position in der Stadt. Die Texte zeigen dabei m.E. deutlich, daß man bei aller Beteuerung der Rechtmäßigkeit der zu Kaysersberg laufenden Hexereiverfahren, durch die Vorwürfe aber auch eine Doppelbödigkeit des eigenen Tuns erkannt haben muß. Insofern versuchte man sich offensichtlich über die Injurienklage auch seiner selbst zu vergewissern. Die simple Wiedergabe der von der Gegenseite beschriebenen Grausamkeiten und Hinterhältigkeiten ohne eine eigentliche Gegendarstellung erscheint dabei kaltblütig und hilflos zugleich. Offensichtlich erkannte man recht deutlich, daß die Vorhaltung eines besonders brutalen Vorgehens gegen die Angeklagten die eigene Ehre in Mitleidenschaft zu ziehen drohte. Vor diesem Hintergrund erscheint der einige Monate nach der Einreichung des Injurienlibells eingetretene Tod Salome Gebweilers und die anschließende Entehrung ihres Leichnams in einem besonderen Licht. Vor allem die Schmähprozeduren wirken wie eine Flucht nach vorne. Demonstriert werden sollte wohl Klarheit in einer Situation, die durch die diversen schwebenden Reichskammergerichtsverfahren offengehalten war. Mit der Demonstration der Unehre von Salome Gebweiler bekundete man gleichzeitig die Überzeugung, dem Recht zum Sieg verholfen und damit zugleich Selbstbewußtsein, der eigenen Ehre Genüge getan zu haben. Darüber hinaus zeigt sich in der Reaktion der Obrigkeit zu Kaysersberg exemplarisch, welche Überlegungen der schriftliche Prozeß immer wieder bei den Beteiligten auslöste: Die in diesem Rahmen erhobenen Behauptungen würden für immer, „in Ewigkeit“, auf dem Papier stehen bleiben und damit eine ständige Gefahr darstellen, die Ehre bei Zeitgenossen und Nachwelt zu schädigen. Ich habe in diesem Zusammenhang vor geraumer Zeit das Bild vom Gericht als Bühne verwendet, um den Sinn der Akteure

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dafür zu beschreiben, daß die in Parteischriften dargestellten Behauptungen sich als Bilder und „Wahrheiten“ verfestigten. Die Betroffenen beklagten sich oftmals bitter darüber, daß ihre Gegner Worte, die ihre Ehre berührten, 58 „in die Welt setzten“ und genüßlich ausbreiteten. Diese Furcht erklärt grundlegend, warum Anwaltsschriften häufiger als Schmähschriften stigmatisiert wurden. Zugespitzt formuliert würde dies bedeuten, daß eine im System Recht als 59 „vorläufige Wahrheit“ konzipierte Behauptung stets als Gefahr gesehen wurde, sich zu einer endgültigen „Wahrheit“, im Sinne einer von der Restwelt wahrnehmbaren „Wahrheit“ auszuformen. Daß das frühneuzeitliche Rechtswesen im Alten Reich wesentlich dadurch geprägt war, daß eine dezisive Wahrheitserklärung durch ein Gerichtsurteil häufig ausblieb, offenbart sich hier als ein verschärfendes Moment des Problems: Was lag angesichts der Notwendigkeit, die Ehre zu retten, näher, als mit eigenen neuen Schriften zu kontern, die den Lügen des Gegners entgegengesetzt wurden und das Bild der eigenen „Wahrheit“, das man der „Posterität“ überliefern wollte, stärkten und abrundeten? Daß die Anwälte als professionelle Konstrukteure von „Wahrheit“ in diesem beschriebenen Sinne ins Zentrum der Auseinandersetzung gerieten, ist kaum erstaunlich. Sie waren die Gestalter jener Inszenierungen, die jeweils als „Wahrheit“ ausgegeben wurden. Je mehr man sich aber diese Tatsache bewußt machte, desto zweifelhafter wurde auf der anderen Seite die jeweils beteuerte „Wahrheit“. Juristenethos und Vorschriften für Anwälte konnten offenbar nicht das grundlegende Problem lösen, daß Parteienvertretung die Darlegung einer parteiischen „Wahrheit“ erforderte, die der Gegner nur zu leicht als Lüge darstellen konnte. Ein weiteres Dilemma bestand darin, daß dem Parteienstreit im System Recht, einer begrenzten Form 60 des Streites, ähnlich wie anderen Streitformen , durchaus eine normstabili61 sierende Funktion zukam , während aber Streit auf der Ebene der Ehre

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Eine Injurie wurde häufiger als etwas, das in die Welt gesetzt wurde, bezeichnet. Siehe etwa Fuchs, Um die Ehre (Anm. 5), S. 313. So definiert etwa WOLFGANG GAST das Recht als Gelegenheit [...], Für und Wider vorzutragen (oder die Argumente professionell, von Juristen, vortragen zu lassen), bis ein autorisierter Entscheider seinen zu begründenden Spruch fällt. WOLFGANG GAST, Recht als ius argumentandi, in: Rhetorische Rechtstheorie, hg. von OTTMAR BALLWEG / THOMASMICHAEL SEIBERT, München 1982, S. 297-320, 305. Siehe auch FRIEDRICH, Grenzen der Vernunft (Anm. 12), S. 388. Die Kultur arbeitet über die Konstruktion der Oberfläche eines juristischen Diskurses an der Artikulation ihrer eigenen Grundwerte. Siehe JAN M. BROEKMANN, Rechtsfindung

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stets zu eskalieren drohte, da das Selbstverständnis der Akteure, ihre Identität, in elementarer Weise betroffen war. Daß auf dieser Ebene das Selbstverständnis, die Ehre von Juristen zum zentralen Gegenstand des Wahrheitsdiskurses wurde, drohte dagegen wiederum das System Recht zu konterkarieren. Dies alles war schließlich noch von daher besonders schwerwiegend, als die Gegensätze anläßlich eines juristischen Aktionsfeldes zutage traten, das hoch umstritten war und auf dem die Grenzen des Rechts unklar erschienen. Ein hartes, kompromißloses Vorgehen bei Hexenprozessen konnte als notwendige Wohltat für das Gemeinwesen dargestellt werden oder eben als menschenverachtend und tyrannisch. Daß Grönberger auch nach dem Tod Salome Gebweilers auf seinen Vorwürfen, insbesondere dem Tyranneivorwurf, beharrte, ist bereits dargelegt worden. Mehrere Jahre nach den ersten Schriftwechseln, im Februar 1595, berief er sich u. a. auch auf Rechtsgelehrte, um dies deutlich zu ma62 chen . Sein eigener Anwalt vor dem Reichskammergericht verwies auf den berühmten Juristen Cinus, einen Lehrmeister des Bartolus de Sassoferrato, der diejenigen, die leichtlich auf Folter erkennen, „latrunculatores“ (Söldner, Räuber; aber auch: Blutrichter) genannt und überdies gesagt habe, daß sie wider Ehre und Billigkeit handelten. Ebenso wurde auf den Rechtsgelehrten Julius Clarus Bezug genommen, der solche Richter den Scharfrichtern gleichgestellt habe. Grönberger habe seine Worte somit nicht aus seinem Kopf, sondern aus den Rechten genommen. Im Kampf um Grönbergers Juristenehre wurde außerdem noch einmal die für Hexenprozesse zentrale Diskussion über die Schwellen, die zur Anwendung der Folter ausreichen sollten, eingebracht. Viele vornehme, treffliche und gelehrte Leute würden eben nicht glauben, daß man auf das bloße Angeben der Hexen hin „ad torturam schreiten“ sollte. Solches könne bereits vermöge der göttlichen Schrift nicht geschehen. Daher könne man jene, die dem zuwider agierten, durchaus als Charaktere bezeichnen, die „gottlicher satzung und der erbar 63 und billichkeit entgegen“ handelten . Ebenso wurde dem Rat zu Kaysersberg in diesem Zusammenhang der elementare Verstoß gegen die Peinliche Halsgerichtsordnung und damit ein Handeln wider den „gemeinen Nutzen“ 64 vorgeworfen .

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als diskursive Strategie, in: Rhetorische Rechtstheorie, hg. von OTTMAR BALLWEG / THOMAS-MICHAEL SEIBERT, München 1982, S. 197-233, hier S. 224. Siehe BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 20, Exceptiones und Responsiones. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 20, Punkt 6. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 20, Punkt 17.

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Grönberger ließ sich somit im Gegensatz zu seinen Gegnern als vorsichtiger Jurist profilieren, der im gerechten Kampf um die Rechte von Angeklagten an seiner Ehre verletzt worden war. Nachdem der Rat zu Kaysersberg zur Kompensation des von ihm angeblich verursachten Ehrenschadens 65 20.000 Gulden eingefordert hatte , erhöhte Grönberger angesichts der Tatsache, daß ein ungerechtfertigter Injurienvorwurf seinerseits eine Ehrveletzung darstellte, diese Summe, um 30.000 Gulden vom Rat zu Kaysersberg 66 zu verlangen . Auf der Ebene des Streitschriftenduells mit seinen Gegnern lag dem die Absicht, einen Hieb auszuteilen, zugrunde. Dies kann andererseits nicht darüber hinwegtäuschen, daß Grönberger im Prozeß längst in die Defensive geraten war. Am 9. Oktober 1594 erging eine Entscheidung des Reichskammergerichts, seine Injurienklage für unbegründet zu erklären. Der Prokurator wurde hingegen aufgefordert, das zu tun, was ihm laut Defensional- und Reconventional-Artikel seiner Gegner gebühre. Anderenfalls sollten diese Artikel für wahr angenommen und ihm selbst die Defensionales benommen wer67 den . Gemeint war damit nicht, daß Grönberger zur unverzüglichen Bezahlung des in den Reconventionales geforderten Strafgeldes verurteilt wurde, sondern sich, unter Beachtung der Reichskammergerichtsordnung, erklären sollte. Die Folge war eine weitere Replikschrift, eingereicht am 3. November 1596, und schließlich mehrmalige Versuche Grönbergers, das Reichs68 kammergericht zu einem förderlichen Urteil zu bewegen . Schließlich versandete das Verfahren, wie so viele Reichskammergerichtsprozesse, wobei Grönberger immerhin zwei seiner eigenen Anwälte überlebte.

VI. Die eigentliche Rehabilitierung des Rates zu Kaysersberg war bereits 1588 erfolgt. Die Nichtigkeitsklage der Freundschaft von Salome Gebweiler war 69 durch die Assessoren des Reichskammergerichts abgeschmettert worden . Im Votum, das zu diesem Urteil geführt hatte, war mit keinem Wort auf die 65 66 67 68 69

BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 12. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 22. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Aktenprotokoll. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 26. FUCHS, Hexerei und Zauberei (Anm. 1), S. 57. Das Urteil des Reichskammergerichts zuungunsten der Partei Gebweiler ist zu finden bei ADRIAN GYLMANN, 1605, S. 83.

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im Raum stehenden Grausamkeiten gegenüber den Mitangeklagten eingegangen worden. Das gesamte Votum zeigt, daß man bemüht war, den Ehrdiskurs, der von Gebweiler und Grönberger geführt worden war, aus der Begutachtung rigoros auszuschließen. Der Referent konzentrierte sich auf den rechtswissenschaftlichen Diskurs. Auf der Basis einer Abwägung u. a. 70 von Jean Bodin, Heinrich Kramer, Paulus Grillandus, Johann Weyer und diversen Bestimmungen der Peinlichen Halsgerichtsordnung wurde die Folterpraxis zu Kaysersberg letztendlich für rechtens erklärt. Dieses Votum zeigt m.E. einmal mehr, daß das Reichskammergericht keineswegs pauschal zu den Gegnern der Hexenprozesse zu zählen ist, sondern sich in diesem Fall unter Beteiligung an der Diskussion um die Existenz von Hexenflügen, die Erleichterung der Folter, die Verwertung von Besagungen etc. für eine strikte Bestrafung des Deliktes aussprach. Eine Übertretung der Foltervorschriften zu Kaysersberg sah der votierende Referent als nicht gegeben an und gestand sogar zu, daß sich eine Überschreitung dieser Vorschriften in Anbetracht der Qualität des Verbrechens der Hexerei grundsätzlich vertre71 ten lasse . Zudem führte er aus, daß die Glieder Salome Gebweilers nicht gebrochen gewesen seien und auch von daher von einer regulären Tortur 72 auszugehen sei . Obwohl der Referent sich im Endeffekt veranlaßt sah, zumindest die Verfahrenskosten beiden Parteien aufzuerlegen, läßt sich doch folgern, daß die auf den Magistrat zu Kaysersberg fokussierte Kritik, die im Vorwurf tyrannischen Verhaltens gipfelte, als eine Strategie erwies, die gescheitert war.

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FUCHS, Hexerei und Zauberei (Anm. 1), S. 55. PETER OESTMANN hat sich gegen meine dortige Interpretation ausgesprochen, daß es sich bei der Zitierung unter dem Namen Vierus um Johann Weyer handelt. Sein Alternativvorschlag, der Verweis auf einen einen Kommentator aus dem 12. Jahrhundert, erscheint unzutreffend. Vgl. OESTMANN, Hexenprozesse (Anm. 2), S. 124f u. S. 125, Anm. 219. Die in diesem Zusammenhang im Votum behandelten Fragen, ob die Geständnisse der Hexen auf traumhaften Erlebnissen beruhten und diese Frauen nicht eher Mitleid als die Todesstrafe verdienen würden (atque eas ob id commiseratione potius, quam supplicio dignas esse), beziehen sich letztlich auf die Kardinalthese in Weyers Werk De Praestigiis Daemonum. Siehe GYLMAN 1605, S. 80. Im Votum wird davon ausgegangen, daß ein Richter bei besonders abscheulichen und heimlichen Verbrechen für die Anordnung der Folter weniger Indizien als an anderen Fällen bedürfe. Nam in exorbitantibus et atrocissimis delictis licitum est iura transgredi. […] Constat praeterea quod in delictis secretis, et quae sui natura non possunt probari, nisi per certum genus hominum, Iudex potuit animosus arbitrari et ex indiciis minus legitimis ad torturam pervenire. GYLMAN 1605, S. 80. Auch seien dem Rechtsgelehrten Baldus zufolge in solchen Fällen Beweise für eine Verurteilung ausreichend, die normalerweise nicht ausreichten. GYLMAN 1605, S. 82 f.

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Grönberger und sein Anwalt räumten im Injurienstreit zuweilen ein, gele73 gentlich das Maß überschritten zu haben , wenngleich sie auf der anderen Seite auch immer etwas nachlegten. Es scheint auch, als ob Grönberger seinen Mandanten insbesondere mit dem Habgiervorwurf, der aus dem Votum vollständig ausgeklammert wurde, keinen guten Dienst erwiesen hatte. Andererseits kam es bei einer Nichtigkeitsklage, wie juristische Traktate zum Problem der Nullitäten ausweisen, darauf an, zentrale Verstöße gegen das Verfahrensrecht beim Namen zu nennen und unter Umständen auch den Richter als Person in Frage zu stellen. Bestechlichkeit und Befangenheit ge74 hörten zu den klassischen Nichtigkeiten . Allerdings war damit das obrigkeitliche Rollenverständnis in elementarer Weise angesprochen. Daß die Ehre der Obrigkeit unter einen besonderen Schutz zu stellen sei, gehörte aber zu den Grundsätzen des frühneuzeitlichen Rechtssystems. Diesem Grundsatz fühlten sich auch die Angehörigen der Reichsgerichte in besonderer Weise verpflichtet.

VII. Damit komme ich zu jenen Gesichtspunkten, die aus meinen Erörterungen herausgestellt werden sollen: 1. Zwar gehörte der moralische Diskurs der Parteien, der regelmäßig die Ehre der Beteiligten berührte, fest zum frühneuzeitlichen Rechtsverfahren. Grönberger ließ selbst ausdrücklich darauf hinweisen, daß viele sei75 ner Worte ex stylo curiae täglich gebraucht würden. Angesichts der Furcht der Beteiligten davor, daß anwaltliche Behauptungen zu einer ewigen Schande führen konnten, gerieten die Parteienvertreter jedoch relativ schnell selbst in den Fokus der Kritik. Da diese Kritik ebenfalls im Rahmen von Parteischriften formuliert wurde, entwickelten sich häufiger Juristenduelle, in deren Verlauf sich die Kontrahenten gegenseitig den Bruch des Wahrheitsgebots und die Absicht der Schmähung vorwarfen. 73

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In den Kommentaren zum Reconventions Libell findet sich z. B. das Zugeständnis, eine von Grönberger verfaßte Gegenschrift gegen den Rat sei etwas scharff angestellet gewesen. Siehe BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 12, Stellungnahme zu Punkt 9. Ein Überblick über die zahlreichen Nichtigkeiten ist zu finden bei BLASIUS ALTIMARUS, Tractatus de nullitatibus sententiarum, decretorum, laudorum, arbitramentorum et quorumcunque actuum judicialium, 2 Bde. Köln 1701, 1720. BayHStAMünchen, RKG 6.066, Q 20, Punkt 8.

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2. In diesem Wahrheitsdiskurs blieb uneingestanden, daß die rhetorische Konstruktion von „Wahrheit“ zu den vorrangigen Aufgabenfeldern des Anwalts gehörte. Anwälte, unter ihnen die Prokuratoren und Advokaten des Reichskammergerichts, konstruierten mit Blick auf eine spätere Bewertung durch den Richter „provisorische Wahrheiten“. Bedingt durch deren Verschriftlichung und die Erfahrung, daß eine gerichtliche Entscheidung ausbleiben konnte, sahen die jeweiligen Gegner aber die Gefahr einer Verfestigung dieser Behauptungen und versuchten daher immer wieder vehement, diese „Wahrheiten“ als Lügen zu enttarnen. 3. Auf dieser Ebene angelangt, nahmen die Kontrahenten jeweils das Bekenntnis zu einer absoluten, parteiunabhängigen Wahrheit für die Juristenehre in Anspruch. Paradoxerweise wurde somit die Ehre des Anwalts auf diese Weise als eine Ehre konturiert, aus der seine Berufspraxis bzw. seine Professionalität weitgehend ausgeblendet wurde. „Anwälte von Ehre“ waren in diesem Kontext in erster Linie nicht ihren Mandanten, sondern in erster Linie einem allgemeinen Rechts- und Gerechtigkeitsideal verpflichtet. Im Ehrkampf, der nun über die Prozeßschriften ausgetragen wurde, ging es darum, dem Gegner das willentliche Abrükken von einer solchen Verpflichtung zuzuschreiben. 4. Johann Grönberger mußte sich diesem Vorwurf stellen, nachdem er in seinen Prozeßschriften die Hexenprozesse in Kaysersberg als eine unrechte und unchristliche Rechtspraxis dargestellt und die Verhöre und Folterprozeduren im Rahmen eines moralischen Diskurses beschrieben hatte, der die Grausamkeiten besonders betont hatte. Gefolterte und hingerichtete Frauen waren so nicht als Hexen, sondern als Opfer von Juristen, die sich vom Recht abgewandt hatten, dargestellt worden. Der Rat von Kaysersberg reagierte darauf, indem er seinerseits auf die Juristenehre verwies und Grönberger vorwarf, sie durch seine Vorwürfe in elementarer Weise verletzt zu haben. 5. Besonders gravierend war die Tatsache, daß der so entstandene Diskurs um die Juristenehre die heikle Zone obrigkeitlichen Selbstverständnisses berührte. Es sieht so aus, als hätte sich dies vor Ort eher negativ für Salome Gebweiler ausgewirkt. Auch fanden die Vorwürfe der Geldgier und des tyrannischen Verhaltens auf Seiten der Assessoren des Reichskammergerichts keine Zustimmung. Andererseits läßt sich aus den Schriftsätzen des Rates zu Kaysersberg entnehmen, daß sich, bei aller entschiedenen Zurückweisung der Schriften des Prokurators Grönberger, der Vorwurf der Tyrannei in den Köpfen der Ratsmitglieder festgesetzt hat-

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te: Die Ehre des Rates war dadurch getroffen worden. Sein Verhalten im noch während des Reichskammergerichtsprozesses weiter betriebenen Hexereiverfahren läßt sich wiederum als ein sehr reflektiertes Verhalten beschreiben, dem ein volles Bewußtsein um die rechtlichen und moralischen Pro- und Kontra-Linien, die im Zusammenhang mit den Hexenprozessen erörtert wurden, zugrundelag. Grönberger nahm dagegen, wie gezeigt, entschieden gegen jene umstrittenen Verfahrensweisen Stellung, die viele Hexenprozesse prägten: die leichtfertige Entscheidung für die Folter, die Akzeptanz von Besagungen durch gefolterte Menschen und die grausame Behandlung gefangener Frauen. Es zeigt sich bei näherer Betrachtung dennoch, wie problematisch es wäre, in ihm einen „Gegner der Hexenprozesse“ zu sehen. Zwar brachte er, aus heutiger Sicht verdienstvoll, gewichtige Argumente vor, um Salome Gebweiler zu helfen und versuchte ebenfalls, sich im Injurienverfahren als vorsichtiger Jurist zu stilisieren. Anwaltliche Professionalität brachte es jedoch in der Zeit der Hexenprozesse offensichtlich mit sich, daß solche Sichtweisen sich verändern konnten, sofern sich die Vorzeichen verschoben: In seiner Eigenschaft als Prokurator vertrat Johann Grönberger mehrfach auch die Gegenseite der Hexenverfolger, denen ihrerseits Nichtigkeiten vorgeworfen wurden, insbesondere die Markgrafen zu Brandenburg-Ansbach. In diesem Zusammenhang bezeichnete er z. B. im Jahre 1597 die Aussagen von gefolter76 ten Verdächtigten als „erhebliche starcke indicien“ , die einen Hexenprozeß rechtfertigten.

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BayHStAMünchen RKG 6.069, siehe hier Q 20. Siehe überdies RKG 6.099/I, Q 7.

FRANK KLEINEHAGENBROCK

Konservierung oder Weiterentwicklung des Religionsfriedenssystems von 1648 Das Reichskammergericht in den Konflikten um die Besitzstände der Konfessionsparteien1 Die konfessionelle Spaltung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation stand im Widerspruch zum Ideal der konfessionellen Homogenität, das gemäß den Regelungen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 wenigstens für die einzelnen, das Reich bildenden Territorien gewahrt werden sollte2. Der Westfälische Friede sorgte jedoch nicht mehr für eine eindeutige Bestätigung des landesherrlichen Reformationsrechtes, indem es durch die Normaljahrsregelung und Minderheitenrechte teilweise ausgehöhlt wurde. So stand am Ende des Dreißigjährigen Krieges, der eben nicht allein ein europäisches Mächteringen, sondern auch ein Krieg um konfessionelle Standpunkte – oder besser: gesicherte Besitzstände der Konfessionsparteien – war, die reichsrechtliche Anerkennung von drei Bekenntnissen, deren Nebeneinander juristisch geregelt wurde3. Überdies verteilten sich Katholiken,

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Der nachfolgende Text stellt eine nur leicht überarbeitete und mit den notwendigsten Anmerkungen versehene Form des Vortrags dar. Für eine ausführliche Diskussion der Forschungslage ist die Würzburger Habilitationsschrift „Konfessionelle Konflikte nach 1648. Gewissensfreiheit, konfessioneller Besitzstand und die Grenzen von Herrschaft im Verfassungssystem des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ des Verfassers heranzuziehen, deren Materialen und Ergebnisse hier auszugsweise präsentiert werden. Verwiesen sei hierzu generell auf die einschlägige Monographie von AXEL GOTTHARD, Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004, sowie aus den zahlreichen Spezialstudien von MARTIN HECKEL hier besonders auf Ius reformandi. Auf dem Wege zum „modernen“ Staatskirchenrecht im Konfessionellen Zeitalter, in: DERS., Gesammelte Schriften Staat, Kirche, Recht, Geschichte, Bd. 5, Tübingen 2004, S. 135-184. Vgl. dazu im Überblick auch DERS., Deutschland im konfessionellen Zeitalter ²2001, S. 33-66. Vgl. hierzu ANTON SCHINDLING, Der Westfälische Friede und das Nebeneinander der Konfessionen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, in: Bayern. Vom Stamm zum Staat. Festschrift für Andreas Krau zum 80. Geburtstag, hg. von KONRAD ACKERMANN / ALOIS SCHMID / WILHELM VOLKERT, München 2002, S. 409-432, sowie DERS., Andersgläubige Nachbarn. Mehrkonfessionalität und Parität in Territorien und Städten des Reiches, in: 1648. Krieg und Frieden in Europa, Textbd. 1: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft, hg. von KLAUS BUßMANN / HEINZ SCHILLING, Münster 1998, S. 465-473.

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Reformierte und Lutheraner quer über das Reich und waren oftmals auch in einzelnen Territorien auf unterschiedlicher rechtlicher Basis nebeneinander vertreten. Diese drei Konfessionen begegneten sich freilich auch 1648 nicht friedlich und ausschließlich auf der Suche nach irenischem Ausgleich4, sondern nach wie vor mit schroffer Ablehnung und gegenseitigem Mißtrauen5. Ohne Zweifel aber ist das Jahr 1648 als Zäsurjahr der Reichsgeschichte zu betrachten – nicht weil in der Zeit danach die konfessionellen Konflikte endeten, sondern weil das Osnabrücker Friedensinstrument den Auseinandersetzungen der drei Konfessionen durch eine stabile Rechtsgrundlage im Rahmen des Verfassungssystems des Alten Reiches eine neue Qualität gab. Insbesondere Bernhard Ruthmann, der Religionsprozesse vor dem Reichskammergericht zwischen Augsburger Religionsfrieden und Westfälischem Frieden untersucht hat, hat den wegweisenden Prozeß der Verrechtlichung der Konfessionsstreitigkeiten in der Zeit um 1600 anhand der Analyse von Reichskammergerichtsprozessen bereits herausgearbeitet6. Wiewohl er gesehen hat, daß es solche Prozesse bis zum Jahre 1806 gegeben habe, hat er jedoch befunden, daß sie vor 1648 von größerer Relevanz gewesen seien, weil sie in eine Umbruchphase fielen und das Reichskammergericht in dieser Zeitspanne eine größere reichspolitische Bedeutung besessen habe.

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Irenische Bemühungen nach 1648 haben durchaus eine große Bedeutung in Gelehrtenkreisen und an unterschiedlichen deutschen Höfen besessen, waren dort oftmals jedoch Bestandteil politischen Taktierens: Vgl. dazu die Untersuchung von KARIN MASSER, Christóbal de Gentil de Rojas y Spinola O.F.M. und der lutherische Abt Wolterius Molanus. Ein Beitrag zur Geschichte der Unionsbestrebungen der katholischen und evangelischen Kirche im 17. Jahrhundert, Münster 2002. Zu beachten ist freilich, daß die Reichsgrundgesetze von 1555 und 1648/54 prinzipiell die Wiedervereinigung der unterschiedlichen Konfessionen vorsahen: MARTIN HECKEL, Die Wiedervereinigung der Konfessionen als Ziel und Auftrag der Reichsverfassung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: Die Reunionsbestrebungen im Niedersachsen des 17. Jahrhunderts. Rojas y Spinola – Molan – Leibniz, hg. von HANS OTTE / RICHARD SCHENK, Göttingen 1999, S. 15-38. FRANK KLEINEHAGENBROCK, Die Erhaltung des Religionsfriedens. Konfessionelle Konflikte und ihre Beilegung im Alten Reich nach 1648, in: HJb 126 (2006), S. 135-156; DERS., Ideen von 1648? Reichsverfassungsrecht als Quelle politischer Ideengeschichte, in: Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, hg. von HANS-CHRISTOF KRAUS / THOMAS NICKLAS, München 2007, S. 399-419. BERNHARD RUTHMANN, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht (1555-1648). Eine Analyse anhand ausgewählter Prozesse, Köln Weimar Wien 1996, hier besonders S 10-37. Vgl. dazu auch DERS., Religionsprozesse als Folge der Glaubensspaltung , in: Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, hg. von INGRID SCHEURMANN, Mainz 1994, S. 231-240, hier S. 231 f., sowie MARTIN HECKEL, Die Religionsprozesse des Reichskammergerichts im konfessionell gespaltenen Reichskirchenrecht, in: DERS., Gesammelte Schriften Staat, Kirche, Recht, Geschichte, Bd. 3, Tübingen 1997, S. 382-440.

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Gewiß kann gesagt werden, daß das Alte Reich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in eine lange Phase struktureller Stabilität eintrat7. Doch die Rolle, die in der folgenden Zeitspanne das Reichskammergericht einnahm, wenn es um Materien ging, in denen die konfessionellen Spannungen Niederschlag gefunden haben und denen eine durchaus beachtliche Sprengkraft innewohnte, ist bislang kaum erforscht worden. Dennoch läßt sich hinterfragen, ob das Reichskammergericht in einer Zeitspanne, in der das Reichsverfassungssystem wesentlich konsolidierter erscheint als im 16. Jahrhundert, eine weniger politische Institution gewesen sei.

I. Trotz der zahlreichen konfessionellen Spannungen in unterschiedlichen Regionen des Heiligen Römischen Reiches ist bemerkenswerterweise ein inneres Zerwürfnis ausgeblieben, das den Verwerfungen des Dreißigjährigen Krieges gleichgekommen wäre. Derartige Spannungen waren dennoch keine Randphänomene, sie konnten über die zeitgenössische Publizistik großen Kreisen der Reichsbevölkerung bekannt sein und zur konfessionellen Aufladung des politischen Klimas beitragen8. Gelegentlich konnten sie sogar erhebliche reichspolitische Dimensionen erreichen, wie etwa in den von der Kurpfalz ausgehenden Religionswirren der Jahre 1719/209. Es gibt zahlreiche zeitgenössische Kompilationen, die zeigen, daß Streitigkeiten der Religionsparteien zum Alltag des Alten Reiches mit seinen zahlreichen Rechtsräumen und den oftmals nicht einfach zu kennzeichnenden Herrschaftsbeziehungen sowie den sich überlappenden und ergänzenden obrigkeitlichen

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So argumentiert etwa auch VOLKER PRESS, Die kaiserliche Stellung im Reich zwischen 1648 und 1740, in: DERS., Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 2000, S. 188-222. An dieser Stelle einzig der Verweis auf ein plakatives Beispiel aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges: ANTJE FUCHS, Der Siebenjährige Krieg als virtueller Religionskrieg an Beispielen aus Preußen, Österreich, Kurhannover und Großbritannien, in: Religionskriege im Alten Reich und in Alteuropa, hg. von FRANZ BRENDLE / ANTON SCHINDLING, Münster 2006, S. 313-343. Vgl. dazu die ältere Studie von KARL BORGMANN, Der deutsche Religionsstreit der Jahre 1719/20, Berlin 1937. In jüngerer Zeit hat sich GABRIELE HAUG-MORITZ über dieses konkrete Ereignis hinaus mit dieser Thematik befaßt: Kaisertum und Parität. Reichspolitik und Konfessionen nach dem Westfälischen Frieden, in: ZHF 19 (1992), S. 445-482, und Corpus Evangelicorum und deutscher Dualismus, in: Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit?, hg. von VOLKER PRESS, München 1995, S. 189-207.

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Rechten gehörten.10 Denn mit diesen verbanden sie sich, wie schon in den Jahren der unmittelbaren Konfessionsbildung und den ersten Jahrzehnten der Konfessionalisierung, die Konflikte um das rechte Bekenntnis und erlangten so stets politische Dimensionen. Somit ging es also in der Regel bei den konfessionell konnotierten Spannungen zwischen Angehörigen der unterschiedlichen Religionsparteien um Fragen der Herrschaftsausübung. Gleichwohl haben die Zeitgenossen von „Religionsangelegenheiten“ gesprochen. Denn sobald die Konfessionen ins Spiel kamen, waren bestimmte Regelungen der Reichsverfassung berührt; lokale Konflikte wurden dadurch, daß der Streitgegenstand konfessionell interpretiert wurde, rasch zu einer reichischen Angelegenheit, weil die westfälische Friedensordnung in die juristischen Argumentationen Eingang fand und langfristig eben auch die Reichsinstitutionen beteiligt werden konnten. Allein diese Option war von Belang. Vielleicht sind dies Ursache, welche die integrative Kraft, die der Westfälische Friede für das Heilige Römische Reich zweifellos besessen hat, bewirkte und die dazu beitrug, die Einheit des doch von herrschaftlicher Vielfalt gekennzeichneten Heiligen Römischen Reiches und sein Funktionieren im Innern zu begründen. Die Frage nach den „Religionsangelegenheiten’, nach den konfessionellen Konflikten nach 1648 geht also an den Nerv des Alten Reiches. Anhand der konfessionell konnotierten Konflikte läßt sich ganz konkret zeigen, wie die Regelungen des Reichsverfassungssystems die Menschen mit dem Reich verbunden haben – und als eine Klammer diente dabei das Reichskammer-

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An dieser Stelle seien hervorgehoben: JOHANN JACOB MOSER, Neue Berichte von Religionssachen, 4 Tle., Frankfurt a. M. 1751, DERS., Kurzgefaßte Historie derer wichtigsten Religions-Angelegenheiten unter der Regierung Kaiser Francisci. Statt des fünften und sechsten Theils derer neuen Berichte von Religionssachen, Frankfurt a. M. 1756, CHRISTIAN GOTTFRIED OERTEL, Repertorium derer gesammten Evangelischen Religions-Beschwerden welche bey dem Hochpreyßlischen Corpore Evangelicorum von 1720 bis 1770 theils fortgesetzt theils neuerlich angebracht worden sind aus Archival-Acten gefertigt, Regensburg 1770, DERS., Vollständiges Corpus Gravaminum Evangelicorum mit doppelten Registern. Nebst einer Einleitung von Herrn Johann Christian Majer, Regensburg 1775. – Daneben sei bereits an dieser Stelle auch auf ERHARD C. W. SCHAUROTH, Vollständige Sammlung Aller Conclusorum, Schreiben Und anderer übrigen Verhandlungen Des Hochpreißlichen Corporis Evangelicorum […], 3. Bde. (in 6 Tlen.), Regensburg 1751/52, verwiesen.

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gericht11. Außerdem ist zu fragen, welche anderen Institutionen des Reiches in diesen Angelegenheiten ins Spiel kamen, um verfahrene Situationen auf der Territorialebene einer Lösung zuzuführen. Dabei geht es also nicht darum, die konfessionellen Konflikte nach 1648 als Zeichen für die Zersplitterung und Schwäche zu nehmen und das „Unheilige[ ] Römische[ ] Reich“ der Lächerlichkeit preiszugeben, was ja angesichts der uns heute eher fremden Inbrunst, mit der Vertreter unterschiedlicher Konfessionen sich in früherer Zeit mitunter begegnet sind, auch leicht geschehen kann12. Vielmehr ist die Verbindung der konfessionellen Konflikte mit den Herrschaftsstrukturen des Heiligen Römischen Reiches zu betonen, die das Reichsverfassungssystem ebenso konservierte wie die konfessionellen Verhältnisse13. Dabei darf nicht vergessen werden, daß die Auslegung der verfassungsmäßigen Grundsätze des Heiligen Römischen Reiches durchaus umstritten waren. Ideen völliger Gewissensfreiheit, wie sie von Teilen der Reformierten noch auf dem Westfälischen Friedenskongreß vertreten worden waren14, stand ein sehr eng gefaßtes lutherisches Verständnis der Normaljahrsregelung gegenüber, die nicht nur den Schutz der 1624 bestehenden Situation gegenüber den Katholiken und der 1648 vorherrschenden Besitzverhältnisse gegenüber den Reformierten intendierte, sondern auch eine mögliche Ergänzung bestehender konfessioneller Strukturen ausschloß. Sowohl Parochial- als auch Besitzverhältnisse konnten gemeint sein, so war beispielsweise nach lutherischem Verständnis nicht statthaft, eine anderskonfessionelle Pfarrei für Angehörige einer Minderheitenkonfession einzurichten, was 11

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Die mittlerweile durchaus umfängliche Literatur zum Reichskammergericht kann an dieser Stelle nicht ausführlich gewürdigt werden. Verweisen sei auf die einzige, allerdings nicht vollständig erschienene und bereits ältere Monographie von RUDOLF SMEND, Das Reichskammergericht, Tl. 1: Geschichte und Verfassung, Weimar 1911, die für neuere Forschungen zum Reichskammergericht noch immer bedeutsam ist. Neuere Forschungsergebnisse werden vorgestellt in BERNHARD DIESTELKAMP (Hg.), Die politische Funktion des Reichskammergerichts, Köln Weimar Wien 1993. Vgl. dazu ferner EVA ORTLIEB / SIEGRID WESTPHAL, Die Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich: Bedeutung, Forschungsentwicklung und neue Perspektiven, in: ZRG GA 123 (2006), S. 291-304. Vgl. hierzu die durchaus umstrittene Studie von JÜRGEN LUH, Unheiliges Römisches Reich. Der konfessionelle Gegensatz, Potsdam 1995. MARK HÄBERLEIN, Konfessionelle Grenzen, religiöse Minderheiten und Herrschaftspraxis in süddeutschen Städten und Territorien in der Frühen Neuzeit, in: Staatsbildung als kultureller Prozeß. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, hg. von RONALD G. ASCH / DAGMAR FREIST, Köln 2005, S. 151-190 RONALD G. ASCH, „Denn es sind ja die Deutschen … ein frey Volk“. Die Glaubensfreiheit als Problem der westfälischen Friedensverhandlungen, in: Westfälische Zs. 148 (1998), S. 113-137.

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bestehende Pfarreistrukturen beschnitten hätte und wohl zumeist auch Einschnitte in den Vermögenshaushalt einer seit alters bestehenden Pfarrei zu Konsequenz gehabt hätte.15 Lutheraner nutzten das Reichsverfassungssystem als Bollwerk zur Abwehr von anderskonfessionellen Übergriffen, Katholiken suchten eher Handlungsspielräume auszuloten und zu nutzen, indem sie etwa der Meinung waren, eine neue Pfarrei gründen zu dürfen, wenn die Rechte der bestehenden lutherischen nicht verletzt würden. Auch die Reformierten tendierten bei scharfer Abgrenzung zu den Katholiken eher dazu, mögliche rechtliche Spielräume zulasten der Lutheraner auszunutzen, wie dies etwa in den vom brandenburgischen Kurfürsten, respektive König in Preußen beherrschten Territorien geschah16. Dies betraf die unterschiedlichen Interessen von Herrschaften, zumal bei Konfessionsverschiedenheit innerhalb einer Dynastie, gleichermaßen wie einzelne Einwohner oder Untertanen in den reichsunmittelbaren Territorien. Doch auch diese konnten wie ihre Herrschaften, wenn es um die Abwehr der tatsächlichen oder vermeintlichen Ausdehnung fremder Herrschaftsrechte ging, Hilfe von außen holen durch Kontaktaufnahme mit potenten Unterstützern aus dem Kreis der Reichsfürsten oder den rechtlichen Weg zu den Reichsgerichten. Die beschriebenen Konflikte tauchten überall dort auf, wo die Konfessionen im Heiligen Römischen Reich aufeinanderprallten. Dies war vor allem in Westfalen, in Franken und in Schwaben der Fall. Hier ist es ein leichtes, in territorialen Akten auf Konfliktfälle zu stoßen, in denen konfessionsverschiedene Konfliktparteien in Auseinandersetzung gerieten und in denen das Reichsrecht eine fundamentale Rolle spielte. In den Reichskammergerichtsakten sind ebenfalls solche territorialen Vorgänge aktenmäßig zusammengefaßt und leicht zu erschließen. Es sei jedoch nochmals betont, daß, wann immer in den Akten des Reichskammergerichts konfessionell konnotierte Streitfälle auftauchen, es sich zumeist um solche handelt, die sich mit unterschiedlichen Herrschaftsansprüchen beziehungsweise der Abwehr von Herrschaftsansprüchen beschäftigten. Und hier ist eine Kontinuität über die

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Vgl. hierzu neben KLEINEHAGENBROCK, Erhaltung des Religionsfriedens (Anm. 5), HELMUT NEUMEIER, Simultaneum versus Reichsverfassung – der Rosenberger Kirchenstreit 1658-1756, in: Wertheimer Jb. 1993, S. 153-215; DERS., Hardheim contra Würzburg. Religionsfrieden und reichsrechtliche Herrschaft in Franken – eine Fallstudie, in: Blätter für württembergische Kirchengesch. 98 (1998), S. 30-49; DERS., Simultaneum und Religionsfrieden im Alten Reich. Zu Phänomenologie und Typologie eines umkämpften Rechtsinstituts, in: HJb 128 (2008), S. 137-176. MARTIN LACKNER, Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten, Witten 1973, hier S. 148249.

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Umbrüche hinweg bis gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges hinweg zu erkennen. Genaugenommen sind auch die rund drei Dutzend Religionsprozesse am Reichskammergericht, die Ruthmann in der erwähnten Studie für die Zeit vor 1648 analysiert hat und die er unter den Bedingungen des noch nicht so weit vorangeschrittenen Verzeichnungsprojektes für die Reichskammergerichtsakten ermitteln mußte, nicht anders gelagert17. Die regionale Differenzierung zeitigt Folgen auch für die Nutzung der Repertorien der Reichskammergerichtsakten bei der Ermittlung der in diesem Kontext einschlägigen Prozesse. Besonders intensiv haben diese Streitigkeiten in jenen Überlieferungen des Reichkammergerichts Niederschlag gefunden, die in Osnabrück, Münster, Stuttgart und – trotz der noch nicht vollständig edierten Repertorien läßt sich das sagen – München in den zuständigen Archiven zu finden sind18. Überraschenderweise fällt Düsseldorf als Überlieferungsort besonderer Bedeutung aus19. Hier sind zwar für das Thema in Frage kommende Akten des Reichskammergerichts überliefert, doch angesichts der konfessionellen Situation in den entsprechenden Territorien des Alten Reiches ist das relativ wenig. Hier scheint zum einen die Nuntiatur in Köln eine nicht unwichtige Rolle zur Befriedung gespielt zu haben, wobei deren Tätigkeit nicht nur bei der Vermittlung zwischen Reichsständen sondern überhaupt in der Forschungsliteratur bislang eher blaß bleibt. Gewiß wirken sich auch die Bemühungen des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm aus, die konfessionellen Konflikte in seinen westfälischen und niederrheinischen Territorien möglichst intern zu regeln, so wie es im Cöllner Rezeß von 1672 festgelegt wurde. Die Edition der Repertorien der Reichkammergerichtsakten ist nun – und diese Bilanz sei an dieser Stelle be-

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So explizit RUTHMANN, Religionsprozesse (Anm. 6), S. 579. Vgl. im hier beschriebenen Kontext vor allem folgende Repertorienbände: Das Staatsarchiv Münster und seine Bestände, Bd. 2: Gerichte des Alten Reiches, 3 Tle., bearb. von GÜNTER ADERS / HELMUT RICHTERING, Münster 1966-73; Findbuch zum Bestand Reichskammergericht (1515-1806). Rep 900, Veröff. der Niedersächsischen Archivverwaltung. Inventare und kleinere Schr. des StA Osnabrück 3, bearb. von HANS-HEINRICH EBELING, Osnabrück 1986; Akten des Reichskammergerichts im HStA Stuttgart. Inventar des Bestands C 3, bearb. von ALEXANDER BRUNOTTE / RAIMUND J. WEBER, 8 Bde., Stuttgart 1993-2008; Bayerisches HStA, Reichskammergericht, bearb. von MANFRED HÖRNER (u. a.), bislang 15 Bde., München 1994-2008. Für die hier diskutierte, auf Franken bezogene Fragestellung dürfte die ausstehende Publikation der Würzburg betreffenden Reichskammergerichtsakten von zentraler Bedeutung sein. Reichskammergericht. Das HStA Düsseldorf und seine Bestände, Bd. 9, 10 Tle., bearb. von WOLFGANG ANTWEILER u. a., Siegburg 1988-2002.

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reits gezogen – eine große Hilfe, die hier interessierenden Fälle zu erschließen (was freilich nicht über die uneinheitlich organisierten Register geht, da allenfalls das Stichwort „Simultaneum“ weiterhilft). Es muß freilich deutlich gesagt werden, daß sich das Reichskammergericht, wie der Reichshofrat nicht primär mit den hier behandelten Fällen auseinandergesetzt haben. Sie machen jeweils nur einen Bruchteil im einstelligen Prozentbereich aus. Aber erst das Vorliegen der meisten Repertorien der Akten des Reichskammergerichts erlaubt eine gezielte Auswertung in Hinblick auf die Erforschung von Spezialfragen der frühneuzeitlichen Reichsgeschichte.

II. Hans Michel Schmid war Untertan der Reichsstadt Schwäbisch Hall und wohnte in Tüngental20. Er verschied im Jahre 1749. Sein Tod bot Anlaß zu Vorgängen, die aus heutiger Sicht schwer verständlich, ja bizarr erscheinen, die aber doch in zentrale Konfliktfelder zwischen unterschiedlichen reichsunmittelbaren Herrschaften des Alten Reiches hineinführen und seine Verfassungs- und Strukturgeschichte kulturgeschichtlich lebendig werden lassen. Denn kaum war Hans Michel Schmid tot, zogen 50 würzburgische Soldaten auf und umzingelten das Dorf. Sechs von ihnen standen mit Bajonetten bewaffnet vor dem Sterbehaus. Ihre Aufgabe war es, den Abtransport des Sarges zu verhindern, dessen sie sich dann auch schlußendlich bemächtigten. So ist es jedenfalls den entsprechenden Reichskammergerichtsakten zu entnehmen. Diese Vorfälle, die für die Hinterbliebenen gewiß nervenaufreibend waren, hatten mit dem Verstorbenen freilich nur mittelbar etwas zu tun. Es ging nämlich eigentlich nicht um ihn, sondern um den Pfarrer, der ihn unter die Erde bringen sollte.

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Für das Folgende vgl. HStA Stuttgart C3 Nr. 1.620. Zitiert wird aus zwei undatierten Zeugenverhören, die der Notar Georg Albert Chur aufgenommen hat. – Zur Geschichte der Reichsstadt Schwäbisch Hall mit ihrem großen Landgebiet vgl. nun die Stadtgeschichte von ANDREAS MAISCH / DANIEL STIHLER, Schwäbisch Hall. Geschichte einer Stadt, Künzelau 2006. Zu den auch immer konfessionell geprägten Spannungen unterschiedlicher Herrschaftsträger im Gebiet der Landheg der Reichsstadt Hall vgl. FRANZ RIEGLER, Die Reichsstadt Schwäbisch Hall im Dreißigjährigen Krieg, Stuttgart 1911, hier S. 43-56; BEATE ILÄNDER, Verfassung und Verwaltung der Reichsstadt Schwäbisch Hall vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende der Reichsstadtzeit (1648-1806), Schwäbisch Hall 2001, hier S. 61 ff.

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Die Kollatur der Pfarrei Tüngental hatte das Stift Komburg inne21, dessen Schirmherr war das Hochstift Würzburg, das zugleich auch alle Funktionen der Landeshoheit in den zugehörigen Dörfern wahrnahm. Tüngental war ein Kondominatsort in der Haller Landheg, und der reichsstädtische Rat, auch zuständig für die geistliche Aufsicht, hatte den Pfarrer Johann Balthasar Schülin wegen diverser Exzesse oder „propter malos mores“ bereits 1747 suspendiert, was seitens der Komburg nicht hingenommen wurde22. Der würzburgische Aufmarsch sollte also sicherstellen, daß der von Hall abgesetzte, in den Augen der Komburg freilich noch amtierende lutherische Pfarrer und nicht irgendein von Hall ausgewählter Vertreter die Leichenpredigt hielt. Es ging hier also um Herrschaftsrechte konfessionell verschiedener Landesherren, und die Frage, wer sich durchsetzen würde. In diesem Fall brachte eine endgültige Klärung nur der Tod des Pfarrers Schülin im Jahre 1758. Die Einwohner von Tüngental dürften mit derlei Situationen freilich vertraut gewesen sein, denn der Konflikt, der 1749 wieder in recht drastischer Weise aufflammte, schwelte seit der Mitte des 17. Jahrhunderts – und beschäftigte – wie ähnlich gelagerte Fälle – immer wieder das Reichskammergericht. In der Regel klagte der Rat der Reichsstadt Schwäbisch Hall wegen der Beeinträchtigungen, im zitierten Fall seiner Episkopalrechte. Es konnten auch andere obrigkeitliche Rechte verletzt sein, und nicht nur in Tüngental, sondern in einer Reihe weiterer Ortschaften. Geklagt wurde gegen den „Bischof von Würzburg und Konsorten“. Dieser versuchte in diesem Grenzraum zwischen der Komburg und der Reichsstadt, der zugleich ein konfessioneller Grenzraum war, seine Herrschaftsrechte auszudehnen, wie an eine Fülle von Beispielen, die reichskammergerichtsnotorisch wurden, gezeigt werden kann.

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Zur Geschichte des Ritterstifts Comburg in der Frühen Neuzeit ist nicht intensiv gearbeitet worden. Zu den Besitzverhältnissen vgl. RAINER JOOS, Kloster Komburg im Mittelalter. Stdien zur Verfassungs-, Besitz- und Sozialgeschichte einer fränkischen Benediktinerabtei, Sigmaringen ²1987. Im Kontext der hier vorgestellten Problematik vgl. MATTHIAS ERZBERGER, Die Säkularisation in Württemberg von 1802 bis 1810. Ihr Verlauf und ihre Nachwirkungen, Stuttgart 1902, ND Aalen 1974, hier S. 207-215; RAINER JOOS, „Spitäler des Adels“ am Ende ihrer Epoche. Die Ritterstifte Comburg, Odenheim-Bruchsal umd Wimpfen im Tal, in: Alte Klöster, neue Herren. Die Säkularisation im deutschen Südwesten 1803. Aufsätze, Tl. 1: Die Mediatisierung. Auswirkungen von Säkularisation und Mediatisierung, hg. von HANS ULRICH RUDOLF, Ostfildern 2003, S. 551-562, hier S. 551-559. Pfarrerbuch Württembergisch Franken, Tl. 2: Die Kirchen- und Schuldiener, bearb. von OTTO HAUG, Stuttgart 1981, S. 411.

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Gerade das Vorgehen des Bischofs von Würzburg in der Haller Landheg war spektakulär. Die Bewachung von Leichnamen, die Exhumierung von Toten, das Aufbrechen von Kirchen und die Sicherstellung – beziehungsweise je nach Standpunkt auch der Diebstahl – von Ausstattungsstücken sind typische Streitgegenstände, die, wie Zeugenverhöre und andere Berichte zeigen, alle Beteiligten vom Untertanen bis zur Herrschaft fürchterlich in Rage versetzten, die höchst emotional behandelt wurden und oftmals von großer öffentlicher Breitenwirkung waren, zu der bis in die Zeit um 1800 selbstverständlich auch konfessionelle Polemik gehörte. Die Reichskammergerichtsakten eröffnen so eine konzisen Blick in die komplexe Welt des Alten Reiches, in der sich die Untertanen zurechtfinden und ihre eigenen Vorteile wahren beziehungsweise suchen mußten. Besondere Qualität erlangte dies alles, wenn es um die Auslegung des Normaljahres von 1624 ging und das Reichsrecht beschworen werden konnte. Im Raum der Haller Landheg zeigte sich dies auch in Großallmerspann23, wo es dem Würzburger Bischof nach 1680 mit den Komburger Besitzrechten und der Vergabe heimgefallener Lehen gelang, den Konfessionsstand der Einwohner, die zuvor im lutherischen Lendsiedel in der Grafschaft Hohenlohe eingepfarrt waren, zu verändern und schrittweise, ausgehend von einer Hauskapelle zu einer von Kapuzinern betreuten katholischen Pfarrei – einer Art Leuchtturmprojekt – gelangen konnte. Da die Reichsstadt hier lediglich über Gerichtsrechte verfügte, eignete sich der Ort besonders für das in Würzburg geplante Vorgehen, wobei der hällische Rat in seiner Klage das Ius territoriale für sich beanspruchte24. Vor allem pochte er auf der Unveränderbarkeit der 1624 bestehenden Pfarreistruktur. Zur Illustration der Hintergrunde und Ursachen der Rechtsauseinandersetzungen vor dem Reichskammergericht noch ein weiteres Beispiel aus dem Nordwesten, aus dem Hochstift Osnabrück, das sich an den Fall Großallmerspann anlehnt25: In Melle, wo Lutheraner und Katholiken wohnten, war die Pfarrkirche im Stichjahr 1624 definitiv lutherisch. Dennoch konnten die Katholiken den Besitz der alten Kirche durchsetzen. In der Capitulatio Perpetua, welche die Regelungen des Westfälischen Friedens für das Hochstift 23

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Vgl. hierzu auch die lokale Überlieferung, etwa Hohenlohe Zentralarchiv Neuenstein La 35, Nr. 671. HStAS C3, Nr. 1.622. Staatsarchiv Osnabrück Rep 900, Nr. 281.

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Osnabrück umsetzte und spezifizierte26, wurde der Neubau einer lutherischen Kirche beschlossen, der in den Jahren 1650/51 erfolgte. Zugleich wurde das Kirchenvermögen geteilt. Es entstand um 1700 jedoch der Konflikt zwischen der (katholischen) Regierung von Osnabrück und dem Domdechanten von Spiegel als Patronatsherrn der katholischen Kirche zu Melle, ob die lutherische als Filialkirche derselben zu betrachten sei oder ob der Anna Sophia von Grappendorf als Besitzerin der Häuser Bruch, Laer und Melle als Patronatsherrin die Kollatur des Pfarrers zustünde. Aus lutherischer Perspektive handelte es sich um eine Pfarreineugründung, die wegen der geringen Ausstattung aufgrund der Vermögensteilung auf Spenden angewiesen sei. Das Präsentationsrecht sei aus den großzügigen Zuwendungen des Herrn von Grappendorf entstanden, was nun reichsrechtlich eingeklagt werden mußte. Hinter der Witwe stand das evangelische Konsistorium in Osnabrück. Dieses Problem tauchte kontinuierlich auf, wann immer nach einem Herrschaftswechsel im Hochstift Osnabrück in Melle ein neuer Pfarrer zu besetzen war. Das Gerangel der verschiedenen Osnabrücker Institutionen macht sich auch dann bemerkbar, wenn man sich vor Ort prinzipiell einig war. Katholiken und Lutheraner in Vörden waren sich in den Jahren 1727 und 1728 über den Neubau ihrer simultan genutzten Kirche offenkundig einig, nachdem die alte als baufällig begutachtet worden war27. Angesichts des schadhaften Fundaments hätten selbst Stützmaßnamen nichts mehr gebracht. Der Fürstbischof hatte Passierscheine für die Sammlung von Spenden gegeben. Da der Neubau jedoch angegangen worden war, ohne den zuständigen Archidiakon in Osnabrück, Ferdinand Philipp von Droste zu Erwitte, zu informieren und die Baumaßnahmen von diesem approbieren zu lassen, sah dieser sich in seinen Rechten in Vörden beeinträchtigt und sorgte, nachdem wiederholt strafbewährte Aufforderungen ignoriert worden waren, dafür, daß der Bau stillge-

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Zur Geschichte des bikonfessionellen Hochstifts Osnabrück im Untersuchungszeitraum vgl. MARK ALEXANDER STEINERT, Die alternative Sukzession im Hochstift Osnabrück. Bischofswechsel und das Herrschaftsrecht des Hauses Braunschweig-Lüneburg in Osnabrück 1648-1802, Osnabrück 2003; WOLFGANG SEEGRÜN / GERD STEINWASCHER, 350 Jahre Capitulatio Perpetua Osnabrugensis (1650-2000). Entstehung – Folgen – Text, Osnabrück 2000; siehe ferner auch GERD STEINWASCHER, Die konfessionellen Folgen des Westfälischen Friedens für das Fürstbistum Osnabrück, in: Niedersächsisches Jb. für LGesch. 71 (1999), S. 51-80; VOLKER ARNKE, „Aus demb friede in newe unruhe“. Der Osnabrücker Jesuitenstreit nach dem Westfälischen Frieden aus der Sicht des Stadtrats und Ernst Augusts II., in: Osnabrücker Mitteilungen 113 (2008), S. 77-109. Im folgenden eine Zusammenfassung von StAOs Rep 900 Nr. 1.047 V.

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legt wurde, und zwar ausgerechnet im Sommer 1728, so daß zu befürchten war, daß der noch ungedeckte Rohbau bis in den Herbst hinein nicht fertiggestellt und damit – wie die bereitliegenden Materialien – Schaden nehmen könnten. Im Hintergrund ist hier ein Herrscherwechsel zu erkennen, der Archidiakon wurde mit Unterstützung des gesamten Domkapitels nach dem Tode des Fürstbischofs Ernst Augusts II. aktiv, das in der Sedisvakanz den Baustopp verhängte. Der Archdiakon las aus der Captulatio Perpetua ein Aufsichtsrecht über die Kirche und die Rechnungslegung der Pfarrgemeinde heraus. Und hier befürchtete der Archidiakon nun, daß die Angehörigen der Augsburger Konfession, welche in Vörden die Mehrheit ausmachten, bei der Einrichtung des Kirchengebäudes für sich Vorteile zum Nachteil der katholischen Minderheit erlangen würden. Dem Archdiakon ist es immerhin gelungen, durch die Prozeßführung bis vor das Reichskammergericht, den Kirchenbau für die nächste Zeit zu blockieren. In den Schriftsätzen der Vördener wird zwar – angesichts der Formulierungen der Capitulatio Perpetua durchaus kleinlaut – bestritten, daß der Archidiakon über das Bauvorhaben hätte informiert werden müssen. Es deutet sich freilich an, daß in Vörden der Eindruck bestand, jegliche Baumaßnahmen, auch schon an der alten Kirche sei seitens des Archidiakons behindert worden. Und vielleicht hatte man tatsächlich die Gunst der Stunde und die Unterstützung des lutherischen Fürstbischofs genutzt. Deutlich erkennbar ist jedoch das Bestreben, den Kirchenbau rasch fortsetzen zu können. Die Archidiakone hatten ursprünglich die Funktion, in bestimmten Sprengeln, Archidiakonaten, den Bischof bei der Durchführung der geistlichen Gerichtsbarkeit zu unterstützen, konnten insbesondere im Hochstift Osnabrück auch die Ausübung weltlicher Gerichtsrechte an sich ziehen. Bis zur Säkularisation verbanden zahlreiche Domherren ihr Amt mit dem eines Archidiakons. In weltlichen Angelegenheiten urteilten die Archidiakone also auch über Lutheraner. Wegen des frühneuzeitlich typischen Fehlens klarer Zuständigkeitsabgrenzungen kam es fortwährend zu Spannungen mit den Fürstbischöfen, insbesondere auch mit dem 1728 verstorbenen Ernst August II. Die Auseinandersetzung um die Zuständigkeit der Archidiakone wurde in den 1720er vor den Reichshofrat getragen; das Verhältnis von Bischof und Domkapitel war deswegen nachhaltig vergiftet, zumal der Streit um die jurisdiktionellen Befugnisse durch konfessionell gefärbte Propaganda überlagert wurde. Für die Domherren stellten die fürstbischöflichen Versuche, sie als Archidiakone in die Schranken zu weisen, eine unerlaubte Behinderung der katholischen Kirche durch den lutherischen Landesherren dar. Entsprechend trumpften sie nach seinem Tode zu Lasten der Vördener auf. Diese führten ihrerseits seit

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Beginn des 18. Jahrhunderts Auseinandersetzungen mit den Archidiakonen wegen Gerichtsrechten28. Das Reichskammergericht jedenfalls befand im Jahre 1730, daß sich keine der beteiligten Parteien wegen der Inneneinrichtung der Voerdener Kirche beklagen könne und verfügte die Fortführung des Baus29. Diese beispielhaft herausgegriffenen Fälle machen deutlich, daß die Konfessionsfrage beziehungsweise die Konfessionsverschiedenheit lokaler Institutionen Auseinandersetzungen um Herrschaftsrechte konfessionell überlagerten und diese so vor die höchsten Reichsgerichte kamen. Dies konnten Institutionen innerhalb eines Territoriums genauso sein, wie benachbarte Herrschaften. Als Herrschaftsrechte sind hier – ganz grob umrissen – Lehensbeziehungen, Steuer- und Abgabenverhältnisse, jurisdiktionelle Rechte, Patronatsrechte u. ä. zu nennen, die in der Frühen Neuzeit eben nicht alle in einer Hand vereinigt waren und die Untertanen sowie die Einwohner in den meisten Gegenden des Heiligen Römischen Reiches in die Lage versetzten, in vielschichtige Herrschaftsstrukturen eingebunden zu sein. Zentrale Argumente in den Reichskammergerichtprozessen, um die es hier gehen soll, wären damit benannt. Es handelt sich bei den hier behandelten Fällen um solche – das sei hier noch ergänzend betont –, die sowohl von Untertanen wie von Herrschaftsträgern gegen (andere) Herrschaftsträger – landsässige wie reichsständische – geführt wurden.

III. Freilich war nicht nur das Reichkammergericht mit dieser Materie befaßt gewesen. Auch der Reichshofrat ist aus den genannten geographischen Räumen intensiver in Fragen konfessionell konnotierter Auseinandersetzungen bemüht worden30. Die Argumentationsmuster ähneln sich vor beiden 28 29 30

An dieser Stelle lediglich der allgemeine Hinweis auf StAOs Rep. 900 Nr. 1.047 I-IV Bundesarchiv Koblenz AR 1/III Nr. 40. Klassisch, aber in seiner moderne Maßstäbe anlegenden definitorischen Strenge wohl zu hinterfragen: WOLFGANG SELLERT, Über die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht, insbesondere in Strafsachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Unters.z.dt.Staats.u.R.Gesch. NF 4), Aalen 1965. Vgl. hierzu auch schon mit anderer Perspektive DERS., Der Reichshofrat, in: Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der Frühen Neuzeit, hg. von BERNHARD DIESTELKAMP, Köln Weimar Wien 1996, 16-44, hier S. 24 ff.

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Gerichten, ganz offensichtlich ist das Gericht „zuständig“ gewesen, das zuerst in die Rechtsstreitigkeiten einbezogen wurde. Hierbei scheinen konfessionelle Vorlieben oder Vorbehalte nur eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Vielmehr waren es oftmals nicht näher zu durchschauende Kontakte oder Beziehungsnetzwerke, die für die Wahl der Gerichtsorte Speyer beziehungsweise Wetzlar oder Wien ausschlaggebend waren, jedenfalls gibt es dafür Hinweise im territorialen Schriftwechsel. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts jedenfalls trat der Reichshofrat ganz deutlich neben das Reichskammergericht in den hier behandelten Fällen, beschäftigte sich aber offenkundig nicht regelmäßig und politischen Konjunkturen folgend, damit. Und anders als Ehrenpreis für die Zeit Kaiser Rudolfs II. herausgearbeitet hat, waren es nicht nur katholische Kläger, die sich nach Wien wandten31. So ist festzuhalten, daß auch Auseinandersetzungen zwischen der Reichsstadt Hall und ihren territorialen Nachbarn oder aus dem Hochstift Osnabrück auch vor dem Reichshofrat landeten und somit beide höchsten Gerichte des Reiches mit Teilaspekten derselben Grundproblematik befaßt waren32. Das nun aufgrund der Reichshofratsordnung von 1654 etablierte Gericht am kaiserlichen Hofe – und hier ist ein Unterschied zur Lage im von Ruthmann behandelten Zeitraum zu sehen, war bis 1806 gleichermaßen etabliert. Die beiden Gerichte scheinen sich in ihrer Rechtsprechung gegenseitig respektiert zu haben und waren bemüht, sich durch widerstreitende Prozeßparteien nicht selber in Konflikt bringen zu lassen33. Ferner spielte auch das Corpus Evangelicorum des Reichstages in diesen Auseinandersetzungen eine nicht unwichtige – und auch unvermutete Rolle, da es bislang in der Literatur zum Alten Reich und zum Reichstag kaum intensiv behandelt worden ist34. Das Corpus Evangelicorum des Reichstages 31

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STEPHAN EHRENPREIS, Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionskonflikt. Der Reichshofrat unter Rudolf II. 1576-1612, Göttingen 2006, hier S. 26. Vgl. dazu DERS., Religionsprozesse vor dem Reichshofrat 1555-1620, in: Juristische Argumentation – Argumente der Juristen, hg. von ALBRECHT CORDES, Köln Weimar Wien 2006, S. 97-125. Als Beleg sei hier beispielhaft Österreichisches Staatsarchiv/Haus-, Hof- und Staatsarchiv RHR Obere Registratur 326-1 („Schwäbischhall Stättmeister und Rat contra den H. Fürsten zu Hohenlohe-Schillingsfürst die Kirchenvisitation zu Untermünkheim betr.“) und HHStA RHR Decisa 456 B 37 („Graf v. Baer als Oberburgmann der ev. Kirche zu Engter im Hochstift Osnabrück contra Provisoren derselben“) herangezogen. HHStA Obere Registratur 61, passim (bezüglich des Prozesses der Stadt Cronenberg gegen den Kurfürsten von Mainz). Für das Corpus Evangelicorum ist noch immer die ältere Schrift von HEINRICH WILHELM VON BÜLOW, Über Geschichte und Verfassung des Corporis Evangelicorum, mit Bezug

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stellte eine seit 1652 regelmäßig tagende Konferenz der protestantischen Reichsstände dar. Lutheraner und Reformierte im Heiligen Römischen Reich scheinen hier ihre Politik koordiniert zu haben. Lutherische und reformierte Reichsstände konnten sich zur nachdrücklichen Vermittlung ihrer Positionen an das Corpus wenden. Auch für die vor das Corpus Evangelicorum getragenen Konflikte gibt es Druckschriften oder die Schreiben an den Kaiser wurden gedruckt und stellen nun eine wichtige Quelle dar. Der Reichshofrat sammelte die Protestschreiben an den Kaiser und verwies in seinen gelegentlichen Beratungen darauf. Sie scheinen mit eine Grundlage der Reichshofratsprozesse in den hier behandelten Problematik gewesen zu sein. Zudem deuten sich wichtige Klientelbeziehungen an, die in die vor dem Corpus Evangelicorum behandelten Fälle eingegangen sind. Vor allem der brandenburgische Kurfürst, respektive der König in Preußen setzte sich für die Belange insbesondere reformierter Stände oder Untertanen ein, wenn diese sich in ihren Rechten beschnitten sahen35. Die Bedeutung, die das Corpus Evangelicorum in diesen Fällen hatte, macht deutlich, daß es hier durchaus um politische Fragen ging. Die Reichsinstitutionen wurden von den Beteiligten instrumentalisiert, um ihre eigenen Positionen zu zementieren, um eine Hinhaltetaktik zu verfolgen oder ähnliches. Das Corpus Evangelicorum diente den Protestanten im Reich als politisches und im rechtlichen, das heißt im extremsten Fall auch rechtsprechenden Sinne agierendes Instrument der Opposition gegen den Kaiser, was zur Voraussetzung hatte, daß die einzelnen Konfliktfälle, konfessionell konnotiert wurden. Diese Politik scheiterte wohl endgültig in der Zeit Kaiser Josephs II. Die politische Brisanz der angesprochenen Streitfälle wird in einer publizistischen Debatte deutlich, die Johann Jakob Moser im Kontext der

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auf die neuesten Verhandlungen, die Sitz- und Stimmordnung der beiden evangelischen Fürsten-Bischöfe zu Osnabrück und Lübeck betreffend, o. O. 1795, heranzuziehen; daneben auch ULRICH BELSTLER, Die Stellung des Corpus Evangelicorum in der Reichsverfassung, Diss. jur. Tübingen 1968; und die jüngeren Studien von GABRIELE HAUGMORITZ, Corpus Evangelicorum und deutscher Dualismus, in: Alternativen zur Reichsverfassung (Anm. 9), S. 189-207; ANDREAS KALIPKE, «Weitläufigkeiten» und «Bedenklichkeiten» – Die Behandlung konfessioneller Konflikte am Corpus Evangelicorum, in: ZHF 35 (2008), 405-447. WOLFGANG NEUGEBAUER, Konfessionelle Klientelpolitik im 17. Jahrhundert: Brandenburg-Preußen und Sayn-Wittgenstein, in: Jb für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands. Zs. für vergleichende und preußische LGesch. 51 (2005), S. 91-108; dERS., Klientel und Protektion. Reichsgrafen und Untertanen aus Sayn und Wittgenstein in ihrem Verhältnis zu Brandenburg-Preußen (17. und frühes 18. Jahrhundert), in: Siegener Beitr. 11 (2006), S. 35-54.

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Reichskammergerichtsvisitation gegen Ende der 1760er Jahre vom Zaun brach, als er forderte, die evangelischen Assessoren des Reichskammergerichts an die Beschlüsse des Corpus Evangelicorum zu binden, sofern sie über Religionsangelegenheiten zu handeln hätten36. Sie sollten bei ihrer Bestallung eidlich vom Corpus darauf verpflichtet werden. Die Meinung des Corpus sollte dadurch als verbindliche Position, als schließlich auch das Reichskammergericht bindende Interpretation des Religionsfriedens und anderer Reichsgesetze manifestiert werden. Katholischerseits wurde dagegen eingewendet, daß dadurch die Gewissensfreiheit der Assessoren, wie sie schon 1495 festgelegt worden sei, aufgehoben würde: Also wird die Freiyheit nach Wissen und Gewissen die Reichsgrundgesetze zu erklären bey den Herren Protestanten offenbar durch einseitige Machtschlüsse gefesselt37. Die hier behandelte Materie, die auch das Reichs-

kammergericht beschäftigte, war also in einem hohen Maße eine politische. Die eingereichten Schriftsätze verdeutlichen eine Dogmatisierung der Auslegung des Westfälischen Friedenssystems und des darin Festgelegten Nebeneinanders der drei zugelassenen Konfessionen. Sie war wichtig für die zahlreichen, nicht immer klar definierten konfessionellen und herrschaftlichen Grenzräume des Heiligen Römischen Reiches und macht die Wirkung des Reichsrechts und der Reichsinstitutionen bis auf die Ebene von Untertanen deutlich. Neben die konfessionellen Streitfälle, mit denen das Reichskammergericht und die anderen Reichsinstitutionen befaßt waren, treten – wie bereits betont – auch solche Fälle, die in den Territorien gelöst wurden, sei es durch Kompromiß, sei es, weil sich eine Seite durchsetzen konnte, ohne etwa das Reichskammergericht einzubeziehen. Die hier vorgestellten, exemplarischen Fälle, in denen es um konfessionell konnotierte Konflikte und um Herrschaftsrechte geht, können dies verdeutlichen. Durch die mittlerweile gute Möglichkeit, die Akten des Reichskammergerichts durch moderne Repertorien zu erschließen, von denen einige der in jüngerer Zeit publizierten, wie etwa das Stuttgarter, sogar Regestencharakter besitzen, bekommt das Reichskammergericht natürlich ein besonderes Gewicht, das es noch exak-

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JOHANN JACOB MOSER, Verbindung derer Evangelischen Reichs-Gerichts-Beysizere an die Schlüsse des Corporis Evangelicorum, Frankfurt Leipzig 1775. Replik auf Herrn Johann Jacob Mosers, königlich-dänischen Etatsraths, Abhandlung von derer Verbindung der evangelischen Reichsgerichtsbeysizer an die Schlüsse des Corporis Evangelicorum, Frankfurt Leipzig 1776.

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ter auszuloten gilt, wenn die Zugriffsmöglichkeiten zu Akten des Reichshofrates ein vergleichbares Niveau erreicht haben, und wenn etwa auch die Akten des Corpus Evangelicorum, die überwiegend in Dresden zu suchen sind, von der Forschung stärker berücksichtigt worden sein werden.

IV. Prozesse in „Religionsangelegenheiten“ haben das Reichskammergericht fast in der gesamten Zeit seiner Existenz begleitet. Sie sind kein ausschließliches Phänomen des Konfessionellen Zeitalters. Wohl aber scheinen Differenzierungen notwendig, da solchen Prozessen aufgrund des in den Westfälischen Friedensverhandlungen weiterentwickelten Rechts des Heiligen Römischen Reiches eine andere Qualität beizumessen ist. Es handelt sich dabei überwiegend um Streitfälle, bei denen die konfessionellen Differenzen auch mit einer spezifischen Polemik, andere grundsätzliche Streitfragen wie solche der Herrschaftsausübung angereichert haben. Durch die Berührung des Religionsrechts des Reiches boten sich den Beteiligten Möglichkeiten, lokale und territoriale Konflikte unter Einbeziehung des Alten Reiches und seiner Institutionen auszutragen. Nicht selten wohnte diesen Streitfällen reichspolitische Sprengkraft inne. Die intensiven Verzeichnungsarbeiten der vergangenen Jahrzehnte an den Akten des Reichskammergerichts ermöglichen nun systematische Zugriffe auf ganz bestimmte Gruppen von Fällen, die dann, wie im hier behandelten Fall, in ihren größeren reichspolitischen Zusammenhängen erfaßt werden können. Die moderne Erschließung der Akten der zentralen Reichsinstitutionen, nicht nur des Reichskammergerichts, eröffnet neue Möglichkeiten für die Reichsgeschichtsschreibung, die seit den 1960er Jahren durch intensive Forschung ein neues Bild vom Alten Reich hervorgebracht hat38. Die Lösung von Stereotypen des 19. Jahrhunderts ist letztlich jedoch nur möglich durch intensive Quellenarbeit. Seit vielen Jahrzehnten wird daran gearbeitet, Forschunsgdesiderata zu den Reichsinstitutionen, seien es der 38

Vgl. hierzu u. a. ANTON SCHINDLING, Kaiser, Reich und Reichsverfassung 1648-1806. Das neue Bild vom Alten Reich, in: Altes Reich, Frankreich und Europa. Politische, philosophische und historische Aspekte des französischen Deutschlandbildes im 17. und 18.Jahrhundert, hg. von OLAF ASBACH / KLAUS MALETTKE / SVEN EXTERNBRINK, Berlin 2001, S. 25-54; SCHNETTGER, Von der „Kleinstaaterei“ zum „komplementären ReichsStaat“. Die Reichsverfassungsgeschichtsschreibung seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Gesch. der Politik (Anm. 5), S. 129-154.

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Reichstag, die Reichsgerichte oder die Reichskreise, aufzuarbeiten. Durch die Pionierarbeiten an den Reichskammergerichtsakten in den vergangenen Jahrzehnten wird der Schwerpunkt reichsgeschichtlicher Forschungsunternehmen, wie dem hier vorgestellten, zumindest in den kommenden Jahren immer wieder auf dem Reichskammergericht liegen müssen, dessen Überlieferung zugleich ein unermeßlich reicher kulturgeschichtlicher Schatz ist.

Winfried Schulze

Streitgegenstände vor dem Reichskammergericht Kommentar

Die Beiträge dieser Sektion betrafen ganz unterschiedliche Rechtsmaterien. Wir haben zunächst von Frau Amend-Traut das bislang nicht sehr intensiv erforschte Feld der zivilrechtlichen Streitigkeiten mit einem interessanten Bündel von Perspektiven und Gegenständen vorgeführt bekommen, die von den Kredit- bis zu den Schuldnerproblemen reichen und damit die ganze Problematik der wirtschaftlichen Ordnung der frühneuzeitlichen Gesellschaft ansprechen. Das ist eine bislang noch unterbelichtete Perspektive auf die Tätigkeit des Reichskammergerichts und umso wertvoller für unsere Diskussion. Wir haben mit dem Beitrag von Ralf-Peter Fuchs noch einmal die Injurienfrage, hier im Rahmen eines Hexenprozesses angesprochen, und wir haben uns im Vortrag von Frank Kleinehagenbrock noch einmal des beliebten Themas der Konfessionsstreitigkeiten angenommen. Hier kann man nur staunen, wie das Thema an Bedeutung wieder gewonnen hat, vor allem für die Epoche nach 1648. Hier liegen inzwischen die Habilitationsschrift von Ralf-Peter Fuchs über die Genese, Bedeutung und Realisierung der Normaljahrsregelung und die inzwischen abgeschlossene Münchener Dissertation von Edith Koller über die Kalenderdebatten im späten 16. und im späten 17. Jahrhundert vor. Das scheint zusammen mit der Habilitationsschrift von Frank Kleinehagenbrock über „Konfessionelle Konflikte nach 1648“ und anderen Arbeiten insgesamt ein deutliches Indiz dafür zu sein, dass die Frage des Nebeneinanders der Konfessionen noch längst nicht abgearbeitet ist, und dass in der Tat die ältere Arbeit über das „unheilige Römische Reich“ eher positive Reaktionen der Forschung hervorgerufen hat. Ich habe mir natürlich Gedanken gemacht – und das ist immer die erste Schritt eines jeden Kommentators: Was fehlte denn heute noch? Die Bauern sind heute Morgen in dem anderen Kontext der Untertanenklagen zumindest erwähnt worden, insofern ist hier keine Kritik anzubringen. Die Judenprozesse fehlen natürlich, über die in letzter Zeit viel gearbeitet worden ist. Diese thematischen Lücken anzuführen scheint mir aber letztlich nicht wei-

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terführend zu sein, denn diese Sektion konnte natürlich exemplarisch nur bestimmte Themenfelder aufgreifen. Stattdessen möchte ich zwei Fragenkomplexe ansprechen, die uns bei der weiteren Diskussion vielleicht behilflich sein können. Ich habe mich zunächst gefragt, wie man die gesamten Rechtsmaterien ordnen könnte, die vor dem Reichskammergericht verhandelt worden sind, und von denen uns in dieser Sektion drei interessante Felder vorgestellt wurden. Mir scheinen es vor allem drei Perspektiven zu sein, die einen ersten Überblick bieten können, und diese möchte ich Ihnen vorschlagen. Das erste Feld sind die Streitigkeiten, die aus fundamentalen Rechtsgarantien erwachsen. Das ist das, was Herr Oestmann behandelt hat, was ich sehr interessant fand, also die Frage von justitia denegata et protracta. Damit sind jene Möglichkeiten angesprochen, durch Zitations- oder Mandatsprozesse gegen die Verletzung solcher Rechte vorzugehen. Es handelt sich hierbei um sehr elementare Rechtsschutzmechanismen, die vom Reichskammergericht entwickelt worden sind. Und wer sich mit Untertanenklagen befasst hat, weiß, welche enorme Wirkung diese Garantien haben konnten, wenn Untertanen ein Mandat gegen die Aktionen ihres Landesherren beantragten und dieser damit in seiner vermuteten „saevitia“ gegen seine Untertanen gebremst wurde. Die zweite Perspektive ist für mich der für das Reich natürlich zentrale Bereich der politisch-konfessionellen Ordnung. Ich habe überlegt, ob ich es politisch-konfessionell nennen soll, denn eigentlich würde ich es am liebsten nur politische Ordnung nennen. Einfach deshalb, weil letztlich, wie Herr Kleinehagenbrock auch deutlich gemacht hat, Konfessionsfragen letztlich gegenüber den zentralen Fragen der Herrschaftsstabilisierung oder –ausweitung sekundäre Fragen sind. Denn man ist ja doch beeindruckt durch die Ranieri'sche Kurve der Frequentierung des Reichskammergerichts. Denn sie führt einem immer wieder vor Augen, in welchem staatlichen und politischen Kontext die Frequentierung erfolgte. Ich glaube, es hängt unmittelbar mit der Durchsetzung des modernen Territorialstaats im Reichsverband zusammen, der dem frühen 16. Jahrhundert seinen Siegeszug antrat und dessen Durchsetzung, ich erinnere an Gerhard Österreich, im späten 16. Jahrhundert und frühen 17. Jahrhundert kulminierte. Die Tatsache jedenfalls, dass die Kurve so dramatisch ansteigt, hat natürlich etwas mit diesem großen Prozess zu tun, und insofern ist das auch Grund dafür, dass ich auch hier gesagt habe, es geht um die politische Ordnung, auch wenn das manchmal nur scheinbar unwichtige, ja marginale Fragen sind, um die gerungen wurde. Und letztlich glaube ich in der Tat, dass es bei diesen Prozessen im

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Kern immer um Abgrenzung und Stabilisierung der Territorialstaaten, ihren weiteren Ausbau und die Klärung von Grenz- und Hoheitsfragen ging. Ich bin dezidiert der Meinung, dass das alles sehr politische Fragen sind, die hier diskutiert wurden, freilich immer aufgeladen von der bekannten katalysatorischen Wirkung, die mit der konfessionellen Frage verbunden war. Die dritte Perspektive wäre das, was wir in dieser Sektion erfreulicherweise auch angesprochen haben, die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft im Rechtssinne. Diese Formation wird hier verhandelt, indem über Wucherfragen diskutiert wird, wenn Kredite gegeben werden, wenn Testamente erstellt und angefochten werden, und alle damit verbundenen Fragen. Die bürgerliche Gesellschaft im Rechtssinne etabliert sich hier, und natürlich erforderte sie bestimmte rechtliche Regelungen, auf die das Reichskammergericht wie auch andere Instanzen in den Territorien eingehen musste. Insofern scheint es mir sinnvoll zu sein, von diesen drei großen Bereichen auszugehen, denen wir das reiche Prozessmaterial zuordnen können, und die uns der Verlegenheit enthebt, immer wieder neue Teilkategorien zu finden. Soweit mein Vorschlag. Eine Zwischenbemerkung möchte ich gerne zu der Frage einschieben, welchen Stand die Reichskammergerichtsforschung erreicht hat. Ich bin ein bisschen durch die Bemerkungen „viele Fragen, wenig Antworten“ dazu veranlasst worden. Ich muss gestehen, dass mich diese Formulierung dreißig Jahre nach Beginn dieser Arbeit an der Erschließung und Auswertung der Reichskammergerichtsakten doch ein wenig beunruhigt. Ich bin ja nicht als Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft hier, aber ich will doch darauf hinweisen, dass man nach einer Generation intensiver Arbeit an diesem Material doch erwarten könnte, dass etwas Konkretes auf den Tisch gelegt wird. In manch speziellen Fall stimme ich natürlich völlig zu, dass in der Tat die Arbeit erst begonnen wurde. In anderen und größeren Bereichen aber meine ich, dass wir in den letzten dreißig Jahren eine Fülle von wichtigen Detailforschungen vorgelegt haben und auch schon doch von einer Neubewertung der Rechtskultur im Heiligen Römischen Reich sprechen können. Die Forschungslinie „Reichskammergerichtsakten“ braucht sich da nicht zu verstecken. Heute Morgen tauchte ja die Frage auf, ob es eine Art von rechtlichem „Sonderweg“ gegeben hat in Deutschland. So problematisch sich die Kategorie des Sonderwegs sonst erwiesen hat, so ist doch ihr unschätzbarer Vorteil, den Blick auf Differenzen in den nationalen Entwicklungen hin zur Mo-

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derne lenken zu können. Ich meine mich an Einschätzungen von Publizisten des späten 18. Jahrhunderts zu erinnern, die doch einen klaren rechtskulturellen Unterschied zwischen dem Reich und anderen westeuropäischen Staaten herausgarbeitet haben: Im Reich sei eben der Herr vor seinen Untertanen sicher, aber genau so seien auch die Untertanen vor den Zumutungen ihrer Herren sicher, dies sei der wohltätige Effekt der Reichsverfassung und vor allem der beiden höchsten Reichsgerichte. Das wird als Errungenschaft des deutschen Rechtssystems herausgestellt, und ich erinnere mich auch an Äußerungen deutscher Landesfürsten, die beim Ausbruch der Französischen Revolutionen ihrer Überzeugung Ausdruck verliehen, das geschehe dem französischen König ganz zu Recht. Im Reich gebe es keinen Despotismus wie in Frankreich. Sicher muss man sich vor einer Überbewertung des Rechtssystems im Alten Reich hüten, aber man wird nicht verkennen dürfen, dass hier ein System von „checks and balances“ durchgesetzt worden war, das schlimmste Auswirkungen der feudalen Herrschaft kontrollieren konnte. Ich möchte daran anschließend auf ein methodisches Problem zur weiteren Einordnung von Prozessen am Reichskammergericht hinweisen, auf das mich der Vortrag von Frau Amend-Traut aufmerksam gemacht hat. Ich will zunächst einmal davon ausgehen, dass eine bestimmte Teilfrage, wie die Entwicklung des Wuchers oder die abnehmende Bedeutung des Wucherparagraphen natürlich auch eine gesamtgesellschaftliche Frage ist, die nicht unbedingt nur aus dem RKG-Material erschlossen werden kann, sondern weiterer Einordnung bedarf. Insofern wäre mein Vorschlag: Wir müssen in der jetzt beginnenden zweiten Phase der RKG-Forschung noch mehr dazu kommen, das RKG-Material nicht nur als alleinige Quelle zu benutzen, sondern es systematisch in den großen Zusammenhang der insgesamt verfügbaren Quellen einordnen. Um an ein bekanntes Beispiel anzuknüpfen: Michel Vovelle hat sich damals in den 60er Jahren der Testamente angenommen und hat aus diesen Dokumenten heraus hoch interessante Ergebnisse z. B. über die Christianisierung und die Dechristianisierung im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts erschlossen. So ungefähr würde ich mir auch das Vorgehen bei der Analyse der Reichskammergerichtsakten vorstellen. Also nicht mehr nur auszugehen von der Rekonstruktion eines Prozesses, einer prozessualen Variante oder der Frage, welche Streitgegenstände wurden vor dem oder welche Personengruppen haben am RKG verhandelt; sondern im Grunde stärker darauf hinzuarbeiten, dass wir große Fragen stellen, also im Sinne von Dechristia-

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nisierung, Werte- und Normenwandel, Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft im Rechtssinne usw. Wenn dann einmal die Bochumer Datenbank (http://www.hoechstgerichtsbarkeit.rub.de), das Material in seiner ganzen Breite zur Verfügung stellen wird, dann werden solche Anfragen an das Material auch sehr viel einfacher zu beantworten sein. Ich richte also an uns alle die Aufforderung, uns nicht mit der Rekonstruktion des wirklich schwierigen Prozessablaufs zufrieden zu geben, obwohl wir alle wissen, wie schwierig es ist, sich durch das Quadrangelgebirge eines Prozesses hindurchzuarbeiten, sondern stärker darauf zu achten, dass in dem Material noch andere Möglichkeiten stecken. Dazu hat diese Sektion ja wichtige Hinweise gegeben. Also einfach die Nutzung gegen den Strich des Materials versuchen, zu fragen, welcher juristische Diskurs läuft hier ab, welche Wirklichkeit der Wirtschaft werden wahrgenommen. Ich würde die Frage gerne noch einmal stellen: Wie verhält sich das Reichskammergericht zur Entwicklung der Marktgesellschaft in Deutschland in der Frühen Neuzeit? Wir haben bislang diese Frage noch kaum gestellt. Aber ich meine, wir sollten uns nicht damit zufrieden geben, nur immer die Detailfragen zu stellen, sondern diese ganz bewusst in den größeren Kontext einzuordnen. Das könnte jedenfalls der weiteren perspektivischen Entwicklung unserer Arbeit und Zusammenarbeit als Rechtshistoriker und Historiker im Bereich der RKG-Forschung einen wichtigen Anstoß geben und wäre dann auch eine Legitimation der weiteren Arbeit auf diesem Feld. Am Schluss aber möchte ich – wie schon angekündigt – noch auf eine Prozessgattung hinweisen, die mir sehr am Herzen liegt und die auch schon von Herrn Sellert kurz angesprochen wurde, als er den Reichsfiskal erwähnte. Wir haben aber nicht gesprochen über die fiskalischen Prozesse, jedenfalls nicht die, die ich meine, die seit dem späten 16. Jahrhundert vom Reichsfiskal gegen säumige Stände geführt wurden. Der wollte natürlich immer „fiskalieren, dass es kracht“, um dem Reich in einer dramatischen Phase seiner äußeren Bedrohung zu einer möglichst hohen Steuerquote zu verhelfen. Ich erwähne die Prozesse nicht nur deshalb, um damit das Bündel der Fragen zu komplettieren, sondern auch deshalb, weil diese fiskalischen Prozesse auch ein Hinweis auf immer gegebene Labilität die Reichsordnung sind. Damit können wieder die allgemeinen Fragen angesprochen werden können, die wir heute an das Reich stellen. Im Übrigen will ich nur kurz darauf verweisen, dass in diesen fiskalischen Prozessen außerordentlich interessante politisch-theoretische Texte entstanden sind, die etwa über die politisch brisante Frage der Gültigkeit von Majoritätsbeschlüssen auf den Reichstagen

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besser Auskunft geben können als die zeitgenössischen Dissertationen zu diesem Thema. Soweit meine Überlegungen zu dem, was wir jetzt an diesem Nachmittag über die Reichskammergerichtsprozesse gehört haben. Die Ausführungen der Sektion sollten uns in der Auffassung bestärken, dass die RKG-Forschung in den letzten 30 Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung genommen hat, dass wir mit den jetzt weitgehend erschlossenen Prozessakten über ein grandioses, vorher fast vergessenes Quellenmaterial verfügen, dieses auch besser benutzen können, und dass damit ein sehr viel besserer Gesamtblick auf die Frühe Neuzeit und wichtige Prozesse dieser Epoche genommen werden kann als dies bisher möglich war.

