Bildung [1 ed.] 9783788735029, 9783788735005

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Bildung [1 ed.]
 9783788735029, 9783788735005

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2020

Jahrbuch für Biblische Theologie

Bildung

35

Band

Jahrbuch für Biblische Theologie (JBTh) Herausgegeben von Irmtraud Fischer, Jörg Frey, Ottmar Fuchs, Katharina Greschat, Alexandra Grund-Wittenberg, Bernd Janowski, Ralf Koerrenz, Volker Leppin, Tobias Nicklas, Gabrielle Oberhänsli-Widmer, Uta Poplutz, Dorothea Sattler, Konrad Schmid, Andreas Schüle, Günter Thomas, Samuel Vollenweider und Michael Welker

Band 35 (2020) Bildung

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9392 ISBN 978-3-7887-3502-9

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Ralf Koerrenz Zeit und Sein. Die Grundlegung der Bildung im hebräischen Narrativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Euler Renato Westphal Der Mensch und seine Gefährdungen (Gen 4–11) . . . . . . . . . . . .

35

Konrad Schmid Die biblische Josephsgeschichte als Bildungsroman? . . . . . . . . . . .

57

Micha Brumlik Prophetie und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Matthias Ederer Wie gebildet ist ein »weiser Sohn«? Spr 10,1–5 als Beispiel für »Bildung« in der biblischen Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

Irmtraud Fischer Für das Leben lernen wir – und das Leben lehrt uns. Zu Kontexten, Inhalten und Bildungsverläufen im Alten Testament . .

95

Tobias Nicklas Die Botschaft vom Reich Gottes. Erziehung und Bildungsangebot im Markusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Uta Poplutz Bildungs-Allusionen im lukanischen Doppelwerk. Streiflichter impliziter paideia-Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Thomas Schärtl Ostern und Einsicht. Bildung im Lichte der Deutung der Auferstehung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

VI

Inhalt

Ute Leimgruber Nachfolge ist Bildung ist Weltgestaltung. Frauenorden als paradigmatischer Ort einer risikoreichen Bibelrezeption . . . . . . . . 169 Dorothea Sattler Zeugnis leben als Frau und Mann für Jesus Christus. Biblisch-theologische Aspekte ökumenischer Bildung . . . . . . . . . . 191 Peter Gemeinhardt »Den Heiden eine Torheit«? Bildung im paulinischen Schrifttum und im frühen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Sebastian Engelmann Paulus, Ereignisse und die Bildung. Eine Annäherung mit Badiou und Žižek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Hanna Roose Pseudepigraphe Briefe als Bildungschance. Der 2. Thessalonicherbrief in bildungstheoretischer Perspektive . . . . . . 261 Stefan Alkier Gebildete Zeugenschaft. Wie man mit der Johannesapokalypse lernen kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

Vorwort

»Bildung« ist ein Container- oder Kofferbegriff, in den umgangssprachlich ganz unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungen hineingepackt werden. Eine solche Uneindeutigkeit ermöglicht soziale Kommunikation, die für eine offene, demokratische Gesellschaft auch nie abzuschließen ist. Umso sinnvoller erscheint es, nach den verschiedenen Ausprägungen und Modellen im Verständnis von »Bildung« zu fragen. Im vorliegenden Jahrbuch für Biblische Theologie knüpfen wir zunächst an den allgemeinen und wohl noch weitgehend konsensfähigen Gedanken an, dass »Bildung« in der deutschen Sprache als eine spezifische Kennzeichnung des Menschen und dessen Umgangs mit dem eigenen Lernen entworfen worden ist. Wichtig ist es dabei, die Nutzung des Begriffs »Bildung« und die nähere Bestimmung der Sache »Bildung« zu unterscheiden und zu klären. Der Sache nach gibt es – insbesondere über die neuhumanistische Variante der Bildungstradition bei Wilhelm von Humboldt oder Friedrich Immanuel Niethammer – die Tradition, »Bildung« mit dem παιδεία-Konzept in der griechischen Antike in einen sachlichen Zusammenhang zu bringen. Der Begriff »Bildung« wird dabei über die »Sache« einer bestimmten Anthropologie an die griechische Antike rückgebunden. Vor allem eine ideale Vollendung des Selbst und Streben nach Harmonie werden als sachliche Merkmale des Begriffs dann in den Vordergrund gerückt. In letzter Konsequenz wird die παιδεία-Konzeption damit als Vorläufer und Grundlage des deutschen Bildungsbegriffs ausgedeutet. Wenn wir jedoch auf das Verständnis von »Bildung« bei Moses Mendelssohn blicken, das rund zehn Jahre vor Humboldts Fragment zur »Theorie der Bildung« als Antwort auf die Frage »Was heißt aufklären?« publiziert wurde, eröffnen sich auch andere Möglichkeiten, »Bildung« sachlich näher zu bestimmen. »Bildung« ist danach eine Kennzeichnung des Mensch-Seins, mit der durch bewusste Formen des Handelns (Kultur) und des Denkens (Aufklärung) eine kritische Selbstbezüglichkeit /Selbstreferentialität in der Auseinandersetzung mit /Aneignung von Wirklichkeit in den Blick genommen wird. Die Hypothese, der mit unserem Band nachgegangen wird, ist, ob in den biblischen Überlieferungen eine eigene sachliche Füllung von Bildung als Umgang mit (dem eigenen) Lernen rekonstruiert werden kann: in Form von anthropologischen Figuren, mit denen der Mensch sein

VIII

Vorwort

Verhältnis zu Gott, zu Mitmenschen und der Welt, aber auch zu sich selbst unter speziellen Vorzeichen bedenken soll. Die Hypothese geht dabei von dem schlichten Gedanken aus, dass der Mensch in und mit den biblischen Überlieferungen in seinem Lernvermögen angesprochen wird. Die grundlegende These des Bandes besteht somit darin, dass das mit einem so verstandenen Begriff von »Bildung« Gemeinte in der Bibel nicht nur präsent ist, sondern eine bedeutende Rolle spielt. Die biblische Bestimmung des Menschen als zum Lernen befähigtes (und verdammtes) Wesen ist dann die Brücke, in der eine Verbindung von Bibel und Bildung gesehen werden kann. Diese Brücke wird dann noch verstärkt, wenn man die Leserin /den Leser als Teil des Textes »Bibel« beschreibt, die diesen Text in einem existentiellen (und für die Gemeindepraxis konstitutiven) Verständigungsrahmen durch Aktualisierung erst erschafft – und so einer Welt gegenüberstellt, in der permanent die Herausforderung präsent ist, sich selbst in Prozessen des Lernens zu finden. Es geht damit um (existentielle) Fragen wie die, woran sich Menschen orientieren, woran sich Menschen erinnern, worauf Menschen vertrauen – und die Antworten auf diese Fragen entwickeln eine Grundlage dafür, wie sich Menschen in ihrem Lernen zu ihrem Lernen verhalten. Wenn »Biblische Theologie« mit Blick auf sozial- bzw. kulturwissenschaftliche Themen Mehr und Anderes sein soll als eine lose Kopplungswissenschaft (Bibel und . . . ), in der die biblischen Texte als ein mögliches Thema, als ein Gegenstand unter anderen mit anderen Themen, anderen Gegenständen in Verbindung gebracht werden, dann bietet gerade »Bildung« die Möglichkeit, über eine Grundlagentheorie der Anthropologie in ein Gespräch einzutreten. Auf den Punkt gebracht: Bibel wird dann nicht (nur) verstanden als ein Gegenstand, ein Inhalt, als ein »Bildungsgut«, das zu wissen, zu kennen, zu verarbeiten auch »wichtig« oder »bedeutsam« wäre. Bibel wäre vielmehr die Grundlage für eine anthropologische Ausdeutung des menschlichen Lernens, für eine eigene Konturierung eines Deutungsmusters »Bildung«, in dem es um eine bestimmte Art der Erinnerung, eine bestimmte Art der Orientierung, eine bestimmte Art des Selbstverhältnisses geht. Ganz überspitzt formuliert: Ein biblisch fundiertes bzw. rückgebundenes Verständnis könnte mit einer eigenen Vorstellung von Orientierung und Erinnerung einen eigenständigen (anthropologisch fundierten) Beitrag in die allgemeine Verständigung über »Bildung« eintragen. Im Aufbau unterscheidet sich dieser Band von der üblichen Struktur anderer Jahrbücher, die sich in der Regel an theologisch tradierten Fachkulturen und deren Abfolge von Altem Testament bis Praktische Theologie orientiert. Unser Aufbau folgt, soweit möglich, den biblischen Texten. Wir haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Provenienz (von der »klassischen« Exegese bis zu Sozialwissenschaften) gebeten, biblische Texte und Motivkonstellationen unter dem Vorzeichen

Vorwort

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von Lernen als Reflexion von Gottesbeziehung, Weltbeziehung, Selbstbeziehung zu lesen. Sowohl auf der Gegenstandsebene als auch auf der Rezeptionsebene entstand so ein spezieller Durchgang durch exemplarische Konstellationen der biblischen Überlieferung von Genesis bis Apokalypse. Der Band stellt somit einen Versuch dar, die Lebenswirklichkeit und Lebensbedeutsamkeit der biblischen Überlieferung zu thematisieren. Die Relevanz der biblischen Texte bewährt sich gerade darin, dass sie in das Lernen als Leitfaden des eigenen Lebens übersetzt werden können. Dass die biblischen Texte selbst dabei unterschiedliche, plurale Orientierungsmuster für das eigene Lernen anbieten, ist und bleibt eine große Stärke der Mehrdeutigkeit, solange im Blick behalten wird, dass es sich immer um eine zugleich umgrenzte und fokussierte Vielfalt, keineswegs jedoch um eine autoreligiöse Beliebigkeit des »anything goes« handelt. Wir danken allen Autorinnen und Autoren sehr herzlich dafür, dass sie sich – teilweise nach anfänglicher Skepsis – auf diese Form der Biblischen Theologie eingelassen haben. Am Ende zielen die biblischen Überlieferungen auf eine immer wieder neu zu verantwortende Aktualisierung und Kontextualisierung in eine je gegebene Gegenwart. Jena und Regensburg, im Oktober 2020

Ralf Koerrenz /Tobias Nicklas

Ralf Koerrenz

Zeit und Sein Die Grundlegung der Bildung im hebräischen Narrativ 1.

Annäherungen 1

1.1 Die Deutungsmuster der Kollektivindividualität und der gegenwärtigenden Erinnerung bilden die beiden Spezifika von »Bildung« im hebräischen Denken. Mit der Bezeichnung »hebräisch« wird vor allem Bezug genommen auf die Thora, die fünf Bücher Mose. 2 Die Thora bildet einen Erzählzusammenhang, der aus einer systematisch-anthropologischen Perspektive insgesamt als eine Beschreibung der Schöpfung und Geschöpflichkeit des Menschen gelesen werden kann. »Bildung« ist in diesem Narrativ eine anthropologische Dimension von Geschöpflichkeit. 1.2 Mit den Deutungsmustern der Kollektivindividualität und der gegenwärtigenden Erinnerung erfährt das Verständnis von Sein als lebenslanger Bildungsprozess über die Deutung der Zeit eine eigene kulturgeschichtliche Ausprägung durch die hebräische Überlieferung. 1.3 Verbunden werden diese Deutungsmuster in einem Verständnis von Leben als offene, zu gestaltende Aufgabe, in der es um das permanente, unabschließbare Ringen um eine ›richtige‹, gottgemäße Praxis geht. 1.4 Diese Rückbindung erfolgt über eine Existentialisierung der Deutungsmuster in den Umgang des Menschen mit sich selbst. 1.5 Verantwortlichkeit, Fragilität und Unentschuldbarkeit, umhüllt von der Skepsis der Demut, »theologisch« gesprochen: die Dialektik von Gebot und Geheimnis (Leo Baeck), liegen dieser Existentialisierung zu

1 Erläuternde Gedanken zur Form der Darstellung finden sich in der Fußnote am Ende dieses Textes. 2 Die nachfolgenden Überlegungen stehen im Kontext meiner Hypothese, dass es ein (weitgehend verdrängtes) Kulturmuster des Politischen, des Kulturellen und auch des Pädagogischen gibt, das der traditionellen Erzählung, die Entwicklung Europas basiere primär oder gar ausschließlich auf der Rezeption der (zweifelsohne bedeutenden) altgriechischen und altrömischen Kultur, entgegensteht. Dieses verdrängte Kulturmuster bezeichne ich als das »hebräische Paradigma«. Im Anschluss an meine Beschäftigung mit Leo Baeck, Das Judentum als Lerngemeinschaft, Weinheim 1992, habe ich hierzu »Das hebräische Paradigma der Pädagogik« (in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 50 (1998), 331– 342) zu skizzieren versucht.

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Ralf Koerrenz

Grunde. Sie bilden ein Set an Vor-Urteilen, mit denen der Mensch sich zu sich selbst, zu seiner eigenen Offenheit, d.h. dem (relativen) Gestaltungsfreiraum, als Lernender verhalten kann, verhalten soll. 1.6 Kollektivindividualität und gegenwärtigende Erinnerung bestimmen damit ein Seinsverständnis, in dem die Selbstwahrnehmung des einzelnen Menschen durch eine besondere Wahrnehmung der Zeit bestimmt wird. Diese Qualifizierung der Zeit wird geprägt durch die individuelle Erfahrung der Eingebundenheit in erinnerte Geschichte über verschiedene Kollektivdimensionen (Volk Gottes, Noachidischer Bund). 1.7 Beide Deutungsmuster, Kollektivindividualität und gegenwärtigende Erinnerung, bekommen ihre alltägliche Bedeutung dadurch, dass Menschen im hebräischen Narrativ aufgefordert sind, sich unter diesen Vorzeichen in ihrem (permanenten) Lernen zu sich selbst, zu ihrem eigenen Lernen zu verhalten. 1.8 Genau dies aber, das bewusste, steuernde Verhalten zum eigenen Lernen in der Auseinandersetzung mit Welt, ist der operative Kern 3 dessen, wofür im deutschen Sprachgebrauch im 18. Jahrhundert das Deutungsmuster »Bildung« ausgestaltet wurde. 1.9 Für ein solches, in diesem Sinne über sich selbst aufgeklärtes Denken hat bereits das hebräische Denken – der Sache nach – eine eigene Grundlegung dadurch formuliert, dass in diesem Denken das Verständnis von Mensch-Sein als Geschöpflichkeit in einem qualifizierten Verhältnis von Sein und Zeit kulminiert. 1.10 Diese Grundlegung von »Bildung« im hebräischen Denken soll hier dementsprechend als ein typologisches Modell der Selbstreferentialität des Menschen in und durch seine Außenbezüge skizziert werden.

3 Den Referenzrahmen für die nachfolgenden Überlegungen bietet in allgemeinpädagogischer Hinsicht die Konzeption der operativen Pädagogik von Klaus Prange, die dieser unter anderem in dem Buch »Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der Operativen Pädagogik« (Paderborn 2005) oder zusammenfassend in dem Band »Zeigen – Lernen – Erziehen« (Jena 2011) entfaltet hat. Bildungstheoretisch werden Figuren von Günther Buck (»Hermeneutik und Bildung«, München 1981) und Hans-Christoph Koller (»Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse«, Stuttgart 2011) aufgenommen und weitergedacht.

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2. Anthropologische Grundlage: Shema Israel als Vollendung der Schöpfung 2.1 Stellen wir zu Beginn des Nach-Denkens zwei auf den ersten Blick merkwürdig anmutende Fragen: Wo endet eigentlich die Schöpfung des Menschen? Worin vollendet sich der Gedanke der Schöpfung in der biblischen Erzählung? 2.2 Wir sind es gewohnt, den Abschluss der Schöpfung mit Gen 3 zu verbinden. Die ersten drei Kapitel der Hebräischen Bibel beschreiben danach in zwei Varianten die Erschaffung des Menschen und eine Ordnung von Welt (der Geschlechter und des Insgesamt von Umwelt). 4 2.3 Von den, in sich spannungsreichen Motiven der ersten drei GenesisKapiteln wäre danach abzuleiten, wie der Mensch in seiner Geschöpflichkeit und die ganze Welt mit den Menschen als Schöpfung zu verstehen ist. Geschöpflichkeit als anthropologische Seins-Kennzeichnung und Schöpfung als integrierend-universale Aussage über Welt wären nach dieser Lesart hinreichend aus diesen Kapiteln zu bestimmen. Eine solche Begrenzung ist historisch etabliert und (vielleicht) exegetisch naheliegend, systematisch betrachtet aber unzureichend.

4 Methodisch folge ich hier dem Ansatz von Michael Welker, den dieser in »Schöpfung und Wirklichkeit« (Neukirchen 1995) entwickelt hat, und versuche diesen Ansatz in einer anthropologischen Lesart der Bibel weiterzuentwickeln. Welker dekonstruiert zunächst die gängigen Deutungsmuster von Schöpfung als »machtvolle(_) Hervorbringung und absolute(_) Dependenz des Geschöpflichen von Gott« (Welker, Schöpfung, 19). Darauf baut er ein Deutungsmuster auf, in dessen Zentrum der »Aufbau und Erhalt eines Zusammenhangs von Interdependenzverhältnissen verschiedener geschöpflicher Bereiche« (Welker, Schöpfung, 24f) rückt. Dabei richtet er die Aufmerksamkeit vor allem auf »die von Menschen beeinflußbaren Bereiche«, die »über den Ausdruck ›Erde‹ integriert« (Welker, Schöpfung, 29) würden. In Verbindung mit der von Welker hervorgehobenen bleibenden Bedeutung des Herrschaftsauftrags des Menschen, den es einerseits mit Blick auf falsche Hierarchisierungen zu dekonstruieren und andererseits als »Herrschaft durch Fürsorge« (Welker, Schöpfung, 101) zu rekonstruieren gelte, stellt sich nicht zuletzt pädagogisch die Frage, ob und wie Schöpfung von einem umfassenderen Verständnis des Mensch-Seins aus verstanden werden kann. Genau dies versuchen die nachfolgenden Überlegungen, indem sie einerseits die Sozialität des Menschen in das biblische Verständnis von Schöpfung zurückholen. Zugleich wird andererseits betont, dass es einen vom Menschen beeinflussbaren Bereich gibt, der das naheliegendste Gegenüber für eine Herrschaft durch Fürsorge ist: das Selbst selbst. Damit kommen Menschen in ihrer elementaren Konstitution als Lernende in den Blick. Im Unterschied zu der in vielfacher Hinsicht zu dekonstruierenden Fürsorge für Andere, ist eine solche Bezugnahme auf das eigene Lernen gleichermaßen unhintergehbar und alltäglich (wenn auch oftmals nicht bewusst). Damit aber betreten wir die Vorhalle einer biblisch-hebräischen Grundlegung der Bildung über eine von Zeit und Sein erweiterte Auffassung von Schöpfung und Geschöpflichkeit.