EVA ORTLIEB

Reichshofrat und Reichskammergericht im Spiegel ihrer Überlieferung und deren Verzeichnung

I. Der „kaiserliche Reichshofrat“1 und das „kaiserliche und des Reichs Kammergericht“2 wurden bereits von den Zeitgenossen – im 18. Jahrhundert – vor allem als eine Art Doppelspitze der Höchstgerichtsbarkeit im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation verstanden. Diese Interpretation beherrschte auch die rechtshistorische und historiographische Auseinandersetzung mit beiden Institutionen im 20. Jahrhundert. Zwar ist bereits in verschiedenen Kurzüberblicken darauf hingewiesen worden, daß der Reichshofrat nicht nur Gericht, sondern auch Regierungs- und Verwaltungsinstitution gewesen sei und mit dem Lehenswesen3, Reichsitalien4 und den kaiserlichen Reservatrechten5 für bestimmte Fragen exklusiv zuständig gewesen sei6. Auch auf die Unterschiede im Prozeßrecht von Reichshofrat und

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So die Bezeichnung des Reichshofrats im Titel des zeitgenössischen Werks von JOHANN CHRISTIAN HERCHENHAHN, Geschichte der Entstehung, Bildung und gegenwärtigen Verfassung des Kaiserlichen Reichshofraths nebst der Behandlungsart der bei demselben vorkommenden Geschäfte, 2 Bde., Mannheim 1792. So die Bezeichnung in dem von JOHANN HEINRICH FRHR. VON HARPPRECHT zusammengestellten Staats-Archiv Des Kayserlichen und des Heiligen Römischen Reichs CammerGerichts, mehrere Teile, Ulm 1757-1768. JEAN-FRANÇOIS NOËL, Zur Geschichte der Reichsbelehnungen im 18. Jahrhundert, in: MÖSTA 21 (1968), S. 106-122; RÜDIGER FRHR. VON SCHÖNBERG, Das Recht der Reichslehen im 18. Jahrhundert (Studien und Qu. zur Gesch. des dt. Verfassungsrechts A/10), Heidelberg, Karlsruhe 1977. MATTHIAS SCHNETTGER, Das Alte Reich und Italien in der Frühen Neuzeit. Ein institutionengeschichtlicher Überblick, in: QFIAB 79 (1999), S. 344-420. JÜRGEN PRATJE, Die kaiserlichen Reservatrechte. Jura caesarea reservata, Jur. Diss. masch. Erlangen 1957; zu den sog. Gnadensachen vor dem Reichshofrat EVA ORTLIEB, Gnadensachen vor dem Reichshofrat (1519-1564), in: Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen, hg. von LEOPOLD AUER / WERNER OGRIS / EVA ORTLIEB (QFHG 53), Köln Weimar Wien 2007, S. 177-202. PETER MORAW, Art. Reichshofrat HRG IV 11990, Sp. 630-638; VOLKER PRESS, Der Reichshofrat im System des frühneuzeitlichen Reiches, in: Geschichte der Zentraljustiz in

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Reichskammergericht wurde hingewiesen7. Obwohl im Allgemeinen auf die Reichskammergerichtsordnung verpflichtet8, habe der Reichshofrat ein wesentlich weniger stark formalisiertes Verfahren ausgebildet, das Raum für politische Erwägungen und Vermittlung gelassen habe, was etwa in der Einsetzung kaiserlicher Kommissionen9 zum Ausdruck komme. Funktional gesehen, erschienen solche Präzisierungen aber von zweitrangiger Bedeutung. Sofern der Reichshofrat als Gericht arbeitete – andere Bereiche seiner Tätigkeit sind wenig erforscht –, wurde er primär in Bezug auf das Reichskammergericht wahrgenommen. Ihre Plausibilität erhält diese Deutung aus der ausgesprochen wirkungsmächtigen Interpretation des Reichs als Dualismus von Kaiser bzw. Reichsoberhaupt auf der einen und Reichsständen auf der anderen Seite. Die Bemühungen der letzten Jahrzehnte, andere Modelle für das Verständnis des Alten Reichs zu entwickeln – vom „politischen System“ von Volker Press10 bis zum „Reichs-Staat“ von Georg Schmidt11 – setzen sich nur langsam und

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Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, hg. von FRIEDRICH BATTENBERG / FILIPPO RANIERI, Weimar, Köln, Wien 1994, S. 349-363; WOLFGANG SELLERT, Der Reichshofrat, in: Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der frühen Neuzeit, hg. von BERNHARD DIESTELKAMP (QFHG 29), Köln Weimar Wien 1996, S. 15-44. WOLFGANG SELLERT, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens (Unters.z.dt.Staats.u.R.Gesch. 18), Aalen 1973. Reichshofratsordnung vom 16. März 1654, Tit. 2 § 8-9: Die Ordnungen des Reichshofrates 1550-1766, hg. von WOLFGANG SELLERT, Bd. 2 (QFHG 8), Köln, Wien 1990, S. 45260, hier 122-128. RAIMUND J. WEBER, Die kaiserlichen Kommissionen des Hauses Württemberg in der Neuzeit, in: Zs. für Württembergische LGesch. 43 (1984), S. 205-236; Martin Fimpel, Reichsjustiz und Territorialstaat. Württemberg als Kommissar von Kaiser und Reich im Schwäbischen Kreis (1648-1806) (FrühNZ-Fg. 6), Tübingen 1999; EVA ORTLIEB, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637-1657) (QFHG 38), Köln Weimar Wien 2001; SABINE ULLMANN, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564-1576) (Veröff. des Inst. für europ. Gesch. Mainz, Abt. Universalgesch. 214), Mainz 2006. VOLKER PRESS, Das römisch-deutsche Reich – ein politisches System in Verfassungs- und sozialgeschichtlicher Fragestellung, in: Spezialforschung und Gesamtgeschichte. Beispiele und Methodenfragen zur Geschichte der frühen Neuzeit, hg. von GRETE KLINGENSTEIN / HEINRICH LUTZ (Wiener Beitr. zur Gesch. der NZ 8), München 1982, S. 221-242, auch in: ders., Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze, hg. von JOHANNES KUNISCH (Hist. Fg. 59), Berlin 1997, S. 18-41. GEORG SCHMIDT, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495-1806. München 1999.

Reichshofrat und Reichskammergericht – Überlieferung und Verzeichnung

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partiell durch – und werden noch langsamer und partieller für die Deutung von Reichshofrat und Reichskammergericht fruchtbar gemacht. So wurde beispielsweise von einer komplementären Funktion der beiden Institutionen gesprochen12. Die Ergebnisse können mit der geradezu klassischen Einfachheit des traditionellen Bilds aber nicht konkurrieren: hier der allein vom Kaiser besetzte und finanzierte, der kaiserlichen Politik verpflichtete Reichshofrat, dort das aus „der Opposition des Adels gegen die Krone“ 13 entstandene, von den Reichsständen beschickte und ein Gegengewicht gegen den kaiserlichen Einfluß bildende Reichskammergericht. Zwar besteht die Pointe dieses Bilds in der Gegenüberstellung konkurrierender Akteure, so daß „Konkurrenz“ zum Leitbegriff der Interpretation ihres Verhältnisses avancierte14. Dahinter verbirgt sich aber die Überzeugung von einer funktionalen Gleichartigkeit der solchermaßen einander gegenübergestellten Institutionen. Belege dafür hat man beispielsweise in ihrer Entstehungsgeschichte zu finden geglaubt. Nachdem das Reichsoberhaupt durch die Gründung des Reichskammergerichts 1495 eine Einschränkung seiner Jurisdiktion habe hinnehmen müssen, habe er sich 1497 mit dem Hofrat eine eigene Institution geschaffen, um seinen Einfluß in der Rechtsprechung im Reich wieder verstärkt zur Geltung bringen zu können15. Als äußerst passend erschien vor diesem Hintergrund, daß sogar die Aktenüberlieferung von Reichshofrat und Reichskammergericht vergleichbare Dimensionen zu erreichen scheint – in beiden Fällen wird von rund 80.000 Prozeßakten ausgegan-

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SIEGRID WESTPHAL, Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648-1806 (QFHG 43), Köln Weimar Wien 2002, S. 6. HEINZ DUCHHARDT, Das Reichskammergericht, in: Oberste Gerichtsbarkeit (Anm. 6), S. 1-13, Zitat S. 3. So beispielsweise der Untertitel eines jüngeren Sammelbands: Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis, hg. von WOLFGANG SELLERT (QFHG 34), Köln Weimar Wien 1999. Diese klassische Deutung findet sich beispielsweise bei HEINZ ANGERMEIER, Die Reichsreform 1410-1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart, München 1984, S. 191-192. Modifikationen an dieser dualistischen Deutung der Entstehung des Reichskammergerichts wurden vor kurzem von MATTHIAS G. FISCHER, Reichsreform im Reichsinteresse? Die Diskussion über eine Reorganisation der Reichsjustiz und die Gründung des Reichskammergerichts im Spannungsfeld kaiserlicher und reichsständischer Interessenpolitik, in: Europa und seine Regionen. 2000 Jahre Rechtsgeschichte, hg. von ANDREAS BAUER / KARL H. L. WELKER, Köln Weimar Wien 2007, S. 263-286, geäußert, aber nicht für die Frage nach der Entstehung des Reichshofrats fruchtbar gemacht.

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gen16. Als sich die Überlegungen zur Neuverzeichnung der Reichshofratsakten in den 1990er Jahren konkretisierten, wurden der zu diesem Zweck entwickelten Datenbank selbstverständlich die sog. Frankfurter Grundsätze zur Verzeichnung der Akten des Reichskammergerichts zugrundegelegt17. Wenig parallel verlief dagegen – der Hinweis darauf bildet inzwischen einen weiteren festen Bestandteil entsprechender Kurzüberblicke – die Geschichte der Erforschung von Reichshofrat und Reichskammergericht – und, so wäre zu ergänzen, die Geschichte der Erschließung der in ihnen erwachsenen Überlieferung. Während nach über dreißig Jahren der Verzeichnung der Akten des Reichskammergerichts Bilanz gezogen wird, steht die Verzeichnung der Reichshofratsakten erst am Anfang. Der vorliegende „Wiener“ Beitrag zur „Speyerer“ bzw. „Wetzlarer“ Bilanz soll darin bestehen, Informationen zur Geschichte der Überlieferung des Reichshofrats nachzutragen (Abschnitt II) und über Erfahrungen aus der Verzeichnung der Reichshofratsakten zu berichten (Abschnitt III). Abschließend sollen mögliche Folgerungen für die Deutung des Verhältnisses von Reichshofrat und Reichskammergericht erwogen werden (Abschnitt IV).

II. Der Reichshofrat wurde, ebenso wie das Reichskammergericht und weitere Reichsinstitutionen, mit der Niederlegung der Kaiserkrone durch Kaiser Franz II. (I.) aufgelöst. Anders als im Fall des Reichskammergerichts, hatte der Kaiser allerdings für das Personal des Reichshofrats und seine Überliefe-

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Für den Reichshofrat LEOPOLD AUER, Das Archiv des Reichshofrats und seine Bedeutung für die historische Forschung, in: Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa, hg. von BERNHARD DIESTELKAMP / INGRID SCHEURMANN, Bonn Wetzlar 1997, S. 117-130, hier 118; DERS., Such- und Erschließungsstrategien für die Prozeßakten des Reichshofrats, in: Reichshofrat und Reichskammergericht (Anm. 14), S. 211-219, hier 215. Nach den Erfahrungen mit der Neuverzeichnung der Reichshofratsakten – die eine ganze Reihe von in den Findmitteln nicht berücksichtigten Fällen hat nachweisen können – wird die Zahl von 70.000 nach oben zu korrigieren sein. Für das Reichskammergericht ANETTE BAUMANN / EVA ORTLIEB, Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit, in: Ad Fontes. Europäisches Forum Junger Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker Wien 2001, hg. von BIRGIT FELDNER u. a., Frankfurt am Main u. a. 2002, S. 23-36, hier 24. EVA ORTLIEB, Die ‚Alten Prager Akten‘ im Rahmen der Neuerschließung der Akten des Reichshofrats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, in: MÖSTA 51 (2004), S. 593634, hier 597-600.

Reichshofrat und Reichskammergericht – Überlieferung und Verzeichnung

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rung Sorge getragen. Während die Reichshofräte weitgehend in die Verwaltung der Habsburgermonarchie wechselten18, wurden die reichshofrätlichen Akten einer speziell zum Zweck ihrer Aufbewahrung und Verwaltung eingesetzten Kommission übergeben19. In gewisser Weise entstand erst jetzt ein eigentliches Archiv des Reichshofrats. Während des Bestehens der Institution waren die Reichshofratsakten zusammen mit zahllosen weiteren Schriftstükken von der Reichskanzlei verwaltet worden. Sie legte verschiedene Registraturen an – darunter die sog. Gratial- und Feudalregistratur sowie die Judizialregistratur, die größtenteils aus Reichshofratsakten bestanden. Über eine eigene Kanzlei verfügte der Reichshofrat – anders als das Reichskammergericht – nicht. Die reichshofrätliche Aktenkommission war insbesondere deswegen eingesetzt worden, weil die Reichshofratsakten nicht nur aufbewahrt und verwaltet werden mußten, sondern auch nachgefragt wurden. Interesse zeigten beispielsweise betroffene Parteien, Behörden oder Gerichte der Staaten des Deutschen Bunds, für die die Akten und die ihnen beiliegenden Beweismittel aus rechtlichen Gründen von Bedeutung waren. Ihre Ansuchen auf Auslieferung wurden von der Aktenkommission bearbeitet. Bis 1840 – dem Jahr der Auflösung der reichshofrätlichen Aktenkommission – bzw. 1849 – der Übernahme in das damalige habsburgische Hausarchiv, heute Haus-, Hofund Staatsarchiv (HHStA) – kam es zu mehreren Aktenauslieferungen. Die Höhe der dadurch entstandenen Verluste für das Reichshofratsarchiv ist bisher nicht exakt beziffert worden, wird aber als vergleichsweise gering eingeschätzt20. Viele der damals ausgelieferten Akten werden heute in verschiedenen Staatsarchiven der Bundesrepublik Deutschland aufbewahrt21.

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In einer Zusatzerklärung Kaiser Franz‘ II. (I.) zur Niederlegung der Kaiserkrone und der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation am 6. August 1806 wurde angekündigt, daß das Personal der aufgelassenen Reichsbehörden – mit Ausnahme des Reichskammergerichts – so weit möglich in die habsburgische Verwaltung übernommen werden sollte: Österreich und das Heilige Römische Reich. Ausstellung des Österreichischen StA, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien 2006, Nr. V/11, S. 105 (Michael Göbl). LOTHAR GROß, Die Reichsarchive, in: Gesamtinventar des Wiener HHStA, hg. von LUDWIG BITTNER, Bd. 1 (Inventare österreichischer staatlicher Archive V. Inventare des Wiener HHStA 4), Wien 1936, S. 273-394, hier 285-295. AUER, Archiv (Anm. 16), S. 117. Die Abgaben wurden in den damals in Gebrauch stehenden Behelfen häufig nicht nachgetragen. So finden sich beispielsweise im Wolfschen Repertorium Eintragungen, zu denen keine Kartonsignatur ermittelt werden konnte – die demnach als verloren gelten. Viele davon lassen sich in den Inventaren der Reichshofratsakten in diversen Staatsarchiven nachweisen. FRIEDRICH BATTENBERG, Reichshofratsakten in den deutschen Staatsarchiven. Eine vorläu-

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Mit der Übergabe in die Obhut der Archivare waren die Verluste für das Reichshofratsarchiv allerdings noch nicht beendet. Im Zuge der Eingliederung in die Bestände des HHStA wurden die Reichshofratsakten mehrfach durchgearbeitet, wobei einerseits nützliche, z. T. bis heute in Gebrauch stehende Inventare entstanden, aber auch zahlreiche, in der Regel nicht entsprechend dokumentierte Umlegungen veranlaßt wurden. Die Reichshofratsakten galten offenbar als eine Art Steinbruch, aus dem sich einerseits andere Bestände des Hauses und die im 19. Jahrhundert so beliebten Selekte bilden und ergänzen ließen, in den andererseits sonst nicht zuordenbare Stücke gewissermaßen entsorgt werden konnten. Reichshofratsakten, die verschiedene Reichsstände betrafen, wanderten in den Bestand „Kleinere Reichsstände“22 oder in die sog. „Nationalia“ der Staatenabteilungen23, unter den Reichsregistern aufgestellte Konzepte der Reichskanzlei Kaiser Karls V. wurden zunächst in verschiedene Serien der Verfahrensakten eingelegt, später wieder herausgenommen und erneut zu einem „Konzeptband“ der Reichsregister vereinigt24, österreichische Bittsteller bzw. Kläger oder Beklagte betreffende Dokumente kamen zu den sog. „Österreichischen Akten“25. Schon vor 1806 – wahrscheinlich in den 1620er Jahren, als der Reichshofrat seine Aufgaben im Institutionensystem der Habsburgermonarchie verlor – waren solche Akten entweder vernichtet oder an die Österreichische Hofkanzlei abgegeben worden, so daß sich die Tätigkeit des Reichshofrats in dieser Funktion heute kaum mehr rekonstruieren läßt26. 1840 wurden die Reichsadelsakten an die Vereinigte Hofkanzlei abgetreten; sie

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fige Bestandsaufnahme, in: Reichshofrat und Reichskammergericht (Anm. 14), S. 221-240; vgl. z.B. TOBIAS FREITAG / NILS JÖRN, Zur Inanspruchnahme der obersten Reichsgerichte im südlichen Ostseeraum 1495-1806, in: Die Integration des südlichen Ostseeraums in das Alte Reich, hg. v. NILS JÖRN / MICHAEL NORTH (QFHG 35), Köln Weimar Wien 2000, S. 39-141, hier 45-46. GROß, Reichsarchive (Anm. 19), S. 341-348. GROß, Deutsche Staaten (Nationalia), in: Gesamtinventar Bd. 1 (Anm. 19), S. 511-528; JOSEF KARL MAYR, Außerdeutsche Staaten, in: Gesamtinventar Bd. 1 (Anm. 19), S. 528-584. LOTHAR GROß, Die Reichsregisterbücher Kaiser Karls V., Wien Leipzig [1930], S. XVIXVII. LOTHAR GROß, Österreichische Akten, in: Gesamtinventar des Wiener HHStA, hg. von Ludwig Bittner, Bd. 4 (Inventare österreichischer staatlicher Archive V. Inventare des Wiener HHStA 7), Wien 1938, S. 1-39. LOTHAR GROß, Reichshofratsprotokolle als Quellen niederösterreichischer Geschichte, in: Jb. für LK von Niederösterreich 26 (1936), S. 119-123; OSWALD VON GSCHLIEßER, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806 (Veröff. der Komm. für neuere Gesch. des ehemaligen Österreich 33), Wien 1942, S. 11-12 mit Anm. 46.

Reichshofrat und Reichskammergericht – Überlieferung und Verzeichnung

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werden heute im Allgemeinen Verwaltungsarchiv in Wien aufbewahrt. Nach 1806 ist es im Reichshofratsarchiv also nicht nur zu Verlusten durch unsachgemäße Lagerung, Schimmel und Delogierungen gekommen27, sondern auch zu tiefgreifenden Eingriffen in die Struktur der Überlieferung. Um diese Überlieferung war es allerdings bereits vor 1806 nicht zum besten bestellt28. Der vergleichsweise häufige Transport – bzw. Teiltransport – der Registraturen der den Kaiser begleitenden Reichskanzlei führte zu Verlusten und Verreihungen. Raumnot zwang zur Anlage immer neuer Aktenserien, was die Übersicht und damit auch die korrekte Aktenbildung nicht gerade erleichterte29. Durch die Bearbeitung der reichshofrätlichen Agenden in einer auch für andere Aufgaben zuständigen Kanzlei konnte es zu Fehlablagen kommen, konnten etwa eigentlich politische Vorgänge in die Überlieferung des Reichshofrats geraten. Darüber hinaus ist zu bedenken, daß die Zuordnung eines Aktenstücks zu einer Registratur – und damit seine weitere Geschichte – von Entscheidungen abhing, die insbesondere in der Frühzeit des Reichshofrats einmal so, einmal anders ausfielen. Als Beispiel können die Supplikationen an den Kaiser in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts dienen, von denen ohne sachliche Gründe einige in den Reichstagsakten – also den politischen Akten –, andere in der Parteienregistratur abgelegt wurden – was prompt zu späteren Fehlinterpretationen führte30. Das Archiv des

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GROß, Reichsarchive (Anm. 19), S. 275-283, dort auch zur Verschleppung der Reichshofratsakten nach Paris infolge einer Anordnung Napoleons. Vergleichsweise geringen Schaden nahm das Reichshofratsarchiv dagegen durch die Auslagerung während des Zweiten Weltkriegs: OTTO FRIEDRICH WINTER, Die „Obere Registratur“ des Reichshofrates 19381954, in: MÖSTA 8 (1955), S. 307-321. HANS KAISER, Die Archive des alten Reichs bis 1806, in: Archivalische Zs. 35 (1925), S. 204-220, hier 209. GROß, Reichsarchive (Anm. 19), S. 300-301. Durch Vermerke oder inhaltliche Ausführungen eindeutig dem kaiserlichen Hofrat zuzuordnende Supplikationen finden sich beispielsweise in HHStA, RK, RTA 19 (Fasz. 3) und 20 (1546). Auch protokollarische Aufzeichnungen aus dem Hofrat wurden nicht einheitlich abgelegt. Sie finden sich heute sowohl in den Reichstagsakten der Reichskanzlei (z. B. „Petiae prothocolli“: HHStA, RK, RTA 16 (1545)) als auch unter den Resolutionsprotokollen des Reichshofrats (HHStA, RHR, Prot. rer. res. XVI). HELMUT NEUHAUS ordnete alle Supplikationen, die er in den Reichstagsakten der Reichskanzlei fand, dem Supplikationsausschuß zu, während er das Archiv des Reichshofrats – in dem zahlreiche vergleichbare Stücke aufbewahrt werden – nicht beachtete. Auf diese Weise kam er zu dem Schluß, daß nur der Reichstag, nicht aber der Kaiser, über ein Gremium verfügt habe, das dergleichen Ansuchen in großer Anzahl zu erledigen in der Lage gewesen sei. Dies habe die zeitweise dominierende Rolle des Reichstages gegenüber dem Kaiser mitbegründet: Helmut Neuhaus, Reichstag und Supplikationsausschuß. Ein Beitrag zur Reichsverfassungsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Schr. zur VerfG 24), Berlin 1977, insbes. S. 191-193.

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Reichshofrats in seiner heutigen Gestalt muß vor diesem Hintergrund als durchaus problematisches Überlieferungscorpus betrachtet werden. Es enthält weder nur Akten, die mit dem Reichshofrat in Zusammenhang stehen, noch – auch abgesehen von den erwähnten Auslieferungen – alle Reichshofratsakten, die sich erhalten haben. Das „Archiv des Reichshofrats“ im HHStA in Wien 31gehört neben den Akten der Reichskanzlei und des Mainzer Erzkanzlerarchivs zu den drei sog. Reichsarchiven des Hauses. Es umfaßt insgesamt rund 13.000 archivalische Einheiten. Dazu gehören verschiedene Reihen von Protokollen, Bestände, die einzelnen Institutionen oder Themen gewidmet sind, sowie insbesondere die Verfahrensakten, die – entsprechend den Tätigkeitsfeldern des Reichshofrats – zwei verschiedenen Registraturen zugeordnet sind. Während die Gratial- und Feudalregistratur rund 1.200 archivalische Einheiten füllt, beansprucht die Judizialregistratur rund 10.000 Kartons. Diese Prozeßakten im engeren Sinn würden in etwa den nach 1806 aufgeteilten und nun weitgehend inventarisierten Akten des Reichskammergerichts entsprechen. Sowohl die Gratial- und Feudalregistratur als auch die Judizialregistratur bilden keine durchgehenden Reihen, die alle relevanten Akten in einem Alphabet versammeln, sondern setzen sich aus zahlreichen Unterserien zusammen, die in sich alphabetisch oder chronologisch geordnet sind. Im Fall der Gratialia und Feudalia erfolgte die Serienbildung in der Regel thematisch,32 bei den Judicialia weisen die verschiedenen Serien meist bestimmte zeitliche Schwerpunkte auf. Zu den meisten Aktenserien existieren eigene Findbücher, die in der Regel die Namen der Verfahrensbeteiligten, die Laufzeit des Vorgangs und einige Stichwörter zum Gegenstand angeben. Ein gemeinsames Repertorium liegt lediglich für einige Serien der Judicialia

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Das Urteil von Neuhaus hat dazu geführt, daß Kaiser und Reichshofrat in der ausgesprochen regen Forschung zu Supplikationen bisher so gut wie unberücksichtigt geblieben sind. Inzwischen liegt aber eine Studie zur Thematik vor: SABINE ULLMANN, Um der Barmherzigkeit Gottes willen. Gnadengesuche an den Kaiser im 16. Jahrhundert, in: Das Reich in der Region während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von ROLF KIEßLING / SABINE ULLMANN (Forum Suevicum 6), Konstanz 2005, S. 161-184; vgl. auch die knappen Bemerkungen bei ORTLIEB, Gnadensachen (Anm. 5), S. 194-197. GROß, Reichsarchive (Anm. 19), S. 285-316; AUER, Archiv (Anm. 16); DERS., Such- und Erschließungsstrategien (Anm. 16). Versammelt wurden beispielsweise: Ärzte- und Arzneiprivilegien, Confirmationes privilegiorum der deutschen und lateinischen Expedition, Geleitbriefe, Laienherrenpfründe, Moratorien oder Tutoria et Curatoria; GROß, Reichsarchive (Anm. 19), S. 305-314.

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vor33. Entstanden sind die Findmittel größtenteils in der Mitte des 19. Jahrhunderts; dazu kommen Repertorien des ausgehenden 18.,34 der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts35 sowie aus den 1950er Jahren36. Zu ergänzen sind die Bestände des Reichshofratsarchivs durch die sog. Verfassungsakten von Reichshofrat und Reichshofkanzlei, die auf Verfassung und Personal bezogenes Material beider Institutionen enthalten37.

III. Die Erschließung des Archivs des Reichshofrats im HHStA vor den Neuerfassungsbemühungen seit Ausgang der 1990er Jahre weist vor allem zwei Defizite auf. Zum einen handelt es sich um ein Problem des Zugriffs auf die vorhandenen Informationen. Da jeder Findbehelf – mit Ausnahme des Wolfschen Repertoriums – nur jeweils eine Aktenserie erfaßt und die Angaben nach lediglich einem Kriterium – in der Regel der Name des Antragstellers/der Antragstellerin – ordnet, setzt das Auffinden aller Akten zu einem Fall sowie das Zusammenstellen von Material zu bestimmten Themen z. T. erheblichen Suchaufwand voraus. Die für einige Serien vorliegenden Zettelkarteien38, die alle im Inventar vorkommenden Namen berücksichtigen – unabhängig davon, ob es sich um Antragsteller/Antragstellerinnen handelt oder nicht – können hier nur sehr begrenzt weiterhelfen. Zum anderen liegt ein echtes Informationsdefizit vor, da die bestehende, von Archivaren zu Ordnungszwecken erarbeitete Verzeichnung nur äußerst knappe, oft nicht leicht verständliche und gelegentlich irreführende Angaben zu den einzelnen Akten enthält. In der Regel begnügten sich die Archivare damit, ein Aktenkonvolut umzuwenden und nach zeitgenössischen Vermerken zu suchen,

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Der Archivbehelf AB I/1, das sog. Wolfsche Repertorium, weist in einem Alphabet Akten der Serien „Decisa“, „Denegata antiqua“, „Denegata recentiora“ und „Obere Registratur“ nach, in Einzelfällen auch der „Antiqua“ und der „Badischen Akten“. AB I/1 (Wolfsches Repertorium), AB I/21 (Antiqua). AB I/17 („Alte Prager Akten“, Zettelkatalog); AB I/19 (Judicialia miscellanea, Zettelkatalog); AB I/22 (Antiqua, Zettelkatalog). Zu einigen Serien der Gratialregistratur liegen maschinenschriftliche Inventare vor, die zumeist über ein Namensregister verfügen, so z. B. AB I/34 (Paßbriefe), AB I/35 (Praebendae regiae, Privilegia varii generis, Promotoriales, Salva guardia, Pardon und Aussöhnung, Patentes und Steckbriefe). GROß, Reichsarchive (Anm. 19), S. 283-285. AB I/17 („Alte Prager Akten“), AB I/39 („Judicialia miscellanea“), AB I/22 („Antiqua“).

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die sie in das Inventar übernahmen. Die innere Ordnung der Akte wurde nicht überprüft, ihr eigentlicher Inhalt – über etwaige Vermerke hinaus – nicht erschlossen. Im Fall der Reichskammergerichtsakten wurden beide Defizite durch die Neuverzeichnung nach Maßgabe der Frankfurter Grundsätze in einem Arbeitsschritt beseitigt oder entscheidend vermindert39. Für das Reichshofratsarchiv hat man sich dagegen entschlossen, neben Neuverzeichnungs- auch Erschließungsprojekte durchzuführen, die primär nicht die vorhandene Information vermehren, sondern besser zugänglich machen sollen. In einem ersten Projekt zur Neuerfassung des Reichshofratsarchivs, das 1999 begonnen wurde, wurden dementsprechend die Angaben des 17bändigen Wolfschen Repertoriums – des wichtigsten Fundbehelfs zu den reichshofrätlichen Judizialakten – in eine Datenbank übertragen40. Der Vorteil des „elektronischen Wolf“ ist offensichtlich. Er läßt sich beliebig nach Jahreszahlen, Namen oder Stichwörtern – getrennt oder in bestimmten Kombinationen – durchsuchen. Die Zusammenstellung von Material, die früher Wochen in Anspruch genommen hätte, kann nun innerhalb kürzester Zeit erfolgen. Bestimmte Fragestellungen lassen sich erst jetzt mit zumutbarem Arbeitsaufwand verfolgen41 – natürlich nur dann, wenn die historischen

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Die Inventare werden von den jeweiligen Verwahrarchiven, z. T. in deren Publikationsreihen, veröffentlicht, erhalten aber eine fortlaufende Nummer als „Inventar der Akten des Reichskammergerichts“. Jeder Bd. gibt in der Regel die bereits erschienenen Bde.an. Übersichten bieten JÜRGEN WEITZEL, Das Inventar der Akten des Reichskammergerichts, in: ZNR 21 (1999), S. 408-416, sowie der Anhang bei BERND SCHILDT, Inhaltliche Erschließung und ideelle Zusammenführung der Prozessakten des Reichskammergerichts mittels einer computergestützten Datenbank, in: ZNR 25 (2003), S. 269-290. Der Aufsatz informiert über das Bochumer Projekt einer rechtshistorisch orientierten Aufbereitung der bestehenden Inventarbände, durch die zugleich ein elektronisches Gesamtinventar der Reichskammergerichtsakten entsteht: http://www.hoechstgerichtsbarkeit.rub.de; zum aktuellen Stand der Inventarisierung der Reichskammergerichtsakten vgl. Anhang 4 in diesem Bd. Das Projekt stand unter der Leitung von HR Prof. Dr. LEOPOLD AUER und wurde überwiegend von der Jubiläumsstiftung der Österreichischen Nationalbank, zuletzt vom MaxPlanck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main, finanziert: ARTHUR STÖGMANN, Die Erschließung von Prozeßakten des Reichshofrats im Haus-, Hofund Staatsarchiv Wien. Ein Projektzwischenbericht, in: MÖSTA 47 (1999), S. 249-265; GERT POLSTER, Die elektronische Erfassung des Wolfschen Repertoriums zu den Prozeßakten des Reichshofrats im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv, in: ebd. 51 (2004), S. 635-649. Das gilt beispielsweise für eine Untersuchung der die Stadt Frankfurt betreffenden Verfahren vor dem Reichshofrat, die wesentlich auf den elektronischen Findmitteln zum Reichshofratsarchiv basiert: EVA ORTLIEB, Frankfurt vor dem Reichshofrat, in: Die

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Behelfe die entsprechenden Informationen enthalten. Darüber hinaus wurden im Rahmen des Projekts die damals aktuellen Kartonsignaturen zu den im Repertorium aufgelisteten Akten ermittelt, sofern das nicht schon in den 1950er Jahren geschehen war. Nicht mehr an ihrem ehemaligen Aufbewahrungsort befindliche Akten sind damit sofort als „fehlend“ zu erkennen; die noch vorhandenen können ohne den früher notwendigen Weg über eine Konkordanz, die oft mehrere mögliche Lagerungsorte angab, direkt bestellt werden – wobei allerdings zu beachten ist, daß sich die Kartonsignaturen für die Serie „Decisa“ durch die kürzlich begonnene Neueinschachtelung erneut geändert haben. Inzwischen wurden weitere Findbücher zu den Aktenserien sowohl der Judizial- als auch der Gratial- und Feudalregistratur nach dem Muster des Wolfschen Repertoriums in Datenbanken übertragen und können elektronisch benützt werden. Neue Möglichkeiten der Erschließung auch des Reichshofratsarchivs bietet die Einrichtung eines sog. Archivinformationssystems für das Österreichische Staatsarchiv, dem das HHStA als Abteilung angehört. Dabei handelt es sich um eine Bestands-Datenbank, die via Internet abgefragt werden kann42. Derzeit steht zum einen eine bestände- und abteilungsübergreifende Suchfunktion zur Verfügung. Zum anderen kann man sich anhand eines Archivplans durch die einzelnen Abteilungen, ihre Bestandsgruppen, Bestände und Serien – teilweise bis auf die Ebene der Einzelakten hinab – bewegen. Die elektronische Erschließung ist derzeit noch nicht abgeschlossen und soll in den kommenden Jahren sukzessive erweitert werden. Das gilt auch für das Reichshofratsarchiv. Während die einzelnen Abteilungen und Serien bereits vollständig im Archivinformationssystem aufscheinen43, läßt sich noch nicht für jede Serie und jeden Karton ermitteln, welche Akten in ihnen enthalten sind. Da die Übertragung der elektronischen Behelfe in das Archivinformationssystem einen zusätzlichen Arbeitsschritt erfordert, sind derzeit noch nicht alle Angaben des „elektronischen Wolf“ im Internet verfügbar. Im Unterschied zu den Behelfdatenbanken bietet das Archivinformationssystem im übrigen keinen Raum für Informationen zu Akten, die in den Findmitteln aufscheinen, ohne an der angegebenen Stelle vorhanden zu

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Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft des Römisch-Deutschen Reichs, hg. von ANJA AMEND u. a. (Bibliothek Altes Reich 3), München 2008, S. 57-76. www.archivinformationssystem.at. Der Pfad führt von „Österreichisches Staatsarchiv“ über „Haus-, Hof- und Staatsarchiv“ und „Reichsarchive“ zum „Reichshofrat“. Die Serien der Judizialregistratur sind unter „Judicialia“ zu finden, die der Gratial- und Feudalregistratur unter „Gratialia et Feudalia“.

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sein – obwohl solche Informationen für bestimmte Fragestellungen durchaus von Bedeutung sein können. Auch für das Archivinformationssystem stellt sich allerdings das Problem des Informationsdefizits. Zwar werden im Rahmen der Vorbereitung der Daten Arbeiten an den Beständen durchgeführt, eine Verzeichnung nach dem Muster der Inventarbände für die Reichskammergerichtsakten kann dabei aber nicht geleistet werden. Die Verzeichnung des Reichshofratsarchivs auch im Hinblick auf die Informationsdichte auf eine neue Grundlage stellt das Projekt zur Neuverzeichnung der sog. Alten Prager Akten, das ebenfalls 1999 begonnen hat und inzwischen auf stark erweiterter Grundlage – neben den Alten Prager Akten werden auch die deutlich umfangreicheren sog. Antiqua erfaßt – fortgesetzt wird44. Dieses Projekt soll für den Reichshofrat im wesentlichen das leisten, was die Neuverzeichnung der Reichskammergerichtsakten für das Reichskammergericht geleistet hat und leistet. Gemäß dem Bild der „Doppelspitze“ wurden die für die Verzeichnung der Reichskammergerichtsakten maßgeblichen Frankfurter Grundsätze auch den Planungen im Vorfeld der Verzeichnung der Reichshofratsakten zugrundegelegt. Zwar umfaßt das Formular der Wiener Verzeichnung einige Kategorien mehr als das Frankfurter Pendant. Die Gründe dafür sind jedoch überwiegend praktischer Natur. So macht die Struktur des Reichshofratsarchivs und seine bisherige Verzeichnung einige zusätzliche Angaben notwendig45. Die Organisation der gemäß Frankfurter Grundsätzen in einem einzigen Feld erfaßten Informationen in mehreren Kategorien erleichtert die Übersicht46. Die einzige echte Erweiterung stellt die Rubrik „Entscheidungen“ dar, in der die Schritte des Reichshofrats, des Kaisers sowie

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WOLFGANG SELLERT, Projekt einer Erschließung der Akten des Reichshofrats, in: Reichshofrat und Reichskammergericht (Anm. 14), S. 199-210; ORTLIEB, ‚Alte Prager Akten‘ (Anm. 17); DIES., Praktische Hinweise, in: Die Akten des kaiserlichen Reichshofrats, hg. von WOLFGANG SELLERT, Serie I: Alte Prager Akten. Bd. 1: A-D, bearb. von EVA ORTLIEB, Berlin 2009, S. 21-32; http://www.uni-goettingen.de/de/sh/48536.html. Die Verzeichnung wird zusätzlich zum Buch in einer kostenpflichtigen Internet-Version angeboten: http://www.RHRdigital.de. Die Datenbank für die Verzeichnung der Reichshofratsakten benötigt ein Feld, in dem die Aktenserie eingetragen werden kann. Die Verzeichnung der „Alten Prager Akten“ weist – im Gegensatz zu der der „Antiqua“ – zusätzlich die Stelle aus, an der das Verfahren im historischen Archivbehelf AB I/16 verzeichnet ist. So werden beispielsweise die Angaben zum Gegenstand bei der Verzeichnung der „Alten Prager Akten“ in zwei Feldern erfaßt – das eigentliche Regest und die zeitgenössische Bezeichnung. Die „Hinweise“ gemäß den „Frankfurter Grundsätzen“ werden in die Felder „Bemerkungen“ und „Überlieferung“ aufgespalten.

Reichshofrat und Reichskammergericht – Überlieferung und Verzeichnung

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anderer Institutionen am Kaiserhof wie des Geheimen Rats oder des Hofkriegsrats dokumentiert werden. Die Verzeichnung der Reichshofratsakten wird durch dieselben Register erschlossen wie die Inventarbände zu den Reichskammergerichtsakten47. Bei der Lokalisierung von Orten und dem Nachweis von Personennamen sind allerdings Einschränkungen zu beachten, die sich aus dem geographisch erheblich weiter gespannten Herkunftsgebiet der im HHStA erhaltenen Reichshofratsakten ergeben. Da die Reichshofratsakten nicht – wie die Reichskammergerichtsakten – nach territorialen Gesichtspunkten aufgeteilt wurden, enthält der Wiener Aktenbestand Betreffe aus dem gesamten Reichsgebiet und darüber hinaus – von Italien bis nach Rußland, von Frankreich bis nach Ungarn48. In vielen Fällen hat sich die beschriebene Vorgehensweise – analog zur Verzeichnung der Akten des Reichskammergerichts – bewährt. Das Formular bietet Raum, um die vor dem Reichshofrat auftretenden Parteien und ihre dort eingetragenen Anwälte – die sog. Agenten – sowie die Laufzeit der Verfahren zu erfassen. Gegenstand und Verlauf des Vorgangs, unter Umständen auch seine Vorgeschichte und die wichtigsten Argumente der Beteiligten – so die bisherige Vorgangsweise – können so detailliert beschrieben werden, daß die Verzeichnung von verschiedenen Arten von Adressaten – Juristen/Juristinnen und Historiker/Historikerinnen, Fachleute und interessierte Laien – benützt werden kann. Durch eine einigermaßen ausführliche Gegenstandsbeschreibung werden vorschnelle, wissenschaftlich nicht gedeckte Kategorisierungen vermieden; die Lesbarkeit wird erhöht. Stücke von besonderem, das betreffende Verfahren nicht selten übersteigendem Interesse – von Urkundenabschriften bis zu Karten – können in einem eigenen Feld ausgewiesen werden. Darüber hinaus erhält der Leser/die Leserin genaue Informationen über den Umfang der betreffenden Akte49 und die für die Bestellung notwendigen Angaben. Allerdings haben sich im Verlauf der Verzeichnungsarbeit Unklarheiten bei der Anwendung des ursprünglich für die Erfassung der Reichskammer-

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Die Verzeichnung wird durch ein Register der Reichshofratsagenten – entsprechend dem Register der reichskammergerichtlichen Prokuratoren –, ein Register der Vorinstanzen, juristischen Fakultäten und Schöppenstühle, ein Personen- und Ortsregister und einen Sachindex erschlossen. Eine chronologische Konkordanz weist zu jedem Jahr die Vorgänge nach, die nach Ausweis der Verzeichnung in diesem Jahr zum erstenmal behandelt wurden. Die Register erscheinen in der Buchausgabe bandweise; in der Internet-Version werden für jede Serie bandübergreifende Register angeboten. Beispiele bei AUER, Such- und Erschließungsstrategien (Anm. 16), 211-214. Angegeben wird die Folienzahl.

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gerichtsakten entwickelten Formulars auf die Reichshofratsakten ergeben. Das betrifft beispielsweise das Feld „Kläger/Klägerin bzw. Antragsteller/ Antragstellerin“. In den bisher erfaßten Akten finden sich häufiger Anfragen oder Berichte von kaiserlichen Amtsträgern im Reich oder sonstigen Korrespondenzpartnern des Reichsoberhaupts, in denen keine Anträge gestellt und mit denen keine Prozesse oder Verfahren eingeleitet wurden. Diese Fälle entsprechen nicht dem Modell des reichsgerichtlichen Prozesses oder Antragsverfahrens, so daß die betreffenden Felder sinngemäß ausgefüllt werden müssen. Berichtet ein kaiserlicher Resident aus einer Reichsstadt, ist es in der Regel nicht sinnvoll, den Residenten als „Kläger bzw. Antragsteller“ auszuweisen – viel eher wird es den Umständen gerecht, die betroffene Reichsstadt in das Feld einzutragen, obwohl sie sich gerade nicht an den Kaiser gewandt hat50l. Äußert ein Reichsstand oder Herrscher seine Auffassung zu einer politischen Entwicklung in seiner Nachbarschaft, erhebt er weder eine Klage noch stellt er einen Antrag51. Entschließt sich der Kaiser, sich zu einer drohenden Auseinandersetzung zu äußern oder Informationen darüber einzuholen, ohne daß dem erkennbar ein „Antrag“ zugrundeliegt, wird man die Akten dennoch nicht unter dem Kaiser als „Kläger bzw. Antragsteller“ führen52. Auch das Ausfüllen des Felds „Beklagte(r) bzw. Antragsgegner / Antragsgegnerin“ läßt Raum für Diskussionen. Wenig problematisch sind diejenigen Fälle, in denen sich Anträge nicht explizit gegen jemanden richteten oder jemand dazu Stellung nahm – etwa Bitten um kaiserliche Empfehlungsschreiben an Dritte, den Antragsteller mit einer Stelle, Pfründe oder Zuwendung zu versorgen oder auf eine Forderung zu verzichten53. Das betreffende Feld kann dann leer bleiben. In vielen Fällen lag der Anrufung des Kaisers allerdings durchaus eine Forderung bzw. Beschwerde zugrunde, die 50

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Insbesondere in den „Antiqua“ konnten solche Berichte nachgewiesen werden: HHStA, RHR, Antiqua 14/7 (Hamburg, 1640), 17/12 (Lübeck, 1688), 19/8 (Lübeck, 1687), 19/9 (Hamburg, undat.), 20/3 (Hamburg, 1702). Ich danke URSULA MACHOCZEK für die Möglichkeit zur Einsichtnahme in das Manuskript des ersten Bands der von ihr erarbeiteten Verzeichnung der „Antiqua“. Vgl. auch Alte Prager Akten Bd. 1 (Anm. 44), Nr. 548 (Bremen, 1676). Z. B. Bericht Ferdinands Erzherzog von Österreich an den Kaiser über Spannungen zwischen dem Administrator des Hochstifts Metz und den Grafen von Hanau-Lichtenberg: HHStA, RHR, Antiqua 21/7 (1582). Z. B. Korrespondenz zwischen dem Kaiser und Maximilian Herzog von Bayern wegen der Ratswahl in Augsburg (1614): HHStA, RHR, APA 5, fol. 289-298 = Alte Prager Akten Bd. 1 (Anm. 44), Nr. 112. Z. B. Alte Prager Akten Bd. 1 (Anm. 44), Nr. 12, 43, 123, 206, 211.

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gegen jemanden erhoben wurde. Sie sollte allerdings nach dem Wunsch des Antragstellers/der Antragstellerin nicht gerichtlich vor dem Reichshofrat verfolgt werden. Vielmehr strebten die Betroffenen an, ihre Angelegenheit durch ein kaiserliches Ermahnungs- oder Fürbittschreiben an andere Stellen – gerichtlich oder außergerichtlich – einer Regelung näherzubringen54. Diejenigen Personen, gegen die der Anspruch erhoben wurde, traten in solchen Fällen meist nicht vor dem Reichshofrat in Erscheinung; es ist vielmehr äußerst zweifelhaft, ob sie überhaupt von der Wendung an das Reichsoberhaupt wußten. Als „Beklagte(r) bzw. Antragsgegner / Antragsgegnerin“ eines Reichshofratsverfahrens lassen sie sich allenfalls in übertragenem Sinn bezeichnen. Nicht jeder Name, der in die Rubriken zur Erfassung der Verfahrensbeteiligten eingetragen werden kann, verweist also auf eine Partei in einem Reichshofratsverfahren. Die in den Frankfurter Grundsätzen für die Register vorgesehene Kennzeichnung der als Parteien auftretenden Personen durch ein Asterisk (*) unterbleibt deswegen in der Verzeichnung der reichshofrätlichen Antiqua. Aufgegeben wurde im Fall der Antiqua auch die Verwendung der Abkürzungen „Kl.“ bzw. „Antragst.“ sowie „Bekl.“ bzw. „Antragsgeg.“ in der Beschreibung des Verfahrensgegenstands. Die Tätigkeit des Reichshofrats als Gericht, als Verwaltungsinstitution des Reichsoberhaupts und als kaiserlicher Rat ging – zumindest im 16. und 17. Jahrhundert – zu sehr ineinander über und ist zu wenig erforscht, als daß sich eindeutige Zuschreibungen in der Verzeichnung rechtfertigen ließen. Die Neuverzeichnung der Reichshofratsakten erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem die Erforschung der Institution und ihrer Tätigkeit – trotz einer bereits nicht mehr leicht zu überschauenden Literatur – in vielen Fragen noch am Anfang steht. Sie verdankt sich gerade dem Bemühen, diese Forschung durch die Verbesserung des Zugangs zu den Akten wesentlich zu erleichtern, in manchen Fällen auch erst zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig sinnvoll, das im Archiv des Reichshofrats Vorgefundene auf der Basis des bisher Bekannten vorschnell zu bewerten. Natürlich ist denkbar, daß die erwähnten Berichte kaiserlicher Amtsträger oder Stücke aus der kaiserlichen Korrespondenz nie den Reichshofrat passierten, sondern aufgrund von Fehlzuschreibungen in der Reichskanzlei oder im Zusammenhang mit späteren Neuordnungen des Materials in das Reichshofratsarchiv gelangten. Eine Klärung dieser Frage mittels der reichshofrätlichen Resolutionsprotokolle kann im Rahmen des Verzeichnungsprojekts

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Z. B. Alte Prager Akten Bd. 1 (Anm. 44), Nr. 136, 149, 186, 236, 247.

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nicht erfolgen und dürfte außerdem in vielen Fällen zu keinem Ergebnis führen, da über die Protokolle selbst und ihre Vollständigkeit – insbesondere im 16. Jahrhundert – zu wenig bekannt ist. Natürlich ist möglich, daß die bei der Verzeichnung auffallenden zahlreichen Anfragen und Ansuchen an den Kaiser, die nicht dem Modell des reichsgerichtlichen Prozesses entsprechen, als Sonderfälle zu behandeln sind. Gesicherte Antworten auf diese Fragen wird aber erst die künftige Forschung zu geben in der Lage sein.

IV. Die geschilderten Unklarheiten bei der Anwendung der für die Inventarisierung der Reichskammergerichtsakten entwickelten Frankfurter Grundsätze auf die Erfassung der Reichshofratsakten lassen sich als Indizien verstehen, die dazu einladen, die Frage des Charakters beider Institutionen und ihres Verhältnisses zueinander neu zu überdenken. Bereits jetzt hat die laufende Verzeichnung der Reichshofratsakten eine ganze Reihe von Vorgängen beschrieben, die dem Reichshofrat – vor dem Hintergrund des Forschungsstands – nicht oder nicht in dem zu Tage tretenden Ausmaß zugeordnet worden wären. Daß auf diese Weise Tätigkeitsfelder sichtbar werden, die bisher kaum wahrgenommen wurden, aber durchaus als charakteristisch für den Reichshofrat – in einer gewissen Epoche seiner Tätigkeit – gelten können, zeigt beispielsweise der Komplex der Supplikationen an den Kaiser. Anders als in der klassisch gewordenen Studie von Helmut Neuhaus angenommen, wurden solche Schreiben vom Reichshofrat bearbeitet, so daß sich ihre Akten in beachtlicher Anzahl im Reichshofratsarchiv finden55. Der Nachweis dieser Vorgänge zeigt nicht nur eine weitgehend neue Facette der kaiserlichen Institution, sondern ermöglicht zugleich, Kaiser und Reichshofrat in die für andere Akteure ausgesprochen intensive Forschungsdiskussion um Supplikationen, Gnade und Fürbitten einzubeziehen56.

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NEUHAUS, Supplikationsausschuß (Anm. 30); ORTLIEB, Gnadensachen (Anm. 5), S. 194197; ULLMANN, Gnadengesuche (Anm. 30). Einen Überblick über den Forschungsstand verschaffen insbesondere mehrere vom Ital.dt. Hist. Institut in Trient herausgegebene Sammelbände: Suppliche e „gravamina“. Politica, amministrazione, giustizia in Europa (secoli XIV-XVIII), hg. von CECILIA NUBOLA, ANDREAS WÜRGLER (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, Quaderni 59), Bologna 2002 (deutsche Fassung 2005); Forme della comunicazione politica in Europa nei secoli XV-XVIII: suppliche, gravamina, lettere. Formen der politischen Kommunikation in Europa vom 15. bis 18. Jahrhundert. Bitten, Beschwerden, Briefe, hg. von CECILIA

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Ähnliches könnte für die ebenfalls in großer Zahl nachweisbaren, vom Reichshofrat behandelten Ansuchen gelten, in denen Antragsteller nicht eigentlich Klage vor dem Kaiser erhoben, obwohl sie Forderungen geltend machten. Statt dessen berichteten sie über Probleme bei den von ihnen eingeleiteten Prozessen bzw. Verfahren vor anderen Gerichten oder Institutionen – in der Regel Verzögerungen, manchmal auch Parteilichkeit oder unbillige Härten. Ihr Antrag zielte nicht darauf, einen Prozeß vor dem Reichshofrat zu führen – wie in Fällen von Rechtsverweigerung, Rechtsverzögerung oder bei Nichtigkeitsbeschwerden, für die der Reichshofrat unabhängig vom Status des Beklagten in erster Instanz zuständig war57. Die Antragsteller baten vielmehr um Ermahnungsschreiben an die betroffenen Obrigkeiten, ihnen zügig zu ihrem Recht zu verhelfen58. Ebenso wie im Fall der Supplikationen handelt es sich um Verfahren, in denen in der Regel einmalige kaiserliche Verfügungen – ohne weiteren Beweis oder Prüfung – angestrebt und vom Reichshofrat entweder bewilligt oder abgelehnt wurden. Das erklärt den geringen Umfang mancher Akte, die lediglich aus dem Antrag und einem Konzept eines entsprechenden kaiserlichen Schreibens bestehen. Die betreffenden Vorgänge machen deutlich, daß die Antragsteller – und die bearbeitenden Reichshofräte – es offenbar für die Aufgabe des Kaisers hielten, nicht durch Prozesse, sondern durch Ermahnungen und Interventionen darüber zu wachen, daß jede/r im Reich auf billige Weise zu seinem Recht kam. In erweitertem Sinn läßt sich dabei von einer Art „Justizaufsicht“ des Kaisers sprechen. Sie beschränkte sich nicht auf die Aufsichts- und Disziplinargewalt über die Reichshofräte59, sondern bedeutete eine allgemeine Aufsichtsfunktion, die der Kaiser über den Reichshofrat wahrnahm.

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NUBOLA / ANDREAS WÜRGLER (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento, Contributi 14. Jb. des ital.-dt. hist. Inst. in Trient, Beitr. 14), Bologna, Berlin 2004. Im Oktober 2008 fand eine Trienter Studienwoche zu einer verwandten Thematik statt: Perdono, grazia, giustizia. Figure della clemenza fra tardo medioeve et età contemporanea. Ein Sammelbd. – der auch einen Beitrag zum Reichshofrat enthalten soll – ist in Vorbereitung. GSCHLIEßER, Reichshofrat (Anm. 26), S. 36. Z. B. Alte Prager Akten Bd. 1 (Anm. 44), Nr. 29 (1605), 75 (1594), 177 (1601), 643 (1616). Weitere Beispiele bei Markus Senn, Der Reichshofrat als oberstes Justizorgan unter Karl V. und Ferdinand I. (1519-1564), in: Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung, hg. von ANJA AMEND / ANETTE BAUMAN / STEPHAN WENDEHORST / SIEGRID WESTPHAL, (QFHG 52), Köln, Weimar Wien 2007, S. 27-39. SELLERT, Reichshofrat (Anm. 6), S. 32-33 (zur „Justizaufsicht des Staates“, verstanden als Aufsichts- und Disziplinarrecht des Kaisers über die Reichshofräte).

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Die beschriebenen Vorgänge, die nicht dem Bild des reichsgerichtlichen Prozesses entsprechen, bei denen es sich aber auch nicht um die als Tätigkeitsfeld des Reichshofrats anerkannten Lehens- und Privilegienangelegenheiten handelt, stoßen in der auf das 18. Jahrhundert konzentrierten Forschung oft auf Überraschung – und gewisse Deutungsschwierigkeiten. Daraus läßt sich schließen, daß es sich dabei um Fälle handelt, die zwar im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert häufiger vorkamen, später aber nicht mehr vor den Reichshofrat gelangten – obwohl auch aus dem 18. Jahrhundert Vorgänge überliefert sind, die nicht dem Modell des reichsgerichtlichen Prozesses entsprechen60. Eine Lektüre der derzeit entstehenden Reichshofratsakteninventare vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Aktenpublikationen und Darstellungen des 18. Jahrhunderts – und der wesentlich auf sie zurückgehenden prozeßrechtlichen Studien – läßt geradezu den Eindruck zweier verschiedener Institutionen entstehen, die einen teilweise unterschiedlichen Arbeitsanfall auf völlig verschiedene Weise behandelten. Die Verzeichnung verweist damit auf eine starke historische Entwicklung des Reichshofrats, die genauer zu erforschen sein wird. Anders als das Reichskammergericht bildete der Reichshofrat seine Arbeitsweise offensichtlich nicht bereits im 16. Jahrhundert im wesentlichen aus, war seine Funktion nicht bereits mit seiner Formierungsphase für die weitere Geschichte des Alten Reichs bestimmt. Für viele von der Neuverzeichnung der Reichshofratsakten aufgedeckte Arbeitsfelder des Reichshofrats gibt es keine Parallele am Reichskammergericht. Dieser Befund spricht dafür, daß die kaiserliche Institution andere Funktionen wahrnahm als das ständisch geprägte Höchstgericht – auch jenseits der stets als Besonderheit des Reichshofrats anerkannten Tätigkeit als Reichslehenshof, kaiserlicher Rat und Verwaltungsbehörde insbesondere für Privilegienangelegenheiten. Daraus ergeben sich neue Aspekte des Verhältnisses zwischen beiden Institutionen. Die Neuverzeichnung hat viele Fälle erfaßt, in denen sich Parteien, die einen Prozeß vor dem Reichskammergericht führten, während des laufenden Verfahrens an den Kaiser wandten. Sie berichteten, mit dem Verlauf des reichskammergerichtlichen Prozesses nicht zufrieden zu sein, und baten um entsprechende Ermahnungsschreiben. Die Tätigkeit von Reichshofrat und Reichskammergericht erscheint in diesen

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Ein Konvolut der Oberen Registratur der reichshofrätlichen Judicialia beispielsweise ist den Gravamina der evangelischen Einwohner von 28 Orten gewidmet, die vor dem Reichstag eingebracht und an den Reichshofrat weitergeleitet worden waren: HHStA, RHR, Obere Registratur 62/2 und /3 (1752-1767).

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Fällen weniger durch den Leitbegriff der Prävention – der in Fällen konkurrierender Zuständigkeit bestimmte, welches Gericht das betreffende Verfahren zu führen hatte – bestimmt als durch das sog. Promotorial, ein kaiserliches Schreiben an die Speyerer Richter, ein Verfahren zügig weiterzuführen61. Insbesondere in der Regierungszeit Kaiser Karls V. wurden Parteien, die den Kaiser angerufen hatten, nicht vor den Hofrat, sondern das Reichskammergericht geladen62. Andere wurden an das Reichskammergericht verwiesen, ohne daß in jedem Fall ein dort bereits laufender Prozeß eine solche Entscheidung nahegelegt hätte63. Gelegentlich haben Antragsteller ihre Anrufung des Kaisers ausdrücklich damit begründet, daß das Reichskammergericht derzeit nicht arbeite und sie deswegen ohne das Eingreifen des Kaisers rechtlos gelassen würden64. Sie nahmen den Reichshofrat als eine Art Ersatzinstitution für ein blockiertes Reichskammergericht wahr – eine Sicht, für die sich auch auf kaiserlicher Seite Belege finden lassen65. Andere Antragsteller verwiesen darauf, nicht auf dem ordentlichen Rechtsweg vorgehen zu wollen und sich deswegen an den Kaiser zu wenden66. Sie versprachen sich offensichtlich von einem außerordentlichen Verfahren – vor dem Reichshofrat oder einer kaiserlichen Kommission – mehr Erfolg. Reichshof-

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Z. B. Alte Prager Akten Bd. 1 (Anm. 44), Nr. 527 (1625), 561 (1562), 650 (1605). Z. B. kaiserliches Mandat mit Ladung in Verfahren Schonfritz contra Esslingen 1532 05 27: HHStA, RHR, Mandate 1 Konv. 1; kaiserliches Mandat mit Ladung in Verfahren Vogler contra Windsheim 1545 [.]: ebd. Konv. 2; kaiserliches Mandat mit Ladung in Verfahren Wrisberg, Christoph von, contra Braunschweig, Heinrich Herzog von, 1549 02 11: ebd. Konv. 3. Z. B. HHStA, RHR, Prot. rer. res. XVI/1a, fol. 5r, 57r, 61r (1544); XVI/2b, fol. 100r (1547); XVI/2c, fol. 10v (1548); XVI/12, fol. 19v (1556); XVI/14, fol. 68r, 89v, 94rv (1559); XVI/17, fol. 7v, 65r, 76v, 83v, 94v, 95r, 101v, 113v (1559); XVI/22, S. 213, S. 230, S. 239 (1564). Z. B. Gottlieb und Konrad Waldstromer in ihrer Klage gegen Bürgermeister und Rat der Stadt Nürnberg wegen Überfalls und der Verletzung von Rechten (1548): HHStA, RHR, Mandate 1 Konv. 3. Auch die von Harpprecht veröffentlichten Akten und Protokolle aus dem Hofrat Karls V. zeigen den Hofrat als eine Art Ersatzinstitution für ein nicht arbeitendes Reichskammergericht: Da das Reichskammergericht noch nicht besetzt war, führte der Hofrat des Reichsoberhaupts Prozesse, die später an das Reichskammergericht abgetreten wurden und auf diese Weise unter die reichskammergerichtlichen Akten gerieten: Harpprecht, Staats-Archiv (Anm. 2), Teil 4 Abt. 2, Nr. 301-307, S. 73-83. Die Brüder Westhofen beispielsweise wurden 1548 geladen, am Reichkammergericht zu erscheinen, oder, so dasselb unser Camergericht zu derselben zeit nicht besetzt were, vor uns oder uns(ern) hofrathen: Kaiser Karl V. an Brüder Westhofen 1548 01 17: HHStA, RHR, Mandate 1 Konv. 2. Antrag von Hieronymus Altpeck wegen seiner Ansprüche an Cecilie von Pappenheim (1561): HHStA, RHR, Commissiones 1 Konv. 1.

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rat und Reichskammergericht erscheinen in diesen Fällen nicht als konkurrierende Höchstgerichte, sondern als Institutionen mit verschiedenen Aufgaben – Aufgaben innerhalb des großen Bereichs der Rechts- und Friedenswahrung im Reich, die zu den genuinen Aufgaben des Kaisers gehörte. Die Neuverzeichnung der Akten des Reichshofrats liefert also nicht nur eine Fülle von Informationen, die bei der wissenschaftlichen Arbeit mit dem Material helfen. Schon indem sie auf Probleme verweist, die die Übertragung der für die Inventarisierung der Akten des Reichskammergerichts entwickelten Frankfurter Grundsätzen auf die Reichshofratsakten machen, fordert sie zu weiterer Forschung und neuen Interpretationen auf. Es besteht daher die Hoffnung, daß die entstehenden Inventarbände – jenseits von Details der Verzeichnung, die nicht alle Benützer gleichermaßen zufriedenstellen werden – für die Reichshofratsforschung in etwa das zu leisten vermag, was die Inventarisierung der Akten des Reichskammergerichts für die Erforschung des Reichskammergerichts bereits geleistet hat und weiter leistet.

SIEGRID WESTPHAL

Dynastische Konflikte der Ernestiner im Spiegel von Reichshofrats- und Reichskammergerichtsprozessen

I. Bis Mitte der 1990er Jahre dominierte in der Reichs- und Verfassungsgeschichte das von Volker Press geprägte Bild der höchsten Gerichte des Alten Reiches als “Bremse des landesfürstlichen Absolutismus”, womit in erster Linie die politische Funktion von Reichskammergericht und Reichshofrat in einem territorial verorteten, frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozess betont wurde1. Das Ziel der Reichsfürsten sei es gewesen, die uneingeschränkte Macht in ihren Territorien auszuüben, alle Zwischengewalten auszuschalten und souverän zu herrschen. Je stärker sich im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts frühmoderne Staatlichkeit in den Territorien entwikkelt habe, desto mehr seien die ständischen, korporativen oder kommunalen Rechte beschnitten worden2. Einzig die höchsten Gerichte als „natürliche Verbündete“ von Landständen und Untertanenverbänden seien in der Lage gewesen3, diesen absolutistischen Bestrebungen entgegen zu wirken, wobei dem Reichshofrat für die Zeit nach 1648 eine größere Wirksamkeit als dem

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VOLKER PRESS, Der Reichshofrat im System des frühneuzeitlichen Reiches, in: Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, hg. von FRIEDRICH BATTENBERG / FILIPPO RANIERI, Weimar, Köln, Wien 1994, S. 349-364, 357. Zusammenfassend PETER MORAW / VOLKER PRESS, Probleme der Sozial- und Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (13. - 18. Jahrhundert). Zu einem Forschungsschwerpunkt, in: ZHF 2 (1975), S. 95-108; vgl. VOLKER PRESS, Das Römisch-deutsche Reich - ein politisches System in verfassungs- und sozialgeschichtlicher Fragestellung, in: Spezialforschung und "Gesamtgeschichte". Beispiele und Methodenfragen zur Geschichte der frühen Neuzeit, hg. von GRETE KLINGENSTEIN / HEINRICH LUTZ (Wiener Beitr. zur Gesch. der NZ 8), München 1982, S. 221-242. MICHAEL HUGHES, The Imperial Aulic Council („Reichshofrat“) as Guardian of the Rights of Mediate Estates in the Later Holy Roman Empire: Some Suggestions for Further Research, in: Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze, hg. von RUDOLF VIERHAUS Veröff. des MPI für Gesch. 56, Göttingen 1977, S. 192-204.

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Siegrid Westphal

Reichskammergericht zugeschrieben wird4. Durch die Rechtsaufsicht der beiden höchsten Gerichte über die innerterritorialen Verfassungsentwicklungen habe sich also die reichsständische Libertät nur sehr eingeschränkt entfalten können5. Diese Entwicklung brachte Press in Anlehnung an Hans Erich Feine mit dem Wiederaufstieg des Kaisertums nach dem Dreißigjährigen Krieg unter Leopold I. in Verbindung6. Der Reichshofrat galt ihm dabei als entscheidendes politisches Instrument des Kaisers. Die oberstrichterliche Funktion des Kaisers bot nach Press die Möglichkeit, die Bestimmungen des Westfälischen Friedens zur Reichs- und Religionsverfassung in der politischen Praxis zugunsten der kaiserlichen Stellung auszulegen7. Kaiser und Reichsstände erschienen so als gegensätzliche Kräfte innerhalb eines dualistisch strukturierten Reichsverbandes. Prozesse an den Reichsgerichten und insbesondere am Reichshofrat galten der Forschung als Indikatoren, die das Ringen um die Ausgestaltung der Reichsverfassung und um die Vormacht im Reich sichtbar machten8. Reichsgerichtliche Konfliktregu-

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Vgl. zur Verfassungsentwicklung nach 1648: HANS ERICH FEINE, Zur Verfassungsentwicklung des Heiligen Römischen Reiches seit dem Westfälischen Frieden, in: ZRG GA 52 (1932), S. 65-133; ARNO BUSCHMANN, Kaiser und Reichsverfassung. Zur verfassungsrechtlichen Stellung des Kaisers am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Heiliges Römisches Reich und moderne Staatlichkeit, hg. von WILHELM BRAUNEDER, Frankfurt am Main 1993, S. 41-66; VOLKER PRESS, Die kaiserliche Stellung im Reich zwischen 1648 und 1740 - Versuch einer Neubewertung, in: Stände und Gesellschaft im Alten Reich, hg. von Georg Schmidt (Veröff. des Inst. für europ. Gesch. Mainz Beih. 29), Stuttgart 1989, S. 51-80; SIGRID JAHNS, Die Reichsjustiz als Spiegel der Reichs- und Religionsverfassung, in: 1648 - Krieg und Frieden in Europa, TextBd. I: Religion, Recht und Gesellschaft, hg. von KLAUS BUßMANN / HEINZ SCHILLING, Münster 1998, S. 455-463. BERNHARD DIESTELKAMP, Reichskammergericht und Reichshofrat im Spannungsfeld zwischen reichsständischer Libertät und habsburgischem Kaisertum (Ferdinand I. bis Leopold I.), in: Reichsständische Libertät und habsburgisches Kaisertum, hg. von HEINZ DUCHHARDT / MATTHIAS SCHNETTGER (Veröff. des Inst. für europ. Gesch. Mainz Beih. 48), Mainz 1999, S. 185-194, 194. PRESS, Reichshofrat (Anm. 1), 356; VOLKER PRESS, Österreich und Deutschland im 18. Jahrhundert, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 42 (1991), S. 737-741; vgl. Feine, Verfassungsentwicklung (Anm. 4), 79. PRESS, Reichshofrat (Anm. 1), 362. Vgl. FRIEDRICH HERTZ, Die Rechtsprechung der höchsten Reichsgerichte im römischdeutschen Reich und ihre politische Bedeutung, in: MIÖG LXIX (1961), S. 331-358. Eine Zusammenfassung verschiedener politischer Aspekte der reichsgerichtlichen Tätigkeit bietet: Die politische Funktion des Reichskammergerichts, hg. von BERNHARD DIESTELKAMP (QFHG 24), Köln, Wien 1993 sowie der Ausstellungskatalog: Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, hg. von INGRID SCHEURMANN, Mainz 1994; vgl. des weiteren die Forschungsüberblicke bei: BERNHARD DIESTELKAMP, Tenden-

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lierung wurde vor allem als Fortsetzung dieses politischen Grundkonflikts mit rechtlichen Mitteln begriffen9. Dieser Blick auf Reichskammergericht und Reichshofrat hatte auch eine in der Forschung begründete Ursache: Die starke Betonung von sogenannten politischen Prozessen, worunter Volker Press folgende sieben Typen fasste: „1. Untertanen contra Landesherren, 2. Landstände contra Landesherren, 3. Kapitel contra Bischof oder Prälaten, 4. Erbstreitigkeiten, 5. Schuldenprozesse der Herren, 6. Rat contra Gemeinde in den Reichsstädten, 7. oft mit einem der erstgenannten Typen der Auseinandersetzungen untrennbar verbunden – konfessionelle Konflikte“10. Trotz dieses umfassenden Katalogs konzentrierte sich die Forschung vor allem auf Konflikte, bei denen die Reichsstände vorwiegend als Beklagte und Leidtragende der kaiserlichen Rechtsprechung betrachtet wurden, also nach Press Typ 1 und 2 (Landstände/Untertanenklagen)11. Die zahlreichen

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zen und Perspektiven in der Erforschung der Geschichte des Reichskammergerichts, in: Recht und Gericht im Heiligen Römischen Reich, hg. von BERNHARD DIESTELKAMP (IusCommuneSH 122), Frankfurt am Main 1999, S. 277-282; DERS., Ungenutzte Quellen zur Geschichte des Reichskammergerichts. Unbearbeitete Forschungsfelder, in: Een Rijk Gerecht, hg. von PAUL L. NÈVE, Nijmegen 1998, S. 115-130; KARL HÄRTER, Neue Literatur zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, in: IusCommune 21 (1994), S. 215-240; JÜRGEN WEITZEL, Ius publicum in den Prozessen vor dem Reichskammergericht, in: BDLG 131 (1995), S. 171-187; LEOPOLD AUER, Das Archiv des Reichshofrats und seine Bedeutung für die historische Forschung, in: Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa, hg. von BERNHARD DIESTELKAMP / INGRID SCHEURMANN, Bonn, Wetzlar 1997, S. 117-127; SIEGRID WESTPHAL, Zur Erforschung der Reichsgerichtsbarkeit - eine Zwischenbilanz. In: Jb. der hist. Fg. 1999, S. 15-22; DIES., STEFAN EHRENPREIS, Stand und Tendenzen der Reichsgerichtsforschung, in: Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, hg. von ANETTE BAUMANN / SIEGRID WESTPHAL / STEPHAN WENDEHORST / STEFAN EHRENPREIS u. a. (QFHG 37), Köln Weimar Wien 2001, S. 1-13; ANETTE BAUMANN / EVA ORTLIEB, Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit, in: Ad Fontes, hg. von BIRGIT FELLNER u. a., Frankfurt am Main u. a. 2002, S. 23-36; EVA ORTLIEB / SIEGRID WESTPHAL, Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich - Einführung. In: zeitenblicke 3, 2004, Nr. 3 [13.12.2004]. Vgl. SIEGRID WESTPHAL, Der Reichshofrat – kaiserliches Machtinstrument oder Mediator? in: Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen, hg. von LEOPOLD AUER / WERNER OGRIS / EVA ORTLIEB (QFHG 53), Köln Weimar Wien 2007, S. 115-137). PRESS, Stellung (Anm. 4), 70. MICHAEL HUGHES, Law and Politics in Eighteenth Century Germany: the Imperial Aulic Council in the Reign of Charles VI., Woodbridge 1988; GABRIELE HAUG-MORITZ, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus. Ein Beitrag zur Geschichte des Reichsverbands in der Mitte des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1992; DIES., Die Behandlung des württembergischen Ständekonflikts unter Herzog Carl Eugen durch den Reichshofrat

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Aufstände und Revolten im Alten Reich wurden „als retardierendes Element im von "oben", also den Fürsten und ihren Höfen und Räten, initiierten und vorangetriebenen Staatsbildungsprozess wahrgenommen"12. Hier bot insbesondere die Protest- und Konfliktforschung den Ausgangspunkt, nach einer spezifisch deutschen Tradition des Widerstands und Widerstandsrechts zu suchen, die man im Bauernkrieg und den anschließenden Untertanenaufständen fand13. Zentral war dabei die Erkenntnis, dass Untertanenverbände und Korporationen ihren Landesherren keinesfalls schutzlos ausgeliefert waren, sondern vielfach Widerstand leisteten. Prägend wirkte hier das von Winfried Schulze entwickelte Konzept der Verrechtlichung sozialer Konflikte, worunter eine Verlagerung des gewaltsamen Konfliktaustrags zwischen Obrigkeit und Untertanen auf den Rechtsweg verstanden wird14.

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(1763/64-1768/70), in: Die politische Funktion des Reichskammergerichts, hg. von BERNHARD DIESTELKAMP (QFHG 24), Köln, Wien 1993, S. 105-133; vgl. den Forschungsüberblick zu Untertanenunruhen bei WERNER TROßBACH, Bauern 1648-1806 (EdG 19), München 1993 sowie bei KARL S. BADER / GERHARD DILCHER, Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt. Bürger und Bauern im Alten Europa (Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft: Abt. Rechtswissenschaft), Berlin Heidelberg New York 1999; WERNER TROßBACH, Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg- Gebiet 1648-1806. Fallstudien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich (Qu. und Fg. zur hessischen Gesch. 52), Darmstadt, Marburg 1985; RITA SAILER, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (QFHG 33), Köln Weimar Wien 1999; RALF FETZER, Untertanenkonflikte im Ritterstift Odenheim vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des Alten Reiches (Veröff. der Komm. für Gesch. und LK in Baden-Württemberg: Reihe B Fg. 150), Stuttgart 2002. Zu städtischen Verfassungskonflikten: THOMAS LAU, Bürgerunruhen und Bürgerprozesse in den Reichsstädten Mühlhausen und Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit (Freiburger Studien zur frühen NZ 4), Bern 1999. MARKUS MEUMANN / RALF PRÖVE, Die Faszination des Staates und die historische Praxis. Zur Beschreibung von Herrschaftsbeziehungen jenseits teleologischer und dualistischer Begriffsbildungen, in: Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamischkommunikativen Prozesses, hg. von MARKUS MEUMANN / RALF PRÖVE (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen NZ 2), Münster 2004, S. 11-49, 37. HORST BUSZELLO, Deutungsmuster des Bauernkriegs in historischer Perspektive, Der deutsche Bauernkrieg, hg. von PETER BLICKLE / HORST BUSZELLO / RUDOLF ENDRES, Paderborn München Wien Zürich 31995, S. 11-22; WINFRIED SCHULZE, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit (NZ im Aufbau 6), Stuttgart-Bad Cannstadt 1980; Widerstandsrecht im Europa der Frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich, hg. von ROBERT VON FRIEDEBURG (ZHF Beih. 26), Berlin 2001. WINFRIED SCHULZE, Einführung in die Neuere Geschichte, Stuttgart 1987, hier S. 61ff; ders., Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert, in: Der deutsche Bauernkrieg 1524-1526, hg. von HANS-ULRICH WEHLER, Göttingen 1975, S.

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An diesen grundlegenden Ergebnissen der Forschung soll nicht gerüttelt werden. Vielmehr bleibt es eine wichtige Erkenntnis, dass Reichskammergericht und Reichshofrat eine Konfliktregulierung auf rechtlichem Wege ermöglicht haben, vielfach zur Befriedung von Untertanen- oder Ständekonflikten beigetragen und für bestimmte Gruppen der ständischen Gesellschaft eine Rechtsschutzfunktion ausgeübt haben15. Aber so überzeugend die damaligen Thesen zur politischen Funktion der Reichsgerichtsbarkeit nach 1648 auf den ersten Blick erscheinen, ergeben sich doch auf den zweiten Blick eine Reihe von Widersprüchen. Zum einen hat schon Gschließer darauf aufmerksam gemacht, dass nicht nur katholische, sondern auch protestantische Reichsstände den Reichshofrat in zahlreichen Angelegenheiten als Rechtsuchende und Kläger in Anspruch nahmen, ungeachtet der Bemühungen des Corpus Evangelicorum, das kaiserliche Gericht als parteiisch zu diskreditieren16. Zum anderen haben erste umfangreichere quantitative Analysen des Prozessaufkommens an beiden höchsten Gerichten gezeigt, dass die bisher untersuchten politischen Prozesse des Typs 1 und 2 nur einen äußerst geringen prozentualen Anteil des Prozessaufkommens an beiden Gerichten ausmachten. Weitaus umfangreicher waren Verfahren im Bereich Familienverband und Geldwirtschaft, die

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277-302; vgl. für die städtischen Unruhen nach dem Dreißigjährigen Krieg: CHRISTOPHER R. FRIEDRICHS, German Town Revolts and the Seventeenth-Century Crisis, in: Renaissance and Modern Studies 26 (1982), S. 27-51 Vgl. JESSICA JACOBI, Besitzschutz vor dem Reichskammergericht (RhistR 170), Frankfurt am Main 1998; BERNHARD RUTHMANN, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht (1555-1648): eine Analyse anhand ausgewählter Prozesse (QFHG 28), Köln Weimar Wien 1996; BRITTA GEHM, Die Hexenverfolgung im Hochstift Bamberg und das Eingreifen des Reichshofrats zu ihrer Beendigung (Rechtsgeschichte und Zivilisationsprozeß 3) Hildesheim, Zürich, New York 2000; PETER OESTMANN, Hexenprozesse am Reichskammergericht (QFHG 31), Köln Weimar Wien 1997; RALF-PETER FUCHS, Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht 1525-1805 (ForschRegGesch 28), Paderborn 1999; FRIEDRICH BATTENBERG, Das Reichskammergericht und die Juden des Heiligen Römischen Reiches. Geistliche Herrschaft und korporative Verfassung der Judenschaft in Fürth im Widerspruch (SchrRGesRKGForsch 13), Wetzlar 1992; BARBARA STAUDINGER, Die Resolutionsprotokolle des Reichshofrats als Quelle zur jüdischen Geschichte, in: BAUMANN u. a., Prozeßakten (Anm. 8), S. 119-140; STEFAN EHRENPREIS / ANDREAS GOTZMANN / STEPHAN WENDEHORST, Von den Rechtsnormen zur Rechtspraxis: Ein neuer Zugang zur Rechtsgeschichte der Juden im Heiligen Römischen Reich? Eine Projektbeschreibung, in: Aschkenas 11 (2001), S. 39-58; SIEGRID WESTPHAL (Hg.), In eigener Sache. Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches, Köln Weimar Wien 2005. OSWALD VON GSCHLIEßER, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806, Wien 1942.

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zum großen Teil aus politischen Prozessen der Typen 4 (Erbstreitigkeiten) und 5 (Schuldenprozesse der Herren) bestehen17. Auf Klagen im Bereich der Geldwirtschaft läßt sich das Schema „Beherrschte klagen gegen Herrschende“ durchaus noch anwenden, weil häufig völlig überschuldete Reichstände von einer Vielzahl von Gläubigern aus allen Schichten per Gericht zur Bezahlung ihrer Schulden angemahnt wurden. Falls sie dazu nicht in der Lage waren, konnten Schuldenklagen auch in eine kaiserliche Debit- und Administrationskommission münden, die einer Teilentmachtung eines regierenden Landesherrn gleichkam.18 Anders sieht es jedoch bei Verfahren im Bereich des Familienverbandes aus, da es sich hier in der Regel um Konflikte handelte, die sich innerhalb eines Hauses oder einer Dynastie abspielten, Kläger sowie Beklagter in der Regel also Familienmitglieder waren und somit alle Verfahrensbeteiligten dem herrschenden Stand angehörten. Da diese Verfahren zudem nach den Verfahren aus dem Bereich Geldwirtschaft in allen quantitativen Analysen den größten Umfang ausmachen, wirft allein die Größenordnung ein neues Licht auf die Inanspruchnahme der höchsten Gerichte. Zentral ist die dadurch gewonnene Erkenntnis, dass Reichskammergericht und Reichshofrat 17

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TOBIAS FREITAG / NILS JÖRN, Zur Inanspruchnahme der obersten Reichsgerichte im südlichen Ostseeraum 1495-1806, in: Integration im Ostseeraum und im Heiligen Römischen Reich, hg. von NILS JÖRN / MICHAEL NORTH (QFHG 35), Köln Weimar Wien 2000, S. 39-141; ANETTE BAUMANN, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert (QFHG 36), Köln Weimar Wien 2001, S. 84-91; EVA ORTLIEB, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637-1657) (QFHG 38), Köln Weimar Wien 2001; SIEGRID WESTPHAL, Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648-1806 (QFHG 43), Köln Weimar Wien 2002, S. 41-80. WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), 256-431; ERNST SCHILLY, Die Tätigkeit der Kaiserlichen Schuldentilgungskommission und der Manutenenzkommission des Markgrafen Karl Friedrich von Baden-Durlach in der nassau-saarbrückischen Schuldensache 1770, in: Zs. für Gesch. der Saargegend 20 (1972), S. 84-120; VOLKER PRESS, Die aufgeschobene Mediatisierung. Finanzkrise der Kleinstaaten und kaiserlichen Stabilisierungspolitik, in: Bericht über die 32. Versammlung deutscher Historiker in Hamburg, Stuttgart 1979, S. 139-141; HANS HATTENHAUER, Das Heilige Römische Reich als Konkursverwalter (Münstrische juristische Vorträge 1), Münster 1998; DERS., Schuldenregulierung nach dem Westfälischen Frieden. Der sog. § de indaganda und seine Umsetzung im Jüngsten Reichsabschied (AD 1648 und 1654), Frankfurt am Main u. a. 1998; SUSANNE HERRMANN, Die Durchführung von Schuldenverfahren im Rahmen kaiserlicher Debitkommissionen im 18. Jahrhundert am Beispiel des Debitwesens der Grafen von Montfort, in: Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis, hg. von WOLFGANG SELLERT (QFHG 34), Köln Weimar Wien 1999, S. 111-127.

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nicht in erster Linie Gerichte waren, die in Folge von politischen Prozessen wie Untertanenklagen oder Ständekonflikten den Einfluss der Reichsstände in ihren Herrschaftsterritorien zurückdrängen sollten. Ausgehend vom Konzept der Justiznutzung erscheinen beide vielmehr als Gerichte19, die zahlreiche Reichsstände aktiv in Anspruch nahmen, um innerfamiliäre bzw. innerdynastische Auseinandersetzungen im Bereich Familienverband zu bewältigen. Der Schwerpunkt liegt damit auf den Angehörigen des Adels als Gerichtsnutzern und auf Auseinandersetzungen, die innerhalb eines adligen Familienverbandes ausgetragen wurden. Dabei kann es sich um ein ganzes Bündel von Konflikten handeln, von denen bisher nur wenige näher untersucht wurden. Dazu zählen Erbstreitigkeiten20, das Problem unstandesgemäßer Beziehungen21, Ehekonflikte bis hin zu Scheidungsfällen22 oder diverse Unterhaltsansprüche (Witwenversorgung)23. Es ist schon verwunderlich, dass die Adelsforschung der Frühen Neuzeit seit einigen Jahren eine Konjunktur erlebt24, sich aber bisher nur wenig mit

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Zum Konzept der Justiznutzung vgl. MARTIN DINGES, Frühneuzeitliche Justiz. Justizphantasien und Justiznutzung am Beispiel von Klagen bei der Pariser Polizei im 18. Jahrhundert, in: Vorträge zur Justizforschung, Bd. 1, hg. von HEINZ MOHNHAUPT / DIETER SIMON, Frankfurt am Main 1992, S. 269-292; DERS., Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, hg. von ANDREAS BLAUERT / GERD SCHWERHOFF, Konstanz 2000, S. 503-544; FRANCISCA LOETZ, L’infrajudiciaire. Facetten und Bedeutung eines Konzepts, in: BLAUERT / SCHWERHOFF, Kriminalitätsgeschichte (Anm. 19), S. 545-564. Vgl. WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 81-255; Emanuel Prinz zu Salm-Salm, Die Entstehung des fürstlich Salm-Salmschen Fideikommisses unter besonderer Berücksichtigung der vor den höchsten Reichsgerichten geführten Prozesse bis zum Pariser Brüdervergleich vom 5. Juli 1771 (Ius vivens Abt. 2, Rechtsgeschichtliche Abhandlungen 3), Münster 1996; WALTER JUNGE, Leibniz und der Sachsen-Lauenburgische Erbfolgestreit, Hildesheim 1965; GUSTAV ÜBERHORST, Der Sachsen-Lauenburgische Erbfolgestreit bis zum Bombardement Ratzeburgs 1689-1693, Berlin 1915. MICHAEL SIKORA, Ungleiche Verbindlichkeiten. Gestaltungsspielräume standesverschiedener Partnerschaften im deutschen Hochadel der Frühen Neuzeit, in: zeitenblicke 4 (2005), Nr. 3, [13.12.2005], URL:http://www.zeitenblicke.de/2005/3/Sikora/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-2301; STEPHANIE MARRA, Allianzen des Adels. Dynastisches Handeln im Grafenhaus Bentheim im 16. und 17. Jahrhundert, Köln Weimar Wien 2007 SIEGRID WESTPHAL, Ehen vor Gericht – Scheidungen und ihre Folgen am Reichskammergericht (SchrRGesRKGForsch 35), Wetzlar 2008. Witwenschaft in der Frühen Neuzeit. Fürstliche und adlige Witwen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung, hg. von MARTINA SCHATTKOWSKY, Leipzig 2003. Vgl. die Forschungsüberblicke: RONALD G. ASCH, Europäischer Adel in der Neuzeit. Eine Einführung, Köln Weimar Wien 2008; RUDOLF ENDRES, Adel in der Frühen Neuzeit (EdG 18), München 1993.