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2.4 Schöpfung und Geschöpflichkeit sind nach der hebräischen Erzählung Mehr und Anderes als eine biologisch-physische Konstitution des Menschen. Zum einen: Es geht vor allem um die nähere Qualifizierung des Menschen als ein Wesen, bei dem Urteilen, Denken und Handeln als Grundlage allen sozialen Seins untrennbar in einem leiblichen System 5 verwoben sind. Zum anderen: Davon zu unterscheiden ist auch die Schöpfung allen Lebens und der sogenannten unbelebten Natur. 2.5 Das Verhältnis des Menschen in und zur Schöpfung allen Lebens und der sogenannten unbelebten Natur steht hier nicht im Fokus. Dieses Verhältnis ist für das Verständnis von Bildung (nicht jedoch für Erziehung) ein sekundäres Thema, das allerdings am Ende (im Paradox des Weltbezugs) zur Bewährungsinstanz für das wird, worum es geht: den Menschen als soziales Wesen, das für die konkrete Gestalt seiner Sozialität in den Möglichkeiten und Grenzen von Zeit und Sein Verantwortung zu übernehmen hat. 2.6 Schöpfung und Geschöpflichkeit des Menschen werden vor allem sozial gedacht. Die Vorstellung von Schöpfung und Geschöpflichkeit mündet in ein, noch näher zu bestimmendes, Verhältnis von Zeit und Sein. Voraussetzung des sozialen Seins ist eine bestimmte Vorstellung vom individuellen Sein. Das individuelle Sein ist bestimmt durch das Motiv des getragenen und zugleich zentrierten Webwerks. Der Mensch kann in seiner individuellen Geschöpflichkeit als ein Webwerk verstanden werden. Der Mensch ist ein Webwerk. 6 2.7 Dieses Webwerk Mensch hat nach dem hebräischen Narrativ zwei Ebenen der Verflechtung. Die erste Ebene: Im einzelnen Menschen sind die Kraft des Urteilens, die Kraft des Denkens und die Kraft des Handelns untrennbar ineinander verwoben. Die zweite Ebene: In all diesen Kräften sind wiederum rationale und emotionale Dimensionen, die Abwägung und die Gestimmtheit, ineinander verwoben. Wir können zwar den abwägenden Verstand oder das gestimmte Gefühl in den Vordergrund rücken.

5 Vgl. hierzu M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare (1966), München 1986; ders., Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, und K. Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 21987. 6 Die typologisch zugespitzte Skizze der hebräischen Anthropologie nimmt wesentliche Punkte der wegweisenden Arbeiten von Hans-Walter Wolff und Bernd Janowski auf und wendet diese systematisch. Vgl. hierzu H.W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments. Mit zwei Anhängen neu herausgegeben von Bernd Janowski, Gütersloh 2010, und B. Janowski, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen, Kontexte, Themenfelder, Tübingen 2019.

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Letztlich agieren – ob wir es wollen oder nicht, ob es uns bewusst ist oder nicht – Urteil, Denken und Handeln in der Gleichzeitigkeit von Abwägung und Gestimmtheit immer ineinander. Diese Matrix der Individualanthropologie ist der Hintergrund für die hebräische Grundlegung von Bildung. 2.8 Diese Matrix der doppelten Verflechtung wird näher qualifiziert: Das Webwerk Mensch ist als Individuum getragen und zugleich zentriert. In diesem Webwerk erweist sich der Atem, die ‫( נפש‬Näfash), 7 als tragender Grund und das Herz, ‫( לב‬Lev), 8 wird zur zentralen Richtinstanz im Individuum für den Umgang mit dem Sozialen in der Zeit. 2.9 Getragen, am »Leben« gehalten wird das Webwerk Mensch vom Atem. Es ist der Hauch des Lebens, der dem Menschen Lebendigkeit verleiht. ‫( נפש‬Näfash) wurde wegen einer Einpassung in das griechische Denken oftmals falsch als »Seele« übersetzt. ‫( נפש‬Näfash) ist jedoch Mehr und Anderes. ‫( נפש‬Näfash) ist die Vitalität, der Lebensatem und die Lebenskraft des Menschen. Diese Lebenskraft wird durch den Atem, das Atmen-Können veranschaulicht. Es geht gerade nicht um eine unsterbliche Seele als Zentrum des Lebens. ‫( נפש‬Näfash) wird deswegen auch jenseits der vermeintlichen Opposition von Ratio und Emotio gedacht. Der Atem ist die den ganzen Körper durchdringende Lebenskraft. ‫נפש‬ (Näfash) erhält den Menschen und macht den Körper zum Leib, in dem der Mensch sich selbst wahrnehmen kann. 2.10 Zentriert und ausgerichtet wird das Webwerk vom Herzen, ‫לב‬ (Lev), in dem Denken und Handeln im Urteilen abgewogen werden können, abgewogen werden müssen. Die Lernbedürftigkeit des Menschen resultiert daraus, dass der Mensch sich in den geschichtlichen Zusammenhang überhaupt erst einmal einüben muss. Die Lernfähigkeit des Menschen aber basiert darauf, dass der Mensch über ein hörendes Herz verfügt – ein hörendes Herz als Sitz einer Vernunft, die Verstand und Gefühl integriert. 2.11 ‫( נפש‬Näfash) und ‫( לב‬Lev) sind damit auch die individuellen Voraussetzungen aller Sozialität des Webwerks Mensch. Näher bestimmt wird diese Sozialität im hebräischen Denken durch den Verweis darauf, dass der Mensch ein Wesen in Geschichte ist, sich mit seinem Denken, Handeln und Urteilen immer in Geschichte befindet. Die Geschöpflichkeit des 7 Vgl. hierzu Janowski, Anthropologie, 52ff, bes. 54. 8 Gerade in Dtn. 6, 6–9 zeigt sich, »dass es das ›gottgeleitete Herz‹ Israels bzw. eines jeden Israeliten ist, das den Gotteswillen, wie er in den deuteronomischen Gesetzen niedergelegt ist, in sich aufnehmen und die praxis pietatis umsetzen soll« (Janowski, Anthropologie, 535).

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Menschen wird im Kontext des hebräischen Narrativs nur dann angemessen bestimmt, wenn das Sein von der Zeit her verstanden wird. Das gilt für das Individuum wie für die Menschheit. 2.12 Zeit ist zu verstehen als Geschichte und Geschichtlichkeit. Schöpfung und Geschöpflichkeit realisieren sich in Geschichte und Geschichtlichkeit – das ist das umfassende hebräische Narrativ. Die hier gewählte operativ-systematische Hermeneutik dekonstruiert die Begrenzung von Schöpfung und Geschöpflichkeit auf die Kapitel Gen 1–3. Dies ist sowohl von den Spannungen innerhalb dieser Kapitel (z.B. hinsichtlich der Hierarchisierung der Geschlechter) 9 als auch von der Architektur der gesamten Thora aus motiviert. 2.13 Die Gesamtarchitektur der Thora kann geradezu als ein Appell gelesen werden, Schöpfung und Geschöpflichkeit nicht auf die biophysische Konstituierung eines Lebewesens »Mensch« und die Schaffung des Kosmos zu beschränken. Wer vom Menschen in seiner Geschöpflichkeit reden will, ist auf die Sozialität des Seins verwiesen. Kern der Sozialität des Seins ist Geschichtlichkeit. Diese aber wird in verschiedenen Erzählsträngen vom ersten bis zum fünften Buch Mose als – symbolisch gesprochen – achter und neunter Tag der Schöpfung entfaltet. 2.14 Am Ende dieser Erzählung vom Sein des Menschen in der Welt steht ein Bild, in dem Mensch-Sein durch die Bestimmung des Seins über den Umgang mit Zeit geprägt ist. 2.15 Der Modus, mit dem das Geschöpf Mensch Zeit und Sein in sich verbindet, wie es also sich in die Lage versetzt, sich im Angesicht der Erzählung zu sich selbst in ein Verhältnis zu setzen – das ist Bildung. 2.16 Deswegen schlage ich im vorliegenden Gang als eine Art Gedankenspiel vor, das Shema Israel als Abschluss des Verständnisses von Geschöpflichkeit und Schöpfung in der Thora zu betrachten. Es ist der neunte Tag, an dem die Schöpfung des Menschen systematisch zu sich selbst kommt. 2.17 Dieses Gedankenspiel ist unmittelbar mit der Vorstellung verknüpft, dass in dem Verständnis von Sein und Zeit des Shema Israel

9 Die Geschichtlichkeit des Seins steht nicht nur jenseits einer Hierarchisierung der Geschlechter, sondern impliziert geradezu eine Kritik an Über- und Unterordnungen. Wenn Schöpfung – anthropologisch betrachtet – in Geschichte zu sich selbst kommt, ist darin auch eine rechtebasierte Universalität und Egalität begründet, sich im Schatten der Entfremdung zu Freiheit und Verantwortung über die Steuerung der eigenen Lernprozesse zu verhalten.

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ein spezieller Umgang des Menschen mit sich selbst als Lernwesen vorgezeichnet ist. Der neunte Tag der Schöpfung, an dem der Mensch als soziales Wesen definiert wird, beginnt mit einem didaktischen Appell »Höre Israel« (Dtn. 6,4) und endet mit der Erinnerung daran, dass alle Zeit als Geschichte unter den Vorzeichen des Exodus zu verstehen ist (Num 15,41). Anthropologisch betrachtet richten sich alle weiteren Motive von Dtn. 6,4–9 über Dtn. 11,13–17 und Num 15,37–41 auf einen einzigen Sachverhalt: das menschliche Lernen, alltäglich und unabschließbar. 2.18 Wenn es etwas gibt, das bei aller Vorsicht universal vom MenschSein ausgesagt werden kann, dann ist es dies: Der Mensch ist ein LernWesen. Vorsicht bedeutet: Wir sind gewarnt von postkolonialen, feministischen und antisemitismuskritischen Einwürfen, dass sich hinter Universalien nur allzu oft getarnte Machtmechanismen und Deutungsansprüche verstecken. 10 Deswegen ist Vorsicht geboten bei Universalien. 2.19 Dennoch die Voraus-Setzung eines Universalen im Geflecht von Lernen und Freiheit: Mensch-Sein ist vor allem in kultureller Hinsicht nicht angemessen zu betrachten, wenn dieses vollständig als sozial determiniert oder genetisch instinktbedingt betrachtet wird. Ohne eine Grundlage von Freiheit und damit auch Un-Berechenbarkeit bleibt Mensch-Sein unverständlich. Freiheit aber wird praktisch im Umgang des Menschen mit sich selbst. Freiheit wird praktisch im Umgang des Menschen mit dem je eigenen Lernen. Die universale Grundannahme lautet: Der Mensch ist dazu fähig und zugleich darauf angewiesen, sich lernend zu sich und seiner Umwelt zu verhalten. Das aber bedeutet, dass der Mensch in der Selbstwahrnehmung seines Seins verwiesen ist auf etwas Veränderliches, Sich-Veränderndes in der Zeit. Im Sein ist der Mensch verwiesen auf das Verständnis von Zeit. Dies gilt gerade für die Herausforderung, sich zu sich selbst verhalten zu müssen. Dafür gibt es sehr unterschiedliche Modelle. Die Frage ist dann: Was qualifiziert unter welchen Vorzeichen diese Zeit? Und wie kann dies in den Lebensalltag hineingenommen werden? 2.20 Zurück zur Verschiebung der Perspektiven: Das Shema Israel ist (dann auch) ein Dokument, in dem das menschliche Lernen allein bereits in seinem Auftaktdrittel in einen markanten Deutungsrahmen gestellt wird: »Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft. Und diese Worte, die ich dir

10 J. Derrida, Die Différance (1972), in: P. Engelmann (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 1990, 76–113.

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heute gebiete, sollen in deinem Herzen bleiben, und du sollst sie deinen Kindern einschärfen, und du sollst davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du dich erhebst. Du sollst sie als Zeichen auf deine Hand binden und sie als Merkzeichen auf der Stirn tragen, und du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses schreiben und an deine Tore.« 2.21 Worum sonst geht es – in anthropologischer Hinsicht – in diesem zentralen Text als den schlichten Umstand, dass der Mensch sich – unter noch näher zu vertiefenden Prämissen – lernend zu sich selbst und seiner Mitwelt verhalten soll? Jedes »Soll« enthält einen Appell an die Hörerinnen und Hörer und die Leserinnen und Leser. Ein solcher Appell aber ist – pädagogisch betrachtet – nichts anderes als ein Lehren, das von einem Text, »einer Botschaft«, ausgeht. 11 Der Text selbst wird zum Lehrer und zielt auf die Steuerung der Lernprozesse in den hörenden und lesenden Individuen und Gemeinschaften. Der Text wird so zum Erzieher, der seine Bedeutung aber erst dadurch entfalten kann, dass er aufgenommen und gedeutet wird. Die Vermittlung der Botschaft zielt auf Aneignung, existentielle Aneignung. Diese existentielle Aneignung kann – wenn dem Menschen auch nur ein Minimum an Freiheit zugestanden wird – nur dadurch wirksam werden, dass der Mensch sich zu sich selbst verhält. Selbst in der scheinbar blindesten Unterwerfung scheint noch so etwas wie eine existentielle Entscheidung und damit Verantwortung durch. Sonst wäre der Mensch unzurechnungsfähig (was es gerade juristisch ja durchaus auch gibt). In der Regel gilt: Das Lehren des Textes zielt auf eine Aufnahme und Verarbeitung, mit der die Hörenden und Lesenden sich im Gewahrwerden ihres eigenen Lernens zu sich selbst verhalten. Das aber führt in die Struktur von »Bildung«. 2.22 Das Shema Israel – so die These dieses Nach-Denkens – enthält die Grundfigur eines Bildungsmodells, in dem Individuum (und individuelle Verantwortung) und Kollektiv in ein bestimmtes Verhältnis gesetzt werden. Dieses Verhältnis zielt auf eine Existentialisierung von Zeit als Geschichte im Modus der gegenwärtigenden Erinnerung und basiert insgesamt darauf, dass der Mensch sich in seinem permanenten, nie abschließbaren Lernen unter qualifizierten Vorzeichen zu sich selbst verhält. Das aber ist Bildung – im deutschen Sprachfeld in einen bewussten Kontrast zu Erziehung gesetzt.

11 Vgl. zur Detailanalyse von im Shema angesprochenen Orten und Zeiten Janowski, Anthropologie, 127.

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3. Anthropologische Folgerungen: Der Mensch vor Freiheit, Entfremdung und Befreiung 3.1 Bildung ist gegründet in einem Verständnis von Schöpfung und Geschöpflichkeit, wie es aus der Architektur der gesamten Thora systematisch entwickelt werden kann. Bildung ist begründbar aus einem Verständnis von Schöpfung und Geschöpflichkeit, wie es aus der Gesamtarchitektur der Thora systematisch entwickelt werden kann. 3.2 Entfalten wir diesen Gedanken in einem Denk-Weg über Schöpfung. Die Erzählungen der ersten drei Kapitel der Genesis sind – praktischsystematisch gelesen – von der Grundspannung geprägt, dass der Mensch ein hybrides Wesen ist. Der Mensch ist unter allem Geschaffenen Krone und Abschaum der Schöpfung zugleich. 3.3 Das Mischungsverhältnis scheint unentwirrbar, wird der Mensch einerseits als gute Schöpfung Gottes, andererseits jedoch als größtmöglicher Betriebsunfall des Seins eingeführt. Dieser größtmögliche Betriebsunfall resultiert aus dem Umstand, dass der Mensch die radikale und tabuisierte Differenz zu Gott als Schöpfer offensichtlich nicht aushalten kann und aufzuheben trachtet. Jenseits aller Fragen, welcher Anteil welchem Geschlecht in diesem unsinnlichen Aufbegehren zuzuschreiben ist, einen sich Adam und Eva doch darin, dass sie es tun. Adam und Eva folgen der verführerischen Botschaft der Schlange je auf eigene Weise. In dem »dass« des Falls besteht kein Unterschied der Geschlechter. 3.4 Das »dass« des Falls wird getrieben von einem scheinbar unzähmbaren Begehren. Das unablässige Streben permanenter Unzufriedenheit, so sein zu wollen wie Gott, zeichnet den Eintritt in die Geschichte über archetypische Entfremdungssymbole vor. Nach dem Fall beginnt die Transformation von Zeit in Geschichte. Der Mensch ist nicht mehr länger nur abstrakt ein lernendes Wesen. Die Befähigung zum Lernen wird jetzt zum Rettungsanker angesichts des Umstands, dass Mensch auf Lernen angewiesen ist, um das Überleben durch Arbeit zu sichern. Der Mensch wird mit seinem Lernen in den Horizont der Freiheit geworfen. Freiheit ist ein dreckiges Spiel, lustvoll und schön, verletzlich und grausam. 12 Die archetypischen Entfremdungssymbole des Mensch-Seins sprechen eine drastische Sprache. Kain, Noah und das Turmbau-Kollektiv von Babel fügen die Reflexionsfläche eines Spiegels zusammen, in dem Menschen

12 Vgl. dazu ausführlicher R. Koerrenz, Es gibt ein richtiges Leben nur im Falschen. Hebräische Anthropologie und demokratisches Denken, Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 71 (2019), 102–119.