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den Konflikt beladenen und vor Gericht ausgetragenen innerdynastischen Dynamiken auseinandergesetzt hat25. Gerade vor dem Hintergrund der florierenden Adelsforschung böte es sich künftig an, die intensive Nutzung der höchsten Gerichte durch den Adel eingehender zu untersuchen und als weiteren Schlüssel zur Dechiffrierung der Vorstellungs- und Wertewelt dieser elitären sozialen Gruppe zu begreifen26. Denn nach wie vor gilt, dass für den Adel die Dynastie- und Herrschaftssicherung das zentrale Ziel darstellte, wofür in hausgesetzlichen Regelungen verschiedenste Mechanismen entwickelt und den Dynastieangehörigen die Unterwerfung unter diese Mechanismen (dynastische Räson) abverlangt wurde.27 Dies geschah im Rahmen eines komplexen Beziehungsgeflechts aller männlichen und weiblichen Dynastieangehörigen28, was in den seltensten Fällen reibungslos vonstatten ging. Vielmehr ist davon auszugehen, dass innerdynastische Konflikte entscheidende Bedeutung im Kontext der Herrschaftssicherung besaßen, wobei sich stabilisierende wie destabilisierende Wirkungen die Waage halten dürften. Besonders signifikant ist dies

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Vgl. REINHARD STAUBER, Staat und Dynastie. Herzog Albrecht IV. und die Einheit des „Hauses Bayern“ um 1500, in: ZBLG 60 (1997), S. 539-565. Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Frühen Neuzeit, hg. von HEIKE DÜSELDER / OLGA WECKENBROCK / SIEGRID WESTPHAL, Köln Weimar Wien 2008. Die Hausgesetze der regierenden deutschen Fürstenhäuser, 3 Bde., hg. von HERMANN SCHULZE, Jena 1862-1883; HEINZ MOHNHAUPT, Die Lehre von der „Lex Fundamentalis“ und die Hausgesetzgebung europäischer Dynastien, in: Der dynastische Fürstenstaat. Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates, hg. von JOHANNES KUNISCH (Historische Fg. 21), Berlin 1982, S. 3-33; JÜRGEN WEITZEL, Die Hausnormen deutscher Dynastien im Rahmen der Entwicklungen von Recht und Gesetz, in: KUNISCH, Fürstenstaat (Anm. 27), S. 35-48; vgl. KARL-HEINZ SPIEß, Erbteilung, dynastische Räson und transpersonale Herrschaftsvorstellung. Die Pfalzgrafen bei Rhein und die Pfalz im späten Mittelalter, in: Die Pfalz. Probleme einer Begriffsgeschichte vom Kaiserpalast auf dem Palatin bis zum heutigen Regierungsbezirk, hg. von FRANZ STAAB, Speyer 1990, S. 159-181; WOLFGANG E. WEBER, Dynstiesicherung und Staatsbildung. Die Entfaltung des frühmodernen Fürstenstaates, in: Der Fürst: Ideen und Wirklichkeiten in der europäischen Geschichte, hg. von WOLFGANG E. WEBER, Köln Weimar Wien 1998, S. 91-136, 103. HEIDE WUNDER, Einleitung: Dynastie und Herrschaftssicherung: Geschlechter und Geschlecht, in: Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit. Geschlechter und Geschlecht, hg. von HEIDE WUNDER (ZHF Beih. 28), Berlin 2002, S. 9-27, 18; MICHAELA HOHKAMP, Transmission von Herrschaft und Verwandtschaft in der reichsfürstlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit (15. bis 18. Jahrhundert), ungedruckte Habilitationsschrift, FU Berlin 2007; DIES., Eine Tante für alle Fälle: Tanten-Nichten-Beziehungen und ihre politische Bedeutung für die reichsfürstliche Gesellschaft der Frühen Neuzeit (16.-18. Jahrhundert), in: Politiken der Verwandschaft, hg. von MARGARETH LANZINGER / EDITH SAURER, Wien 2007, S. 149-171.

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im Zusammenhang mit der Weitergabe des Besitzes und den damit verbundenen Herrschaftsrechten, dem Erbe als eines neuralgischen Punkts der Dynastiesicherung. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die intensive Nutzung der höchsten Gerichte im Bereich Familienverband durch die Reichsstände im Widerspruch zu ihren Bemühungen stand, den reichsgerichtlichen Einfluss in ihren Territorien zu minimieren und zu unterbinden29. Die in den Hausverträgen der Dynastien festgelegten sogenannten gewillkürten Austräge, eine Art reichsständisches Schiedsgericht, sollten im Prinzip Eingriffe der Reichsgerichte in die inneren Angelegenheiten einer Dynastie unterbinden30. Faktisch verloren Austräge jedoch aus den verschiedensten Gründen im Verlauf des 18. Jahrhunderts mehr und mehr an Bedeutung31. Andererseits nahmen die Klagen der Reichsstände wegen Verletzung ihres Austrägalprivilegs durch die höchsten Gerichte zu32. Diese gegenläufigen Verhaltensmuster gilt es in Einklang zu bringen. Die Vermutung liegt nahe, dass die Inanspruchnahme der Höchstgerichtsbarkeit durch die Reichsstände häufig nur ein letztes Mittel zur Konfliktregulierung gewesen ist, was wiederum auf strukturelle Defizite von Territorialherrschaft kleiner und mittlerer Reichsstände verweist, die von Reichskammergericht und Reichshofrat in verschiedenen Funktionen ausgeglichen werden soll29

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Dazu zählen auch die Bemühungen um Appellationsprivilegien oder die Beschränkungen in den Wahlkapitulationen. Vgl. GERD KLEINHEYER, Die kaiserlichen Wahlkapitulationen. Geschichte, Wesen und Funktion, Karlsruhe 1968; FRITZ HARTUNG, Die Wahlkapitulationen der deutschen Kaiser und Könige, in: HZ 107 (1911), S. 306-344; ULRICH EISENHARDT, Die kaiserlichen Privilegia de non appellando (QFHG 7), Köln Wien 1980; JÜRGEN WEITZEL, Der Kampf um die Appellation am Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland, Köln 1976. Vgl. GERD FRÜHAUF, Die Austrägalgerichtsbarkeit im Deutschen Reich und im Deutschen Bund, Diss. iur. München 1976, S. 41; WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 97-103. Darunter verstand man Schiedsgerichte, die von Reichsunmittelbaren untereinander je nach Art des Austrags sowie Streitfalls gebildet wurden und die bei Konflikten Reichsunmittelbarer in erster Instanz zuständig waren. Gütliche innerdynastische Einigungsbemühungen oder Vermittlung durch Dritte ohne Austräge boten eine Alternative. Prälaten, Grafen, Herren, reichsfreie Adelige und nichtprivilegierte Reichsstädte besaßen kein Recht auf Austräge. Bei Verletzungen des Land-, Religions- und Westfälischen Friedens, bei Besitzstreitigkeiten, bei Verletzung eines kaiserlichen Privilegs, bei Klagen des Reichshoffiskals und bei Konflikten, die sich zu einem Mandat eigneten, griff das Austrägalrecht der Reichsstände nicht. MANFRED UHLHORN, Der Mandatsprozess sine clausula des Reichshofrats (QFHG 22), Köln Wien 1990, 82f; G. Frühauf, Austrägalgerichtsbarkeit (Anm. 30), S. 73; WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 101 f. UHLHORN, Mandatsprozeß (Anm. 31), S. 82 f.

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ten33. Sie waren offenbar nicht in der Lage, die Konflikte selbst zu lösen, sondern benötigten Kaiser und Reichsinstitutionen zur Regulierung ihrer Konflikte, wodurch sie auf beide angewiesen blieben.

II. Da Gesamtbetrachtungen aufgrund der Erschliessungssituation von Reichshofratsakten nicht zu leisten sind, bietet sich als naheliegendster Weg eine sektorale Analyse an34. Beim vorgestellten Beispiel handelt es sich um die thüringischen Territorialstaaten, unter denen nach 1648 die Territorien der ernestinischen Herzöge und der von ihnen umschlossenen oder an sie angrenzenden Herrschaften der Schwarzburger und Reußen verstanden werden35. Diese Definition verweist gleichzeitig auf eine grundlegende Kategorie, die prägenden Einfluss auf das Verhältnis von Kaiser und Reichsständen des Untersuchungsgebiets besaß, nämlich die Dynastie36. Die thüringischen Dynastien der Ernestiner, Schwarzburger und Reußen, die bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts die Landesherrschaft hatten gewinnen und dann behaupten können, waren durch Heiratsverbindungen untereinander vernetzt und be-

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Vgl. SIEGRID WESTPHAL, Stabilisierung durch Recht. Reichsgerichte als Schiedsstelle territorialer Konflikte, in: Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, hg. von RONALD ASCH / DAGMAR FREIST, Köln Weimar Wien 2005, S. 235-253 Vgl. zu unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen. WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 17-23. Die Henneberger starben 1583 aus. Vgl. Geschichte Thüringens, Bde. 5/1/1, 5/1/2, 6, hg. von HANS PATZE / WALTER SCHLESINGER (Mitteldeutsche Fg. 48/V/1/1, 48/V/1/2, 48/VI), Köln, Wien 1979 ff. Die thüringische landesgeschichtliche Forschung hat sich bisher wenig mit Dynastiegeschichte beschäftigt, sondern vielmehr die zahlreichen Teilungen unter dem Aspekt der verpassten Staatsbildung betrachtet. Vgl. beispielsweise WILLY FLACH, Die staatliche Entwicklung Thüringens in der Neuzeit, in: ZVThG NF 35 (1941), S. 6-48; HORST KRÄMER, Der deutsche Kleinstaat des 17. Jahrhunderts im Spiegel von Seckendorffs „Teutschem Fürstenstaat“, in: ZVThG NF 25 (1922/24), S. 1-98; THOMAS KLEIN, Verpaßte Staatsbildung? Die Wettinischen Landesteilungen in Spätmittelalter und früher Neuzeit, in: KUNISCH, Fürstenstaat (Anm. 27), S. 89-114; JÜRGEN JOHN, Kleinstaaten und Kultur oder: der thüringische Weg in die Moderne, in: Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert, hg. von JÜRGEN JOHN, Köln Weimar Wien 1994, S. XIII-LXI.

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saßen ähnliche Verwaltungs- und Herrschaftsstrukturen37. Alle bildeten je nach Anzahl der Agnaten und geltenden Teilungsbestimmungen wechselnde Häuser und Linien, wobei die Ämter und deren Einkünfte eine feste Grundlage darstellten38. Diese vergleichbaren Rahmenbedingungen bildeten den Ausgangspunkt für eine quantitative Erhebung39 all der Verfahren, die nach 1648 gegen Mitglieder der thüringischen Dynastien an den beiden höchsten Reichsgerichten eingereicht wurden (Passivprozesse40) bzw. die sie selbst dort anstrengten (Aktivprozesse41)42. Im Ergebnis konnte ermittelt werden, dass – ausgehend von einer Gesamtprozesszahl von rund 1.090 Fällen an beiden Gerichten – der Reichshofrat mit rund 960 Prozessen wesentlich stärker genutzt wurde als das Reichskammergericht mit rund 130 Fällen43. Somit wird die These von der dominanten Rolle des Reichshofrats nach 1648 für die thüringischen Dynastien bestätigt.

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ULRICH HEß, Geschichte der Behördenorganisation der thüringischen Staaten und des Landes Thüringen von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Jahre 1952, Jena, Stuttgart 1993, S. 13. ERNST HÄNSCH, Die wettinische Hauptteilung von 1485 und die aus ihr folgenden Streitigkeiten bis 1491, Diss. Leipzig 1909; HANS STEPHAN BRATHER, Die ernestinischen Landesteilungen des 16. und 17. Jahrhunderts, Diss. masch. Jena 1951; ALFRED PASOLD, Geschichte der reußischen Landesteilungen von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Einführung der Primogenitur im Jahr 1690, Neustadt a.d. Orla 1934; KARL HERRMANN, Die Erbteilungen im Hause Schwarzburg, Diss. Halle 1920; Hans Herz, Zu einigen Problemen der Landesteilungen in Thüringen vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, in: ZVThG 46 (1992), S. 147-159. Aus Gründen der Vergleichbarkeit wurde sich an den von FILIPPO RANIERI erarbeiteten Kategorien orientiert; vgl. FILIPPO RANIERI, Versuch einer quantitativen Strukturanalyse des deutschen Rechtslebens im 16.-18. Jahrhundert anhand einer statistischen Untersuchung der Judikatur des Reichskammergerichts. Ein Arbeitsplan, in: Rechtsgeschichte und quantitative Geschichte. Arbeitsberichte, hg. von FILIPPO RANIERI (IusCommuneSH 7), Frankfurt am Main 1977, S. 1-22; DERS., Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption: eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert (QFHG 17), 2 Bde., Köln Wien 1985. Unter Passivprozessen werden alle Fälle verstanden, die von Nichtmitgliedern gegen ein Mitglied einer thüringischen Dynastie angestrengt wurden. Aktivprozesse umfassen Fälle, bei denen die Klage von einem thüringischen Dynastiemitglied ausging, wobei sich diese durchaus gegen ein anderes Dynastiemitglied richten konnte. Vgl. WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 41-80. TORSTEN FRIED, Inventar der Prozeßakten des Reichskammergerichts in den Thüringischen Staatsarchiven (Veröff. aus thüringischen Staatsarchiven 3), Weimar 1997; vgl. WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 44.

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Auffällig ist insbesondere, dass die Mitglieder der thüringischen Dynastien am Reichshofrat fast genauso häufig selbst klagten (430) wie sie beklagt wurden (530). Die Analyse der Streitgegenstände bei den Aktivprozessen zeigt, dass es sich vor allem um Konflikte im Bereich Familienverband handelte44, während bei den Passivprozessen Verfahren aus dem Bereich Geldwirtschaft dominierten45. Dies ist umso bemerkenswerter, weil die thüringischen Dynastien in der Zeit vor 1648 weder das Reichskammergericht noch den Reichshofrat nennenswert nutzten, obwohl auch für jenen früheren Zeitraum zahlreiche Auseinandersetzungen belegt sind46. Selbst vermeintlich Benachteiligte wandten sich nicht an die höchsten Gerichte, um Hilfe zu suchen. Offensichtlich regelten die thüringischen Dynastien ihre Konflikte zunächst innerhalb des Familienverbands47, was nach 1648 nicht mehr der Fall gewesen zu sein scheint. Im Folgenden wird diesem Umstand nachgegangen werden, weil er gleichsam einen Schlüssel zum Verständnis der Reichsgerichtsnutzung der thüringischen Dynastiemitglieder darstellt. Denn die zunehmende Inanspruchnahme nach 1648 in Fällen aus dem Bereich Familienverband und Geldwirtschaft läßt sich auf eine Entwicklung zurückführen, die eng mit der Situation der thüringischen Dynastien nach 1648 verbunden war. Sie verweist – so die These – auf den fundamentalen Wandel des Familienrechts an der Wende zum 18. Jahrhundert, als sich sowohl bei den europäischen Dynastien als auch den Fürstenhäusern des Reichs zunehmend hausgesetzliche Normierungen durchsetzten, welche die Einführung der Primogenitur festschrieben. Dadurch wurden die Erstgeborenen einer adligen Familie als Alleinerben bestimmt und die Ansprüche der Nachgeborenen mit Abfindungen bzw. Apanagen befriedigt48.

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48

WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 45-47. WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 53-64. WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 106. JOHANN JACOB MOSER, Teutsches Staats-Recht, Bd. 23, Nürnberg u. a. S. 17 ff., 1048 f.; DERS., Von der Teutschen Justiz-Verfassung. Nach denen Reichs-Gesezen und dem Reichs-Herkommen, wie auch aus denen Teutschen Staats-Rechts-Lehren, und eigener Erfahrung, 2 Bde., Franckfurt und Leipzig 1774, hier Bd. 1, S. 285 ff. MOHNHAUPT, Lehre (Anm. 27), S. 28; HERBERT HÖLDRICH, Das Erstgeburtsrecht beim Adel. Das Primogeniturprinzip und seine Auswirkungen auf die Adelsbezeichnungen, München 1992; Hermann Schulze, Das Recht der Erstgeburt in den deutschen Fürstenhäusern und seine Bedeutung für die deutsche Staatsentwicklung, Leipzig 1851; Eduard Meyer, Ursprung und Entwicklung des dynastischen Erbrechts auf den Staat und seine geschichtliche Wirkung, vor allem auf die politische Gestaltung Deutschlands, in: Sit-

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Dynastische Konflikte der Ernestiner

III. Ernestiner, Schwarzburger und Reußen zählten zu den Dynastien, die lange an der Kollektivsukzession festhielten49. Bei allen dreien finden sich ähnliche Verhaltensweisen. Politische Ausdrucksform des gleichen Erbrechts war die Gemeinschaftsregierung, die jedoch in den seltensten Fällen funktionierte. War ausreichend Territorium für eigene Landesportionen vorhanden, die ein standesgemäßes Auskommen erlaubten50, entschlossen sich die Nachkommen in der Regel für die Landesteilung. Dabei handelte es sich nicht um sogenannte Totteilungen, sondern um eingeschränkte Realteilungen zu gesamter Hand oder Mutschierungen, eine häufig zeitlich befristete Teilung der Nutzungen ohne Teilung der Besitz- und Hoheitsrechte51. Das hieß, dass jedes erbberechtigte Dynastiemitglied in seinem Landesteil nur eine durch Gemeinschaftsrechte eingeschränkte Landeshoheit wahrnehmen konnte. Das modulare Teilungsprinzip auf Basis der Ämter erleichterte eine solche Vorgehensweise. Landesportionen ließen sich auf Grundlage der Ämtereinkünfte beliebig zusammenstellen, wobei das Ziel darin bestand, jedem erbberechtigen Nachkommen möglichst gleiche Einkünfte zu verschaffen, ohne auf die geographische Lage der Ämter Rücksicht zu nehmen. Starb eine Linie aus, fiel die Erbportion wieder an das Gesamthaus zurück. Trotz dieser Teilungsmöglichkeit sollte der gemeinschaftliche Aspekt innerhalb der Dynastien nicht verlorengehen. Durch die bei allen drei Häusern praktizierte Belehnung zur gesamten Hand blieben die Lehensverhältnisse und der reichsständische Status eine Angelegenheit des gesamten Hauses. Auf diese Weise sollte der Verlust von Hausbesitz verhindert werden52. Des weiteren wurden gemeinschaftliche Institutionen eingeführt und eine Reihe hoheitlicher Rechte sowie die Erfüllung der Reichspflichten in Gemeinschaft behalten53. Eine wichtige Rolle spielte zumindest bei den Ernestinern als Kernland der Reformation auch die konfessionelle Einheit. In je-

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zungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse (1928), S. 144-159. MOHNHAUPT, Lehre (Anm. 27), S. 28. Vgl. HERZ, Problemen (Anm. 38), S. 155. Vgl. BRATHER, Landesteilungen (Anm. 38), S. 93-119. HERMANN VON SICHERER, Über die Gesamtbelehnung in deutschen Fürstentümern, München 1865; vgl. BRATHER, Landesteilungen, S. 98. Bei den Ernestinern handelte es sich beispielsweise um die Universität Jena, den Schöppenstuhl und das Hofgericht.

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dem Testament und bei jeder Landesteilung wurde ausdrücklich betont, dass das Territorium bei der reinen lutherischen Lehre entsprechend der Bekenntnisschriften zu verbleiben habe54. Für den Fall eines seit Mitte des 17. Jahrhunderts häufiger vorkommenden Konfessionswechsels sahen die ernestinischen Bestimmungen sogar den Ausschluss von jeglicher Landesherrschaft vor55. Auf diese Weise bestand eine mehr oder minder starke Klammer zwischen den einzelnen Linien eines Hauses. Für das Festhalten am kollektiven Erbrecht wird hauptsächlich die benachteiligte Stellung der jüngeren Söhne im Falle eines Erstgeburtsrechts verantwortlich gemacht56. Auch moralische und politische Gründe sowie die Frage des Sozialprestiges werden genannt. Bei den thüringischen Dynastien kam die in allen drei Häusern fest verankerte lutherische Konfession hinzu. Schon Johann Jacob Moser betonte in seinem "Teutschen Staats-Recht", dass gerade streng protestantische Fürsten einen entschiedenen Widerwillen gegen das Erstgeburtsrecht hegten, weil sie es als unchristlich und wider göttliches Gebot empfanden. „Hielten einige fromme grosse Herrn … es gerade wider das Wort GOttes zu sein, als nach welchem Kinder Eines Vaters auch gleichen Antheil an dessen Erbgut haben sollten“57. Gleichheit unter Brüdern galt

als dynastische Norm und religiöse Pflicht. Die Primogenitur unterlief aus lutherischer Sicht den Gleichheitsgedanken, da alternative Versorgungsmöglichkeiten den protestantischen Nachgeborenen weitgehend versperrt waren und deshalb nur ihr dauerhafter Ausschluss vom Besitz und der Regierung blieb. Die Gemeinschaftsregierung unter dem Direktorat des Ältesten wurde als optimaler Ausdruck des Gleichheitsgedankens gesehen. Teilungen waren dann vertretbar und sogar ein göttliches Werk, wenn sie dazu dienten, die dynastische Harmonie zu sichern58. Diese religiöse Sichtweise verband sich mit einer mentalen Disposition der Fürstenhäuser im Alten Reich, nämlich der Vorstellung eines kollektiven Rechts der Dynastie auf ihren Besitz. Dies erklärt auch die verbreitete latera-

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Vgl. PAULA SUTTER FICHTNER, Protestantism and primogeniture in early modern Germany, New Haven London 1989, 27. “Thus the princely testament … had become a vehicle to express piety and to soften the wrath of one’s Maker. Intrafamilial property arrangements were transposed into Christian didactic paradigms.” BRATHER, Landesteilungen (Anm. 38), S. 106. HÖLDRICH, Erstgeburtsrecht (Anm. 48), S. 25f; SCHULZE, Recht (Anm. 48), S. 338. Vgl. zu den folgenden Ausführungen: WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 34-37. JOHANN JACOB MOSER, Teutsches Staats-Recht, Bd. 13, Leipzig 1744, S. 431. FICHTNER, Protestantism (Anm. 54), S. 30.

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le Erbfolge (Seitenverwandte), der der Gedanke zugrunde lag, dass alle legitim geborenen Prinzen gleichberechtigt seien. Entsprechend sah die Reichsverfassung die Reichsunmittelbarkeit aller männlichen Mitglieder einer Dynastie vor. Änderungen der Erbfolge konnten nur in wechselseitigem Einverständnis der Agnaten vorgenommen werden, wobei bei Abmachungen unter Brüdern die kaiserliche Bestätigung zwar nicht benötigt wurde, aber erwünscht war. Anders sah es bei testamentarisch bestimmten Primogeniturregelungen aus, denen der Kaiser bzw. der Reichshofrat zustimmen musste59. Nicht zuletzt diese reichsrechtlichen Vorgaben erklären die Involvierung des Reichshofrats in innerdynastische Auseinandersetzungen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts führten die meisten deutschen Fürstenhäuser “mit merkwürdiger Übereinstimmung” eine Primogeniturordnung ein, wobei es teilweise noch zu Übergangsregelungen kam60. Für einen strukturellen Vorgang spricht unter anderem die Tatsache, dass fast alle Erstgeburtsregelungen dieselben Begründungen hinsichtlich der Veränderung des Erbrechts nennen61. Welche Ursachen können für den Umbruch im Erbrecht verantwortlich gemacht werden? Dreißigjähriger Krieg, die darauffolgenden Reichskriege gegen Frankreich sowie die Türkenabwehr setzten alle Dynastien unter großen finanziellen Druck62. Hinzu kamen die Agrarkrise des späten 17. Jahrhunderts und das starke Anwachsen der Bevölkerung. Auch die neuen Anforderungen an Territorialherren wie der Aufbau stehender Heere und Repräsentationspflichten stellten die regierenden Familien vor Probleme63. Die Ausdifferenzierung nach armierten und nicht armierten Reichsständen verstärkte den ohnehin großen Konkurrenzdruck zwischen den Dynastien. In gleichem Maße wirkten sich die kaiserlichen Standeserhöhungen kleinerer Reichsgrafen und -herren aus, welche die altfürstlichen Häuser um ihre Reputation fürchten ließen. Dies wird insbesondere an den Ernestinern deutlich, die weder die Erhebung der Reußen in den Grafenstand noch die Fürstung der Schwarzburger tolerieren wollten. Aufgrund der wachsenden Belastungen musste sich jede Dynastie fragen, wie sie ihre Herrschaft langfristig sichern und dauerhaft finanzieren konnte. Die Einführung der Primogenitur sollte ein Mittel zur Krisenbewältigung 59 60 61 62 63

SCHULZE, Recht (Anm. 48), S. 361 f. SCHULZE, Recht (Anm. 48), S. 13. SCHULZE, Recht (Anm. 48), S. 346-360. Vgl. WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 36f, 110-113. JOHANNES KUNISCH, Einleitung, in: ders., Fürstenstaat (Anm. 27), S. IX-XV.

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sein und angesichts ausufernder Teilungen eine gewisse Stabilität sichern. Die Forschung hat diesen grundlegenden Wandel des Erbrechts bisher überwiegend positiv gesehen und als entscheidenden Schritt hin zur modernen Staatsbildung bewertet64. Diese Perspektive ist jedoch zu einseitig und unterschlägt zum einen, dass es zur Primogenitur durchaus Alternativen gab, wie das Beispiel der Wetterauer Grafen zeigt65. Zum anderen werden dadurch die zahlreichen Konflikte ausgeblendet, die durch die Umstellung auf die Primogenitur ausgelöst wurden. Denn keiner Dynastie fiel es leicht, von der Kollektivsukzession auf die Individualsukzession überzugehen. Teilweise lang andauernde und heftige Auseinandersetzungen waren der Preis für die Sicherung der Dynastie. Und selbst, wenn die Primogenitur innerhalb einer Dynastie schon durchgesetzt war, blieb die Kollektivsukzession in ihrem „dynastischen Gedächtnis“ haften und konnte als Idee jederzeit wiederbelebt werden.

IV. Auch wenn die thüringischen Dynastien in vielerlei Hinsicht die spezifischen Gegebenheiten des mitteldeutschen Raumes widerspiegeln, sind sie charakteristisch für eine Vielzahl ähnlich gelagerter Erbstreitigkeiten innerhalb des Adels im Alten Reich. Mit ihrem fest verwurzelten lutherischen Glauben stellen sie zudem ein gutes Beispiel dar, um den schwierigen Übergangssprozess auf die Individualsukzession nachzuvollziehen. Sie führten gegen Ende des 17. Jahrhunderts, trotz bis dahin dezidierter Ablehnung der Primogenitur, das Erstgeburtsrecht ein66. In allen drei thüringischen Häusern wehrten sich einzelne Linien oder Personen dagegen und wandten sich deshalb an Kaiser und Reichshofrat. Eine Konzentration von Fällen im Bereich Familienverband konnte für das Haus Sachsen-Gotha festgestellt werden, weil sich dort Erbstreitigkeiten des Gesamthauses mit solchen innerhalb einer einzelnen Linie überschnit-

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KUNISCH, Einleitung (Anm. 27), S. XII. Vgl. GEORG SCHMIDT, Der Wetterauer Grafenverein. Organisation und Politik einer Reichskorporation zwischen Reformation und Westfälischem Frieden, Marburg 1989; VOLKER PRESS, Reichsgrafenstand und Reich. Zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des deutschen Hochadels in der Frühen Neuzeit, in: ders., Adel im Alten Reich. Gesammelte Vorträge und Aufsätze, hg. von FRANZ BRENDLE u. a., Tübingen 1998, S. 113-138. Vgl. WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 37 f.

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ten. Der sog. Coburg-, Eisenberg- und Römhildische Sukzessionsstreit gilt mit 61 Vorgängen am Reichshofrat und einigen wenigen Fällen am Reichskammergericht als wichtigster Erbstreit einer deutschen Dynastie im 18. Jahrhundert und fand bei den Zeitgenossen große Aufmerksamkeit67. Schon Johann Jacob Moser führte ihn als abschreckendes Beispiel an, um auf die zahlreichen Probleme von Erbauseinandersetzungen aufmerksam zu machen. So heißt es bei ihm: „Ein merckwürdiges Exempel, (woran sich billig alle Principalen und deren Räthe spieglen mögen) wie fatal einem Hause die allzuweit getribene Theilungs-Differentien seyn können, gibt, […], sonderlich die SachsenCoburg-, Eisenberg- und Römhildische Succeßions-Sache an die Hand …“ 68

Der Erbstreit war so komplex, dass er sich über mehr als 100 Jahre hinzog und insbesondere in der Zeit von 1699 bis 1735 das politische Handeln und Denken der einzelnen Linien im gothaischen Haus bestimmte69. Er basierte auf den Auseinandersetzungen, die 1675 nach dem Tod von Ernst dem Frommen unter seinen sieben Söhnen über das väterliche Erbe und die in dessen Testament getroffenen Verfügungen entbrannt waren. Ernst der Fromme hatte entsprechend ernestinischer Tradition die Gemeinschaft der Regierung unter dem Direktorium des Ältesten, Friedrich I., empfohlen, aber auch die Teilung des Landes unter Beibehaltung des Direktori-

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Vgl. Historisch kurzer Zusammenhang derer in denen fürstlichen Häusern GothaischErnestinischer Linie, über Herrn Herzogs Ernst des Frommen Verlassenschaft und die Coburg-Eisenberg-Römhildischen Anfälle getroffenen Recesse …, in: Archiv der Sächsischen Geschichte, Erster Teil, Leipzig 1784; als Verfasser gilt der kursächsische Subdelegierte Matthäi der kaiserlichen Kommission zur Teilung des Coburgischen Territoriums von 1733. Vgl. JOHANN JACOB MOSER, Familien-Staats-Recht Derer Teutschen Reichsstände, Erster Theil, Franckfurt und Leipzig 1775, S. 534. Begleitet wurde der Erbstreit durch rund 150 Druckschriften, abgedruckt in: DeductionsBibliothek von Teutschland nebst dazu gehörigen Nachrichten, 4. Bd., hg. von JOHANN CHRISTIAN SIEBENKEES, Nürnberg 1783; die in der Zeit von 1699 bis 1745 ergangenen 206 kaiserlichen Konklusa wurden in folgender Druckschrift gesammelt: BayStA Coburg, LA C Nr. 520, Abdruck Derer in der Sachsen-Coburg-Eisenberg- und Römhildischen Successions-Sache ergangenen Kayserlichen Reichs-Hof-Raths-Conclusorum und Sententien von Anno 1699. Die nach 1745 am Reichshofrat ergangenen Beschlüsse finden sich in: Johann Gerhard Gruners historisch-statistische Beschreibung des Fürstenthums Coburg Sachsensaalfeldischen Antheils, Coburg 1783. Zwischen den Agnaten wurden zudem 52 Vergleiche geschlossen, wovon ein Teil in gedruckter Form vorliegt. Vgl. Saalfeldisches Receß-Buch die Verfassung des Herzogl. Sachsen-Gothaischen Gesammthauses die in demselben vorgenommenen Erbtheilungen vornehmlich aber die Herzogl. SachsenCoburg-Saalfeldischen Gerechtsamen betreffend, Coburg 1783.

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ums eingeräumt70. Schon kurz nach seinem Tod brach die gemeinschaftliche Hofhaltung in Gotha auseinander, und insbesondere die verheirateten Brüder, die eigene Hofhaltungen einrichten wollten, drängten auf eigene Territorien71. Zu diesem Zwecke wurden 1680/81 Vergleiche geschlossen, durch die sieben dauerhafte Landesportionen entstanden, allerdings mit unterschiedlichem staatsrechtlichen Status. Die drei ältesten Brüder in Gotha, Coburg und Meiningen besaßen Reichsstandschaft und volle Landeshoheit in ihren Territorien, die vier jüngeren in Römhild, Eisenberg, Hildburghausen und Saalfeld nur die beschränkte fürstliche Hoheit, weil sich der älteste Bruder aus Gotha, Friederich I., in all ihren Territorien die hohen Gerechtsame vorbehielt72. Dieser sogenannte “Nexus Gothanus”, der einen Übergang vom kollektiven zum individuellen Erbrecht ermöglichen sollte, führte zu folgenschweren Verwicklungen73. Gotha, das am meisten von den Vergleichen profitierte, versuchte, die durch den Nexus erreichten Vorteile für die eigene Linie zu sichern, indem es als erste die Primogenitur einführte und die Vergleiche kaiserlich bestätigen ließ. Alle Brüder gingen dagegen vor, wobei es zu wechselnden Allianzenbildungen kam. Vor allem die Jüngeren, Ernst von Hildburghausen (1655-1715) und Johann Ernst von Saalfeld (1658-1729) zielten darauf ab, die vollen fürstlichen Rechte für ihr Territorium und die Reichsstandschaft zu erhalten und somit das innerdynastische Gleichgewicht wiederherzustellen. Zunächst bemühten sich die Agnaten darum, durch Hauskonferenzen und weitere Verträge größere Auseinandersetzungen innerhalb des Hauses

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WESTPHAL, Rechtspechung (Anm. 17), S. 114-122; vgl. ANDREAS KLINGER, Der Gothaer Fürstenstaat. Herrschaft, Konfession und Dynastie unter Herzog Ernst dem Frommen, Husum 2002; vgl. PATZE / SCHLESINGER, Geschichte Thüringens 5/1/1 (Anm. 35), S. 209-244; GEORG SCHMIDT, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495-1806, München 1999, S. 200-204. JOHANN ADOLPH VON SCHULTES, Sachsen-Coburg-Saalfeldische LGesch, unter der Regierung des Kur- und fürstlichen Hauses Sachsen vom Jahr 1425 bis auf die neuern Zeiten, 2 Bde., Coburg 1818, hier Bd. 1, 140; ADAM GLAFEY, Kern der Geschichte des hohen und fürstlichen Hauses zu Sachsen, Franckfurth Leipzig 1737. ROSWITHA JACOBSEN, Friedrich I., Herzog von Sachsen-Gotha und Altenburg 1674/751691, in: Herrscher und Mäzene. Thüringer Fürsten von Hermenefred bis Georg II., hg. von DETLEF IGNASIAK, Rudolstadt, Jena 1994, S. 223-239; dies., Die Gothaer Hofkultur unter Herzog Friedrich I., in: Frühneuzeitliche Hofkultur in Hessen und Thüringen, hg. von JÖRG JOCHEN BERNS, DETLEF IGNASIAK, Erlangen, Jena 1993, S. 167-181; AUGUST BECK, Geschichte der Regenten des gothaischen Landes, Gotha 1868, S. 342-356. WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 137-144.

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zu vermeiden74. Das Aussterben von drei Linien (Coburg, Eisenberg, Römhild) innerhalb kürzester Zeit (1699 bis 1711) führte jedoch zur Eskalation des Konfliktes. Phasen gütlicher Verhandlungen wechselten sich immer wieder mit Prozessen an beiden höchsten Gerichten und militärischen Gefechten ab, da man keine Einigung erzielen konnte75. Im Zentrum stand dabei der Streit über das Coburger Fürstentum, weil mit diesem die Reichsstandschaft verbunden war76. Nicht zuletzt deshalb griff auch Kursachsen in das Geschehen ein, da es fürchtete, dass Sachsen-Gotha von den Erbfällen zu stark profitieren und zu einer konkurrierenden Macht im mitteldeutschen Raum77, aber auch innerhalb des Obersächsischen Kreises und des Corpus Evangelicorum am Reichstag werden könnte78. In einem ansonsten eher seltenen Endurteil beschloß das kaiserliche Gericht 1714 die endgültige Teilung der angefallenen Territorien zugunsten einer Besserstellung Gothas und des jüngsten Bruders aus Saalfeld79. Die Benachteiligten, insbesondere Meiningen, strengten beim Reichshofrat schließlich noch eine Revision an, die 1735 ein für alle Mal abgeschlagen wurde80. Dennoch kam es immer wieder zu – auch gewaltsam ausgetragenen – Konflikten über ungeklärte Detailfragen. Erst gegen Ende des 18. Jahrhundert setzte sich bei den Beteiligten die Einsicht durch, wie nachteilig sich die dynastischen Erbstreitigkeiten auf die Entwicklung des ganzen gothaischen Hauses ausgewirkt hatten81. Gleich in zwei der gothaischen Nebenlinien, 74 75 76

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WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 154-163. WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 180-248. JOHANN ULRICH RÖDER, Von den Herzoglich-Sächsischen Reichs-Tags-Stimmen …, Hildburghausen 1779. JOCHEN VÖTSCH, Kursachsen, das Reich und der mitteldeutsche Raum zu Beginn des 18. Jahrhunderts, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 67 (1996), S. 311-322. Aufgrund des Konfessionswechsels von Kurfürst August von Sachsen verlor Kursachsen den Vorsitz des Corpus Evangelicorum, sorgte aber dafür, dass der nächste protestantische Agnat der Kurlinie, Sachsen-Weißenfels, das Direktorium erhielt. Auch SachsenGotha hatte 1700 kurzzeitig zur Wahl gestanden. Vgl. ADOLPH FRANTZ, Das Katholische Direktorium des Corpus Evangelicorum, Marburg 1880; GABRIELE HAUG-MORITZ, Corpus Evangelicorum und deutscher Dualismus, in: Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit? hg. von VOLKER PRESS (Schr. des Hist. Kollegs Kolloquien 23), München 1995, S. 189-207. WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 225-241. WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 241-248. SIEGRID WESTPHAL, Ernst II. und die Erbfolgestreitigkeiten im Hause Sachsen-Gotha, in: Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg. Ein Herrscher im Zeitalter der Aufklärung, hg. von WERNER GREILING, ANDREAS KLINGER, CHRISTOPH KÖHLER, Köln Weimar Wien 2005, S. 85-100.

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Sachsen-Coburg-Saalfeld82 und Sachsen-Hildburghausen83, mussten aufgrund von hoher Verschuldung in dieser Zeit kaiserliche Debit- und Administrationskommissionen eingesetzt werden. Nicht nur die quantitative Analyse zeigt einen deutlichen Bezug zwischen Prozessanstieg im Bereich Familienverband und der Zunahme von Schuldenklagen im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Auch Johann Jacob Moser wies 1775 darauf hin, dass aus nur teilweise eingeführten Primogeniturregelungen Schulden über Schulden entstehen, „und aus jenem unaufhörliche Streitigkeiten, welche mehrmalen das Haus mercklich schwächen, und deren Ausgang offt um so ungewisser ist, als es manchmahlen an hinlänglichen Principiis fehlet, nach denen die Streitigkeiten entschiden werden könnten“84. Von einem engen Zusammenhang zwischen Familienstreitigkeiten und Verschuldung sprechen zudem die zahlreichen kaiserlichen Debit- und Administrationskommissionen im 18. Jahrhundert, die überwiegend in anderen Nebenlinien mit geringer territorialer Ausdehnung eingesetzt wurden85. Sicherlich spielten weitere Faktoren bei der Verschuldung eines Reichsstandes eine Rolle, denkt man beispielsweise nur an die Kosten für Repräsentation oder militärische Verpflichtungen und Reichssteuern. Vielfach überstiegen die Ausgaben für Hofstaat, Hofleben, Militär und Baumaßnahmen die Einnahmen bei weitem, was eine Aufnahme von Schulden mit entsprechenden Zinszahlungen notwendig machte86. Auch der individuelle Umgang eines Landesherrn mit den zur Verfügunge stehenden Mitteln fiel ganz unterschiedlich ins Gewicht. Eklatante Mißwirtschaft, die Verschleierung der Finanzen durch fehlende Trennung der Kassen oder mangelndes Bewußtsein für Sparmaßnahmen und wirtschaftliche Zusammenhänge

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CHRISTIAN KRUSE, Franz Friedrich Anton von Sachsen-Coburg-Saalfeld. 1750-1806, in: Jb. der Coburger Landesstiftung 40 (1995), S. 1-448; KLAUS FREIHERR VON ANDRIANWERBURG, Der Minister von Kretschmann. Versuch einer Staatsorganisation in SachsenCoburg-Saalfeld, in Jb. der Coburger Landesstiftung 10 (1965), S. 27-82; KARL BOHLEY, Die Entwicklung der Verfassungsfrage in Sachsen-Coburg-Saalfeld von 1800 bis 1821, Erlangen 1933. WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 256-431. MOSER, Familien-Staats-Recht (Anm. 68), S. 294 f. JOHANN JACOB MOSER, Von dem Reichs-Staendischen Schuldenwesen. So vil es derer Weltlichen Churfürsten, auch Regierende Reichsfürsten und Grafen, Cameral-Schulden, und die Art, selbige abzustossen und zu bezahlen, betrifft, 2 Bde., Frankfurth und Leipzig 1774/1775. HATTENHAUER, Schuldenregulierung (Anm. 18), S. 86.

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konnten die Situation eskalieren lassen87. Aber ein jahrzehntelanger Erbstreit an den höchsten Gerichten, der große unkalkulierbare Kosten mit sich brachte, die von den Ausgaben für Gesandtschaften und Anwälten bis hin zu Bestechungsgeldern reichten, barg die größten finanziellen Risiken. Gerade Klein- und Kleinstterritorien, deren wirtschaftliche Spielräume äußerst gering waren und die zudem über keine oder nur unzureichende Instrumentarien zur Krisenbewältigung verfügten, sahen sich in einer solchen Konstellation deshalb häufig vor dem finanziellen Ruin, den sie nur durch die Bitte um Einsetzung einer kaiserlichen Untersuchungskommission (commissiones ad inquirendum in vires et facultates zur Untersuchung des status passivus et activus) abzuwenden gedachten88. Dass daraus häufig eine langfristig arbeitende kaiserliche Debit- und Administrationskommission wurde, war nicht im Sinne der Landesherren, aber häufig nicht zu verhindern. So erging es auch Sachsen-Coburg-Saalfeld und Sachsen-Hildburghausen, deren Finanzen bis zum Ende des Alten Reiches durch kaiserliche Debit- und Administrationskommissionen verwaltet wurden. Dass dies eine Schwächung des gothaischen Gesamthauses darstellte und auch das Ansehen der Dynastie im Reich schmälerte, war den Dynastieangehörigen durchaus bewusst. Daher kam es 1791, auch bedingt durch die napoleonische Bedrohung, zu einem Vertrag der ernestinischen Linien, der eine grundsätzliche Regelung von Erbstreitigkeiten festlegte, um die politische Position wieder zu stärken89. Der Preis, den die thüringischen Dynastien für die Einführung der Primogenitur zahlen mussten, bestand also in einer Fülle von Konflikten, in der Lockerung des dynastischen Zusammenhalts und im Verlust des hausinternen Verfassungskonsenses. Gerade jene Maßnahme, die ihre Existenz sichern sollte, führte vor dem Hintergrund eines traditionell anderen Erbrechts zu einer tiefgreifenden Krise der thüringischen Dynastien, die nicht aus eigener Kraft gelöst werden konnte. Trotz des beibehaltenen Gemeinschaftsanspruchs verselbständigten sich die einzelnen Linien immer stärker und gerieten zunehmend miteinander in Konflikt.

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OLIVER VOLCKART, Öffentliches und privates Wirtschaften. Zur Trennung von Staat und Gesellschaft im Verlauf der Vormoderne (ca. 12. – 18. Jahrhundert, Jena 1999. Vgl. WESTPHAL, Rechtsprechung (Anm. 17), S. 265-277; PRESS, Mediatisierung (Anm. 18), S. 139; HERRMANN, Durchführung (Anm. 18), S. 115. SIEGRID WESTPHAL, Der politische Einfluß von Reichsgerichtsbarkeit am Beispiel der thüringischen Kleinstaaten. Eine Projektskizze, in: SELLERT, Reichshofrat (Anm. 18), S. 83-109.

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Neben mangelnder bzw. gestörter Dialogbereitschaft der Streitparteien spielte auch das Nichtfunktionieren der territorialen, reichsständischen und innerdynastischen Konfliktregulierungsmechanismen eine wichtige Rolle. Austräge und Hauskonferenzen oder gütliche Verhandlungen verloren angesichts des neuen innerdynastischen Gefälles an Bedeutung. Ihre konsensuale Konfliktlösung hatte im wesentlichen auf der gleichberechtigten Stellung aller männlichen Dynastieangehörigen beruht. Nun aber war die Position der benachteiligten Familienmitglieder zu schwach, um dem Inhaber der Herrschaftsrechte Paroli bieten zu können. Auf diese Weise schwand die Autonomie der thüringischen Dynastien in strittigen Hausangelegenheiten.

V. Welche politischen Intentionen verbanden sich nun mit der Nutzung der Reichsgerichte? Bei den Sukzessionsstreitigkeiten lag es keinesfalls in der Absicht der Gerichte, die Angelegenheit für politische Zielsetzungen zu instrumentalisieren. Vielmehr reagierte man zunächst zurückhaltend, weil die Reichsgesetze die Befassung der Reichsgerichte mit innerdynastischen Konflikten eigentlich weitgehend ausschlossen90. Lediglich testamentarisch eingeführte Primogeniturordnungen mussten dem Kaiser zur Bestätigung vorgelegt werden. Die Initiative zur gerichtlichen Einschaltung des Reichshofrats ging zuerst von denjenigen Dynastieangehörigen aus, die sich durch die veränderte Hausverfassung benachteiligt fühlten91. Der Gang nach Wien oder die Einschaltung des Reichskammergerichts waren Versuche, die alten Rechte bzw. die traditionelle Sukzessionsordnung auf dem Rechtsweg wiederherzustellen. Da innerdynastische Konflikte bis Ende des 17. Jahrhunderts weitgehend ohne Einschaltung der höchsten Gerichte gütlich verhandelt wurden und erst die Einführung von Primogeniturordnungen den für die Konfirmation zuständigen Reichshofrat auf den Plan rief, läßt sich in diesem Zusammenhang durchaus von einer Verrechtlichung dynastischer Konflikte sprechen.

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JOHANN STEPHAN PÜTTER, Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs, Bd. 3, Göttingen 1788, 63; WEITZEL, Hausnormen (Anm. 27), S. 44. DIESTELKAMP, Funktion (Anm. 8).

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Hier bildete sich ein bestimmtes Muster heraus. Während die regierenden Herren auf ihrem Austrägalprivileg bestanden und in der Einschaltung der kaiserlichen Gerichtsbarkeit bei Familienangelegenheiten einen Eingriff in ihre Herrschaftsrechte sahen, nutzten schwächere Dynastiemitglieder die höchste Gerichtsbarkeit zunächst, um den Gegenpart mit einer angedrohten Klage bei gütlichen Verhandlungen oder Austrägen unter Druck zu setzen und bessere Verhandlungsergebnisse zu erzielen. Wenn auf diesem Wege keine tragfähigen Lösungen erzielt werden konnten, wurde die Auseinandersetzung immer mehr auf den Rechtsweg verlagert. Insbesondere der Reichshofrat sollte so die innerdynastische Stellung benachteiligter Familienmitglieder sichern helfen. Er ersetzte gleichsam die reichsständische bzw. dynastische Konfliktregulierung und gewann dadurch immer größeren Einfluß auf die betroffenen Dynastien, weil er die Gewichte – trotz Hausnormen – neu verteilen konnte. Auf der anderen Seite war er aber auch wieder bereit, Verfahren zu unterbrechen, um gütliche Verhandlungen zu ermöglichen. Bei Fortführung des Prozesses machte er die in den Verhandlungen erzielten Teilabkommen in der Regel zur Grundlage der weiteren Rechtsprechung, er akzeptierte damit die Hausnormen und legte sie seiner Urteilsfindung zugrunde. Der Rechtsweg stellte auch deshalb für die schwächeren Dynastiemitglieder eine wichtige Alternative dar, weil es leichter war, auf einzelne Richter – beispielsweise mit „Geschenken“ – einzuwirken als auf den Kaiser und seinen Geheimen Rat. Die mächtigeren Dynastiemitglieder versuchten dagegen, ihren politischen Einfluß unmittelbar beim Kaiser geltend zu machen. Eine besondere Rolle kam dabei den kaiserlichen Reservatrechten zu, die von der Gnade bzw. dem Wohlwollen des Kaisers und nicht vom Reichsrecht abhingen92. Deshalb besaß er hier größeren Spielraum als bei Prozessen am Reichshofrat. Wenn von politischer Beeinflußung die Rede ist, dann vor allem in diesem Kontext. Denn um davon profitieren zu können, musste man einen Gegenwert liefern. In der Regel handelte es sich dabei um die politische und militärische Unterstützung der Habsburger beispielsweise bei den Reichs-

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RUDOLF HOKE, Art. Jura reservata HRG II 11978, Sp. 476-481; vgl. KARL OTMAR VON ARETIN, Das Alte Reich: 1648-1806, 3 Bde., Stuttgart 1993-1997, hier Bd. 1, S. 76; WOLFGANG SELLERT, Über die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht insbesondere in Strafsachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Unters.z.dt.Staats.u.R.Gesch. NF 4), Aalen 1965, S. 109; vgl. die ausführliche Behandlung bei: JOHANN JACOB MOSER, Von der teutschen Justiz-Verfassung. Nach denen Reichs-Gesezen und dem Reichs-Herkommen, wie auch aus denen Teutschen Staats-Rechts-Lehrern, und eigener Erfahrung, Franckfurt und Leipzig 1774, 1. Teil, S. 393-416.

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kriegen oder im Spanischen Erbfolgekrieg. Insofern besaß dieser Weg gerade für armierte Reichsstände große Attraktivität. Offensichtliche Eingriffe des Kaisers in die Rechtsprechung des Reichshofrats lassen sich dagegen kaum nachweisen, denn sie schadeten dem Ansehen des Gerichts und der kaiserlichen Autorität. Angesichts der permanenten Kritik der Reichsstände am Reichshofrat wäre es äußerst unklug gewesen, jene Institution in den Dienst der kaiserlichen Politik zu stellen. Der Reichshofrat versuchte, auf der Rechtsgrundlage zu agieren. Sicherlich kann nicht von unabhängiger Justiz gesprochen werden93. Dafür bot allein das Reichsrecht zuviel Spielraum. Auch flossen Gesichtspunkte wie die Bedeutung der Parteien für den Kaiser indirekt mit ein. Dennoch wird in den untersuchten Prozessbeispielen immer wieder das Bemühen deutlich, eine rechtliche, und nicht eine politische Lösung zu finden.

VI. Die Vorstellung vom Reichshofrat als kaiserlichem Instrument geht von der Perspektive des Kaisers aus und läßt die Interessen der Reichsstände unberücksichtigt. Diese wurden bisher vor allem als Beklagte gesehen, die durch die Reichsgerichte in ihrer Herrschaft beschnitten bzw. kontrolliert wurden. Mittlere und kleinere Reichsstände wie die thüringischen Dynastien kämpften nach dem Dreißigjährigen Krieg mit massiven strukturellen Problemen und hatten Schwierigkeiten, sich im politischen System des Alten Reiches zu behaupten. Die Einführung der Primogenitur sollte ihre Existenz sichern, schuf aber neue Probleme. Die traditionellen dynastischen und reichsständischen Konfliktregulierungsmechanismen griffen nicht mehr. Dynastische Auseinandersetzungen, die zuvor gütlich geklärt werden konnten, wurden nun verrechtlicht und vor dem Reichshofrat ausgetragen. Der Reichshofrat scheute zunächst vor innerdynastischen Prozessen zurück, musste aber dann doch die Funktion eines reichsständischen Austrägalgerichts übernehmen, um die politische Ordnung zu bewahren. Auf diese Weise wurden die kleineren und mittleren thüringischen Territorialstaaten gestützt. Eine andere politische Intention gab es zunächst nicht.

93

Vgl. ORTLIEB, Auftrag (Anm. 17), S. 366.

Dynastische Konflikte der Ernestiner

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Eine Verknüpfung reichspolitischer Ereignisse mit der Sukzessionsproblematik ging von den armierten Linien aus, die dem Kaiser außenpolitische Hilfe gegen Unterstützung ihrer Interessen bei den dynastischen Prozessen anboten. In diesem Zusammenhang bildete sich am Wiener Hof eine Aufteilung der Einflusszonen heraus. Diejenigen Reichsstände, die dem Kaiser vor dem Hintergrund der außenpolitischen Auseinandersetzungen nützlich sein konnten, wandten sich direkt an ihn und seinen Geheimen Rat. Sie versuchten, die kaiserlichen Reservat- bzw. Gnadenrechte zu nutzen, weil diese größeren politischen Spielraum boten und nicht an Rechtsnormen gebunden waren. Bereits am Reichshofrat anhängig gemachte Vorgänge sollten in der Regel durch ein Votum ad imperatorem entschieden werden. Die Mindermächtigen setzten dagegen stärker auf den Rechtsweg am Reichshofrat, wo das machtpolitische Gewicht weniger berücksichtigt wurde. Der Reichshofrat war demnach nicht nur ein kaiserliches Instrument, sondern auch eine Plattform reichsständischer Konfliktregulierung. Das Reichskammergericht spielte bei Auseinandersetzungen über die Einführung der Primogenitur nur eine marginale Rolle, da Kaiser und Reichshofrat aufgrund der notwendigen Bestätigung testamentarisch festgelegter Primogeniturordnungen bei daraus entstehenden Konflikten automatisch zuständig waren. Die innerdynastischen Konflikte und ihre späteren Folgen führten zu einem komplexen Geflecht von wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Kaiser und Reichsständen. Ein Perspektivenwechsel hin zu den Adligen bzw. Dynastiemitgliedern als Nutzern der höchsten Gerichtsbarkeit läßt Kaiser und Reichsstände nicht mehr als gegensätzliche Kräfte eines dualistisch strukturierten Reichsverbandes erscheinen, sondern als eine Handlungsgemeinschaft mit unterschiedlichen Interessen, jedoch einem übergeordneten Ziel, nämlich Frieden und Recht im Reich aufrecht zuerhalten und die ständische Ordnung zu bewahren. Im „gemeinsamen Grundkonsens der Systemerhaltung“ trafen sich die kaiserlichen mit den reichsständischen Interessen94. Da keine der beiden Seiten in der Lage war, dies aus eigener Kraft zu erreichen, mussten Kaiser und Reich zusammenwirken.

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GEORG SCHMIDT, Deutschland am Beginn der Neuzeit: Reichs-Staat und Kulturnation?, in: Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. Festschrift für Horst Rabe, hg. von CHRISTINE ROLL, Frankfurt am Main u. a. 1996, S. 1-30, 30.

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Diese für mittlere und kleinere Dynastien des mitteldeutschen Raumes gewonnenen Ergebnisse gilt es künftig am Beispiel weiterer Dynastien zu untersuchen und zu überprüfen. Aus Perspektive der Adelsforschung wäre es zudem interessant, das breite Spektrum der innerdynastischen Konflikte, die vor den höchsten Gerichten ausgetragen wurden, auszuloten. Zudem müssten die Konflikte aus dem Bereich Familienverband am Reichskammergericht näher untersucht werden, die neben Konflikten der Geldwirtschaft ebenfalls einen großen Anteil am Gesamtprozessaufkommen ausmachen. Auch wenn schon einige Schneisen geschlagen wurden, ist also noch viel zu tun.

PAUL L. NÈVE

Die Entstehung der Sollicitatur am Reichskammergericht. Zum Einfluß des Parlement de Paris und des Hohen Rats von Mechelen I. Vor einigen Jahren publizierte Bengt Christian Fuchs über ‘Die Sollicitatur am Reichskammergericht’1. Es handelt sich dabei um die erste rechtshistorische Monographie aus neuerer Zeit zu diesem öfter angesprochenen Gegenstand. Seine Arbeit zeichnet aus den erreichbaren Quellen ein objektives und detailgenaues Bild der Sollicitatur.2 Wir sprechen hier über die Sollicitatur im eigentlichen Sinne, unter welchem Ausdruck am Reichskammergericht die durch eine Partei oder deren Vertreter außerhalb des förmlichen Verfahrens – außergerichtlich – an den Kammerrichter oder andere Gerichtsmitglieder gerichtete Bitte um Beschleunigung und Erledigung eines Prozesses verstanden wurde. Normalerweise bietet sich die Sollicitatur zwischen Aktenschluss und Urteilsverkündung dar, also in dem Verfahrensabschnitt, der geheim war und keine regulären Einflussmöglichkeiten der Parteien mehr vorsah. Schon bald nach dem Dreißigjährigen Krieg führten wachsender Geschäftsanfall und Personalmangel dazu, dass die reguläre Bearbeitungsreihenfolge der Prozesse vom Reichskammergericht nicht mehr eingehalten werden konnte und infolgedessen bei vergleichbarer Dringlichkeit diejenigen Rechtsfälle vorgezogen wurden, die am intensivsten sollicitiert wurden. Im Jüngsten Reichsabschied vom Jahre 1654 wurde diese Praxis gesetzlich fixiert und zwar derart, dass nur noch sollicitierte Verfahren vom RKG bearbeitet und zum Urteil gebracht werden sollten.

1

2

BENGT CHRISTIAN FUCHS, Die Sollicitatur am Reichskammergericht. (QFHG 40). Köln Weimar Wien 2002. Vgl. über die Sollicitatur am Reichshofrat: WOLFGANG SELLERT, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens (Unters.z.dt.Staats.u.R.Gesch. NF 18), Aalen 1973, S. 332-339.

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Paul L. Nève

Wer durfte beim RKG, beziehungsweise bei den einzelnen Gerichtsangehörigen eine Sollicitatur erheben, wer durfte ‘sollicitieren’? Grundsätzlich sollte ‘jedermann ohne Unterschied der Person, oder des Standes’ sollicitieren können, soweit er in eigenen Sachen oder als ordnungsgemäß Bevollmächtigter auftrat3. Je nach Lage des konkreten Streitfalles, der gesellschaftlichen Stellung der Partei, aber auch nach ihren finanziellen Möglichkeiten, konnte es vorteilhafter sein in persona oder durch die ordentlichen Verfahrensbevollmächtigten mit der Sollicitatur an das Gericht heranzutreten. Als beauftragte Sollicitanten kamen einerseits die Reichskammergerichts-Prokuratoren und Advocaten, anderseits bevollmächtigte Dritte in Betracht. Die letzte Gruppe kann man mit ‘Sollicitanten im engeren Sinn’ bezeichnen. Sie kann unterverteilt werden in Sollicitanten, die mit einer Spezialvollmacht ihrer Parteien ausgestattet, in Einzelfällen beim RKG sollicitierten, und in diejenigen, die sich zu diesem Zweck auf Dauer zur Betreibung einer Vielzahl von Prozessen am Gerichtsort aufhielten. Die Sollicitatur war ein ‘offiziöses’ Institut, das nur lückenhaft in amtlichen Dokumenten und Gerichtsakten auszumachen ist. Nur für das 18. Jahrhundert steht der Forschung ein reicheres Quellenmaterial zur Verfügung, so dass notwendigerweise auch die Arbeit von Bengt Fuchs in starkem Maße auf diese Periode gerichtet war. Vielleicht darf ein Außenstehender versuchen, einige Aspekte dieses Instituts von der Seite zu beleuchten, zum Beispiel durch die Frage, ob die Sollicitatur eine typisch-deutsche Erscheinung war.

II. Dass die Sollicitatur auch außerhalb der beiden höchsten Reichsgerichte, und zwar in der österreichischen gerichtlichen Praxis des siebzehnten und des frühen achtzehnten Jahrhunderts existiert hat, ist schon von Gunter Wesener in seiner Besprechung Fuchs’ Buches bemerkt worden. Die Sollicitanten scheinen hier die (untergebenen) Hilfsorgane der Prokuratoren und Advocaten gewesen zu sein4. Sollte diese österreichische Institution noch für einen ‘Ausstrahlungseffekt’ der Reichsgerichte gehalten werden können, 3

4

KARL FRIEDRICH BRAINL, Lehrsätze über die Pracktick der beiden höchsten Reichsgerichte zum Gebrauch öffentlicher Vorlesungen. Wien 1776, S. 104. Zitat in: FUCHS, Die Sollicitatur (Anm. 1), S. 88. GUNTER WESENER, in: ZRG GA 120 (2003), S. 703-704.

Die Entstehung der Sollicitatur am Reichskammergericht

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so kommt mir etwas Ähnliches für die Parallelerscheinungen in den Niederlanden unwahrscheinlich vor. Der Vertrag von Augsburg vom Jahre 1548 hat die burgundisch-habsburgischen Niederlande endgültig dem Wirkungsbereich der obersten Reichsgerichte entzogen, aber viel eher, im Jahre 1473, hatte Herzog Karl der Kühne schon ein ‘souveränes’ Obergericht für seine niederländischen Provinzen errichtet, das nach dem Vorbild des Parlement de Paris gestaltete Parlament von Mecheln. Kurz nach der Niederlage und dem Tode Karls des Kühnen bei Nancy (5. Januar 1477) wurde seine Erbtochter Maria (1457/1477-1482) von den Generalständen gezwungen, das Parlament von Mecheln wieder aufzuheben (Großes Privileg für alle burgundischen Niederlande vom 11. Februar 1477), aber dieser formelle Akt ließ die Institution nicht definitiv verschwinden. Anfänglich übernahm Marias Hofrat die gerichtlichen Aufgaben; später wurde dies die Aufgabe einer im Hofrat entstandenen Sonderkammer (der ‘Große Rat’). 1504 gab Herzog Philipp der Schöne (1478/1482-1506) dem ambulanten Gericht, dessen Zuständigkeit er nicht auf die Niederlande (les pays de par deça) beschränkte, einen festen Sitz, wiederum zu Mecheln5. Infolge des niederländischen Aufstands verlor der Große Rat einen großen Teil seines unter Maximilian und Karl V. ausgedehnten Gerichtsbezirks. Er blieb nur zuständig für die südlichen Provinzen (1580-1585). Im Norden entstand ein neues Obergericht, der Hohe Rat von Holland, Seeland und West-Friesland. Im Jahr 1582 gab Prinz Wilhelm von Oranien diesem Gericht die erste ‘Instruction’ und man liest hier zu seiner Überraschung im Artikel CCLVIII dass ‘niemand sich vermessen sollte Zettel (billietten) zu überreichen um den Ausgang von Prozessen zu bekommen, es sei, dass er vorher in der Kanzlei gewesen ist und dort darüber Gewissheit bekommen habe, dass der Prozess, den er verfolgt, gefurneert ist (die beiden Säcke mit den kompletten Prozessakten dem Gericht vorgelegt sind) und die Streitsache beiderseitig im Rechte beschlossen worden ist, […]. Es ist anzunehmen, dass dieser Satzteil auf eine in persona an das Gericht herantretende Partei zielt. Der Text spricht weiter nur noch über den Prokurator. Alle eingereichten Zettel sollten von ihm unterzeichnet worden sein. Gab es nur Prokuratoren und sollicitierende Parteien? Oder bildeten die ‘solliciteurs’ eine dritte Gruppe? Die Aufschrift der Artikel CCLVIII. und 5

Siehe: JOHN GILISSEN, De Grote Raad van Mechelen. Historisch overzicht, in: Miscellanea Consilii Magni (Verzamelen en bewerken van de jurisprudentie van de Grote Raad NR 9), Amsterdam 1980, S. 13-43.

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Paul L. Nève

CCLIX. lautet: Van solliciteurs ende vervolgers van de expeditie van den processen6. Frau Dr. Christel Verhas, die den Anfangsjahren des Hohen Rates ihre Dissertation widmete, schreibt, dass Parteien nach Abschluß des kontradiktorischen Verfahrens immer das Gericht um ein Urteil zu bitten hatten. Dazu würden billetten an die Mitglieder des Obersten Gerichts gerichtet, ‘eine Aufgabe, die meistens von solliciteurs bewältigt wurde’7. Der Beweis der Richtigkeit dieser Aussage lässt sich bedauerlicherweise in dem Text nicht finden. Glücklicherweise gibt es jedoch Nachrichten über eine spätere Periode. Nach dem bekannten Vademecum für die prozessuale Praxis des Amsterdamer Rechtsanwalts Joannes van der Linden wurden am Ende des Ancien régime die billetten an jeden der Gerichtsräte am Morgen während des Ganges zum Rat von den Prokuratoren ausgeteilt. Es handelt nicht von Sollicitanten. Die Prokuratoren hatten diese Gewohnheit entwickelt, um die Erledigung der ‘schriftlichen’ (beschriebenen) Rechtssachen zu beschleunigen, weil darin ‘keine feste Ordnung gehalten werde’ und die Entscheidung also ‘gelegentlich etwas lang zurück bleibt’. In den ‘plädierten’ Sachen (die in die Terminrolle eingetragen wurden) sei das Sollicitieren nicht notwendig. Gewöhnlich werden diese sofort nach den Plädoyers vom Gerichtshof zur Examinierung in die Hand genommen8. Die Worte ‘beschriebene Sachen’ beziehen sich auf die u. a. in Art. CLXXI der Instruktion für den Hohen Rat (1582) und in Art. CCVIII der noch zu besprechenden Instruktion für den Hof von Holland usw. (1531) erwähnte Möglichkeit, in Berufungsverfahren das Berechtigtsein der Appellation nur auf der Grundlage der erstinstanzlichen Prozessakten (ex eisdem actis, an bene vel male) zu beurteilen. Beide Instruktionen gehen von der

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Siehe 31 Mei 1582. Instructie van den Hoogen Raad van Holland en Zeeland’, in: Klein Plakkaatboek van Nederland, hg. von A.S. DE BLÉCOURT & N. JAPIKSE, Groningen – Den Haag 1919, S. 144-175, 171. CHRISTEL MADELEINE ODILE VERHAS, De beginjaren van de Hoge Raad van Holland, Zeeland en West-Friesland, Den Haag 1997, S. 97. Im gleichen Sinne: MARIA-CHARLOTTE LE BAILLY / CHRISTEL MADELEINE ODILE VERHAS, Procesgids Hoge Raad van Holland, Zeeland en West-Friesland (1582-1795). De hoofdlijnen van het procederen in civiele zaken voor de Hoge Raad zowel in eerste instantie als in hoger beroep (Procesgidsen 5), Hilversum 2006, S. 48, 72. Siehe: JOANNES VAN DER LINDEN, Verhandeling over de judicieele practijcq, of Form van procedeeren, voor de Hoven van Justitie in Holland gebruikelijk, 2 Teile. Leiden 17941798, Teil 2, S. 64.

Die Entstehung der Sollicitatur am Reichskammergericht

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Annahme aus, dass der Prozess in erster Instanz in erheblichem Maße einen schriftlichen Charakter gehabt habe und deshalb von den Berufungsrichtern ein ‘proces by geschrifte’ (proces par escript) genannt werden könne9. Hier stoßen wir auf eine Verfahrensart, die auch am Parlament von Mecheln und am Großen Rat üblich war10. Das ab dem sechzehnten Jahrhundert an den niederländischen (höheren) Gerichten geübte Verfahren des Kommunikationsprozesses (eine Fortsetzung des proces by geschrifte?) brachte natürlich auch einen proces by geschrifte.11 Die ‘Instruction’ für den ‘Hohen Rat’ von 1582 stützte sich auf die ‘Ordnung’ für den Großen Rat von Mechelen vom Jahre 1559, welche die Aktivitäten des Großen Rates für viele Jahre bestimmt hatte. Wie ihre Vorgänger, die ‘Ordnung’ von Karl V. (1522) in Artikel XX.1, kannte die ‘Ordung’ von 1559 in Artikel XIX.1 die Institution der soliciteurs.12 Der ‘holländische’ Artikel CCLVIII ist eine wortgetreue Übersetzung der vorgehenden Be-

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Vgl. WILHELMUS GEORGE PHILIP ERICH WEDEKIND, Bijdrage tot de kennis van de ontwikkeling van de procesgang in civiele zaken voor het Hof van Holland in de eerste helft van de zestiende eeuw, Assen 1971, S. 146-149. Siehe über den Ursprung dieser Praktik: JAN VAN ROMPAEY, De Grote Raad van de Hertogen van Boergondië en het Parlement van Mechelen (Verhandelingen van de Koninklijke Academie voor wetenschappen, Letteren en Schone Kunsten van België, Klasse der Letteren Jaargang 35 Nr. 73), Brussel 1973, S. 449-452; PAUL P.J.L. VAN PETEGHEM, De Raad van Vlaanderen en staatsvorming onder Karel V (1515-1555). Een publiekrechtelijk onderzoek naar centralisatiestreven in de XVII Provinciën (Uitgaven van het Gerard Noodt Instituut 15), Nijmegen 1990, S. 144-150. HUGO DE SCHEPPER, Rechter en Administratie in de Nederlanden tijdens de zestiende eeuw, Alphen aan den Rijn 1981, S. 6: Das Kommunikationsverfahren war bekannt am (Brüsseler) Geheimen Rat, an den ‘niederländischen’ Rechnungshöfen, am Grossen Rat von Mecheln und am (Brüsseler) Finanzrat. Auch am (Brüsseler) Rat von Brabant war es geläufig, aber vermutlich erst in späteren Zeiten. Siehe auch: ERIK-JAN MARIA FRANS CORNELIS BROERS / BEATRIX CHRISTINA MARIA JACOBS, Procesgids Staatse Raad van Brabant (Procesgidsen 1), Hilversum 2000, S. 22-23, über dieses völlig schriftliche Verfahren, das im achtzehnten Jahrhundert am Brüsseler Rat von Brabant das alte Terminverfahren verdrängt hätte. Vgl.: HUGO DE SCHEPPER, Ein Überblick auf die gerichtliche Kontrolle über Verwaltungshandlungen in den Niederlanden im 16. Jahrhundert, in: WOLFGANG SELLERT (Hg.), Rechtsbehelfe, Beweis und Stellung des Richters im Spätmittelalter (QFHG 16), Köln Wien 1985, S. 55-71 (bes. S. 58-60); WOLFGANG SELLERT, Art. Kommunikationsprozess HRG II 11978, Sp. 987-988. Texte: ‘Ordonnance de l’Empereur, portant règlement pour le Grand Conseil de Malines (avril 1522)’, in: Recueil des ordonnances des Pays-Bas (Abk.: ROPB), Deuxième Série: 1506-1700, Bd. II, Bruxelles 1898, S. 173-187, bzw. ‘Style et manière de procéder du Grand Conseil de Malines (8 août 1559)’, in: ROPB, 2. Série: 1506-1700, Bd. VII, Bruxelles 1957, S. 461-492.

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stimmungen. Nur die Vorschrift, dass alle eingereichten Zettel von einem Prokurator unterzeichnet sein sollten, ist eine spätere Hinzufügung13. Die drei Bestimmungen zielen offensichtlich auf die Einschränkung der Praxis des Sollicitierens auf die letzte Prozessphase ab. In vorhergehenden Artikeln enthalten die erwähnten ‘Verordnungen’ von 1522, 1559 und 1582 jedoch eine Vorschrift, die festlegt, dass die kompletten Akten aller ‘vollendeten’ Prozesse in die Kanzlei gelegt werden sollten und dass der Präsident sie nach Belieben (an die Mitglieder des Gerichts zur Anfertigung einer Relation) distribuieren sollte14. Dies war vielleicht der normale Vorgang. Aus den Archiven des Großen Rates zeigt sich, dass Parteien sich in den Jahren 1522-1559 tatsächlich der Sollicitationen zur ‘Spedition’ oder ‘Administration’ der Justiz bedient haben15. So sind zwei Zettel (billietten, billets) in dem ‘Distributionsregister’, in denen man die Benennung der Referenten (rapporteurs) für die Jahre 1542-1545 findet, gelandet16. Der Autor einer Dissertation über den Großen Rat folgert aus seinen Daten, dass ‘Before judgment was passed, litigants repeatedly had to petition the court for a ruling by way of submitting billets (biljetten) and occasionally an additional petition’17. Leider wurde diese Beobachtung nicht zahlenmäßig erläutert. Wie es am Großen Rat vor 1522 mit dem Sollicitieren bestellt war, ist mir nicht bekannt. Philips Wielant, der ab der Errichtung des Gerichts (1504) bis zu seinem Tod am 2. März 1520 Mitglied und Vizepräsident des Großen Rats gewesen ist, vollendete im Jahre 1519 seine einflussreiche – aber bis 1558 ungedruckt gebliebene – prozessrechtliche Abhandlung ‘Practijke Civile’. Über das Sollicitieren spricht Wieland überhaupt nicht, und der Solici-

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In der niederländischen Version der Verordnung von 1559 ist auch die Aufschrift der einschlägigen Artikel dasselbe. Siehe: JACQUES BOLSÉE, L'ordonnance du 8 août 1559 réglant le statut, le style et la manière de procéder du Grand Conseil de Malines (Texte néerlandais), in: Bulletin de la Commission Royale des Anciennes Lois et Ordonnances de Belgique 24 (1969-1970), S. 77-152. Siehe: Verordnung 1522, Art. II. 32, Verordnung 1559, Art. I. 36 und ‘Instruction’ 1582, Art. XLVI. Siehe: CORNELIS HENDRIK VAN RHEE, Litigation and legislation. Civil procedure at first instance in the Great Council for the Netherlands in Malines (1522-1559), (Studia Algemeen Rijksarchief en Rijksarchief in de Provinciën, 66), Brussels 1997, S. 190-191, 350. Die Zettel befinden sich im belgischen ‘Algemeen Rijksarchief’, Fond Grote Raad der Nederlanden te Mechelen, Register GCM 623 (1542-1545). Register GCM 634 (15041520/1522) enthält keine Zettel. Freundliche Mitteilung des Kollegen Herrn Dr. MICHEL OOSTERBOSCH (Antwerpen). VAN RHEE, Litigation and legislation (Anm. 15), S. 188.

Die Entstehung der Sollicitatur am Reichskammergericht

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teur wird nur erwähnt in Titel III, Capitul. XXII, Par. 2, wo der Autor dem Leser vorhält, dass ein Advocat oder taelman (Redner), der sich ohne Prokura präsentiert, nicht nur die Kaution de rato sondern auch die Kaution judicatum solvi leisten sollte. ‘So tut auch ein Soliciteur oder ‘Unterwinder” der Sache’. Zu dem letzten Satz passt Tit. III, Capitul. XII, Par. 1, in fine: ‘und es gibt keinen anderen Unterschied zwischen dem Prokurator und den Unterwindern der Sachen, als dass der Prokurator administriert mit Auftrag und die Unterwinder ohne Auftrag’18.

III. Verlassen wir die Ebene der höchsten Gerichte und gehen wir eine Stufe tiefer. Am 20. August 1531 erliess Karl V. in der Eigenschaft als Graf von Holland und Seeland eine neue Prozessordnung für den Gerichtshof dieser beiden Grafschaften19. Über das Sollicitieren spricht nur der Art. LXXXVII mit dem folgenden Wortlaut: ‘Item, damit der Gerichtshof nicht vergebens gequält werde und die Parteien nicht von ihren Prokuratoren ausgenutzt (werden), wird angeordnet, dass die billetten, welche fortan überreicht werden, vom Prokurator der Partei, die Beschleunigung begehrt, unterzeichnet sein sollen’. Schon sechzig Jahre später wird die Lage eine ganz andere sein. Oder war sie schon im Jahre 1531 so20? Wie es auch sei, das 1592 erschienene grundlegendste Werk über das alte holländische Zivilprozessrecht lehrt uns, dass, wenn die Sache ‘entscheidungsreif’ gemacht sei, von den Parteien oder von der Partei, der das meiste daran liegt, um Recht gebeten werde, mit Hilfe derjenigen, die der stilus curiae Soliciteurs nennt, und die allen Mitgliedern des Gerichtshofes den Ausgang der - in billietten in wenigen Worten ausgedrückten - Sache rekommandieren (lib. IV, tit. LXXXIV, cap. IV, § I). Die solliciteurs fangen die Gerichtsmitglieder auf, wenn diese sich nach dem Gerichtsgebäude oder in das Beratungszimmer verfügen; sie rekommandie18

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Siehe PHILIPS WIELANT, Practijke Civile. Heruitgave verzorgd door Dr. Egied Idesbald Strubbe. Amsterdam 1968. Vgl. GEORG WILHELM WETZELL, System des ordentlichen Zivilprozesses, Neudruck der 3. Aufl. Leipzig 1878. Aalen 1969, S. 81-82: ‘Demnach ist der s. g. procurator praesumtus, da er ohne Auftrag handelt, kein wahrer Procurator, sondern ein negotiorum gestor, eben so wie der defensor ein solcher ist’. Siehe 20 Augustus 1531. Instructie van dan Haagen Raad van Holland en Zeeland’ (Anm. 6), S. 33-69. Die vorhergehende ‘Instruction’ datierte von 1462. Dies fragt sich auch Dr. WEDEKIND in seiner schon erwähnten, dem holländischen Prozessrecht gewidmeten Dissertation ‘Bijdrage’ (Anm. 9), S. 120, Fn. 706.

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ren auch mündlich (lib. IV, tit. XIX, cap. I, § I)21. Merula spricht nicht über

verpflichtetes Sollicitieren, betrachtet die Aktivitäten der solliciteurs jedoch als selbstverständlich. Ein späterer Autor, Gerard van Wassenaer (oder Wassenaar) erklärt lakonisch, dass das Urteil der Richter die Absicht der streitenden Parteien sei, weshalb, wenn die Sache ‘entscheidungsreif’ gemacht ist, von beiden Seiten den Richtern billetten präsentiert werden, damit sie terminiert werden könne (1669)22. Aus dem Vorhergehenden zeigt sich, dass auch in den Niederlanden die Sollicitatur ein ‘offiziöses’ Institut war, das nur lückenhaft in offiziellen Prozessordnungen auszumachen ist. Die Ordnungen handeln gleichsam über eine Theaterbühne, während die Sollicitanten im Hintergrund spielen, vielleicht hinter den Kulissen. Eine Ordnung Karls V. des 20. März 1531 für den Rat von Brabant lässt sie jedoch ein wenig ins Rampenlicht treten23. In Art. 15 wird dem Kanzler und den Gerichtsräten verboten, von jemandem, der bei dem Rat einen Prozess führt, Geld oder anderes Gut anzunehmen. Als ‘Aspirant-Geber’ nennt der Artikel neben den Parteien ihre secretarissen, advocaten, procureurs, factors oft sollicitators, oft anderen. Und Art. 348 verständigt uns, dass es fortan zwei Gruppen sollicitators geben wird, die gemeyne, welche dem (ambulanten) Rat von Brabant folgen, und die privaten (particuliere) Boten, die von den Parteien speziell geschickt werden um ihren Advokaten notwendige Informationen zu geben. Die Erstgenannten sollen für ihr Sollicitieren oder ihr persönliches Erscheinen vor Gericht (comparicie) nichts anrechnen dürfen, die ‘speziellen’ Sollicitanten haben das Recht

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PAULUS MERULA, Synopsis Praxeos Civilis, Maniere van Procederen in dese Provintien Hollandt, Zeelandt ende West-Vrieslandt, belanghende civile saken. Erstaufl. Amsterdam 1592. Ich benutzte die Aufl. Delft 1705. Die Zusammenfassung des XIX. Titels des IV. Buches lautet: Solicitatores sunt, qui subornati a litigantibus, eorumque procuratoribus causarum decisionem & dubium litis exitum a Senatu rogant, submissis epistolis vel scedulis, quibus nomina sua procuratores subscribere tenentur, ne Judicii huius auctoritas elevetur & Senatus abs re fatigetur. Billietten vulgo vocantur.

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GERARD VAN WASSENAER, Practijk judicieel ofte Instructie op de forme en manier van procederen voor Hoven en Recht-Banken, Utrecht 1669, Caput XXL, Art. I (S. 269). Das Buch (Erstauflage: 1660) ist Teil I. von: GERARDI À WASSENAER, Praxis Iudiciaria, in twee onderscheyde deelen vervat. Editio Nova. Utrecht 1669. Teil II. ist die ‘Practyk notariael, ofte Instructie tot het maken ende instellen van de voornaemste instrumenten, usw’, Utrecht 1669. Text in: ROPB (Anm. 12), 2. Série: 1506-1700, Bd. III, Bruxelles 1902, S. 89-148.

Die Entstehung der Sollicitatur am Reichskammergericht

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zur Entgegennahme eines Entgelts.24 Offensichtlich hätte im Herzogtum Brabant die Sollicitatur um 1530 einen hohen Entwicklungsgrad erreicht, was ein wenig kontrastiert mit einer Bestimmung des ‘Reglements’, das Herzog Philipp der Schöne am 14. Februar 1500 (n.s.) für den Rat erlassen hatte25. Hier wurde den Kanzleiangestellten und den Dienern des Kanzlers (oder Gerichtspräsidenten), der Gerichtsmitglieder, der Kanzleileiter und der Sekretäre, ebenso wie den Gerichtsvollziehern verboten, sich in die Funktionen der Prokuratoren einzumischen oder die Richter im Namen der Parteien anzusprechen (solliciter). Man bekommt den Eindruck, dass untergeordnete Mitarbeiter und Diener der ‘Gerichtspersonen’ (im weiten Sinne des Wortes) angefangen hatten, Gelegenheitsarbeiten zu verrichten, die formell zu den (gerichtlichen) Aufgaben der Prokuratoren gehörten, aber dass sie auch außergerichtlich für Parteien als solliciteurs auftraten. Vielleicht versuchte der Herzog, die zwei Kreise, d.h. das ‘Gerichtspersonal’ und die ‘Parteien mit ihren Lobbyisten’, getrennt zu halten. In Anbetracht der folgenden Ausführungen ist darauf hinzuweisen, dass die Prozessordnung des Rates von Brabant von 1474 schon die Berufung gegen ein Urteil, das in einem proces par escript erlassen worden war, behandelte26. Nebenbei sei bemerkt, dass die Reichskammergerichtsordung von 1500 einen Titel mit der Überschrift ‘Wohin Cammer-Richter und Beysitzer zu Kost gehen mögen’ enthielt, der bestimmte, dass weder der Kammerrichter noch die Assessoren einigen Procuratorn, Redner, Sollicitatorn oder wie die Nahmen haben mögen bei ihnen im Hauss wesentlich, oder in der Kost haben noch halten’. Umgekehrt ‘soll kein Procurator, Redner oder Sollicitator der CammerGerichts-Sachen weder Unsern Königlichen Cammer-Richter, noch der Assessorn oder Urtheiler einigen, bey ihm im Hauss halten, Argwohn und Verdächtlichkeit,

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Vgl. FUCHS, Die Sollicitatur (Anm. 1), S. 136, über den Unterschied zwischen in Einzelfällen beim RKG sollicitierenden Sollicitanten und denen, die sich zu diesem Zwecke auf Dauer zur Betreibung einer Vielzahl von Prozessen am Gerichtsort aufhielten. Der Text des Reglements ist noch nicht ediert. Siehe für eine kurze Inhaltsaufgabe: ARTHUR GAILLARD, Le Conseil de Brabant. Histoire – Organisation – Procédure. Tl. 1, Bruxelles 1898, S. 68-71, und über die Sollicitatur: GAILLARD, Le Conseil de Brabant, Tl. 3, Bruxelles 1902, S. 163-164. Siehe: MICHEL OOSTERBOSCH / DIRK VAN DEN AUWEELE (Hg.), De Ordonnantie van 20 juni 1474 voor de Raad van Brabant, Brussel 1993, S. 130-131 (Art. 208).

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Paul L. Nève

so darauss entstehen mag, zu vermeiden.27 Gab es im Jahr 1500 am RKG schon

‘gemeine’, im Gerichtssitz wohnende, und ‘private’, speziell geschickte, Sollicitanten? ‘Dann muß die Sollicitatur notwendig schon vorher in Übung gewesen sein’, bemerkt Dr. Fuchs28. Dies ist nicht unwahrscheinlich: Harpprecht berichtet schon von einem 1496 vom Bischoff von Lebus beim stellvertretenden Kammerrichter, Magnus Fürst von Anhalt, eingereichten Gesuch um Beförderung einer Rechtssache29, und zwischen dem königlichem Kammergericht und dem Reichskammergericht hatte es Kontinuität in Verfahrensprinzipien gegeben30. Was dem Leser übrigens auffällt, ist, dass die mit RKGO 1500, Tit. XVII korrespondierende Bestimmung der RKGO 1555 die ‘Unterkunft gebenden’ Sollicitanten nicht mehr erwähnt31. Zur Zeit der Errichtung des Parlaments von Mecheln (1473) unterstanden der größte Teil der Grafschaft Flandern (Kronflandern) und das Artois als französische Lehen der französischen Krone und demzufolge dem Parlament von Paris. Selbstverständlich stieß das neue Obertribunal im Pariser Parlament auf Widerstand, und dasselbe galt für seinen Nachfolger, den von Philipp dem Schönen 1504 errichteten Großen Rat von Mecheln. Weil Philipps Vater und Vormund Maximilian von Habsburg im Frieden von Senlis (1493) die gesamten niederländischen Territorien unter Einschluß Flanderns und des Hauptteils der Grafschaft Artois gegen Frankreich behauptet hatte, war der Zuständigkeitskonflikt zwischen dem Großen Rat und dem Pariser Parlament wiederaufgelebt. Erst im Frieden von Madrid (1526) verzichtete der französische König Franz I. auf seine Rechte in Flandern und im Artois,

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RKGO 1500, Tit. XVII. Siehe: JOHANN JACOB SCHMAUSS / HEINRICH CHRISTIAN SENKENBERG, Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, 4 Teile in 2 Bänden. Frankfurt 1747, Tl. 2, S. 71. Vgl. FUCHS, Die Sollicitatur (Anm. 1), S. 19, Fn. 90. FUCHS, Die Sollicitatur (Anm. 1), S. 35-36. Siehe: JOHANN HEINRICH HARPPRECHT, Staats-Archiv des Kayserlichen und des H. Röm. Reichs Cammer-Gerichts oder Sammlung von gedruckten und mehrentheils ungedruckten Actis Publicis, Archival-Urkunden, Kayserl. Rescripten, Verordnungen, Praesentations- und Visitations-Handlungen usw., 6 Bde Ulm – Frankfurt a.M. 1757-1785, Bd. 2, S. 97. Vgl. RUDOLF SMEND, Das Reichskammergericht. Geschichte und Verfassung, Weimar 1911 (Neudruck Aalen 1965), S. 70; FRIEDRICH BATTENBERG, Von der Hofgerichtsordnung König Ruprechts von 1409 zur Kammergerichtsordnung Kaiser Friedrichs III. von 1471, in: FRIEDRICH BATTENBERG, Beiträge zur höchtsten Gerichtsbarkeit im Reich im 15. Jahrhundert (QFHG 11), Köln Wien 1981, S. 21-81 (bes. S. 25). Vor 1495 regierte nicht der mündliche ältere Reichsprozeß, vgl. FUCHS, Die Sollicitatur (Anm. 1), S. 36, Fn. 178. RKGO 1555, I, XIII, § 14. Siehe ADOLF LAUFS (Hg.), Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (QFHG 3), Köln Wien 1976, S. 97.

Die Entstehung der Sollicitatur am Reichskammergericht

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also auch auf die Zuständigkeit des Parlaments von Paris. Dieses hat den ‘den Fundamentalgesetzen entgegenstehenden’ Frieden niemals anerkannt. Zwischen 1320 und 1521 wurde beim Pariser Parlament gegen Urteile des gräflichen Rats von Flandern zahlreiche Berufungen eingelegt32. Um dem Leser einen Überblick zu verschaffen, habe ich in der ‘Instruktion’ von 1483 und in den während der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts ergangenen Gerichtsordnungen des Rats von Flandern (1510, 1522, 1531) nach Erwähnungen des Sollicitierens oder der Appellation auf der Grundlage der Akten der Vorinstanz (ex eisdem actis) gesucht33. Nur die Instruktion 1483 führte zu Ergebnissen. Im 20. Artikel wurde angeordnet, dass, wenn beim Pariser Parlament gegen ein Urteil des Rats Berufung eingelegt wird, der Vorsitzende des Rats von Flandern die Parteien herbeirufen und den Aktensack in ihrer Anwesenheit öffnen soll. Die Akten sollen denn von einem Gerichtsrat übersetzt werden, und danach soll die Übersetzung in dem wieder geschlossenen Sack nach Paris geschickt werden. Offenbar wollte das Parlament ex eisdem actis urteilen. Und Artikel 90 bestimmt, dass weder die Prokuratoren, noch ihre Schreiber mittels billetten, memorien oder sonstwie zur Beschleunigung eines Prozesses solliciteren sollen, es sei, dass der Prozess in allen seinen Gliedern ghefurniert (dem Gericht vorgelegt) ist, usw. Diese sparsamen Auskünfte können aus den vom Nimwegener Rechtshistoriker Dr. Paul van Peteghem veröffentlichten Daten ergänzt werden34. Im Jahre 1477 wurde Herzogin Maria von Burgund von den niederländischen Generalständen gezwungen, das Parlament von Mecheln wieder aufzuheben (Großes Privileg vom 11. Februar 1477). Der Rat von Flandern bekam seine Monopolstellung als Rechtsmittelinstanz (Berufung, ‘Reformation’) der Urteile des niederen Rechtszuges zurück. Für die städtischen Schöffengerichte war diese Entwicklung eine 32

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RAOUL CHARLES VAN CAENEGEM / SERGE DAUCHY e.a., Les arrêts et jugés du Parlement de Paris sur appels flamands conservés dans les registres du Parlement. 1. Textes (13201453); 2. Textes (1454-1521); 3. Introduction historique par S. Dauchy; Index des noms de personnes par H. de Ridder-Symoens. Index des matières par D. Lambrecht, Bruxelles 1966 - 2002. Texte: ‘Instructie’ 1483 in: EGIED IDESBALD STRUBBE, De luister van ons oude recht. Verzamelde rechtshistorische studies, Brussel 1973, S. 543-556; ‘Ampliation’ 1510 in: ROPB (Anm. 12) 2. Série, Bd. 1, Bruxelles 1893, S. 136-139 ‘Instruction’ 1522 in: ROPB 2. Série, Bd. 2, S. 192-206.; ‘Ampliation’ 1531 in: ROPB 2. Série, Bd. 3, S. 216-220,. Vgl. PAUL VAN PETEGHEM, De verordening van 1483 voor de Raad van Vlaanderen herzien, in: GUSTAAF ASAERT u. a. (Hg.), Recht en instellingen in de oude Nederlanden tjdens de Middeleeuwen en de Nieuwe Tijd. Liber amicorum Jan Buntinx, Leuven 1981, S. 341-350. Siehe: VAN PETEGHEM, De Raad van Vlaanderen (Anm. 10), S. 144-157, 338, 366, 369.