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den Voraussetzungen ihrer Menschlichkeit noch einmal anders ansichtig werden (sollen). Das Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Lernens wird unausweichlich. Im Spiegel dessen wird der Mensch zu Bildung verurteilt. Zugleich steckt Bildung den Möglichkeitshorizont des Menschlichen ab. Diese Dialektik gilt es zu erläutern. 3.5 Die Voraus-Setzung aller Bildung ist Freiheit. Freiheit erst eröffnet einen Möglichkeitshorizont von Entscheidungen, wirft den Menschen jedoch zugleich zurück auf seine unausweichliche und nunmehr unentschuldbare Verantwortlichkeit – vor Gott, vor seiner Mitwelt, in letzter Konsequenz jedoch vor allem vor sich selbst. 3.6 Der achte Tag der Schöpfung ist dunkel. Die ersten Folgen der Freiheit sind brutal. Die Vorzeichen aller Geschichte sind (und bleiben) Symbole der Entfremdung des Menschen von dem nächsten Anderen (Abel), von den fernen Anderen (Babel) und von der Umwelt (Noah). Nichts ist nett daran – einzig, dass die Erde bestehen bleibt und Menschen auf ihr. Die Architektur der Thora stellt vor die Geschichte die Vorzeichen unaufhebbarer Entfremdung. 3.7 Die Vorzeichen des achten Tages bringen die eine Seite des hybriden Wesens Mensch zur Geltung. So wie die Würde des Menschen in der von Gott zugesprochenen Gottähnlichkeit und der Vorrangstellung des Menschen im Gesamtsystem von Welt in Erinnerung zu behalten ist, so sehr verweist der achte Tag der Schöpfung auf die verführerische Gestimmtheit der Freiheit außerhalb des Paradieses. Die Würde des Menschen ist gerade dadurch gefährdet, dass er die Gottähnlichkeit verabsolutieren will, zum Inhalt seines eigenen Strebens und Begehrens, seines Aufbegehrens macht. Das Narrativ vom Baum der Erkenntnis mit seinen verbotenen Früchten und das Narrativ von der menschlichen Selbstverabsolutierung im Turmbau zu Babel rahmen den achten Tag. In beiden Erzählungen geht es in letzter Konsequenz um eine Kritik des menschlichen Erkennens in theoretischer, praktischer und ästhetischer Hinsicht. 3.8 Entfremdung wird so zur Grundlage der Individual- und Sozialanthropologie. Denken von Zeit als Geschichte jenseits der archetypischen Entfremdungssymbole zwischen Mord und Fremdheit des Fremden wird u-topisch, ortlos, realitätsfern. Entfremdung ist die Signatur, von der aus Realität von Menschlichkeit und Mit-Menschlichkeit zu deuten ist. 3.9 Entfremdung zeigt sich in dem Verlangen nach Weltbeherrschung, nach Weltherrschaft durch gottähnliche Wissenskontrolle und daraus resultierende vermeintliche Gewissheit. Diese Gewissheit aber ist eine trü-

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gerische Illusion, die in einer epistemischen Absolutheit 13 ihr praktisches Pendant findet, letztlich aber nichts anderes als offensichtliche Signatur der Entfremdung ist. 3.10 Das Symbol vom »Baum der Erkenntnis« und das Symbol vom »Turmfragment zu Babel« unterscheiden sich lediglich in der systemischen Quantität, nicht aber in der begehrlichen Qualität. Im Schatten beider Symbole werden die Unverfügbarkeit und die Zerbrechlichkeit von Sprache als Grundbedingungen menschlichen Seins in der Geschichte sichtbar. 3.11 In die Grenzen der Kommunikation sind die Gefährdungen der leiblichen Existenz eingerahmt – Gefährdungen durch andere Menschen ebenso wie Gefährdungen durch die Natur. 3.12 Das aber macht vor allem eines deutlich: Der Mensch ist in seiner postparadiesischen Verfasstheit darauf verwiesen, das eigene Überleben sowohl physisch als auch psychisch nicht als selbstverständlich, sondern als gefährdet, als fragil zu betrachten. 3.13 In der Konsequenz ergibt sich als eine wesentliche Herausforderung, sich lernend zu seiner eigenen Freiheit verhalten zu müssen. Das Vertrauen auf das eigene Lernen und die Achtsamkeit auf das Wie und Was des Lernens sind notwendig, um das eigene Überleben (im Schweiße des Angesichts) zu sichern, zugleich jedoch auch – wie der neunte Tag der Schöpfung es ans Licht bringen wird – um das Verhältnis zu den Mitmenschen und zur Umwelt unter den Vorzeichen individueller Verantwortlichkeit zu gestalten. 3.14 Zwischenruf: Wenn die Rede von »Bildung« einen von Erziehung, Lernen, Sozialisation usw. eigenständigen Sinn entfalten soll, dann geht es um die reflexive Gestaltung von Freiheit über Verantwortung. Es geht im Grundmodell von Bildung in letzter Konsequenz (bei allen Impulsen, die von außen auf Menschen zukommen) um das Verhältnis des Menschen zu sich selbst mit Blick auf einen bewussten Umgang mit dem eigenen Lernen. 3.15 Das hebräische Narrativ trägt in das Verständnis von Bildung als Umgang des Menschen mit dem eigenen Lernen als Vor-Satz quasi ein Vor-Zeichen ein: Der Mensch lebt postparadiesisch immer und unaufhebbar unter Vorzeichen der Entfremdung – von sich, von Mit- und Umwelt

13 Vgl. W.D. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien 2012.

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und von Gott. Diese Unversöhntheit ist innerweltlich unüberwindbar, so unbequem der Gedanke auch ist. 3.16 Wenn wir nachfolgend die Vision des neunten Tages der Schöpfung betrachten, ist ein Blick auf den Ausgangspunkt der Dialektik von Entfremdung und Befreiung zu werfen. Der achte Tag ist (nur) das vorletzte Wort in der Beschreibung der Geschöpflichkeit des Menschen im hebräischen Paradigma. 3.17 Die entscheidenden Fragen lauten doch: Wo und wie kommt der Mensch zu sich selbst? Wo ist die Schöpfung des Menschen nach dem hebräischen Denken zu sich selbst gekommen? Worin findet die Geschöpflichkeit des Menschen ihren Fokus? Die vorläufige Antwort auf diese Fragen hat einen Rahmen und zwei Grundperspektiven. 3.18 Der Rahmen besteht in dem Narrativ, dass der Mensch im Umgang mit dem eigenen Lernen als dynamischem Grund seines Seins verwiesen ist auf eine bestimmte Qualifizierung der Zeit als Geschichte: der Geschichte des Bundes Gottes mit den Menschen als innerweltlich nie zu einem Ende gelangenden Umgang mit der Entfremdung. 3.19 Die eine Grundperspektive besteht in dem Modus des Einvernehmens mit und Einstimmens in diese Geschichte, für die – quasi als elementarste Form – das Shema Israel steht. Hier stimmt der Mensch mit Blick auf das eigene, alltägliche Lernen in eine Deutung der Zeit als Geschichte unter den Vorzeichen der Dialektik von Entfremdung und Befreiung ein. Der Mensch lernt sich so als geschichtlich Gewordener und Werdender verstehen – und genau darin kommen Schöpfung und Geschöpflichkeit im hebräischen Sinne zu sich selbst. 3.20 Zugleich aber verweist die andere Grundperspektive darauf, dass der Mensch sich gerade darin als Geschöpf verstehen lernen muss, dass Schöpfung nie zu einem Stillstand, nie zu einem Abschluss, nie zu einer Aufhebung der postparadiesischen Entfremdung in innerweltlichen Verhältnissen gelangen kann. Das aber verweist – bildungstheoretisch gesprochen – den Menschen zugleich auf die Unabschließbarkeit seines Umgangs mit dem eigenen Lernen, auf die unhintergehbare Unvollkommenheit und Fragilität seiner Bildung. 3.21 Entfremdung ist nicht das einzige und das letzte Wort – gerade in der näheren Qualifizierung von Bildung. Das Shema Israel als Vor-Satz, als Vor-Urteil, wie Menschen mit sich in ihrem eigenen Lernen umgehen können und sollen, verweist auf die Prägung des Seins über Zeit. Zeit aber wird verstanden als Geschichte und Geschichte wiederum interpretiert aus

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dem Spannungsverhältnis von der Fragilität der Geschöpflichkeit und der Hoffnungsperspektive des Exodus. 3.22 Exodus wird nach dem Shema Israel zunächst mit Blick auf Lernen zu buchstabieren sein als Eingeständnis des eigenen Fremd-Seins in Raum und Zeit durch die Erinnerung an Ägypten. Die Gedächtnisspur an die Unterdrückung und Ausbeutung des Kollektivs soll individuell transformiert werden in je eigenes Alltagsdenken und Alltagshandeln. »Und du sollst davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du dich erhebst« (Dtn 6,7b). 3.23 Im Vorschein des Exodus werden somit zwei unterschiedliche Formen des Wissens deutlich. Dem Wissen als Herrschaftsverlangen, auf Kontrolle von Wirklichkeit gerichtet, steht eine Form des Wissens gegenüber, das aus der Geschichte und der Erinnerung die Nahrung der Hoffnung schöpft. Auch darin vollendet sich das Verständnis von Schöpfung und Geschöpflichkeit im hebräischen Narrativ. 3.24 Die im Anschluss an das Shema Israel sichtbar werdende Kontur von Schöpfung und Geschöpflichkeit weist über die biophysische Verfasstheit des Menschen hinaus auf das Verständnis für das Eingebundensein in Geschichte über Erinnerung. Nur über Geschichte kann Schöpfung verstanden werden. Nur über sein Agieren in der Geschichte wird der Mensch als Geschöpf sichtbar – als ein Geschöpf, in dem der Umgang mit Zeit das Sein qualifiziert. Die Grundoperation des Umgangs mit Zeit aber ist die Bewusstheit von und Verantwortlichkeit für das eigene Lernen (und von dort aus abgeleitet auch für die Initiierung des Lernens bei Anderen). Denn »diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Kindern wiederholen. Du sollst sie sprechen, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst.« Der Mensch steht im hebräischen Narrativ damit vor der Herausforderung eines permanenten Aufklärungsprozesses über die Bedingungen und Bedingtheiten des eigenen Lernens. Dies aber nie nur für sich, sondern immer im unsichtbaren Angesicht des unverfügbar Anderen und in der Erinnerung an das, was geschehen ist. Dies sind die systematischen Eckpfeiler einer Aufklärung alles Innerweltlichen und eines Auftrags zur Dekonstruktion des Scheinbaren, insbesondere wenn es mit letzten Gewissheiten jenseits der Geschichte Geltung beansprucht.

14 4.

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Bildung als Programm der Aufklärung – Versuch einer Einordnung

4.1 Bildung begründet als Ausdruck in der deutschen Sprache eine Ordnung unseres Denkens, in der eine Differenz vor allem zu Erziehung markiert wird. Diese Ordnung entstand im 18. Jahrhundert als Neujustierung der Anthropologie. Wenn wir von Bildung reden, sind die Ordnungsfunktion über begriffliche Differenzierung und die Sache an sich zu unterscheiden, auch wenn sich im 18. Jahrhundert das eine (die sprachliche Ordnung) aus dem anderen (der noch zu skizzierenden Sache) ergeben hat. 4.2 Gemeinsam ist einerseits Bildung und Erziehung der Bezug auf das anthropologische Elementarphänomen des Lernens an sich und andererseits, dass es in beiden Fällen um eine Steuerung eben dieses Lernens geht. 4.3 Der Unterschied liegt darin, wer als Akteur dieses Steuerungsprozesses in den Blick genommen wird. In Erziehung können dies sehr unterschiedliche Formen der direkten und indirekten Steuerung von außen sein (das ist hier nicht das Thema), in Bildung ist es der einzelne Mensch, der sich – quasi von innen – zu sich selbst verhält. 4.4 Autor der begrifflichen Konzeptionalisierung von Bildung war Moses Mendelssohn, Mentor der sachlichen Begründung der dahinterstehenden anthropologischen Grundfigur Immanuel Kant (im Anschluss an JeanJacques Rousseau). 4.5 In Bildung geht es um Freiheit, Mündigkeit, Autonomie und daraus resultierende Verantwortung. Damit einher geht eine Einsamkeit vor sich und mit sich. Das Selbst wird zur Richtinstanz des eigenen Urteilens, Denkens und Handelns. Und gerade darin wird sich der Mensch – wenn er denn wach ist – seiner eigenen Fremdheit, seiner eigenen Entfremdung bewusst. Dies gilt auch bzw. gemäß dem hebräischen Narrativ gerade dann, wenn die Konstruktion des Selbst die Differenz zu etwas ganz Anderem, Unverfügbarem, nicht namhaft zu machendem Realen vorsieht. Der erste Blick zur Bewertung des eigenen Urteilens, Denkens und Handelns richtet sich auch angesichts dessen immer auf den unsichtbaren Spiegel des Selbst. Das ist der Preis der postparadiesischen Freiheit – oder der Lohn, wie immer man individuell dies sehen mag. 4.6 Diese Konstellation auf einen neuen Begriff zu bringen, ist das Anliegen von Bildung als Summe der Neujustierung einer aufgeklärten Vorstellung vom Menschen im 18. Jahrhundert. Bildung ergibt so und nur so als anthropologische Kennzeichnung einen, von anderen Begriffen wie beispielsweise Erziehung, Lehrplan oder Sozialisation verschiedenen

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Eigen-Sinn. Bildung ist der Sache nach: ein ethisches Modell aufgeklärten In-der-Welt-Seins. 4.7 Bildung symbolisiert als Projekt der Aufklärung geradezu das Aufbegehren gegen die Lieblichkeit jeglicher Idealität und Idealisierung, die dem humanistischen Denken über »Bildung« in der Regel innewohnt. 4.8 Mit dem Rückbezug auf Aufklärung geht es nicht um eine museale Erinnerung an irgendeine historische Zeit, sondern systematisch um den Versuch, der warenförmigen Zerstörung des Grundgedankens das rebellische Potenzial von Bildung auch gegen die eigene Deformation entgegenzustellen. 14 Denn Bildung ist sowohl der begrifflichen Konzeptionalisierung als auch der sachlichen Begründung nach eine rebellische Vorstellung, die Moses Mendelssohn und – ohne den Begriff zu verwenden – Immanuel Kant in die Selbstinterpretation des Menschen eingetragen haben. Es geht Beiden um die Bedingung der Möglichkeit von allem: von Selbstwahrnehmung, von Weltwahrnehmung, von Denken, von Handeln, von Urteilen. 4.9 Immanuel Kant hat den Gedanken des sich selbst bewusstwerdenden Menschen mit dem Motiv der Mündigkeit im Spiegel der Unmündigkeit thematisiert. 15 Aufklärung ist und bleibt ein Prozess, der nicht zu einem Abschluss kommen kann und darf, mit dem immer wieder neu gerungen werden muss, um dem Menschlichen in den umgrenzten Möglichkeiten des Innerweltlichen einen pluriformen Raum zu verschaffen. 4.10 Für Moses Mendelssohn ist Bildung die Antwort darauf, was man überhaupt unter Aufklärung verstehen kann. Mendelssohn entwickelt eine »Konzeption von Bildung, die sich als praktisch-interaktive und theoretisch-reflexive Arbeit des Menschen an seiner Bestimmung versteht.« 16 Dass Bildung einerseits in Aufklärung als theoretische Haltung der Weltzuwendung und andererseits in Kultur als deren praktische Gestaltung unterschieden werden kann, hat Mendelssohn unwiderrufbar in das egokritische Stammbuch der Moderne eingeschrieben.

14 Th.W. Adorno, Theorie der Halbbildung (1959), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt am Main 1990, 93–121; G. Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main 21994. 15 I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), in: E. Bahr (Hg.), Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, Stuttgart 1974, 8–17. 16 D. Benner, Bildung und Aufklärung. Überlegungen zu ihrer Beziehung im Anschluss an Kant und Mendelssohn. In: R. Messner (Hg.): Wolfdietrich Schmied-Kowarzik – Akademischer Abschied am 2. Februar 2007. (Kasseler Universitätsreden Nr. 15), Kassel 2007, 33–51, hier: 42.

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4.11 In seiner Schrift »Ueber die Frage: was heißt aufklären?« aus dem Jahr 1784 finden sich einleitend die Sätze: »Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unsrer Sprache noch neue Ankömmlinge. Sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe verstehet sie kaum.« Und er fährt – wenige Sätze später – fort: »Bildung, Kultur und Aufklärung sind Modifikationen des geselligen Lebens; Wirkungen des Fleißes und der Bemühungen der Menschen ihren geselligen Zustand zu verbessern. Je mehr der gesellige Zustand eines Volks durch Kunst und Fleiß mit der Bestimmung des Menschen in Harmonie gebracht worden; desto mehr Bildung hat dieses Volk. Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung. Jene scheint mehr auf das Praktische zu gehen: auf Güte, Feinheit und Schönheit in Handwerken Künsten und Geselligkeitssitten (objektive); auf Fertigkeit, Fleiß und Geschiklichkeit in jenen, Neigungen, Triebe und Gewohnheit in diesen (subjektive). [. . . ] Aufklärung hingegen scheinet sich mehr auf das Theoretische zu beziehen. Auf vernünftige Erkenntniß (objekt.) und Fertigkeit (subj.) zum vernünftigen Nachdenken, über Dinge des menschlichen Lebens, nach Maaßgebung ihrer Wichtigkeit und ihres Einflusses in die Bestimmung des Menschen. Ich setze allezeit die Bestimmung des Menschen als Maaß und Ziel aller unserer Bestrebungen und Bemühungen, als einen Punkt, worauf wir unsere Augen richten müssen, wenn wir uns nicht verlieren wollen.« 17 4.12 Der »Mensch als Maß und Ziel« ist die Fixierung des Verständnisses von Bildung auf Anthropologie. Bildung ist ein anthropologisches Modell. 4.13 Im Hintergrund stehen als regulative Ideen die Orientierung an Freiheit, Mündigkeit und Autonomie. Bildung ist der Oberbegriff, von dem aus das individuelle und das soziale Sein des Menschen durch eine Orientierung an Freiheit, Mündigkeit und Autonomie neu verstanden werden können, neu verstanden werden müssen. 4.14 Soll Freiheit einen Anhaltspunkt an Wirklichkeit haben, dann muss sie (auch) anthropologisch geerdet werden. Das aber führt unweigerlich zu einem Punkt, der jenseits aller kulturell-kontextuellen Prägungen als eine universale Aussage tragfähig erscheint: dass Menschen lernen und dieses Lernen nicht nur von außen gesteuert wird, sondern der als (relativ) frei gedachte Mensch für die Steuerung des Lernens selbst (mit)verantwortlich ist.