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Gefährdung ihrer Autonomie. Eine Berufung bedeutete eine neue Behandlung der Streitssache, und in einem Reformationsverfahren waren die Richter, die das angefochtene Urteil gefällt hatten, die Beklagten35. Der Leser erinnert sich noch an die u. a. am (aufgehobenen) Parlament von Mecheln im Appellationsprozess übliche Verfahrensart, nach welcher die Berufungsrichter die Streitsache nur auf der Grundlage der erstinstanzlichen Prozessakten (ex eisdem actis, an bene vel male) beurteilten. Diese Praxis hatte die erstinstanzlichen Richter gewissermaßen gegen zentralisierende fürstliche Eingriffe geschützt. Darum ließen die Stände der Grafschaft Flandern in dem ebenfalls am 11. Februar 1477 ausgegebenen speziellen Privileg für Flandern eine Bestimmung aufnehmen, die beinhaltete, dass der Rat fortan die Appellations- und Reformationsprozesse als processen bij ghescriften empfangen sollte36. Schon im Jahr 1494 erklärte Herzog Philipp der Schöne das (seiner Mutter abgezwungene) Privileg für ungültig. Den vier Mitgliedern des Dritten Standes (die Städte Gent, Brügge und Ypern, und der Landbezirk das Brugse Vrije) gelang es aber, nach einem langen Rechtsstreit 1495 von König Maximilian für ihre Gerichte die Bestätigung des alten Privilegs zu erlangen.37 Maximilians Entscheidung enthielt die Begründung, dass die aus dem sogenannten Flandern Gallicant stammenden Appellationen als ‘schriftliche Prozesse’ behandelt wurden und dass die Berufungen aus dem Flandern Flamingant (der restlichen Grafschaft) mit den Appellationen aus Flandern Gallicant gleichgesetzt werden sollten. In der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts errangen viele andere Gerichte dasselbe Vorrecht wie die ‘Vier Mitglieder’. Die flämischen Städte versuchten die Eingriffe in ihre Autonomie, die durch die Berufungen am gräflichen Rat zu befürchten waren, soviel wie möglich mittels der Institution der Beurteilung ex eisdem actis zu beschränken. Dies verursachte eine drastische Änderung der Prozesse: Das in Flandern übliche mündliche Verfahren musste verschriftlicht werden. Gelegentlich ‘bekleidete’ man den oralen Prozess mit Aufzeichnungen in zu diesem Zweck an-

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Siehe: JOS MONBALLYU, ‘Van appellatiën ende reformatiën’: de ontwikkeling van het hoger beroep bij de Audiëntie, de ‘Camere van den Rade’ en de Raad van Vlaanderen (ca. 1370 - ca. 1550), in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 61 (1993), S. 237-275. Text des Privilegs in: WILLEM PIETER BLOCKMANS (Hg.), Le privilège général et les privilèges régionaux de Marie de Bourgogne pour les Pays-Bas 1477 usw. (Kortrijk-Heule 1985), S. 126-144 (bes. Nr. 25, S. 136). Siehe: VAN PETEGHEM, De Raad van Vlaanderen (Anm. 10), S.146-147.

Die Entstehung der Sollicitatur am Reichskammergericht

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gelegten Registern, doch immer öfter wurde ein neuer Stilus Curiae eingeführt. Und es ist selbstverständlich, dass diese Erneuerungen auf Lokalebene einen großen Bedarf an juristischer Unterstützung, zum Beispiel durch ‘Ratspensionäre’ (juristische Berater, die ein Jahresgehalt empfingen) entstehen ließen. In den von Dr. Van Peteghem den Biographien der Präsidenten, der beisitzenden Gerichtsräte usw. gewidmeten Seiten seiner Dissertation trifft man vier Personen an, die am Anfang ihrer Karriere die Funktion eines solliciteur (und Ratspensionärs) innegehabt hatten. Ihr Auftrag war die ‘Überwachung’ der Prozesse die bei dem Rat von Flandern anhängig waren und an denen ein Mitglied des flämischen Dritten Standes beteiligt war. Nach Verlauf einiger Jahre wurden diese vier solliciteurs zu Gerichtsrat-Kommissaren (für kommissarische Vernehmungen) ernannt. Für dieses Amt war bis zur Gerichtsordnung von 1522 eine akademische Ausbildung nicht erforderlich38. Die Ernennungen zum solliciteur lassen sich meistens in den städtischen, bzw. lokalen Quellen auffinden. Es würde sich vielleicht lohnen, in den in Betracht kommenden Archiven eine systematische Recherche nach dem Vorkommen der solliciteurs im fünfzehnten Jahrhundert durchzuführen. Wahrscheinlich hatten die Städte sich schon vor den Schwierigkeiten mit dem Rat von Flandern bei anderen Gelegenheiten und an anderen Stellen von diesen Amtsträgern, einer Art von Lobbyisten, bedient. Beispielsweise ist festzustellen, dass die Bischofsstadt Tournai (Doornik), welche mit ihrem Bezirk Le Tournaisis im fünfzehnten Jahrhundert zum französischen Königreich gehörte und, ebenso wie das angrenzende Flandern, dem Pariser Parlament unterstand, im Jahre 1459 maistre Nicolas du Ru in Paris als soliciteur de la ville für ihre Sachen und Prozesse in Dienst hatte39.

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Siehe: VAN PETEGHEM, De Raad van Vlaanderen (Anm. 10), S. 338-341 (Jacob Hueribloc, solliciteur der Stadt Gent von um 1485 bis um 1500; 1504 wird er Ratspensionär); S. 339 (Jan Hueribloc, solliciteur der Stadt Gent im Jahre 1485, um 1500 Gerichtsrat (Kommissar ?); S. 366-367 (Mr. Andries de Bavière, solliciteur-Ratspensionär des Landbezirks ‘das Brugse Vrije’ 1533-1541); S. 368-371 (Mr. Joost Huusman, Advokat, solliciteur-Ratspensionär der Stadt Brügge 1552-1554); S. 425 (über die akademische Ausbildung). Siehe das Lemma ‘Solliciteur’ in: FRÉDÉRIC GODEFROY, Dictionnaire de l’ancienne langue française et de tous ses dialectes du IXe au XVe siècle usw., 10 Tle, Paris 1891-1902 (Neudruck Genève-Paris 1982), Tl. 7, S. 457.

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IV. Damit sind wir am Parlament von Paris, dem ehrwürdigen Modell vieler westeuropäischenr Gerichte, angekommen. Es ist entstanden aus einer Spezialisierung im Schoße der alten curia regis. Die ersten Anzeichen dieser Entwicklung zeichneten sich während der Regierung König Philipps I. (1059-1108) ab. In den damaligen Urkunden begegnet ein Unterschied zwischen den Lehnsleuten, genannt optimates oder Pairs des Königreichs, und den permanenten Räten, genannt curiales. Unter Ludwig VII. (1137-1180) trifft man in der Umgebung des Königs eine Gruppe professioneller Juristen, die in den Akten als judices nostri bezeichnet wurden. Auf diese Weise entstand ein permanenter und nicht feudaler Kern, dem der König die Erledigung der laufenden juristischen Geschäfte überlassen konnte. Unter dem Einfluss der Übernahme wichtiger Bestandteile des römisch-kanonischen Prozessrechts und der Einführung des Rechtsmittels der Berufung hat sich diese gelegentliche Delegierung der königlichen Gerichtsbarkeit im 13. Jahrhundert zu einem souveränen – in Paris seinen ständigen Sitz habenden Gerichtshof ausgewachsen. Nach den Gerichten der Krongebiete des Königs wurden auch die Gerichte der großen Vasallen angehalten, letztinstanzlich an das Parlement zu appellieren40. Das Parlament und sein Stilus Curiae haben auf das Verfahren der ‘niederländischen’ hohen Gerichtshöfe eine große Wirkung ausgeübt. So begegnet die – von dem Beweisrechtsreform König Ludwigs des Heiligen (12261270) herrührende und dem kanonischen Verfahrensrecht entlehnte – Zeugenbeweisaufnahme durch Kommissare, die sogenannte enquête, u. a. im Verfahren am Hof van Holland41. Auch die schon erwähnte Praxis, dass die Berufungsrichter die Streitsache nur auf der Grundlage der erstinstanzlichen

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Siehe: SERGE DAUCHY, Cours souveraines et genèse de l’Etat. Le Parlement de Paris, in: BERNHARD DIESTELKAMP (Hg.), Oberste Gerichtsbarkeit und Zentrale Gewalt im Europa der frühen Neuzeit (QFHG 29), Köln Weimar Wien 1996, S. 45-72. Vgl. über die Beweiserhebung im Verfahren an der Rota Romana durch beauftragte Commissarii: GERO DOLEZALEK, Art. Rota HRG IV 11990, Sp. 1148-1152. Siehe über die Entlehnung der enquête: PAUL GUILHIERMOZ, De la persistance du caractère oral dans la procédure civile française, in: Nouvelle revue historique de droit français et étranger 13 (1889), S. 21-65. Vgl. WEDEKIND, Bijdrage (Anm. 9), S. 96-121. Die Parallele zwischen dem enquête-Verfahren und dem reichskammergerechtlichen Beweisverfahren ist von BETTINA DICK, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555 (QFHG 10), Köln Wien 1981, S. 168, unbemerkt geblieben.

Die Entstehung der Sollicitatur am Reichskammergericht

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Prozessakten beurteilen könnten, stammte aus dem Pariser Parlament42. Wenn Guillaume du Breuil in den Jahren 1330-1332 den Pariser Stilus beschreibt, teilt er mit, dass diese besondere Regelung anwendbar sei im Fall, dass der Berufungskläger Einwände gegen ein im pays du droit cou-tumier erlassenes Urteil erhoben hat. Die Regeln seien noch strenger (oder gewähren mehr Schutz gegen die zentralisierende Monarchie), wenn nicht nur der Richter die Prozessakten versiegelt hat, sondern auch die Parteien ihre Siegel hinzugefügt haben, wie man es in der Grafschaft Vermandois und in der Vogtei Amiens zu tun pflegt43. Der rechtshistorischen Forschung zufolge sollten Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts die ersten solliciteurs am Parlament erschienen sein. Es waren dies Sachwalter oder Geschäftsführer, die die Prozesse führten, und die Advokaten, die Prokuratoren und alle, die dabei mitwirkten, bezahlten. 1481 stellte auch König Ludwig XI. für alle seinen Parlamente und Gerichte einen solliciteur genéral mit weitgehenden Kompetenzen an; aber dieses Amt hat den König nicht überlebt. Erst in 1556 trifft man wieder einen advocat et soliciteur general des affaires du Roy. Einige solliciteurs sind zu Mitgliedern des Parlaments aufgestiegen; im allgemeinen hatten sie jedoch einen schlechteren Ruf als die Advokaten und Prokuratoren. Ihr Benehmen war nicht einwandfrei: So wurde am 3. Juni 1494 ein solliciteur vom Parlament wegen eines Versuchs der Bestechung eines Parlamentsmitglieds bestraft44. In der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts überfluteten die solliciteurs, deren Zahl sich in 1537 auf über zweihundert belief, die Gerichtssäle des Parlaments. Sie nahmen die Bänke der Advokaten und Prokuratoren ins Besitz, so dass das Parlament und König Heinrich II. eingreifen mussten (1549)45.

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Vgl. GUILHIERMOZ, De la persistance (Anm. 41), S. 50, Fn. 3: ‘On sait que par l’ordonnance de 1258 il (sc. saint Louis) substitua au faussement de jugement un appel assez semblable à celui du droit romano-canonique; toutefois, […] l’appel français ne devint pas un second débat entre les parties de la premiére instance etc.’. Siehe: GUILLAUME DU BREUIL. Stilus curie Parlamenti. Nouvelle édition [...] par Félix Aubert, Paris 1909, S. 156-157; Paul Guilhiermoz, Enquêtes et procès. Étude sur la procédure et le fonctionnement du Parlement au XIVe siècle, Paris 1892, S. 125-132. Vgl. MONBALLYU, ‘Van appellatiën ende reformatiën’ (Anm. 35), S. 240. Siehe: FÉLIX AUBERT, Histoire du Parlement de Paris de l’origine à François Ier 12501515, 2 Teile. Paris 1894 [(Neudruck Genève (1970)], Tl. 1, S. 145, 228. Siehe: R. DELACHENAL, Histoire des avocats au Parlement de Paris 1300-1600, Paris 1885, S. 63-64, 82, 86, 117-118.

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Die These, dass die soliciteurs wirklich erst ab etwa 1450 am Parlament erschienen seien, kann meines Erachtens nicht aufrecht erhalten werden. Schon 1454 wurde den Prokuratoren am Parlament aufgetragen, fortan die Geheimnisse aus den Prozessen ihrer Mandanten zu bewahren und diese nicht den Advokaten, Prokuratoren oder soliciteurs ihrer Gegenparteien zu enthüllen. Dies deutet auf einen längst bestehenden Übelstand hin. In dem Wörterbuch von Godefroy findet sich der nachstehende Passus aus einem Dokument von 1347: Lesquelles enquestes publiees, veues et leues en juge-ment et considerees la teneur et la substance d’icelle et oy tout ce que les soliciteurs et le conseil dudit noble voussirent dire et proposer contre ledit Regnaut et ses tesmoings, so

dass es notwendig scheint, tiefgehendere Untersuchungen nach Entstehung des Instituts der solliciteurs anzustellen.46 Die Mitteilung, dass das Englische das Wort solliciteur am Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts aus dem Französischen entlehnt habe und in England daraus sollicitor geworden sei, bekräftigt diese Ansicht. Es ist übrigens interessant, dass die sollicitors ihre Aktivitäten meistens an den Equity-(Billigkeitsrechts-)Gerichten, in denen keine technisch-komplizierte prozessuale Vorschriften galten, entwickelt haben. Anfangs arbeiteten sie neben den akademisch geschulten barristers, aber im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert hat sich eine scharfe Trennung zwischen beiden Gruppen herausgebildet47. Der Vollständigkeit halber sei noch bemerkt, dass sich im Schrifttum über das mittelalterliche kanonisch-rechtliche Verfahren, wie in den von Ludwig Wahrmund herausgegebenen ‘Quellen zur Geschichte des römischkanonischen Prozesses im Mittelalter’ und in “Speculum judiciale” von Guillielmus Durantis, keine Erwähnungen der Sollicitatur oder der Sollicitanten finden48. Hingegen gibt es Hinweise auf die Einsetzung von Sollicitatores im Verkehr der deutschen Diözesen mit der römischen Kurie49. 46

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Siehe: GODEFROY, Dictionnaire (Anm. 40), Tl. 7, S. 457. Belegstellen: Archives nationales, Série Y (Châtelet de Paris et Prévoté d’Île-de-France) 62, f. 9 ro.; bzw. Série J (Trésor des chartes), JJ. (Registres) 74 f., 7 ro. Siehe z. B. das Lemma ‘solliciter’ in: ALAIN REY (Dir.), Dictionnaire historique de la langue française, 2 Tle. Paris 1992; vgl. ERICH DÖHRING, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, Berlin 1953, S. 123. Freundliche Mitteilungen meines Nimwegener Kollegen E.C. Coppens (Geschichte des kanonischen Rechts). Siehe z. B. einen ‘Notizzettel’ der herzoglichen Kanzlei zu München (Februar 1523), in dem die Durchsetzung eines neuen ‘Sollicitator’ der Interessen der Diözese Eichstätt bei der Kurie in der Person des Passauer Propstes und Domherrn Dr. Stephan Rosinus zur Sprache kommt. Siehe: Johannes Eck (1486-1543). Briefwechsel, hg. von VINZENZ PFNÜR, Nr. 148 (http://ivv7srv15.uni-muenster.de/mnkg/pfnuer/).

Die Entstehung der Sollicitatur am Reichskammergericht

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V. Werner Paravicini fragte sich einmal, ob es eine Bewegung gäbe von Westen nach Osten bzw. von Süden nach Norden. Was die Hofordnungen betrifft, hielt Paravicini dieses europäische Kulturgefälle für unumstritten50. Vielleicht hat sich die Sollicitatur in ähnlicher Art und Weise vom Westen zum ferneren Westen und dann nach Osten sowie vom Süden nach Norden begeben. Aus vorstehender Analyse ergibt sich, dass die ‘Sollicitatur’ unter dieser Bezeichnung nicht ‘ausschließlich eine Erscheinung des Prozesses an den Höchsten Reichsgerichten’ gewesen sei, wie Dr. Fuchs behauptet51. Meines Erachtens war in den Niederlanden der Aufschwung der Sollicitatur mit dem Einzug des schriftlichen Berufungsverfahrens in die Gerichte verbunden. Beide Institutionen wurden am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts aus der Praxis des Pariser Parlaments übernommen. Ist im römisch-deutschen Reich das königliche Kammergericht eine ähnliche “Haltestelle” gewesen? Es hat den Anschein, dass, sobals an einem höheren oder einem höchsten Gericht das ursprüngliche mündliche Verfahren infolge zunehmender Verschriftlichung seine Transparenz und/oder seine Zweckmäßigkeit und sein Tempo verloren hatte, die Parteien ihre Beobachter und ihre Lobbyisten zum Gerichtssitz schicken mussten. Vielleicht ist die Tatsache, dass das Institut der Sollicitatur sich am Parlament de Paris und am königlichen und Reichskammergericht ausgebildet hat, in diesem Zusammenhang nicht ohne Bedeutung. Dies waren zwei Gerichte, in deren Prozessordnungen das schriftliche Element das ältere Mündliche nicht (ganz) verdrängt hatte, und welche beide große Verzögerungen bei der Erledigung der Rechtssachen kannten52. Sie bildeten einen scharfen Gegensatz zum ‘Parlement de Rome’, dem Tribunal der im fünfzehnten Jahrhundert sogenannten Sacra Rota Romana. Das Parlament von Paris war schon von der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts an mit Prozessen überlasstet, so dass der Gerichtsapparat festlief.

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Siehe: WERNER PARAVICINI, in: HOLGER KRUSE / WERNER PARAVICINI, Höfe und Hofordnungen 1200-1600. 5. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen veranstaltet gemeinsam mit dem Deutschen Historischen Institut Paris und dem Staatsarchiv Sigmaringen, Sigmaringen, 5. bis 8. Oktober 1996, Sigmaringen 1999, S. 19. Siehe: FUCHS, Die Sollicitatur (Anm. 1), S. 222. Am Pariser Parlament gab es ‘la superposition d’une procédure orale et d’une procédure écrite’, schrieb GUILHIERMOZ, De la persistance (Anm. 41), S. 47. Vgl. über das deutsche Kammergericht die auseinandergehenden Meinungen von: DICK, Die Entwicklung (Anm. 41), S. 119-120, und WETZELL (Anm. 18), System, S. 898.

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Paul L. Nève

Während des nächsten Jahrhunderts verschlechterte sich dieser Zustand noch mehr. In seinem 1455 abgefassten Prozessrechtsreformentwurf verglich der berühmte Bischof von Lisieux, Thomas Basin, die Pariser Verfahrenspraxis denn auch mit den Verhältnissen an der Rota Romana. Die Rota stand damals auf der Höhe ihrer richterlichen Wirksamkeit und ihre zwölf oder dreizehn Richter konnten, der Ansicht Basins nach, in einer Stunde fast ebensoviel Sachen erledigen, wie die Grand’Chambre des Parlaments in einem Jahre entschied, ‘et cela sans qu’aucune partie eût à attendre ou à solliciter pour obtenir audience’. Diese wunderbare Geschwindigkeit und das Fehlen der Sollicitatur hätte die Rota der fast volkommenen Verschriftlichung des Prozessverfahrens zu verdanken gehabt53.

Simplex ordo iudiciarius veri sigillum ?

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Siehe: GUILIERMOZ, De la persistance (Anm. 41), S. 41-43. Zitat auf S. 42.

NILS JÖRN

Das Wismarer Tribunal Geschichte und Arbeitsweise des schwedischen Obergerichts im Reich sowie Verzeichnung seiner Prozeßakten

I. Große Teile des Alten Reiches waren durch illimitierte Appellationsprivilegien von der Rechtsprechung des Reichskammergerichts und des Reichshofrates ausgeschlossen1. Dazu gehörten neben den Territorien der Kurfürsten, über die wir hinsichtlich ihrer letztinstanzlichen Rechtsprechung viel zu wenig wissen2, seit 1648 auch die Reichslehen, die der schwedischen Krone im Frieden von Münster und Osnabrück zugefallen waren3. Da Schweden für seinen ursprünglichen Plan, die oberste Reichsgerichtsbarkeit völlig neu zu organisieren und ein drittes oberstes Reichsgericht mit Zuständigkeit für den Obersächsischen, Niedersächsischen und Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis zu gründen, bei den Friedensverhandlungen keine Mehrheit gefunden hatte4, bestand es auf der Verleihung eines unbegrenzten Appellationsprivilegs. Dieses Privileg wurde von Kaiser und Reich an die

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JÜRGEN WEITZEL, Die Zuständigkeit des Reichskammergerichts als Appellationsgericht , in: ZRG GA 90 (1973), S. 213-245; DERS., Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland (QFHG 4), Köln Wien 1976; ULRICH EISENHARDT, Die kaiserlichen Privilegia de non appellando (QFHG 7), Köln Wien 1980. Laut EISENHARDT (Anm. 1), konnten nicht alle Kurfürsten ihr in der Goldenen Bulle verliehenes Appellationsprivileg sofort durchsetzen, vor allem die geistlichen Kurfürsten hatten damit zunächst Probleme. KJELL ǺKE MODÉER, Die Gerichtsbarkeiten der schwedischen Krone im deutschen Reichsterritorium, Stockholm 1975. Siehe dazu u. a. HUBERT SALM / BRIGITTE WÜBBEKE-PFLÜGER (Bearb.), Die kaiserlichen Korrespondenzen, Bd. 4: 1646, Münster 2001, S. 261 und auswertend NILS JÖRN, Die Präsentationen der schwedischen Krone an das Reichskammergericht, in: Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich, hg. von ANETTE BAUMANN / PETER OESTMAN / STEPHAN WENDEHORST / SIEGRID WESTPHAL (QFHG 46), Köln Weimar Wien 2003, S. 209-245, hier S. 209-211.

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Nils Jörn

Verpflichtung für die schwedische Krone gekoppelt, ein eigenes Oberappellationsgericht auf deutschem Boden zu etablieren, das nach den Grundsätzen des Reichskammergerichts arbeitete5. Fünf Jahre nach Abschluß des Friedensvertrages und nach seit der zweiten Jahreshälfte 1652 zunehmender hektischer werdenden Vorbereitungen war es soweit: das Wismarer Tribunal wurde am 17. Mai 1653 feierlich als Oberappellationsgericht für die Herzogtümer Bremen, Verden und Vorpommern cum annexis, das Hamburger Domkapitel und die Herrschaft Wismar gegründet6. Dank der großzügigen Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft werden seit dem 1. Januar 2003 die Prozeßakten des Tribunals im Stadtarchiv Wismar, seit 1. April 2006 im Niedersächsischen Staatsarchiv Stade verzeichnet.7 An dieser Stelle soll zunächst in aller gebotenen Kürze die äußere Geschichte des Tribunals skizziert werden, bevor thesenhaft Aussagen zur Arbeitsweise, zur Inventarisierung der Prozeßakten und zu sinnvollen Ergänzungen dieser Verzeichnung und damit unseres Wissens über das Wismarer Oberappellationsgericht getroffen werden.

II. Die Geschichte des Tribunals ist sehr eng mit der Schwedens verknüpft, 5

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Art X § 12 des IPO legt in Absatz 1 fest: Deinde concedit eis in omnibus et singulis dictis feudis privilegium de non appellando; sed hoc ita ut summum aliquod tribunal seu appellationis instantiam commodo in Germania loco constituant eique idoneas praeficiant personas, quae unicuique ius et iustitiam secundum imperii constituiones et cuiusque loci statuta absque ulteriori provocatione causarumve avocatione administrent, nach KONRAD MÜLLER (Bearb.), Instrumenta Pacis Westphalicae. Die Westfälischen Friedensverträge 1648. Vollständiger lateinischer Text mit Übersetzung der wichtigeren Teile und Regesten, Bern 1949, S. 53 f. Zum Gründungsakt siehe DAVID MEVIUS, Beschreibung des Actus introductionis des Königl. Hohen Tribunals in Wismar. Geschehen den 17. Mai Anno 1653, kommentiert durch Nils Jörn, in: Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653-1806), hg. von NILS JÖRN / BERNHARD DIESTELKAMP / KJELL ǺKE MODÉER (QFHG 47), Köln Weimar Wien 2003, S. 5-17. Zum Verzeichnungsprojekt siehe auch: NILS JÖRN, Die Inventarisierung der Prozeßakten des Wismarer Tribunals – Chancen und Probleme eines Verzeichnungsprojektes, in: 3. Norddeutscher Archivtag 20. bis 21. Juni 2006 in Lüneburg, hg. von RAINER HERING, Nordhausen 2007, S. 197-216, auch abgedruckt in: Auskunft 27/2007, S. 197-216. Bd. I des Findbuches ist im Februar 2009 erschienen, die anderen Bde.sollen bis zum Jahresende folgen. Inventar der Prozeßakten des Wismarer Tribunals, Teil 1: Bestand des Archivs der Hansestadt Wismar, Bd. 1: Nr. 0.001-0.480, bearb. von HANS-KONRAD STEIN / NILS JÖRN (Findbücher, Inventare und kleine Schr. des Archivs der Hansestadt Wismar I), Wismar 2009.

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zwei grundlegend verschiedene Phasen sind daher klar voneinander zu unterscheiden, die schwedische Großmachtzeit und die Jahrzehnte nach dem verlustreichen Großen Nordischen Krieg seit 17208. Gegründet wurde das Gericht in der Blütephase der schwedischen Großmachtzeit nach jahrzehntelanger kriegsbedingter Ausbreitung des nordeuropäischen Königreichs. Seit 1560 befand sich die schwedische Krone auf Expansionskurs und eroberte in diesem Jahr Estland, 1617 die Kexholmländer und Ingermanland, 1629 Livland, 1645 Jämtland, Härjedalen, Ösel und Gotland, bevor es 1648 die genannten deutschen Territorien als Reichslehen erhielt. Während des Dreißigjährigen Krieges hatte man zudem weitere Gebiete inner- und außerhalb des Alten Reiches kontrolliert, an denen man nach wie vor Interesse hatte. Die strategisch günstige Position an wichtigen Flußmündungen der Oder, Elbe und Weser konnte also jederzeit erneut als Sprungbrett in das Alte Reich genutzt werden. Doch zunächst arrondierte Schweden seinen Be-sitz in Skandinavien weiter und erwarb 1658 Schonen, Blekinge, Halland und Bohuslän, womit alle Gebiete, die wir heute gemeinhin als urschwedisch empfinden, erst um die Mitte des 17. Jh.s unter die Krone Schweden gelang-ten9. Das Tribunal wurde also in dem Bewußtsein der Großmachtzeit gegründet, daß Schweden die stärkste Macht Nordeuropas war und mit mehreren Sitzen und Stimmen im Reichstag, der Vertretung in drei Reichskreisen und damit u. a. den entsprechenden Präsentationsberechtigungen zu den Richterposten am Reichskammergericht eine nicht unbedeutende Rolle im Alten Reich spielen würde. Einen dementsprechenden Platz sollte das Tribunal neben den obersten Reichsgerichten einnehmen, durch seine Leistung sollte es bewußt als Alternative zu Reichskammergericht und Reichshofrat etabliert werden10. Zunächst mit Präsident, Gerichtsdirektor, vier Assessoren und zwei Referendaren sowie dem dazugehörigen niederen Gerichtspersonal personell angemessen ausgestattet, nahm das Gericht im prächtigen Fürstenhof, der früheren Residenz der Mecklenburger Herzöge in Wismar und dem letztem Bau der Spätrenaissance auf deutschem Boden, seine Arbeit

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Siehe dazu u. a. MICHAEL ROBERTS (Hg.), Swedens Age of Greatness 1632-1718, London 1973; Ders., The Swedish Imperial Experience 1560-1718, Cambridge 1979; DERS., The age of liberty. Sweden 1719-1772, Cambridge 1979; HERBERT LANGER, Die Schwedenzeit in Mecklenburg und Pommern, in: Schwedenzeit, hg. vom Stadtgeschichtlichen Museum Wismar, Wismar 1998, S. 9-14. Dazu die Zusammenstellung bei ERNST MÜNCH / ROLF REHBERG, Mecklenburg, Pommern und der Kampf um die Ostseeherrschaft (1628-1815), in: Schwedenzeit, (Anm. 8), S. 15-29, hier S. 16f. Siehe die Beschreibung des Actus Introductionis (Anm. 6).

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auf. Zeitgenossen waren beeindruckt von der Pracht des Gerichtsgebäudes und der Qualität der dort geleisteten Arbeit.11 Doch schon bald forderte der zwischen 1655 und 1660 tobende zweite Nordische Krieg zwischen Schweden und Dänemark sowie Polen um die südschwedischen Territorien und die Erbansprüche der Vasa-Dynastie auch vom neugegründeten Gericht seine Opfer. Die noch vom Dreißigjährigen Krieg erschöpften deutschen Provinzen waren jahrelang nicht in der Lage, die Gehälter für das Gerichtspersonal aufzubringen12, das das Tribunal daraufhin überwiegend verließ und sich andernorts bezahlte Positionen suchte. Da es aufgrund der unsicheren Lage und der unklaren Finanzierung nicht ersetzt werden konnte, war zeitweise neben Vizepräsident Mevius nur noch ein Assessor am Gericht tätig. Beide wurden von der schwedischen Krone zudem in zahlreichen diplomatischen Missionen beschäftigt und arbeiteten bis an die Grenze ihrer physischen Leistungsfähigkeit.13

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Landesamt für Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern (Hg.), Der Fürstenhof zu Wismar (Baukunst und Denkmalpflege in Mecklenburg-Vorpommern, 1), Schwerin 2005. Hinzu kam, daß es sehr ernste Differenzen um die Organisation der schwedischen Herrschaft gab, das Herzogtum Verden auf seiner administrativen Eigenständigkeit bestand und sich der Verwaltung durch Bremen verweigerte. Hatte man es sich schwedischerseits einfach vorgestellt, zwei große Präsentationskreise zu bilden, die einerseits aus den pommerschen Landständen, andererseits aus den Vertretern der Herzogtümer Bremen, Verden, dem Hamburger Domkapitel und der Herrschaft Wismar bestehen sollten, wurde man in Stockholm und in den Landesregierungen bald eines besseren belehrt. Die pommerschen Landstände einigten sich relativ geräuschlos auf die Verteilung der Tribunalssteuer und damit zusammenhängende Präsentationsgrundsätze zwischen Landesregierung, Ritterschaft und Städten. Die andere Präsentationsgruppe wurde von jahrelangem Streit zwischen Ur- und Neuadel sowie zwischen den Städten um die Rangfolge und die Anteile der Steuer erschüttert, der erst im Jahre 1663 durch Vermittlung des Tribunals gelöst werden konnte. Bis zu diesem Jahr waren die Präsentationen aus Bremen-Verden praktisch blockiert, Gehälter gingen nicht nur kriegsbedingt, sondern auch wegen des Unwillens der Landstände nicht ein. Dazu: BEATE-CHRISTINE FIEDLER, Die Verwaltung der Herzogtümer Bremen und Verden in der Schwedenzeit 1652-1712. Organisation und Wesen der Verwaltung, Stade 1987; DIES., Die Landstände der Herzogtümer Bremen und Verden und das Wismarer Tribunal. Fallstudien zur Besetzung der Richterstellen in der Einrichtungsphase 1653-1657, in: Integration durch Recht (Anm. 6), S. 65-81. Dazu NILS JÖRN, Die Einrichtungsphase des Tribunals 1653-1656, in: Servorum Dei Gaudium. Das ist Treuer Gottes Knechte Freuden=Lohn. Lebensbeschreibungen aus dem Umfeld des Wismarer Tribunals, hg. von NILS JÖRN, Greifswald 2003, S. 19-27; DERS., Die Etablierung des Wismarer Tribunals als Oberappellationsgericht für die schwedischen Provinzen im Alten Reich 1653-1664, in: Der Westfälische Frieden von 1648 – Wende in der Geschichte des Ostseeraumes, hg. von HORST WERNICKE / HANSJOACHIM HACKER (Greifswalder Historische Studien 3), Hamburg 2001, S. 135-172.

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Erst nach Ende dieses Krieges entspannte sich die Lage, das Tribunal war seit 1663 – wie bei der Gründung geplant – mit swchs Assessoren und dem geplanten niederen Personal ausgestattet und konnte seine volle Wirkung entfalten. Eine erste Blütephase des Gerichts war die Folge, die sich u. a. darin manifestierte, daß Vizepräsident Mevius zwischen 1664 und seinem Tode im Jahre 1670 3.402 Urteile des Tribunals in zehn Bänden edierte und kommentierte. Damit wurde die Tätigkeit des Gerichts reichsweit bekannt, die sogenannten „Decisiones“ wurden im schwedischen Machtbereich und darüber hinaus zu einem bis ins 19. Jh. immer wieder aufgelegten Bestseller, der nicht nur die Arbeit des Tribunals reflektierte, sondern vielfach in Nordeuropa auch Recht setzte14. Bereits im Jahre 1675 kehrte der Krieg in die schwedischen Provinzen zurück. An der Seite Frankreichs wurde Schweden in einen Krieg gegen den Kaiser, Kurbrandenburg, Dänemark, Spanien, die Niederlande sowie mehrere Fürsten Norddeutschlands gezwungen, in dem die deutschen Provinzen der schwedischen Krone besetzt wurden und verloren zu gehen drohten. Das Tribunal flüchtete sich ins Exil nach Lübeck und kam erst nach dem glücklichen Friedensvertrag von St. Germain und der Rückgabe der besetzten Territorien Ende des Jahres 1680 nach Wismar zurück, um seine Arbeit wieder aufzunehmen. So wie Frankreich seinen schwedischen Alliierten in den Krieg hineingezogen hatte, so sorgte es mit diplomatischem Druck auch dafür, daß die Kriegsfolgen erträglich blieben und Schweden außer dem strategisch bedeutsamen Oderstreifen keine wesentlichen Gebietsverluste zu beklagen hatte. Die Arbeitsbedingungen für das Tribunal veränderten sich durch die Verkleinerung des Gerichtssprengels nur unwesentlich, die Tribunalssteuer des verlorenen Territoriums wurde auf die verbleibenden schwedischpommerschen Gebiete umgelegt und von dort aus regelmäßig entrichtet. In den Jahren 1688-1692 wurde die erste und einzige Visitation des Gerichts durchgeführt, die von der schwedischen Krone dazu genutzt wurde, die Kompetenzen des Tribunals bei der Kontrolle der Landesregierungen Vorpommerns und Bremen-Verdens zu beschneiden15. Andererseits wurden zwei zusätzliche Assessoren eingestellt, so daß nun immerhin acht Assessoren unter dem Gerichtsdirektor Recht sprachen und in vielfältigen diploma-

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DAVID MEVIUS, Decisiones jurisidictionis tribunalis regii quod est Wismariae, Stralsund 1664-1674, Frankfurt a.M. – Stralsund 1681, Frankfurt am Main 1698, 1705, 1712, 1740, 1791-1794, Leipzig 1712, 1720. PATRICK RESLOW, Die Visitation des Tribunals, in: Integration durch Recht (Anm. 6), S. 239-245. Reslow arbeitet in Lund an einer Dissertation zu diesem Thema.

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tischen Missionen das Alte Reich bereisten. Angesichts des überschaubaren Gerichtssprengels und einer problemlosen Besetzung der Ämter, die nicht durch den Streit der Konfessionen oder rivalisierender Reichsstände getrübt wurde, befand sich das Tribunal gegenüber den obersten Reichsgerichten in einem klaren Vorteil, den es zu nutzen verstand und an die Parteien weitergab. Eine zweite, lange Blütephase schloß sich an, in der das Gericht zügig und in hoher Qualität Recht sprach16. Die mehrere tausend Bände umfassende Bibliothek des Gründungsdirektors David Mevius, die nach dessen Tod in den Besitz des Gerichts übergegangen war, legte für diese Rechtsprechung die intellektuelle Grundlage17. In diesen für die Parteien wie das Gericht paradiesischen Zustand platzte der Große Nordische Krieg, der das Tribunal erneut für vier Jahre in das Exil nach Lübeck zwang und dafür sorgte, daß der Gerichtssprengel nach abgeschlossenen Friedensverträgen mit Preußen, Kurhannover, Dänemark, Russland und Sachsen auf das kleine, politisch und wirtschaftlich unbedeutende Gebiet um Greifswald und Stralsund mit der Insel Rügen sowie die Herrschaft Wismar zusammenschmolz. Alle anderen „ewigen Reichslehen“, die Schweden im Westfälischen Frieden zugesprochen worden waren, fielen an die Kriegsgegner, ebenso wie umfangreiche Gebiete in Finnland, Schweden und dem Baltikum – die schwedische Großmachtzeit war damit für immer vorbei. Schweden war fortan nicht mehr in der Lage, andere Staaten zu bedrohen und zu expandieren, es mußte sich unter den Schutz von Kaiser und Reich flüchten, um seine Territorien in Nordostdeutschland zu sichern. Angesichts der massiven Gebietsverluste und der eingeschränkten Steuerkraft des verbliebenen Gerichtssprengels mußte das Assessorenkollegium halbiert, drastische Kürzungen in den Löhnen und bei der Anzahl des niederen Personals durchgesetzt werden.18 Dies wirkte sich umgehend auf die

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NILS JÖRN, Die Blütephase des Tribunals, in: Servorum Dei Gaudium (Anm. 13), S. 209217. KJELL ǺKE MODÉER, David Mevius und die Bibliothek des Tribunals, in: David Mevius. Leben und Werk eines pommerschen Juristen von europäischem Rang, hg. von NILS JÖRN (SchrR. der David-Mevius-Ges. 1), Hamburg 2007, S. 157-164. NILS JÖRN, Das Tribunal nach dem Ende der schwedischen Großmachtzeit, in: Servorum Dei Gaudium (Anm. 13), S. 319-328. S. 375 bringt eine Tabelle mit den einschneidenden Veränderungen. So wurde das Gehalt des Vizepräsidenten von 2.000 Rtlr auf 1.500 im Jahr gesenkt, das der Assessoren von 800 auf 700 Rtlr. Die Posten des Protonotars und Sekretärs wurden zusammengelegt, statt 600 erhielt der jeweilige Amtsträger 500 Rtlr. Die Posten der Referendare, des Botenmeisters, des Exekutors, der Gerichtsdiener sowie des Gerichtsarztes wurden eingespart, Fiskal und Registrator erhielten statt 300 seit 1721 250 Rtlr. Anstelle von 2 Kanzlisten und Kopisten wurde nur je einer zu 130 (statt 200) bzw.

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Besetzung der Posten am Tribunal aus. Erstreckte sich das Reservoir an Juristen, aus dem die Präsentationsberechtigten schöpfen konnten, während der Großmachtzeit auf ganz Norddeutschland sowie das großschwedische Reich, beschränkte es sich fortan de facto auf das kleine Neuvorpommern und das benachbarte Mecklenburg. Professoren der Universitäten Greifswald, Rostock und Bützow und Ratsherren aus Wismar, Greifswald und Stralsund traten an die Stelle der Syndici aus Lübeck und Hamburg, der Hofgerichtsassessoren aus Stockholm und Dorpat, denen lukrative Nachkarrieren am Stockholmer und kaiserlichen Hof, als Präsident des Herzogs von Württemberg oder als Bürgermeister Hamburgs offengestanden hatten19. In diesem zweiten, mehr als acht Jahrzehnte dauernden Abschnitt der Gerichtstätigkeit interessierte man sich reichsweit kaum noch für das Tribunal, das nichtsdestotrotz solide arbeitete und seine Aufgaben zuverlässig erfüllte. Der Glanz der Großmachtzeit war jedoch für alle spürbar dahin. So wurde ein Versuch des Vizepräsidenten Hermann Heinrich Engelbrecht in der Mitte des 18. Jh.s, in Mevius’scher Tradition auf die Tätigkeit des Gerichts durch einen umfangreichen Kommentar von Gerichtsurteilen aufmerksam zu machen und damit an den Erfolg der Decisiones anzuknüpfen, zum wirtschaftlichen Mißerfolg20. Gleichzeitig beweist diese Sammlung das nach wie vor hohe intellektuelle Niveau der Rechtsprechung im schwedischen Einflußbereich.

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80 (statt 100 Rtlr) eingestellt. Die Gehälter der Pedellen wurden von 80 auf 70 Rtlr gekürzt, die des einen (statt 3) Gerichtsboten und der beiden Trabanten wurden bei 30 bzw. 53 Rtlr im Jahr belassen. Diese Einschränkungen galten bis 1750, als man zumindest die vor 1720 gezahlten Beträge wieder auszahlte. Einen ersten, bescheidenen Inflationsausgleich gab es 1778, eine erste wirkliche Gehaltserhöhung erst im Jahre 1803. Zu diesen Veränderungen siehe NILS JÖRN, Das richterliche Personal am Tribunal, in: Integration durch Recht (Anm. 6), S. 247-275; DERS., Greifswalder, Rostocker, Bützower und Erlanger Professoren am Wismarer Tribunal, in: Justitia in Pommern, hg. von DIRK ALVERMANN / JÜRGEN REGGE, Geschichte, 63, Münster 2004, S. 205-234; DERS., Wismarer Juristen als Richter am Tribunal, in: Wismarer Beitr. 16 (2006), S. 85-104. HERMANN HEINRICH ENGELBRECHT, Observationum selectiorum forensium, maximam partem accessionum ad Mevii opus decisionum, Specimen I, Wismar-Leipzig 1748, Specimen II, Wismar-Leipzig 1749, Specimen III, Wismar Leipzig 1750, Specimen posthumum ordine quartum, Wismar-Bützow 1771. Dazu auch: NILS JÖRN, Christian von Nettelbla – Augustin von Balthasar – Heinrich von Engelbrecht. Kollegen, Konkurrenten, Gelehrte von europäischem Rang?, in: Juristische Fakultäten und Juristenausbildung im Ostseeraum, hg. von JÖRN ECKERT / KJELL ǺKE MODÉER, Stockholm 2004, S. 96-121 sowie die kurze Biographie zu Engelbrecht in: Biographisches Lexikon für Mecklenburg, V, Rostock 2009.

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In Vorbereitung der Verpfändung Wismars im Jahre 1803 zog das Gericht dann zunächst nach Stralsund, ein Dreivierteljahr später nach Greifswald um, wo es bis zur Mitte des 19. Jh.s für die dann preußische Provinz Neuvorpommern weiterhin letztinstanzlich Recht sprach, in seiner Funktion also seine Vorbilder Reichskammergericht und Reichshofrat überlebt hatte21.

III. Das Grundanliegen des Tribunals war es, für Rechtssicherheit in den schwedischen Reichslehen zu sorgen, der erklärte Ehrgeiz bestand darin, die Prozesse zügig und unstreitig zu erledigen und ergangene Urteile konsequent durchzusetzen. Bereits bei der feierlichen Eröffnung des Gerichts hatte Vizepräsident David Mevius nach einer umfassenden Kritik an der Arbeit der obersten Reichsgerichte versprochen, den Parteien mit wenigern und kurtzen Terminen, geringern kosten und viel geschwinder zu ihrem Recht zu verhelfen22. Dementsprechend war die wesentlich von Mevius inspirierte Tribunalsordnung angelegt. Die Fristsetzung war rigoros und wurde, wie sich in der bisherigen Verzeichnung gezeigt hat, peinlich genau beachtet. Häufig wurde bei Appellationen wegen minderwichtiger Sachverhalte auf Bitten der Gegenpartei die Frist zum Einreichen des Schriftsatzes von sechs Wochen auf wenige Tage verkürzt, um schneller Recht schaffen zu können.23

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NILS JÖRN, Die Verlegung des Wismarer Tribunals nach Pommern zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Baltische Studien 89/2003, S. 93-112; Zum Gericht in preußischer Zeit jüngst: ANJA TEWS, Die Kriminalverfassung in Neuvorpommern und Rügen 1815 bis 1851. Ein Beitrag zur preußischen Justizgeschichte, Herdecke 2004; SASCHA OTT, Die Entwicklungen des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts in Neu-Vorpommern im Spiegel der Rechtsprechung des Königlichen Oberappellationsgerichts in Greifswald (1815-1849), Diss. jur. Greifswald 2008, erscheint 2009 als Bd. 4 der SchrR. der DavidMevius-Ges. Beschreibung des Actus Introductionius (Anm. 6), S. 15. So forderte das Tribunal z. B. den Gewürzkrämer Borgwardt und seine Frau am 21.06.1714 auf Bitte des Hamburger Kaufmanns Ridder auf, seine Appellation gegen eine Entscheidung des Rates wegen der Bezahlung von Schulden in 8 Tagen anstelle von 6 Wochen vorzutragen (Nr. 0.240). Am 20.09. wurden Borgwardt und seine Frau anläßlich einer erneuten Appellation die Frist zum Vortragen ihrer Beschwerden sogar auf 6 Tage verkürzt. Erst nach stichhaltigen Gründen, die beide am 26.09. vortrugen, erhielten sie weitere 6 Tage Zeit, um ihren Schriftsatz vorzulegen (Nr. 0.241). Auch bei einer Auseinandersetzung zwischen der Papagoyenkompanie mit dem Gastwirt des Posthorns Georg Hartwig Deutsch um unerlaubte Werbung und Weinausschank wurde die Appellations-

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Nach Eingang eines Schriftsatzes wurde die gegnerische Partei aufgefordert, binnen 6 Wochen dazu Stellung zu beziehen. In den meisten Fällen wurde die Beweisaufnahme unmittelbar nach Auswertung der Antwort geschlossen und ein Urteil erlassen, nur in etwa 10% der Fälle wurden Duplik, Triplik oder sogar Quadruplik ebenfalls mit sechswöchigen Fristen zugelassen. In begründeten Ausnahmefällen gab es zwei jeweils sechswöchige Fristverlängerungen bis zum Einbringen eines Schriftsatzes24, hatte das Tribunal den Verdacht, daß eine der Parteien den Prozeß verschleppen wollte, belegte es diese mit einer harten Geldstrafe. All dies trug dazu bei, daß die Mehrzahl der Prozesse in wenigen Wochen, in mehr als 90% aber in weniger als einem Jahr erledigt werden konnte. Nach bisherigen Beobachtungen war das Niveau der juristischen Argumentation am Tribunal hoch. Man kannte in Wismar die einschlägigen Werke, Kommentare und Urteilssammlungen der Kollegen aus dem Alten Reich und Europa, hatte sie in der sehr gut sortierten Tribunalsbibliothek zur Verfügung und nutzte sie rege in den Schriftsätzen der Parteienvertreter. Hatte das Tribunal etwas am Schriftsatz eines Anwaltes zu bemängeln, ermahnte es ihn zu größerer Sorgfalt und erlegte ihm im Wiederholungsfall eine Geldstrafe auf, die dann häufig in die Verbesserung der Bibliothek investiert wurde. Einmal ergangene Urteile konnten zumindest in der Großmachtzeit aufgrund der hochgradigen Militarisierung der schwedischen Reichslehen umgehend vollstreckt werden. Wurde das vom Tribunalsboten überbrachte Urteil innerhalb einer vorgegebenen Frist nicht umgesetzt, wurde eine Abteilung Soldaten in Marsch gesetzt, die solange in die Häuser etwa von Schuldnern gelegt wurden, bis diese das geforderte Geld bezahlt hatten25. Auch

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frist am 06.06. auf 14 Tage verkürzt, um die Appellation am 16.07. endgültig zurückzuweisen (Nr. 0.366). Als im Jahre 1759 der Konkurs der Wismarer Woll- und Strumpffabrik in 2. Instanz vor dem Tribunal verhandelt werden sollte, wurde auf Antrag der Gegenpartei die Frist zum Einreichen des Schriftsatzes auf 8 Tage verkürzt (Nr. 0.446). Zahlreiche weitere Beispiele wären zu nennen. Zumeist brauchten die Parteien noch Zeit zur Vermittlung eines gütlichen Vergleichs und wollten sich den Weg der Appellation offenhalten, falls dieser Vergleich scheiterte. In anderen Fällen war der in die Zusammenhänge eingedachte Anwalt ernsthaft erkrankt oder derart von anderen wichtigen Problemen beansprucht, daß er es nicht schaffte, den Schriftsatz fertigzustellen. So mußte das Tribunal im Jahre 1669 die Poeler Bauern mit militärischer Gewalt dazu veranlassen, dem Amtmann ihre geforderten Dienste zu leisten (P 43). 1704 baten die Poeler Bauern das Tribunal um Anweisung an den Oberkriegskommissar von Steeb, keine militärische Vollstreckung gegen sie wegen der Eintreibung der Tribunalssteuer durchzu-

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nach 1720 war die Vollstreckung der Urteile vorbildlich, obwohl es nunmehr am militärischen Drohpotential weitgehend fehlte.26 Neben diesen gebotenen und von den Parteien begrüßten Verbesserungen gab es natürlich vieles, was sich an den obersten Reichsgerichten bewährt hatte und von dort übernommen wurde. Das Tribunal orientierte sich jedoch nicht sklavisch an der Reichskammergerichtsordnung, es suchte sich aus Aufbau und Arbeitsweise beider oberster Reichsgerichte das für die Situation in den schwedischen Reichslehen passende heraus. So folgte man etwa dem bewährten Muster der Präsentation der Assessoren am Reichskammergericht27 und erweiterte es etwas. Die während der schwedischen Großmachtzeit präsentationstechnisch in Vorpommern einerseits und sämtliche anderen Territorien andererseits unterschiedenen Präsentationsberechtigten schlugen in einer festgelegten Reihenfolge von Landesregierung, Ritterschaft und Städten bei jeder Vakanz zwei Kandidaten vor, an die dieselben fachlichen Anforderungen gestellt wurden wie am Reichskammergericht. Das Tribunalskollegium wählte nach General- und Spezialexamen sowie der Abfassung und Bewertung von zwei Proberelationen den geeigneteren Anwärter aus und nahm ihn als Assessor an. Dabei kann der bereits erwähnte Vorteil gegenüber Reichskammergericht und Reichshofrat nicht ge-

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setzen, wurden aber abschlägig beschieden (P 85). Im Jahre 1699 baten zahlreiche Bauern aus dem Amt Neukloster, dem Amtmann zu untersagen, die geforderten Dienste mit militärischer Gewalt durchzusetzen, wurden aber vom Tribunal abgewiesen (T 37). Im Jahre 1723 entbrannte in Neukloster ein Streit um die Weiterführung des offenbar lukrativen Amtskruges, bei dem das Tribunal militärische Exekution androhen mußte, um sein Urteil durchzusetzen (M 88). Immer wieder mußte das Tribunal Mandate an den Amtmann von Poel erlassen, mit der militärischen Exekution gegen die Poeler Untertanen einzuhalten (1662: P 11, 1667: P 18, 1671: P 41) So erbat der Wismarer Postinspektor Samuel Gustav Bohse im Jahre 1766 militärische Vollstreckung einer Forderung von 1.000 Rtlr, die aus einer Anleihe an die Wismarer Akzisekammer aus dem Jahre 1706 stammte. Der Wismarer Rat vertröstete ihn seit Jahren mit der Zahlung, der Tribunalskanzlist Lehmann, der 1766 vom Gericht mit der Vollstreckung beauftragt worden war, kehrte ergebnislos zurück. Militärische Zwangsmittel, die Bohse daraufhin erbat, wurden vom Tribunal zunächst abgelehnt, 14 Tage später jedoch dem Rat angedroht, woraufhin es kurz darauf zum gewünschten Vergleich zwischen den Parteien kam (Nr. 0.467). Dazu vor allem die Forschungen von SIGRID JAHNS, Das Kammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich (QFHG 26), Köln Weimar Wien 2003 sowie für Schwedisch-Pommern NILS JÖRN, Johann von Ulmenstein und Christian von Nettelbla: Zwei Assessoren aus Norddeutschland am Wetzlarer Reichskammergericht, in: Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich, hg. von NILS JÖRN / MICHAEL NORTH (QFHG 35), Köln Weimar Wien 2000, S. 143-184.

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nug betont werden, der sich für das Tribunal daraus ergab, keine Konfessions- oder Rangstreitigkeiten zwischen den Präsentationsberechtigten aushalten zu müssen. In der Tribunalsordnung war klar festgelegt, daß Präsentationen innerhalb von drei Monaten zu erfolgen hätten, versäumte es der präsentationsberechtigte Stand dem nachzukommen, ging sein Recht auf den nächsten der insgesamt sechs Berechtigten über. Auf diese Weise erhielten die Witwen der verstorbenen Amtsträger in der Regel noch ein, maximal zwei Gnadenquartale, bevor der Nachfolger seine Arbeit aufnahm. Seit dem Ende des Großen Nordischen Krieges sorgte die Tribunalswitwenkasse für die Versorgung unvermögender Hinterbliebener28. Auch das Verfahren am Tribunal entsprach weitgehend dem kammergerichtlichen, wurde jedoch durch Elemente, die am Reichshofrat praktiziert wurden, aufgelockert. So nutzte auch das Tribunal in verschiedenen Situationen die Gelegenheit, eine Kommission einzusetzen, die Sachverhalte unersuchte oder Vergleiche vermittelte, um die Rechtsfindung zu beschleunigen und den starren Prozeßverlauf aufzubrechen. Auch dies trug zu einer schleunigen Erledigung der Fälle bei.29 In der Frage der Arbeitsweise der verschiedenen obersten Gerichte besteht noch erheblicher rechtshistorischer Forschungsbedarf, der dank der modernen Verzeichnung hoffentlich bald abgedeckt werden kann.

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Ein Bestand zur Tribunalswitwenkasse existiert im StadtA Wismar seit 1739, aus Akten im Reichsarchiv Stockholm, Wismariensia 9 geht hervor, daß Schweden und Preußen bereits 1720 Vereinbarungen getroffen hatten wegen der Nachzahlung der Tribunalssteuer mit besonderem Hinblick auf die Versorgung Hinterbliebener. Aus dem Jahr 1732 sind Mahnungen der schwedischen Krone an Preußen überliefert, eine Liste mit Namen der bedürftigen Witwen und Waisen wurde Preußen übermittelt, um an die noch ausstehenden Zahlungen von 15.855 Rtlr zu erinnern. Kommissionen wurden in vielfältigen Zusammenhängen eingesetzt, so etwa im Jahre 1674 bei der Untersuchung des Streites zwischen Walter Block, dem „Directeur des Wismarschen Niederlagswercks“ und seinem Buchhalter Johann Sebastian Arnoldt wegen rückständiger Lohnforderungen (Nr. 0.003) oder 1664 bei der Untersuchung der Auseinandersetzungen zwischen Caspar Bussing, Pastor zu Neukloster und Francois de la Croix, Amtmann des Grafen Dohna zu Neukloster (Nr. 0.082). Zumeist wurden ein oder zwei Assessoren allein oder zusammen mit dem Protonotar, in minderwichtigen Fällen auch dem Registrator des Tribunals zu diesen Kommissionen eingeteilt. Die Kommissionen luden die Parteien vor, nahmen Beweise auf, befragten Zeugen und erstatteten teilweise sehr umfangreiche Berichte mit Vorschlägen für ein Urteil, soweit es ihnen nicht gelungen war, aus eigener Kraft einen Vergleich zu vermitteln.

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IV. Im folgenden soll in aller Kürze die Erschließung der Prozeßakten des Tribunals vorgestellt werden, die sich am bewährten Schema der Inventarisierung der Akten des RKGs orientiert, diese aber in einzelnen Fragen modifiziert. Die Abbildung zeigt das typische Deckblatt einer Prozeßakte, auf der Kläger und Beklagter, Prozeßgegenstand und Signatur sowie in der rechten oberen Ecke eine weitere Signatur angegeben sind. [Abb. 1]

Abb. 1: Deckblatt des Tribunalsfalls P4

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Da die Tribunalsregistratur nach dem Vorbild der Reichsgerichte gern Sammelakten bildete, verbirgt sich neben dem hier genannten Fall des Paul Pries (eigentlich Paries) gegen den Wismarer Rat wegen Zulassung zum Freibäkker ein weiterer Fall unter diesem Deckblatt, der hier in der modernen Verzeichnung kurz vorgestellt werden soll. (1) (2) (3) (4) (5)

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Nr. 1913, alte Signatur: P 4 (W P 1 n. 4) Hinrich Ballschmieter und Hinrich Pagel Paries, Loosbäcker zu Wismar Rat zu Wismar Kl.: Bekl.: Dr. Anton Scheffel (A & P) Mandatum de restituendo Auseinandersetzung um Eingriff in die Privilegien: Rat hat den Kl.n trotz anderslautender kgl. Privilegien verboten, „ungegasteltes Brot und strümpfe“ zu backen, pfändet die Backwaren und behindert Kl. in ihrem Handwerk. Kl. erbitten Schutz der Privilegien und Anweisung an Rat zur Schadensersatzleistung. Das Tribunal erläßt am 21.10. das erbetene Mandat an Rat, der sich am 30.10. und 09.11. mit Gegendarstellungen wehrt, zu denen keine Reaktionen des Gerichts vorliegen. Tribunal 1671 von Pedell Christoph Havemann ausgestellte Übergabebescheinigung eines Tribunalmandates vom 25.10.1671; Auszug aus dem Schreiben der schwedischen Krone an das Tribunal vom 15.10.1670; Privileg des Wismarer Rates für Weißbäcker Bastian Tedel aus dem Vogtland vom 11.08.1626; von Notar Johannes Schacht aufgenommene Befragung des 75j. Loosbäkkers Bastian Tedel vom 02.11.1671; Bescheinigung des Kämmereischreibers Marcus Bartel über Beschlagnahme von „gegasteltem“ Brot vom 02.11.1671; Privileg Karl X. Gustavs vom 30.03.1655; Aussage David Schmidts über Versorgung der schwedischen Flotte (Angabe zur Mannschaftsstärke 1657) zwischen 1655 und 1668 durch Wismarer Bäcker vom 01.11.1671; Protokoll der Befragung der Freibäcker Johann Ballschmieter, Jeremias Kallenberg und der Ehefrau Christian Lindenbergs durch Kämmereischreiber Bartel vom 31.10.1671; Schreiben der Wismarer Fastbäcker an Rat vom 29.10.1671 1 cm (42 Blatt) (1. Signatur: W P 1 n. 6, weitere Signaturen: R.A. Bäcker 1656-1671) (1626-1670) 17.10.1671-09.11.1671

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Der Sohn des auf dem Deckblatt genannten Klägers sowie ein Bäckerkollege klagten 1671 gegen den Rat um die Rückgabe von Backwaren. In der neuen Verzeichnung werden neben neuer laufender Nummer und alter Signatur die Namen der Prozeßparteien mit ihren Berufen oder Tätigkeiten sowie Anwalt und Prokurator beider Parteien benannt. Danach wird der zeitgenössische Antrag an das Gericht angegeben, hier Mandatum de restituendo. In einem Kurzregest, das aus 5 bis 10 Wörtern besteht, wird der Prozeßgegenstand zusammengefaßt, danach werden der Hintergrund des Falles, die Anträge an das Tribunal sowie dessen Reaktionen in aller gebotenen Kürze dargestellt. Soweit erhalten, wird abschließend das Urteil des Tribunals mitgeteilt. In Punkt 6 wird der Instanzenzug aufgeführt, in 7 alle Prozeßbeigaben. Punkt 8 nennt den Umfang der Akte nach Zentimetern und Blatt, wobei zumeist auf die zeitgenössische Folierung zurückgegriffen werden kann. Außerdem wird die erste Signatur mitgeteilt, da diese in zeitgenössischen Kommentaren und Urteilssammlungen wie den Meviusschen Decisiones bereits genannt wurde und somit von der Forschung Querverbindungen hergestellt werden können. Weitere Signaturen, wie in diesem Fall „Ratsakte Bäcker 1656-1671“, eröffnen die Möglichkeit zurückzuverfolgen, wo die Akte früher abgelegt war und wie sie möglicherweise früher zitiert worden ist. Abschließend wird die tagesgenaue Laufzeit des Prozesses sowie die jahresgenaue Laufzeit der Beilagen vor und / oder nach dem Prozeß mitgeteilt. Aus diesem kleinen Beispiel werden mehrere Probleme der Verzeichnung ersichtlich. Sammelakten dieser Art, die vom Gericht zeitgenössisch gebildet wurden, werden in der modernen Verzeichnung aufgelöst. Der auf dem Deckblatt angegebene Fall des Paul Pries hat mit dem seines Sohnes nichts zu tun und wurde mit 15 Jahren Abstand an das Gericht getragen. Besonders beliebt ist diese zeitgenössische Art der Verzeichnung bei Klagen von Anwälten und Prokuratoren um ihr Honorar. Oftmals sind bis zu 30 Fälle eines Anwalts gegen verschiedene Mandanten in einer Sammelakte abgelegt worden, die bei der Inventarisierung wieder zu dem werden, was sie eigentlich waren und sind: eigenständige Fälle30. An mehreren Beispielen

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So erstritten sich der aus Stralsund stammende Dr. Friedrich Anthoni bzw. seine Witwe und Erben zwischen 1685 und 1726 in den heute mit den Nummern 0.004-0.029 versehenen Fällen das Honorar für Prozesse, die Anthoni zwischen 1672 und 1704 für seine Mandanten geführt hatte. Dr. Jakob Gerdes prozessierte in den Fällen 0.666-0.691 in den Jahren 1674 bis 1706 um sein Honorar. Während diese Fälle gegen verschiedene frühere Mandanten alle unter der Signatur G 22 abgelegt wurden, finden sich zudem in G 38 und

Das Wismarer Tribunal

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konnte nachgewiesen werden, daß diese Prozesse während sie verhandelt wurden, selbständig geführt und abgelegt und erst nachdem sie vom currenten in das Große Archiv des Tribunals überführt wurden, vom Registrator unter der Person des Klägers zusammengelegt wurden. Dabei kann der ursprüngliche Zusammenhang zwischen diesen separierten Fällen bei Bedarf durch die Felder „alte“ bzw. „1. Signatur“ wiederhergestellt werden. Auf diese Weise ist der ursprüngliche Wismarer Bestand durch die moderne Verzeichnung um etwa 500 Tribunalsfälle gewachsen. Entgegen der ursprünglichen, sehr summarischen Erfassung erhalten wir nunmehr aber genaue Informationen zu Prozeßparteien und -gegenstand sowie zu den wichtigen Prozeßbeigaben, die es uns etwa im konkreten Fall ermöglichen, die Mannschaftsstärke der schwedischen Flotte zwischen 1655 und 1668 anzugeben31. Auch ein anderes wichtiges Problem der Wismarer Verzeichnung wird deutlich: Die Signatur „Bäcker 1656-1671“ wurde zu Beginn des 20. Jh.s gebildet, als eifrige Archivare vor allem die reichen Prozeßaktenbestände des Wismarer Archivs durchforstet und nahezu aufgelöst haben. So wurden aus klar und einleuchtend gegliederten Provenienzbeständen des Tribunals, des Konsistoriums und der verschiedenen Gerichte des Rates eine undurchschaubare Menge an Pertinenzien wie Bäcker, Schlachter, aber auch Fleischer oder Garbräter, Brauer, Juden, Schule, Schiffahrt oder Hafen. Da das Wismarer Stadtarchiv personell nicht in der Lage war, diese Bestände vor Beginn der Verzeichnung zu bereinigen, mußten die Lücken zwischen den einzelnen Förderphasen des Verzeichnungsprojektes genutzt werden, um die Prozeßakten in ihre eigentlichen Bestände zurückzuordnen. Auf diese Weise sind knapp 1.000 Akten zu den ursprünglich 2.189 Prozeßakten hinzugekommen, die den Tribunalsbestand bildeten, als Hans-Konrad Stein Anfang 2003 mit der Verzeichnung begann32. Weitere etwa 500 Prozeßakten harren der Verzeichnung, bevor im Herbst 2009 das Findbuch für den Wismarer Bestand komplett vorgelegt werden kann.

31

32

V 16 weitere Fälle aus den Jahren 1694-1698. Diese Inkonsequenz der Tribunalsregistratur läßt sich auch bei anderen Anwälten anchweisen. Nach dieser Akte waren 1657 vom September bis Dezember 6.000 Schweden auf 38 Schiffen im Wismarer Hafen und wurden durch die Bäcker der Stadt versorgt. Hans-Konrad Stein verstarb nach schwerer Krankheit am 13.09.2004, er hat sich u. a. durch die Verzeichnung der norddeutschen RKG-Bestände bleibende Verdienste erworben. Dr. Jacob Gerdes prozessierte zwischen 1674 und 1706 in den Prozessen 0.666-0.691 gegen ehemalige Mandanten, zahlreiche weitere Anwälte wären zu nennen, die ihr Geld mit Hilfe des Tribunals eintreiben mußten.

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Bis dahin ist die einmal im Monat aktualisierte Verzeichnung sowohl über die gemeinsame Archivplattform des Landes Mecklenburg-Vorpommern namens „ARIADNE“33 als auch über die Webseite des Stadtarchivs Wismar im Internet zugänglich. Mit dem Findbuch werden die Fälle dann über die für das RKG üblichen Indices erschlossen und zugänglich gemacht. Zudem wird eine CD mit dem Gesamttext im PDF-Format beiliegen, über die man elektronisch suchen kann. Bekannt gemacht wurden die Verzeichnung und sich aus ihr ergebende Erkenntnisse durch zahlreiche Vorträge vor Fachkollegen und daraus resultierende Artikel in Sammelbänden und wissenschaftlichen Zeitschriften, aber auch durch populärwissenschaftliche Veröffentlichungen in Wochenendbeilagen von Tageszeitungen, Regionalzeitungen34 und in einem Büchlein, das einzelne Fälle am Tribunal einem breiteren Publikum vorstellt35. Auf diese Art und Weise ist die Nutzung des Bestandes, der früher im wahrsten Sinne des Wortes ein ungehobener Schatz des Archives war, wesentlich gestiegen. Mittlerweile mehr als zehn Dissertationen und Habilitationen nutzen die Verzeichnung, neben den Ahnenforschern haben zahlreiche Wissenschaftler mit ihr gearbeitet und durch sie zu den Akten gefunden, die sie interessieren.

V. Der Bestand der Prozeßakten des Tribunals hat in allen Archiven durch die Kriege der Neuzeit und Moderne erhebliche Verluste hinnehmen müssen, wobei die Einbußen für Pommern besonders erheblich sind. Für den Oderstreifen und Altvorpommern muß durch scharfe Kassationen der Archivverwaltungen in Berlin und Stettin im 19. Jh. sogar von einem 100%igen Verlust ausgegangen werden36.

33 34

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www.ariadne.uni-greifswald.de Artikelserien erscheinen seit 2006 im „Mecklenburg-Magazin“, der Wochenendbeilage der Schweriner Volkszeitung, im „Heimatkurier“, der Wochenendbeilage des Nordkuriers und im Ostseeanzeiger, Ausgabe Wismar. NILS JÖRN, Ein gutes Bier ist die beste Medizin und andere Weisheiten aus Wismars Schwedenzeit. Ein Lesebuch zum 80. Geburtstag von Herbert Langer, Wismar 2007. NILS JÖRN, Das Archiv des Wismarer Tribunals, in: Integration durch Recht (Anm. 6).

Das Wismarer Tribunal

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Wie läßt sich der Verlust für die anderen Gebiete messen37, wie läßt er sich möglicherweise durch andere Bestände ausgleichen? Aufgrund der kommentierten Urteilssammlung des Vizepräsidenten Mevius ist bekannt, daß das Gericht zwischen 1653 und 1670 etwa 3.500 Fälle erledigte. Eine sehr vorsichtige Hochrechnung würde bei gleichbleibendem Geschäftsanfall dann auf eine Gesamtzahl zwischen 20 und 30.000 Fällen kommen, die zwischen 1653 und 1806 am Tribunal erledigt wurden. In den Archiven finden sich aktuell insgesamt Spuren von gut 6.000 Prozeßakten, von denen bis heute ca. 4.500 erschlossen sind und bis Ende 2009 die restlichen verzeichnet vorliegen sollen. Damit würden wir Einblick in ca. 20 - 25% der Gerichtstätigkeit des Tribunals gewinnen können. Dieser Prozentsatz läßt sich durch die Verwendung anderer Quellen jedoch bedeutend steigern bzw. qualifizieren. So existieren im Stadtarchiv Wismar in verschiedenen Beständen ca. 32.000 Prozeßakten, von denen bisher 26.174 zumindest kursorisch verzeichnet sind. Aus dieser Verzeichnung, die im wesentlichen die zeitgenössische Rubrizierung nutzt (Namen der Prozeßparteien, Streitgegenstand, Laufzeit des Prozesses) und um eine Angabe wichtiger Beilagen erweitert, geht hervor, daß sich in ca. 3.000 Prozeßakten der Untergerichte, also des Konsistoriums für die Herrschaft Wismar, des Ratsgerichts, des Gewetts, des Kriminalgerichts, des Vormundschaftsgerichts sowie der Amtsgerichte für Poel und Neukloster, Kopien von Tribunalsfällen finden. Diese Abschriften wurden an die jeweiligen Untergerichte gegeben, von denen an das Tribunal appelliert worden war. Würde man sie innerhalb ihres Bestandes in der gleichen Tiefe verzeichnen wie den Originalbestand, würde man auf diese Art wahrscheinlich auf 90% der ursprünglichen Wismarer Fälle Zugriff gewinnen. Man müßte nur kontrollieren, ob bereits Originale im Archiv des Tribunals vorhanden sind und sich dann um die verbleibenden Akten kümmern, deren Verzeichnung entsprechend der Vorgaben des Tribunalsbestandes vertieft und damit der Forschung zur Verfügung gestellt werden könnte. Bei der Kontrolle von zahlreichen Doppelüberlieferungen wurde deutlich, daß in jedem Fall zumindest der ausführliche Prozeßantrag und das Urteil des Tri-

37

Dazu die Beiträge von MARTIN SCHOEBEL, Das Wismarer Tribunal in den Beständen des Landesarchivs Greifswald, in: Integration durch Recht (Anm. 6), S. 371-376; UWE KIEL, Die Quellenlage zur Geschichte des Tribunals und Oberappellationsgerichts im StadtA Greifswald, in: Integration durch Recht (Anm. 6), S. 377-381; JAN LOKERS, Die Akten des Wismarer Tribunals im Staatsarchiv Stade: Ein Stiefkind der landesgeschichtlichen und rechtshistorischen Forschung, in: Integration durch Recht (Anm. 6), S. 377-385.

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Nils Jörn

bunals in Kopie an die Untergerichte zurückgingen, in mehr als der Hälfte der Fälle die komplette Prozeßakte in Kopie erhalten ist. Das bietet Chancen, die angesichts der Bedeutung des Tribunals und der großen Verluste, die dieses Gericht in seiner Überlieferung zu beklagen hat, dringend genutzt werden sollten. Wesentlich erleichtern könnte man den Einblick vor allem des Rechtshistorikers in die Gerichtstätigkeit des Tribunals, wenn man einen Bestand von Assessorenrelationen im Landesarchiv Greifswald erschließen würde. Dort liegen in der Repositur 29 mehr als 3.500 teilweise sehr ausführliche Urteilsbegründungen, in denen je ein Assessor auf fünf bis 250 Seiten seine Entscheidungsgründe in einem Fall erläutert, sein Kollege eine kürzere Korelation hält, bevor die restlichen Mitglieder des Kollegiums ihren Konsens oder Dissens zum vorgeschlagenen Urteil erklären. Dieser Bestand umfaßt die Jahre 1760 bis 1806. Auch er weist natürlich Lücken auf, diese betragen aber nur schätzungsweise 10%, was uns in die Lage versetzen würde, einen recht guten Gesamtüberblick über die Gerichtstätigkeit des Tribunals in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu gewinnen und die Lücken für den Wismarer Bestand weiter zu schließen. Außerdem würden sich interessante Vergleichsmöglichkeiten zum von Annette Baumann erschlossenen Bestand der Assessorenvoten am Reichskammergericht38, zu den von David Mevius veröffentlichten Decisiones der Jahre 1653-1670 und zu der Sammlung des Hermann Heinrich Engelbrecht aus dem 18. Jahrhundert bieten. Man könnte daran untersuchen, wie ähnlich oder verschieden die juristische Argumentation an RKG und Wismarer Tribunal verlief, man könnte aber auch feststellen, wie sie sich am Tribunal innerhalb von anderthalb Jahrhunderten entwickelte – für Rechtshistoriker eine wahre Fundgrube, nach der sie in dieser Qualität und Dichte andernorts lange suchen müssen. Eine dritte, bisher weitgehend ungenutzte, bisher archivisch unerschlossene Quelle bieten die Stadtarchive Wismar und Greifswald sowie das Reichsarchiv Stockholm mit ihren Urteilssammlungen aus verschiedenen Epochen, die Zugriff auf etwa 6.000 Prozesse bringen. Angesichts der immensen Lücken in der Überlieferung würden wir durch ihre Erfassung zumindest Anhaltspunkte auf fehlende Prozesse gewinnen, die unser Gesamtbild von der Gerichtstätigkeit des Tribunals vervollständigen könnten. Für

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ANETTE BAUMANN, Gedruckte Relationen und Voten des Reichskammergerichts vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Ein Findbuch (QFHG 48), Köln Weimar Wien 2004.

Das Wismarer Tribunal

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die Herrschaft Wismar ließe sich die Gerichtstätigkeit des Tribunals auf diese Weise wahrscheinlich nahezu lückenlos rekonstruieren, ein deutschlandweit wahrscheinlich singuläres Ergebnis, für Pommern ließen sich die vor allem im Zweiten Weltkrieg entstandenen Kriegsverluste von bisher 90% auf zumindest 60 bis 70% mildern – angesichts der immensen Verluste in der archivalischen Überlieferung wäre auch das bereits ein gutes Ergebnis. Angesichts der Tatsache, daß auch die Prozeßakten zu den meisten kurfürstlichen Oberappellationsgerichten als Totalverlust gelten müssen, hätte man durch die intensivere Auswertung des Tribunalsbestandes also die Möglichkeit, wenigstens einen von den obersten Reichsgerichten exemten Gerichtssprengel mit dem Gesamtbefund für das Alte Reich zu vergleichen. Natürlich wird bis dahin noch etwas Zeit vergehen, wenn man sich aber überlegt, wie viel seit 1978, als die Verzeichnung der Prozeßakten des Reichskammergerichts deutschlandweit in Angriff genommen wurde, in dieser Frage bewegt worden ist, klingt diese Vision umsetzbar.

Leopold Auer

Das Reichskammergericht und andere Höchstgerichte im Reich Kommentar

Das Schriftgut, das bei gerichtlichen Institutionen erwächst, läßt sich für eine Vielzahl von Fragestellungen auswerten; für Höchstgerichte gilt das in ganz besonderem Maße. Die Möglichkeiten der Fragestellungen gehen dabei weit über die Rechtsgeschichte hinaus, ja die Rechtsgeschichte ist vielleicht nicht einmal der wichtigste Anwendungsbereich, wie Bernhard Diestelkamp in einem Vortrag aus Anlaß der Frankfurter Jubiläumsausstellung zum Reichskammergericht 1995 erklärt hat. Die Berliner Tagung war weitgehend auf den rechtshistorischen Aspekt konzentriert, doch sind etwa im Beitrag von Anja Amend oder im Kommentar von Winfried Schulze auch andere Gesichtspunkte zur Sprache gekommen, die für die Ergebnisse dieser Tagung einen weiten Bogen gespannt haben. In jedem Fall zeigen auch die hier zu kommentierenden Beiträge, wieviel an neuen Erkenntnissen der Verzeichnungsarbeit an den Prozeßakten von Reichskammergericht, Reichshofrat und Wismarer Tribunal zu verdanken ist. Für den Reichshofrat sind im Gegensatz zum Reichskammergericht modernen Anforderungen genügende Verzeichnungsaktivitäten erst vor etwa einem Jahrzehnt begonnen worden, wie wir von Eva Ortlieb gehört haben. Diese unterschiedliche Verzeichnungssituation erklärt sich aus der unterschiedlichen Geschichte der Institutionen und der Überlieferung ihres Schriftguts, aber auch aus ihren unterschiedlichen Aufgaben. Funktion, Verfahren und das sich daraus ergebende Schriftgut stehen dabei in unmittelbarer Wechselwirkung zueinander. Der Kompetenzbereich des Reichshofrats erklärt sich primär aus seinem Naheverhältnis zum Kaiser, denn er ist das Instrument, dessen sich der Kaiser bedient, um seine Funktion als oberster Richter, oberster Wahrer von Frieden und Recht und nicht zuletzt als oberster Lehensherr wahrnehmen zu können. Insofern bietet sich, wie der Abendvortrag von Alain Wijffels gezeigt hat, ein Vergleich zum Conseil du

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Leopold Auer

Roi und, was die jura reservata betrifft, zur justice retenue an. Aus dieser im

übrigen auch räumlichen Nähe des Reichshofrats zum Kaiser – er folgt ja dem Hof, jedenfalls während des 16. / 17. Jahrhunderts – ergeben sich die Besonderheiten im Verfahren, seine gleichzeitige Rolle als Gericht, als Organ zur Justizwahrung wie als Beratungsorgan, aber auch seine über das Reichskammergericht hinausgehende Zuständigkeit für Reichsitalien. Im Verhältnis zum Reichskammergericht bedeutet das, wie das Referat von Eva Ortlieb gezeigt hat, und wie man als Ergebnis der jüngsten Forschungen festhalten kann, daß die Tätigkeit beider Institutionen viel weniger unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenz gesehen werden darf, wie man bisher gern angenommen hat, sondern vielmehr als eine sich einander ergänzende betrachtet werden muß. Ebenso wichtig ist aber auch der Hinweis, daß die Gewichtung der verschiedenen Funktionen des Reichshofrats im Lauf seiner Entwicklung keine unveränderlich gleichbleibende gewesen ist. So ist, worüber auch in der Diskussion weitgehende Übereinstimmung geherrscht hat, die Funktion als Gericht offenbar erst seit der Mitte des 17. Jahrhunderts stark in den Vordergrund gerückt, ohne daß deswegen allerdings die übrigen Funktionen aufgegeben oder in ihrer Bedeutung vermindert worden wären. Der von Ortlieb dargelegte spezifische Charakter des Reichshofrats als – überspitzt ausgedrückt – unmittelbarer Emanation des Kaisers machte ihn auch zur vorzüglich geeigneten Instanz für dynastische Streitigkeiten, wie sie Siegrid Westphal in ihrem Beitrag geschildert hat. Zusätzlich ist dabei die Funktion des Kaisers als oberster Lehensherr zu berücksichtigen, weil bei innerdynastischen Auseinandersetzungen oft die Frage der Erbfolge eine entscheidende Rolle spielte, die automatisch das Lehensverhältnis zum Kaiser berührte. Zur Wahrnehmung seiner lehensherrlichen Funktion bediente sich der Kaiser aber wiederum des Reichshofrats, der für die Abwicklung aller Lehensangelegenheiten zuständig war. Das kommt auch in der Zweiteilung der Überlieferungsbildung im Reichshofrat in eine Judizial- und Gratial- bzw. Lehensregistratur zum Ausdruck. Wie aus dem Referat von Westphal deutlich geworden ist, hat der Reichshofrat in diesen Auseinandersetzungen eine sehr vorsichtige und differenzierte Vorgangsweise eingeschlagen, die darauf ausgerichtet war, die Interessen der Streitparteien unter Berücksichtigung der Interessen des Kaisers so gegeneinander auszubalancieren, daß sie sich letztlich im gemeinsamen Grundkonsens der Systemerhaltung des Reiches wiederfinden konnten. Diese Vorgangsweise entsprach der auch sonst häufig auf außergerichtliche Vermittlung angelegten Tätigkeit des Reichshofrats. Dabei scheinen sich aber ab der zweiten Hälfte des 17. Jahr-

Das Reichskammergericht und andere Höchstgerichte im Reich – Kommentar

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hunderts die Anzeichen dafür zu mehren, daß die mächtigeren Reichsstände ihren politischen Einfluß unmittelbar beim Kaiser geltend zu machen versuchten, was zu unterschiedlichen Auffassungen zwischen dem Reichshofrat als Instrument kaiserlicher Rechtswahrung und dem Kaiser selbst führen konnte, wie es sich etwa im Fall der unbeschränkten Appellationsprivilegien zeigte. Vielleicht haben wir hier ein Indiz für die auch bei anderen Gerichten des Ancien Regime auftretende Tendenz zur Emanzipation vom Gerichtsherrn vor uns, wie wir sie etwa in der Haltung der französischen Parlements gegenüber dem König beobachten können. Eine eingehendere Untersuchung dieses Phänomens ist noch ausständig. Daß Interventionen der Parteien – vor allem, aber nicht nur zur Betreibung und Beschleunigung von Verfahren – sowohl am Reichkammergericht wie am Reichshofrat üblich waren und auch erwartet wurden, ist vor allem aus den Parteiakten bekannt; die Verzeichnung der Gerichtsakten selbst erbringt dazu nur gelegentliche Beispiele. Das gilt auch für die Sollizitatur im engeren Sinn als offizielle oder zumindest offiziöse Einrichtung, worauf Paul Nève im dritten Beitrag dieser Sektion unter Berufung auf das Buch von BengtChristian Fuchs hingewiesen hat. Darüber hinaus hat Nève Überlegungen zum Ursprung der Sollizitatur angestellt, wobei zahlreiche Belege aus Frankreich und den Niederlanden zeigen, daß diese Einrichtung in beiden Ländern über eine weit zurückreichende Tradition verfügt. Dieser Umstand wirft dann die Frage auf, ob die Sollizitatur bei den beiden Reichsgerichten von französisch-niederländischen Vorbildern übernommen wurde, oder ob die gemeinsame Grundlage des gemeinen Rechts einfach zu einer vergleichbaren Entwicklung geführt hat. Ebenso wie bei der viel diskutierten Frage nach der Übernahme von Verwaltungsformen aus dem burgundisch-niederländischen Raum bedarf es zu einer endgültigen Antwort noch weiterer Forschungen. Nicht zuletzt ist die Frage nach dem Zusammenspiel von Höchstgerichten und untergeordneten Gerichten von Bedeutung. Dabei geht es neben einer möglichen Vorbildwirkung in Organisation und Verfahrensformen auch um die Rolle der Appellationen und die Auswirkung der privilegia de non appellando, für deren Untersuchung noch manches Defizit besteht. Aus dem Wunsch der Territorien nach einer weitgehend unabhängigen Gerichtsbarkeit mußte sich eine Konkurrenz zu den Reichsgerichten ergeben, wie sie Nils Jörn in seinem Beitrag über das Wismarer Tribunal dargestellt hat. Nachdem Schweden mit seinen im Westfälischen Frieden erworbenen Gebieten im Gegensatz

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Leopold Auer

zu Frankreich nicht aus dem Reichsverband ausgeschieden ist, war es notwendig, für die Gerichtsorganisation eine Konstruktion zu finden, die dem schwedischen Wunsch nach weitgehender Unabhängigkeit entsprach, ohne den reichsgerichtlichen Rahmen prinzipiell aufzugeben. Trotz des unbeschränkten Appellationsprivilegs ist die prinzipielle Überordnung der Reichsgerichte, etwa im Fall der Justizverweigerung oder der Felonie, erhalten geblieben. Wir können das auch bei anderen Territorien mit unbeschränkten Appellationsprivilegien beobachten, etwa am Beispiel des bekannten, allerdings erfolglos bei Ausbruch des Siebenjährigen Krieges vor dem Reichshofrat geführten Prozesses gegen Friedrich den Großen. Das Verhältnis der Reichsgerichte zu Gerichten unterer Ebenen ist, wie nicht zuletzt am Beispiel des Wismarer Tribunals gezeigt werden kann, von grundsätzlichem Interesse und sollte hinsichtlich der dabei zu beobachtenden Wechselwirkungen verstärkt untersucht werden. Denn die Erforschung gerichtlicher Tätigkeit auf der einen Ebene kann wesentlich zum Verständnis der Tätigkeit auf der jeweils anderen Ebene beitragen. Das gilt etwa für die Vorbildwirkung des Kameral- bzw. Reichsprozesses auf die Tätigkeit von Appellationsgerichten in den Territorien, aber auch für die mögliche Rekonstruktion der Überlieferung von gerichtlichem Schriftgut, das im Original nicht erhalten geblieben ist. So hat Nils Jörn gezeigt, daß Teile der verlorenen Überlieferung des Wismarer Tribunals aus jener der Untergerichte rekonstruiert werden können, obwohl es auch im Einzugsbereich des Wismarer Tribunals nicht an Beispielen für das umgekehrte Phänomen, etwa im Fall der weitgehend vernichteten Stettiner Gerichtsakten, fehlt. Gerade im kommunalen Bereich, wo es im 19. Jahrhundert in vielen Territorien zu schwerwiegenden Verlusten auch von gerichtlichem Schriftgut gekommen ist, wird es vielfach eher so sein, daß das Schriftgut der übergeordneten Instanz zur Rekonstruktion der Tätigkeit von Gerichten unterer Ebenen herangezogen werden muß als umgekehrt. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die Referate dieser Sektion in ihrem Auftrag, Bilanz zu ziehen, nicht nur einen beträchtlichen Fortschritt der Forschung in den letzten Jahren, sondern gleichzeitig auch Bereiche mit weiterhin erheblichen Forschungsdefiziten aufgezeigt haben. Es ist daher zu hoffen, daß diese Tagung für die Zukunft zu weiteren Forschungen anregt, um derartige Defizite abzubauen. Die Fortsetzung der Verzeichnungstätigkeit vor allem im Bereich des Reichshofrats ist dafür eine unabdingbare Voraussetzung.