17 M. Mendelssohn, Über die Frage: Was heißt aufklären? (1784), in: E. Bahr (Hg.): Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, Stuttgart 1974, 3–8, hier: 3f.

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4.15 Die Rede von Verantwortung steht immer in der Gefahr, zu einem abstrakten Ideal zu verkommen, wohlgedacht, aber ohne leibseelische Rückbindung an das Selbst. Denken wir aber, wie es Mendelssohn und Kant nahelegen, Verantwortung (auch) als einen Prozess, in dem Menschen sich zu sich selbst hinwenden, dann werden wir unweigerlich auf den Sachverhalt des Lernens zurückverwiesen. 4.16 Diese Hinwendung gliedert Mendelssohn in eine praktische und eine theoretische Aktivität, eben Aufklärung und Kultur. Dafür führt er als anthropologisch-integrierende Signatur das Wort Bildung ein. So wird in dem Modell Bildung – wenn man diese Trias Bildung, Kultur, Aufklärung mit dem Motiv der Bearbeitung von selbstverschuldeter Unmündigkeit im weiten Sinne bei Kant 18 verknüpft – die aufklärende und zugleich kulturelle Seite des Weltbezugs mit der Offenheit des Lebenslaufs über Lernen verbunden. Lernen wird nach innen als Prozess freigelegt, in dem das Selbst sich zu sich selbst verhält. In beiden Hinsichten, der aufklärenden und der kulturellen, legen Menschen vor sich selbst Rechenschaft ab, wie sie sich verantwortlich, d.h. im Bewusstsein ihrer Vor-Urteile zu Welt verhalten. 4.17 Vorausgesetzt wird im Modell Bildung, dass der Mensch als ein (relativ) freies Wesen betrachtet wird, das für sein Denken und Handeln unter den Vorzeichen dieser Freiheit Verantwortung übernehmen kann, vor allem aber muss. Bildung ist die Fähigkeit, sich zu seinen eigenen VorUrteilen verhalten zu können. Diese Vor-Urteile können wir – zumindest in einem bestimmten Maße – erkennen und dann wählen. Sonst ergäben die Reden von Freiheit und Verantwortlichkeit keinen Sinn. 4.18 Im hebräischen Narrativ können Adam und Eva als die ersten Freigelassenen der Schöpfung betrachtet werden, die der Sache nach von den Leserinnen und Lesern sowie den Hörerinnen und Hörern des Wortes vor allem so zu verstehen sind: als frei und als verantwortlich. Wie sonst ergäben die nachfolgenden Erzählungen von Kain bis Mose einen Sinn, wenn nicht Alle als Freie und Verantwortliche angesprochen werden könnten. Nur so und nur deswegen kann Geschichte auch als ein Bundesgeschehen betrachtet werden, wobei Bund sich nach den Varianten des einseitigen Zuspruchs der Treue durch Gott (bei Noah und den Erzeltern) im Exodus-Geschehen zu etwas wandelt, in dem gerade diese Freiheit und diese Verantwortlichkeit in einer Partnerschaft asynchroner Gleichheit (Michael Walzer) zum Programm wird. Kurz:

18 Zu der Unterscheidung einer »weiten« von einer »engen« Auslegung des Motivs der selbstverschuldeten Unmündigkeit vgl. Benner, Bildung, 36ff.

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4.19 Das hebräische Narrativ appelliert mit seinen Überlieferungen an eine Beschreibung des postparadiesischen Menschen als frei und verantwortlich. 4.20 Das hebräische Narrativ bietet Vorzeichen an, mit denen der Mensch einen Bezug zu sich selbst aufbauen kann, zu sich selbst aufbauen soll, zu sich selbst aufbauen muss – um in den innerweltlichen Verhältnissen im Rahmen des Bundes einen Umgang mit der Entfremdung zu finden. 4.21 Das hebräische Narrativ zielt auf ein Modell von Bildung, wenn darunter wie bei Mendelssohn ein von kritischer Reflexion getragener, verantwortlicher Umgang mit Freiheit in theoretischer (Aufklärung) und praktischer (Kultur) Hinsicht gemeint ist. 4.22 Die universale Grundlage von Freiheit ist Lernen, der Modus des Umgangs mit Freiheit ist Bewusstwerdung von eigenen Vor-Urteilen und deren Verantwortung. Freiheit realisiert sich bildungstheoretisch in der Wahl, Reflexion und Schulung von Vor-Urteilen, mit deren Hilfe Menschen sich reflexiv zum eigenen Lernen verhalten können. In den VorUrteilen geht es um die normative Ausrichtung von Bildung. In diesem Sinne kann Bildung als angewandte Ethik einer Anthropologie des Lernens verstanden werden. Das hebräische Narrativ trägt in diese Anthropologie eine bestimmte Deutung von Freiheit ein: Freiheit als Entfremdung und als Umgang mit Entfremdung im Bundesgeschehen. 4.23 Die Deutungsmuster der Kollektivindividualität und der gegenwärtigenden Erinnerung konstituieren die Vor-Urteilsstruktur von »Bildung« im hebräischen Denken. Nachdem die Position dieser Deutungsmuster in der Logik einer Anthropologie als Bildung skizziert worden ist, gilt es nun, deren Inhalte als Spezifika der hebräischen Grundlegung von Bildung zu vertiefen.

5.

Kollektivindividualität – zum Paradox des Selbstbezugs

5.1 Bildung ist Ausdruck für einen Selbstbezug des Individuums. In Bildung bezieht sich ein Individuum auf sich selbst in der Form, dass es sich zum eigenen Lernen verhält. Dieses Verhalten zum eigenen Lernen vollzieht sich vor allem, wenn auch nicht ausschließlich dadurch, dass es sich der Vor-Urteile, mit denen das eigene Lernen gesteuert wird, gewahr wird. 5.2 Diese Vor-Urteile können im Bewusstwerden des eigenen Fühlens (der Gestimmtheit) und Denkens geprüft, beibehalten oder geändert wer-

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den. Dieser Vorgang vollzieht sich in jedem Individuum tagtäglich permanent, ohne dass dies in der Regel bewusst (gemacht) wird. Bildung hat elementar mit emotionalem und rationalem Bewusst-Sein, Bewusst-Werden und Bewusst-Machen (je nachdem, welche Perspektive eingenommen wird) zu tun. 5.3 Bildung und Nicht-Bildung unterscheiden sich demnach anhand der Fähigkeit, sich zu den Bedingungen und Bedingtheiten der eigenen Wahrnehmung über die Steuerung des eigenen Lernens bewusst verhalten zu können. Bildung schließt die Achtsamkeit auf diese Bedingungen und Bedingtheiten sowie die Artikulation der daraus resultierenden Positionalität und Perspektivität des Denkens, Redens und Handelns ein. In NichtBildung spielen diese Achtsamkeit und diese Artikulation keine Rolle. 5.4 Zwischennotiz 1: Unter Bedingtheiten werden die langfristigen Prägungen der eigenen Wahrnehmung und damit auch des Umgangs mit dem eigenen Lernen verstanden. Im Unterschied dazu verweisen Bedingungen auf aktuelle, gegenwärtige Umstände, die die eigene Wahrnehmung beeinflussen. Weder Bedingtheiten noch Bedingungen vermögen ein Individuum vollständig seiner Verantwortung zu entheben, auch wenn deren Bedeutung z.B. juristisch zu berücksichtigen ist. 5.5 Zwischennotiz 2: Unter Positionalität soll ein gefestigtes Arrangement (z.B. der konkreten Lebensumstände, der sozialen Position über die Zuschreibung von Geschlechter-, Besitz- oder Berufsrollen) verstanden werden. Im Unterschied zur Positionalität rückt die Perspektivität stärker die Einflüsse einer je gegenwärtigen Situation (z.B. des kommunikativen Kontextes, einer Zeitstimmung) in den Vordergrund. 5.6 Zwischennotiz 3: Bedingtheiten und Bedingungen, Positionalität und Perspektivität bilden die Matrix der Sprech-Position. Macht und Ohnmacht werden in dieser Matrix ineinander verwoben. Die Artikulation, also das Verbergen und /oder das Offenlegen, dieser Sprech-Position, ist ein wesentlicher Um-Stand jeglicher Kommunikation. Neutrales, »objektives« Reden gibt es nicht. Das Bewusst-Sein der Sprech-Situation ist konstitutiver Teil des Gebildet-Seins. Bewusst-Sein ist Voraussetzung von Mit-Teilung. Die Mit-Teilung der Sprech-Situation ist möglich, zuweilen auch notwendig, um Kommunikation zu stiften, nie jedoch absolut zwingend. Ver-Bergen ergibt einen eigenen Sinn als Schutz unter dem DeckMantel des scheinbar Objektiven, gerade angesichts von Entfremdung. 5.7 Im hebräischen Denken bildet das Verständnis von Zeit als Geschichte die Grundlage für das Verständnis von Sein im Sinne der Geschöpflichkeit. Konkret wird dieses Seinsverständnis zum einen in einem