BERND SCHILDT

Nähe und Ferne zum Reichskammergericht Teilergebnisse einer quantitativen Analyse1

I. Nähe und Ferne zum Reichskammergericht – wie nähert man sich dem Thema. Am naheliegendsten ist es wohl, das Problem erstens unter räumlich-territorialen Gesichtspunkten zu begreifen – aber aus welcher Perspektive, der der Territorien vor bzw. nach 1806 oder aber übergreifend unter dem Gesichtspunkt der zeitgenössischen Reichskreise? Letzteres scheint wegen der teilweise räumlich sehr disparaten Struktur der Reichskreise nur sehr bedingt geeignet. Zweitens scheint ein Zugriff auf das Thema unter religiös-konfessionellen Aspekten denkbar. Haben Reformation und Augsburger Religionsfrieden oder aber auch die Gegenreformation Auswirkungen auf Nähe oder Ferne zum Reichskammergericht in mentaler Hinsicht gehabt? Ein solcher Vergleich setzt allerdings voraus, daß man alle, oder mindestens die übergroße Mehrzahl der Territorien in einen Vergleich einbeziehen kann. Dies ist gegenwärtig nicht realisierbar, da die Grundlage für eine solche quantifizierende Analyse – die Bochumer RKG-Datenbank2 – erst etwas mehr als die Hälfte (ca. 52,2 %) der heute noch nachweisbaren Prozesse erfaßt; im übrigen steht für einige große Bestände die Publikation der bereits verzeich-

1

2

Überarbeitete und leicht erweiterte Fassung des mündlichen Vortrages vom 12. 04. 2008. Insbesondere wurden die statistischen Angaben auf den Stand vom 31. 05. 2010 gebracht. Vgl. BERND SCHILDT, Wandel in der Erschließung der Reichskammergerichtsakten. Vom gedruckten Inventar zur Online-Recherche in der Datenbank (in diesem Bd., S. 35-60); ferner DERS., Virtuelle Zusammenführung und inhaltlich-statistische Analyse der überlieferten Reichskammergerichtsprozesse, in: Forschungen in der digitalen Welt. Sicherung, Erschließung und Aufbereitung von Wissensbeständen, hg. von RAINER HERING / JÜRGEN SARNOWSKY / CHRISTOPH SCHÄFER / UDO SCHÄFER (Veröff. aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg 20), Hamburg 2006, S. 125-141; DERS., Inhaltliche Erschließung und ideelle Zusammenführung der Prozeßakten des Reichskammergerichts mittels einer computergestützten Datenbank; ZNR 25 (2003), S. 269-290.

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Bernd Schildt

neten Aktenbestände noch vollständig (Baden) oder doch größtenteils (Bayern) aus. Da auch die Erschließung der Reichshofratsakten noch in den Anfängen steckt, ist die verbreitete Vermutung der Ferne katholischer Territorien zum Reichskammergericht und ihrer größeren Nähe zum Reichshofrat statistisch nicht wirklich seriös zu belegen. Damit ist drittens auch die Frage nach höchstgerichtlichen Alternativen angesprochen; hier wird die inzwischen in Angriff genommene Verzeichnung der Reichshofratsakten3 künftigen Forschungen zweifellos weitere Impulse verleihen. Viertens könnte man die Frage von Nähe und Ferne zum Reichskammergericht auch unter ständischen oder sozialen Fragestellungen angehen; das wäre immerhin sowohl für den momentanen Gesamtstand der Datenerfassung als auch für ausgewählte Territorien denkbar. Fünftens ist zu fragen, ob in bestimmten Zusammenhängen – zum Beispiel bei politisch-verfassungsrechtlich motivierten Verfahren – auch Patronage- und Klientelbeziehungen4 bzw. anderweitige personelle Vernetzungen der Beteiligten für die Inanspruchnahme des Reichskammergerichts von Bedeutung gewesen sind. Sechstens schließlich wäre auch zu erwägen, Nähe oder Ferne zum Reichskammergericht an der Änderung der inhaltlichen Gewichte in der Tätigkeit des Gerichts festzumachen.5

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4

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Inzwischen sind die ersten beiden Bd. des Verzeichnungsprojekts der RHR-Akten erschienen; Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats (RHR), hg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Österreichischen Staatsarchiv, Serie I: Alte Prager Akten. Bd. 1: A–D, hg. von WOLFGANG SELLERT, bearb. von EVA ORTLIEB, Berlin 2009; Serie II: Antiqua, Bd. 1: Karton 1-43, hg. von WOLFGANG SELLERT, bearb. von URSULA MACHOCZEK, Berlin 2010. Trotz einiger grundlegender Arbeiten bleibt bezüglich der prosopographischen Grundlagenforschung noch viel zu tun; vgl. insbesondere SIGRID JAHNS, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. Teil II: Biographien Bde. 1 und 2, (QFHG 26 II), 1 u. 2 (2003) – Der für die Auswertung vorgesehene 1. Bd. ist bislang noch nicht erschienen; ANETTE BAUMANN, Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690-1806), (QFHG 51), Köln Weimar Wien 2006; ANKE STEIN, Advokaten und Prokuratoren am Reichskammergericht (1693-1806) als Rechtslehrer und Schriftsteller (Juristische Reihe TENEA/www. jurawelt.com; 2); ANDREAS KLASS, Standes- oder Leistungselite? Eine Untersuchung der Karrieren der Wetzlarer Anwälte des Reichskammergerichts (1693-1806), (RhistR 260), Frankfurt am Main 2002. Die Forschung geht heute davon aus, daß sich das RKG im 17. und 18. Jh. zu einem faktisch höchsten Zivilgericht des Reiches entwickelt hatte.

Nähe und Ferne zum Reichskammergericht

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Hier soll zunächst einmal der Frage nach Nähe oder Ferne zum Reichskammergericht unter dem räumlichen Gesichtspunkt der Gesamtüberlieferung von Prozeßakten für Territorien und Reichsstädte nachgegangen werden. Die grundlegenden Ausgangsdaten dafür stehen heute durch die von der DFG großzügig geförderten Verzeichnungsarbeiten zur Verfügung. In rund 50 in- und ausländischen Archiven lassen sich für ca. 77.800 Reichskammergerichtsprozesse zumindest Spuren erkennen. Davon sind mittlerweile mehr als 74.800 Prozeßakten in ihrer Mehrzahl (ca. 53.400 Verfahren) nach den DFG-Richtlinien6 verzeichnet. Für ca. 10.500 Prozeßakten aus dem Landesarchiv Koblenz, dem Staatsarchiv Münster sowie den Staatsarchiven in Wolfenbüttel und Stade sowie für die außerhalb des DFGProjekts – z.T. nur für archivinterne Zwecke – erarbeiteten Verzeichnungen (z.B. Aachen, Stettin) fanden die DFG-Richtlinien keine Berücksichtigung. 7 Im allgemeinen wird davon ausgegangen, daß die Bedeutung des Reichskammergerichts für die nördlichen Teile des Reiches in den ersten Dezennien seines Bestehens gering war und im südlichen Teil die Bedeutung des Gerichts im Verlauf der Zeit wegen der größeren Nähe zum Reichshofrat rückläufig gewesen ist.8 Zunächst stellt sich aber erst einmal die Frage, was zum Norden und was zum Süden des Reiches gehört. Vorliegend wird von der traditionellen Mainlinie mit dem Fixpunkt Frankfurt als „Grenze“ ausgegangen. Auch ist der Unterschied in der Entfernung zu Wetzlar und Speyer bei Frankfurt mit 35 km relativ gering. Läßt man vor dem Hintergrund dieser geographischen Gegebenheiten die ca. 6.850 Prozesse aus Hessen-Darmstadt, Frankfurt sowie die aus dem untrennbaren Bestand, bei denen die Parteien außerhalb des Deutschen Bundes ansässig waren bzw. die Prozesse zwischen den Souveränen betreffen, außer Betracht, dann ergibt sich hinsichtlich der heute in deutschen Archiven noch nachweisbaren Reichskammergerichtsverfahren ein leichtes Übergewicht zu Gunsten des nördlichen Teils des Reiches (37.100 zu 28.700) von ungefähr 8.400 Prozessen (ca. 12 %).

6

7 8

Vgl. Anlage 2 in diesem Bd.: Grundsätze für die Verzeichnung von Reichskammergerichts-Akten („Frankfurter Grundsätze“) abgedruckt nach MARTIN EWALD, Inventarisierung von norddeutschen Beständen des Reichskammergerichts, in: Der Archivar 33 (1980), Sp. 482. Vgl. Anlage 5 in diesem Bd.: „Reichskammergerichtsprozesse – Überlieferung“. ADOLF LAUFS, Art. Reichskammergericht HRG IV, 11990, Sp. 655–662, 660.

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Bernd Schildt

Auch unter Berücksichtigung der in ausländischen Archiven verwahrten Reichskammergerichtsakten ändert sich grundsätzlich nichts an dieser Relation. So müssen einerseits die in Maastricht (312), Lüttich (1.186) und Stettin (1.190) verwahrten niederländischen, belgischen und pommerschen Akten dem nördlichen Teil (in summa 2.688 Prozesse) und andererseits die in Straßburg (1.554 bzw. 36), Besançon (36) und Metz (423) überlieferten elsässischen und lothringischen sowie die im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (312) befindlichen salzburgischen und trientinischen Akten dem süddeutschen Bereich (in summa 2.361 Prozesse) zugeordnet werden. Deutlich gravierender sind die Unterschiede mit Blick auf die bislang noch nicht publizierten Ergebnisse bereits abgeschlossener Verzeichnungsarbeiten. Hier überwiegt – vorläufig noch – mit ca. 10.700 Verfahren bei weitem der süddeutsche Teil gegenüber Norddeutschland mit lediglich ca. 500 Verfahren. Dieses eklatante Defizit bei der Veröffentlichung der süddeutschen Bestände resultiert sowohl aus der schleppenden Drucklegung des Münchener Inventars – dessen Verzeichnung nach meinen Informationen bereits seit Jahren abgeschlossen ist – als auch aus der bislang überhaupt noch nicht begonnenen Drucklegung der ebenfalls bereits seit einigen Jahren vollständig verzeichneten badischen Akten. Abgesehen von der nur schleppenden Veröffentlichung insbesondere der süddeutschen RKG-Akten ist die Situation für eine quantitative Grobanalyse insoweit nicht schlecht. Allerdings läßt sich auf dieser Basis zu sehr viel mehr als zu der allgemeinen Frequentierung des Gerichts wenig sagen.

II. Für eine vertiefende Betrachtung des Problems sollen deshalb im folgenden einige Detailergebnisse quantitativer Analysen aus der Bochumer Reichskammergerichtsdatenbank herangezogen werden. Auf diese Weise kann nach dem Stand vom 31. Mai 2010 auf der Grundlage von 36.054 Reichskammergerichtsprozessen aus insgesamt 22 Beständen ein deutlich klareres Bild zur Inanspruchnahme des Reichskammergerichts in Raum und Zeit gewonnen werden. Einbezogen in die Überlegungen wurden alle datierten oder hilfsweise datierbaren Reichskammergerichtsprozesse aus den 22 vollständig in der Datenbank erfaßten Beständen;9 wobei anzumerken ist, daß

9

Vgl. auch die Übersicht bei SCHILDT, Wandel in der Erschließung (Anm. 2), S. 41.

Nähe und Ferne zum Reichskammergericht

299

die gänzlich undatierbaren Verfahren wegen ihrer relativ geringen Anzahl (464 = ca. 1 %)10 und die noch selteneren Fälle, in denen das RKG in den Inventaren nicht als Instanz erwähnt wird (46 = ca. 0,13 %)11 insgesamt vernachlässigt werden können. Im einzelnen handelt es sich um die Überlieferung aus der preuß. Prov. Westfalen, aus dem RegBez. Düsseldorf der preuß. Rheinprov., dem preuß. Kreis Wetzlar sowie aus Braunschweig, Waldeck, Hessen-Homburg, Schaumburg-Lippe und Schaumburg, Holstein und Lauenburg, Nassau, Hessen-Darmstadt, Württemberg, Lippe-Detmold, Hohenzollern-Hechingen und Hohenhzollern-Sigmaringen, Löwenstein-Wertheim, ferner aus dem untrennbaren Bestand die Prozesse zwischen Parteien außerhalb des Deutschen Bundes und zwischen Souveränen, sowie die Prozeßakten der Reichsstädte Lübeck, Hamburg, Bremen, Dortmund, Köln, Frankfurt und Wetzlar. Allerdings sind die Bestände für die Reichsstadt Wetzlar und den gleichnamigen preuß. Kreis auf Grund der besonderen Problematik Wetzlars als Sitz des Reichskammergerichts im 18. Jahrhundert wenig geeignet, verallgemeinernde Schlußfolgerungen zur Inanspruchnahme des Gerichts zu ziehen; was im übrigen wohl auch für das 16. und 17. Jh. mit Blick auf die Überlieferung Speyers im pfälzischen Bestand angenommen werden muß. Für die Frage nach der Bedeutung räumlicher Nähe oder Ferne des Reichskammergerichts aus der Perspektive vorinstanzlicher territorialer Obergerichte oder erstinstanzlicher Kläger dürften die 170 km Entfernung in Nord-Süd-Richtung zwischen Speyer und Wetzlar jedenfalls nicht gänzlich ohne Bedeutung gewesen sein. Die folgenden statistischen Erhebungen an Hand der in der Datenbank erfaßten Reichskammergerichtsprozesse basieren auf einer zeitlichen Differenzierung in die ersten, eher unsteten Jahre des Gerichtes (1495-1526), die nachfolgende Speyerer Zeit (1527-1689) und schließlich die letzten 117 Jahre des Reichskammergerichts in Wetzlar (1690-1806). Sicher wären auch andere zeitliche Zäsuren denkbar gewesen, etwa die einzelnen Jahrhunderte oder Halbjahrhunderte oder aber auch die Zeit des 30-jährigen Krieges bzw. das späte 16. Jahrhundert als Beginn des Tätigwerdens des Reichshofrats. Zu Letzterem fehlt aber, wie bereits erwähnt, eine adäquate Vergleichsbasis.

10

11

Dadurch kann der Wert für die Gesamtzeit (1495–1806) im Einzelfall höher ausfallen als die Summe der drei separat ausgewerteten Zeitabschnitte (1495–1526, 1527–1689, 1690– 1806). Betroffen sind vor allem die Bestände in Darmstadt, Detmold und Düsseldorf. Hier ergeben sich keine Abweichungen zwischen der Summe der drei einzelnen Zeitabschnitte zu den Werten der Gesamtzeit.

300

Bernd Schildt

Schaut man sich diese drei Perioden in der Geschichte der Rechtsprechung des Reichskammergerichts insgesamt an, dann ergeben sich auf der Basis der hier verwandten Daten deutliche Unterschiede zwischen den drei ausgewählten Zeitabschnitten. Ein Frequentierungsvergleich an Hand der jeweiligen Prozeßeingänge ergibt folgendes Bild: 1495-1806 1495-1526 1527-1689 1690-1806 12 13 Anzahl p.a. Anzahl p.a. 12 % Anzahl p.a.12 %13 Anzahl p.a.12 %13 36.054 115,5 1.301 40,66 3,61 22.332 137 61,9 11.896 101,7 32,99 Ausgehend von 36.054 nachweisbaren Prozeßakten lag die durchschnittliche Inanspruchnahme des Gerichts bei 115,5 Fällen pro Jahr. Für die 32 Jahre der frühen Phase des Reichskammergerichts sind 1.301 Akteneingänge zu verzeichnen, was einem Wert von durchschnittlich etwa 40,7 Eingängen pro Jahr entspricht. Auf die längste Periode – die Speyerer Zeit von 15261689 mit ihren insgesamt 163 Jahren – entfallen 22.332 Prozeßeingänge, was einer Quote von 137 Eingängen pro Jahr entspricht. Ein deutlicher Abfall ist dann für die 117 Jahre währende Wetzlarer Zeit (1690-1806) zu verzeichnen, wenngleich der eklatante Rückgang in der Gesamtzahl um rund 47 % auf nunmehr nur noch 11.896 durch die vergleichsweise bescheidenere Abnahme des Jahresdurchschnittswertes um rund 26 % auf nunmehr nur noch 101,7 Akteneingänge p.a. doch deutlich relativiert wird. Da bislang erst etwas mehr als die Hälfte (ca. 55 %) der verzeichneten Reichskammergerichtsprozesse in der Datenbank erfaßt sind, ist im Ergebnis einer vollständigen Aufnahme mit einem Jahresdurchschnittswert von ca. 230 neuen Prozessen zu rechnen. Es steht zu vermuten, daß sich dabei auch an der Frequentierung innerhalb der einzelnen Perioden keine grundlegend anderen Relationen ergeben werden. Nimmt man die Zahlen für die Bestände im einzelnen in den Blick, so ergeben sich doch ganz erhebliche Unterschiede, die das Problem von Nähe und Ferne zum Reichskammergericht sehr ambivalent reflektieren. Die Zahlenverhältnisse zum Akteneingang ergeben ein insgesamt sehr heterogenes, zum Teil sogar geradezu gegensätzliches Bild. Auch für die – abgesehen von Aachen und Nürnberg – nahezu vollständig erfaßten größeren Reichsstädte sind die Befunde uneinheitlich und kaum miteinander vergleichbar.

12 13

Prozeßaufkommen pro Jahr. Bezogen auf das gesamte Prozeßaufkommen (1495-1806).

301

Nähe und Ferne zum Reichskammergericht

Prozeßaufkommen nach Archiven Archive14 Bremen Bückeburg Darmstadt18 Detmold19 Düsseldorf20 Frankfurt a. M. Hamburg Koblenz Köln Lübeck Maastricht/NL Marburg21 Münster Schleswig Sigmaringen Stuttgart Wertheim Wetzlar Wiesbaden22 Wiesbaden23 Wiesbaden24 Wolfenbüttel

14 15

16 17 18 19 20 21 22 23 24

1495-1806 Anzahl15 p.a.16 463 1,48 241 0,77 4.562 14,6 827 2,65 6.495 20,82 1.664 5,33 1.386 4,44 628 2,01 1.862 5,97 775 2,48 312 1 166 0,53 6.417 20,57 611 1,96 338 1,08 5.544 17,77 20 0,06 193 0,62 102 0,33 833 2,67 1.945 6,23 670 2,15

1495-1526 Anzahl p.a.16 0 –– 0 –– 192 6,00 1 0,03 142 4,44 46 1,44 9 0,28 42 1,31 180 5,63 15 0,47 22 0,69 2 0,06 24 0,75 8 0,25 7 0,22 540 16,88 2 0,06 2 0,06 1 0,03 6 0,19 58 1,81 2 0,06

%17 –– –– 4,21 0,12 2,19 2,76 0,65 6,70 9,67 1,94 7.07 1,20 0,37 1,31 2,07 9,74 10,00 1,04 0,98 0,72 2,98 0,3

Zum Zuständigkeitsbereich der einzelnen Archive vgl. Anlage 5. Die Anzahl der Akteneingänge für die Gesamtzeit kann im Einzelfall höher ausfallen als die Summe der drei separat ausgewerteten Zeitabschnitte. Prozeßaufkommen pro Jahr. Bezogen auf das gesamte Prozeßaufkommen des jeweiligen Bestandes. 446 Prozesse nicht datierbar. 17 Prozesse nicht datierbar. 15 Prozesse nicht datierbar. Gft. Waldeck. LGft. Hessen-Homburg. Preuß. Kreis Wetzlar. Hzm. Nassau ohne das Amt Reichelsheim in der Wetterau.

302

Bernd Schildt

Prozeßaufkommen nach Archiven Archive25 Bremen Bückeburg Darmstadt Detmold Düsseldorf Frankfurt a. M. Hamburg Koblenz Köln Lübeck Maastricht/NL Marburg29 Münster Schleswig Sigmaringen Stuttgart Wertheim Wetzlar Wiesbaden30 Wiesbaden31 Wiesbaden32 Wolfenbüttel

25 26

27 28 29 30 31 32

Anzahl26 252 143 2.326 286 4.411 827 799 467 1.282 612 214 79 3.812 507 284 4.343 15 28 46 104 959 536

1527-1689 p.a.27 1,55 0,88 14,37 1,75 27,06 5,07 4,90 2,87 7,87 3,75 1,31 0,48 23,39 3,11 1,74 26,64 0,09 0,17 0,28 0,64 5,88 3,29

%28

Anzahl26

54,4 59,34 50,99 34,58 67,91 49,79 57,65 74,48 69,04 78,97 68,81 47,59 59,38 83,1 84,02 78,34 75,00 14,51 45,10 12,48 49,36 80,36

211 98 1.598 523 1.929 788 578 118 393 148 75 85 2.556 95 47 661 3 163 55 722 924 126

1690-1806 p.a.27 1,80 0,81 13,66 3,96 16,49 6,73 4,94 1,01 3,36 1,26 0,64 0,73 21,85 0,81 0,40 5,65 0,03 1,39 0,47 6,17 7,80 1,08

%28 45,6 40,66 35,03 63,24 29,70 47,44 41,70 18,82 21,16 19,10 24,12 51,20 39,81 15,6 13,91 11,92 15,00 84,46 53,92 86,67 47,56 18,90

Zum Zuständigkeitsbereich der einzelnen Archive vgl. Anlage 5. Die Anzahl der Akteneingänge für die Gesamtzeit kann im Einzelfall höher ausfallen als die Summe der drei separat ausgewerteten Zeitabschnitte. Prozeßaufkommen pro Jahr. Bezogen auf das gesamte Prozeßaufkommen des jeweiligen Bestandes. Gft. Waldeck. LGft. Hessen-Homburg. Preuß. Kreis Wetzlar. Hzm. Nassau ohne das Amt Reichelsheim in der Wetterau.

Nähe und Ferne zum Reichskammergericht

303

Für die Annahme eines direkten Zusammenhangs zwischen räumlicher Nähe zum Sitz des Gerichts und Frequentierung desselben sprechen zunächst einmal die Zahlen für die in Stuttgart verwahrten württembergischen Akten. Die extrem hohe Quote von 16,88 Akteneingängen pro Jahr bzw. 540 in absoluten Zahlen für die erste Periode, also die Zeit bis 1526, stellen einen absoluten Ausnahmefall dar. Auf eine derartige Jahresquote kommt kein einziger der anderen Bestände – am nächsten liegen noch Darmstadt sowie Köln und Düsseldorf mit 6 bzw. 5,63 und 44,4 Eingängen p.a. Das setzt sich fort in der Speyerer Epoche des Reichskammergerichts, für die 4.343 Akteneingänge aus Württemberg zu verzeichnen sind, was einer Quote von 26,64 p.a. entspricht. Damit entfallen mehr als 78 % aller Stuttgarter Verfahren auf diesen Zeitraum. Dahinter bleiben die Zahlen für die Wetzlarer Zeit mit 661 bzw. 5,65 p.a. ganz erheblich zurück. Sie liegen damit auch deutlich unter dem Durchschnittswert für alle Bestände bezogen auf diesen Zeitraum von 101,7 p.a. Ob für diese extrem rückläufige Entwicklung in der Frequentierung des Reichskammergerichts aus Württemberg von fast 85 % und bezogen auf den jährlichen Durchschnittswert um etwa 78 % die kürzere Entfernung zu Speyer tatsächlich ausschlaggebend war, ist schwer zu sagen. Immerhin wäre im stark zersplitterten Südwesten des Reiches auch der Einfluß von politisch-verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen und Angelegenheiten des Landfriedensschutzes auf den Umfang der Inanspruchnahme im 16. und 17. Jahrhundert in Rechnung zu stellen. Für eine solche Sicht spricht insbesondere auch der Umstand, daß bei den Prozessen von Parteien außerhalb des Deutschen Bundes und solchen zwischen den Souveränen33 die Zahlenverhältnisse in der Relation diesen Werten sehr nahe kommen. Hier entfallen im Jahresdurchschnitt 2,87 Prozesse auf die Speyerer Periode und lediglich 1,01 Verfahren p.a. fallen in die Wetzlarer Zeit, was einem Rückgang von rund 65 % entspricht. Daß letztlich die räumliche Nähe zumindest nicht allein von ausschlaggebender Bedeutung gewesen sein kann, machen auch die Zahlen für BraunschweigWolfenbüttel sowie die der Herzogtümer Holstein und Lauenburg deutlich. Dort entfallen mehr als 80 % der Prozeßakten (Wolfenbüttel 80 % von 670 und Holstein-Lauenburg 83 % von 611) auf die Speyerer Zeit und lediglich rund 19 % bzw. 16 % auf die Wetzlarer Zeit, der Rückgang betrug dort also ca. 79 % bzw. jahresbezogen etwa 71 %, und das obwohl der Weg nach Wetzlar jeweils um ca. 130 km kürzer ist.

33

Inv. Nr. 18 im Bundesarchiv Koblenz mit 628 Prozessen; vgl. Anhang 4.

304

Bernd Schildt

Ein ganz anderes Bild bieten die Zahlen für die preuß. Prov. Westfalen. Auf die frühe Zeit entfallen davon lediglich 24 Fälle (0,75 p.a.), auf die Speyerer Zeit 3.812 (23,4 p.a.) und auf die Wetzlarer Zeit 2.556 (21,85 p.a.). Zwar liegt auch hier bei einem prozentualen Rückgang der absoluten Zahlen von etwa 33 % die Hochzeit der Frequentierung des Reichskammergerichts in der Speyerer Zeit. Gemessen an den Jahresdurchschnittswerten beträgt der Rückgang für Westfalen allerdings lediglich 7 %; von einem Trend zur rückläufigen Inanspruchnahme des Gerichts für die Wetzlarer Zeit kann damit kaum die Rede sein. Insoweit mag die größere Nähe zu Wetzlar (immerhin 170 km) durchaus von Bedeutung gewesen sein. Die Vergleichwerte für den großen Düsseldorfer Bestand bestätigen dagegen deutlich den allgemeinen Trend zu einer eher starken Abnahme der Inanspruchnahme des RKG in seiner Wetzlarer Periode. Für die dort verwahrten Prozesse aus der preuß. Rheinprov. beträgt der Frequentierungsrückgang bei den absoluten Zahlen rund 42 % und bei den Jahresdurchschnittswerten immerhin noch etwa 31 %. Bei den Zahlen für die Reichskammergerichtsprozesse reichsstädtischer Provenienz springt zunächst ins Auge, daß die Werte für die Inanspruchnahme des Gerichts aus Lübeck mit 79 % für die Speyerer und 19 % für die Wetzlarer Zeit sowie einer Rückgangsquote von rund 76 % bzw. jahresdurchschnittsbezogen ca. 66 % eher den gleichen Trend aufweisen wie die Württembergische, Braunschweig-Wolfenbüttelsche und Holstein-Lauenburgische Überlieferung. Interessant ist aber insbesondere ein Vergleich der beiden wohl bedeutendsten Reichsstädte Köln und Frankfurt. Während von den 1.862 Kölner Prozessen (Jahresquote fast 6) 180 oder 5,6 p.a. auf die erste Periode entfallen, ist auch hier die Speyerer Zeit mit 1.282 Verfahren oder fast 7,9 p.a. die Hochzeit des Prozeßaufkommens, das dann in der Wetzlarer Zeit deutlich auf 393 Fälle oder rund 3,4 p.a. abfällt. Die Quote des Rückganges von der Speyerer zur Wetzlarer Zeit des RKG beträgt für Köln 69 % bzw. jahresdurchschnittsbezogen 57 %. Gänzlich anders ist die Entwicklung in Frankfurt, wo die Ausganglage mit 5,3 Prozessen p.a. oder 1.664 in absoluten Zahlen annähernd vergleichbar ist. Hier entfallen in die erste Periode lediglich 46 Prozesse, was einem Jahresanteil von ca. 1,4 entspricht. Anschließend steigen in der Speyerer Zeit die Zahlen auf 5,1 pro Jahr (827) an. Für die gesamte Wetzlarer Zeit lassen sich dann immer noch 788 Prozesse belegen, was sogar einem leichten Anstieg der Jahresquote auf 6,7 entspricht. Während also bei den absoluten Zahlen noch ein leichter Rückgang der Wetzlarer gegenüber der Speyerer

Nähe und Ferne zum Reichskammergericht

305

Zeit von 5 % zu verzeichnen ist, kommt es bezogen auf den durchschnittliche Jahreswert sogar zu einer Zunahme der Inanspruchnahme des Reichskammergerichts um immerhin rund 33 %. Bei beiden Städten ist ein Zusammenhang zur räumlichen Nähe bzw. Ferne zum Sitz des Gerichts nicht erkennbar. Bei Frankfurt spielt das wegen der nur geringen Differenz von 35 km zwischen Wetzlar und Speyer ohnehin kaum eine Rolle; und durch Köln, wo der Weg nach Speyer immerhin um 110 km länger ist, wurde dennoch gerade in der Speyerer Zeit das Reichskammergericht besonders stark in Anspruch genommen. Die Reichskammergerichtsprozesse aus Hamburg ähneln in ihrer zeitlichen Streuung wieder stark dem Befund für Westfalen. Der Rückgang fällt bei der Gesamtzahl mit 28 % eher moderat aus und liegt bei den Jahresdurchschnittswerten sogar nahe Null. Für Bremen beträgt der Rückgang in absoluten Zahlen zwar noch 16 %, allerdings ergibt sich bezogen auf den Jahresdurchschnittswert sogar eine Zunahme um 16 %, also eine ähnliche Tendenz wie in Frankfurt. Ein Vergleich der Gesamtzahl der erstinstanzlichen Prozesse mit der aller Appellationsverfahren zeigt folgendes Bild: Territorium Prozesse 1. Instanz Appell. Preuß. Prov. Westfalen 6.417 1.842 4.567 Hzm. Braunschweig 670 321 346 Gft. Waldeck 166 102 64 LGft. Hessen-Homburg 102 71 31 Preuß. Kreis Wetzlar 833 532 301 Reichsstadt Wetzlar 193 111 82 Fsm. Schaumburg-Lippe, Gft. Schaumburg 241 115 126 Hzm. Holstein, Lauenburg 611 243 368 Hzm. Nassau 1.945 1.431 512 Reichsstadt Lübeck 775 184 591 RegBez. Düsseldorf der preuß. Rheinprov. 6.495 1.775 4.711 Kgr. der Niederlande 312 93 218 GHzm. Hessen-Darmstadt 4.562 3.467 1.095 Kgr. Württemberg 5.544 3.471 2.073 Parteien außerhalb des Deutschen Bun628 337 290 des, Prozesse zwischen Souveränen Reichsstadt Hamburg 1.386 262 1.124 Reichsstadt Bremen 463 72 391

306 Territorium Fsm. Lippe-Detmold Reichsstadt Köln Reichsstadt Frankfurt Fsm. Hohenzollern-Hechingen und Hohenzollern-Sigmaringen Fsm. Löwenstein-Wertheim Summe

Bernd Schildt

Prozesse 1. Instanz Appell. 827 363 464 1.862 376 1.481 1.664 485 1.176 338 20 36.054

274

64

19 1 15.946 20.076

In absoluten Zahlen ergibt sich ein Verhältnis von 15.813 zu 20.195, mithin ein Rückgang von ca. 22 % für die Wetzlarer gegenüber der Speyerer Zeit. Allerdings resultiert dieser erhebliche Unterschied in erster Linie aus der Überlieferung für die preuß. Prov. Westfalen, wo von den 6.417 Verfahren lediglich 1.842 erstinstanzlich sind, und für die preuß. Rheinprov. mit 1.775 erstinstanzlichen von 6.495 Verfahren. Auch sonst gibt es im einzelnen zum Teil erhebliche Unterschiede. Überwiegend erstinstanzliche Verfahren finden sich in den Beständen für Hessen-Nassau mit rund 74 % (1.431 zu 512), Hessen-Darmstadt mit ca. 74 % (3.365 zu 1.183) und Württemberg mit 63 % (3.471 zu 2.073) sowie in den kleineren norddeutschen Beständen für die Gft. Waldeck (61 %) und die LGft. Hessen-Homburg (70 %). Erhebliche Unterschiede weisen die Zahlen für die Reichsstädte auf. Einem allgemeinen Trend zu einem deutlichen Übergewicht der Appellationsverfahren – im Durchschnitt gibt es nur rund 31 % erstinstanzliche Verfahren – stehen erhebliche Abweichungen für einzelne Reichsstädte gegenüber. So wurde das Reichskammergericht beispielsweise aus Wetzlar, aus allerdings naheliegenden Gründen,34 zu 57 %, aus Schwäbisch Hall zu 56 %, aus Worms zu 60 % und aus Augsburg sogar zu 72 % erstinstanzlich in Anspruch genommen. Der hohe Anteil an Appellationsverfahren für die Reichsstädte insgesamt ergibt sich aus den Werten für die großen Städte (Hamburg 81 %, Bremen 84 %, Lübeck 76 %, Köln 80 % und Frankfurt 70 %). Der Frequentierungsvergleich der drei Epochen des Reichskammergerichts zeigt zunächst, daß die Zahlen für die Zeit von 1495-1526 wenig aussagekräftig sind. Ein Vergleich der Zahlen für die Speyerer und die Wetzlarer Zeit belegt ein überwiegend gleichbleibendes Verhältnis zwischen erstin-

34

Das resultiert aus dem privilegierten Gerichtsstand der Kameralen, für die das Reichskammergericht erstinstanzlich zuständig war.

Nähe und Ferne zum Reichskammergericht

307

stanzlichen und Appellationsverfahren. Das gilt sowohl für die Gesamtüberlieferung aller Inventare als auch für die einzelnen Bestände.35 Zusammenfassend wird man wohl sagen müssen, daß eine Analyse an Hand der unterschiedlichen räumlichen Nähe und Ferne potentieller Kläger resp. der Vorinstanzen zum Reichskammergericht in ihrer Gänze keine schlüssig begründbaren Aussagen hinsichtlich der Frequentierung des Gerichts zuläßt. Hierzu bedarf es intensiver weiterer komplexer Einzeluntersuchungen, die für einzelne Territorien unter umfassender Berücksichtigung der jeweiligen Rahmenbedingungen tiefere Einsichten gestatten werden.

III. Weitere punktuelle Überlegungen unter den Gesichtspunkten des 1. Sozialstatus der Parteien, 2. des Verfahrensgegenstandes und des 3. Landfriedensschutzes (hier im Vergleich der einzelnen Bestände zueinander) können nur im statistischen Überblick angedeutet werden. Die Zahlen basieren auf dem Stand der Erfassung von insgesamt 36.054 Prozessen aus 22 Beständen.36 Im folgenden werden bei den einzelnen Zeitabschnitten aber nur die eindeutig datierten Fälle berücksichtigt; weshalb die Anzahl der Akteneingänge für die Gesamtzeit teilweise höher ausfällt als die Summe für die drei separat ausgewerteten Zeitabschnitte. 1. Sozialstatus Die Zuordnung der einzelnen Prozeßparteien zu einer der Kategorien „Sozialstatus“ erweist sich in vielen Fällen als äußerst schwierig. Das betrifft insbesondere die Abgrenzung von „Höhere Beamte/Oberschicht“ und „Beamte/Mittelschicht“ einerseits und die Unterscheidung von „Niedere Beamte/untere Mittelschicht“ und „Beamte/Mittelschicht“ andererseits. Da in zahlreichen Prozessen Parteien mit unterschiedlichem Sozialstatus beteiligt waren, liegt die Gesamtzahl aller „Sozialstatuskategorien“ deutlich über der Anzahl der zu Grunde gelegten 36.054 Prozesse.

35

36

Beispielhaft hierzu die statistischen Erhebungen für die Reichsstädte bei BERND SCHILDT, Reichsstädte vor dem Reichskammergericht, in: Akten des 36. Deutschen Rechtshistorikertages, hg. von ROLF LIEBERWIRTH / HEINER LÜCK, S. 578-606, 594 ff. Vgl. oben die Übersicht auf S. 301f.

308

Bernd Schildt

1495-1806 1495-1526 (36.054 Prozesse) (1.285 Prozesse) Sozialstatus 37 38 Anzahl p.a. % Anzahl p.a.37 %38 Adel 19.802 63,47 54,92 478 14,93 37,20 Bauern/Landbevölkerung 444 1,42 1,23 6 0,19 0,47 Beamte/Mittelschicht 7.497 24,03 20,79 150 4,69 11,67 Bürger einer Landstadt 811 2,60 2,25 51 1,59 3,97 Bürger einer Reichsstadt 2.333 7,48 6,47 218 6,81 16,96 Entfällt 13.987 44,83 38,79 333 10,41 25,91 Höhere Beamte/Oberschicht 1.977 6,34 5,48 35 1,09 2,72 Juden 1.111 3,56 3,08 14 0,44 1,09 Keine Angabe/unklar 16.914 54,21 46,91 795 24,84 61,87 Klerus 3.907 12,52 10,84 65 2,03 5,06 Niedere Beamte/untere Mit2.023 6,48 5,61 88 2,75 6,85 telschicht Unterschicht 41 0,13 0,11 4 0,13 0,31

1527-1689 1690-1806 (22.092 Prozesse) (11.653 Prozesse) Anzahl p.a.37 %38 Anzahl p.a.37 %38 Adel 12.780 78,40 57,85 5.927 50,66 50,86 Bauern/Landbevölkerung 167 1,02 0,76 243 2,08 2,09 Beamte/Mittelschicht 4.306 24,42 19,49 2.921 24,97 25,07 Bürger einer Landstadt 697 4,28 3,15 50 0,43 0,43 Bürger einer Reichsstadt 1.717 10,53 7,77 387 3,31 3,32 Entfällt 7.866 48,26 35,61 5.336 45,61 45,79 Höhere Beamte/Oberschicht 1.197 7,34 5,42 721 6,16 6,19 Juden 501 3,07 2,27 585 5 5,02 Keine Angabe/unklar 10.630 65,21 48,17 5.086 43,47 43,65 Klerus 2.721 16,69 12,32 1.038 8,87 8,91 Niedere Beamte/untere Mit1.160 7,12 5,25 761 6,50 6,53 telschicht Unterschicht 24 0,15 0,11 13 0,11 0,11 Sozialstatus

37 38

Durchschnittliches Prozeßaufkommen pro Jahr. Bezogen auf das Prozeßaufkommen dieses Zeitraums.

Nähe und Ferne zum Reichskammergericht

309

Bei der Analyse der Rechercheergebnisse nach dem Sozialstatus der Parteien fällt sofort auf, daß sich zum einen diese Frage sehr häufig gar nicht stellt und insoweit „entfällt“, und zwar nicht nur bei den institutionellen Parteien sondern auch mit Blick auf eine Vielzahl von Personenmehrheiten, wie etwa Erbengemeinschaften, „Konsorten“, „alle Einwohner“ u. ä. Auch der Wert für die Parteien, zu deren Sozialstatus sich aus den Verzeichnungen keine schlüssigen Hinweise ergeben („KA“), ist beträchtlich. Augenfällig ist aber vor allem die überragende Bedeutung des Reichskammergerichts für Adlige. In mehr als der Hälfte aller Verfahren war wenigstens eine Partei von Adel. Dieser Befund gewinnt noch an Gewicht, wenn man den (momentan) relativ hohen Anteil von Prozessen reichsstädtischer Provenienz an der Datenbasis in Rechnung stellt. Etwas überraschend ist dagegen der Umstand, daß drei Mal mehr Parteien aus dem Spektrum Beamte/Mittelschicht als aus dem Bereich Höhere Beamte/Oberschicht entstammen. Von der Zahl her nicht spektakulär, aber in der historischen Tendenz auffällig ist der stetige Anstieg der Zahl jüdischer Prozeßparteien, sowohl prozentual als auch in den absoluten Zahlen. Selbstverständlich kann man all diese Zahlen auch raumbezogen auf einzelne Bestände oder Beständegruppen (z. B. Reichsstädte) oder/und auf andere Zeitabschnitte (z. B. Fünfzig- oder Zehnjahresschritte, die nachreformatorische Zeit bis zum Augsburger Religionsfrieden oder den Dreißigjährigen Krieg) herunterbrechen, wobei aber in Rechnung gestellt werden sollte, daß gerade in diesem Bereich mit der Abnahme der absoluten Zahlenwerte auch der Aussagewert deutlich geringer einzuschätzen ist. 2. Verfahrensgegenstand Inwieweit die Änderung der inhaltlichen Gewichte in der Tätigkeit des Gerichts für dessen Inanspruchnahme bedeutsam gewesen ist, wird im folgenden an Hand der wichtigsten Verfahrensgegenstände, wie sie den Sachverhaltsangaben der Inventare zu entnehmen sind, überprüft. Von den insgesamt 19 nach rechtshistorischen Kriterien gebildeten Verfahrensgegenständen wurden dazu paradigmatisch elf besonders relevante ausgewählt. Abfragetechnisch werden diese in vier Obergruppen – den Verfahrensgegenstandsbereichen – zusammengefasst: erstens Privatrecht; mit den acht Verfahrensgegenständen: Sachenrecht, Schuldrecht, Ehe/Familie, Erbrecht, Einwendungen/Einreden, Personenrecht, Konkursrecht, Stiftungsrecht; zweitens Gerichtsverfassung/Prozeß; mit den drei Verfahrensgegenständen: Recht/Gericht, Verfahren, Vergleich; drittens Obrigkeit/Staat; mit den vier Verfahrensgegenständen: Feudalrecht, Verfassung/Verwaltung, Po-

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licey, Steuern/Abgaben; viertens Kriminalität; mit den vier Verfahrensgegenständen: Landfriedensschutz, Strafrecht , Strafrechtliche Bezüge, Iniurien.39 Verfahrensgegenstände40 Verfahrensgegenstand Ehe/Familie Erbrecht Feudalrecht Landfriedensschutz Policey Recht/Gericht Sachenrecht Schuldrecht Steuern und Abgaben Verfahren Verfassung/Verwaltung

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40

41 42

1495-1806 1495-1526 (36.054 Prozesse) (1.285 Prozesse) Anzahl p.a.41 %42 Anzahl p.a.41 %42 2.810 9,01 7,79 88 2,75 6,85 6.322 20,26 17,53 273 8,53 21,25 8.441 27,05 23,41 179 5,59 13,93 2.710 8,69 7,52 106 3,31 8,25 948 3,04 2,63 24 0,75 1,87 7.351 23,56 20,39 307 9,59 23,89 9.212 29,53 25,55 271 8,47 21,09 14.447 46,30 40,07 517 16,16 40,23 1.992 6,38 5,53 41 1,28 3,19 16.198 51,92 44,93 694 21,69 54,01 3.489 11,18 9,68 69 2,16 5,37

Davon zu unterscheiden ist die Zuordnung der Prozeßinhalte zu Lebensbereichen, die von den genannten „Verfahrensgegenständen“ berührt sind. Von den nachfolgend aufgeführten 40 Lebensbereichen sind einerseits häufig mehrere betroffen, andererseits ist in einer beträchtlichen Zahl von Fällen eine Zuordnung auf der Grundlage der Sachverhaltsangaben in den Inventaren nicht möglich: Archivwesen, Armenwesen, Bauangelegenheiten, Bauerngüter/Rittergüter u.ä., Bergbau, Deutschritterorden, Dominikanerorden, Fabriken/Manufakturen, Familienangelegenheiten, Forstwesen, Geldwesen, Gemeindeangelegenheiten, Genealogie, Gesundheitswesen, Handel und Gewerbe, Handwerk, Jahrmärkte, Johanniterorden, Juden, Kaiser/Reichsangelegenheiten, Kirchenangelegenheiten, Klöster und Stifte, Kreisangelegenheiten, Kriminalität, Kurfürsten, Liegenschaftswesen, Markangelegenheiten, Militärwesen, Mühlensachen, Rechnungswesen, Religionsangelegenheiten/Reformation, Schifffahrtswesen, Schulwesen, Staat/Verwaltung/Justiz, Stiftungswesen, Unklar, Vermögensangelegenheiten, Wappen/Siegel, Zunftwesen. Auch diese Zahlen basieren auf dem Stand der Erfassung von insgesamt 36.054 Prozessen aus 22 Inventaren. Es werden bei den einzelnen Zeitabschnitten aber nur die eindeutig datierten Fälle berücksichtigt; weshalb die Anzahl der Akteneingänge für die Gesamtzeit teilweise höher ausfällt als die Summe für die drei separat ausgewerteten Zeitabschnitte. Da in den Prozessen mehrere Verfahrensgegenstände betroffen waren, liegt die Gesamtzahl aller „Verfahrensgegenstände“ deutlich über der Anzahl der zu Grunde gelegten 36.054 Prozesse. Durchschnittliches Prozeßaufkommen pro Jahr. Bezogen auf das Prozeßaufkommen dieses Zeitraums.

Nähe und Ferne zum Reichskammergericht

311

Verfahrensgegenstände Verfahrensgegenstand Ehe/Familie Erbrecht Feudalrecht Landfriedensschutz Policey Recht/Gericht Sachenrecht Schuldrecht Steuern und Abgaben Verfahren Verfassung/Verwaltung

1527-1689 1690-1806 (22.092 Prozesse) (11.653 Prozesse) Anzahl p.a.43 %44 Anzahl p.a. 43 %44 1.737 10,66 7,86 914 7,81 7,84 3.807 23,36 17,23 2.112 18,05 18,12 5.038 30,91 22,80 2.991 25,56 25,67 2.213 13,58 10,02 275 2,35 2,36 562 3,26 2,54 344 2,94 2,95 5.032 30,87 22,78 1.873 16,01 16,07 5.588 34,28 25,29 3.128 26,74 26,84 8.163 50,08 36,95 5.440 46,50 46,68 1.239 7,60 5,61 658 5,62 5,65 10.080 61,84 45,63 5.079 43,41 43,59 2.252 13,82 10,19 1.078 9,21 9,25

Ein Blick auf die Gesamtzeit der Rechtsprechungstätigkeit des Reichskammergerichts offenbart mit großer Deutlichkeit die überragende Bedeutung von verfahrensrechtlichen und schuldrechtlichen Prozeßinhalten. Die demgegenüber sehr geringe Bedeutung des Policeyrechts (948 Verfahren), das der Höchsten Reichsgerichtsbarkeit schon vom Gegenstand her weithin entzogen war, kann ebenso wenig überraschen wie die vergleichsweise hohe Zahl von 8.441 Prozessen, bei denen feudalrechtliche Fragen eine Rolle gespielt haben, und die 7.351 Prozesse zur Problematik Recht und Gericht sowie die 9.212 sachenrechtlichen Fälle. Nicht unbedingt zu vermuten war hingegen die doch eher geringe Anzahl verfassungsrechtlicher Streitigkeiten (3.489). Vergleicht man die Zahlen für die einzelnen Perioden miteinander, wobei die Angaben für die Frühzeit des Gerichts statistisch nur bedingt verwertbar sind, so ergibt sich ein insgesamt recht gleichförmiges Bild. Bei den wenigen gravierenden Veränderungen muß an erster Stelle der doch recht deutliche Rückgang der Landfriedensschutzklagen erwähnt werden. Der kontinuierliche Anstieg feudalrechtlicher Klagen erklärt sich vornehmlich aus dem dauernden Konfliktpotential bei Gerechtigkeiten sowie im Bereich

43 44

Durchschnittliches Prozeßaufkommen pro Jahr. Bezogen auf das Prozeßaufkommen dieses Zeitraums.

312

Bernd Schildt

des Lehnswesens und der Grundherrschaft. Etwas unerwartet ist der tendenzielle Rückgang der Befassung des Gerichts mit verfahrensrechtlichen Problemen, hier hätte man – wie beim Schuld- und Sachenrecht – eher mit einer deutlichen Zunahme gerechnet. 3. Landfriedensschutz Bei der Erfassung der Landfriedensschutzprozesse erfolgt eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem repressiven Landfriedensschutz – dem, wenn man so will eigentlichen Landfriedensbruch – und dem präventiven Landfriedensschutz in seinen verschiedenen Ausprägungen: Besitzstörung, Beweisaufnahme zum ewigen Gedächtnis, Diffamation, Kummer/Arrest, Pfändungskonstitution.45 Das ermöglicht differenzierte Abfragen sowohl nach allen Landfriedensschutzklagen als auch solche nach dem Landfriedensbruch (im engeren Sinn) und den verschiedenen präventiven Landfriedensschutzbestimmungen. Nachfolgend erfolgt nur eine übergreifende Analyse für die Landfriedensschutzklagen insgesamt; erfaßt wird also die Gesamtheit sowohl der repressiven als auch der präventiven Landfriedensschutzprozesse. Aufgeschlüsselt auf die einzelnen Bestände ergibt sich dabei ein deutlich differenziertes Bild. Die Zahlen basieren wieder auf dem Stand der Erfassung von insgesamt 36.054 Prozessen aus 22 Inventaren. Die eindeutige Hochzeit reichskammergerichtlicher Verfahren zum Landfriedensschutz liegt mit einem Anteil am Gesamtaufkommen von rund 85 % bzw. auf den Jahresschnitt berechnet etwa 61 % in der Speyerer Zeit des Gerichts. Allerdings ist hier bei einer zeitlich stärker differenzierten Analyse insbesondere mit Blick auf Reformation und Gegenreformation sowie den Dreißigjährigen Krieg mit deutlichen Abweichungen zu rechnen.

45

Zur Entstehungsgeschichte der Landfriedensgesetzgebung des Reiches im 16. Jh. und deren Bedeutung für die Judikatur des Reichskammergerichts ausführlich: MIRIAM KATHARINA DAHM, Die Pfändungskonstitution gemäß RKGO 1555, Teil 2, Tit. XXII und ihr Verhältnis zum Landfrieden, (BFR 4), 2008, S. 71-189.

Nähe und Ferne zum Reichskammergericht

313

Landfriedensschutz nach Beständen46 1495-1806 / 2.710 Fälle 1495-1526 / 106 Fälle Akten Zahl p.a48 %49 Akten Zahl p.a.48 %49 Bremen 463 5 0,02 1,08 0 0 –– –– Bückeburg 241 4 0,01 1,66 0 0 –– –– Darmstadt 4.562 672 2,15 14,73 161 25 0,78 15,53 Detmold 827 19 0,06 2,30 1 0 –– –– Düsseldorf 6.495 186 0,59 2,86 127 11 0,34 8,66 Frankfurt a. M. 1.664 2 0,01 0,12 46 0 –– –– Hamburg 1.386 10 0,03 0,72 9 0 –– –– Koblenz 628 96 0,31 15,29 42 5 0,15 11,90 Köln 1.862 14 0,04 0,75 180 4 0,12 2,22 Lübeck 775 23 0,07 2,97 15 0 –– –– Maastricht/NL 312 13 0,04 4,17 22 0 –– –– Marburg50 166 30 0,10 18,07 2 0 –– –– Münster 6.417 201 0,64 3,13 24 0 –– –– Schleswig 611 79 0,25 12,95 8 6 0,18 75,00 Sigmaringen 338 73 0,23 21,60 0 0 –– –– Stuttgart 5.544 968 3,10 17,46 540 43 1,34 7,96 Wertheim 20 9 0,03 45,00 2 1 0,03 50,00 Wetzlar 193 1 0,00 0,52 2 1 0,03 50,00 Wiesbaden51 102 22 0,07 21,87 1 0 –– –– Wiesbaden52 833 20 0,06 2,40 6 1 0,03 16,66 Wiesbaden53 1.945 219 0,70 11,26 58 8 0,24 13,79 Wolfenbüttel 670 43 0,14 6,42 2 1 0,03 50,00 Summe 36.054 2.709 8,68 7,51 1.055 87 2,56 8,22 Archive47

46

47 48 49 50 51 52 53

Bei den einzelnen Zeitabschnitten werden erneut nur die eindeutig datierten Fälle berücksichtigt; weshalb die Anzahl der Akteneingänge für die Gesamtzeit bei einer Reihe von Beständen höher ausfällt als die Summe für die drei separat ausgewerteten Zeitabschnitte. Zum Zuständigkeitsbereich der einzelnen Archive vgl. Anl. 5. Durchschnittliches Prozeßaufkommen zum „Landfriedensschutz“ pro Jahr. „Landfriedensschutzsachen“ bezogen auf das Prozeßaufkommen dieses Zeitraums. Gft. Waldeck. LGft. Hessen-Homburg. Preuß. Kreis Wetzlar. Hzm. Nassau ohne das Amt Reichelsheim in der Wetterau.

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Bernd Schildt

Landfriedensschutz nach Beständen46 Archive54 Bremen Bückeburg Darmstadt Detmold Düsseldorf Frankfurt a. M. Hamburg Koblenz Köln Lübeck Maastricht/NL Marburg57 Münster Schleswig Sigmaringen Stuttgart Wertheim Wetzlar Wiesbaden58 Wiesbaden59 Wiesbaden60 Wolfenbüttel Summe

54 55 56 57 58 59 60

1527-1689 / 2.213 Fälle Akten Zahl p.a.55 %56 252 5 0,03 1,98 143 3 0,02 2,09 2.316 433 2,66 18,71 241 9 0,55 3,7 4.228 143 0,88 3,38 827 1 0,01 0,12 799 10 0,06 1,25 467 91 0,56 19,49 1.282 8 0,05 0,62 612 23 0,14 3,76 214 12 0,07 5,61 79 22 0,13 27,85 3.812 184 1,13 4,83 507 73 0,45 14,40 284 70 0,43 24,65 4.343 807 4,95 18,58 15 7 0,04 46,66 28 0 –– –– 46 17 0,10 36,96 104 10 0,06 9,62 959 164 1,01 17,10 536 41 0,25 7,65 18.816 1.66 7,14 8,81

1690-1806 / 275 Fälle Akten Zahl p.a.55 %56 210 0 –– –– 95 1 0,01 1,05 1.479 109 0,93 7,37 463 4 0,03 0,86 1.873 16 0,14 0,85 788 0 –– –– 578 0 –– –– 118 0 –– –– 393 0 –– –– 148 0 –– –– 75 1 0,01 1,33 85 2 0,02 2,35 2.556 11 0,09 0,43 95 0 –– –– 47 1 0,01 2,13 661 61 0,52 9,23 3 1 0,01 33,33 161 0 –– –– 54 5 0,04 9,26 720 1 0,01 0,14 924 47 0,40 5,09 126 0 –– –– 10.26 208 1,78 2,00

Zum Zuständigkeitsbereich der einzelnen Archive vgl. Anl. 5. Durchschnittliches Prozeßaufkommen zum „Landfriedensschutz“ pro Jahr. „Landfriedensschutzsachen“ bezogen auf das Prozeßaufkommen dieses Zeitraums. Gft. Waldeck. LGft. Hessen-Homburg. Preuß. Kreis Wetzlar. Hzm. Nassau ohne das Amt Reichelsheim in der Wetterau.

Nähe und Ferne zum Reichskammergericht

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Vergleicht man die einzelnen Bestände miteinander, so sind z. T. ganz erhebliche Unterschiede nicht zu übersehen. So betreffen in diesem Zeitraum die Prozesse aus Württemberg, Hessen-Nassau und Hessen-Darmstadt zu jeweils beinahe 20 % Landfriedenssachen. Bei den kleineren Beständen aus Hessen-Homburg und Waldeck sind es sogar 37 % bzw. 27 % und aus Holstein und Lauenburg immerhin noch 14 %. Demgegenüber spielte in den reichsstädtischen Prozessen – erwartungsgemäß – dieses Problem fast keine Rolle. Aber auch aus Westfalen und der (späteren) preuß. Rheinprov. sowie aus Lippe-Detmold kamen nur gelegentlich Klagen wegen Landfriedenssachen an das Reichskammergericht. Offenbar hing das Aufkommen von Landfriedensprozessen besonders im Südwesten des Reiches in nicht unbedeutendem Maße mit der dort sehr stark ausgeprägten territorialstaatlichen Zersplitterung und dem Streben einer Vielzahl kleinerer Herrschaftsträger nach Etablierung einer eigenen Landeshoheit zusammen. Hinzu kommt noch – anders als in Westfalen und in der Rheinprovinz – die fehlende Nachbarschaft übermächtiger Territorialfürsten. Ob darüber hinaus auch die größere räumliche Nähe zu einer jurisdiktionellen Alternative in Gestalt des Reichshofrats eine Rolle gespielt hat, läßt sich momentan nicht sagen; hier dürfen wir wieder auf die Verzeichnungsarbeiten in Wien hoffen.

V. Versucht man ein Fazit zu ziehen, dann wird eines klar: Die höchst unterschiedliche Inanspruchnahme des Gerichts in Zeit und Raum läßt sich keineswegs monokausal erklären. Die räumliche Entfernung zum jeweiligen Sitz des Reichskammergerichts hatte offenbar ganz unterschiedliche Auswirkungen. Bezogen auf einzelne Territorien werden immerhin gewisse Tendenzen erkennbar. Gleichwohl müssen aber bei genaueren und vertieften Analysen alle Gesichtspunkte, die zu Nähe oder Ferne des Reichskammergerichts geführt haben, berücksichtigt werden. Für künftige Forschungen wird es deshalb vor allem darum gehen, Nähe oder Ferne einzelner Territorien zum Reichskammergericht nicht nur nach räumlichen Gesichtspunkten zu beurteilen, sondern vor allem auch konfessionelle Fragen und personale Beziehungen zu berücksichtigen sowie insbesondere eine mögliche Konkurrenz zum Reichshofrat in Rechnung zu stellen. Allerdings fehlen gerade für letztere Überlegung weitgehend die statistischen Ausgangsdaten. Hier verspricht das von Wolfgang Sellert geleitete

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Bernd Schildt

Projekt zur Verzeichnung der Reichshofratsakten mittelfristig eine Verbesserung der Forschungssituation. Hinsichtlich der Problematik des konfessionellen Einflusses auf die Frequentierung des Reichskammergerichts dürfte mit dem weiteren Fortschritt der Datenbankerfassung bereits inventarisierter Reichskammergerichtsprozesse in deutlich kürzeren Zeitabständen eine bessere statistische Grundlage zur Verfügung stehen, die vor allem auch den gezielten Zugriff auf einschlägige Prozesse erleichtern wird.

Jürgen Weitzel

Minderungen der räumlichen Präsenz des Reichskammergerichts Exemtionen, Appellationsprivilegien und vergleichbare Erscheinungen

I. Sollen Minderungen benannt werden, so setzt das „an sich“ und „im Prinzip“ die eindeutige Festlegung eines Anfangsbestandes voraus. Für unser Vorhaben werden wir uns jedoch mit einer relativen Ausgangsposition begnügen müssen, denn: in welchem Sinne das Reichskammergericht anfänglich für das „gesamte Reich“ zuständig sein sollte, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Zwar erklärten die Kurfürsten und Fürsten anlässlich des Mainzer Reichstages 1503, sie hätten sich dem 1495 gegründeten Reichsgericht mit Begebung Unser Churfürstenthumb und ander Freyheit unterworfen, auch von ihrem an sich entgegenstehenden „Herkommen“ ist die Rede, doch enthält die Reichskammergerichtsordnung von 1495 eine salvatorische Klausel, die da lautet: Item mit disen Ordnungen und Satzungen sol sunst niemand sein Oberkait, Privilegia, Freyhait benomen und abgeschnitten, sonder vorbehalten sein […]“1. Der größte Unsicherheitsfaktor ist die Fortgeltung der

den Kurfürsten in der Goldenen Bulle von 1356 erteilten so genannten Evokations- und Appellationsprivilegien. Hingegen stellte das Reichskammergericht die Exemtion Österreichs und der habsburgischen Erblande ebenso wenig grundsätzlich in Frage wie die Fortgeltung der Appellationsprivilegien, die einige wenige Reichsstände etwa seit 14642 erlangt hatten.

1

2

KARL ZEUMER, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, Berlin 21913, II S. 291; WOLFGANG SELLERT, Über die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht, insbesondere in Strafsachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Unters.Z.dt. Staats.u.R.Gesch. NF 4), Aalen 1965, S. 37. JÜRGEN WEITZEL, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht, (QFHG 4), Köln 1976, S. 125; ULRICH EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia de non appellando, (QFHG 7), Köln 1980, S. 127.

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Jürgen Weitzel

Die unterschiedliche Einschätzung der aus der Goldenen Bulle herrührenden Einschränkungen der Reichsjustiz blieb bekanntlich bis ins 18. Jahrhundert hinein virulent3. Auch die rechtliche Bedeutung des von etlichen Reichsständen gegen den Instanzenzug an das neue Reichsgericht ins Feld geführten unvordenklich gegenteiligen Herkommens musste erst geklärt werden. Doch bewältigte das Reichskammergericht diese Fälle im Laufe des 16. Jahrhunderts durch seine Rechtsprechung. Diese Grundlinien können aufgrund der Arbeiten von Rudolf Smend4, Wolfgang Sellert5, Ulrich Eisenhardt6 und Jürgen Weitzel7 seit etwa dreißig Jahren als gesichert gelten. Nachfolgend sollen zuerst die die Zuständigkeit des Reichskammergerichts am stärksten beschneidenden Exemtionen, sodann die Appellationsprivilegien und jeweils auch andere Formen der Beschränkung der Zuständigkeit erörtert werden. Zur Erinnerung: „Die Exemtion […] bedeutete schlechthin die Befreiung eines Landes von allen Verpflichtungen, die das Reich und der Kaiser auferlegen konnten. Im Besonderen befreite sie den Berechtigten und dessen Gebiet von jeder fremden Gerichtsgewalt und in der Regel auch von der Zahlung der ‚Reichsanschläge’“. In Bezug auf Österreich führt eine Urkunde Kaiser Karls V. 1530 aus: Der Ertz-Herzog ist umb kein Sach schuldig, vor dem Reich oder des Reichs Cammer-, Hof- oder andern Gerichten, wie die Nahmen haben, zu Recht zu stehen […].8 Appellationsprivilegien standen hin-

gegen weder einer erstinstanzlichen Klage vor den Reichsgerichten noch der Beschwerde wegen verweigerter oder verzögerter Justizgewährung (querela protractae vel denegatae iustitiae) noch einer Klage oder Beschwerde wegen (unheilbarer) Nichtigkeit eines Urteils (Nullitätsquerel) entgegen. Da den mittelbaren Reichsuntertanen der erstinstanzliche Zugang zum Reichskammergericht in aller Regel verwehrt war, minderte eine Appellationsbefreiung, insbesondere ein privilegium illimitatum, die räumliche Präsenz des Reichs-

3

4 5 6 7 8

ULRICH EISENHARDT, Die Rechtswirkungen der in der Goldenen Bulle genannten privilegia de non evocando et appellando, in: ZRG GA 86 (1969), S. 75 ff. RUDOLF SMEND, Das Reichskammergericht, Weimar 1911. Wie Anm. 1. Wie Anm. 2. Wie Anm. 3. SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung (Anm. 1), S. 22 f.; ferner EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia (Anm. 2), S. 9 f.; WEITZEL, Der Kampf um die Appellation (Anm. 2), S. 43 ff.

Minderungen der räumlichen Präsenz des Reichskammergerichts

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kammergerichts in dem privilegierten Reichsstand in einem für unsere Fragestellung relevanten Maße. Präsenzmindernd – und dies nicht nur in einem räumlichen Sinne – war auch das im Jahre 1530 vom Augsburger Reichstag beschlossene Verbot der Appellation an die Reichsgerichte in Kriminalsachen. Es machte den – möglicherweise nur geringen – Hoffnungen auf eine gegenteilige Entwicklung in dem durch Rezeption und Reichsreform eröffneten Prozess der Umgestaltung ein Ende9.

II. Unter den eximierten Gebieten waren Österreich und die habsburgischen Erblande die bedeutendste Gruppe. Ihre Sonderstellung ging zurück bis auf das „Privilegium Minus“ aus dem Jahre 1156. Gleichwohl kam es seit 1508 zu einer ganzen Serie von Auseinandersetzungen zwischen dem Reichskammergericht einerseits, dem Kaiser, König oder Erzherzog andererseits um die Zuständigkeit insbesondere in Appellationssachen. 1523 intervenierte Ferdinand, 1530 Karl V. selbst beim RKG. Im Kern geht es darum, dass die Habsburger dazu neigten, ihre Privilegierung wo immer möglich auf Neuerwerbungen, auf Reichsland, das sie besetzt oder als Pfand hielten, zu erstrecken10. Streitbefangen waren Appellationen gegen Urteile des Landgerichts Schwaben bis gegen Ende des Reiches und solche aus dem 1519– 1534 österreichisch besetzten Württemberg. Genannt werden auch die Landvogteien Schwaben, Hagenau und Ortenau, das Kloster Reichenau sowie die Städte Biberach, Breisach, Waldshut, Säckingen, Laufenburg und Rheinfelden. Das alles fügt sich bestens zu den wiederholten Versuchen der Habsburger, im deutschen Südwesten ein möglichst geschlossenes Territorium zu begründen. Hingegen überrascht, dass hin und wieder auch Appellationen aus der Grafschaft Tirol ans Reichskammergericht gelangten. Die

9

10

CHRISTIAN SZIDZEK, Das frühneuzeitliche Verbot der Appellation in Strafsachen. Zum Einfluß von Rezeption und Politik auf die Zuständigkeit insbesondere des Reichskammergerichts, Köln 2002. Vgl. neuestens LUDOLF PELIZAEUS, Des Kaisers, aber nicht der Kaiserlichen Kammergericht. Zuständigkeitskonflikte in den Vorlanden in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Gerichtslandschaft Altes Reich, hg. von ANJA AMEND / ANETTE BAUMAN / STEPHAN WENDEHORST / SIEGRID WESTPHAL, (QFHG 52), Köln 2007, S. 109–126; WEITZEL, Der Kampf um die Appellation (Anm. 2), S. 59–87; SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung (Anm. 1), S. 22–30.

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Jürgen Weitzel

Zugehörigkeit der Bistümer Brixen und Trient zum Reich wurde von den Habsburgern nicht ernsthaft in Frage gestellt11. Böhmen unterlag nicht der Gerichtsbarkeit des deutschen Königs oder Reiches. Seit dem Jahre 1212 zieht sich eine Kette einschlägiger Privilegien und Verträge bis in die Zeit der Herrschaft der Habsburger in Böhmen12. Die Niederlande samt dem Herzogtum Luxemburg und die Freigrafschaft Burgund bildeten seit 1512 den Burgundischen Reichskreis13. Sie wurden aufgrund des zwischen Karl V. und den Reichsständen 1548 geschlossenen Burgundischen Vertrages exemt. Streitigkeiten über nach wie vor zu leistende Reichsbeiträge blieben vorbehalten. Nicht zum so entstandenen Burgundischen Reichskreis gehörte das Bistum Lüttich. Das Herzogtum Lothringen14 distanzierte sich vom neuen Reichsgericht bereits bei dessen Gründung 1495/96. Ab 1542 war es kraft des mit Ferdinand I. geschlossenen Nürnberger Vertrages von der Reichsgerichtsbarkeit ausgenommen. Auch hier ging es um die Sicherung von Reichsbeiträgen, deren gerichtliche Klärung ebenso wie die Fälle von Landfriedensbruch vorbehalten blieben. Zudem standen die Herzöge jedenfalls im 16. Jahrhundert „in ihrer Eigenschaft als Träger von Reichslehen“ vor dem Reichskammergericht zu Gericht. Gesondert zu betrachten ist das Schicksal der Bistümer und der Reichsstädte Metz, Toul und Verdun. Sie waren seit dem Passauer Vertrag von 1552 französisch besetzt und wurden zunehmend in die Administration der französischen Monarchie einbezogen, schieden aber definitiv erst 1648 aus dem Reichsverband aus. Diesen Gebieten wurden bis zum Jahre 1594 immer noch kaiserliche Appellationsprivilegien erteilt. Der Stadt Metz 1549 ein solches bis zu 1.000 Gulden, dem Bistum Metz 1563 eines bis zu 300 Gulden, dem Bistum Verdun 1567/70 eines bis zu 500 Gulden und dem Bistum Toul 1594 eines bis zu 450 Gulden. Möglicherweise wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aus diesen Gebieten öfter an das Reich appelliert als jemals zuvor.

11 12 13

14

SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung (Anm. 1), S. 28. SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung (Anm. 1), S. 29 f. SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung (Anm. 1), S. 29; PAUL L. NÈVE, Het Rijkskammergerecht en de Nederlanden. Competentie – Territoir – Archieven, Assen 1972, S. 119–127, 523–527; FILIPPO RANIERI, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption, (QFHG 17), Köln 1985, S. 182–186. SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung (Anm. 1), S. 42–44; RANIERI, Recht und Gesellschaft (Anm. 13), S. 186 Fn. 95; RUDOLF HOKE, Art. Lothringen HRG III 11978, Sp. 62–73.

Minderungen der räumlichen Präsenz des Reichskammergerichts

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Was die Zuständigkeit des Reichskammergerichts für die italienischen Gebiete des Reiches angeht, hat Wolfgang Sellert herausgearbeitet, dass jedenfalls in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts sowohl erstinstanzlich als auch im Wege der Appellation aus den italienischen Lehensgebieten Klagen am Reichskammergericht erhoben wurden15. Offenbar gewann der Reichshofrat nur allmählich seine spätere ausschließliche Zuständigkeit in italienischen Angelegenheiten. Zudem stand das Herzogtum Savoyen grundsätzlich außerhalb dieser Zusammenhänge. Allerdings kann angesichts des dem Grafen von Savoyen schon 1356 für dessen Herrschaftsbereich übertragenen Reichsvikariats, das in der Neuzeit zum ständigen Reichsvikariat des Herzogs in Reichsitalien ausgebaut werden konnte, eine regelmäßige Inanspruchnahme des Reichskammergerichts aus diesem Reichsfürstentum nicht erwartet werden. Die beiden von Sellert geschilderten Prozesse aus der Zeit um 1600 legen die Annahme nahe, dass man das Reichskammergericht dann anrief, wenn Deutsche als Kläger gegen den Fürsten oder als Beklagte am Prozess beteiligt waren. Das Verhältnis der Reichsgerichtsbarkeit zur Schweizer Eidgenossenschaft seit 1495/99 ist als eine de-facto-Exemtion zu sehen, die 1648 in das rechtsverbindliche Ausscheiden aus dem Reichsverband überging16. Bis zum Jahre 1564 sind Rechtsstreitigkeiten aus Livland am Reichskammergericht (und Reichshofrat) anhängig gemacht worden: 29 Prozesse, darunter auch Appellationen17. Zusammenfassend ist festzustellen, dass alle Exemtionen Randgebiete des Reiches betreffen, dass ihre Wurzeln durchweg im Spätmittelalter liegen und dass die daraus erwachsenen Probleme bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts zumindest faktisch, in etlichen Fällen aber auch rechtlich, begradigt und bereinigt waren. Vergleichbare Bestrebungen und Entwicklungen faktischer Art sind späterhin in den großen Territorien des Reiches, insbesondere in Brandenburg-Preußen seit 1740 zu beobachten, haben jedoch keine entsprechende rechtliche Ausgestaltung gefunden. 15

16 17

SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung (Anm. 1), S. 15–22; vgl. neuestens MATTHIAS SCHNETTGER, Kooperation und Konflikt. Der Reichshofrat und die kaiserliche Plenipotenz in Italien, in: Gerichtslandschaft Altes Reich (Anm. 7), S. 127–149; ferner RUDOLF HOKE, Art. Savoyen HRG IV 11988, Sp. 1326–1331. SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung (Anm. 1), S. 41. LEO LEESMENT, Über die livländischen Gerichtssachen im Reichskammergericht und im Reichshofrat, in: Acta et commentationes Universitatis Tartuensis, B. Humaniora XVII, 1928–1930, S. 1–40.

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III. Unter den Appellationsprivilegien interessieren für unsere Fragestellung in erster Linie die privilegia illimitata. Die summenmäßig (bis zu einem Höchstwert von 2.500 Gulden) oder gegenständlich beschränkten Privilegien schwächten zwar auch die Präsenz des Reichskammergerichts, verdrängten dieses aber nicht aus dem Rechtsalltag, wie dies unbeschränkte Appellationsprivilegien taten. Unter den Illimitata wiederum interessieren zunächst die den Kurfürsten in der Goldenen Bulle Kap. VIII und XI verliehenen. Angesichts der heute allgemein geteilten Annahme, dass sich die Appellation im Bereich der weltlichen Gerichtsbarkeit erst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts als Rechtsmittel durchsetzte18, sind die den Kurfürsten ein Jahrhundert zuvor verliehenen Appellationsprivilegien durchaus deutungsbedürftig. Ulrich Eisenhardt und ich sind letztendlich beide zu dem Ergebnis gelangt, dass sie den Rechtszug von den kurfürstlichen Gerichten an auswärtige Gerichte einschließlich solcher des Königs oder des Kaisers untersagten. Hinsichtlich der Frage, was es konzeptuell als Denkleistung bedeutet und wie es möglich wurde, dass eine Figur des gelehrten Prozesses ein Jahrhundert vor dessen breit einsetzender Rezeption auf eine in wesentlich anderen Sinnzusammenhängen stehende Einrichtung des einheimischen Rechts übertragen wurde, bestanden allerdings Verständigungsschwierigkeiten fort19. Unter den Kurfürsten haben nur zwei, nämlich der Sachse und der Brandenburger, ihre aus der Goldenen Bulle herrührende Appellationsfreiheit im Zuge der Gründung und schließlichen Etablierung des Reichskammergerichts in vielfachen Auseinandersetzungen mit dem Kaiser und dem Reichskammergericht erfolgreich verteidigen können20. Im Grunde hatten sie wohl, dem Vorbild Österreichs folgend, die Exemtion vom Reichskammergericht erstrebt21. Sie könnten damit die in der Goldenen Bulle als immunitas bezeichnete Rechtsstellung der Kurfürsten zutreffender erfasst haben, als

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BERNHARD DIESTELKAMP, Die Durchsetzung des Rechtsmittels der Appellation im weltlichen Prozessrecht Deutschlands, (AbhAk Mainz, Geistes- und Sozialwiss. Kle. Jg. 1998 Nr. 2), Stuttgart 1998. EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia (Anm. 2), S. 36 f.; WEITZEL, Der Kampf um die Appellation (Anm. 2), S. 126 ff. WEITZEL, Der Kampf um die Appellation (Anm. 2), S. 87 ff., 120–128, 135. Vgl. dazu auch SMEND, Das Reichskammergericht (Anm. 4), S. 56 ff., 67, 93 f.

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wir es heute tun, wenn wir vom Nebeneinander eines Evokations- und eines Appellationsprivilegs sprechen. Zuerst, nämlich im Jahre 1559, erlangt Sachsen ein als Erneuerung und Erweiterung der Rechte aus der Goldenen Bulle zu verstehendes illimitiertes Appellationsprivileg22. Eine Erweiterung insofern, als die Privilegien der Goldenen Bulle nur von den Untertanen, die nach 1495 verliehenen Privilegien aber von den Gerichten der Kurfürsten bzw. von ihren Urteilen sprechen. Brandenburg erlangte sein Illimitatum erst 1586. Mit ihm wurde neben den aus der Fortgeltung der Goldenen Bulle resultierenden Streitigkeiten eine zweite Kontroverse ausgeräumt, nämlich die problematische Erstreckung der Appellationsbefreiung auch auf die erst 1455 von den Hohenzollern erworbene Neumark. Die Privilegien der Goldenen Bulle erstreckten sich nämlich nur auf die Kurlande in ihrem Bestand von 1356. Entsprechend galten nach 1495 erteilte Appellationsprivilegien nur für den zum Zeitpunkt der Privilegierung gegebenen Besitzstand. Erweiterungen mussten also jeweils ausdrücklich privilegmäßig herbeigeführt werden. Und sie mussten nicht allein deshalb, weil ein älterer Besitzstand – wie die Kurlande – illimitiert privilegiert war, ebenfalls als unbeschränkte Befreiung erfolgen. Dies ist gerade angesichts des im 17. und 18. Jahrhundert kräftig wachsenden Brandenburg-Preußen in Rechnung zu stellen, soll die Raumrelevanz der Appellationsbefreiungen eingeschätzt werden. Für die Erwerbungen des 17. Jahrhunderts (Kleve, Mark, Ravensberg, Hinterpommern, Camin, Minden, Magdeburg und Halberstadt) erhielt Brandenburg nach Bemühungen seit 1695 im Jahre 1702 ein bis zu 2.500 Goldgulden freistellendes Privileg. Für die 1720 von Schweden an Brandenburg abgetretenen Gebiete wurde 1733 ein Illimitatum erteilt. 1746 schließlich erlangte Brandenburg-Preußen das Illimitatum für alle zu diesem Zeitpunkt nicht zur Kur gehörenden Gebiete, desgleichen 1750 ein solches für das 1744 erworbene Ostfriesland. 1746 konnte Brandenburg 16 am Reichskammergericht streitige Appellationsverfahren an seine Gerichte abziehen23. Das heißt, dass erst gegen Mitte des 18. Jahrhunderts alle seine zum Reich gehörenden Besitzungen von der Appellation an die Reichsgerichte frei waren.

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23

Zu den genannten Privilegierungen vgl. jeweils die Edition von EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia (Anm. 2). LUDOLF PELIZAEUS, Der Aufstieg Württembergs und Hessens zur Kurwürde 1692–1803, Frankfurt a. M. 2000, S. 508 f.

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Freilich hatte dies den Hohenzollern und ihren Justizverwaltungen zu lang gedauert, so dass in den Jahren zwischen 1653 und 1749 eine ganze Reihe rechtswidriger Appellationsverbote und Appellationsbehinderungen zu verzeichnen sind24. Die Bewohner der meisten der hinzugewonnenen Territorien und insbesondere deren Landstände hielten jedoch an der Appellation an Reichshofrat und Reichskammergericht fest. 1724 waren am Reichshofrat zumindest 30 Appellationen anhängig und am Reichskammergericht wurden zwischen 1712 und 1749 zumindest jene 16 Appellationen streitig verhandelt. Den Kurfürsten am Rhein gelang es nicht, das Appellationsprivileg der Goldenen Bulle gegenüber dem Reich und dem Reichskammergericht zu behaupten. Kurpfalz, Kurköln und Kurmainz erhielten illimitierte Privilegien 1652 (Erstreckung auf Jülich, Berg und Zweibrücken 1764), 1653 und 1654. Der Kölner Kurfürst erklärte 1655 angesichts des Widerstands der Landstände diesen gegenüber einen Ausübungsverzicht. Erst 1786 wurden die Rechte mit der Errichtung des kurkölnischen Oberappellationsgerichts wieder in Anspruch genommen. Inzwischen hatte auch Kurtrier im Jahr 1721 ein Illimitatum erlangt, dem ein auf die Goldene Bulle gestütztes, zweijähriges Appellationsverbot vorausgegangen war. Vor den genannten Daten ihrer Illimitata waren Kurpfalz seit 1578 und Kurköln seit 1613 bis zu 1.000 Gulden, Kurtrier seit 1562 nur bis zu 500 Gulden und Kurmainz gar nicht privilegiert25. Da für Mainz auch Appellationsverbote bislang nicht bekannt geworden sind, konnte aus den Gebieten des Kurerzkanzlers über 160 Jahre hin allein nach Maßgabe der allgemeinen Appellationssumme an die Reichsgerichte appelliert werden. Diese als Höhe der Beschwer zu verstehende Summe wurde 1521 auf 50 Gulden, 1570 auf 150 Gulden, 1.600 auf 300 Gulden und durch den Jüngsten Reichsabschied 1654 auf 600 Gulden festgesetzt26. Wie die Illimitata für die Pfalz, Köln und Mainz ersichtlich mit den Neuordnungen des Westfälischen Friedens und des Jüngsten Reichsabschieds in Zusammenhang stehen, so sind die unbeschränkten Appellationsprivilegien für Braunschweig-Lüneburg 1716, Baden, Salzburg und Württemberg jeweils 1803 die Folge der Erhebung dieser Territorien zu

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WEITZEL, Der Kampf um die Appellation (Anm. 2), S. 139–147. WEITZEL, Der Kampf um die Appellation (Anm. 2), S. 147–153. WEITZEL, Der Kampf um die Appellation (Anm. 2), S. 28, 34 f.

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Kurfürstentümern. Der hier möglicherweise entstehende Eindruck, die Kurwürde sei Voraussetzung für die Erteilung eines illimitierten Appellationsprivilegs gewesen, ginge jedoch fehl. Wie nachfolgende Fälle zeigen werden, ist er nur dem Aufbau des Vortrages geschuldet. Nicht selten wurde aber der Gewinn eines Illimitatum als der vorletzte Schritt auf dem Weg zur Kurwürde verstanden27. Weder Württemberg noch Baden hatten vor 1803 ein Appellationsprivileg erhalten. Beide Territorien stützten ihre Vorbehalte gegen die Appellationszuständigkeit des Reichskammergerichts schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf Befreiungen von auswärtiger Gerichtsbarkeit, die ihnen 1475 bzw. 1495 verliehen worden waren. Diese suchten sie als auch die Appellation ans Reich ausschließende Privilegien zu deuten, was schon nach dem Wortlaut nur hinsichtlich ihrer eigenen Untertanen möglich war und insgesamt misslang28. Die Markgrafschaft Baden ging bis 1622 offenbar den Weg, die Zulassung einer von Landesangehörigen untereinander angestrengten Appellation nach auswärts, also über das Hofgericht hinaus, von einer besonderen Zulassung abhängig zu machen. Genaueres ist nicht bekannt. Das Landrecht von 1622/54 sprach schließlich ein Verbot der Appellation ans Reichskammergericht aus – der Reichshofrat wird jedenfalls nicht genannt. Aus dem Jahre 1670 liegt ein Reichshofratsgutachten vor29, das einen Antrag des Markgrafen auf Erteilung eines Appellationsprivilegs ablehnend zu bescheiden vorschlägt, da dem Markgrafen 1475 ein Appellationsprivileg nicht verliehen worden sei. Ob das Appellationsverbot seit 1622 durchgesetzt werden konnte, lässt sich derzeit nicht abschließend beurteilen. Zeugnisse über Streitigkeiten mit dem Reichskammergericht, die sonst üblicherweise solche Situationen begleiteten, sind bislang nicht bekannt geworden. Das Verbot findet sich auch im Badischen Landrecht von 1710, dessen einschlägige Regelung vom Reichskammergericht in einem Appellationsverfahren des Jahres 1786 als „anstößig“ und absque privilegio Caesareo angemaßt dem kaiserlichen Fiskal zur Ahndung angewiesen wird. Das auf Kassation des einschlägigen Titels gerichtete Fiskalverfahren erledigt sich schließlich 1803. Württemberg schrieb das Verbot von Berufungen für seine Untertanen in der Hofgerichtsordnung von 1475 und – nach dem österreichischen Zwi-

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PELIZAEUS, Der Aufstieg (Anm. 23), S. 354 f. WEITZEL, Der Kampf um die Appellation (Anm. 2), S. 153 ff., 205 f. EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia (Anm. 2), S. 70.

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schenspiel von 1519–1534 – im Landrecht von 1555 fest. Die Landstände stimmten dem zu. Das Landrecht wurde durch die Kaiser Karl V. 1555 und Maximilian II. 1566 bestätigt. 1571 schließlich akzeptierte das Reichskammergericht die Insinuation des Landrechtes im Ganzen sowie einen Auszug mit den Bestimmungen über die Berufung an die Reichsgerichte […]. Seitdem gehen sämtliche württembergische Landrechte und Hofgerichtsordnungen davon aus, dass sich Landesuntertanen nur dann appellierend ans Reichskammergericht wenden dürfen, wenn ihr Gegner ein Auswärtiger ist, der seinerseits nicht auf die Appellation verzichtet hat. Der auf dunklen Wegen erlangte, einem illimitierten Appellationsprivileg ähnliche Rechtszustand ist hinfort nicht mehr angefochten worden. Als aber Herzog Eberhard-Ludwig im Jahre 1730 auch den Auswärtigen die Appellation an die Reichsgerichte verbot, dies jedoch nicht durchsetzen konnte, bemühte er sich 1732 unter Hinweis auf seine alten Privilegien um ein Illimitatum. Der Reichshofrat gutachtete jedoch in Erkenntnis dessen, dass es sich nicht um Appellationsprivilegien handelte, negativ30. Aus den Jahren 1788 und 1799 wird von erneut erfolglosen Versuchen berichtet, ein Auswärtige einbeziehendes Appellationsprivileg zu erlangen. Insgesamt kann man nicht sagen, die Reichsgerichte seien als Appellationsgerichte in Baden und Württemberg nicht präsent gewesen. Sie waren es durchgehend in Prozessen mit Auswärtigen für diese und auch für ihre landsässigen Gegner. Sie waren es für Prozesse unter Landsassen in Württemberg bis 1571 und in Baden jedenfalls nach der Rechtslage bis 1803. Das Herzogtum Bayern erwarb als erstes nicht kurfürstliches Territorium 1620 ein unbeschränktes Appellationsprivileg, das 1628 auf die Oberpfalz und andere hinzugewonnene Gebiete erstreckt wurde. Eine erneute Ausweitung fand 1786 statt31. Zwei weitere Illimitata stehen im Zusammenhang des Dreißigjährigen Krieges. So erhielt Wallenstein als Herzog von Mecklenburg für dieses trotz der Bedenken des Reichshofrates 1629 ein unbeschränktes Appellationsprivileg32. Diese Rechtslage hatte nur bis 1635 Bestand. Im Westfälischen Frieden erhielt der König von Schweden ein Illimitatum für das Erzstift Bremen, das Stift Verden, das Herzogtum Vorpommern, das 30 31

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EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia (Anm. 2), S. 123. WEITZEL, Der Kampf um die Appellation (Anm. 2), S. 158 ff.; EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia (Anm. 2), S. 72 f., 163–169. EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia (Anm. 2), S. 101 f.

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Fürstentum Rügen und die Stadt Wismar (Instrumentum Pacis Osnabrugense Art. X § 12). Immerhin aber wurde neben der allfälligen Justizverweigerung den (pommerschen) Landständen ausdrücklich das Anrufen der Reichsgerichte in all den Fällen, die die Herrschaftsausübung des schwedischen Königs […] betrafen und die das Wismarer Tribunal nicht entscheiden konnte, vorbehalten. Davon machten die pommerschen Stände im Jahre 1799 in zwei Fällen Gebrauch. Der König wählte allerdings kraft des ihm eingeräumten privilegium electionis fori den Reichshofrat33. Illimitata konnten gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts im politischen Zu-

sammenhang mit dem Österreichischen Erbfolgekrieg auch die beiden hessischen Landgrafschaften gewinnen: Kassel 1742, Darmstadt 174734. Der Landgraf in Kassel hatte seit 1707 auf die Privilegierung als eine Vorstufe zur Kurwürde hingearbeitet. Zuletzt wurde noch Mitte 1804 das Gesamthaus der Fürsten von Nassau unbeschränkt privilegiert35.

IV. Eine Geschichte der Widerstände gegen die Erteilung und Erweiterung insbesondere unbeschränkter Appellationsprivilegien könnte bereits mit dem Jahre 1495 beginnen. Interessanter als die Rechtsfestigkeit des Reichskammergerichts sind aber wohl die auch das politische Kalkül bedenkenden Reichshofratsgutachten in Sachen Appellationsbefreiung, die der Quellenband Eisenhardts seit dem Jahre 1629 ausweist. Aus ihnen folgt, dass der Reichshofrat, gestützt auf Art. XVIII § 6 der kaiserlichen Wahlkapitulation36 und § 116 des Jüngsten Reichsabschieds37, durchweg zu Ungunsten der Antragsteller votierte. Die Appellationsprivilegien dienten, wie es 1659 gegen

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NILS JÖRN, Die Auseinandersetzungen zwischen den schwedisch-pommerschen Ständen und ihrem Landesherrn wegen der Veränderung der Landesmatrikel 1799–1801, in: Geographische und historische Beitr. zur LK Pommerns. Eginhard Wegner zum 80. Geb., hg. von IVO ASMUS u. a., Schwerin 1998, S. 160–165; KJELL ÅKE MODÉER, Gerichtsbarkeiten der schwedischen Krone im deutschen Reichsterritorium, I. 1630–1657, Stockholm 1975. PELIZAEUS, Der Aufstieg (Anm. 23), S. 312 ff., 350–354, 502–510. EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia (Anm. 2), S. 104. ZEUMER, Quellensammlung (Anm. 1), 487 f. ZEUMER, Quellensammlung (Anm. 1), 452.

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einen Antrag Nürnbergs auf Erhöhung der Appellationssumme von 900 auf 1.200 Gulden heißt, zur Schwächung der Kaiserlichen Majestät Jurisdiktion und Respekt und vielmehr zur Unterdruckung der Justiz als Beförderung oder Unterhaltung derselben38. Etwas sachlicher formulierte der Reichshofrat 1786 ge-

gen eine Erweiterung des Privilegs für die Stadt Bremen. Die Privilegien, ob beschränkt oder unbeschränkt, hätten das kaiserliche oberstrichterliche Amt schon mehr als zu sehr beschränket und seien für die wahre Grundquelle der so sehr verfallenen allerhöchst kaiserlichen Authoritaet zu achten39. Grundsätzlich wurden auch Anträge auf privilegia electionis fori negativ begutachtet. Mit ihren Bemühungen um ein Illimitatum scheiterten nicht nur Hessen-Kassel 1732, sondern auch 1742 die Markgrafschaft Brandenburg-Bayreuth und 1780 die Herzöge von Mecklenburg. Letztere möglicherweise an einem Reichshofratsgutachten, Brandenburg-Bayreuth am Widerstand Sachsens und Preußens40. Denn selbstverständlich war es ein gängiges Argument, dass ein solches Privileg auch das principium und besondere praerrogativ deren gesambten Churfürsten schmälere und sie so anderen Reichsständen gemein gemacht würden41.

V. Die für das Reichskammergericht entscheidenden „Raumverluste“ sind spät-, teilweise sogar hochmittelalterlich vorgeprägt. Die im Zuge der Rezeption, insbesondere der Durchsetzung des neuen Rechtsmittels der Appellation, theoretisch denkbare Stunde Null einer neuen Zuständigkeitsordnung zugunsten des Reiches konnte nach 1495 nur teilweise realisiert werden. Es gab keine Chance gegenüber der Exemtion des Hauses Österreich, zumal dieses die Kaiser stellte. Das strukturell von der Exemtion kaum zu unterscheidende „Evokations- und Appellationsprivileg“ der Goldenen Bulle blieb für Sachsen und insonderheit für das im 17. und 18. Jahrhundert stetig wachsende Brandenburg erhalten. Immerhin konnte die Appellationsbefreiung der rheinischen Kurfürsten bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, für Trier und Köln aufgrund von Sonderentwicklungen sogar bis 1721 bzw. 38 39 40

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EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia (Anm. 2), S. 107. EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia (Anm. 2), S. 81. EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia (Anm. 2), S. 103; PELIZAEUS, Der Aufstieg (Anm. 23), S. 355 f. PELIZAEUS, Der Aufstieg (Anm. 23), S. 503 Fn. 46.

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1786 zurückgedrängt werden. Im Mittelalter angelegt ist auch die Exemtion der Schweiz und die Lothringens, wohl auch die des Burgundischen Kreises, bei der allerdings die Herrschaftsübernahme durch die Habsburger einen zusätzlichen politischen Akzent setzt. Es ist zu betonen, dass alle Exemtionen Randgebiete des Reiches betreffen, was die Verbindung von Herrschaftsausübung und Zentrierung der Gerichtsverfassung erneut bestätigt. Festzuhalten ist auch, dass sich nach der Mitte des 16. Jahrhunderts Exemtionssituationen nicht mehr ausbildeten, jedenfalls keine rechtliche Anerkennung fanden. Abgesehen von Bayern 1620, sind die Illimitata des 17. Jahrhunderts Früchte des Westfälischen Friedens und der Figur der „Landeshoheit“. Auch im 18. Jahrhundert besteht die enge Verbindung von Kurfürstenstatus und unbeschränkter Appellationsfreiheit fort, was 1716 (Braunschweig–Lüneburg) und im Jahre 1803 ein letztes Mal nachdrücklich unter Beweis gestellt wird. „Ausreißer“ sind aufgrund tagespolitischer Entscheidungen die Illimitata für die beiden Hessen 1742 und 1747. Das Reichskammergericht blieb appellationspräsent in den kleineren Reichsständen und insbesondere in den Reichsstädten bis zu seinem Ende. Hier bewirkte die Erhöhung der allgemeinen Appellationssumme (Summe der Beschwer) auf 600 Gulden im Jüngsten Reichsabschied 1654 sogar eine „Intensivierung“ der Zuständigkeit des Reichskammergerichts, da viele der vor diesem Zeitpunkt zahlreich erteilten Appellationsprivilegien gegenstandslos wurden. Nach dem Westfälischen Frieden sind Appellationsprivilegien an Reichsstädte praktisch nicht mehr erteilt worden. Die Privilegierung Frankfurts bis zu 1.000 Gulden im Jahre 1743 durch Kaiser Karl VII. ist die große Ausnahme. Aus dem 17. Jahrhundert hielten Nürnberg eine Privilegierung bis 900 Gulden und Hamburg sowie Köln eine bis 700 Gulden. In allen anderen Reichsstädten spielten die auf Summen, das heißt den anfänglichen Streitwert abstellenden Appellationsprivilegien nach 1654 keine Rolle mehr. Auch einige Reichsstifte waren gar nicht oder jedenfalls nach 1654 nicht mehr privilegiert: so Hildesheim, Fulda, Bamberg, Passau und Salzburg bis 1777 (dann 2.000 Gulden). Die Großen dehnten ihr Gebiet und ihre Illimitata aus, entfernten sich vom Reichskammergericht, die Kleinen dehnten sich nicht aus, ihre alten Privilegien wurden entwertet, sie rückten näher an die Reichsgerichtsbarkeit heran. Das ist ein Abbild der allgemeinen politischen Entwicklung im Reich und justizpolitisch insofern sachgerecht, als die großen Territorien ihren Untertanen im Prinzip eine ordnungsgemäße Gerichtsbarkeit gewährleisten konnten. Dass sie dies auch taten, darüber wachten der Kaiser bei der Privi-

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legienerteilung und die Reichsgerichte mit ihrer Zuständigkeit für Rechtsverweigerung und unheilbare Nichtigkeit, so gut sie eben konnten. Sollte ich einen Zeitpunkt benennen, ab dem die Präsenzminderung der Reichsgerichte „kritisch“ wird, so würde dieser jedenfalls im 18. Jahrhundert liegen. Man kann an das Jahr 1702 denken, in dem Brandenburg für viele seiner neuen Provinzen bis zu 2.500 Gulden privilegiert wurde. Man kann aber auch auf das politisch so markante Jahr 1740 abstellen. 1742 und 1747 die Illimitata für Hessen, 1747 die Erstreckungen für Brandenburg und Hannover auf ihren Gesamtbesitz, dasselbe für die Kurpfalz 1764. Die Illimitata des Jahres 1803 markieren dann das Ende des Reiches.

INGRID MÄNNL

Juristenlandschaften im spätmittelalterlichen Reich Zum Wirken gelehrter Juristen im Fürstendienst

I. Nach der Ordnung, die König Maximilian am 7. August 1495 auf dem Reichstag zu Worms zur Neukonstituierung des Reichskammergerichts erließ, war das Gericht zu besetzen mit einem Richter und 16 urteilern, die alle wir mit rate und willen der samblung itzund hie kiesen werden aus dem Reiche T. N., die ... ye der halbteyl der urteyler der recht gelert und gewirdigt und der ander halbteyl auf das geringist aus der ritterschaft geporn sein sullen1. Mit dieser Be-

stimmung wurde nicht nur der in der Praxis des königlichen Kammergerichts in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bereits bestehende Gleichstand von Beisitzern ritterlicher Abkunft und von Beisitzern rechtsgelehrter Ausbildung schriftlich als Norm fixiert, sondern es wurde erstmals auch den Reichsständen ein Recht bei der Besetzung der Assessorenstellen an einem höchsten Gericht im Reich eingeräumt. Hier stellt sich zunächst die Frage, inwieweit die Reichsfürsten bei der Rekrutierung der rechtsgelehrten Beisitzer auf entsprechend ausgebildetes Personal aus ihrer eigenen Verwaltung zurückgreifen konnten. Dahinter steht die allgemeine Frage nach dem Wirken gelehrter Juristen im Fürstendienst im späten Mittelalter. Der Forschungsstand zu diesem Thema ist dadurch charakterisiert, dass es zwar für die Jahre 1250 bis 1440 bereits eine flächendeckende Untersuchung gibt, dass aber für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts gelehrte Juristen im Fürstendienst lediglich für einzelne Territorien2 oder als Einzelpersonen3

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RTA, Mittlere Reihe: Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I., Bd. V, I,1: Reichstag von Worms 1495, bearb. von HEINZ ANGERMEIER, Göttingen 1981, Nr. 342, S. 384. HEINZ LIEBERICH, Die gelehrten Räte. Staat und Juristen in Baiern in der Frühzeit der Rezeption, in: ZBLG 27 (1964), S. 120-189. HARTMUT BOOCKMANN, Die Rechtsstudenten des Deutschen Ordens. Studium, Studienförderung und gelehrter Beruf im späteren Mittelalter, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971, Bd. 2 (Veröff. des MPI für Gesch. 36,2), Göttingen 1972, S. 313-375. DIETER STIEVERMANN, Die gelehrten Juristen der Herrschaft Württemberg im 15. Jahrhundert. Mit

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näher untersucht sind. Im ersten Teil des Vortrags soll ein Überblick über die Forschungsergebnisse bis 1440 gegeben werden, im zweiten Teil sollen zwei weitere Entwicklungslinien im 15. Jahrhundert verfolgt werden, die zu dem Geschehen auf dem Wormser Reichstag 1495 führten, nämlich die zu Beginn des Jahrhunderts einsetzende Gesandtentätigkeit gelehrter Juristen auf den Reichsversammlungen sowie ihr bereits erwähntes Eindringen in die Rechtsprechung der höchsten Gerichtsbarkeit des Reiches am königlichen Kammergericht.

II. Wir kennen heute 825 Personen mit juristischer Universitätsausbildung, die von 1250 bis 1440 am Hof des römisch-deutschen Königs4 und an den Höfen der geistlichen und weltlichen Reichsfürsten5 beschäftigt waren. Mit

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besonderer Berücksichtigung der Kleriker-Juristen in der ersten Jahrhunderthälfte und ihre Bedeutung für das landesherrliche Kirchenregiment, in: Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, hg. von ROMAN SCHNUR, Berlin 1986, S. 229-271. HARTMUT BOOCKMANN, Laurentius Blumenau. Fürstlicher Rat – Jurist – Humanist (ca. 1415-1484) (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 37), Göttingen 1965. MATTHIAS THUMSER, Hertnidt vom Stein (ca. 1427-1491). Bamberger Domdekan und markgräflich-brandenburgischer Rat. Karriere zwischen Kirche und Fürstendienst (Veröff. der Ges. für fränkische Gesch., Reihe IX: Darstellungen aus der fränkischen Gesch. 38), Neustadt a. d. Aisch 1989. RAINER HANSEN, Martin Mair. Ein gelehrter Rat in fürstlichem und städtischem Dienst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Diss. phil. masch. Kiel 1992. CHRISTINE REINLE, Ulrich Riederer (ca. 1406-1462). Gelehrter Rat im Dienste Kaiser Friedrichs III. (Mannheimer Historische Fg. 2), Mannheim 1993. PETER MORAW, Gelehrte Juristen im Dienst der deutschen Könige des späten Mittelalters (1273-1493), in: Die Rolle der Juristen (Anm. 2), S. 77-147, wieder in: PETER MORAW, Gesammelte Beiträge zur deutschen und europäischen Universitätsgeschichte. Strukturen – Personen – Entwicklungen (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 31), Leiden 2008, S. 465-540. PAUL-JOACHIM HEINIG, Gelehrte Juristen im Dienst der römisch-deutschen Könige des 15. Jahrhunderts, in: Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, I. Teil: Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1994 und 1995, hg. von HARTMUT BOOCKMANN / BERND MOELLER / LUDGER GRENZMANN / MARTIN STAEHELIN (AbhAk Philol.-hist. Kle. 3. Folge 228), Göttingen 1998, S. 167-184. INGRID MÄNNL, Die gelehrten Juristen in den deutschen Territorien im späten Mittelalter (1250-1440), Diss. phil. masch. Gießen 1987. DIES., Die gelehrten Juristen im Dienst der Territorialherren im Norden und Nordosten des Reiches von 1250 bis 1440, in: Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts, hg. von RAINER C. SCHWINGES (ZHF Beih. 18), Berlin 1996, S. 269-290. DIES., Gelehrte Juristen im Dienst der deutschen Territorialherren am Beispiel von Kurmainz

Juristenlandschaften im spätmittelalterlichen Reich

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Ausnahme der im Norden beheimateten Herzöge von Pommern und Grafen von Anhalt sowie dreier mediater geistlicher Fürsten, nämlich der Salzburger Eigenbischöfe von Seckau, Lavant und Chiemsee, hatten in diesem Zeitraum bereits alle Reichsfürsten, wenn auch mit beträchtlichen zeitlichen und quantitativen Unterschieden, gelehrte Juristen in ihrer Verwaltung beschäftigt. Bei den weltlichen Reichsfürstentümern gehörten die königstragenden Territorien Böhmen, Österreich, Bayern und Kurpfalz sowie das linksrheinische Herzogtum Brabant mit jeweils 27 bis 80 Einzelnachweisen zur Spitzengruppe. Die Mittelgruppe mit einer Anzahl von jeweils 6 bis 19 gelehrten Juristen führten die beiden norddeutschen Kurfürstentümer, Kursachsen und Kurbrandenburg, und das linksrheinische Herzogtum Luxemburg an, gefolgt von den linksrheinischen Grafschaften Holland/Hennegau/Seeland, den kleineren niederrheinischen Territorien (Mark, Kleve, Jülich, Geldern, Berg), den böhmischen Nebenländer (Schlesien, Mähren) und der Grafschaft Württemberg. Die Schlußgruppe mit jeweils einem bis vier Einzelbelegen bildeten die in der Mitte und dem Norden des Reiches gelegenen Territorien (Hessen, Braunschweig-Lüneburg, Sachsen-Lauenburg, Mecklenburg, Holstein) sowie zwei kleinere Territorien aus dem Süden (Baden, Nürnberg). Stellt man dieser Gruppierung eine entsprechende Gruppierung der weltlichen Reichsfürstentümer nach den ersten Belegen rechtsgelehrter Tätigkeit gegenüber, ergibt sich folgendes Bild. Mit Erstbelegen aus den Jahren 1250 bis 1299 gehörten auch hier wieder die königstragenden Territorien Böhmen, Österreich und Bayern zu den Spitzenreitern. Das Mittelfeld mit ersten juristischen Nachweisen zwischen 1309 und 1375 wurde von den niederrheinischen Territorien Luxemburg, Brabant, Jülich, Geldern und Holland/Hennegau/Seeland angeführt. Zu den Schlusslichtern mit verspäteten Erstbelegen aus der Zeit nach 1375 gehörten alle Fürstentümer aus dem Norden des Reiches, mit Ausnahme Kurbrandenburgs, sowie Hessen und die beiden kleinen süddeutschen Territorien Baden und Nürnberg. Die Gegenüberstellung der beiden Gruppierungen zeigt, dass die Entwicklung der gelehrten Jurisprudenz im Wesentlichen linear verlief und dass der zeitliche Vorsprung als quantitativer Vorsprung erhalten blieb. Sie lässt auch die beiden Faktoren erkennen, die einzelnen weltlichen Reichsfürstentümern bei der Beschäftigung gelehrter Juristen einen Vorsprung vor anderen verschafften, nämlich den hohen politischen Rang ihres Herrn und

(1250-1440), in: Recht und Verfassung (Anm. 4), S. 185-198. – Die in Abschnitt II genannten Zahlen und Daten beruhen auf meinen vorläufigen Untersuchungsergebnissen.

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ihre Lage in einer entwicklungsgeschichtlich begünstigten Großregion6. Für die Erlangung der Spitzenpositionen war der politische Rang des Herrn der entscheidendere der beiden Faktoren. Bei der Beschäftigung gelehrter Juristen waren daher in der Regel königstragende Territorien vor Kurfürstentümern und Kurfürstentümer vor einfachen Fürstentümern ebenso führend wie einfache Fürstentümer aus dem entwicklungsgeschichtlich begünstigtem Westen gegenüber denen aus zurückgebliebenen Großregionen, wie der Mitte und dem Norden des Reiches. Noch stärker als bei den weltlichen Reichsfürstentümern erwies sich bei den geistlichen die Zugehörigkeit zur jeweiligen Großregion als ausschlaggebender Faktor für das erste Auftreten eines gelehrten Juristen. Zur führenden Gruppe mit ersten juristischen Nachweisen aus den Jahren 1256 bis 1290 gehörten zwei Drittel der geistlichen Reichsfürstentümer, die links des Rheins und am Rhein sowie rechts der Donau und an der Donau gelegen waren. Zuletzt, erst nach 1375, nahmen im Nordosten der Hochmeister und der livländische Meister des Deutschen Ordens sowie die meisten preußischen und livländischen Bischöfe gelehrte Juristen in ihre Dienste. Innerhalb einer Großregion war dann die Stellung des geistlichen Herrn in der kirchlichen Hierarchie der maßgebliche Faktor, der über die Anzahl der in seiner Verwaltung beschäftigten Rechtsgelehrten entschied. Von einer Ausnahme abgesehen verfügten daher die Erzbischöfe jeweils über eine größere Anzahl an juristisch-ausgebildeten Verwaltungskräften als ihre Suffragane. Wie in den weltlichen Fürstentümern blieb auch in den geistlichen der zeitliche Vorsprung bei der Entwicklung der gelehrten Jurisprudenz im Wesentlichen als quantitativer Vorsprung erhalten. Mit 59, 56 und 46 Einzelbelegen waren die Erzbischöfe von Köln und Mainz und der Bischof von Konstanz bei der Beschäftigung gelehrter Juristen führend. Zu den Schlußlichtern, die weniger als sieben Personen mit juristischer Universitätsausbildung in ihrer Verwaltung beschäftigt hatten, gehörten fast geschlossen die im Norden und Nordosten beheimateten geistlichen Fürsten.

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PETER MORAW, Über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen und europäischen Mittelalter. Ein Versuch, in: Hochfinanz, Wirtschaftsräume, Innovationen. Festschrift für Wolfgang von Stromer, hg. von UWE BESTMANN / FRANZ IRSIGLER / JÜRGEN SCHNEIDER, Bd. 2, Trier 1987, S. 583-622, wieder in: Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, hg. von RAINER C. SCHWINGES aus Anlass des 60. Geburtstags von Peter Moraw, Sigmaringen 1995, S. 293320.

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Die ersten im Fürstendient erscheinenden Juristen waren an den Hohen Schulen in Italien und Frankreich ausgebildet worden7. Das in beiden Ländern bestehende Studienangebot wurde von den Rechtsstudenten aus dem Reich in ganz unterschiedlicher Weise in Anspruch genommen. An die Hohen Schulen Oberitaliens, zu denen die bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts bedeutendste europäische Rechtsschule in Bologna gehörte8, kamen Besucher aus allen Großregionen des Reiches. Vergleichsweise häufig weilten dort Studenten aus dem Südwesten und Süden, vergleichsweise selten Studenten aus dem Westen und Nordwesten. Letztere bevorzugten eindeutig die in Nordfrankreich gelegenen Universitäten Orléans und Paris, die von den Rechtsscholaren aus anderen Großregionen des Reiches überhaupt nicht oder nur in ganz geringer Anzahl besucht wurden. Mit der Gründung der Prager Carolina als erster Universität im Reich 1348 wurde für die Großregionen des Reiches, die von dem bisherigen Universitätssystem aufgrund der großen räumlichen Entfernung am stärksten benachteiligt waren, ein Ausgleich geschaffen9. Außer aus den böhmischen Ländern selbst ka-

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WINFRIED DOTZAUER, Deutsches Studium und deutsche Studenten an europäischen Hochschulen (Frankreich, Italien) und die nachfolgende Tätigkeit in Stadt, Kirche und Territorium in Deutschland, in: Stadt und Universität im Mittelalter und in der früheren Neuzeit, hg. von ERICH MASCHKE / JÜRGEN SYDOW (Stadt in der Gesch. 3), Sigmaringen 1977, S. 112-141. DETLEF ILLMER, Die Rechtsschule von Orléans und ihre deutschen Studenten im späten Mittelalter, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hg. von JOHANNES FRIED (VuF 30), Sigmaringen 1986, S. 97-120. WERNER MALECZEK, Deutsche Studenten an Universitäten in Italien, in: Kommunikation und Mobilität im Mittelalter. Begegnungen zwischen dem Süden und der Mitte Europas (11.-14. Jahrhundert), hg. von SIEGFRIED RACHELWILTZ / JOSEF RIEDMANN, Sigmaringen 1995, S. 77-113. JACQUES VERGER, Etudiants et gradués allemands dans les universités françaises du XIVe au XVIe siècle, in: Gelehrte im Reich (Anm. 5), S. 23-40. WILLIAM J. COURTENAY, Study Abroad: German Students at Bologna, Paris and Oxford in the fourteenth Century, in: Universities and Schooling in Medieval Society, hg. von WILLIAM J. COURTENAY / JÜRGEN MIETHKE (Education and Society in the Middle Ages and the Renaissance 10), Leiden 2000, S. 7-31. JÜRG SCHMUTZ, Juristen für das Reich. Die deutschen Rechtsstudenten an der Universität Bologna 1265-1425 (Veröff. der Ges. für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 2), 2 Teile, Basel 2000. PETER MORAW, Die Juristenuniversität in Prag (1372-1419), verfassungs- und sozialgeschichtlich betrachtet, in: Schulen und Studium (Anm. 7), S. 439-486, wieder in: MORAW, Gesammelte Beiträge (Anm. 4), S. 101-158. DERS., Die Universität Prag im Mittelalter. Grundzüge ihrer Geschichte im europäischen Zusammenhang, in: Die Universität zu Prag (Schr. der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste 7), München 1986, S. 9-134. DERS., Die Prager Universitäten des Mittelalters. Perspektiven von gestern und heute, in: Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für František Graus, hg. von SUSANNA BURGHARTZ u. a., Sigmaringen 1992, S. 109-123.

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men daher meistens Studenten aus dem Norden, dem Nordosten und der Mitte des Reiches zum Rechtsstudium nach Prag. Aus den anderen Großregionen des Reiches gingen die Rechtsscholaren weiterhin wie bisher an die Studienorte in Oberitalien und Nordfrankreich. Nachdem das Prager Studium ab ca. 1370 voll wirksam geworden war und 1384 an der Wiener Rudolfina ein geregelter Lehrbetrieb eingesetzt hatte, wurden in rascher Folge weitere Universitäten gegründet, so dass bis 1392 mit Ausnahme des Nordens jede Großregion des Reiches ihre eigene Ausbildungsstätte erhielt: der Osten Prag, der Süden Wien, der Südwesten Heidelberg, der Westen Köln und die Mitte Erfurt10. Das Auslandsstudium blieb nach den Universitätsgründungen im Reich bestehen; es wurde zumeist im Anschluss an den Besuch einer einheimischen Hohen Schule aufgenommen und diente vornehmlich dem Erwerb des Doktortitels. Wie beim Universitätsbesuch zeigen sich auch beim Erwerb der akademischen Grade charakteristische Unterschiede zwischen den Großregionen des Reiches11. Von den gelehrten Juristen, die bis 1440 in die Dienste der Reichsfürsten traten, hatten zwei Drittel das Studium mit einer Graduierung abgeschlossen. Positiv wichen von diesem Durchschnittswert der Westen und Nordwesten mit einer Graduierungsrate von 90% und negativ der Norden und Nordosten mit einer Graduierungsrate von 20% ab. Die gelehrten Juristen hatten in allen Großregionen des Reiches am häufigsten Grade im Kirchenrecht erworben. Allerdings war im Westen und Nordwesten die Anzahl der graduierten Legisten beinahe genau so groß wie diejenige der graduierten Kanonisten. An den Höfen des Herzogs von Brabant, der Grafen von Holland/Hennegau/Seeland und der Grafen von Luxemburg überwogen

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Vgl. RAINER C. SCHWINGES, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches (Veröff. des Inst. für europ. Gesch. Mainz 123. Beitr. zur Sozial- und VerfG des Alten Reiches 6), Stuttgart 1986. DERS., On Recruitment in German Universities from the fourteenth to sixteenth Centuries, in: Universities and Schooling (Anm. 7), S. 32-48, wieder in: Ders., Studenten und Gelehrte. Studien zur Sozial- und Kulturgeschichte im Mittelalter (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 32), Leiden 2008, S. 191-213. Vgl. dazu Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert, hg. von RAINER C. SCHWINGES (Veröff. der Ges. für Universitäts- und Wissenschaftsgesch. 7), Basel 2007. Daraus besonders der Beitrag von CHRISTIAN HESSE, Acta Promotionum II. Die Promovierten der Universitäten im spätmittelalterlichen Reich. Bemerkungen zu Quantität und Qualität, S. 229-250.

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bereits ähnlich wie am Hof des Königs von Frankreich12 die Legisten unter den graduierten Juristen. Der verstärkte Erwerb von legistischen Graden durch die im Westen und Nordwesten beheimateten Juristen ist in engem Zusammenhang mit den von ihnen besuchten Universitäten zu sehen, dem nordfranzösischen Studienort Orléans, der sich seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu einem Zentrum der Legistik entwickelte, und der Kölner Hohen Schule13, an der als einziger der bis 1392 gegründeten Reichsuniversitäten gleich zu Beginn legistische Lehrstühle eingerichtet wurden. An den geistlichen Höfen war die kirchliche Gerichtsbarkeit zumeist das früheste und zugleich auch das wichtigste juristische Wirkungsfeld14. Die Aufnahme des römischen Zivilverfahrens in das kanonische Prozessrecht, die um die Mitte des 12. Jahrhunderts einsetzte, machte es erforderlich, dass der geistliche Richter über spezielle Kenntnisse im gelehrten Recht verfügte. Das Offizialat entwickelte sich daher in den geistlichen Territorien zu dem Amt, das am frühesten und am häufigsten mit gelehrten Juristen besetzt wurde. Es breitete sich mit beträchtlicher zeitlicher Verschiebung von Westen nach Osten und von Süden nach Norden aus. In Konstanz begegnen bereits seit 1319 und in Straßburg seit 1329 fast ausnahmslos gelehrte Juristen in dem Amt. In den meisten anderen Diözesen wurde das Offizialat dann seit der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert, als durch die einheimischen Universitätsgründungen vermehrt entsprechend ausgebildete Personen zur Verfügung standen, überwiegend oder bereits durchgehend mit Rechtsgelehrten besetzt. In den nördlichen und nordöstlichen Bistümern des Reiches war dies erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts der Fall. An den größeren geistlichen Gerichtsbehörden, zu denen zum Beispiel das bereits in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit 40 Personen ausgestattete Kölner Offizialat gehörte, befanden sich häufig unter den Advokaten und den Prokuratoren weitere Kenner der gelehrten Rechte. 12

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Vgl. PETER MORAW, Der Lebensweg der Studenten, in: Geschichte der Universität in Europa. Bd. 1: Mittelalter, hg. von WALTER RÜEGG, München 1993, S. 225-254, hier S. 235 f., 244 f., wieder in: MORAW, Gesammelte Beiträge (Anm. 4), S. 391-432. ERICH MEUTHEN, Die alte Universität (Kölner Universitätsgesch. 1), Köln Wien 1988, S. 127 ff. Hierzu sind die Arbeiten von Winfried Trusen grundlegend; vgl. WINFRIED TRUSEN, Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland. Ein Beitrag zur Frührezeption (Recht und Gesch. 1), Mainz 1962. DERS., Die gelehrte Gerichtsbarkeit der Kirche, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. Bd. 1: Mittelalter, hg. von HELMUT COING, München 1973. Weitere Einzelstudien in: DERS., Gelehrtes Recht im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Bibliotheca eruditorum 23), Goldbach 1997.

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Das erste gemeinsame juristische Wirkungsfeld an geistlichen und weltlichen Fürstenhöfen stellte die Kanzlei als die „schriftführende“ Behörde dar15. In der Kanzlei waren die gelehrten Juristen vorrangig in den leitenden Positionen, dem Kanzleramt oder dem Protonotariat, tätig. Über die Kanzlei und in den geistlichen Territorien zusätzlich über das Domkapitel drangen sie in den Rat ein. Im Rat, der noch keine fest gefügte Institution mit konstanter Mitgliederzahl und festgelegten Kompetenzen war, blieben sie bis 1440 eindeutig in der Minderheit gegenüber den adeligen Mitgliedern16. Anfangs wurden die Kenner der gelehrten Rechte lediglich bei Bedarf zu einzelnen Ratssitzungen hinzugezogen; als ihre Aufgabenschwerpunkte sind die Außen- und die Kirchenpolitik zu erkennen. In den linksrheinischen Territorien Brabant und Luxemburg begegnen juristisch-gelehrte Ratsmitglieder bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts, in den größeren weltlichen Territorien rechts des Rheins und in den drei geistlichen Kurfürstentümern gegen Ende des Jahrhunderts. In den allermeisten geistlichen Fürstentümern fehlen sie bis 1440 noch gänzlich. Das aus Mitgliedern des Rates besetzte und unter dem Vorsitz des Landesherrn tagende Hofgericht erlangte erst mit dem verstärkten Eindringen von gelehrten Juristen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts als juristisches Tätigkeitsfeld größere Bedeutung. Lediglich in der Kurpfalz und in Kursachsen wurden die an der Universität lehrenden Juristen in besonderen Einzelfällen, in der Kurpfalz in Fällen, in denen eine geistliche Institution eine streitende Partei war, in Kursachsen in Fällen der Rechtsbelehrung, bereits zu Beginn des Jahrhunderts von ihren Landesherren als Beisitzer im Hofgericht herangezogen17. Eine charakteristische Ausnahme stellte das 15

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Landesherrliche Kanzleien im Spätmittelalter. Referate zum VI. Internationalen Kongress für Diplomatik München 1983, hg. von GABRIEL SILAGI, 2 Bde. (Münchener Beitr. zur Mediävistik und Renaissance-Fg. 35), München 1984. Daraus besonders der Beitrag von PETER MORAW, Die Entfaltung der deutschen Territorien im 14. und 15. Jahrhundert, Bd. 1, S. 61108, wieder in: SCHWINGES (Hg), König und Reich (Anm. 6), S. 89-126. DIETMAR WILLOWEIT, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, hg. von KURT G. A. JESERICH / HANS POHL / GEORG-CHRISTOPH VON UNRUH, Bd. 1, Stuttgart 1983, S. 66-143, hier S. 109 ff., 126 ff. ERNST SCHUBERT, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter (EdG 35), München 1996, S. 27 ff. PETER MORAW, Conseils princiers en Allemagne au 14ème et au XVème siècle, in: Powerbrokers in the late Middle Ages. The Burgundian Low Countries in a European context, hg. von ROBERT STEIN (Burgundica 4), Turnhout 2001, S. 165-176, wieder in: MORAW, Gesammelte Beiträge (Anm. 4), S. 541-555. WILLOWEIT, Entwicklung (Anm. 16), S. 114 ff. Zur Kurpfalz vgl. CHRISTOPH VON BRANDENSTEIN, Urkundenwesen und Kanzlei, Rat und Regierungssystem des Pfälzer Kurfürsten Ludwig III. (Veröff. des MPI für Gesch. 71), Göttingen 1983, S. 344 ff., 406 und zu

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linksrheinische Herzogtum Brabant dar. Auf die von Frankreich ausgehenden Einflüsse dürfte es zurückzuführen sein, dass der Anteil der graduierten Juristen unter den Mitgliedern des Brabanter Rats, des herzoglichen Gerichtshofes, bereits in den Jahren 1430 bis 1449 bei 40% lag und in der zweiten Jahrhunderthälfte dann auf fast 70% anstieg18. Der weitaus größte Teil der gelehrten Juristen (88%), die bis 1440 in den Dienst der Reichsfürsten traten, gehörte dem geistlichen Stand an. Die mit einer kirchlichen Pfründe verbundenen Einkünfte waren nicht nur die Belohnung für die dem Fürsten geleisteten Dienste; in vielen Fällen stellten sie bereits die materielle Grundlage für das Studium dar, das besonders im Ausland sehr teuer war. Am häufigsten waren die Rechtsgelehrten an den Stiftskirchen bepfründet, deren Anzahl und Ausstattung große regionale Unterschiede aufwies19. Die meisten und mit der größten Pfründenanzahl versehenen Kollegiatstifte lagen in den Gebieten rechts des Rheins und links der Donau, so dass die dort beheimateten Reichsfürsten bei der Einstellung und dem Unterhalt von juristisch-gelehrten Personen gegenüber ihren Kollegen aus den anderen Regionen des Reiches begünstigt waren. 18% der dem geistlichen Stand angehörenden Fürstenjuristen standen im Dienst des Papstes und hatten ein kuriales Amt oder eine kuriale Würde inne20. Am ausge-

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Kursachsen Theodor Distel, Beiträge zur älteren Verfassungsgeschichte des Leipziger Schöppenstuhls, in: ZRG GA 7 (1887), S. 89-115, hier S. 93 f., 110. Die Angaben nach HILDE DE RIDDER-SYMOENS, Milieu social, études universitaires et carrière des conseillers au Conseil de Brabant, 1430-1600, in: Recht en Instellingen in de Oude Nederlanden tijdens de Middeleeuwen en de Nieuwe Tijd. Liber Amicorum Jan Buntinx (Symbolae facultatis litterarum et philosophiae Lovaniensis. Series A 10), Louvain 1981, S. 257-301. Vgl. jetzt auch PHILIPPE GODDING, Le Conseil de Brabant sous le règne de Philippe le Bon (1430-1467) (Academie royale de Belgique, Classe des Lettres 3e Sér., 19), Bruxelles 1999. PETER MORAW, Über Typologie, Chronologie und Geographie der Stiftskirche im deutschen Mittelalter, in: Untersuchungen zu Kloster und Stift (Veröff. des MPI für Gesch. 68. Studien zur Germania Sacra 14), S. 9-37. Wieder in: SCHWINGES (Hg), König und Reich (Anm. 6), S. 151-174. PETER MORAW, Stiftspfründen als Elemente des Bildungswesens im spätmittelalterlichen Reich, in: Studien zum weltlichen Kollegiatstift in Deutschland, hg. v. Irene Crusius (Veröff. des MPI für Gesch. 114. Studien zur Germania Sacra 18), Göttingen 1995, S. 270-297. Vgl. auch CHRISTIAN HESSE, Die Ausbildung der Stiftsgeistlichkeit im spätmittelalterlichen Reich, in: Stiftsschulen in der Region. Wissenstransfer zwischen Kirche und Territorium, hg. von SÖNKE LORENZ / MARTIN KINTZINGER / OLIVER AUGE (Schrswdt.LK 50), Ostfildern 2005, S. 65-81. CHRISTIANE SCHUCHARD, Die Deutschen an der päpstlichen Kurie im späten Mittelalter (1378-1447) (Bibliothek des Dt. Hist. Inst. in Rom, 65), Tübingen 1987, S. 270 ff. DIES., Die päpstlichen Kollektoren im späten Mittelalter (Bibliothek des Dt. Hist. Inst. in Rom 91), Tübingen 2000, S. 161 f., 177 ff. ROBERT GRAMSCH, Kurientätigkeit als „Berufsbild“

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prägtesten (mit einem Anteil von 26%) waren die Beziehungen zur päpstlichen Kurie bei den gelehrten Juristen, die in den Territorien am unteren Niederrhein (Brabant, Luxemburg, Holland/Hennegau/Seeland, Lüttich und Utrecht) begegnen. Besonders hervorzuheben ist, dass die Kurienkontakte hier am stärksten waren, als die Päpste im südfranzösischen Avignon residierten, und dass der erste aus dem Reich stammende Auditor an der päpstlichen Rota21 aus dieser Region kam. Der Anteil der Laien unter den Fürstenjuristen lag im Westen des Reiches bei 19%, im Südwesten, im Süden und in der Mitte bei 13-14%, im Osten und im Norden bei 9-10%. In den Territorien am unteren Niederrhein waren weltliche Juristen nicht nur in verhältnismäßig großer Anzahl, sondern bereits zu einem frühen Zeitpunkt, nämlich seit den zwanziger Jahren des 14. Jahrhunderts, beschäftigt. Dies ist auf den Einfluss des benachbarten Frankreich zurückzuführen, wo dem König schon im 13. Jahrhundert eine beachtliche Anzahl an Laienjuristen diente22. Die gelehrten Juristen, die bis 1440 an den Höfen der Reichsfürsten begegnen, wurden zum überwiegenden Teil regional rekrutiert. Im Normalfall kamen sie aus dem Territorium ihres Dienstherrn, gelegentlich auch aus dem eines benachbarten Fürsten. Vorwiegend in Oberdeutschland trat als soziale Rekrutierungsschicht zunächst der niedere Adel hervor, und zwar besonders derjenige, der eine Nähe zur Stadt aufwies. Erst nach den Universitätsgründungen im Reich, die Söhnen aus dem bürgerlichen Milieu in stärkerem Maße als bisher die Aufnahme eines Rechtsstudiums ermöglichten, stieg dann in den meisten Territorien der Anteil der Bürgerlichen unter den gelehrten Juristen deutlich an. Bei der sozialen Zusammensetzung der im Fürstendienst stehenden Rechtsgelehrten zeigen sich aber auch charakteristische regionale Unterschiede. In den beiden städtisch geprägten Großregionen, dem Westen mit der führenden Städtelandschaft am Niederrhein und dem Norden mit dem Kerngebiet der Hanse23, war der Anteil der bür-

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gelehrter Juristen. Der Beitrag Roms zur Akademisierung Deutschlands im Spätmittelalter. Eine personengeschichtliche Betrachtung, in: QFIAB 80 (2000), S. 117-162. Es handelt sich um Simon de Marville. Vgl. zu ihm MORAW, Juristen im Dienst der Könige (Anm. 4), S. 86. BERNARD GUILLEMAIN, La cour pontificale d’Avignon (1309-1376). Ètude d’une société (Bibliothèque des Écoles Françaises d’Athènes et de Rome 201), Paris 1962, S. 354. Vgl. MORAW, Lebensweg (Anm. 12), S. 238. Hierzu sind die Arbeiten von Klaus Wriedt grundlegend. Vgl. besonders KLAUS WRIEDT, Das gelehrte Personal in der Verwaltung und Diplomatie der Hansestädte, in: HGBll 96

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gerlichen Juristen mit 72% beziehungsweise 71% deutlich höher als in jeder anderen Großregion des Reiches. Besonders hervorzuheben ist, dass in den wirtschaftlich führenden Städten im Nordwesten des Reiches gelehrte Juristen frühzeitig und in ansehnlicher Anzahl beschäftigt waren. In Antwerpen und Löwen waren bereits im 15. Jahrhundert nahezu drei Viertel der höheren städtischen Verwaltungsämter mit graduierten Juristen besetzt; rechtsgelehrte Schöffen traten hier schon 1431 (Erstbeleg Antwerpen) und 1451 (Erstbeleg Löwen) in Erscheinung24. Das Rekrutierungsgebiet für die im Königsdienst stehenden Juristen stellte Oberdeutschland insgesamt dar, in dem sich die deutschen Herrscher im späten Mittelalter am häufigsten aufhielten25. Auf die entwicklungsgeschichtlich begünstigte Lage im Südwesten des Reiches dürfte es zurückzuführen sein, dass Schwaben größere Bedeutung für die Rekrutierung der Königsjuristen zukam als den drei anderen, nördlicher gelegenen königsnahen Landschaften (Franken, Mittelrhein-Untermain-Gebiet, Mittelelbe-Saale-Gebiet). Nur ein geringer Teil der dem König und den Fürsten dienenden Rechtsgelehrten, nämlich 11% beziehungsweise 10%, stammte aus einer Reichsstadt. Fasst man die bisherigen Forschungsergebnisse zu den gelehrten Juristen im Fürstendienst unter geographischen Gesichtspunkten zusammen, so wird man im Anschluss an Peter Johanek und an Peter Moraw drei Rezeptionsbeziehungsweise Juristenlandschaften unterscheiden26: 1. Die niederrheinische Juristenlandschaft, die „modernste“ mit stark französischen Wesenszügen. Sie zeichnet sich aus durch einen hohen Anteil an Legistik, relativ früh einsetzende Laisierung, eher Stadtnähe als Herrennähe, Papstbezug, aber keinen nennenswerten Kontakt zum Königtum. 2. Die oberdeutsche Juri-

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(1978), S. 15-37. DERS., Gelehrte in Gesellschaft, Kirche und Verwaltung norddeutscher Städte, in: SCHWINGES (Hg.), Gelehrte im Reich (Anm. 5), S. 437-452. HILDE DE RIDDER-SYMOENS, Internationalismus versus Nationalismus an Universitäten um 1500 nach zumeist südniederländischen Quellen, in: Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit. Staaten, Regionen, Personenverbände, Christenheit, hg. von FERDINAND SEIBT / WINFRIED EBERHARD, Stuttgart 1987, S. 397-414, hier S. 406. Vgl. auch MORAW, Lebensweg (Anm. 12), S. 250. MORAW, Juristen im Dienst der Könige (Anm. 4), S. 141. PETER MORAW, Über gelehrte Juristen im deutschen Spätmittelalter, in: Medievalia Augiensia. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, hg. von JÜRGEN PETERSOHN (VuF 54), Stuttgart 2001, S. 125-147, hier S. 133 f., wieder in: MORAW, Gesammelte Beiträge (Anm. 4), S. 435-463.

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stenlandschaft, die „zweitmodernste“. Sie ist charakterisiert dadurch, dass das Königtum bevorzugt dort weilte. Lange Zeit war sie kanonistisch bestimmt und sehr kirchlich geprägt sowie auf Italien bezogen. 3. Die niederdeutsche Juristenlandschaft, die „langsamste“ der drei. Sie war königsfern und wies nur wenige Kontakte zu Italien und Frankreich auf.

III. Zu den bereits skizzierten juristischen Wirkungsfeldern trat zu Beginn des 15. Jahrhunderts ein neues hinzu, das sich am besten mit dem Stichwort „Reichspolitik“ erfassen lässt. Gemeint ist die Teilnahme von Fürstenjuristen an Reichsversammlungen, die ab 1470 von der Forschung als Reichstage bezeichnet werden27. Ihre Gesprächspartner waren dort die Beauftragten des Königs und anderer teilnehmender Fürsten sowie die Boten der größeren Reichsstädte und der Freien Städte. In den ersten beiden Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts sind gelehrte Juristen nur in der Begleitung des Königs auf Reichsversammlungen anzutreffen. Erst in den zwanziger und dreißiger Jahren, als die Kurfürsten während der Abwesenheit König Sigmunds stärker als bisher als politisch Handelnde im Reich hervortraten, waren auch in ihrem Auftrag Personen mit juristischer Universitätsausbildung tätig28. Auf den Reichsversammlungen, die 1422 in Nürnberg und 1427 in Frankfurt zur

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Zum Reichstag allgemein vgl. PETER MORAW, Versuch über die Entstehung des Reichstags, in: Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, hg. von HERMANN WEBER (Veröff. des Inst. für Europ. Gesch., Abt. Universalgesch.Beih. 8), Wiesbaden 1980, S. 1-36, wieder in: SCHWINGES (Hg), König und Reich (Anm. 6), S. 207-242. PETER MORAW, Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806, in: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch, hg. von HANS-PETER SCHNEIDER / WOLFGANG ZEH, Berlin, New York 1989, S. 3-47. GABRIELE ANNAS, Hoftag – Gemeiner Tag – Reichstag. Studien zur strukturellen Entwicklung deutscher Reichsversammlungen des späten Mittelalters (1349-1471) (SchrR. der Hist.Komm. bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 68), 2 Bde., Göttingen 2004. MAXIMILIAN LANZINNER / ARNO STROHMEYER (Hg.), Der Reichstag 1486-1613. Kommunikation – Wahrnehmung – Öffentlichkeiten (SchrR. der Hist.Komm. bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 73), Göttingen 2006. Zu den Reichstagsteilnehmern speziell vgl. BETTINA KOCH, Räte auf deutschen Reichsversammlungen. Zur Entwicklung der politischen Funktionselite im 15. Jahrhundert (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Gesch. und ihre Hilfswissenschaften 832), Frankfurt am Main 1999. ANNAS, Hoftag (Anm. 27), Bd. 1, S. 239 ff. KOCH, Räte (Anm. 27), S. 42. MORAW, Juristen im Dienst der Könige (Anm. 4), S. 115 f. DERS., Juristen im Spätmittelalter (Anm. 26), S. 143.

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Vorbereitung eines Feldzugs gegen die Hussiten stattfanden, war der Kurfürst von Mainz erstmals durch gelehrte Juristen vertreten29. Besonderen Anteil hatten die Rechtsgelehrten an den kurfürstlichen Vermittlungsversuchen im Konflikt zwischen dem Papst und dem Basler Konzil. In der Neutralitätserklärung, die von den Kurfürsten auf dem Frankfurter Wahltag im März 1438 abgegeben wurde, werden unter den Zeugen vier im Dienst von Kurmainz, Kurköln, Kurtrier und Kursachsen stehende Juristen genannt30. Zu ihnen gehörten Gregor Heimburg31 und Heinrich Leubing32, die auf der Nürnberger Reichsversammlung im Juli desselben Jahres ein Reichsgesetz über die Reform des Landfriedens und der Gerichte entwarfen. Darin wurde erstmals die Forderung erhoben, das königliche Hofgericht nicht nur mit Rittern, sondern auch mit Gelehrten zu besetzen33.

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An beiden Reichsversammlungen nahm der Lizentiat des Zivilrechts Heinrich von Ehrenfels teil, an der Reichsversammlung in Frankfurt zusätzlich noch der Lizentiat des Kirchenrechts Johannes von Swerte. Vgl. RTA, [Ältere Reihe], Bd.8: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, 2. Abt.: 1421-1426, hg. von DIETER KERLER, Göttingen 21956, Nr. 184, S. 229. RTA, [Ältere Reihe], Bd. 9: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, 3. Abt.: 1427-1431, hg. v. Dieter Kerler, Göttingen 21956, Nr. 70, S. 85. Nr. 80, S. 116. Nr. 100, S. 130. Zu beiden Personen Kurzbiografien bei KOCH, Räte (Anm. 27), S. 168, Nr. 18 und S. 169, Nr. 21. RTA, [Ältere Reihe], Bd. 13: Deutsche Reichstagsakten unter König Albrecht II, 1. Abt.: 1438, hg. von GUSTAV BECKMANN, 2. Aufl. Göttingen 1957, Nr. 130, S. 218. Nach JOHANNES HELMRATH, Das Basler Konzil 1431-1449. Forschungsstand und Probleme (Kölner Historische Abhandlungen 32), Köln Wien 1987, S. 293 ist in der Forschung zwar die Frage nach den Verfassern der Neutralitätserklärung umstritten, nicht jedoch der maßgebliche Anteil der rechtsgelehrten Vertreter der Kurfürsten. In der Zeugenliste werden genannt: die Doktoren des weltlichen Rechts Heinrich Erpel (für Kurköln) und Heinrich Leubing (für Kurmainz) sowie die Doktoren beider Rechte Gregor Heimburg (für Kursachsen) und Hugo Dorre (für Kurtrier). Zu Heinrich Erpel vgl. ALOYS SCHMIDT / HERMANN HEIMPEL, Winand von Steeg (1371-1453), ein mittelrheinischer Gelehrter und Künstler und die Bilderhandschrift über Zollfreiheit auf dem Rhein aus dem Jahr 1426 (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philol.-hist. Klasse Abhandlungen NF 81) München 1977, S. 113. Zu Hugo Dorre vgl. ERICH MEUTHEN, Das Trierer Schisma von 1430 auf dem Basler Konzil. Zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues (Buchreihe der Cusanus-Ges. 1), Münster 1964, S. 3-9 und die Kurzbiografie bei KOCH, Räte (Anm. 27), Nr. 41, S. 177. Zu ihm ALFRED WENDEHORST / GREGOR HEIMBURG, in: Fränkische Lebensbilder, NF 4, Würzburg 1971, S. 112-129 und die Kurzbiografie bei KOCH, Räte (Anm. 27), Nr. 30, S. 172 ff. Zu ihm WILHELM LOOSE / HEINRICH LEUBING. Eine Studie zur Geschichte des fünfzehnten Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Vereins für Gesch. der Stadt Meißen, Bd. 1, H. 2 (1883), S. 34-71 und die Kurzbiografie bei KOCH, Räte (Anm. 27), Nr. 39, S. 176. RTA, [Ältere Reihe], Bd. 13 (Anm. 29), Nr. 223, S. 443 ff.

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Der Herzog von Österreich und der Herzog von Bayern-München waren bereits seit den 1440er Jahren, die meisten anderen weltlichen Herren und einige geistliche Fürsten erst seit den letzten drei Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts durch gelehrte Juristen auf den Reichsversammlungen vertreten. Der Reichstag von Regensburg von 147134 ist nicht nur in quantitativer Hinsicht als eine Wendemarke anzusehen, sondern erstmals wurde auf ihm ein ständischer Ausschuss von vier Fürstenjuristen gebildet. Dieser hatte die Aufgabe, einen Vorschlag zur Vorbereitung und Ausführung eines Türkenfeldzugs zu erarbeiten35. Es gehörten ihm im Einzelnen an: Georg von Hell gen. Pfeffer36, der Kanzler des Erzbischofs von Mainz, Peter Knorre37, der Rat des Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, Lorenz Blumenau38, der Rat des Erzbischofs von Salzburg, und Martin Mair39, der Rat des Herzogs von Bayern-Landshut. Letzter legte bei den folgenden Beratungen über den Landfrieden auf dem Regensburger Reichstag auch einen Plan zur Errichtung von vier Obergerichten in Deutschland vor40. Nach der Dissertation von Bettina Koch lassen sich in den Jahren 1400 bis 1495 138 Personen mit juristischer Universitätsausbildung als „Räte auf deutschen Reichsversammlungen“ nachweisen. Von ihnen können 47 Personen der Kategorie Königsdiener und 91 Personen der Kategorie Fürstendiener zugeordnet werden41. Betrachtet man die im Fürstendienst stehenden Juristen näher, so zeigen sich große regionale Unterschiede. Am augenfälligsten ist die zeitliche Verspätung, mit der die im Norden beheimateten weltlichen Reichsfürsten im Vergleich zu ihren süddeutschen Kollegen rechtsgelehrte Vertreter zu den Reichsversammlungen entsandten. Für Kurbrandenburg nahm erstmals 1486 in Frankfurt, für Hessen und Mecklenburg erstmals 1495 in Worms ein Jurist an einem Reichstag teil. Für Braunschweig,

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KOCH, Räte (Anm. 27), S. 116 ff. MORAW, Juristen im Spätmittelalter (Anm. 26), S. 144. RTA, [Ältere Reihe], Bd. 22,2: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III., 8. Abt., 2. Hälfte, hg. von HELMUT WOLFF, Göttingen 1999, Nr. 118-123, S. 770 ff. Kurzbiografie zu ihm bei KOCH, Räte (Anm. 27), Nr. 80, S. 191. Zu ihm JOHANNES KIST / PETER KNORR, in: Fränkische Lebensbilder, NF 2, Würzburg 1968, S. 159-176 und die Kurzbiografie bei KOCH, Räte (Anm. 27), Nr. 68, S. 186 f. Zu ihm HANSEN, Martin Mair (Anm. 3) und die Kurzbiografie bei KOCH, Räte (Anm. 27), Nr. 74, S. 189. Zu ihm BOOCKMANN, Laurentius Blumenau (Anm. 3) und die Kurzbiografie bei KOCH, Räte (Anm. 27), Nr. 85, S. 193. RTA, [Ältere Reihe], Bd. 22,2 (Anm. 34), Nr. 124-127, S. 820 ff. Nach dem Personenkatalog bei KOCH, Räte (Anm. 27), S. 163-216. Zur Unterscheidung der Kategorien Königsdiener und Fürstendiener vgl. DIES., Räte (Anm. 27), S. 36.

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Pommern, Holstein und Sachsen-Lauenburg fehlen entsprechende Belege bis 1495 gänzlich. Hinzu kommt, dass der Kurfürst von Brandenburg und über ihn auch der Herzog von Mecklenburg anfangs noch aus der Markgrafschaft Ansbach-Kulmbach mit geeigneten juristischen Fachleuten versorgt wurde42. Mit diesem Befund ist es zu erklären, dass die Region nördlich einer Linie Münster-Halle für die Rekrutierung der in der Reichspolitik hervortretenden Fürstenjuristen ohne Belang blieb43. Im Vergleich zu den ersten an den Fürstenhöfen erscheinenden Rechtsgelehrten wiesen die im 15. Jahrhundert zu den Reichsversammlungen entsandten Juristen bereits ein höheres Maß an Herrenwechsel und damit auch eine größere geographische Mobilität auf. Analysiert man die von ihnen zurückgelegten beruflichen Stationen, dann lassen sich nach Bettina Koch vier regionale „Arbeitsmärkte“ eingrenzen: 1. ein mittelrheinischer mit den geistlichen Kurfürstentümern Mainz, Köln und Trier sowie der Kurpfalz; 2. ein nordwestlicher mit Stadt und Universität Köln als Mittelpunkt sowie den Herzogtümern Kleve, Jülich-Berg, Geldern und den Bistümern Lüttich und Münster; 3. ein fränkischer, dem neben der Reichsstadt Nürnberg die Markgrafschaft Ansbach-Kulmbach sowie die Bistümer Würzburg und Bamberg angehörten und 4. ein süddeutscher, der aus den bayerischen Herzogtümern sowie den Fürstentümern Württemberg und Baden bestand44. Der geographische Schwerpunkt der „Arbeitsmärkte“ lag eindeutig in der oberdeutschen Juristenlandschaft, die jedoch nur die „zweitmodernste“ im Reich war. Die niederrheinische, die am weitesten entwickelte Juristenlandschaft wurde von den „Arbeitsmärkten“ nur am Rand und die niederdeutsche, die am wenigsten entwickelte überhaupt nicht erfasst. Die Zahl der Fürstenjuristen, die in ihrer beruflichen Karriere die Grenzen eines regionalen „Arbeitsmarktes“ weit überschritten, blieb im 15. Jahrhundert noch sehr klein. Zu ihnen gehörten die politisch erfolgreichsten Juristen, unter anderem Gregor Heimburg und Martin Mair. Die Dienstherren, die das größte Interesse an der Beschäftigung ausgesprochener Karrie-

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KOCH, Räte (Anm. 27), S. 119. Vgl. hierzu auch KLAUS WRIEDT, Universitätsbesucher und graduierte Amtsträger zwischen Nord- und Süddeutschland, in: Nord und Süd in der deutschen Geschichte des Mittelalters, hg. von WERNER PARAVICINI (Kieler Studien 34), Sigmaringen 1990, S. 193-201, hier S. 199. INGRID MÄNNL, Die Vertretung Kurbrandenburgs bei den Reichstagen von 1487 bis 1555, in: Aus der Arbeit des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, hg. von JÜRGEN KLOOSTERHUIS (Veröff. aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz. Arbeitsberichte 1), Berlin 1996, S. 17-46, hier S. 37 ff. KOCH, Räte (Anm. 27), S. 43. KOCH, Räte (Anm. 27), S. 46-49.

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rejuristen hatten, sind wiederum in Oberdeutschland zu finden, nämlich die Stadt Nürnberg, der Erzbischof von Mainz und die bayerischen Herzöge45. Bei den rechtsgelehrten Gesandten zeigt sich auch der Wandel, der sich in der Entwicklung der im Fürstendienst stehenden Juristen im Verlauf des 15. Jahrhunderts vollzogen hat46. Im ersten Drittel des Jahrhunderts überwogen beim Erwerb der akademischen Grade die Abschlüsse im Kirchenrecht, um die Jahrhundertmitte die Promotionen in beiden Rechten und im letzten Drittel des Jahrhunderts die legistischen Abschlüsse. Dieser Wandel ist sowohl in Verbindung zu sehen mit einer verstärkten Errichtung von legistischen Lehrstühlen an den bisherigen Universitäten im Reich als auch mit den im letzten Jahrhundertdrittel erfolgten Neugründungen, wie den Universitäten Ingolstadt (1472) und Tübingen (1477), an denen die Legistik von Anfang an eine große Rolle spielte47. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts begegnen unter den Fürstenjuristen zunehmend Laien oder auch verheiratete Kleriker. Der weltliche Stand der Rechtsgelehrten begünstigte ihre geographische Mobilität und führte zur Ausbildung von ersten Juristenfamilien. Bei den gelehrten Juristen, die von den Fürsten zum Reichstag gesandt wurden, überwog die Herkunft aus dem (reichs-)städtischen Patriziat eindeutig gegenüber einer landadeligen Abstammung. Im letzten Drittel des Jahrhunderts sind unter ihnen mehrere Personen anzutreffen, die bereits als Beisitzer an einem territorialen Hofgericht tätig waren. Die meisten Tätigkeitsbelege stammen aus der Kurpfalz, Bayern und Württemberg48.

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KOCH, Räte (Anm. 27), S. 49-51. Vgl. hierzu auch FRIEDRICH ELLINGER, Die Juristen der Reichsstadt Nürnberg vom 15. bis 17. Jahrhundert, in: Reichsstadt Nürnberg, Altdorf und Hersbruck (Freie Schriftenfolge der Ges. für Familienforschung in Franken 6), Nürnberg 1954, S. 130-222, bes. S. 196 ff. KOCH, Räte (Anm. 27), S. 119-121. MORAW, Juristen im Spätmittelalter (Anm. 26), S. 144. WERNER KUHN, Die Studenten der Universität Tübingen zwischen 1477 und 1534. Ihr Studium und ihre spätere Lebensstellung (Göppinger akademische Beitr. 37, 38), Göppingen 1971, bes. S. 75 ff. HELMUT WOLFF, Geschichte der Ingolstädter Juristenfakultät 1472-1625 (Ludovico Maximilianea. Fg. 5), Berlin 1973, bes. S. 191 ff. Es handelt sich im Einzelnen um folgende Personen: die Doktoren beider Rechte Georg Ehinger, Johann Löffelholz, Johannes Reuchlin, die Doktoren des weltlichen Rechts Bernhard Schöfferlin, Petrus Antonius de Clapis, Dietrich von Plieningen, den Dr. des Kirchenrechts Otto Spiegel und den Liz. des weltlichen Rechts Georg Eisenreich. Vgl. zu ihnen die Kurzbiographien bei KOCH, Räte (Anm. 27), Nr. 96, 99, 102, S. 197-200. Nr. 109, 113, 117, S. 203-206. Nr. 126, S. 209 f. Nr. 136, S. 215. Vgl. hierzu auch HEINZ LIEBERICH, Baierische Hofgerichtsprotokolle des 15. Jahrhunderts, in: Jb. für fränkische LandesFg. 36 (1976), S. 7-22, bes. S. 11-14. SIEGFRIED FREY, Das württembergische Hofgericht (1460-1618) (Veröff. der Komm. für geschichtliche LK in Baden-Württemberg, Reihe B: Fg. 113), Stuttgart 1989, bes. S. 105 ff.

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Am königlichen Kammergericht, das der persönlichen Rechtsprechung des Königs sehr nahe stand und im Unterschied zum älteren Hofgericht nicht an das traditionelle Rechtsverfahren gebunden war, begegnen gelehrte Juristen seit Beginn der Regierungszeit Friedrichs III. als Beisitzer49. Unter den insgesamt 350 Personen, die während seiner 53jährigen Regierungszeit als Beisitzer belegt sind, befanden sich 100 Personen mit juristischer Universitätsausbildung50. Anfangs wurden die als Beisitzer tätigen Juristen überwiegend dem königlichen Rat entnommen, so dass ihre Herkunftsorte außerhalb der österreichischen Hausmachtterritorien am häufigsten in den königsnahen Landschaften Schwaben und Franken lagen. Dies änderte sich, als das Kammergericht ähnlich wie die Reichshofkanzlei aus fiskalischen Gründen von 1461 bis 1470 an den Bischof von Passau und von 1471 bis 1475 an den Erzbischof von Mainz verpachtet wurde. Die Pächter besetzten die Beisitzerstellen überwiegend mit ihren eigenen Gefolgsleuten. In dem Urteilsbuch des Kammergerichts aus den Jahren 1471 bis 1475 werden als

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BERNHARD DIESTELKAMP, Vom Königlichen Hofgericht zum Reichskammergericht. Betrachtungen zu Kontinuität und Wandel der höchsten Gerichtsbarkeit am Übergang zur frühen Neuzeit, in: Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Studien zu Grundbegriffen der germanistischen Rechtshistorie. Symposion für Adalbert Erler, hg. von BERNHARD DIESTELKAMP / GERHARD DILCHER, Berlin 1986, S. 44-64, wieder in: BERNHARD DIESTELKAMP, Recht und Gericht im Heiligen Römischen Reich (Studien zur europ. R.Gesch. 122), Frankfurt am Main 1999, S.185-211. FRIEDRICH BATTENBERG, Eine Darmstädter Handschrift der Kammergerichtsordnung Kaiser Friedrichs II. von 1471, in: Archiv für hessische Gesch. NF 36 (1978), S. 37-62. DERS., Von der Hofgerichtsordnung König Ruprechts 1409 zur Kammergerichtsordnung Kaiser Friedrichs III. von 1471, in: FRIEDRICH BATTENBERG, Beiträge zur höchsten Gerichtsbarkeit im Reich im 15. Jahrhundert (QFHG 11), Köln Wien 1981, S. 21-81. CHRISTINE REINLE, Zur Gerichtspraxis Kaiser Friedrichs III., in: Kaiser Friedrich III. in seiner Zeit, hg. von PAUL-JOACHIM HEINIG (Fg. zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters, Beih. zu J. F. BÖHMER, Regesta Imperii 12), Köln Weimar Wien 1993, S. 317-353. PAUL-JOACHIM HEINIG, Kaiser Friedrich III. (1440-1493). Hof, Regierung und Politik, 3 Teile (Fg. zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters, Beih. zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 17), Köln Weimar Wien 1997, S. 95-141. JULIA MAURER, Das Königsgericht und sein Wirken von 1451 bis 1493, in: Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451-1527), hg. von BERNHARD DIESTELKAMP (QFHG 45), Köln Weimar Wien 2003. Die Protokoll- und Urteilsbücher des Königlichen Kammergerichts aus den Jahren 1465 bis 1480. Mit Vaganten und Ergänzungen, hg. von FRIEDRICH BATTENBERG / BERNHARD DIESTELKAMP, 3 Bde (QFHG 44), Köln Weimar Wien 2004. MORAW, Juristen im Dienst der Könige (Anm. 4), S. 131-138. MORAW, Juristen im Spätmittelalter (Anm. 26), S. 144. HEINIG, Juristen (Anm. 4), S. 179-182. Die Liste der Beisitzer bei HEINIG, Friedrich III. Hof (Anm. 49), S. 1426-1436 folgt der älteren Arbeit von JOHANN LECHNER, Reichshofgericht und königliches Kammergericht im 15. Jahrhundert, in: MIÖG Ergänzungsbd. 7 (1907), S. 44-185.

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Beisitzer mehrheitlich im Dienst des Erzbischofs von Mainz stehende gelehrte Juristen genannt, die aus dem Bereich des Mainzer Erzstifts, aus dem Mittelrhein-Main-Gebiet sowie aus Franken und aus Thüringen kamen51. Als nach dem Ende der Pachtzeit die Kammerrichter vom Kaiser wieder ad hoc ernannt wurden, blieb bei den rechtsgelehrten Beisitzern im Unterschied zu den ritterlichen prinzipiell ein fester Personenstamm bestehen. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass dem Kaiser politisch nahestehende Kurfürsten und Fürsten nun zur längerfristigen Abordnung von rechtsgelehrten Beisitzern aufgefordert und am kaiserlichen Hof weilende Fürstenjuristen als Urteiler am Kammergericht herangezogen wurden52. In den letzten Regierungsjahren Friedrichs III. stammte die Mehrzahl der aus dem Binnenreich kommenden Beisitzer mit juristischer Universitätsausbildung aus Schwaben, Bayern, Franken und vom Mittelrhein. Die Anzahl der Beisitzer, die vom Niederrhein, der „modernsten“ Juristenlandschaft, kamen, blieb dagegen ebenso gering wie die Anzahl derer, die aus Niederdeutschland, der am weitesten zurückgebliebenen Juristenlandschaft, stammten.

IV. Kehren wir zum Schluss noch einmal zu dem Geschehen auf dem Reichstag zu Worms 1495 zurück und fragen nach den personalen Kontinuitäten, die bei den gelehrten Juristen vom Reichstag und dem königlichen Kammerge-

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BATTENBERG / DIESTELKAMP, Protokoll- und Urteilsbücher (Anm. 49), S. 55. Es handelt sich im Einzelnen um folgende Personen: den Dr. des weltlichen Rechts Anselm von Eyb aus Franken, den Dr. beider Rechte Martin Heiden, ebenfalls aus Franken, den Dr. des Kirchenrechts Berthold Gutlieb von Lorch im Rheingau, den Dr. beider Rechte Georg von Hell, gen. Pfeffer aus Römhild im hennebergischen Franken, den Dr. des Kirchenrechts Bernhard Groß aus Megersheim in Hessen und den Dr. des Kirchenrechts und Wiener Rechtslehrer Georg Steyregger. Vgl. zu ihnen die Kurzbiographien S. 1612 f., 1635, 1642, 1645, 1689, 1777. Zur abweichenden Nennung der Beisitzer in der von Battenberg edierten Handschrift zur Kammergerichtsordnung von 1471 vgl. HEINIG, Friedrich III. Hof (Anm. 49), S. 108. Vgl. hierzu die bei HEINIG, Friedrich III. Hof (Anm. 49), S. 110 angeführten Einzelbeispiele sowie RUDOLF SMEND, Das Reichskammergericht , T. 1: Geschichte und Verfassung, Weimar 1911, S. 38 f.

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richt zum Reichskammergericht führten53. Unter den rechtsgelehrten Assessoren des Reichskammergerichts begegnen vier Personen, die bereits zuvor als Gesandte von Fürsten an Reichstagen teilnahmen. Zwei von ihnen, die Doktoren des weltlichen Rechts Dietrich von Plieningen54 und Bernhard Schöfferlin55, waren auch Beisitzer des königlichen Kammergerichts gewesen. Ersterer stand im Dienst des pfälzischen Kurfürsten, Letzter im Dienst des Herzogs von Württemberg. Beide gehörten sie der oberdeutschen Juristenlandschaft an wie auch der Doktor beider Rechte Johann Löffelholz56, der als Gesandter des Herzogs von Bayern-München am Reichstag teilnahm. Alle drei Juristen hatten bereits als Beisitzer an den territorialen Hofgerichten gewirkt, bevor sie als Assessoren an das Reichskammergericht gingen. Die vierte Person, der Doktor des weltlichen Rechts Wilhelm Lüninck57, kam aus der niederrheinischen Juristenlandschaft; er war zuvor Kanzler im Herzogtum Jülich-Berg.

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PETER MORAW, Rechtspflege und Reichsverfassung im 15. und 16. Jahrhundert (SchrRGesRKGForsch 10), Wetzlar 1990, S. 14 sah „die personengeschichtliche Analyse des Geschehens bei den Anfängen des neuen Kammergerichts und des Reichshofrats um 1500“ als „eine der wichtigsten kommenden Aufgaben der Forschung“ an. Auf die personale Kontinuität zwischen den rechtsgelehrten Beisitzern des königlichen Kammergerichts und den von der Wormser Reichsversammlung 1495 vorgeschlagenen Assessoren des Reichskammergerichts machte er bereits selbst aufmerksam. Vgl. dazu MORAW, Juristen im Dienst der Könige (Anm. 4), S. 139, Anm. 217 sowie die Vorschlagsliste in RTA, Mittlere Reihe, Bd. V, I,1 (Anm. 1), Nr. 351, S. 438 ff. Es handelt sich im Einzelnen um folgende Personen: die Doktoren beider Rechte Georg Pfeffer, Marquard Breisacher, Hans Heinrich Vogt, Martin Heiden und Johann Pirckheimer, den Dr. des Zivilrechts Bernhard Schöfferlin, den Dr. des Kirchenrechts Konrad Stürtzel sowie den Liz. des Kirchenrechts Hans Bock. Vgl. zu ihnen MORAW, Juristen im Dienst der Könige (Anm. 4), S. 126, 131 -135, 137 sowie die Kurzbiographien bei KOCH, Räte (Anm. 27), Nr. 77, S. 190. Nr. 78-80, S. 191. Nr. 81, S. 192. Nr. 99, S. 198 f. Nr. 105, S. 201. Nr. 115, S. 204 f. Nr. 130, S. 212. Die genannten Juristen sind ausnahmslos der oberdeutschen Juristenlandschaft zuzuordnen; sie standen im Dienst des Kaisers, des Erzbischofs von Mainz, weltlicher süddeutscher Reichsfürsten (Bayern, Württemberg, Baden, Tirol) und der Stadt Nürnberg. Zu ihm FRANZISKA GRÄFIN ADELMANN / DIETRICH VON PLIENINGEN. Humanist und Staatsmann (SchrR. zur bayerischen LGesch. 68), München 1981 und die Kurzbiographie bei KOCH, Räte (Anm. 27), Nr. 126, S. 209 f. Zu ihm WALTHER LUDWIG, Bernhard Schöfferlin, in: NDB 23, S. 360 f. und die Kurzbiografie bei KOCH, Räte (Anm. 27), Nr. 99, S. 198 f. Kurzbiografie zu ihm bei KOCH, Räte (Anm. 27), Nr. 113, S. 204. Zu ihm EMIL DÖSSELER, Die jülich-bergische Kanzlerfamilie Lüninck, in: Düsseldorfer Jb. 45 (1951), S. 150-184 und die Kurzbiografie bei KOCH, Räte (Anm. 27), Nr. 129, S. 211 f.

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Welche Bedeutung den drei spätmittelalterlichen Juristenlandschaften mit ihrem jeweils unterschiedlichen Entwicklungsstand und ihren jeweils eigenen Wesenszügen für das Reichskammergericht im Einzelnen zukommt, wird man erst dann abschließend beurteilen können, wenn das Kameralpersonal58 in ähnlicher Weise, wie es Sigrid Jahns59 bereits für die Assessoren von 1648 bis 1806 getan hat, auch für die Anfangsphase des Reichskammergerichts näher prosopographisch untersucht worden ist60.

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Auf die personale Kontinuität, die bei den Prokuratoren zwischen dem königlichen Kammergericht und dem Reichskammergericht bestand, wies bereits Anette Baumann hin. Vgl. ANETTE BAUMANN, Die Prokuratoren am Reichskammergericht in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens, in: DIESTELKAMP, Reichskammergericht. Weg zu seiner Gründung (Anm. 49), S. 161-196, hier S. 165-172 zu den Prokuratoren Dr. Valentin von Türkheim, Dr. Georg Schrötel, „Meister“ Peter Gamp, Dr. Johann Engellender und Liz. Christoph Hitzhofer. SIGRID JAHNS, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, T. 2: Biographien, 2 Bde. (QFHG 26), Köln Weimar Wien 2003. Für den Zeitraum 1495 bis 1648 vgl. besonders ihre folgenden Einzelstudien: DIES., Juristenkarrieren in der Frühen Neuzeit, in: BDLG 131 (1995), S. 113134, hier S. 119-128. DIES., Durchgangsposten oder Lebensstellung? Das Kammergerichtsassessorat in den Karriereverläufen frühneuzeitlicher Juristen, in: Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, hg. von FRIEDRICH BATTENBERG / FILIPPO RANIERI, Weimar, Köln, Wien 1994, S. 271309, hier S. 274-283. Hierzu bereits HEINZ DUCHHARDT, Die kurmainzischen Reichskammergerichtsassessoren, in: ZRG GA 94 (1977), S. 89-128. BERNHARD RUTHMANN, Das richterliche Personal am Reichskammergericht und seine politischen Verbindungen um 1600, in: Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis, hg. von WOLFGANG SELLERT (QFHG 34), Köln Weimar Wien 1999, S. 1-26. Auf weitere rechtsgelehrte Assessoren, die im 16. Jahrhundert wieder in den Dienst von Landesherren oder Städten zurückkehrten, machte bereits Bernhard Diestelkamp aufmerksam. Vgl. DERS., Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, in: Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, hg. von HANS-JÜRGEN BECKER / GERHARD DILCHER, Aalen 1976, S. 435-480, hier S. 452 f., wieder in: DIESTELKAMP / DILCHER, Recht und Gericht (Anm. 49), S. 213-262. Die zwischen 1495 und 1648 als Reichskammergerichtsassessoren amtierenden Juristen waren häufig auch als Reichstagsgesandte tätig. Vgl. dazu ARMIN KOHNLE, Die Reichstagsgesandten der Fürsten. Projekt einer Prosopographie, in: Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich, hg. von ANETTE BAUMANN u. a. (QFHG 46), Köln Weimar Wien 2003, S. 335-341 sowie den Beitrag von MAXIMILIAN LANZINNER, Juristen unter den Gesandten der Reichstage in diesem Bd.

MAXIMILIAN LANZINNER

Juristen unter den Gesandten der Reichstage 1486-1654

I. Der Forschungsstand zum Wirken der Juristen bei den Reichstagen 14861654 erlaubt nur eine erste Annäherung, da die graduierten Juristen als Funktionselite im Reichsverband nie systematisch untersucht wurden. Wir wissen nur, dass Juristen, also Doktoren oder Lizentiaten der Rechte, zu Versammlungen des Reichs und der Reichskreise kamen und dass ihre Zahl im Lauf des 16. Jahrhunderts zunahm. In einigen Biographien zu Fürstenberatern erfahren wir, wann ein Jurist solche Versammlungen besuchte und was er dort zu erledigen hatte.1 Neuerdings wurden die Redekultur (Orato-

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MANFRED MAYER, Leben, kleinere Werke und Briefwechsel des Dr. Wiguleus Hundt. Ein Beitrag zur Geschichte Bayerns im 16. Jahrhundert, Innsbruck 1892. FRIEDRICH HERMANN SCHUBERT, Ludwig Camerarius (1573-1651). Eine Biographie (Münchener hist. Studien, Abt. Neuere Gesch. 1), Kallmünz 1955. EDELGARD METZGER, Leonhard von Eck (1480-1550). Wegbereiter und Begründer des frühabsolutistischen Bayern, München 1980. SABINE SCHUMANN, Joachim Mynsinger von Frundeck (1514-1588). Herzoglicher Kanzler in Wolfenbüttel, Rechtsgelehrter, Humanist. Zur Biographie eines Juristen im 16. Jahrhundert (Wolfenbütteler Fg. 23), Wiesbaden 1983. FOLKERT POSTMA, Viglius van Aytta als humanist en diplomaat (1507-1549), Zutphen 1983. KARL VON KEMPIS, Andreas Gaill (1526-1587). Zum Leben und Werk eines Juristen der frühen Neuzeit (RhistR 65), Frankfurt a. M. u. a. 1988. MARIA BARBARA RÖSSNER, Konrad Braun (ca. 1495-1563). Ein katholischer Jurist, Politiker, Kontroverstheologe und Kirchenreformer im konfessionellen Zeitalter (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 130), Münster i. W. 1991. MAXIMILIAN LANZINNER, Johann Georg von Herwarth d. Ä. (1553-1622). Territorialpolitik, späthumanistische Gelehrsamkeit und sozialer Aufstieg, in: Archiv für Kulturgesch. 75 (1993), S. 301-334. AXEL GOTTHARD, Benjamin Bouwinghausen. Wie bekommen wir die „Männer im zweiten Glied“ in den Griff?, in: Persönlichkeit und Geschichte, hg. von HELMUT ALTRICHTER (Erlanger Studien zur Gesch. 3), Erlangen 1997, S. 69-104. ANDREAS EDEL, Johann Baptist Weber (1526-1584). Zum Lebensweg eines gelehrten Juristen und Spitzenbeamten im 16. Jahrhundert, in: MÖSTA 45 (1997), S. 111-185. MAXIMILIAN LANZINNER, IUD Wilhelm Jocher 1565-1636. Geheimer Rat und „Kronjurist“ Kurfürst Maximilians I. von Bayern, in: Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit, hg. von MICHAEL KAISER, ANDREAS PEČAR (ZHF Beih. 32), Berlin 2003, S. 177-196. ANJA MEUSSER, Für Kaiser und Reich. Politische Kommunikation in der frühen Neuzeit. Johann Ulrich Zasius (1521-1570) als Rat und Gesandter der Kaiser Ferdinand I. und Maximilian II., Husum

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rik) und die Streitkultur (Ars disputandi) frühneuzeitlicher Gesandter zum Forschungsgegenstand und damit der rhetorische Wirkungskreis humanistisch gebildeter Juristen bei Reichstagen bzw. beim Westfälischen Friedenskongress.2 Nur wenige Studien behandelten eine einzelne Gesandtschaft, die einen Reichstag besuchte.3 Keine Untersuchung hat jedoch bislang nach Beteiligung und Einfluss der Juristen bei den Reichstagen vor 1663 gefragt. Eine Antwort würde zunächst voraussetzen, dass wir Zahl und Anteil der Juristen unter den Reichstagsgesandten kennen. Dies ist nicht der Fall. Auch wurden weitere, nahe liegende Fragen noch nicht gestellt: Wie beteiligten sich die Juristen am Inszenieren, Verhandeln und Entscheiden bei Reichstagen? Inwieweit lassen sie sich in ihrem Handeln und in ihren Auffassungen als Gruppe, als Einheit fassen? Welche Folgen hatte ihr Wirken für das Reich als staatlicher Verband? Bekanntlich galten die Juristen, die Doktoren beider Rechte, den Zeitgenossen als die Experten für Recht, Politik und Staat schlechthin. Sie teilten als humanistisch Gebildete gemeinsame Wissens- und Wertbestände, als Rechtsgelehrte in fürstlichen Ratsgremien gemeinsame Politik- und Weltbilder. Als „Gelehrte Räte“ an Fürstenhöfen waren sie mit ähnlichen Proble-

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2004. INGMAR AHL, Humanistische Politik zwischen Reformation und Gegenreformation. Der Fürstenspiegel des Jakob Omphalius (Frankfurter Historische Studien 44), Stuttgart 2004. JÖRG FEUCHTER / JOHANNES HELMRATH (Hg.), Politische Redekultur in der Vormoderne. Die Oratorik europäischer Parlamente in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Eigene und fremde Welten. Repräsentationen sozialer Ordnung im Vergleich, 9, Frankfurt New York 2008 (mit Lit.). PETER ARNOLD HEUSER, Ars disputandi. Kunst und Kultur des Streitens frühneuzeitlicher Diplomaten als Aufgabenfeld einer historischen Friedens- und Konfliktforschung. Prolegomena am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses 1643-1649, in: Streitkultur. Okzidentale Traditionen des Streitens in Literatur, Geschichte und Kunst, hg. von UWE BAUMANN / ARNOLD BECKER / ASTRID STEINER-WEBER (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike 2), Göttingen 2008, S. 265-315. WINFRIED SCHULZE, Das Haus Österreich auf den Reichstagen des späten 16. Jahrhunderts, in: ZHF 2 (1975), S. 43-58. INGRID MÄNNL, Die Vertretung Kurbrandenburgs bei den Reichstagen von 1487-1555, in: Aus der Arbeit des Geheimen Staatsarchivs, hg. von JÜRGEN KLOOSTERHUIS, Berlin 1996, S. 17-46. MAXIMILIAN LANZINNER, Warten auf den Reichstag. Lebenswelt und politische Kommunikation des hessischen Gesandten Dr. David Lauck im Jahr 1582, in: Plus ultra. Die Welt der Neuzeit. Festschrift für Alfred Kohler zum 65. Geburtstag, hg. von FRIEDRICH EDELMAYER / MARTINA FUCHS / GEORG HEILINGSETZER / PETER RAUSCHER , Münster 2008, S. 163-190. Einschlägige Informationen auch in: ROSEMARIE AULINGER, Das Bild des Reichstages im 16. Jahrhundert. Beiträge zu einer typologischen Analyse schriftlicher und bildlicher Quellen (SchrR. der Hist.Komm. bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 18), Göttingen 1980.

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men des Regierens konfrontiert und lebten in einem vergleichbaren sozialen Milieu. Sie konkurrierten am Hof und im Rat mit Adligen, aber stiegen auch selbst in Adelsränge auf. Zahlreiche Studien belegen ihre Bedeutung für die frühmoderne Staatsbildung; Wolfgang Reinhard sprach sogar von welthistorischer Bedeutung.4 Immer noch ist freilich zu wenig erkannt, dass gerade die Gelehrten Räte am Beginn der Neuzeit nicht nur politisch, sondern auch kulturell den Weg wiesen, indem sie humanistische Gelehrsamkeit und die Kunst der Renaissance an den Höfen heimisch machten. Damit begründeten sie die Verflechtung von Wissen, Kunst und Macht, die mit ihrer eigenen Dynamik die europäische Kultur in der gesamten Frühen Neuzeit formte. Diese Gelehrten Räte, also die Juristen aus den fürstlichen Ratskollegien, trafen im Reich fortgesetzt außerhalb ihrer Höfe zusammen, wenn sie als Gesandte reisten, wenn sie ihre Herren zu Fürstentagen begleiteten oder wenn sie in interständischen Münz-, Grenz- oder Gerichtskommissionen zu arbeiten hatten. Bei keiner Gelegenheit freilich versammelten sie sich in solcher Anzahl und für einen so langen Zeitraum wie bei Reichstagen.5 Dort hatten sie als Gesandte zwar Aufgaben auszuführen, die auf den jeweiligen Reichsstand und seine Interessen zugeschnitten waren. Aber sind sie auch als Gruppe oder als Typus zu fassen? In welchem Maß formten die Gelehrten Räte das Verfahren oder die Sprache des Verhandelns? Evident ist, dass sie die rechtlichen Normen ausarbeiteten und vereinbarten. Aber entschieden hier nur die Juristen oder genauso adlige Räte und Fürsten? Offenkundig veränderten sich formale Gestaltung, Anerkennung und Vollzug des Reichsrechts zwischen 1486 und 1654, was systematisch weder rechtsgeschichtlich noch allgemeinhistorisch untersucht ist. Welchen Anteil

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WOLFGANG REINHARD, Frühmoderner Staat – moderner Staat, in: Die Entstehung des modernen Europa, 1600-1900, hg. von OLAF MÖRKE / MICHAEL NORTH (Wirtschaftsund sozialhistorische Studien 7), Köln Weimar Wien 1998, S. 1-9. DERS., Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999 (22000). S. auch ROMAN SCHNUR (Hg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, Berlin 1986. ANETTE BAUMANN / PETER OESTMAN / STEPHAN WENDEHORST / SIEGRID WESTPHAL (Hg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich (QFHG 46), Köln Weimar Wien 2003. Zuletzt erschienen folgende Bde. in den Deutschen Reichstagsakten, Mittlere Reihe: DIETMAR HEIL (Bearb.), Der Reichstag zu Köln 1505 (Bd. 8, 2 Teilbde.), München 2008. REINHARD SEYBOTH (Bearb.), Reichsversammlungen 1491-1493 (Bd. 4, 2 Teilbde.), München 2008. Jüngere Reihe: URSULA MACHOCZEK (Bearb.), Der Reichstag zu Augsburg 1547/48 (Bd. 18, 3 Teilbde.), München 2006. Reichsversammlungen 1556-1662: JOSEF LEEB (Bearb.), Der Reichstag zu Augsburg 1582 (2 Teilbde.), München 2007.

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hatten die Juristen bei der Gestaltung des Reichsrechts? Zu übersehen ist er nicht. Denn die rechtliche Vereinbarung hielt das Reich zusammen, auch der politische Wille und der Konsens, aber nicht die Macht und die Zwangsmittel eines Vollstreckungsstaats. War der Reichsverband demnach vorrangig ein Ergebnis „juristischer“ Gestaltung von Politik, weil ihn die Juristen maßgebend gestalteten? Weiter: Es ist zu beobachten, dass die Gelehrten Räte gerade Reichsversammlungen für einen ständigen Politikausgleich und Wissenstransfer innerhalb des Reichs nutzten. Auch dieser Prozess wurde bislang nicht systematisch analysiert. Gegenwärtig kennen wir nur aus wenigen Biographien die Laufbahn- und Bildungsprofile einzelner Juristen, wobei sich Gemeinsamkeiten im Politikverständnis und in den Werthaltungen abzeichnen. Welche Dynamiken erzeugten solche Gemeinsamkeiten im großen Reichstags-Theatrum und im kleinen Beratungsgang? Im Rahmen der vorliegenden Studie ist ein derart weites Feld von Fragen nicht zu bearbeiten. Möglich sind erste Quantifizierungen, die den Anteil der Juristen unter den Gesandten annähernd bestimmen. Vor allem aber wird anhand von Beispielen das Wirken der Gelehrten Räte bei Reichstagen erschlossen, und zwar nach Funktionsbereichen. Die heutige Forschung erkennt im Wesentlichen drei Funktionsbereiche auf drei kommunikativen Ebenen: Erstens war der Reichstag ein Forum formeller, reglementierter Verhandlungen zu Belangen des Reichs und Forum der Entscheidungsfindung; so wurde er seit jeher verstanden. Zweitens, das wird in seiner Bedeutung erst neuerdings erkannt, war er das Ereignis, bei dem die Reichsstände und ihre Gesandten informell Kontakte anknüpfen und erneuern konnten – so intensiv und extensiv wie sonst nicht. Dabei wurden z. B. Konflikte entschärft, Anliegen bekannt gemacht, Bekanntschaften geschlossen oder Freundschaften erneuert, vor allem aber Erwartungen, Überzeugungen und Wissen ausgetauscht.6 Drittens machte der Reichstag den Reichsverband überhaupt erst sichtbar, sinnlich erfahrbar. Im Entrée von Kaiser und Fürsten, im Kirchgang der Teilnehmenden, bei der Verlesung der Proposition, kurzum: bei den Ritualen und Inszenierungen wurde die Ordnung des Reichs nicht nur abgebildet, sondern auch hergestellt. Diese performative 6

HEINRICH LUTZ (Hg.), Aus der Arbeit an den Reichstagen unter Kaiser Karl V. (SchrR. der Hist.Komm. bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 26), Göttingen 1986. ALFRED KOHLER / HEINRICH LUTZ (Hg.), Alltag im 16. Jahrhundert. Studien zu Lebensformen in mitteleuropäischen Städten (Wiener Beitr. zur Gesch. der NZ 14), München 1987. MAXIMILIAN LANZINNER / ARNO STROHMEYER (Hg.), Der Reichstag (1486-1613). Kommunikation – Wahrnehmung – Öffentlichkeiten (SchrR. der Hist.Komm. bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 72), Göttingen 2006.

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und symbolische Dimension des Reichstags ist ein aktuelles Forschungsfeld.7 Die nachfolgenden Bemerkungen zum Einfluss der Juristen und ihrer Rolle bei Reichstagen beziehen sich auf diese Dreiteilung: formelles Verhandeln, informelle Kontakte, wahrnehmbare Konstituierung des Reichsverbands. Jedoch beschränke ich mich hinsichtlich der Belege und Präzisierungen überwiegend auf den Reichstag 1566. Verallgemeinerungen würden voraussetzen, dass diachron für alle Reichstage die veröffentlichten und unveröffentlichten Akten ausgewertet werden. Das ist hier nicht möglich. Auch wären die Juristen und Gesandten bei Reichstagen zuvor namentlich und prosopographisch zu erfassen.

II. Anzumerken ist zunächst, dass das Ereignis Reichstag keineswegs so eindeutig zu klassifizieren ist, wie das auf den ersten Blick scheint. Es lässt sich natürlich mühelos eine Liste von Versammlungen zusammenstellen, die üblicherweise als Reichstage bezeichnet werden. Damit ließe sich, obschon das umstritten ist, im Jahr 1489 beginnen und 1654 aufhören. Insgesamt sind das dann 49 Reichstage8, freilich mit ungleicher Verteilung. In den 60 Jahren der Herrschaft Maximilians I. und Karls V. bis 1555 fanden 35 Tage statt, also alle zwei Jahre ein Reichstag; danach in den 62 Jahren bis 1613 zwölf, also etwa alle fünf Jahre ein Reichstag, schließlich nur noch zwei Versammlungen bis zum Immerwährenden Reichstag ab 1663. Die Unterschiede in Quantität und Qualität sind beträchtlich. Manche Reichstage versammelten Kaiser, Fürsten und Gefolge mit Tausenden von Begleitern9, andere riefen nur einige Dutzend Gesandte der Reichsstände

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BARBARA STOLLBERG-RILINGER, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008. Ein fraglicher mitgerechnet: Worms-Köln-Überlingen 1499. Listen der Reichsversammlungen s. Homepage der Hist.Komm. bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (http://www.historischekommission-muenchen.de/index.php). Etwa 1521 und 1566 ca. 10.000 Besucher (Fritz Reuter, Worms um 1521, in: Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache, hg. von DERS., Worms, 21981, S. 13-58. NIKOLAUS MAMERANUS, Kurtze und eigentliche verzeychnus der Teilnehmer am Reichstag zu Augsburg 1566, eingel. durch HANNS JÄGER-SUSTENAU, Neustadt Aisch 1985, S. 13-124.

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zusammen, die noch Köche, Knechte und Schreiber mitbrachten.10 Reichstage konnten nur einen Monat11 dauern oder ein Jahr12. Sie konnten grundlegende, für Jahrhunderte folgenreiche Entscheidungen treffen wie 1555 oder ohne Abschied auseinander gehen wie 1608. Es ist nicht einfach, die Gemeinsamkeiten dieser Tagungen im Zeitraum von 150 Jahren zu bestimmen. Man wird also einen Reichstag keineswegs immer als „Reichsöffentlichkeit schlechthin“ oder als „das zentrale Theatrum“ sehen können, „auf dem das Reich als Gesamtverband sich selbst zur Aufführung brachte und verkörperte“.13 Das ist zutreffend für den großen Reichstag, zu dem Kaiser und Fürsten mit Gefolge erschienen, jedoch nicht für den Reichstag mit einer kleinen Schar von Gesandten, die sich in den Ratsstuben ihrer Reichstagsstadt zusammensetzten und dabei gerade die Session und Reihung der Voten zu beachten hatten. Der Reichstag reduzierte sich hier auf das politische Aushandeln, das nur die beteiligten Fürstenhöfe und städtischen Magistrate wahrnahmen. Mehr „Öffentlichkeit“ gab es nicht. Zu erinnern ist auch an den Wandel des Ereignisses Reichstag. Die offenen, „performativ“ erzeugten Zusammenkünfte des ausgehenden 15. Jahr-

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Nürnberg 1522 I: 42, Nürnberg 1522 II: 53, Regensburg 1567: 90 Gesandte. Nach den Subskriptionen der Reichsabschiede der Nürnberger Tage (26.3.-30.4.1522, 17.11.15229.2.1523) und des Reichstags 1567. ADOLF WREDE (Bearb.), Deutsche Reichstagsakten unter Karl V., Bd. 3 (Reichstage zu Nürnberg 1522/23), Gotha 1901 (Neudruck Göttingen 1963), S. 37, S. 216. Esslingen 1526 (1.12.-21.12.) oder Speyer 1529 (15.3.-22.4.): Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, welche von den Zeiten Kayser Konrads II. bis jetzo, auf den Teutschen Reichs-Tägen abgefasset worden, ersch. bei Ernst August Koch, T. 2, Frankfurt a.M. 1747 (Neudruck Osnabrück 1967), 284; bzw. JOHANNES KÜHN, Die Geschichte des Speyrer Reichstags 1529, Leipzig 1929. DERS. (Bearb.), Von 1527 bis zum Speyrer Reichstag 1529, Stuttgart 1935. WOFGAMG STEGLICH (Bearb.), Vom Ende des Speyrer Reichstages bis zum Beginn des Augsburger Reichstages 1530, Göttingen 1970/71. Augsburg 1547/48 (1.9.1547-30.6.1548) oder Regensburg 1653/54 (30.6.1653-17.5.1654). HORST RABE, Reichsbund und Interim. Die Verfassungs- und Religionspolitik Karls V. und der Reichstag von Augsburg 1547/48, Köln Wien 1971, S. 197. MACHOCZEK (Bearb.), Reichstag zu Augsburg (Anm. 5). ANDREAS MÜLLER, Der Regensburger Reichstag von 1653/54. Eine Studie zur Entwicklung des Alten Reiches nach dem Westfälischen Frieden, Frankfurt a. M. 1992. ADOLF LAUFS, Die Reichsstädte auf dem Regensburger Reichstag 1653/1654, in: Zs. für Stadtgesch., Stadtsoziologie und Denkmalpflege 1 (1974), S. 23–48. ADOLF LAUFS (Bearb.), Der jüngste Reichsabschied von 1654, Bern Frankfurt a. M. 1975. AXEL GOTTHARD, Säulen des Reiches. Die Kurfürsten im frühneuzeitlichen Reichsverband (Hist. Studien 457), Husum 1999, S. 414 f., 758-760, 776-784. BARBARA STOLLBERG-RILINGER, Symbolik der Reichstage, in: LANZINNER / STROHMEYER, Der Reichstag (Anm. 6), S. 77, S. 83.

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hunderts verfestigten sich zum Reichs- und „Hoftag“, eine Bezeichnung, die auch noch 1530 anzuwenden ist, wie Barbara Stollberg-Rilinger überzeugend argumentiert.14 Von einem „Reichstag“ sollte man jedenfalls noch nicht für die formlose Versammlung 1489 sprechen, obwohl sie den ersten „Reichsabschied“ erließ. Viel spricht für 1495, weil erstmals die Bezeichnung Reichstag in den Quellen auftauchte und weil seine Beschlüsse als Reichsgrundgesetz galten.15 Jetzt liest man freilich in der Edition zum „Reichstag“ zu Köln 1505, dass ihn Dietmar Heil mit guter Begründung „Gerichtstag“, „königlichen“ und „Reichs-Tag“ nennt.16 Form und Verfahren der Versammlung waren noch offen. Auch unter Karl V. veränderten sich die Beratungsformen weiter, vor allem die Bildung der Ausschüsse.17 Nach 1530/32, beginnend mit den Reichstagen ab 1541, wurde das Verfahren in den Kurien und zwischen den Kurien deutlich „institutioneller“. Bis zu den Reichstagen 1555-59 hatte sich ein geschlossenes System von Regeln des Verfahrens ausgebildet, die immer wieder Anwendung fanden. Daher konnte ein Amtsträger der Mainzer Kanzlei – wohl Andreas Erstenberger 1569 – das Regelwerk in einer Geschäftordnung aufzeichnen, und zwar im bekannten „Ausführlichen Bericht, wie es uff Reichstägen pflegt gehalten zu werden“18. Es ist bemerkenswert, aber hier nicht weiter zu kommentieren, dass diese Ordnung nie in den Kurien beraten wurde. Sie fand ausschließlich Anwendung innerhalb der Mainzer Kanzlei.19 Denn der Reichstag wollte nicht „Institution“ sein und war es nicht. 14

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BARBARA STOLLBERG-RILINGER, Symbol und Diskurs – Das Beispiel des Reichstags in Augsburg 1530, in: FEUCHTER / HELMRATH, Redekultur (Anm. 2), S. 85-104. Jetzt auch zum Reichstag 1530 in: DIES., Kleider (Anm. 7), S. 93-136 (jedoch vorwiegend zur „Leistungskraft symbolisch-ritueller Akte“, S. 135). HEINZ ANGERMEIER (Bearb.), Reichstag von Worms 1495, Göttingen 1981. HEIL, Reichstag (Anm. 5), S. 529-531. GERHARD OESTREICH, Zur parlamentarischen Arbeitsweise der deutschen Reichstage unter Karl V. (1519-1556). Kuriensystem und Ausschußbildung, in: MÖSTA 25 (1972), S. 217-243. KARL RAUCH (Hg.), Traktat über den Reichstag im 16. Jahrhundert. Eine offiziöse Darstellung aus der Kurmainzischen Kanzlei (Qu. und Studien zur VerfG des Dt. Reiches in Mittelalter und NZ 1, 1), Weimar 1905, S. 94. Zum Traktat HELMUT NEUHAUS, Wandlungen der Reichstagsorganisation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, hg. von JOHANNES KUNISCH (ZHF Beih. 3), Berlin 1987, S. 113-140; Neuhaus spricht treffend von „Handreichung“ (S. 115). MAXIMILIAN LANZINNER, Die Rolle des Mainzer Erzkanzlers auf den Reichstagen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Kurmainz, das Reichserzkanzleramt und das Reich am Ende des Spätmittelalters und im 16. und 17. Jahrhundert, hg. von PETER CLAUS HARTMANN (Geschichtliche LK 47), Stuttgart 1998, S. 69-87.

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Um die Jahrhundertmitte erkennen wir noch einige beachtenswerte Veränderungen. So verringerten sich die bis 1548 üblichen interkurialen Ausschüsse, in denen Vertreter der drei Kurien gemeinsam die Punkte der Proposition berieten. Das Verfahren, nur noch in den drei Kurien zu beraten, trug der reichsständischen Hierarchie Rechnung. Die Kurfürsten, die seit den 1550er Jahren unter sich blieben und nicht mehr neben Fürsten- und Städtevertretern ihr Votum abgeben mussten wie in den Ausschüssen, behaupteten ihre Präzedenz. Die Reichsstädte verloren jeden Einfluss auf Entscheidungen. Der Kaiser, der das noch offene Verfahren durch informelle Einflussnahme überformte20 bis hin zum Wunsch Karls V. noch beim Reichstag 1548, die Reichsstände, auch die Kurfürsten, sollten interkurial beraten, hatte nach 1555 die formalen Regeln zu beachten, wollte er mit eigenen Forderungen nicht scheitern. Demgemäß war nach Verlesung der Proposition jeder vorgetragene Gegenstand nur im strengen Verfahren des Schriftenwechsels von Kaiser und Reichsständen zu entscheiden. Dabei wurden nach 1555 die Propositionspunkte strikt getrennt nach Kurien vorberaten, dann die Voten der Kurien für die Resolution an den Kaiser abgeglichen. Interkuriale Ausschüsse zu den Propositionspunkten bildeten die Reichsstände nicht mehr. Sie verlangten und erwarteten, dass das Reichsoberhaupt das Verfahren unangetastet ließ und auch nicht den Versuch unternahm, Änderungen herbeizuführen. Ferdinand I. und seine Nachfolger respektierten dies. Der Wandel im Verfahren des Reichstags, der hier nur summarisch skizziert wird, ist insofern bemerkenswert, als er den Weg vom „Hoftag“ zum verfahrensgebundenen Reichstag beschreibt. Die Gründe, warum dieser Weg beschritten wurde, lassen sich hier nicht erörtern. Das politisch erwünschte Ergebnis scheint evident: Die (Kur-)Fürsten setzten ihren Anspruch auf Libertät im Verhandlungsgang des Reichstags durch und schirmten jede Entscheidungsfindung strikt gegenüber dem Kaiser ab. Kaiser und Reichsstände waren damit gleichgeordnete Partner im Verfahren. Dieses war ab der Jahrhundertmitte festgelegt21 und änderte sich danach allenfalls geringfügig. Deshalb beziehe ich mich auf den Zeitabschnitt nach 1555.

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ALBRECHT P. LUTTENBERGER, Pracht und Ehre. Gesellschaftliche Repräsentation und Zeremoniell auf dem Reichstag, in: KOHLER / LUTZ , Alltag (Anm. 6), S. 291-326, hier S. 313-323. DIETMAR HEIL, Verschriftlichung des Verfahrens als Modernisierung des Reichstags (1495-1586), in: LANZINNER / STROHMEYER, Der Reichstag (Anm. 6), S. 55-76.

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III. Der Begriff „Juristen“ meint, wie üblich, die Graduierten, die Doktoren oder Lizentiaten des weltlichen Rechts oder beider Rechte. In den reichsständischen Zentralbehörden gehörten sie als Gelehrte Räte zu den führenden Amtsträgern ihrer Fürsten, unter denen wiederum die Tüchtigsten zu den Reichstagen geschickt wurden. Juristen als Gesandte bei Reichstagen waren also stets entweder Gelehrte Räte oder Rechtsgelehrte im Dienst einer Reichsstadt. Wie viele Juristen kamen zu den Reichstagen, wie hoch war ihr Anteil unter den Gesandten? Die Frage bedarf einer Vorklärung. Wer war ein Gesandter? Im Gefolge der Kaiser und Fürsten reisten Räte des Hofrats oder des Geheimen Rats mit, aber ebenso Truchsessen, Mundschenken, Kammerherrn, Adlige bei Hof oder andere Amtsträger, die nie einer Sitzung des Reichstags beiwohnten. Man wird sie nicht zu den Gesandten zählen22, wohl aber diejenigen Räte, die in der Mainzer Kanzlei als Gesandte akkreditiert und dann auch namentlich in der Subskription des Reichsabschieds aufgelistet wurden. Zwar enthalten die Reichsabschiede während des gesamten 16. Jahrhunderts solche Subskriptionen, aber ab wann diese Listen zuverlässig gemäß den Meldungen bei der Mainzer Kanzlei angelegt wurden, ist unsicher. Nach 1555 war das so. Von dieser Praxis berichtet zumindest der erwähnte Ausführliche Bericht, wie es uff Reichstägen pflegt gehalten zu werden. Die Subskriptionsliste sollte sogar einem jeden Rat, so vil in betrifft, zur Prüfung vorgelegt werden, bevor sie dem Reichsabschied inseriert wurde.23 Auch deshalb, weil erst nach 1555 reichstagsübergreifend zu definieren ist, wer Gesandter war, beziehe ich mich mit konkreten Aussagen auf die-

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Die Publizistik machte die Gefolge der Fürsten bevorzugt in Flugschriften dem Publikum bekannt, nicht das politische Geschehen. Vgl. MAMERANUS, Reichstag zu Augsburg 1566 (Anm. 9), S. 13-124. Für RT 1582: PETER FLEISCHMANN, Etwas geenderte und verbesserte Description des aller durchleuchtigisten Fürsten und Herrn Rudolfen des andern erwölten römischen Kaisers erstgehaltenen Reichstag zu Augspurg […], Augsburg 1582. MAXIMILIAN LANZINNER, Fürsten und Gesandte als politische Akteure beim Reichstag 1566, in: Religiöse Prägung und politische Ordnung in der Neuzeit. Festschrift für Winfried Becker zum 65. Geburtstag, hg. von BERNHARD LÖFFLER / KARSTEN RUPPERT, Köln Weimar Wien 2006, S. 55-82. RAUCH, Traktat (Anm. 18), S. 94. Der Meyntzische Secretarius solle auß seiner Verzeichnus der angezeigten Ständ und dern Gewalt, so sie ubergeben, aller Anwesenden oder auch Gesanten namen ordentlich in die Subscription des Reichsabschieds eintragen.

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sen Zeitraum. Allerdings bleibt zu beachten, dass Gesandte auch nach 1555 nicht in die Subskription eingetragen wurden, wenn der Fürst selbst dort genannt wurde. Das war dann und nur dann der Fall, wenn er persönlich den Reichstag besuchte. Die Subskriptionen erfassten also, wenn Fürsten anwesend waren, nicht alle Gesandten, die zum Reichstag kamen. Dies schränkt die Vergleichbarkeit ein und relativiert die absoluten Zahlen. Aber man hat klare Abgrenzungskriterien und kann Größenordnungen erkennen. Eine Auswertung der Reichstage von 1556 bis 1613 ergibt folgende Zahlen: Gesandte bei den Reichstagen 1556/57-1613 (nach Subskriptionslisten) Reichstag Fürstliche Gesandte 1557 81 1559 95 1566 110 1567 69 1570 153 1576 146 1582 150 1594 185 1598 145 1603 163 1613 145

Juristen 37 (46%) 43 (45%) 49 (45%) 38 (55%) 86 (56%) 72 (49%) 66 (44%) 78 (42%) 63 (43%) 71 (44%) 69 (48%)

Rstädt. Gesandte 41 77 77 13 55 51 66 51 33 32 72

Juristen 10 (24%) 9 (12%) 20 (26%) 4 (31%) 16 (29%) 15 (29%) 20 (30%) 18 (35%) 15 (45%) 14 (44%) 30 (42%)

Persönl. anwesende Fs. (Kurf.) 15 (0) 17 (3) 29 (5) 2 (0) 15 (4) 14 (1) 17 (3) 16 (4) 0 (0) 1 (0) 12 (3)

Quelle: Neue Sammlung (Anm. 11), Bd. 3, S. 149-152, 176-190, 240-244, 260-262, 303-314, 373-375, 412-418, 444-457, 465-471, 513-520, 525-533. Der Reichstag 1608 fehlt, weil er ohne Abschied (und Subskriptionsliste) blieb. Zu den „fürstlichen“ Gesandten wurden auch die Gesandten der Grafen, Prälaten etc. gerechnet, zu den „Juristen“ nur die Doktoren und Lizentiaten der Rechte. Die Gesamtzahl der Gesandten, die zwischen 1556 und 1613 in die Subskriptionslisten der Abschiede aufgenommen wurden, beträgt 2051; darunter waren 827 Juristen (40,3 %). Die Zahl der Gesandten pro Reichstag liegt zwischen 82 und 236, darunter 42 bzw. 102 Juristen. Unter den fürstlichen Gesandten lag der Anteil mit 45,4 Prozent (655 von 1443 Gesandten) höher als bei den Städten mit 30,3 Prozent (172 von 568 Gesandten). Ob ein Gesandter graduiert war, wurde den Subskriptionen entnommen.

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Werfen wir einen Blick zurück. Unter Kaiser Maximilian I. waren die Doktoren noch selten, im Durchschnitt jeweils ein halbes Dutzend Juristen und Theologen pro Reichstag. Zum Wormser Reichstag 1495 kamen mehr. Eine Subskriptionsliste existierte 1495 noch nicht; die Präsenzlisten nannten 1495 insgesamt 838 Grafen, Ritter und Bürgerliche im Gefolge der anwesenden Fürsten oder als deren Vertreter. Bei 39 wird ein Doktortitel genannt; wenigstens sieben davon, die als Pröpste bezeichnet wurden, waren Doktoren der Theologie.24 Unter Karl V. lagen die absoluten Zahlen bis 1532 immer noch niedrig.25 Die Subskriptionen der Reichsabschiede listeten maximal 16 Doktoren auf. 1532 war offenbar der Anteil der Doktoren unter den fürstlichen Gesandten – insgesamt 27, ohne Grafen, Prälaten etc. – am höchsten; von den zwölf waren jeweils sechs Juristen und sechs Theologen (22 % Juristen; 20 persönlich anwesende Fürsten).26 Als erst neun Jahre später 1541 der nächste Reichstag begann, war die Lage deutlich verändert. Unter den insgesamt 68 fürstlichen Gesandten (mit Grafen, Prälaten etc.) sind 28 Graduierte genannt, Theologen und Doktoren oder Lizentiaten beider Rechte, ein Anteil von 41 Prozent.27 Der Tabelle für den Zeitraum ab 1556 ist zu entnehmen, dass es bei dieser Größenordnung des Anteils bis 1613 blieb. Theologen wurden ab 1541 immer seltener als Gesandte geschickt; nur noch sechs (Dr. oder Lic. theol.) finden sich in den Subskriptionslisten aller Reichstage von 1556 bis 1613, dagegen noch 51 Gesandte mit dem Magistertitel (unter den Gesandten der Fürsten 33, der Städte 18). Beim Reichstag 1640/41 nennt die Subskription 145 Gesandte der Reichsfürsten insgesamt, davon 64 mit einem Doktortitel (44,1 %), beim Reichstag 1654 sind es 155 fürstliche Gesandte, davon 48 Graduierte (31,0 %). Will man nicht nur die in der Subskription Genannten erfassen, sondern alle Gesandten, also auch diejenigen Hofräte und Geheimen Räte, die als 24

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Anteil der Juristen: 3,82 %. Teilnehmerliste nach Hofgesinden und Vertretung geordnet. ANGERMEIER, Reichstag (Anm. 15), Bd. 5, 1 Teil 2, Nr. 1594, S. 1151-65. Teilnehmerliste nach Ständen geordnet ebd., Nr. 1595, S. 1166-68. Eine Anregung zu einer prosopographischen Erfassung der Gesandten der Reformationszeit gibt ARMIN KOHNLE, Die Reichstagsgesandten der Fürsten. Projekt einer Prosopographie im Reformationszeitalter, in: BAUMANN / OESTMANN / WENDEHORST / WESTPHAL, Reichspersonal (Anm. 4), S. 335-341. ROSEMARIE AULINGER (Bearb.), Der Reichstag in Regensburg und die Verhandlungen über einen Friedstand mit den Protestanten in Schweinfurt und Nürnberg 1532, Göttingen 1992, S. 1082-1084. Verhältnis: 43,52 % Juristen. Subskriptionsliste des Reichstags zu Regensburg 1640/41, in: Neue Sammlung (Anm. 11), Bd. 2, S. 441-443. Auch die folgenden Zahlen in diesem Abschnitt nach den Subskriptionen in der Neuen Sammlung, Bd. 3.

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Begleiter von Fürsten an Sitzungen der Kurien und Beratungen teilnahmen, muss man die Reichstagseditionen benutzen. War der Fürst anwesend, wurde ja allein er selbst in der Subskription genannt, nicht die Gesandten. Die Editionen bieten in den abgedruckten Instruktionen, Sitzungsprotokollen oder Korrespondenzen ergänzende Informationen, wer als Gesandter an der Seite eines Fürsten aktiv wurde. Für diejenigen Reichstage, bei denen viele Fürsten anwesend waren, lassen sich aus den Editionen also weitere Gesandte ermitteln (am meisten wohl für 156628). Zusammenfassend ist die Frage nach dem Anteil von Juristen mithin folgendermaßen zu beantworten: Zu den Reichstagen bis 1532 wurden nur wenige Juristen geschickt, ihr Anteil stieg, lag aber offenbar allenfalls bei 20 Prozent, unter Kaiser Maximilian I. bis 1518 noch deutlich darunter. Seit dem Reichstag 1541 jedoch hatte knapp die Hälfte der fürstlichen Gesandten eine juristische Graduierung. Beim Anteil von etwa 40 bis 55 Prozent blieb es bis zum letzten periodischen Reichstag 1654 – eine erstaunliche Konstanz. Der Anteil von Juristen bei den städtischen Gesandten lag mit etwa 30 Prozent niedriger. Damit sind nur Größenordnungen bestimmt. Wie sind sie zu bewerten? Einen Vergleich bietet die Besetzung der fürstlichen Zentralbehörden im Reich.29 Im Hofrat (Oberrat), Geheimen Rat und dem Kirchenrat (Geistlichen Rat) treffen wir Juristen an, selten jedoch im Finanzrat (Kammerrat, Kammer oder andere Bezeichnung). Folgende allgemeine Tendenzen lassen sich bei einem noch unzureichenden Forschungsstand ermitteln: Die Zentralbehörden nahmen im 16. Jahrhundert eine steigende Zahl von Räten auf, darunter anteilig immer mehr Juristen (aber deutlich geringere Anteile als bei Reichstagen). In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts treffen wir in kleineren Territorien oft nur einen Graduierten an, der als Kanzler amtierte, aber auch an den größeren Höfen und am Kaiserhof besetzten die Graduierten nur einen geringen Anteil der Ratsstellen (wohl Größenordnungen von 5 bis 20 %). Jedoch war das Studium der Gelehrten Räte nach Zahl und Ansehen der besuchten Universitäten anspruchsvoller als später. Die Studienorte lagen häufig in Italien, Frankreich oder in entfernten Reichsterritorien. Ebenso war bei den

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Nach dem Register der RTA-Edition für 1566 insgesamt 169 fürstliche Gesandte, davon 84 Doktoren (50 %). MAXIMILIAN LANZINNER / DIETMAR HEIL (Bearb.), Der Reichstag zu Augsburg 1566, 2 Teilbde., München 2002. Künftig zit.: RTA RV 1566. MAXIMILIAN LANZINNER, Konfessionelles Zeitalter 1555-1618 (Gebhardt Handbuch der dt. Gesch. 10), Stuttgart 2001, S. 81 f.

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Laufbahnen im Fürstendienst bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts die regionale Mobilität höher als später. Danach kamen Gelehrte Räte immer öfter aus dem Territorium, in dem sie Rat waren, oder aus der näheren Umgebung. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stieg ihr Anteil rasch und erreichte am Beginn des 17. Jahrhunderts im Einzelfall eine Größenordnung wie bei einem Reichstag. Um 1600 studierten die späteren Räte innerhalb des Reichs – wo es möglich war, an der Universität des Territoriums, in dem sie ihren Dienst antraten. Diese Tendenz wurde begünstigt durch den Konfessionszwang, die zahlreichen Neugründungen von Universitäten und die steigende Zahl von Studenten, die sich Auslandsstudien nicht leisten konnten. In den Zentralbehörden schulterten jetzt die zahlreichen Juristen die Regierungs- und Verwaltungsarbeit; ihr Fachwissen war unentbehrlich. Dieses noch unscharfe Bild ergibt sich aus der Durchsicht der einschlägigen Literatur, jedoch stehen nur für wenige (weltliche) Territorien auswertbare Ergebnisse zur Verfügung, die Sozialdaten erfassen und quantifizieren. Aus einigen Studien lassen sich zusätzlich Konturen gewinnen.30 Demnach besetzten die welfischen Fürsten ihre Hofratskollegien ganz ü-

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Mittlerweile verfügen wir über Studien zu Zentralbehörden auch mit einem prosopographischen Teil. Die meisten werten aber ihre Daten nicht aus, zumal nicht für die Juristen unter den Räten. Hier relevant: HELMUT SAMSE, Die Zentralverwaltung in den südwelfischen Landen vom 15. bis 17. Jahrhundert (Qu. und Darstellungen zur Gesch. Niedersachsens 49), Hildesheim u. a. 1940. HANS JOACHIM VON DER OHE, Die Zentral- und Hofverwaltung des Fürstentums Lüneburg (Celle) und ihre Beamten 1520-1648, Celle 1955. WALTER BERNHARDT, Die Zentralbehörden des Herzogtums Württemberg und ihre Beamten 1520-1629 (Veröff. der Komm. für geschichtliche LK in Baden-Württemberg Reihe B 70), 2 Bde., Stuttgart 1973. MAXIMILIAN LANZINNER, Fürst, Räte und Landstände. Die Entstehung der Zentralbehörden in Bayern 1511-1598 (Veröff. des MPI für Gesch. 61), Göttingen 1980. REINHARD HEYDENREUTER, Der landesherrliche Hofrat unter Herzog und Kurfürst Maximilian I. von Bayern (1598-1651) (SchrR. zur bayerischen LGesch. 72), München 1981. HEINZJÜRGEN N. REUSCHLING, Die Regierung des Hochstifts Würzburg 1495-1642. Zentralbehörden und führende Gruppen eines geistlichen Staates (Fg. zur fränkischen Kirchen- und Theologiegeschichte 10), Würzburg 1984. KENNETH H. MARCUS, The Politics of Power. Elites of an Early Modern State in Germany (Veröff. des Inst. für europ. Gesch. Mainz Abt. Abendländische Religionsgesch. 177), Mainz 2000. PETER ARNOLD HEUSER, Prosopografie der kurkölnischen Zentralbehörden, Teil I: Die gelehrten rheinischen Räte 1550-1600. Studien- und Karriereverläufe, soziale Verflechtung, in: RhVjbll 66 (2002), S. 264-319, 67 (2003), S. 37-103. ALEXANDER JENDORFF, Verwandte, Teilhaber und Dienstleute. Herrschaftliche Funktionsträger im Erzstift Mainz 1514 bis 1647 (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und LGesch. 18), Marburg 2003. LUPOLD VON LEHSTEN, Die hessischen Reichstagsgesandten im 17. und 18. Jahrhundert (Qu. und Fg. zur hessischen Gesch. 137), 2 Bde., Darmstadt Marburg 2003.

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berwiegend mit Nichtgraduierten. Bei den kleinen Fürstentümern der Welfen zeigte sich zudem die Tendenz zur Regionalisierung sehr deutlich; immer weniger Räte gingen zum Studium ins Ausland, immer öfter kamen sie aus den Territorien selbst.31 In Jülich-Kleve saßen vor 1600 wesentlich mehr nicht-graduierte Adlige im (Hof-)Rat als Juristen.32 In Württemberg bildeten bereits um 1550 etwa gleich viele adlige und Gelehrte Räte den Oberrat, nach 1600 überwog der Anteil der Juristen mit zwei Dritteln. Der hohe Anteil in Württemberg war offenbar eine Ausnahme, verglichen mit anderen Territorien. Die Kanzleiordnung des Stuttgarter Hofs von 1553 übertrug auch das Referieren schon ausschließlich an die Juristen; die Adligen referierten bis zur Revision der Bestimmung 1608 nicht mehr.33 Die überlegene Kompetenz der Graduierten erhielt also im württembergischen Rat den klaren Vorzug vor der ständischen Qualität, ihr Anteil war weit höher als in vergleichbaren Territorien. Begünstigt mochte das sein durch das Gewicht der bürgerlichen Ehrbarkeit und das Fehlen des Adels in Württemberg. In Bayern34, in dem der Adel die Ständepolitik bestimmte, lag 1511-1598 der Anteil der Graduierten im Hofrat deutlich niedriger, insgesamt bei einem Fünftel, unter den adligen Räten nur bei 5 Prozent, unter den bürgerlichen Räten schließlich bei annähernd 50 Prozent.35 Die spärlichen Informationen lassen keine Verallgemeinerungen zu. So muss die Frage offen bleiben, ob es Korrelationen gab, z. B. ob die Größe des Territoriums, die Konfession oder die Ständeverfassung den Anteil der Gelehrten beeinflussten. Unter den Hof- und Geheimen Räten der welfischen Territorien, Jülich-Kleves, Württembergs und Bayerns waren insgesamt um 1550 weniger als ein Fünftel Juristen, um 1600 weniger als ein Drittel. Juristen finden sich noch vereinzelt in den zentralen Religions- und Kirchenbehörden, jedoch nicht in den Finanzbehörden. Der Vergleich zwischen den Territorien und den Reichstagen ergibt: Auch wenn man nur den Rat/Hofrat und (später) den Geheimen Rat berücksichtigt, waren die graduierten Juristen zumindest seit den 1540er Jahren beim Reichstag stärker vertreten als in den Ratsgremien der Territorien. Während ihr Anteil in den Ratsgremien wuchs, blieb er beim Reichstag annähernd gleich.

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SAMSE, Zentralverwaltung (Anm. 30), S. 41-66, S. 72-83. JOSEPH OPPENHOFF, Die klevischen Räte in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Annalen des Hist. Vereins für den Niederrhein 91 (1911), S. 129-135, hier S. 131-135. BERNHARDT, Zentralbehörden (Anm. 30), S. 82 f. LANZINNER, Fürst (Anm. 30), S. 199, S. 226. RAINER A. MÜLLER, Akademisierung, in: SCHWINGES, Gelehrte (Anm. 30), S. 297 f.

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Die Konstanz auf Reichsebene hing zusammen mit der Besetzung der Gesandtschaften. Zum Reichstag schickte man die herausragenden Amtsträger. Wer Gesandter wurde, hatte meist eine führende Position in den Ratsgremien, die sich aus dem ständischen Rang, der Erfahrung, dem fachlichen Ansehen oder dem Rang seines Amts ableitete. Der Geheime Rat, der sich in den großen Territorien um 1600 ausbildete, und ebenso der Hofrat, der um die Mitte des 16. Jahrhunderts erste formelle Ordnungen erhielt, wurden in aller Regel nach Adels- und Gelehrtenbank besetzt, also nach ständischer und fachlicher Qualifikation.36 Im Geheimen Rat wie im Hofrat brauchte man einerseits Adlige als Repräsentanten des Landes mit Autorität für die Rechtsprechung und Verwaltung, andererseits Juristen als Rechtsexperten. Das gleiche Prinzip galt für die Auswahl der Gesandten offenbar schon seit der Mitte des 16. Jahrhunderts. Ständische und fachliche Qualifikation, Status und Kompetenz im Recht sollten nach Möglichkeit in der Gesandtschaft repräsentiert sein. Bevorzugt wurden einflussreiche Räte, die zu den vertrauten oder Geheimen Räten der Fürsten gehörten. Aus den größeren und mittleren Territorien kamen Adlige und Gelehrte gleichermaßen zum Reichstag, während kleine Territorien, auch die Grafen und Prälaten, nur Gelehrte schickten. Verallgemeinerbare Kriterienkataloge oder Weisungen, wonach Reichstagsgesandte ausgewählt wurden, finden sich in den Quellen nicht.37

IV. Die Juristen hatten im Rahmen der Verhandlungen eines Reichstags die gleichen Aufgaben wie alle Gesandten, aber die Aufgaben wurden vorwiegend von den Juristen ausgeführt. Sie waren es, die in der Regel in den Kurien der Kurfürsten und Fürsten votierten. Wenn nötig, studierten sie die Akten vergangener Reichstage, ferner die Kompendien zum Reichsrecht, die sie in Kisten mitführten. Ihre Marginalien finden sich im aktuellen Schriftgut eines Reichstags, ihre Schriftzüge in den Protokollrapularen und den Berichten an die Kanzleien der Höfe und Städte. Diejenigen Gelehrten Räte, die

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In den Hofratsgremien stellte man nach Möglichkeit Parität zwischen diesen Qualifikationen her. Dies zeigt, dass beide Qualifikationen als gleichermaßen wichtig galten. Allenfalls wird Erfahrung genannt.

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häufig Reichsversammlungen besuchten, beachteten das Verfahren und seine Feinheiten besonders genau. Die graduierten Räte des Mainzer Erzkanzlers, Salzburgs und Österreichs verfassten die Resolutionen der Kurien und Ausschüsse, die Mainzer am Ende den Abschied. Auch bei den Reichsstädten erledigten die Graduierten mehr als die übrigen Gesandten. Im Folgenden wird von diesen Tätigkeitsfeldern nur die Beteiligung an den Verhandlungen näher betrachtet. Einige allgemeine Konsequenzen aus dem intensiven Engagement der Juristen lassen sich aber schon vorab formulieren. Wesentlich erscheint zunächst, dass die politische Sprache des Reichstags von den Juristen geformt wurde – ein eigentlich unbearbeitetes Thema.38 Dass die Juristen die Geschäfte beim Reichstag führten und die Texte verfassten, war noch mit weiteren Tendenzen verbunden: der Tendenz zu genauer, nüchterner Beschreibung, zu rechtlicher und damit auch methodischer Abwägung, zur rechtlichen Absicherung der politischen Vereinbarungen, zu immer mehr Schriftlichkeit.39 Auch diese Tendenzen, vor allem die Zunahme der Schriftlichkeit, wären einer näheren Untersuchung wert. Das Anschwellen des Schriftguts lässt sich natürlich gleichermaßen außerhalb des Reichstags beobachten, zumal in allen Verwaltungsbereichen. Aber eine Untersuchung am Beispiel des Reichstags böte ein klar abgegrenztes, herausgehobenes Bezugsfeld, das zudem durch Editionen mittlerweile gut erschlossen ist. In einem gewissen Sinn lenkten die Juristen mit ihren Berichten den Blick der späteren Historiker, indem sie die Sichtweise lieferten für einen politisch verstandenen Reichstag. Denn die Berichte von den Reichstagen nach 1555 entwarfen überwiegend ein Panorama der Politik, und das erwarteten offenbar auch die Adressaten, die Fürsten und Räte in den Heimatre-

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S. die Literatur in Anm. 2. Die noch kaum systematisch erforschte expandierende Verschriftlichung in der Territorialverwaltung des 15.-17. Jahrhunderts steht im Zusammenhang mit Fundamentalprozessen frühneuzeitlicher Staatsbildung: Verrechtlichung, Verwissenschaftlichung, Akademisierung, Professionalisierung, Institutionalisierung, Modernisierung. ERK VOLKMAR HEYEN, Professionalisierung und Verwissenschaftlichung. Zur intellektuellen Struktur der deutschen Verwaltungsgeschichte, in: IusCommune 12 (1984), S. 235-252. FILIPPO RANIERI, Vom Stand zum Beruf. Die Professionalisierung des Juristenstandes als Forschungsaufgabe der europäischen Rechtsgeschichte der Neuzeit, in: IusCommune 13 (1985), S. 83-105. HORST WENZEL / WILFRIED SEIPEL / GOTTHARD WUNBERG (Hg.), Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Schr. des Kunsthist. Museums 5), Wien 2000. Graduierte Juristen stiegen in der Frühen Neuzeit zu "Hauptträger[n] der zeitgenössischen Schriftproduktion in allen Textsorten und Gattungen" auf; s. HEUSER: Ars (Anm. 2), S. 267.

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sidenzen; nur am Rand erscheint der Reichstag als Forum der informellen Kommunikation und der formellen Inszenierung. Aber kommen wir zu der Frage, die hier vertieft behandelt werden soll: Wer führte und gestaltete die Verhandlungen in den Gremien? Die Protokolle, die ab den 1540er Jahren in wachsendem Umfang geführt wurden, nennen mitunter die Namen der Anwesenden oder der Votierenden, nicht für den Städterat, aber für die Fürstenkurien. Ich beziehe mich im Folgenden auf das Beispiel des Reichstags 1566. In den Fürstenratsprotokollen 1566 sind 23 Namen von Gesandten aufzufinden, die sich zu den Hauptthemen Türkenhilfe und Landfrieden äußerten. Unter den 23 Votierenden waren 19 graduierte Juristen40, kein Theologe41 und drei zumindest juristisch ausgebildete Gesandte.42 Im Ausschuss des Fürstenrats zu Verfahrensfragen (Gegenstand: Zulassung Metz, Toul und Verdun zum Fürstenrat) saßen ausschließlich Juristen.43 Für den Kurfürstenrat lassen sich die Votierenden zur Landfriedens- und Exekutionsordnung ermitteln, darunter nur fünf Juristen und zehn Nichtgraduierte, überwiegend aus dem Adel.44 Nur hier also waren

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Dr. Sebastian Heflinger (Kanzler Salzburg), Dr. Timotheus Jung (kaiserlicher Reichshofrat, für Österreich), Dr. Johann Trautenbühl (Kanzler Magdeburg), Dr. Marquard von Berg (Domdechant Bamberg), Lic. Balthasar Hellu (Kanzler Würzburg), Dr. Christoph Welsinger (Kanzler Straßburg), Dr. Johann Auerbach (Kanzler Regensburg), Lic. Leonhard Linck (Kanzler Abt Murbach), Dr. Rochus Freimann (Kanzler Berchtesgaden), Dr. Wiguleus Hund (Rat Bayern), Dr. Konrad Fürstenberg (Rat Jülich-Berg), Dr. Jakob Lersner (Rat Hessen), Dr. Johann Knauf (Kanzler Pfalzgraf Georg von Simmern), Dr. Joachim Mynsinger (Kanzler Herzog Heinrich von Braunschweig) und Dr. Joachim Möller (Rat Herzog Heinrich von Braunschweig), Dr. Lorenz Otto (Kanzler Pommern), Ludwig Wolf von Habsberg (Kanzler Baden-Durlach), Dr. Johann Meichsner (Rat NassauKatzenelnbogen), Dr. Ulrich Mileus (Kanzler Landgraf Ludwig Heinrich von Leuchtenberg), Dr. Johann Kraus (Rat Mömpelgard). RTA RV 1566 (Anm. 28), S. 540-628. Auch nicht Dr. Matthias Rast (Kanzler Fürstabt Kempten). RTA RV 1566 (Anm. 28), S. 540-628. Zu Rast s. Rudolf Jenny, Dr. jur. Matthias Rast (Rasch) aus Isny, Dozent und Universitätsnotar in Freiburg, murbachischer, fürstenbergischer und kemptischer Kanzler, mit einem Beitrag über das Freiburger Testament des Erasmus von 1533, in: ZGO 118 (NF 79), 1970, S. 175-238. Georg Illsung (Landvogt Schwaben, Habsburg-Österreich), Paul von Appetshofen (Rat Konstanz), Ludwig Wolf von Habsberg (Kanzler Baden-Durlach). RTA RV 1566 (Anm. 28), S. 540, S. 1566. Dr. Wiguleus Hund (Bayern), Dr. Sebastian Heflinger (Salzburg), Dr. Ulrich Sitzinger (Pfalz-Zweibrücken), Dr. Andreas Büttelmeier, Dr. Johann Christoph von Giech (Brandenburg-Ansbach), Dr. Johann Auerbach (Regensburg). RTA RV 1566 (Anm. 28), S. 541. Wolf und Damian Cämmerer zu Worms, Christoph und Peter Echter für Mainz, Johann von Brembt und Dr. Michael Glaser für Köln, Philipp von Nassau und Lic. iur. Konrad Reck für Trier, Heinrich Riedesel, Dr. Christoph Ehem und Jakob Rehlinger für Kurpfalz, Ludwig von Eberstein, Dr. Laurentius Lindemann und Abraham Bock für Kursachsen

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die Juristen in der Minderheit, was erstaunt, weil die Exekutionsordnung ein Rechtstext war, der juristische Sensibilität verlangte. Wer ergriff 1566 in Religionsfragen das Wort? Dazu lassen sich Namen aus Sitzungen des protestantischen Konfessionsrats ermitteln, der von Kurfürsten, Fürsten und Städten beschickt wurde, ferner aus Besprechungen am Rand der Sitzungen.45 Von den 18 kur fürstlichen und fürstlichen Vertretern waren 15 Juristen und ein Magister. Der einzige Adlige, Graf Wilhelm von Hohnstein, überließ die Vertretung Kurbrandenburgs nach den ersten Sitzungen seinem graduierten Kollegen Albrecht Thum. Zu den Beratungen des protestantischen Konfessionsrats kamen also Gelehrte Räte, keine Theologen und keine Adligen ohne Graduierung. Eine Erklärung müsste weitere Reichstage, aber auch allgemein die Praktiken konfessioneller Politik nach 1555 berücksichtigen. Die Protokolle für den Reichstag 1566 in Augsburg geben keine hinreichende Auskunft, wer über die Novellierungen der Reichskammergerichtsordnung beriet. Belegt ist nur mehrfach die persönliche Anwesenheit von drei oder vier Kurfürsten, wenn das Thema im Kurfürstenrat zur Sprache kam. Belegt ist auch die Anwesenheit von Andreas Gail46, Joachim Mynsin-

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sowie der (allein anwesende) Gesandte Brandenburgs, Dr. Albrecht Thum. RTA RV 1566 (Anm. 28), S. 252. Dr. Laurentius Lindemann und Dr. Georg Crackow für Kursachsen, Dr. Christoph Ehem und Dr. Christoph Probus für Kurpfalz, Dr. Andreas Zoch und Wilhelm von Hohnstein für Kurbrandenburg (seltene Teilnahme). Dr. Ulrich Sitzinger für Pfalz-Neuburg (der auch den Entwurf der protestantischen Gravamina verfasste, wobei der Theologe Tilemann Heßhusen von den Beobachtern als treibende Kraft der Religionspolitik PfalzZweibrückens gesehen wird); Dr. Joachim Möller für Braunschweig-Lüneburg (der sich aber den Treffen im Quartier Pfalz-Zweibrückens entzog), Dr. Kilian Bertschin und Mag. Kaspar Wild für Württemberg, Dr. Christoph Dürfeld und Hans Veit von Obernitz für Sachsen, Dr. Lorenz Otto für Pommern, Dr. Jakob Lersner für Hessen, Dr. Adrian Albin und Bertold von Mandesloe für Brandenburg-Küstrin, Dr. Christoph Dettelbach für Brandenburg-Ansbach, Dr. Johann Boucke für Mecklenburg-Güstrow, Dr. Ludwig Kremp für Straßburg, Nikolaus Dienzel für Regensburg, Dr. Hermann von Vechtelde für Lübeck, Johann Baptist Hainzel für Augsburg, Thomas Löffelholz für Nürnberg, Daniel zum Jungen für Frankfurt. KEMPIS, Gaill (1988, Anm. 1). KARIN NEHLSEN-VON STRYK, Andreas Gaill, in: Rheinische Justiz. Geschichte und Gegenwart, hg. von DIETER LAUM / ADOLF KLEIN / DIETER STRAUCH, Köln 1994, S. 701-715. KARL VON KEMPIS, Andreas Gaill (1526-1587) (Rheinische Lebensbilder 15), Köln 1995, S. 65-80. JOCHEN OTTO, Art. Gaill, Andreas, in: Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, hg. von MICHAEL STOLLEIS, München, 22001, S. 228. HEUSER, Zentralbehörden I/2 (Anm. 30), S. 52-56. KARIN NEHLSEN-VON STRYK, Andreas Gaill und die "Friedlosigkeit", in: Usus modernus pandectarum. Römisches Recht, deutsches Recht und Naturrecht in der frühen

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ger47 und Wiguleus Hund.48 Die prominente Besetzung der Beratungen zum Kammergericht 1566 hängt zusammen mit einem großen Reformprojekt, das noch nicht näher untersucht wurde. Der Städterat ging in dieser Reform am weitesten, indem er 1566 forderte, das Gericht in Speyer durch zwei weitere Gerichte in Nordhausen und Nördlingen zu ergänzen. Der Fürstenrat wollte wenigstens die Aufstockung der regulären Beisitzerstellen von 24 auf immerhin 50. Das Projekt, auf diese Weise die Fülle der Verfahren besser zu bewältigen, scheiterte am Widerstand der Kurfürsten.49 Es ist gerade beim Reichskammergericht zu bedenken, ob die Akteure eine echte Neuordnung überhaupt wollten. Denn eine ausgreifende Reform konnte unter dem Zeitdruck des Reichstags 1566 unmöglich zu einem Abschluss kommen. Dringend erforderlich waren rasche Steuerbewilligungen zur Türkenabwehr, da das Heer Sultan Süleimans bereits auf Ungarn zumarschierte. Für alles Weitere blieb keine Zeit, weil der Kaiser in Wien benötigt wurde, um die militärischen Gegenoperationen zu leiten. An der Neuordnung des Gerichts lag allenfalls den Reichsstädten. Der Fürstenrat verzichtete, da der Kurfürstenrat nicht mitzog, sogar auf eine nennenswerte Aufstockung der Beisitzer und beschied sich wie bei anderen Reichstagen mit geringfügigen Novellierungen. Daran lag zum einen den Praktikern wie den anwesenden Gail, Mynsinger oder Hund, weil auch kleine Fortschritte die Arbeit am Gericht erleichterten. Aber zum anderen war für alle am Reichstag Beteiligten die „Darstellung“50 von Bedeutung, dass die Herrschaftsträger sich um des Gemeinwohls willen mit der Verbesserung der „lieben Justiz“ beschäftigten. Für die Handelnden hatte die Beschäftigung mit der „Reichsjustiz“ offenkundig eine „instrumentelle“ und eine „symbolische“ Dimension. Gerade die Juristen wünschten das Signal,

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Neuzeit. Klaus Luig zum 70. Geburtstag, hg. von HANS-PETER HAFERKAMP / TILMAN REPGEN (Rechtsgeschichtliche Schr. 24), Köln Weimar Wien 2007, S. 131-156. SCHUMANN, Mynsinger von Frundeck (Anm. 1). KARL ZIPPELIUS, Ein Juristenleben im 16. Jahrhundert: Jochim Mynsinger von Frundeck, in: Mélanges Fritz Sturm, offerts par ses collègues et ses amis à l’occasion de son soixante-dixième anniversaire, Bd. 1, hg. von JEAN-FRANÇOIS GERKENS u. a., Lüttich 1999, S. 959-970. MAYER, Hundt (Anm. 1). MAXIMILIAN LANZINNER, Reichsversammlungen und Reichskammergericht 1556-1586 (SchrRGesRKGForsch 17), Wetzlar 1995, S. 27-31. Untersuchungen zu RKG-Beratungen bei Reichstagen fehlen, damit ohnehin Untersuchungen zur Rolle der gelehrten Räte, ausgenommen PETER SCHULZ, Die politische Einflußnahme auf die Entstehung der Reichskammergerichtsordnung 1548 (QFHG 9), Köln u. a. 1980. BARBARA STOLLBERG-RILINGER, Einleitung, in: Vormoderne politische Verfahren, hg. von DIES. (ZHF Beih. 25), Berlin 2001, S. 9-24, hier S. 12.

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dass jeder Reichstag sich auch der „heiligen Justiz“ annahm. Die Bezeichnung „Justiz“ wurde bevorzugt gewählt, obwohl Reichstage in der Regel ausschließlich über das Reichskammergericht verhandelten. Symptomatisch ist die Formulierung in der Proposition Maximilians II. zum Reichstag 1566, verfasst wohl vom Reichsvizekanzler IUD Johann Ulrich Zasius. Die Beratungen zum Reichskammergericht wurden so angekündigt, „das ohne richtige bestellung und administration der heiligen iustitien einich recht oder regiment eben so wenig als ohne eusserlichen friden bestehen und erhalten werden kann“.51 Im Entwurf der Proposition folgte darauf noch der (später gestrichene) Verweis auf die Legitimationskraft des Rechtswesens: Iustitia stabilitur thronus eius, ein Zitat aus dem Buch der Sprichwörter Salomos. Zu nahezu allen Themen – zu Türkenhilfe, Religion, Reichskammergericht oder zum Verfahren, nur nicht zur Exekutionsordnung – treffen wir also in den Kurien überwiegend oder ausnahmslos auf Juristen. Nur zu den Beratungen des Landfriedens, die eine Novellierung der Reichskammergerichtsordnung beabsichtigten, erschienen im Kurfürstenrat überwiegend nicht graduierte (adlige) Gesandte. Zu fragen wäre, inwieweit sich dies für weitere Reichstage bestätigen ließe und ob es Veränderungen gab. Vor allem aber wären Inhalte und Formen des Votierens systematisch zu untersuchen. Ein Spezifikum des Reichstags 1566 war das gemeinsame Verhandeln von Fürsten und Gelehrten Räten in den beiden Fürstenkurien. Die Fürsten votierten und stimmten persönlich in den Kurien ab – im Wechsel mit den überwiegend anwesenden Juristen. Die Frage ist, ob die Verhandlungen durch den Rangunterschied beeinflusst wurden oder ob das übliche Verfahren beibehalten wurde, also ob das Verfahren seine Autonomie wahrte gegenüber dem ständischen Rang. Dass ein gewisses Konkurrenzverhältnis zwischen Fürsten und Gesandten bestand, verdeutlicht eine Aussage des Kurfürsten von Sachsen am 17. April 1566, als er persönlich im Kurfürstenrat 2.000 Reiter in Wartgeld empfahl, die das Reich finanzieren sollte. Seine Begründung lautete: damit man nit weniger thett in persona, als vorhin anno 64 die reth gethan.52 Er spielte auf den Reichsdeputationstag 1564 an, bei dem allein Gesandte, fürstliche und städtische, ein Kontingent von nur 1.500 Reitern beschlossen hatten. Der Kurfürst sprach offensichtlich die Erwartung aus, dass anwesende Fürsten weiterreichende Beschlüsse zu fassen hätten als die Gesandten, zumindest in

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RTA RV 1566 (Anm. 28), S. 193. RTA RV 1566 (Anm. 28), S. 307 f.

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dem Sinn, dass der höhere Rang die Beteiligten zu mehr Großzügigkeit verpflichte. Betrachten wir die Verhandlungen, zu denen sich Fürsten und Kurfürsten selbst einfanden. Die Fürstenratsprotokolle des Reichstags, die in der Regel weniger genau sind als die Kurfürstenratsprotokolle, kennzeichnen nur selten die Anwesenheit von Fürsten.53 Sie besuchten offenbar nicht so häufig die Sitzungen ihrer Kurie wie die Kurfürsten. Beachtenswert erscheint, dass die Ausschüsse des Fürstenrats54, die ausschließlich von Gesandten gebildet wurden, den Gesamtrat präjudizierten, in dem dann auch manchmal Fürsten saßen. Die Gelehrten Räte handelten also in den Ausschüssen unter sich aus, was einzelne Fürsten anschließend im Plenum ohne Änderungen akzeptierten. Dies traf auch bei der Höhe der Türkenhilfe zu. Für die Kurfürsten lässt sich genauer bestimmen, wann sie sich persönlich zu Sitzungen einfanden. Die anwesenden Kurfürsten – alle geistlichen, ferner Sachsen und Pfalz – erschienen regelmäßig persönlich zu den Beratungen über die Höhe der Türkensteuer. Nur Kurbrandenburg war durch Gesandte vertreten.55 Die Kurfürsten wollten offenbar persönlich über die Höhe der Steuern entscheiden; so wurde die Sitzung am 22. April verschoben, weil nicht alle teilnehmen konnten. Die Beispiele zeigen, dass die Verfahrensordnung des Reichstags und der Kurien den ständischen Rang der Verhandelnden nivellierte. Das war eine Grundregel des Verfahrens, die auch außerhalb der Kurien galt, wie die gemeinsamen Beratungen von Fürsten und Gesandten über die kurpfälzische Konfession belegen. Ihr Gegenstand war höchst brisant. Denn der Kaiser hatte die evangelischen Reichsstände gebeten, die Zugehörigkeit der Kurpfalz zur Confessio Augustana zu prüfen; wenn die Kurpfalz als calvinistisch eingestuft wurde, verlor sie den Schutz des Religionsfriedens. Erörtert wurde die Frage in einem eigenen Konfessionsrat, in dem nur die Reichsstände der Confessio Augustana (CA-Rat) vertreten waren. Zu den Sitzungen fanden sich u. a. persönlich ein: Pfalzgraf Wolfgang von Zweibrücken, Herzog Ulrich von Mecklenburg und Herzog Christoph von Württemberg; es fehlte jedoch der vorübergehend abwesende Kurfürst Au-

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Vor allem Angaben bei der Eröffnungssitzung des Fürstenrats am 27. März 1566, ebenso als am 3. April das Bedenken des Fürstenratsausschusses zur Türkenhilfe verabschiedet wurde. RTA RV 1566 (Anm. 28), S. 554. RTA RV 1566 (Anm. 28), S. 551 f., S. 577, S. 587. Zunächst Thum, später dessen Kollegen Hohnstein, Schulenburg und Zoch. GStA Berlin I. HA Rep. 10 Nr. FF Fasc. O, fol. 16. Nach 29.04.1566. Or.

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gust von Sachsen. Die drei anwesenden Fürsten fühlten sich an die Beschlüsse des CA-Rats, in dem sie mit den Gesandten saßen, nicht gebunden; unter ihnen fast ausschließlich Gelehrte Räte, keine Theologen. Sie einigten sich daher untereinander am 18. Mai 1566 auf eine Antwort an den Kaiser, die einen Ausschluss der Kurpfalz aus dem Religionsfrieden nahe legte. Die Folge war eine bemerkenswerte Auseinandersetzung zwischen den Fürsten und den Gelehrten Räten im CA-Rat. Theologen wurden nach wie vor nicht hinzugezogen. Gegen den Text der Fürsten protestierte der kursächsische Jurist und Geheime Rat IUD Laurentius Lindemann. Er verlangte von den Fürsten, dass sie die Zugehörigkeit der Kurpfalz zur Confessio Augustana bestätigten, also ihre Antwort an den Kaiser widerriefen. In der persönlichen Konfrontation kam Lindemann, wie ein kurbrandenburgischer Bericht vermerkte, „etwas hart mit den anwesenden fursten zureden“56. Er warf ihnen in Anwesenheit weiterer Gesandter vor, mit ihrer „eilenden condemnation unnd ausschliessung“ unüberlegt zu handeln.57 Fremde Mächte könnten sich darauf berufen und die Kurpfalz angreifen, auch könnten die Lehrunterschiede künftig die evangelischen Reichsstände in verhängnisvoller Weise aufspalten. Die Fürsten blieben jedoch bei ihrer Auffassung einer ausschliessung. In der folgenden Sitzung formulierte die Mehrheit des CARates, d.h. die Gelehrten Räte, die Antwort an den Kaiser jedoch so eindeutig, dass die Kurpfalz keinen Ausschluss mehr zu befürchten hatte.58 Die Entscheidung hatte enorme Tragweite, da sie die politische Akzeptanz calvinistischer Reichstände bis 1648 absicherte. Die anwesenden Fursten, Pfalzgraf Wolfgang von Zweibrücken, Herzog Ulrich von Mecklenburg und Herzog Christoph von Württemberg, vermochten sich gegenüber den Juristen-Politikern nicht durchzusetzen. Lindemann verantwortete seine Intervention selbst. Er hatte jedenfalls dazu keine schriftliche Weisung Kurfürst Augusts, der sich mit Herzog Albrecht V. von Bayern am Starnberger See bei der Jagd vergnügte.59 Auch dies ist ein wichtiger Aspekt der Beratungen, die von Juristen gesteuert wurden: Die Beratungen hatten eine hohe Verfahrensautonomie. Üblich war durchaus, dass sich Gesandte politisch naher Reichsstände außerhalb der Sitzungen absprachen. Formell und in Gruppen jedoch wurden 56 57

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GStA Berlin I. HA Rep. 10 Nr. FF Fasc. O, fol. 39. 20.5.1566. Or. HStA Dresden GA Loc. 10195 (5) 3. Buch, fol. 13-16. 20.5.1566. Or. mit Korr. Hd. Lindemann. RTA RV 1566 (Anm. 28), S. 1105-1123. HStA Dresden GA Loc. 10195 (5) 3. Buch, fol. 86 v. 27.5.1566. Or.

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die Propositionspunkte außerhalb der Kurien nicht beraten. Konfessionelle Streitpunkte kamen ja nicht in die Kurien, sondern in die konfessionellen Corpora.60 Hier wie in den Kurien aber wurde ad hoc entschieden. Die Kurfürsten respektierten 1566 diese Verfahrensregel weniger als die Gesandten. Dies lag daran, dass sie sich weniger dem direkten Einfluss des Kaisers entziehen konnten als Gesandte, die sich bei Interventionen auf ihre Instruktionen beriefen. Maximilian II. erreichte in einer Audienz am 25. April, in der er die anwesenden Kurfürsten an ihre Verantwortung für das Reich erinnerte, Zugeständnisse in der Frage der Türkensteuer, die anschließend im Kurfürstenrat formell beschlossen wurden.61 Dass die Kaiser persönlich auf Gesandte und Fürsten einwirkten, kam bei allen Reichstagen vor.62 Singulär beim Reichstag 1566 ist allerdings ein informelles Treffen allein der Kurfürsten ohne die Räte, das schon vor der Audienz beim Kaiser stattgefunden hatte.63 Es schloss insbesondere die Räte Kurbrandenburgs aus, die zuvor für eine sehr geringe Steuer votiert hatten. Die Kurfürsten allein kamen dann tatsächlich zu einer Übereinkunft, die höher lag als die zuvor in der Kurie beschlossene Summe. Sie setzten damit in beiden Fällen das formelle Verfahren außer Kraft und durchbrachen die Verfahrensautonomie des Kurfürstenrats. Das Beispiel Lindemann ließ bereits erkennen, dass die Räte beim Reichstag einen eigenen Handlungsraum beanspruchen konnten. Die Gesandten waren zwar durch Instruktionen, Weisungen und Berichte mit den fürstlichen Residenzen und städtischen Magistraten verbunden, aber nur sehr lose.64 Eine beträchtliche Handlungsautonomie ergab sich vor allem aus

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Das Verfahren in konfessionellen und konfessionspolitischen Agenden bei den Reichstagen von 1521 bis 1641 bedürfte dringend einer systematischen Untersuchung. Es löste sich von den Kurien, auch blieb es offener und wandlungsfähiger. HAStd Köln, KuR 142, unfol. 27.4.1566. Or. Beispiele bei WINFRIED SCHULZE, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung, München 1978, S. 81-111. HAStd Köln, KuR 142, unfol. 9.4.1566. Or. Die einschlägige Literatur überschätzt den Einfluss von Außen, z. B. manche Monographien zu Reichstagen nach 1555: HERMANN VON EGLOFFSTEIN, Der Reichstag zu Regensburg im Jahre 1608. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Dreißigjährigen Krieges, München 1886. HUGO MORITZ, Die Wahl Rudolfs II., der Reichstag zu Regensburg (1576) und die Freistellungsbewegung, Marburg 1895. WALTER HOLLWEG, Der Augsburger Reichstag von 1566 und seine Bedeutung für die Entstehung der reformierten Kirche und ihres Bekenntnisses (Beitr. zur Gesch. und Lehre der Reformierten Kirche 17), Neukirchen-Vluyn 1964. HERMANN BECKER, Der Speyerer Reichstag von 1570. Ein Beitrag

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zwei Gründen: Zum einen wurden die Beschlüsse in den Kurien mehrheitlich gefasst. Deckten sie sich nicht mit der Weisung für einen Gesandten, konnte er sich auf die Mehrheit berufen. Zum anderen konnten die heimischen Kanzleien gar keine genauen Weisungen geben. Die Instruktionen der Gesandten orientierten sich am kaiserlichen Ausschreiben, das die Verhandlungspunkte nur vage und unvollständig umschrieb. Die Tagesordnung eines Reichstags erhielt erst mit der Proposition und durch nachfolgende Eingaben genaue Konturen; erst beim Reichstag etwa erfuhren die Gesandten, welche Steuern der Kaiser forderte. Die langen Postwege erlaubten selten direkte Weisungen. Beim Reichstag 1566 schrieben die kursächsischen Gesandten etwa alle drei Tage einen Brief, der auf einer eigens eingerichteten Postroute eine Woche später in Dresden eintraf.65 Die kurbrandenburgischen Gesandten schickten nur alle ein bis zwei Wochen ein Schreiben an den Kurfürsten, offenbar mit eigenem Boten, der bis zu zwei Wochen unterwegs war.66 Ebenso lange mussten die Straßburger warten, deren Briefe durch eine „ordinari post“67 nur die Strecke von etwa 250 Kilometern zu überwinden hatten. Die Gesandten Kölns und Dortmunds sowie des Herzogs von Jülich-Kleve ließen ihre Schreiben gemeinsam von einem Boten befördern.68 Auch bei ihnen verstrichen zwei bis drei Wochen, bis sie wieder von ihren Auftraggebern hörten. Die langen Postwege, die sich erst entfaltenden Agenden und das Verfahren eines Reichstags wirkten also zusammen, dass ein weiter Handlungsraum blieb, den vor allem die Juristen nutzten.

zur Geschichte des 16. Jahrhunderts, Mainz 1969. Zutreffend: HANS-WOLFGANG BERDie Stadt Köln und die Reichsversammlungen im konfessionellen Zeitalter. Ein Beitrag zu korporativen reichsständischen Politik 1555-1616 (Veröff. des Kölnischen Geschichtsvereins e.V. 37), Köln 1988. ALBRECHT P. LUTTENBERGER: Kurfürsten, Kaiser und Reich. Politische Führung und Friedenssicherung unter Ferdinand I. und Maximilian II. (Beitr. zur Sozial- und VerfG des Alten Reiches 12), Mainz 1994. HStA Dresden GA Loc. 10195 (2) 1. Buch. GStA Berlin I. HA Rep. 10 Nr. FF Fasc. O. AM Strasbourg AA 678, fol. 38, 39. 13.5.1566. Or. AM Strasbourg AA 678, fol. 2, 32 v. Gesandte an den Rat der Dreizehn. Augsburg, 23.4.1566. Or. Der Kurfürst habe nnder dreitzehen offenen fanen sein lehen empfangen unnd ist gahr brachtig zugangen“. 10.5.1566. Or. Der Deutschmeister sei in Anwesenheit aller Kurfürsten im gewonlichen ornat belehnet worden, zuvor habe der Kaiser alle chur und fursten zur malzeit zu gast gehabt. GERHAUSEN,

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V. Der Reichstag war immer ein einzigartiges Forum der Begegnung, auch wenn allein Gesandte anreisten. Sie erhielten daher regelmäßig in ihren Instruktionen Weisungen, wie sie dieses Forum zu nutzen hatten; folgende Aufgabenfelder waren zu beachten: Selbstverständlich war die Pflege der Kontakte. Manche Instruktionen empfahlen, die Mahlzeiten möglichst mit anderen Gesandten einzunehmen. Formelleren Charakter hatten die Audienzen bei Kaiser und Fürsten, wozu in aller Regel Weisungen erteilt wurden. Vor oder nach der Audienz und später während des Reichstags hatten die Gesandten oft auch mit kaiserlichen Räten Absprachen zu treffen. Weitere Verhandlungen waren zu führen mit Reichsständen, benachbarten oder befreundeten, d.h. mit Ständen des Kreises oder eines Bundes. Gelegentlich wurden Reichstage für informelle Treffen der Kreisstände oder der Bundesstände (nach 1556 des Landsberger Bunds) genutzt. Diese Kontakte dienten der Kooperation oder der Beilegung von Konflikten, aber auch der Anwerbung von Amtsträgern, der Bestätigung von Privilegien oder dem Abschluss von Verträgen (Grenzen, Zölle, Münzen usw.). Beim ersten Reichstag Kaiser Maximilians II. 1566 suchte jeder Reichsstand in der Reichskanzlei um die Bestätigung der Reichslehen und Regalien nach (einschließlich Erbeinigungen, Exspektanzen, Testamente usw.). Ein scheinbar selbstverständliches Anliegen der Akteure war das Beschaffen von politischen und allgemeinen Nachrichten. Die Höfe im Reich schätzten im Lauf des 16. Jahrhunderts deren Wert mehr und mehr. Daher begannen sie, den Austausch von Wissen – nicht nur von politischem Wissen – systematisch zu organisieren, was etwa in der Verdichtung der Korrespondenzen sichtbar wurde. Es ist daher nicht nur als formelhafte Wendung zu verstehen, wenn Instruktionen die Gesandten mitunter ausdrücklich anwiesen, „mit vleis“ Informationen zu sammeln und dazu eigens die Räte anderer Reichsstände aufzusuchen. Die folgenden Bemerkungen beziehen sich nur auf diesen dritten Bereich, und zwar erstens auf die Bedeutung der (handgeschriebenen) Zeytungen, zweitens auf die personellen Netze des Informations- und Nachrichtenaustausches. Das Sammeln von Zeytungen war den Gesandten selten explizit in der Instruktion aufgetragen, weil es selbstverständlich war und immer intensiv betrieben wurde. Dies gilt gerade für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts,

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als die weltlichen Fürstenhöfe mehr als die geistlichen zunehmend das Geschehen im Reich und in Europa verfolgen wollten. Die Verbreitung der Zeytungen mag ein „Kulturtransfer der avvisi-Technik“69 gewesen sein; jedenfalls trugen besonders die Gelehrten Räte mit Leidenschaft Nachrichten zusammen, und sei es nur aus Neugierde, um zu erfahren, was in der Welt vorging. Die Zeytungen wurden im 16. Jahrhundert noch nicht durch Druckmedien ersetzt, auch nicht durch die Messrelationen ab 1585 oder wöchentlichen Nachrichtendrucke ab 160570, die vergleichsweise wenige relevante Meldungen zeitnah bereitstellten. Während die „Fugger-Zeitungen“ seit langem ein Begriff sind71, wissen wir über das Nachrichten-Management der fürstlichen Kanzleien generell wenig.72 Die Forschung beachtete Zeytungen bisher nicht, weil sie zur Rekonstruktion des Tatsächlichen nichts beitrugen. Sie wurden außerdem nicht beachtet, weil sie allenfalls vage und außerdem unzuverlässige Informationen zu enthalten schienen. Jedoch sind sie unverzichtbar, wenn man rekonstruieren möchte, welches Politik- und Weltbild aus diesen Nachrichten erwuchs. Auch beim Einholen der Zeytungen engagierten sich die Gelehrten Räte als Verantwortliche für die Korrespondenz ungleich mehr als die Adligen. Sie wählten aus und dokumentierten alles Bemerkenswerte.73 Ihr Zeytungs69

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CORNEL ZWIERLEIN, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland (SchrR. der Hist.Komm. bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 74), Göttingen 2006, S. 789. JOHANNES WEBER, Straßburg 1605. Die Geburt der Zeitung, S. 1-33, abrufbar unter: www.uni-leipzig.de/~hsk/pgs/jahrbuch/2005/Weber_Strassburg1605.pdf, auch in: Jb. für Kommunikationsgesch. 7 (2005), S. 3-26. ULRICH ROSSEAUX, Flugschriften und Meßrelationen. Sachsen und die Publizistik zur Kipper- und Wipperinflation (1620-1626), in: Neues Archiv für sächsische Gesch. 71/2000 (2001), S. 95-124. DERS., Die Leipziger Meßrelationen 1605-1730. Ein Beitrag zur Medien- und Kommunikationsgesch. der Frühen Neuzeit, in: Leipziger Jb. zur Buchgesch. 12/2003 (2003), S. 11-31. DERS., Die Entstehung der Messrelationen. Zur Entwicklung eines frühneuzeitlichen Nachrichtenmediums aus der Zeitgeschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts, in: HJb 124 (2004), S. 97-123. Als Überblick über Zeytungen immer noch nützlich: KARL SCHOTTENLOHER (Hg.), Flugblatt und Zeitung. Ein Wegweiser durch das gedruckte Tagesschrifttum. Bd 1: Von den Anfängen bis 1848, Berlin 1922. S. jetzt zu den Fugger-Zeytungen (mit Lit.): OSWALD BAUER, Pasquille in den Fuggerzeitungen. Spott- und Schmähgedichte zwischen Polemik und Kritik (1568-1605) (Qu.editionen des Inst. für Österreichische Gesch.Fg. 1), Wien 2008. JOHANNES KLEINPAUL, Das Nachrichtenwesen der deutschen Fürsten im 16. und 17. Jahrhundert, Leipzig 1930. LANZINNER, Warten auf den Reichstag (Anm. 3), S. 177.

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und Nachrichtenmanagement beim Reichstag könnte ein Feld für weiterführende Untersuchungen zum „Öffentlichkeitssegment“ der Höfe des 16. und 17. Jahrhunderts bilden74, weil die Gesandten ihren Berichten regelmäßig Zeytungen beilegten, deren Informationen sie mitunter in ihrem Schreiben selbst noch einmal wiederholten und kommentierten. Die Berichte mit den Zeytungen lassen sich mithin als serieller, abgrenzbarer Quellenbestand nutzen. Was für wichtig befunden, gelesen und übermittelt wurde, verweist auf den Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizont der politisch Handelnden, auf ihr kulturell-politisches Denken, ihre Weltsicht. Einen Eindruck von der Praxis des Zeytungssammelns vermittelt das Diarium des hessischen graduierten Juristen Dr. David Lauck vom Augsburger Reichstag 1582. Lauck hatte höchstes Interesse an Zeytungen, fragte jeden Tag bei anderen Gesandten nach, den Württembergern, Kurbrandenburgern und Kursachsen, mit denen er wechselnd meist zum Mittags- und Abendmahl zusammen saß, und immer auch bei der Augsburger Poststation.75 Die Intensität, mit der Lauck sich den Nachrichten – oder auch den politischen und sozialen Verhältnissen der Reichstagsstadt Augsburg – zuwandte, lässt beispielhaft die curiositas des gebildeten Humanisten erkennen. In den personellen Netzen des Informations- und Nachrichtenaustauschs nahmen die graduierten Juristen eine Schlüsselstellung ein. Sie bildeten die Knotenpunkte des Wissens über Reichstag und Reich, weil sie die Akten verfassten, in den Kurien votierten und weil eine bislang unbekannte Zahl immer wieder Reichs- und Kreisversammlungen besuchte. Diese Politiker sorgten für die Kontinuität der Rituale, des Zeremoniells, des Verfahrens, der Reichspolitik und des Reichssystems im Ganzen. Erfahrenen Juristen des Kaisers und wichtiger Reichsfürsten, die mehrfach Reichstage besucht hatten, lenkten somit den Ablauf und den Informationsfluss während eines Reichstags. An solchen furnemen rhät, wie sie genannt wurden, orientierten sich die Gesandten kleinerer Fürstentümer und der Reichsstädte. Beim Reichstag 1566 ragten unter den erfahrenen Räten heraus der Reichsvizekanzler IUD Johann Ulrich Zasius (Kaiser), IUD Andreas Zoch (Kurbrandenburg), IUD Laurentius Lindemann (Kursachsen), IUD Franz

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LANZINNER, Einleitung, in: LANZINNER / STROHMEYER, Reichstag (Anm. 6). MAXIMILIAN LANZINNER, Kommunikationsraum Region und Reich, in: Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit, hg. von JOHANNES BURKHARDT / CHRISTINE WERKSTETTER (HZ Beih. N.F. 41), München 2005, S. 227-235. LANZINNER, Warten auf den Reichstag (Anm. 3), S. 177-180.

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Burkhard (Kurköln) oder Lic. iur. Christoph Mathias (Kurmainz), die für den Kaiser und die Kurfürsten tätig wurden. Sie hatten zumindest schon Reichstage und Reichsversammlungen seit 1555 besucht; der Kurkölner Burkhard war noch bis zum Reichstag 1582 aktiv.76 Im Fürstenrat verfügte etwa der Gesandte Bayerns, IUD Wiguleus Hund, über große Erfahrung bei Reichsversammlungen. Hund sei pars pro toto kurz vorgestellt. Er hatte als Rechtsgelehrter zwar nicht den Rang Gails oder Mynsingers, war aber ein führender Praktiker in Verwaltung und Diplomatie. 1566 beschäftigte er sich intensiv mit Verfahrensfragen und der Reform des Reichskammergerichts; in den Kammergerichtsakten finden sich seine Marginalien. Er hatte nahezu alle Reichstage seit 1547/48 besucht und war noch beim Regensburger Reichstag 1576 anwesend; ebenso vertrat er den bayerischen Herzog bei anderen Reichs- und Kreisversammlungen, etwa beim Königswahltag 1562 oder beim Reichsdeputationstag 1564. 1555 war er maßgebender Sprecher im Fürstenrat bei den Religionsverhandlungen, außerdem bei der Novellierung der Reichskammergerichtsordnung, für die er das Konzept erstellte.77 Die Wirksamkeit der Juristen vor Ort erhielt also ihre eigene Kontinuität durch den fortgesetzten Besuch von Reichsversammlungen, der für einen Teil gerade der Graduierten nachzuweisen ist. Diese Räte aus den Territorien wuchsen zu einem Kreis von „Reichsräten“ zusammen, die spezifische Kompetenzen für die Kreis- und Reichspolitik erwarben. Dabei handelten und entschieden sie relativ selbständig, auch bei den Kreis-, Deputationsoder (Kur-)Fürstentagen. Die „Reichsräte“ bildeten zwar den Kern des Informationsaustauschs während des Reichstags 1566, aber eine Hierarchie ist unverkennbar. Der Kaiser und seine Berater standen naturgemäß an der Spitze. Die gefragten Informationsträger unter den kaiserlichen Räten waren die gleichen, die auch die politischen Geschäfte abwickelten: die Reichsvizekanzler Johann Ulrich Zasius und Johann Baptist Weber, außerdem Timotheus Jung und Georg Ilsung in der Geschäftsführung des Fürstenrats. Unter ihnen nahm Zasius weniger aufgrund seiner formellen Position, die auch Weber zukam, als aufgrund seiner informellen Aktivitäten den ersten Platz ein. Zasius gab bevorzugt die Türkenmeldungen bekannt. Er hatte Verbindung zu Gesandten aus allen Kurien, im Kurfürstenrat sehr eng zu Lindemann und den kur-

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HEUSER, Zentralbehörden I/1 (Anm. 30), S. 315-319, hier S. 316. MAYER, Leben (Anm. 1), S. 61 f., S. 64.

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sächsischen Gesandten78, im Fürstenrat zu den württembergischen und bayerischen, namentlich zu Wiguleus Hund,79 aber ebenso zu den Gesandten der großen Reichsstädte Köln,80 Straßburg,81 Nürnberg und Augsburg. Kurfürstliche Gesandte hatten nicht den Kenntnisstand von Zasius zu den Themen des Reichstags, zu den Türkenrüstungen, zu Schweden oder dem Nordischen Krieg, auch nicht den Kenntnisstand zu den Vorgängen in der europäischen Politik und im Reich, die der Kaiserhof besser überblickte. Aber wegen des Rangs und des Gewichts, das die Kurfürsten für die Entscheidungen des Reichstags hatten, waren einige ihrer Gesandten zentral für die Abstimmung der Reichspolitik anderer Fürsten. Bevorzugt suchten Gesandte den Kontakt zu den kurmainzischen und kursächsischen Räten, an denen sich die Vertreter der Geistlichen bzw. der Evangelischen im Fürstenrat orientierten. Kursachsen mehr als Kurmainz unterhielt ohnehin eine „gute“ Korrespondenz, wie es zeitgenössisch hieß, mit Hessen82, Württemberg83, Kurpfalz84, Kurbrandenburg, aber auch mit den Wetterauer Grafen85, Bayern86 und Braunschweig. Das Netz guter Beziehungen, das Kursachsen unterhielt87, seine überragende Finanzkraft88 und seine abwägende Politik im Kurkolleg sicherte sei-

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HStA Dresden GA Loc. 10195 (2) 1. Buch, fol. 163 v. 3.1.1566. Or. HStA Dresden GA Loc. 10195 (2) 1. Buch, fol. 536 v. 12.5.1566. Or. MAYER, Leben (Anm. 1), S. 62. HAStd Köln, KuR 142, unfol. 17.3.1566. Or. AM Strasbourg AA 678, fol. 49. 20.5.1566. Or. ERNST LAUBACH, Die Reichspolitik Philipps des Großmütigen in seiner letzten Dekade (1556-1567), in: Reformation und Landesherrschaft, hg. von INGE AUERBACH (Qu. u. Darst. zur Gesch. des Lgf. Philipp des Großmütigen Bd. 9), Marburg 2005, S. 187-211. MANFRED RUDERSDORF, Ludwig IV. Landgraf von Hessen-Marburg, 1537-1604. Landesteilung und Luthertum in Hessen (Veröff. d. Inst. für europ. Gesch. Mainz 144), Mainz 1991. AUGUST KLUCKHOHN (Bearb.), Briefe Friedrichs des Frommen, 2 Bde., Braunschweig 1868/70. GEORG SCHMIDT, Der Wetterauer Grafenverein. Organisation und Politiker einer Reichskorporation zwischen Reformation und Westfälischem Frieden, Tübingen 1989. REINER ZIMMERMANN, Evangelisch-katholische Fürstenfreundschaft. Korrespondenzen zwischen den Kurfürsten von Sachsen und den Herzögen von Bayern von 1513-1586 (Friedensauer SchrR.. Reihe A, Theologie 6), Frankfurt am Main u. a. 2004. MAXIMILIAN LANZINNER, Friedenssicherung und politische Einheit des Reiches unter Kaiser Maximilian II. (1564-1576) (SchrR. der Hist.Komm. bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 45), Göttingen 1993, S. 204-208. UWE SCHIRMER, Kursächsische Staatsfinanzen (1456-1656). Strukturen – Verfassung – Funktionseliten (Qu. U. Fg. zur sächs. Gesch. 28), Stuttgart 2006, S. 612-615, S. 658-663.

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nen Gesandten auch beim Reichstag den Vorrang vor anderen Reichsständen. Kurmainz als Mittelpunkt der geistlichen Fürsten hatte Bayern als Konkurrenten. Ganz „im Schlepptau“ der bayerischen Delegation befand sich etwa der Gesandte Würzburgs, der Lic. iur. Balthasar von Hellu (nicht: „Würzburg“).89 Von den Genannten bezogen die Vertreter der Städte und kleinen Reichsstände ihr Wissen über politischen Vorgänge und den Verhandlungsstand. Vor allem die Reichsstädte befragten immer wieder (kur-) fürstliche Gesandte nach den Beschlüssen ihrer Kurien, um die Entscheidungen des Städterats anzupassen. Offensichtlich strebten die Reichsstädte nach Gleichförmigkeit. Die Feinstruktur dieser Informations- und Politikvernetzung ist hier nicht nachzuzeichnen. Geformt wurde sie durch Tradition, innerdynastische Loyalitäten, Erbeinungen90, allgemein durch regionale, konfessionelle und politische Verbindungen. Eine Netzwerkanalyse könnte die Verflechtungen insbesondere der Gesandten selbst (und der Juristen unter ihnen) genauer bestimmen, aber ebenso die politische Isolation. Beim Reichstag 1566 ist die Isolation der Kurpfalz auch ohne quantifizierende Analyse unübersehbar, die sich bei nachfolgenden Reichsversammlungen abgeschwächt fortsetzte. 1566 suchten nur IUD Johann Knauff, Gesandter des Pfalzgrafen Georg Johann von Veldenz, dann der Pfalzgraf selbst die kurpfälzische Delegation auf.91

VI. Der Reichstag konstituierte sich in unterschiedlichen Formen. Einen glanzvollen Auftakt bildeten der Zug des Kaisers zum Reichstagsort und, wie erwähnt, das Entrée mit Triumphbögen, Baldachinen, wertvollen Geschenken und mehr als tausend Begleitern. Zu erinnern ist an die Fürstenzüge, an die Einquartierungen in der Stadt, die Eröffnung des Reichstags, die Feste mit

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REUSCHLING, Regierung (Anm. 30), S. 248. WINFRIED MOGGE, Balthasar von Hellu (um 1518-1577) (Veröff. der Ges. für Fränkische Gesch. Reihe 7A. Fränkische Lebensbilder), Neustadt Aisch 1980, S. 124-142. MAXIMILIAN LANZINNER, Das römisch-deutsch Reich als Handlungsraum wettinischer Politik im Zeitalter der Reformation, in: Perspektiven der Reformationsforschung in Sachsen. Ehrenkolloquium zum 80. Geburtstag von Karlheinz Blaschke, hg. von WINFRIED MÜLLER (Bausteine aus dem Institut für Sächsische Gesch. und Volkskunde 12), Dresden 2008, S. 43-56, hier 44-46. KLUCKHOHN, Briefe (Anm. 84), Bd. 1, S. 640.

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Reiterspielen oder Belehnungen. Die Rituale, zeremoniellen Praktiken und Formen des Verfahrens, die das Reich erfahrbar machten, ebenso die unablässigen Konflikte um Rang, die sich notwendig damit verknüpften, sind hier nicht darzulegen. Zu unterscheiden wäre ja auch zwischen Typen von Reichstagen – vom Reichstag mit Kaiser, Fürsten und großem Gefolge bis hin zum reinen Gesandtenreichstag – um die Rolle speziell der Juristen unter den Gesandten zu erfassen. Der Zuschnitt dieser Studie erlaubt nur einige Bemerkungen zu Rang und Session der Gesandten, näherhin der Juristen. Die Belehnung des Kurfürsten August von Sachsen während des Augsburger Reichstags 1566 bildete auch den Rang der Gesandten ab. Es war die letzte Belehnung eines Kurfürsten unter freiem Himmel (23. April 1566). Zuschauer waren nicht nur die Bürger auf dem Augsburger Weinmarkt, vielmehr machte der Publizist und Dichter Mameranus den Ablauf und das Auftreten der Beteiligten im Druck einer nicht näher zu bestimmenden Öffentlichkeit bekannt. Welchen Platz nahmen die Gesandten und Räte des Kurfürsten beim Aufmarsch seines Gefolges ein? An der Spitze ritten die Grafen mit den Fahnen der kursächsischen Lehen, es folgten Markgraf Georg Friedrich von Brandenburg, Herzog Christoph von Württemberg, Herzog Johann d. J. von Holstein, Fürst Joachim Ernst von Anhalt und Herzog Heinrich von Liegnitz. Nach den Fürsten, gemäß dem Rang gestaffelt, waren die adligen Räte und Gesandten92 eingereiht, noch vor den kursächsischen Grafen, Herren und Junkern. Die Juristen fehlten jedoch gänzlich, obwohl sie in Mameranus’ Verzeichnis des kursächsischen Gefolges bei den Adligen aufgelistet waren.93 Kam ihnen bei einem Ereignis wie der Belehnung, die ganz zur Welt des Adels gehörte, kein Platz zu? Die Session bei Reichstagen war Teil des persönlichen und dynastischen Ehrkonzepts der Fürsten, Teil ihrer Reputation.94 Nach 1555 konnten die fürstlichen Gesandten den Sessionsstreit meist ohne großen Aufwand ver-

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MAMERANUS, verzeychnus (Anm. 9), S. 130. Hans von Pönickau, Wolf von Schonberg, Heinrich von Gleißenthal, Erich Volkmar Berlepsch, Wolf Tiefstetter (Oberster), Hans von Taubenheim, Dam von Sebottendorf, Jan von Zeschau, Abraham Bock, Hans von Carlowitz (Stallmeister), Balthasar Worm, Wolf Rauchheupt. MAMERANUS, verzeychnus (Anm. 9), S. 71. Grundlegend: BARBARA STOLLBERG-RILINGER, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, hg. von JOHANNES KUNISCH (ZHF Beih. 19), Berlin 1997, S. 91-132.

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meiden, da sich bereits Problemlösungen eingespielt hatten. Nicht geklärt war jedoch die Reihung, wenn Fürsten und Gesandte, meist eben Gelehrte Räte, öffentlich oder in den Kurien zusammenkamen. Galt dann die Session des Reichsstands unabhängig von der Person, also unabhängig davon, ob der Fürst selbst oder ein Gesandter diesen Platz beanspruchte? Eine verbindliche Entscheidung dazu lag bei Beginn des Reichstags 1566 nicht vor. Deshalb vermied es der kursächsische Delegierte IUD Laurentius Lindemann bereits beim feierlichen Einritt Maximilians II. am 20. Januar 1566, den Kaiser zu begleiten. Als Grund meldete er nach Dresden, dass er wegen des Platzes im Zug nicht mit Herzog Albrecht V. von Bayern „in irrung und getzenck“ geraten wollte.95 Er hätte als kurfürstlicher Rat Vorrang vor dem Herzog beansprucht und fürchtete Komplikationen. Im weiteren Verlauf des Reichstags, bei der Reichsbelehnung des Deutschmeisters, reihte sich der Gesandte Kurkölns vor dem Kurfürsten von Sachsen ein; der Gesandte wich nach dessen Protest. Der Vorfall veranlasste eine Beratung der nicht beteiligten Kurfürsten von Mainz, Trier und Pfalz. Sie entschieden, dass bei zeremoniellen Akten die persönlich anwesenden Kurfürsten stets den Vorrang vor Gesandten einnehmen sollten. Die Voten im Rat sollten dagegen, wie es unangefochtene Praxis war, stets bei der üblichen Reihung bleiben, gleichgültig wer das Votum abgab.96 Die Regelung betraf nur die Kurfürsten; im Fürstenrat wurde sie nicht übernommen. Gemäß der Alternation proponierte dort am 4. April als erster der Gesandte Österreichs in Anwesenheit des Erzbischofs von Salzburg. Der Erzbischof beanspruchte jedoch sofort den Vorrang vor dem Sprecher Österreichs, in consilio wie auch zuvor in publico actu.97 Er verließ protestierend den Fürstenrat, mit ihm Herzog Albrecht V. von Bayern, als der Gesandte Österreichs seine Session auch vor dem Herzog einnahm und nicht wich. Wegen eines vergleichbaren Falls wollte der Gesandte PfalzSimmerns beim Kaiser und beim Fürstenrat eine grundsätzliche Klärung, ob er einem Fürsten in jedem Fall zu weichen habe. Eine verbindliche Antwort erhielt er nicht.98 Auch bei den folgenden Reichstagen blieb offenbar die Sessionsfrage von Fürsten und Gesandten in der Schwebe. Beim Reichstag 1582 vermerkte Kaspar von Fürstenberg, Gesandter Kurkölns, nicht ohne 95 96

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HStA Dresden GA Loc. 10195 (5) 3. Buch, fol. 169. 20.1.1566. Or. RTA RV 1566 (Anm. 28), S. 439. Reihung: Trier, Köln, Pfalz Sachsen, Brandenburg, Mainz. RTA RV 1566 (Anm. 28), S. 559 f. RTA RV 1566 (Anm. 28), S. 541-548.

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Schadenfreude in seinem Diarium, er habe sich vor dem Kurfürsten August platzieren können: mirum, Sachsen leßet mich se personaliter praesente uber sich sitzen.99

VII. Das Thema „Juristen unter den Gesandten auf Reichstagen“ öffnet ein breites Forschungsfeld. In einem ersten Schritt wären die Namen und biographischen Daten zu ermitteln: zu Herkunft, Familie, Ausbildungsgang, Tätigkeit, Ämtern und Laufbahn; später ließen sich ergänzen, auch wenn das wegen des Aufwands und der Quellenlage nicht für alle Personen möglich ist: Daten zu Besitzerwerb (Belehnungen, Kauf von Herrschaften und Stadthäusern, Gnadengelder, Kreditvergabe), personelle Verflechtungen (Familie, Studienfreunde, Vernetzung mit anderen Räten) und soziale Mobilität (Nobilitierungen, Konnubium, Daten zur Intergenerationen-Mobilität). Diese Informationen ermöglichen nicht zuletzt quantifizierbare Aussagen – ob zur Teilnahme an Reichs- und Kreistagen, zu regionaler und sozialer Mobilität, zu Ausbildungsgang oder zu Laufbahnprofilen. Darauf könnten weitere Untersuchungen aufbauen, etwa zum Lebensstil, zu konfessionellen und politischen Leitbildern, zu Denk-, Wahrnehmungsund Handlungsschemata. Aus Publikationen der Juristen ließen sich Werthaltungen, Leitbilder und kulturell-politische Denkmuster ableiten, auch aus (selten überlieferten) Korrespondenzen, die Gelehrte Räte untereinander führten.100 Zur Vertiefung eignen sich Fallstudien, wie sie Anja Meußer zum Reichsvizekanzler Johann Ulrich Zasius erstellt hat.101 Darüber hinaus sind die Rückwirkungen auf die politische Kultur der Territorien zu beachten. Der Wissenstransfer gerade der Gelehrten Räte bei Reichsversammlungen, Kreistagen und Kommissionen, ferner durch Korrespondenzen wirkte offenkundig in die Territorien hinein. Er beeinflusste die Form des Regierens, die Verwaltung, die Konfessions- und Steuerpolitik, staatliches Handeln insgesamt, aber auch die Ausgestaltung der Höfe, Universitäten, Akademischen

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101

ALFRED BRUNS (Bearb.), Die Tagebücher Kaspars von Fürstenberg, 1572-1610 (Veröff. der Hist.Komm. für Westfalen XIX Westfälische Briefwechsel und Denkwürdigkeiten 8), 2 Bde., Münster i. W. 1985, hier Bd. 1, S. 168. THOMAS NICKLAS, Reichspolitische Beziehungsgeflechte im 16. Jahrhundert. Lazarus von Schwendi und der Dresdner Hof, in: KUNISCH, Neue Studien (Anm. 94), S. 181-206. MEUSSER, Zasius (Anm. 1).

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Maximilian Lanzinner

Gymnasien oder der konfessionellen Kulturen. Manches wurde fast in jedem großen Territorium übernommen, nachfolgend auch in kleineren: etwa die Einrichtung von Hofräten, zentralen Finanzkammern, Geheimen Ratskollegien oder Kirchenräten, das kontrollierende Instrument der Visitationen, die propädeutischen Jahrgangsstufen in den Akademischen Gymnasien und anderes mehr. Das Ziel der Forschungen zu den Juristen sollte primär nicht die einzelbiographische, sondern die gruppenbiographische Analyse sein. Zum einen besuchten die Herausragenden unter diesen gelehrten Juristen viele Reichstage und andere Reichsversammlungen oft über zwei bis drei Jahrzehnte hinweg. Die Gesandten trafen sich also immer wieder und verstanden sich als Gruppe. Zum anderen entstammten die Gelehrten dem gleichen sozialen Umfeld. Gemeinsamkeiten waren z. B.: die Herkunft aus dem Bürgertum; nach 1550 die humanistische Ausbildung an den Gymnasien und den Artistenfakultäten; das Rechtsstudium; die herausgehobene Stellung im Fürstendienst; die Tendenz zum Konnubium in der Schicht der Amtsträger; die Ausbildung eigener politischer Leitbilder. Diese waren geformt durch die Kenntnis des römischen Rechts und Staats einerseits sowie durch die Normen und die Praxis der Politikgestaltung in den Territorien andererseits. Jedenfalls bildeten die Juristen oder gelehrten Räte, wie wir sehen konnten, seit den 1540er Jahren, vielleicht schon vorher, das Rückgrat der Reichstage und sicherten offenbar die Kontinuität der Politik und des Verfahrens sowie die Kontinuität in den Inszenierungen, Verfahrensweisen und Entscheidungsprozessen des Reichstags – wohl ungleich mehr als die Fürsten, denen die letzte Entscheidung zukam, oder die anderen, meist adligen Gesandten.

SIGRID JAHNS

Die Erfassung des Raumes durch das Reichskammergericht Kommentar1

I. Als ich mich bei meiner Vorbereitung auf diese Tagung näher mit dem Programm der Sektion, die ich kommentieren soll, befaßte, stellte sich folgender Eindruck ein, der sich noch verstärkte, als ich die zugehörigenVortragsmanuskripte las: Von allen vier Sektionen, die auf dieser Tagung verhandelt wurden, scheint mir diese letzte über „Die Erfassung des Raumes durch das Reichskammergericht“ diejenige Sektion zu sein, die am wenigsten innere Kohärenz besitzt. Bei den von Herrn Schildt und Herrn Weitzel behandelten Themen liegt der innere Zusammenhang und der Bezug zum Oberthema der Sektion auf der Hand. Aber wie fügen sich die Vorträge von Frau Männl über „Juristenregionen im späten Mittelalter“ und von Herrn Lanzinner über „Juristen unter den Gesandten der Reichstage“ in das Sektionsthema ein und in welchem Zusammenhang stehen sie mit den Referaten von Herrn Schildt und Herrn Weitzel? Und welche Aspekte, die für das Oberthema der Sektion ebenfalls von großer Relevanz sind, fehlen im Kanon der Vorträge? Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, kommentiere ich nicht der Reihe nach die Vorträge, die ja schon ausführlich diskutiert worden sind. Ich zeige vielmehr drei größere Themenkomplexe auf , die mir für das übergeordnete Sektionsthema besonders relevant erscheinen; ich ordne die Referate sowie die hier nicht referierten Aspekte diesen drei Schwerpunkten zu; und ich versuche dabei, soweit das möglich ist, zwischen diesen drei Themenfeldern Zusammenhänge herzustellen.

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Der Stil des Kommentars wurde beibehalten. Der Text wurde gegenüber der am Abend des 12. April 2008 in Berlin vorgetragenen Version um einige Passagen erweitert. In den Anm. werden nur diejenigen Werke zitiert, die im Text namentlich erwähnt werden.

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Sigrid Jahns

Ich sehe folgende drei thematische Bereiche, die in ihrer Gesamtheit geeignet sind, das Potential des Oberthemas auszuschöpfen, vor allem wenn man dieses Sektionsthema, wie gleich erläutert, in einem umfassenderen Sinne versteht: erstens Reichskammergericht und räumliche Inanspruchnahme oder – in umgekehrter Richtung gedacht – Reichskammergericht und räumliche Wirksamkeit (II.), zweitens Reichskammergericht und Rechtsvielfalt (III.) und drittens Reichskammergericht und Richterrekrutierung, d.h. Reichskammergericht und geographische Rekrutierung seines richterlichen Personals. Das damit in keinem Zusammenhang stehende letzte Referat der Sektion wurde separat kommentiert, um damit den Anschluß an das Sektionsthema zu finden (V.).

II. Diesem Themenfeld, das in der Sektion am besten repräsentiert ist, ordnen sich die beiden Referate von Herrn Schildt über „Nähe und Ferne zum Reichskammergericht. Teilergebnisse einer quantitativen Analyse“ und von Herrn Weitzel über „die Minderung der räumlichen Präsenz des Reichskammergerichts: Exemtionen, Appellationsprivilegien und vergleichbare Erscheinungen“ zu. Zu ihren Vorträgen ist in den Diskussionen schon sehr viel gesagt worden. Bevor ich ergänzend auf einige Aspekte näher eingehe, möchte ich vorweg als Anregung darauf hinweisen, daß man diesem ersten Themenbereich noch sehr viel mehr abgewinnen könnte, wenn man das Sektionsthema weiter faßt und bei dem Verhältnis von „RKG“ und „Raum“ in zwei Fahrtrichtungen denkt. Die eine Fahrtrichtung lautet im Sinne des vorgegebenen Sektionsthemas: „die Erfassung des Raumes durch das RKG“. Bei dieser Formulierung hat das RKG den aktiven Part. Ich verstehe darunter zum Beispiel, wie das RKG im 16. Jahrhundert kraft seiner bloßen Existenz, kraft seiner reichsweiten formalen Zuständigkeit, kraft seiner Rechtsanwendungspraxis und kraft seiner Rechtsprechung in den Territorien und Reichsstädten zur stärkeren Rechtsvereinheitlichung, zum Aufbau einer funktionierenden Gerichtsbarkeit mit mehrstufigem Instanzenzug und regelhaftem Prozeßverfahren sowie zur Durchsetzung des Fehdeverbots beitrug. Ich verstehe unter „Erfassung des Raumes durch das RKG“ zum Beispiel auch, wie die Standards, die das RKG für die juristische Qualifikation seines richterlichen Personals entwickelte, auf den Prozeß der Professionalisierung der im Fürstendienst stehenden Juristen zurückwirkten usw. Herr Diestelkamp hat zu

Die Erfassung des Raumes durch das Reichskammergericht – Kommentar

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diesen Einwirkungsmöglichkeiten des RKG in die Territorien hinein für das 16. Jahrhundert ja in einem bahnbrechenden Aufsatz zahlreiche Anregungen gegeben2. Diese soeben beschriebene Deutung des Sektionsthemas „Erfassung des Raumes durch das RKG“ könnte man sich im Themenkanon dieser Sektion und speziell auch in dem von mir gebildeten ersten Themenbereich „RKG und räumliche Inanspruchnahme bzw. RKG und räumliche Wirksamkeit“ ebenfalls vorstellen. Eine Verfolgung dieser Fahrtrichtung, auf welcher das RKG kraft seiner Existenz und Rechtsprechung gestaltend in die Territorien hineinwirkte oder später dann im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert Verluste an solchen Einwirkungsmöglichkeiten verbuchen mußte, – eine Verfolgung dieser Fahrtrichtung also würde eine Menge über Bedeutungszuwachs oder aber Bedeutungsverlust des RKG im Laufe seiner dreihundertjährigen Existenz aussagen. In diesem Sinne müßte eine erschöpfende Arbeit über „die Erfassung des Raumes durch das RKG und spätere Raum-Verluste“ erst noch geschrieben werden. Die andere Fahrtrichtung dieses umfassender verstandenen Sektionsthemas muß nun, spiegelbildlich zur ersten Version, lauten: „Die Erfassung des RKG durch den Raum“, treffender: „Die Räume des Reiches im RKG“. Bei dieser Themenvariante spielt das RKG den passiven Part. Als Frage umformuliert heißt das, bezogen auf den ersten von mir gebildeten Themenbereich „RKG und räumliche Inanspruchnahme“: Wie wirkte sich die Vielgliedrigkeit des Reiches mit seiner Vielfalt und Verschiedenheit politischinstitutioneller, verfassungsrechtlicher, materiellrechtlicher, konfessioneller, sozial-ökonomischer und anderer Räume auf die Judikatur des RKG aus? Mit welcher Vielfalt von Räumen (in diesem von mir soeben definierten komplexen Sinne) wurde das RKG, vermittelt über das Prozeßaufkommen, konfrontiert? Aus welchen Räumen des Reiches wurde seine Judikatur mehr in Anspruch genommen als aus anderen? Bzw. von welchen Räumen wurde es im Sinne der von Herrn Weitzel thematisierten Raum-Minderung mehr oder weniger ausgeschlossen? Diese Fahrtrichtung im Sinne von „Prägung der Inanspruchnahme des RKG durch die Vielzahl der Räume im Reich“ haben Herr Schildt und Herr Weitzel in ihren Vorträgen eingeschlagen. Zu beiden Referaten kommentiere ich ergänzend zur Diskussion nur einige ausgewählte Aspekte. Herrn Schildts Datenbank-Projekt wird für die 2

BERNHARD DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, in: Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, hg. von HANS-JÜRGEN BECKER / GERHARD DILCHER, Aalen 1976, S. 435-480.

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Forschung eine stupende Fülle von Daten bereitstellen. Sein Vortrag über „Nähe und Ferne zum Reichskammergericht“ offenbart aber auch exemplarisch die Schwierigkeit, diese massenhafte Datenflut zu interpretieren, und zwar speziell auch zur Frage der räumlichen Inanspruchnahme des RKG. Wie geht man mit diesem Datenschatz so um, daß die Interpretation der Massendaten der komplexen Realität des Reiches mit seiner Vielfalt und Verschiedenheit der politischen, verfassungsrechtlichen, behördlichen und materiellrechtlichen, konfessionellen, sozialen und ökonomischen Binnenstrukturen gerecht wird, also der Vielzahl und Verschiedenheit der Räume im Reich im konkreten und übertragenen Sinne? Die Interpretation der Daten steht und fällt unter anderem mit der Wahl der richtigen historischen Bezugsgrößen. Dazu hier nur ein Beispiel: Herr Schildt hat sehr deutlich gezeigt, daß im Zusammenhang mit der räumlichen Inanspruchnahme des RKG bzw. im Zusammenhang mit seiner Wirksamkeit in den verschiedenen Räumen des Reiches eine Bemessung von Nähe oder Ferne zum RKG nach reinen Kilometern nicht weit führt. Natürlich konnte bei dem Ausmaß des Prozeßaufkommens aus einem bestimmten Raum (sei es ein Territorium, eine Reichsstadt, eine Landschaft usw.) die nach Kilometern bemessene Nähe oder Ferne zum jeweiligen Sitz des RKG eine Rolle spielen. Aber für sich allein genommen war die rein geographische Entfernung, die man auf der Landkarte mit dem Lineal markieren kann, noch kein Wert, der über größere oder geringere Inanspruchnahme des RKG aus einer bestimmten Region im Laufe der drei Jahrhunderte entschied. Auch die grobe Einteilung des Reiches in Norden und Süden kann, wie sich aus Herrn Schildts Darlegungen ergeben hat, nur eine ganz grobe erste Meßlatte sein für die Bestimmung von Nähe oder Ferne und damit für das Ausmaß des Prozeßaufkommens aus einem bestimmten Raum des Reiches oder – in der anderen Richtung gedacht – für Ausmaß und Reichweite der räumlichen Wirksamkeit des RKG im Großraum des Reiches. Herr Schildt hat ja am Anfang seiner Ausführungen selbst betont, daß sich Nähe oder Ferne zur RKG-Judikatur über ganz verschiedene Kriterien definieren konnte, z. B. auch über konfessionell bedingte Nähe oder Ferne. Ich möchte eine weitere Kategorie von Nähe oder Ferne zur RKG-Judikatur vorschlagen, die vielleicht die Ursachen für starke oder weniger starke Beanspruchung des RKG aus einer Region noch weiter erhellt, das ist die Kategorie der politischen Nähe oder Ferne eines Territoriums zum Reich und seinen Institutionen und damit auch zum RKG. Analog zu Peter Moraws königsfernen und königsnahen Landschaften des Spätmittelalters gab es ja bekanntlich auch im frühneuzeitlichen Reichsverband Territorien bzw. Lan-

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desherren mit traditionell größerer politischer Nähe oder Ferne zum Reich und solche, die sich dem Reich und seinen Institutionen nach 1500 allmählich stärker zuwandten, oder aber im Gegenteil solche, die sich im Laufe der Zeit zunehmend vom Reichsverband distanzierten, und all das durchaus unabhängig von der rein geographischen Nähe oder Ferne zum Zentrum des Reiches. Solche allgemeine politische Nähe zum Reich und seinen Institutionen kann sich auch auf Nähe oder Ferne zum RKG und auf dessen unterschiedliche Inanspruchnahme aus den verschiedenen Territorien und Regionen des Reiches ausgewirkt haben. Ich gebe hier nur eine Anregung, die auch anschlußfähig ist zu Herrn Weitzels Vortrag über Raum-Minderung der RKG-Judikatur durch Exemtionen und illimitierte Appellationsprivilegien. Ich bleibe noch einen Augenblick bei meinem ersten Themenbereich über „RKG und räumliche Inanspruchnahme bzw. räumliche Wirksamkeit des RKG“ und schließe noch einige Bemerkungen zu Herrn Weitzels Referat über Minderungen der räumlichen Präsenz des RKG durch Exemtionen und illimitierte Appellationsprivilegien an. Herrn Weitzels Vortrag bildet sozusagen das Negativ zu Herrn Schildts Analysen über die Inanspruchnahme des RKG aus den verschiedenen Räumen des Reiches. Herrn Weitzels Ausführungen über die zunehmende Zurückdrängung der RKG-Judikatur aus bestimmten Territorien bzw. Regionen des Reiches durch Exemtionen und illimitierte Appellationsprivilegien sind zwar zunächst einmal spezifisch rechtshistorischer Natur, aber sie sind zugleich ein Politikum ersten Ranges. Herr Weitzel hat das in einigen wenigen Sätzen seines Vortrags auch treffend zum Ausdruck gebracht, besonders in seiner Schlußbilanz. Das Bedauerliche ist, das die meisten Allgemeinhistoriker die politische Relevanz dieser rechtshistorischen Tatbestände gar nicht oder viel zu wenig zur Kenntnis nehmen. Dabei ist der mehr oder weniger erfolgreiche Kampf bestimmter Reichsfürsten um die Durchsetzung von Exemtionen oder illimitierten Appellationsprivilegien ein ganz wesentlicher Teil jenes komplexen Vorgangs, den wir als Entstehung und Verfestigung frühmoderner Staatlichkeit in den Territorien des Reiches und als Durchsetzung von Landeshoheit nach innen und außen begreifen – ein Vorgang, mit dem sich die (allgemeinhistorischen) Frühneuzeitler so gern beschäftigen. Umgekehrt verhilft der von Herrn Weitzel beschriebene zunehmende Prozeß der Raum-Minderung der Kameraljudikatur auch dazu, die Defizite an Staatlichkeit, die das Reich als Ganzes – auf der oberen Ebene der Reichsverfassung – mit zunehmender Tendenz charakterisierten, vollständi-

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ger in den Blick zu bekommen. War das Alte Reich nun ein Staat oder war er es nicht? Diese Frage nach dem Wesen der Staatlichkeit des Reiches wird seit einigen Jahren in der allgemeinhistorischen Frühneuzeitforschung sehr kontrovers diskutiert. Wenn man diese Frage an Herrn Weitzels rechtshistorischen Befund heranträgt, dann kommt man doch einmal mehr zu dem Schluß, daß das politisch-verfassungsrechtliche System des Reiches eine höchst fragmentarische, vormoderne Form von Staatlichkeit ausgebildet hatte, die man nur beschreiben und nicht an modernen Vorstellungen von Staat und Staatlichkeit messen darf. Soweit mein Brückenschlag von Herrn Weitzels rechthistorischen Erläuterungen zur politischen und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches.

III. Dieser Themenbereich ist im Spektrum der Vorträge dieser Sektion leider nicht vertreten, auch wenn in mehreren Referaten der anderen Sektionen am Rande davon die Rede war. Hier geht es um das Verhältnis von gemeinem Recht und partikularen Rechten im Prozeßaufkommen und vor allem in der Urteilsfindung des RKG, das heißt es geht um die Rechtsvielfalt, die, vermittelt über die Vielzahl der verschiedenen regionalen und lokalen Rechtsräume, unter dem einheitlichen Rechtsraum des gesamten Reiches existierte und in der RKG-Judikatur eine Rolle spielte – oder aber davon ferngehalten wurde. Es gibt in dieser Runde viel Berufenere, über dieses Thema zu reden, allen voran Herr Oestmann, von dem man sich zu diesem materiellrechtlichen Aspekt in dieser Sektion ein Referat gewünscht hätte. Deshalb zu diesem Punkt als Anregung nur soviel: Ich trage in diesem Kreis Eulen nach Athen, wenn ich sage, daß das RKG bei seiner Neuerrichtung 1495 mit einer ungemeinen Fülle an deutschrechtlichen partikularen Ordnungen, Statuten, Herkommen und Gewohnheiten konfrontiert war, die in den verschiedenen Dörfern und Städten, Territorien und Landschaften des Reiches in bunter Gemengelage existierten und angewendet wurden. Das waren die spätmittelalterlichen Altlasten, die das RKG als Ausgangssituation vorfand. Die Neuerrichtung des RKG sollte nicht zuletzt dazu dienen, dieser Rechtszersplitterung, dieser unendlichen Vielfalt und Heterogenität der im Reich existierenden Rechtsräume entgegenzuwirken. Bekanntlich hat das RKG als ein romanisiertes Gericht hier in einem allmählichen Überformungs- und Assimilationsprozeß Beachtliches geleistet.

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Aber bekanntlich lebte unter dieser immer dicker werdenden gemeinrechtlichen Decke, die den Großraum des Reiches zu einem einheitlichen Rechtsraum integrierte und auch innerhalb der Territorien die Homogenisierung förderte, dennoch ein ganz beträchtlicher Rechtspluralismus weiter fort, und sei es nur dem Anspruch nach, weiterhin gültig zu sein. Dieser Rechtspluralismus auf der Ebene der Territorien nahm im Laufe der Frühen Neuzeit sogar immer mehr zu, auch wenn sich seine Inhalte wandelten. In der Rezeptionszeit äußerte er sich vor allem in deutschrechtlichen partikularen Ordnungen, Statuten und Gewohnheiten. Im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert relativierte der usus modernus pandectarum den seit langem prinzipiell unangefochtenen reichsrechtlichen Geltungsanspruchs des römischen Rechts wieder stärker zugunsten der Partikularrechte, die nun auch in der Judikatur der gelehrten Territorialgerichte wieder stärker zur Geltung kamen. Und überhaupt produzierten die erstarkenden Territorialstaaten im Zeitalter des sogenannten Absolutismus aus einem neuen obrigkeitlichen Selbstverständnis und Regulierungswillen heraus eine Flut von Partikularrechten neuer Art. Wenn man diese von mir hier nur ganz skizzenhaft umschriebenen Sachverhalte auf das Oberthema unserer Sektion anwendet, das müssen wir fragen: In welchem Ausmaß und in welcher Art und Weise wurde das RKG im Laufe seiner dreihundertjährigen Existenz mit diesem Rechtspluralismus konfrontiert? Wie schlug sich diese Rechtsvielfalt, die dem RKG aus den zahlreichen Rechtsräumen des Reiches vor allem in Appellationsprozessen zugetragen und vorgetragen wurde, in der Kameraljudikatur nieder? Wie und mit welchen Mitteln bewältigte das Kameralkollegium diesen im Laufe der Frühen Neuzeit noch ständig zunehmenden, „kaum vorstellbaren Rechtspluralismus“3, sei es, indem es die ihm vorgetragenen Partikularrechte prüfte, zurückwies oder in seiner Urteilsfindung berücksichtigte? Die ältere Forschungsmeinung zum Verhältnis von gemeinem Recht und partikularem Recht in der Kameraljudikatur wurde bekanntlich durch die 2002 erschienene Habilitationsschrift von Peter Oestmann über „Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich“ in weiten Teilen korrigiert. Oestmann hat darin nicht nur die normativen Grundlagen der kammergerichtlichen Rechtsanwendung neu interpretiert (vor allem die berühmte Rechtsanwendungsklausel in § 3 der KGO von 3

PETER OESTMANN, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich (Rechtsprechung. Materialien und Studien. Veröff. des MPI für europ. R.Gesch. 18), Frankfurt a. M. 2002, S. 681.

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1495), sondern er hat auch die Rechtsanwendungspraxis des RKG an Hand ausgewählter Appellationsprozesse aus Lübeck und Frankfurt am Main untersucht. Obwohl das Partikularrecht in der prozessualen Praxis des RKG dem gelehrten Recht keineswegs gleichgestellt war, kann Oestmann doch zeigen, daß in der Prozeßwirklichkeit partikulare Rechtsquellen neben den Rechtssätzen des ius commune, wenn auch unter sich im Laufe der Frühen Neuzeit verändernden Rahmenbedingungen, eine ungemein vielfältige Rolle spielten, sei es in den Rechtsbeibringungen der Parteivertreter, sei es in der richterlichen Rechtsanwendung des RKG. Was bezwecke ich mit diesen Ausführungen zum Verhältnis von Gemeinem Recht und Partikularrechten in der Rechtsanwendungspraxis des RKG? • Erstens dieses Thema hätte in unserer Sektion über die wechselseitige Beziehung zwischen dem RKG und den Räumen (hier: den Rechtsräumen) des Reiches ebenfalls einen sinnvollen Platz gehabt. • Zweitens die von Herrn Oestmann durch Analyse einiger ausgewählter Prozesse zu Tage geförderten Erkenntnisse zeigen, daß es sich lohnt, zum Verhältnis von gemeinem Recht und Partikularrecht in der Prozeßpraxis des RKG, zum Verhältnis von einheitlichem großen Rechtsraum auf der Ebene des ganzen Reiches und vielen heterogenen kleinen Rechtsräumen auf der Ebene von Territorien, Städten, Rechtslandschaften usw. weiter zu forschen.

IV. Bei dem dritten großen Themenbereich, den ich im Rahmen dieser Sektion für relevant halte, geht es, wie oben bereits gesagt, um die geographische Rekrutierung der am RKG tätigen Richter, der Assessoren oder Beisitzer, aus den verschiedenen „Räumen“ des Reiches. Dieses Thema ist im Vortragskanon dieser Sektion ebenso wie die im zweiten Bereich angesprochene partikularrechtliche Thematik nicht vertreten. Aber Frau Männl hat in ihrem Referat über „Juristenlandschaften im späten Mittelalter. Zum Wirken gelehrter Juristen im Fürstendienst“ die Zusammenhänge ihrer Forschungen mit diesem dritten Themenbereich kurz angedeutet. Ich versuche in meinem Kommentar, diese Zusammenhänge noch etwas deutlicher herauszustellen und gehe dabei zunächst auf Frau Männls Referat ein. Frau Männl hat uns nachdrücklich vor Augen geführt, daß man den Begriff des Raumes auch als sozialen Raum verstehen muß. Sie hat die Groß-

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räume und Regionen des spätmittelalterliches Reiches mit Menschen gefüllt, genauer: mit gelehrten Juristen. Sie zeigt die personelle Komponente des Rezeptionsvorgangs auf, nämlich die Entstehung und Ausbreitung des gelehrten Juristenstandes über einen Zeitraum von ca. 200 bis 250 Jahren hinweg. Nachdrücklich haften geblieben ist als eines ihrer Hauptergebnisse, daß der Prozeß der Entstehung des gelehrten Juristenstandes geprägt wird von Entwicklungen, die wir auch aus anderen Bereichen der spätmittelalterlichen Reichsgeschichte kennen, so von dem bekannten Entwicklungsgefälle zwischen dem „moderneren“ Süden und Westen und dem entwicklungsgeschichtlich verspäteten Norden und Osten des Reiches oder von dem allgemeinen und sehr komplexen Prozeß der Verdichtung, der sich auch in der zunehmenden Anzahl gelehrter Juristen im Fürstendienst und später auch in den Reichsversammlungen sowie im königlichen Kammergericht niederschlägt. Wenn man Frau Männls Referat mit dem Oberthema dieser Sektion (verstanden in dem oben definierten umfassenderen Sinne „das RKG und die Räume des Reiches“) und speziell mit dem von mir gebildeten dritten Themenbereich „geographische Rekrutierung der RKG-Assessoren“ in Beziehung setzt, dann wird Folgendes deutlich. Frau Männl zeigt, welche personellen Voraussetzungen im ausgehenden Spätmittelalter geschaffen wurden und geschaffen werden mußten, damit Kaiser und Reichsstände ab 1495 daran gehen konnten, ein weitgehend romanisiertes oberstes Gericht im Reich zu etablieren – ein Gericht, das mit einem ausreichend großen und permanent tätigen Stamm qualifizierter Richter bestückt war, die in der Lage waren, kraft ihrer Ausbildung in den gelehrten Rechten das gemeine Recht anzuwenden sowie nach römischrechtlichen Prozeßgrundsätzen zu verfahren und überhaupt nach wissenschaftlich-rationalen, professionellen Kriterien zu arbeiten. Anders ausgedrückt: Frau Männl zeigt auf, mit welcher personellen Ausgangssituation Kaiser und Reichsstände rechnen, auf welches gelehrte Personal sie zurückgreifen konnten, als sie 1495 das RKG neu errichteten und bis 1555 zu einem voll romanisierten höchsten Gericht im Reich fortentwickelten. Die Neuschöpfung von 1495 bedeutete auch eine entscheidende Zäsur in der Art und Weise der Richterrekrutierung für das oberste Gericht im Reich, und dieser Wandel steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Sektionsthema. Zum Verständnis ein Blick zurück vor 1495: In der Zeit des königlichen Kammergerichts hatte bekanntlich der König das alleinige Recht zur Benennung der Urteiler; in den Phasen der Verpachtung des Gerichts bekam der zugleich als Kammerrichter fungierende

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„Pächter“ (Fürstbischof von Passau, Kurfürst von Mainz) dieses Recht. Und in der Spätzeit Friedrichs III. forderte der Kaiser einige der ihm politisch nahestehenden Kurfürsten und Fürsten zur längerfristigen Abordnung von Urteilern an das königliche Kammergericht auf (Frau Männl hat die einschlägigen Forschungen von Paul-Joachim Heinig referiert4). All das hatte Folgen für die geographische Rekrutierung der auf diese Weise benannten Urteiler: Sie stammten, wie Frau Männl dargelegt hat, immer nur aus bestimmten geographischen Schwerpunkten des Reiches und damit aus bestimmten Juristengruppen, die dem Herrscher oder dem „Pacht-Kammerrichter“ des königlichen Kammergerichts oder den mit Personalvorschlägen beauftragten jeweiligen Fürsten über Dienst- und Klientelbeziehungen nahestanden. Wenn man Frau Männls Ergebnisse ganz konkret auf die Gründungssituation von 1495 anwendet, dann ist danach zu fragen, wie sich die von ihr beschriebenen Entwicklungen in der geographischen Rekrutierung der Urteiler für das neu zu errichtende Kammergericht niederschlugen. In der endgültigen Fassung der ersten Kammergerichtsordnung von 1495, aus der auch Frau Männl zu Beginn ihres Referats zitiert hat, steht zur Rekrutierung der Urteiler nur ganz lapidar, daß für das RKG 16 Urteiler (zur Hälfte gelehrte Doctores, zur Hälfte altadlig) bestellt werden, die alle wir [das ist der König] mit rate und willen der samblung itzund hie kiesen werden aus dem Reiche T.N.5. Aus verschiedenen kleineren Listen einzelner Stände wurde auf dem Wormser Reichstag zunächst eine größere Vorschlagsliste mit ins-gesamt 189 teils nach ständischen, teils nach geographischen Kriterien grup-pierten Namen zusammengestellt. Auf Grund dieser größeren Liste traf die Reichsversammlung bzw. ein Reichstags-Ausschuß die endgültige Auswahl. Man müßte diese weitere und engere Auswahlliste, die auf dem Wormser Reichstag 1495 und ähnlich wohl auch noch in den folgenden Jahren der 4

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PAUL-JOACHIM HEINIG, Kaiser Friedrich III. Hof, Regierung und Politik (1440-1493), 3 Tle. (Fg. zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beih. zu J. F. BÖHMER, Regesta Imperii 17), Köln Weimar Wien 1997, hier Tl. 1, S. 104-110. DERS., Gelehrte Juristen im Dienst der römisch-deutschen Könige des 15. Jahrhunderts, in: Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, I. Teil: Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1994 und 1995, hg. von HARTMUT BOOCKMANN / BERND MOELLER / LUDGER GRENZMANN / MARTIN STAEHELIN, (AbhAk Philol.-hist. Kle. 3. Folge 228), S. 167-184, hier S. 179 ff. Neueste wissenschaftliche Edition der Kammergerichtsordnung von 1495 in: Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I., Bd. 5: Reichstag von Worms 1495, Bd. I, Tl. 1: Akten, Urkunden und Korrespondenzen, bearb. von HEINZ ANGERMEIER (RTA Mittlere Reihe, 5/I, 1), Göttingen 1981, Nr. 342/IV, S. 380-428 (bes. S. 383-420), hier S. 384.

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Rekrutierung der Kammergerichtsassessoren zugrunde lag, mit Frau Männls Ergebnissen abgleichen und fragen: Welche der von Frau Männl beschriebenen Zonen größerer und geringerer Dichte an gelehrten Juristen im Königs- und Fürstendienst lassen sich auch in diesen Auswahllisten zur Rekrutierung der frühesten Assessorengenerationen identifizieren? Welche personellen Kontinuitäten gab es zwischen gelehrten Juristen, die bereits in den obersten Institutionen des spätmittelalterlichen Reiches tätig gewesen waren, also als Gesandte auf den Reichsversammlungen und vor allem als gelehrte Urteiler in der Spätphase des königlichen Kammergerichts, und denjenigen gelehrten Juristen, die 1495 und in den folgenden Jahren auf den Vorschlagslisten standen, die auf den damaligen Reichstagen in der Frühphase des RKG als Grundlage für die Richterbestellung dienten? Anstelle der ursprünglichen Assessoren-„Findung“ durch die Reichsversammlung auf der Basis von Vorschlagslisten bildete sich nun bald nach 1500, und zwar endgültig in den Jahren zwischen 1507 und 1521, das sogenannte Präsentationssystem als neuer Mechanismus für die Urteiler (Assessoren) des jungen RKG heraus. Das bedeutete: Die Reichstage hatten an dieser Richterbestellung keinen Anteil mehr, vielmehr wurde dieses Recht zur Präsentation der künftigen RKG-Assessoren direkt und separat den einzelnen Kurfürsten, dem Kaiser als Reichsoberhaupt und als Herrn seiner Erblande (Österreich, Burgund) sowie den zunächst sechs, dann zehn Reichskreisen übertragen. Dieser neue Modus zur Benennung und Bestellung der RKG-Assessoren hatte natürlich erhebliche Folgen für die geographische Rekrutierung der an diesem obersten Reichsgericht tätigen Richter. Das erkennt man leicht, wenn man sich die drei Hauptfunktionen vor Augen führt, die dieses Präsentationssystem hatte. Alle drei Funktionen haben unmittelbar mit den räumlichen Strukturen des Reiches zu tun. Die erste Funktion lag auf rechtspolitischem Gebiet: Die breite Streuung der Präsentationsrechte garantierte zumindest potentiell, daß Männer aus allen Regionen des Reiches auf die Richterstellen des RKG gelangten – Juristen, die nicht nur die Kenntnis des rezipierten römischen Rechts, des ius commune, sondern auch der verschiedenen deutschrechtlichen partikularen Ordnungen, Statuten und Gewohnheiten in das Kameralkollegium einbrachten. Schon in der Gründungsphase des RKG sahen es die Reichsstände laut eindeutiger Quellenbelege als sinnvoll und notwendig an, daß – vermittelt über die Assessoren und eine breite Streuung ihrer Herkunftsregionen – eine Vertrautheit mit möglichst vielen partikularen Rechtsquellen im Kameralkollegium vorhanden war – nämlich für den Fall, daß sich das Ge-

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richt neben der als selbstverständlich vorausgesetzten Kenntnis des gelehrten Rechts mit solchen partikularrechtlichen Normen in einem Verfahren von Amts wegen oder auf entsprechende Rechtsbeibringung der Parteien zu befassen und über deren Anwendung zu entscheiden hatte. Richterrekrutierung und Rechtsanwendungspraxis wurden also verkoppelt. Nach der endgültigen Ausbildung des Präsentationssystems sollte sich dessen rechtspolitische Funktion bis 1806 auf die Sozialstruktur des Kameralkollegiums auswirken. Denn seit der großen KGO von 1548/55 wurde reichsgesetzlich gefordert, daß der zum Beisitzer Präsentierte aus dem Gebiet des präsentationsberechtigten Standes oder Kreises oder zumindest aus einem unmittelbar benachbarten Kreis stammen solle. Hier greift mein dritter Themenbereich „Geographische Rekrutierung der RKG-Assessoren“ mit dem oben vorgestellten zweiten Themenbereich „RKG und Partikularrechte“ ineinander. Bei einer Analyse der geographischen Herkunft der RKG-Assessoren in den drei Jahrhunderten kammergerichtlicher Existenz wird immer zu untersuchen sein, ob sich die Präsentationshöfe an dieser Intention der Kameralgesetzgebung orientierten, wenn ja, warum sie es taten, oder – im gegenteiligen Fall – warum nicht. Mit der zweiten Funktion des kammergerichtlichen Präsentationswesens lösten Kaiser und Reich das aus dem Spätmittelalter ererbte quantitative Problem der Bedarfsdeckung, das schon 1495 ein wichtiger Motor bei der ersten Erprobung eines neuen Besetzungsverfahrens gewesen war. Gerade in der Anfangsphase des RKG sollte das Präsentationssystem in seiner zunächst noch embryonalen, dann seit 1507/1521 verfestigten Form auch und vorrangig dazu dienen, die Besetzung des Urteilergremiums sicherzustellen. Die Last, in einer noch dünn besiedelten Juristenlandschaft (wie sie Frau Männl beschrieben hat!) qualifizierte Personen ausfindig zu machen, die sich an dieses noch ganz instabile Gericht präsentieren lassen wollten, wurde auf die verschiedenen Glieder – und damit auf möglichst viele Regionen – des Reiches verteilt. Das Recht zur Präsentation auf eine Urteilerstelle wurde daher in den Anfängen des RKG häufig mehr als leidige Pflicht denn als Vorzug angesehen. Diese Beschaffungspflicht wurde seit ca. 1530 und endgültig seit der revidierten Kammergerichtsordnung von 1548/55 noch dadurch erschwert, daß sämtliche auf ein RKG-Assessorat präsentierten Männer, auch die ritterbürtigen, durch ein Studium des gelehrten Rechts qualifiziert sein mußten (den altadligen Kandidaten blieb nur der juristische Grad erspart). Erst im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts, mit steigendem Angebot an römisch-rechtlich geschulten Juristen, auch solchen aus dem Ritterstand, trat die Beschaffungs-Funktion des kammergerichtlichen Präsenta-

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tionssystems im Bewußtsein der Beteiligten in den Hintergrund, und aus der Pflicht zur Präsentation wurde sehr schnell ein Rechtsanspruch. Die dritte Funktion, die das seit 1521 voll entwickelte kammergerichtliche Präsentationssystem hatte, lag auf verfassungspolitischem Gebiet: Dieses Besetzungsverfahren sicherte auf Dauer die ständische Mitbeteiligung an der Richterernennung, wobei die Reichsstände in ihrer Gesamtheit sogar gegenüber dem Kaiser dominierten. Teils individuell in den Kurpräsentationen, teils korporativ in den Kreispräsentationen waren außer den Reichsrittern und außer den meisten Reichsstädten fast alle Reichsstände in die Rekrutierung der RKG-Assessoren einbezogen. Theoretisch konnten damit fast sämtliche politischen „Räume“ im Großraum des Reiches zu Herkunftsgebieten von RKG-Assessoren werden und sich damit im Kameralkollegium abbilden. Dasselbe galt der Einführung der konfessionellen Parität für die von den Reichsständen präsentierten RKG-Beisitzer (1648) gleichgewichtig auch für die in Gemengelage durch- und nebeneinander liegenden protestantischen und katholischen Regionen im Reich. Hier liegt einer der auffälligsten Unterschiede gegenüber dem Reichshofrat, der bekanntlich ausschließlich durch den Kaiser besetzt wurde mit entsprechenden Folgen für eine ganz anders profilierte, stärker auf die habsburgischen Erblande und den Süden des Reiches sowie auf die katholischen Gebiete konzentrierte geographische Rekrutierung der Reichshofräte. Aus dem Gesagten geht bilanzierend hervor, daß das Präsentationswesen mit seiner reichsweiten Streuung der Präsentationsrechte, mit seiner Rücksichtnahme auf partikularrechtliche Traditionen und mit seiner Orientierung am politisch-verfassungsrechtlichen, regionalen und später auch konfessionellen Proporz das geographische Herkunftsprofil der RKG-Assessoren ganz erheblich prägte. Welche Auswirkungen das im einzelnen hatte, welche Räume des Reiches zu welchen Zeiten uns aus welchen Gründen stärker oder schwächer über die RKG-Beisitzer im Kameralkollegium repräsentiert waren, muß durch eingehendere Studien genauer untersucht werden. Ich selbst habe das für die Zeit nach 1648 und vor allem für das letzte Jahrhundert kammergerichtlicher Existenz getan. Aber für die Zeit von 1495 bis 1648 besteht hier ein riesiges Forschungsdefizit. Darauf hat Frau Männl zu Recht hingewiesen.

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V. Abschließend noch ein kurzer Kommentar zum letzten Vortrag unserer vierten Sektion, zu Herrn Lanzinners Vortrag über „Juristen unter den Gesandten der Reichstage“. Herr Lanzinners Referat steht in keinem Zusammenhang zum Sektionsthema „Die Erfassung des Raumes durch das RKG“. Seine Ausführungen sind aber sehr wohl anschlußfähig an andere das RKG betreffende Aspekte. Dazu einige Anregungen, vor allem in Form von Fragen. So ist an die von Herrn Lanzinner untersuchten gelehrten Juristen, die zwischen 1541 und 1653 als Reichstagsgesandte fungierten, die Frage zu stellen, welche personelle Fluktuation es zwischen diesem Personenkreis und den damals am RKG tätigen Beisitzern gab – sei es, daß Juristen, die einige Jahre lang in Speyer höchstrichterliche Funktionen ausgeübt hatte, anschließend wieder auf Spitzenpositionen in den Fürstendienst wechselten und von ihrem Dienstherrn auf Reichstage entsandt wurden, sei es umgekehrt, daß gelehrte Räte im Fürstendienst mit Reichstagserfahrung eine Kuroder Kreispräsentation auf ein RKG-Assessorat erhielten. In der ersten Hälfte der Frühen Neuzeit waren solche auf Mobilität und Vielseitigkeit angelegten Karriereformen mit Sicherheit häufiger als im 18. Jahrhundert, als sich die juristischen Berufsbilder stärker ausdifferenzierten und „versäulten“. An die oben formulierte Frage schließen sich weitere an: Welche der von Herrn Lanzinner ermittelten Gesandten-Juristen waren auf den von ihm untersuchten Reichstagen maßgeblich beteiligt an jenen Ausschüssen, in denen neue Kammergerichtsordnungen und andere wichtige Kameralgesetze ausgearbeitet wurden? Waren unter solchen Reichstags-Juristen auch ehemalige RKG-Beisitzer, die naturgemäß eine besondere Expertise in allen Belangen des RKG – Personal- und Religionsverfassung, Richterqualifikation, Prozeßverfahren, Zuständigkeit usw. – hatten? Die der Akten des „Geharnischten“ Reichstags von 1547/48 lassen zum Beispiel die federführende Rolle erkennen, welche die beiden Reichstagsgesandten Dr. Konrad Braun und Dr. Konrad Visch, beides ehemalige RKG-Asses-soren, bei der Ausarbeitung der 1548 erlassenen neuen dreiteiligen Kammergerichtsordnung spielten, die dann in Gestalt der geringfügig modifizierten Ordnung von 1555 bis zum Ende des Reiches reichsgesetzliche Grundlage des RKG blieb6. 6

Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V.: Der Reichstag zu Augsburg 1547/48, 3 Tlbde., bearb. von URSULA MACHOCZEK (RTA Jüngere Reihe Bd. 18, Tlbd. 1-3), München 2006.

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Herrn Lanzinners Untersuchungen illustrieren, daß sich im 16. Jahrhundert Hand in Hand mit der Verfestigung der Reichsverfassung ein fester Stamm hochversierter Juristen im Fürstendienst herausbildete, die sich als Gesandte auf Reichs-, Kreis- und Deputationstagen immer wieder begegneten (eventuell trafen sie sich auch als Assessoren im Kameralkollegium wieder), und die in einer Phase, in welcher der Reichstag gesetzgeberisch besonders produktiv und schöpferisch war, dank ihrer politisch-juristisch-normativen Kompetenzen dieses frühneuzeitliche Reich und seine zentralen Institutionen erst eigentlich „machten“. Man müßte durch eine genauere prosopographische Analyse dieser Netzwerke untersuchen, welche personellen Verbindungen zwischen dieser auf Reichs-, Kreis- und Deputationstagen agierenden juristisch-politischen Funktionselite und den vom Reichstag mit der Visitation des RKG beauftragten, in kaiserlichen bzw. fürstlichen Diensten stehenden Visitationskommissaren bestanden. Auch von den bis 1589 regelmäßig tätigen Visitationskommissionen wurden ja wichtige Kameralreformen vorgeschlagen oder verabschiedet (so 1560 die Einführung paritätischer Religionssenate oder 1570 die Einführung der Proberelation für künftige RKG-Assessoren), und ein Visitationskommissar, der vor Ort fundierte Kenntnisse über die Kameralverfassung und notwendige gesetzgeberische Verbesserungen erworben hatte, konnte dieses Spezialwissen als ReichstagsJurist in Reichstagsverhandlungen über Kameralmaterien einbringen. Die noch sehr dichte Kameralgesetzgebung des 16. Jahrhunderts läßt jedenfalls ein stupendes Spezialwissen und ein ausgesprochenes Bemühen um Niveau, Effizienz und Stabilität des RKG erkennen. Es ist das Verdienst von Herrn Lanzinner, mit seinem Thema „Juristen unter den Gesandten der Reichstage“ ein Forschungsfeld umrissen zu haben, das bei entsprechenden Fragestellungen und ausgreifenden prosopographischen Recherchen auch die Reichskammergerichtsforschung weiterbringt.

1. Abkürzungen und Siglen* AbhAk Abt. Anm. App. ARK BA Bd. Bde. BDLG Bearb., bearb. Beitr. Bekl. BFR Brand. Bsm. DB DepA DFG dt. EdG EdN europ. Fg. ForschRegGesch FsBsm. Fsm.

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Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften Berlin (bzw. Düsseldorf, Göttingen, Heidelberg, Leipzig, Mainz, München, Wien) Abteilung Anmerkungen Appellation Konferenz der Archivreferenten des Bundes und der Länder Bundesarchiv Band Bände Blätter für deutsche Landesgeschichte Bearbeiter, bearbeitet Beitrag, Beiträge Beklagter Bochumer Forschungen zur Rechtsgeschichte Brandenburg, brandenburgisch Bistum Deutscher Bund Departementalarchiv Deutsche Forschungsgemeinschaft deutsch Enzyklopädie deutscher Geschichte Enzyklopädie der Neuzeit Europäisch Forschung Forschungen zur Regionalgeschichte Fürstbistum Fürstentum

Die Inventare werden in der Verantwortung der einzelnen Archivverwaltungen innerhalb jeweils selbständiger Publikationsreihen gedruckt. Die Numerierung der Gesamtreihe, vergeben durch das Bundesarchiv, soll eine Klammer für den Gesamtbestand herstellen.

404 Ges. Gesch. Gft. ggf. GHzm. GLA GStA SPK Hg. hg. HGBll HHStA Hist.Komm. hist. HJb HRG I ff., 22008 ff. HRG I, 11971 – V, 11998 HstA HZ Hzm. Inst. Inv. ISGF ital. IUD IusCommune IusCommuneSH Jb. JbwdtLgesch Jg. Jh. KGO

Anlage 1

Gesellschaft Geschichte Grafschaft gegebenfalls Großherzogtum Generallandesarchiv Geheimes Staatsarchiv Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin Dahlem Herausgeber herausgegeben Hansische Geschichtsblätter Haus-, Hof und Staatsarchiv Wien Historische Kommission historisch Historische Jahrbuch Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 22008 ff. Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 1. Aufl. 11971 – 1998 Hauptstaatsarchiv Historische Zeitschrift Herzogtum Institut Inventare Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main italienisch Iuris Utriusque Doctor Ius Commune, Veröff. des Max-PlanckInstituts für europ. R.Gesch. Ius Commune, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, Sonderhefte Jahrbuch Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte Jahrgang Jahrhundert Kammergerichtsordnung

405

Abkürzungen und Siglen

Kgr. Kl. Kle. Komm. Kurf. Kurfsm. LA LexMA I 1977 – IX 1999 Lfd. Nr. Lgesch. LGft. LHA LK MIÖG MÖSTA NDB NF NZ Preuß. Prov. QFA QFHG QFIAB Qu. R.Gesch. RA RegBez. RGft. RhistR RHR RhVjBll RKG

Königreich Kläger Klasse Kommission Kurfürst Kurfürstentum Landesarchiv Lexikon des Mittelalters laufende Nummer Landesgeschichte Landgrafschaft Landeshauptarchiv Landeskunde Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs Neue Deutsche Biographie Neue Folge Neuzeit Preußen, preußisch Provinz Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken Quellen Rechtsgeschichte Reichsarchiv Regierungsbezirk Reichsgrafschaft Rechtshistorische Reihe Reichshofrat Rheinische Vierteljahrsblätter Reichskammergericht

406 RKGO RTA RV Schr. SchrR. SchrRGesRKGForsch Schrswdt.LK StA StadtA Unters.z.dt.Staats.u. R.Gesch. VerfG Veröff. Veröff. des Inst. für europ. Gesch. Veröff. des MPI für europ. R.Gesch. Veröff. des MPI für Gesch. VuF WA Wiss. ZBLG ZGO ZHF ZNR ZRG GA Zs. ZVThG

Anlage 1

Reichskammergerichtsordnung Reichstagsakten Reichsversammlung Schrift Schriftenreihe Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde Staatsarchiv Stadtarchiv Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte Verfassungsgeschichte Veröffentlichungen Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte Vorträge und Forschungen Wojewodschaftsarchiv Wissenschaft, wissenschaftlich Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins Zeitschrift für Historische Forschung Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung Zeitschrift Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte (und Altertumskunde)

2. Autorenverzeichnis ANJA AMEND-TRAUT, Dr. jur., Universitätsprofessorin für Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Bürgerliches Recht an der Julius-Maximilians- Würzburg, Domerschulstraße 16, 97070 Würzburg, E-Post: [email protected] LEOPOLD AUER, Dr. phil., Hofrat, pensionierter Direktor des Haus-, Hofund Staatsarchivs Wien, Honorarprofessor für Historische Hilfswissenschaften an der Universität Wien, Saileräckergasse 5-11/4/4, A-1190 Wien, E-Post: [email protected]. FRIEDRICH BATTENBERG, Dr. jur., apl. Professor für mittelalterliche und neuere Geschichte, Ltd. Archiv-Direktor und Leiter des Hess. Staatsarchivs in Darmstadt, Karolinenplatz 3, 64299 Darmstadt, E-Post: [email protected] ANETTE BAUMANN, Dr. phil., apl. Professorin am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen und Leiterin der Forschungsstelle der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung in Wetzlar, Rosengasse 16, 35578 Wetzlar, E-Post: [email protected] BERNHARD DIESTELKAMP, Dr. jur., Dr. jur. h. c., emeritierter Universitätsprofessor für Bürgerliches Recht und Deutsche Rechtsgeschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Kiefernweg 12, 61476 Kronberg, E-Post: [email protected] RALF-PETER FUCHS, Dr. phil., Privatdozent an der Ludwig-MaximiliansUniversität München, Historisches Seminar, Abteilung Frühe Neuzeit, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München, E-Post: [email protected] JOST HAUSMANN, Dr. jur., Oberarchivrat im Landeshauptarchiv Koblenz, Karmeliterstr. 1-3, 56068 Koblenz, E-Post: [email protected] SIGRID JAHNS, Dr. phil., pensonierte Universitätsprofessorin für Geschichte der Frühen Neuzeit am Historischen Seminar der Ludwig-MaximiliansUniversität München, Bommersheimer Weg 20, 61348 Bad Homburg, E-Post: [email protected]

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Anlage 2

NILS JÖRN, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter im Stadtarchiv Wismar, Klußer Damm 38, 23970 Wismar, E-Post: [email protected] FRANK KLEINEHAGENBROCK, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit der Universität Würzburg, Am Hubland, 97074 Würzburg, E-Post: [email protected] MAXIMILIAN LANZINNER, Dr. phil., Universitätsprofessor für Geschichte der Frühen Neuzeit am Institut für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Konviktstraße 11, 53113 Bonn, E-Post: [email protected] INGRID MÄNNL, Dr. phil., Archivrätin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin Dahlem, Archivstr. 12-14, 14195 Berlin, E-Post: [email protected] PAUL L. NÈVE, Dr. jur., emeritierter Universitätsprofessor für Rechtsgeschichte und Römisches Recht, Katholieke Universiteit Nijmegen, P.C. Hooftstraat 12 NL-6573 CE Beek-Ubbergen Niederlande, E-Post: [email protected] EVA ORTLIEB, Mag. Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Österreichische Akademie der Wissenschaften, Zentrum für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung, Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs, Strohgasse 45/II/4, A-1030 Wien, E-Post: [email protected] BERND SCHILDT, Dr. jur., Universitätsprofessor für Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an der Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstraße 150, GC 6/155, 44780 Bochum, E-Post: [email protected] WINFRIED SCHULZE, Dr. phil., emeritierter Universitätsprofessor für Geschichte der Frühen Neuzeit am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München, Krokusstraße 22 a, 80689 München, EPost: [email protected] WOLFGANG SELLERT, Dr. jur., emeritierter Universitätsprofessor Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an der Georg-August-Universität Göttingen, Weender Landstraße 2, 37073 Göttingen, E-Post: [email protected] WERNER TROßBACH, Dr. phil., Professor an der Universität Kassel, FB 11 Ökologische Agrarwissenschaften, Nordbahnhofstraße 1a, 37213 Witzenhausen, E-Post: [email protected]

Autorenverzeichnis

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RAIMUND J. WEBER, Dr. jur., Projektbearbeiter am Landesarchiv BadenWürttemberg Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Ziegelwiesenstraße 33, 73540 Heubach, E-Post: [email protected] JÜRGEN WEITZEL, Dr. jur., emeritierter Universitätsprofessor für Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Bürgerliches Recht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Domerschulstraße 16, 97070 Würzburg, E-Post: [email protected] SIEGRID WESTPHAL, Dr. phil., Universitätsprofessorin für Frühe Neuzeit am Historischen Seminar der Universität Osnabrück, FB 2 - Kultur- und Geowissenschaften, Geschichte der Frühen Neuzeit, Neuer Graben 1921, 49069 Osnabrück, E-Post: [email protected]

3. Grundsätze für die Verzeichnung von Reichskammergerichts-Akten1 („Frankfurter Grundsätze“) Ordnung Die vorhandene innere Ordnung der einzelnen Akte soll an Hand des Protokolls überprüft werden. Verzeichnung 1. Signaturen Laufende Nummer, die auch im Index des Findbuchs gebraucht wird; gültige Archivsignatur, sofern sie nicht mir der lfd. Nr. identisch ist; Buchstabe und Nummer des Wetzlarer (jetzt Frankfurter) Generalrepertoriums. 2.–3. Parteien 2. Kläger bzw. Antragsteller, ggf. Nebenkläger; 3. Beklagter bzw. Antragsgegner beim RKG, ggf. Nebenbeklagter; getrennt durch /. Vorname, Nachname, Beruf, Titel, Wohnort, ggf. das Verhältnis zu einer anderen Person oder Institution (als Vormund des … als Erben des ... , namens seiner Frau …, namens der Bäckerzunft). Bei länger dauernden Prozessen sollen die Rechtsnachfolger von Parteien in der Regel nicht ausgeworfen werden, es sei denn, daß es aus besonderen Gründen als erforderlich erscheint. Bei Reichsständen und kirchlichen Institutionen kann der Personenname entfallen (Würzburg, Bischof). Die Partei-Eigenschaft in der Vorinstanz (bei mehreren Vorinstanzen; in der 1. Vorinstanz) wird durch (Kl.) oder (Bekl.) angegeben. Ortsnamen in heutiger Schreibweise, ohne nähere Identifizierung, Familiennamen bei heute noch bestehenden bekannten Familien nach Möglichkeit in heutiger Schreibweise.

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Die Inventare werden in der Verantwortung der einzelnen Archivverwaltungen innerhalb jeweils selbständiger Publikationsreihen gedruckt. Die Numerierung der Gesamtreihe, vergeben durch das Bundesarchiv, soll eine Klammer für den Gesamtbestand herstellen.

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Anlage 3

4. Prokuratoren Die Namen der Prokuratoren beim RKG, mit dem Jahr der Bevollmächtigung, getrennt nach Kläger und Beklagten. 5. Streitgegenstand Zunächst Bezeichnung des Prozesses in der lateinischen Formulierung des Protokolls bzw. der Präsentationsvermerke, danach möglichst genaue Beschreibung nach Sache, Ort, Personen, Zeit. Das wird in der Regel Neuformulierung und Präzisierung gegenüber den Angaben des Wetzlarer Generalrepertoriums bedeuten. 6. Instanzen Fortlaufend numeriert, jeweils mit dem Anfangsjahr; ggf. auch Kommissionen. Vorinstanzen, deren Akten nicht vorliegen, stehen in Klammern, ggf. ohne Anfangsjahr. Das RKG ist die letzte Instanz, mit der letzten Nummer; hier werden das Einführungsjahr und das Endjahr nach dem Protokoll, danach – soweit abweichend – in Klammern Anfangs- und Endjahr der Produkte genannt. 7. Darin-Vermerke Im Verfahren vorgebrachte Beweismittel, jeweils mit möglichst genauer, aber knapper Bezeichnung, mit Datierung, mit Angabe des Quadrangels (Q..) als Fundstelle, z. B.: → → → → → →

Urkunden, Inventare, Einkünfteregister, Rechnungen; Weistümer und andere Rechtsquellen; Genealogien; Karten, Pläne, Bilder; Rechtsgutachten von Juristenfakultäten, Schöppenstühlen ; Zeugenverhöre.

Die stichwortartige Zusammenfassung mehrerer Urkunden sollte, wo es sachlich vertretbar erscheint, zulässig sein („Lehnsurkunden betr. den Niederhof 1397, 1412, 1493“; „38 Rentenbriefe der Marienkirche bei Rendsburger Bürgern 1447-1510").

Grundsätze für die Verzeichnung von Reichskammergerichts-Akten

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8. Hinweise → → → → →

Prozeßsprache, falls nicht deutsch; Ggf. Unvollständigkeit der Akte, insbesondere Fehlen des Protokolls; Umfang der Akte in cm Stapelhöhe, falls mehr als 1 cm; Parallele Prozesse in gleicher Sache; Literatur.

Findbuch Die Akten sollen in der durch das Wetzlarer Abgabeverzeichnis gegebenen alphabetischen Reihenfolge verbleiben. Es ist jedoch eine chronologische Konkordanz herzustellen. Indices2 → Personennamen, mit Zusammenführung unterschiedlicher Schreibweisen, ggf. auch mit Querverweisen; → Ortsnamen in heutiger Schreibweise, mit Lagebestimmung auf die in der jeweiligen Landschaft übliche Art; → Sachen; → Vorinstanzen, Juristenfakultäten, Schöppenstühle; → Prokuratoren.

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Hierzu wurden in einer gesonderten Konferenz weitere Richtlinien entwickelt.

4. Inventare der Akten des Reichskammergerichts* 1 Repertorium der Akten des ehemaligen Reichskammergerichts im Staatsarchiv Koblenz (= Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 1), hg. von der Landesarchivverwaltung RheinlandPfalz, bearb. von Otto Graf von Looz-Corswarem und Hellmuth Scheidt Koblenz 1957. 2 Das Staatsarchiv Münster und seine Bestände, Bd. 2 Gerichte des Alten Reiches, (= Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe A: Inventare staatlicher Archive), bearb. von Günter Aders und Helmut Richtering. - Teil 1: Reichskammergericht A-K, Münster 1966. - Teil 2: Reichskammergericht L-Z, Reichshofrat, Münster 1968. - Teil 3: Register, Münster 1973. 3 Findbuch zum Bestand Reichskammergericht und Reichshofrat 1489– 1806 (6 Alt), bearb. von Walter Deeters (= Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung, Inventare und kleinere Schriften des Staatsarchivs in Wolfenbüttel, H. 2), Göttingen 1981. 4 Findbuch zum Bestand 27 Reichskammergericht (1500-1648), bearb. von Erich Weise, hg. von Heinz-Joachim Schulze (= Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung, Inventare und kleinere Schriften des Staatsarchivs in Stade, H. 1), Göttingen 1981. 5 Findbuch zu den Reichskammergerichtsakten 1524-1806 (in Bestand 20, 90, 105, 110, 120, 126 u.a.), bearb. von Albrecht Eckhardt (= Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung, Inventare und kleinere Schriften des Staatsarchivs in Oldenburg, H. 15), Göttingen 1982. 6 Bestand 140: Waldeckische Reichskammergerichts-Akten, bearb. von Andrea Korte (= Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Marburg), Marburg 1983.

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Die Inventare werden in der Verantwortung der einzelnen Archivverwaltungen innerhalb jeweils selbständiger Publikationsreihen gedruckt. Die Numerierung der Gesamtreihe, vergeben durch das Bundesarchiv, soll eine Klammer für den Gesamtbestand herstellen.

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Anlage 4

7 Abt. 1: Reichskammergericht, Teil 2: Prozeßakten der Landgrafschaft Hessen-Homburg, bearb. von Jost Hausmann (= Repertorien des Hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden, hg. von dem Hessischen Hauptstaatsarchiv in Verbindung mit der Historischen Kommission für Nassau), Wiesbaden 1984. 8 Abt. 1: Reichskammergericht, Teil 3: Prozeßakten des preußischen Kreises und der Stadt Wetzlar (= Repertorien des Hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden, hg. von dem Hessischen Hauptstaatsarchiv in Verbindung mit der Historischen Kommission für Nassau). - Bd. 1: Kreis Wetzlar A-K, bearb. von Jost Hausmann, Wiesbaden 1984. - Bd. 2: Kreis Wetzlar L-Z, bearb. von Jost Hausmann, Wiesbaden 1985. - Bd. 3: Stadt Wetzlar, Indices, bearb. von Jost Hausmann, Wiesbaden 1986. 9 Findbuch zu den Reichskammergerichtsakten 1551-1806 (Bestände L 24 und H 24), bearb. von Hans-Heinrich Ebeling (= Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung, Inventare und kleinere Schriften des Staatsarchivs in Bückeburg, H. 1), Rinteln 1985. 10 Findbuch zu den Reichskammergerichtsakten (Abt. 390 u. a.), bearb. von Hans-Konrad Stein-Stegemann (= Veröffentlichungen des SchleswigHolsteinischen Landesarchivs, Bd. 16 Titelaufnahmen, Bd. 17 Indices), Schleswig 1986. 11 Findbuch zum Bestand Reichskammergericht (1515-1806) Rep. 900, bearb. von Hans-Heinrich Ebeling 1986 (= Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung, Inventare und kleinere Schriften des Staatsarchivs in Osnabrück, H. 3) , Osnabrück. 12 Abt. 1: Reichskammergericht, Teil 1: Nassauische Prozeßakten, Bd. 1 A-M, Bd. 2 N-Z, Bd. 3 Anhang, Indices, bearb. von Claudia Helm und Jost Hausmann (= Repertorien des Hessischen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden, hg. von dem Hessischen Hauptstaatsarchiv in Verbindung mit der Historischen Kommission für Nassau), Wiesbaden 1987. 13 Findbuch der Reichskammergerichtsakten im Archiv der Hansestadt Lübeck, bearb. von Hans-Konrad Stein-Stegemann (= Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs, Bd. 18 Titelaufnahmen A-R, Bd. 19 Titelaufnahmen S-Z, Indices), Schleswig 1987.

Inventare der Akten des Reichskammergerichts

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14 Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe A: Inventare staatlicher Archive, Das Hauptstaatsarchiv Düsseldorf und seine Bestände: Reichskammergericht (Bd. 9, Teile 1–10), hg. vom Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchiv: - A-B (Bd. 9, Teil 1), bearb. von Hugo Altmann, Siegburg 2003. - C-D (Bd. 9, Teil 2), bearb. von Wolfgang Antweiler und Brigitte Kasten unter Mitarbeit von Paul Hoffmann, Siegburg 1988. - E-G (Bd. 9, Teil 3), bearb. von Wolfgang Antweiler und Brigitte Kasten unter Mitarbeit von Paul Hoffmann, Siegburg 1989. - H (Bd. 9, Teil 4), bearb. von Wolfgang Antweiler und Brigitte Kasten unter Mitarbeit von Paul Hoffmann, Siegburg 1990. - I-L (Bd. 9, Teil 5), bearb. von Wolfgang Antweiler und Brigitte Kasten unter Mitarbeit von Paul Hoffmann, Siegburg 1991. - M-O (Bd. 9, Teil 6), bearb. von Wolfgang Antweiler und Brigitte Kasten unter Mitarbeit von Paul Hoffmann, Siegburg 1993. - P-R (Bd. 9, Teil 7), bearb. von Margarete Bruck-haus und Roland Rölker unter Mitarbeit von Paul Hoffmann, Siegburg 1995. - S-T (Bd. 9, Teil 8), bearb. von Margarete Bruckhaus und Roland Rölker unter Mitarbeit von Paul Hoffmann, Siegburg 1998. - U-Z (Bd. 9, Teil 9), bearb. von Margarete Bruckhaus und Roland Rölker unter Mitarbeit von Paul Hoffmann, Siegburg 1999. - Maastricht (Bd. 9, Teil 10) Prozeßakten des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf im Rijksarchief Limburg in Maastricht (Bestand 02.01.), bearb. von Martina Wiech unter Mitarbeit von Paul Hoffmann und Th. J. van Rensch, Siegburg 2002. 15 Reichskammergerichtsakten im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt und im Gräflich Solmsischen Archiv in Laubach, bearb. von Andrea Korte Böger und Cornelia Rösner-Hausmann unter Mitwirkung von Friedrich Battenberg und Jost Hausmann (= Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt 31), Darmstadt 1990.1

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Ergänzend zu den im gedruckten Invenar Nr. 15 inventarisierten 459 Verfahren sind mittlerweile auch die vermutlich bereits in den sechziger Jahren des 19. Jh. kassierten 4.103 Prozesse nach den Angaben des Darmstädter Spezialrepertoriums verzeichnet worden; sie stehen online unter www.hadis.hessen.de zu Verfügung.

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Anlage 4

16 Akten des Reichskammergerichts im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Inventar des Bestands C 3 (= Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Bd. 46/1–8, hg. von der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg). - A-D (Bd. 46/1), bearb. von Alexander Brunotte und Raimund J. Weber, Stuttgart 1993. - E-G (Bd. 46/2), bearb. von Alexander Brunotte und Raimund J. Weber, Stuttgart 1995. - H (Bd. 46/3), bearb. von Alexander Brunotte und Raimund J. Weber, Stuttgart 1999. - I-M (Bd. 46/4), bearb. von Alexander Brunotte und Raimund J. Weber, Stuttgart 2000. - N-R (Bd. 46/5), bearb. von Alexander Brunotte und Raimund J. Weber, Stuttgart 2001. - S-T (Bd. 46/6), bearb. von Alexander Brunotte und Raimund J. Weber, Stuttgart 2005. - W-Z (Bd. 46/7), bearb. von Alexander Brunotte und Raimund J. Weber, Stuttgart 2005. - Nachträge (Bd. 46/8), bearb. von Alexander Brunotte und Raimund J. Weber, Stuttgart 2008. 17 Bestand 255, Reichskammergericht (= Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Marburg, hg. vom Hessischen Staatsarchiv Marburg in Verbindung mit der Historischen Kommission für Hessen). - A-F (Bd. 1), bearb. von Jost Hausmann, Claudia Helm, Cornelia RösnerHausmann, Marburg 1997. - G-J (Bd. 2), bearb. von Jost Hausmann, Claudia Helm, Cornelia RösnerHausmann, Marburg 1998. - K-R (Bd. 3), bearb. von Jost Hausmann, Claudia Helm, Cornelia Rösner-Hausmann, Marburg 1999. - S-Z (Bd. 4), Nachträge, bearb. von Jost Hausmann, Claudia Helm und Cornelia Rösner-Hausmann, Marburg 2003. - Indices (Bd. 5), bearb. von Jost Hausmann, Marburg 2010.

Inventare der Akten des Reichskammergerichts

419

18 Reichskammergericht, Bestand AR l, Prozeßakten, bearb. von Ursula Hüllbüsch und Hans Schenk (= Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs, Bd. 46), Koblenz 1994. 19 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Reichskammergericht – bisher sind 15 Bde. erschienen – (= Bayerische Archivinventare, Bd. 50/1–15, hg. von der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns). - A - Nr. 1–428 (Bd. 50/l), bearb. von Barbara Gebhardt und Manfred Hörner, München 1994. - B, 1 - Nr. 429–868 (Bd. 50/2), bearb. von Barbara Gebhardt und Manfred Hörner, München 1996. - B, 2 - Nr. 869–1.406 (Bd. 50/3), bearb. von Barbara Gebhardt und Manfred Hörner, München 1997. - B, 3 - Nr. 1.407–1.839 (Bd. 50/4), bearb. von Barbara Gebhardt und Manfred Hörner, München 1998. - B, - Indices (Bd. 50/5), bearb. von Manfred Hörner, München 1996. - C - Nr. 1.840–2.129 (Bd. 50/6), bearb. Manfred Hörner, München 1995. - D - Nr. 2.130–2.676 (Bd. 50/7), bearb. von Margit Ksoll-Marcon und Manfred Hörner, München 2001. - E - Nr. 2.677–3.227 (Bd. 50/8), bearb. von Manfred Hörner, München 2001. - F - Nr. 3.228–3.883 (Bd. 50/9), bearb. von Margit Ksoll-Marcon und Manfred Hörner, München 2002. - G - Nr. 3.884–4.491 (Bd. 50/10), bearb. von Manfred Hörner, München 2003. - H, 1 - Nr. 4.492–5.084 (Bd. 50/11), bearb. von Wilhelm Füßl und Manfred Hörner, München 2004. - H, 2 - Nr. 5.085–5.282 (Bd. 50/12), bearb. von Wilhelm Füßl und Manfred Hörner, München 2005. - I u. J - Nr. 5.283–5.568 (Bd. 50/13), bearb. von Manfred Hörner, München 2006. - K - Nr. 5.569–6.206 (Bd. 50/14), bearb. von Stefan Breit und Wolfgang Pledl, München 2008. - L - Nr. 6.207–6.705 (Bd. 50/15), bearb. von Manfred Hörner, München 2008. - M - Nr. 6.706–7.308 (Bd. 50/16), bearb. von Stefan Breit, München 2009.

420

Anlage 4

20 Findbuch zum Bestand Reichskammergericht und Reichshofrat (Rep. 101), 1. Bd. (Text), 2. Bd. (Register), bearb. von Walter Deeters (= Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung, Inventare und kleinere Schriften des Staatsarchivs Aurich, H. 15/16), Leer 1993. 21 Findbuch der Reichskammergerichtsakten im Staatsarchiv Hamburg, (= Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg, Band XIII, Teil 1-4). - Teil 1: Titelaufnahmen A-H, bearb. von Hans-Konrad Stein-Stegemann, Hamburg 1993. - Teil 2: Titelaufnahmen J-R, bearb. von Hans-Konrad Stein-Stegemann, Hamburg 1994. - Teil 3: Titelaufnahmen S-Z und Nachträge, bearb. von Hans-Konrad Stein-Stegemann, Hamburg 1995. - Teil 4: Indices, bearb. von Hans-Konrad Stein-Stegemann, Hamburg 1995. 22 Inventar der Bremer Reichskammergerichtsakten, bearb. von Andreas Röpke und Angelika Bischoff (= Kleine Schriften des Staatsarchivs Bremen, H. 22), Bremen 1995. 23 Inventar der Prozeßakten des Reichskammergerichts in den Thüringischen Staatsarchiven, bearb. von Torsten Fried (= Veröffentlichungen aus Thüringischen Staatsarchiven, Bd. 3, hg. vom Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar), Weimar 1997. 24 Inventar der Lippischen Reichskammergerichtsakten, Teil 1: Buchstabe A-L, Teil 2: Buchstabe M-Z, Indices, bearb. von Margarete Bruckhaus unter Mitarbeit von Wolfgang Bender (= Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe A: Inventare staatlicher Archive, Das Staatsarchiv Detmold und seine Bestände, hg. vom Nordrhein-Westfälischen Staatsarchiv Detmold, Bd. 2, Teil 1/2), Detmold 1997. 25 Findbuch der Akten des Reichskammergerichts im Landesarchiv Magdeburg – Landeshauptarchiv. 5 Bde. (= Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung des Landes Sachsen-Anhalt: Reihe A, Quellen zur Geschichte Sachsen-Anhalts, Bde. 11, 14–16, 18) - A-E (Bd. 11), bearb. von Dietrich Lücke, Halle 1997. - F-K (Bd. 14), bearb. von Dietrich Lücke, Halle 1999. - L-M (Bd. 15), bearb. von Dietrich Lücke, Halle 2000. - N-S(im) (Bd. 16), bearb. von Dietrich Lücke, Halle 2001. - S(ip)-Z (Bd. 18), bearb. von Dietrich Lücke, Halle 2002.

Inventare der Akten des Reichskammergerichts

421

26 Reichskammergericht Köln, 4 Bde. (= Mitteilungen aus dem Stadtarchiv Köln, 81. H., hg. von Everhard Kleinertz). - A-F - Nr. 1-600 (Bd. 1), bearb. von Matthias Kordes, Köln 1998. - G-M - Nr. 601-1.232 (Bd. 2), bearb. von Matthias Kordes, Köln 2000. - N-S - Nr. 1.233-1.677 (Bd. 3), bearb. von Matthias Kordes, Köln 2000. - T-Z - Nr. 1.678-1.864 (Bd. 4), bearb. von Klaus Nippert, Köln 2002. 27 Inventar der Akten des Reichskammergerichts 1495-1806, Frankfurter Bestand, bearb. von Inge Kaltwasser (= Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission 21), Frankfurt am Main 2000. 28 Inventar der Mecklenburger Reichskammergerichtsakten, Teil l Akteninventar, Teil 2 Indices, bearb. von Hans-Konrad Stein-Stegemann, Schwerin 2001 (= Findbücher, Inventare und kleine Schriften des Landeshauptarchivs Schwerin, Bd. 6), Schwerin 2001. 29 Akten des Reichskammergerichts im Staatsarchiv Sigmaringen, Inventar des Bestands R 7, Anhang: Akten des Reichskammergerichts im Staatsarchiv Wertheim, Inventar des Bestands R J 10, bearb. von Raimund J. Weber (= Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung BadenWürttemberg, hg. von der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg, Bd. 57), Stuttgart 2004. 30 Akten des Reichskammergerichts im Hauptstaatsarchiv Hannover. Hochstift Hildesheim und benachbarte Territorien 1495-1806, bearb. und eingeleitet von Claudia Kauertz, nach Vorarbeiten von Anikó Szabó, Klemens Wieczorek † unter Mitarbeit und mit Indizes von Sven Mahmens; 4 Bde (= Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung, Das Niedersächsische Landesarchiv und seine Bestände, Bd. 1), Hannover 2009. - A-G (Teil 1), Hannover 2009. - H-O (Teil 2), Hannover 2009. - P-Z (Teil 3), Hannover 2009. - Indizes (Teil 4), Hannover 2009.

422

Anlage 4

31 Vormerkung: Akten des Reichskammergerichts im Generallandesarchiv Karlsruhe. 32 Inventar der pfälzischen Reichskammergerichtsakten, Landesarchiv Speyer Best. E 6, bearb. von Martin Armgart und Raimund J. Weber, hg. von Jost Hausmann, Bde. 111, 1-4, Koblenz 2009. – A-I (Bd. 1), Koblenz 2009. – J-P (Bd. 2), Koblenz 2009. – Q-Z (Bd. 3), Koblenz 2009. – Indices (Bd. 4), Koblenz 2009.

5. Reichskammergerichtsprozesse – Überlieferung1 Verwahrarchive Aachen (StadtA)

Altenburg (StA)

Aurich (StA)

Berlin Dahlem (GSTA SPK )

Besançon (DepA)

Bremen (StA)

Bückeburg (StA)

Coburg (StA)

1

2

3

4 5

6 7

Verzeichnung Archivbehelf 3

Akten2

Zuständigkeit

1.600 Reichsstadt Aachen

RKG Inv.Nr. 23

12 Fsm. Sachsen-Altenburg

RKG Inv.Nr. 20

730 RGft./Fsm. Ostfriesland Kurfsm. Brandenburg; Prozesse gegen den brand. Kurf.

Ungedruckt4

87

Archivbehelf5

36 Reichsstadt und Bsm. Besançon

RKG Inv.Nr. 22 RKG Inv.Nr. 09 RKG Inv.Nr. 19

160

3036

Reichsstadt Bremen

224 Fsm. Schaumburg-Lippe, 177 Gft. Schaumburg (Hessen) 93 Hzm. Sachsen-Coburg

Überblick über die Überlieferung in den einzelnen Verwahrarchiven nach den für die Verteilung der Prozeßakten im 19. Jh. geltenden territorialstaatlich-administrativen und regionalen Zuständigkeiten. Soweit gegenwärtig feststellbar wird nur die Zahl der am Reichskammergericht produzierten und heute noch vorhandenen Akten angegeben. Wenn darüber hinaus eine Verzeichnung aktuell nicht mehr vorhandener Akten – zumeist nach den Angaben des Generalrepertoriums – vorliegt oder nur die Akten der Vorinstanz überliefert sind, wird die Anzahl dieser Verfahren in der zweiten Zeile kursiv gesetzt nachgewiesen. Für die Reichskammergerichtsprozesse aus der Reichsstadt Aachen existiert eine Kurzaufnahme mit Angaben zu den Parteien dem Streitgegenstand und dem Jahr des Prozeßbeginns. Die Prozeßakten sind bereits verzeichnet; die Publikation ist noch nicht erfolgt. Vgl. Gérard Moyse, Archives Départementales du Doubs: Übersicht über das Verzeichnis des Departementarchivs von doubs, Unterserie 15 J RKG Wetzlar. 293 Akten wurden kassiert, zehn Verfahren Verlust. Für sieben Verfahren sind nur die Akten der Vorinstanz überliefert; sieben Abgaben, ein Verfahren Verlust und bei zwei Verfahren ist der Grund für die fehlende Verfügbarkeit nicht zu klären gewesen.

424 Verwahrarchive Darmstadt (StA)

Detmold (StA)

Dresden (HStA)

Düsseldorf (HStA)

Frankfurt a. M. (ISGF)

Gotha (StA)

Greiz (StA)

Hamburg (StA)

Hannover (StA)

Hannover (StA)

Karlsruhe (GLA)

8

9 10

11

12 13 14 15

Anlage 5 Verzeichnung RKG Inv.Nr. 15 RKG Inv.Nr. 24 Ungedruckt 2 RKG Inv.Nr. 14 RKG Inv.Nr. 27 RKG Inv.Nr. 23 RKG Inv.Nr. 23 RKG Inv.Nr. 21 RKG Inv.Nr. 30 Ohne RKG Inv.Nr. 3115

Akten2 459

4.1038

Zuständigkeit GHzm. Hessen-Darmstadt

824 Fsm. Lippe-Detmold 39 85 Kurfsm./Kgr. Sachsen 6.444 RegBez Düsseldorf der preuß. 5110 Rheinprov. 1.585 Reichsstadt Frankfurt 11 79

21 Hzm. Sachsen-Gotha 26 3712

1.356 3013

Fsm.er Reuß Reichsstadt Hamburg

2.105 Fs.Bsm. Hildesheim (2.164) 5914 Fsm. Calenberg-Grubenhagen 922 (642) und Lüneburg (380) 3.796 GHzm. Baden

Ergänzend zu diesen im gedruckten Invenar Nr. 15 inventarisierten Verfahren sind mittlerweile auch die vermutlich bereits in den sechziger Jahren des 19. Jh. kassierten 4.103 Prozesse nach den Angaben des Darmstädter Spezialrepertoriums verzeichnet worden; sie stehen online unter www.hadis.hessen.de zu Verfügung. Für drei Verfahren sind nur die Akten der Vorinstanz überliefert. Für 41 Verfahren sind nur die Akten der Vorinstanz überliefert; vier Abgaben, ein Verfahren Verlust und bei fünf Verfahren ist der Grund für die fehlende Verfügbarkeit nicht zu klären gewesen. Drei Akten kassiert, drei Abgaben, 28 Verfahren Verlust und für 45 Verfahren sind nur die Akten der Vorinstanz überliefert. Alle kassiert. Für 30 Verfahren sind nur die Akten der Vorinstanz überliefert. Verbleib unklar (Schätzung). Die Prozeßakten sind bereits verzeichnet; die auf fünf Bde. angelegte Publikation ist noch nicht erfolgt; vgl. Anl. 4 Nr. 31.

425

Reichskammergerichtsprozesse – Überlieferung Verwahrarchive Koblenz (BA)

Koblenz17 (LHA)

Köln (StadtA)

Kopenhagen (RA)

Lübeck (StadtA)

Lüttich (StA)

Maastricht (RA)

Magdeburg (LHA)

Marburg (StA)

Marburg (StA)

Meiningen (StA)

Metz (DepA)

München (HStA)

16 17 18

19 20 21 22 23

Verzeichnung RKG Inv.Nr. 18 RKG Inv.Nr. 01 RKG Inv.Nr. 26 Ohne RKG Inv.Nr. 13 Ohne RKG Inv.Nr. 14 RKG Inv.Nr. 25 RKG Inv.Nr. 06 RKG Inv.Nr. 17 RKG Inv.Nr. 23 Ohne RKG Inv.Nr. 19

Zuständigkeit

Akten2

623 Parteien außerhalb des DB; 516 Prozesse zwischen Souveränen RegBez Koblenz und Trier 2.891 der preuß. Rheinprov. 1.789 Reichsstadt Köln 18 73

419 Unklar 775 Reichsstadt Lübeck 1.186 Kgr. Belgien 301

1120

1.757 164 221

Kgr. der Niederlande Territorien der ehemaligen preuß. Prov. Sachsen Gft.. Waldeck

Kurfsm. Hessen als Nachfolge1.900 staat der LGft. Hessen-Kassel 16722 (ohne die Gft. Schaumburg) 88 Hzm. Sachsen-Meiningen 423 Hzm. Lothringen 13.000 Kurfsm./Kgr. Bayern 54023

Für fünf Verfahren sind nur die Akten der Vorinstanz überliefert. Die Verzeichnung erfolgte nicht nach den DFG-Richtlinien. Für 72 Verfahren sind nur die Akten der Vorinstanz überliefert und bei einem Verfahren ist der Grund für die fehlende Verfügbarkeit nicht zu klären gewesen. Der Verbleib dieser vier Akten war nicht zu klären. Für elf Verfahren sind nur die Akten der Vorinstanz überliefert. Für ein Verfahren sind nur die Akten der Vorinstanz überliefert; ein Verfahren Verlust. Verbleib unklar (Schätzung). Verbleib unklar (Schätzung).

426 Verwahrarchive Münster24 (StA)

Oldenburg (StA)

Osnabrück (StA)

Rudolstadt (StA)

Schleswig (StA)

Schwerin (StA)

Sigmaringen (StA)

Speyer (LA)

Stade30 (StA)

Stettin (WA)

Straßburg (DepA)

24

25

26 27 28 29 30 31 32

Anlage 5 Verzeichnung RKG Inv.Nr. 02 RKG Inv.Nr. 05 RKG Inv.Nr. 11 RKG Inv.Nr. 23 RKG Inv.Nr. 10 RKG Inv.Nr. 28 RKG Inv.Nr. 29 RKG Inv.Nr. 32 RKG Inv.Nr. 04

Akten2 6.259 15825

Zuständigkeit Preuß. Provinz Westfalen

155 GHzm. Oldenburg 25426 FsBsm. Osnabrück, Gft. Bent1.130 heim, hannoversche Teile des Niederstifts Münster 56 Fsm. Schwarzburg-Rudolstadt, 3227 Schwarzburg-Sondershausen 606 Hzm. Holstein und Lauenburg 28 5

1.660 GHzm. Mecklenburg-Schwerin 6629 Fsm. Hohenzollern-Hechingen, 338 Hohenzollern-Sigmaringen 2.474 Kurfsm. Pfalz 556 RegBez Stade der preuß. Prov. 5831 Hannover

Archivbehelf 32

1.190 Hzm. Pommern

Archivbehelf33

LGft. Elsaß; Hzm. Lothringen; 1.554 weitere angrenzende ehemalige Reichsstände

Die Verzeichnung erfolgte nicht nach den DFG-Richtlinien. Unberücksichtigt bleiben die im Münsteraner Inventar verzeichneten drei Reichshofratsprozesse. Für 149 Verfahren sind nur die Akten der Vorinstanz überliefert; fünf Abgaben, drei Verfahren Verlust und bei einem Verfahren ist der Grund für die fehlende Verfügbarkeit nicht zu klären gewesen. Verbleib unklar (Schätzung). Alle kassiert. Für drei Verfahren sind nur die Akten der Vorinstanz überliefert; zwei Verfahren Verlust. Verbleib unklar (Schätzung). Die Verzeichnung erfolgte nicht nach den DFG-Richtlinien. Verbleib unklar (Schätzung). Die Prozeßakten liegen auf Mikrofilm im Landesarchiv Greifswald zu Verzeichnung gemäß den DFG-Richtlinien bereit. Ferner kann für eine grobe Übersicht auf das in Stettin überlieferte Spezialrepertorium zurückgegriffen werden.

427

Reichskammergerichtsprozesse – Überlieferung Verwahrarchive Straßburg (StadtA)

Stuttgart (HStA)

Weimar (HStA)

Wertheim (StA)

Wetzlar (StadtA)

Wien (HHStA)

Wiesbaden (HStA)

Wiesbaden (HStA)

Wiesbaden (HStA)

Wolfenbüttel38 (StA)

33

34

35

36

37 38

Verzeichnung Archivbehelf34 RKG Inv.Nr. 16 RKG Inv.Nr. 23 RKG Inv.Nr. 29

Akten2

Zuständigkeit

36 Reichsstadt Straßburg 5.515 2935

120

Kgr. Württemberg GHzm. Sachsen-WeimarEisenach

20 Fsm. Löwenstein-Wertheim

RKG Inv.Nr. 08

193 Reichsstadt Wetzlar

Ohne36

381

RKG Inv.Nr. 07

102 LGft. Hessen-Homburg

RKG Inv.Nr. 08

833 Preuß. Kreis Wetzlar

RKG Inv.Nr. 12 RKG Inv.Nr. 03

Fs.Bsm. Salzburg, Trient und Brixen

1.941 Hzm. Nassau ohne das Amt 437 Reichelsheim in der Wetterau 670 Hzm. Braunschweig

Vgl. Francois-Jacques Himly, Inventaire analytique du fonds de la chambre impériale de Wetzlar, 3 B 1-1554 (15.-17. Jh.), Strasbourg 1978. Vgl. J. Fuchs, Inventaire des archives de la ville de Strasbourg. Antérieures à 1790. Series VIII et IX (Chartreuse, Saint-Nicolas-aux-Ondes, Fonds Wetzlar et Ordre Teutonique), Strasbourg 1964. Für diese Verfahren gibt es in Stuttgart keine Überlieferung; davon 18 Abgaben, vier Verfahren Verlust und bei sieben Verfahren ist der Grund für die fehlende Verfügbarkeit nicht zu klären gewesen. Die in 83 nach Parteinamen geordneten Kartons verwahrten 381 Prozeßakten sind unverzeichnet; für eine grobe Übersicht kann auf das in Wien überlieferte Spezialrepertorium zurückgegriffen werden. Für zwei Verfahren sind nur die Akten der Vorinstanz überliefert; zwei Verfahren Verlust. Die Verzeichnung erfolgte nicht nach den DFG-Richtlinien.