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Paradox des Selbstbezugs in Form einer Kollektivindividualität. Konkret wird dieses Seinsverständnis zum anderen als Paradox des Weltbezugs in der gegenwärtigenden Erinnerung als bejahende Negation. Das sind die beiden Vor-Urteile, mit denen das hebräische Denken die formale Struktur von Bildung als Selbstreferentialität in der Lernsteuerung (über die universale Bedingtheit der Entfremdung hinaus) konkretisiert. 5.8 »Höre Israel« ist zugleich ein Kollektivappell und ein Individualappell. Aus dem Zusammenspiel beider Appellstrukturen ergibt sich das Vor-Urteil der Kollektivindividualität als ein erstes Spezifikum von Bildung im hebräischen Narrativ. 5.9 Wer wird angesprochen? Angesprochen wird der Mensch als Individual- und Kollektivwesen. Das Individuum im Kollektiv und das Kollektiv mit Blick auf die es tragenden Individuen. Beides ist nicht zu trennen. 5.10 Grundlegend für die Verflechtung von Kollektivität und Individualität ist ein Verständnis von Zeit als Geschichte, das das Sein des Menschen prägt. Das Sein wird geprägt durch die Erzählung des Bundes vor dem Hintergrund des Vor-Satzes einer unaufhebbaren Entfremdung. Dies richtet sich gegen ein anderes Vorzeichen des Seins: Bildung im Sinne der bestmöglichen Entfaltung vorhandener Anlagen bis hin zur Formierung eines zugleich schönen und guten Menschen (im Extremfall ohne Makel) ist demnach Ideologie und Götzendienst am Selbst. Denn: Jegliche Vision des Positiven prallt an der Wirklichkeit und vor allem der Erfahrung von Geschichte ab. Realismus rechnet nicht mit Gelingen, sondern mit Scheitern. Die Zähmung des Scheiterns ist das endlich-fragile Glück im gelingenden Dennoch. Nur die Negation kann realistisch das Positive begründen, ohne dass es jedoch einen zwingenden kausalen Zusammenhang gibt. Deswegen: Das hebräische Narrativ entfaltet eine andere positive Vision des Mensch-Seins, in und mit Entfremdung realistisch (nicht idealistisch) Sozialität zu denken und zu gestalten. 5.11 Im Bund Gottes mit den Menschen und (nach dem Sinai) der Menschen mit Gott wird das Verhältnis vom Ich zu dem Anderen (innerhalb des umgrenzten Kollektivs ebenso wie zu allen Menschen) konstituiert durch das Alles tragende Verhältnis zu dem unverfügbaren und doch empathischen Anderen, der in seinem Anderssein noch nicht einmal ausgesprochen namhaft gemacht werden kann. Bildung basiert im hebräischen Narrativ auf einer absoluten Differenzerfahrung. Diese absolute Differenzerfahrung gegenüber dem ganz Anderen führt ein Bewusstsein für die Differenz gegenüber allen Anderen mit sich – erkenntnistheoretisch und als regulative Idee auch ethisch.

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5.12 Das Vor-Urteil der Kollektivindividualität führt zunächst und vor allem zu etwas wie einem misstrauenden Vertrauen in das Selbst, weil die Unzulänglichkeit der Kontrolle des Eigenen angesichts der Entfremdung immer unter dem Vorzeichen einer skeptischen Unsicherheit steht. Es ist nicht die Skepsis der Philosophen, sondern die Skepsis von Abraham, Issak und Jakob angesichts der Unverfügbarkeit des ganz Anderen. Die Skepsis richtet sich auf das Selbst, nicht auf die Anderen. Die Skepsis ist über die Reflexion der Bedingungen und Bedingtheiten des eigenen Lernens konstruktiv in den Alltag zu transformieren. 5.13 Die Rede von »dem« Bund ist irreführend. Zeit als Geschichte wird im hebräischen Narrativ – systematisch verstanden – geprägt von einer multiplen Bundesstruktur mit unterschiedlichen Aussage- und Zuwendungslogiken. Insbesondere mit Blick auf die didaktischen Konsequenzen gibt es nicht die eine Form des Bundes, sondern – typologisch zugespitzt – mindestens zwei Formen: die Form des Exodus und alle anderen Formen. 19 Dies ist für den Aspekt der Verantwortung relevant, der so erst auch im Verhältnis des Menschen zu sich selbst denkbar wird. 5.14 Der Unterschied in den Bundesformen resultiert aus dem Umstand der Verantwortlichkeit des Menschen bzw. der Menschen für die Zeit (und für das »Wohlergehen« Gottes angesichts der Welt). Im Exodus wird die Freiheit des Menschen als Verantwortung neu justiert. Dies geschieht kollektiv und im Kollektiv individuell. »Am Berg Sinai entscheidet jedenfalls das Volk, und dies impliziert, daß es nun besitzt, was ihm in Ägypten zu fehlen schien: die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Es verfügt nicht nur über natürliche Freiheit, sondern auch über freien Willen.« 20 Diese Rede von natürlicher Freiheit und freiem Willen im Kollektiv des Volkes ergibt nur Sinn, wenn sie zugleich auch anthropologischindividuell verstanden wird. Es sind konkrete Menschen, die das Volk konstituieren. Das Volk ist für sich kein aktives Abstraktum, hinter dem die Einzelnen sich verstecken könnten. Der Einspruch des Shema Israel tönt laut im Hintergrund, dass es das Herz aller Einzelnen ist, auf das der Exodus-Bund zielt. Die Übernahme der Entscheidung und damit auch der Verantwortung erfolgt kollektiv individuell. Das Neue verpflichtet Kollektiv wie Individuum gleichermaßen. 5.15 Die Unterscheidung der kommunikativen Struktur der Bundesschlüsse vor und im bzw. nach dem Exodus ist gerade mit Blick auf 19 Die Unterscheidung der kommunikativen Struktur der Bundesschlüsse vor und im bzw. nach dem Exodus übernehme ich unter anderem aus der wegweisenden Arbeit von Michael Walzer, Exodus und Revolution, Berlin 1988. 20 Walzer, Exodus, 90.

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die Vor-Urteilsstruktur des Lernens zu beachten. Mit den Motiven von Verantwortlichkeit und Verantwortung ändert sich das Grundverständnis des Menschen als Geschöpf. »Es ist nützlich, den Sinai-Bund und seine späteren Wiederholungen von dem Bund mit Noah und Abraham (und danach von dem Bund mit David, der den beiden letzteren nachempfunden war) zu trennen. Die früheren Bünde haben die Gestalt absoluter und bedingungsloser Versprechungen, die von Gott gegeben werden. [. . . ] Auf dem Berg Sinai sind Gottes Versprechungen dagegen von radikalen Bedingungen abhängig.« 21 Der Mensch als Geschöpf hat Zeit zu verantworten als Geschichte. Dies ist eine neue Qualität des postparadiesischen Seins. Die Schöpfung gelangt an diesem Motiv des neunten Tages in die Vorhalle des Sozialen. Der Mensch taumelt nicht mehr nur als Geleiteter und Getriebener durch die Zeit. Dem Menschen werden im Schöpfungsakt des Geschichtsbewusstseins Kriterien vor Augen geführt, mit deren Hilfe ein Arrangement mit der (am eigenen Leib und an eigener Seele auch in Form von Sklavenschaft erfahrenen) Entfremdung denkbar wird. Der Schlüssel hierzu ist der Umgang mit sich selbst über die Steuerung des eigenen Lernens. 5.16 Die Bundeszusage an Noah als Symbol für das Mensch-Sein schlechthin kennt nur die Richtung von dem ganz Anderen »hinunter« zur Welt. Die Bundeszusage ist einseitig, dass die Erde im Rahmen der menschlichen Mühen und der Unberechenbarkeit der Natur doch im Rhythmus von Tag und Nacht, Saat und Ernte bestehen bleiben wird. Und auch die Kopplung der Menschheitszusage mit den Erstbegründungen eines eigenen hebräischen Weges in Abraham folgt der Logik der Herablassung. Es ist eine einseitige Auswahl und Bundeszusage, dass das gelingende Mensch-Sein, das Modell für die individuelle und kollektive Existenz in der Geschichte, in Abraham, Sarah und deren Nachkommen repräsentiert werden soll. Kurzum: Beide Bundeszusagen sind einseitig gegründet. Das zunächst als einseitig und schroff erzählte Herablassen des ganz Anderen bei Noah und Abraham verwandelt sich im Exodus-Bund mit der Moses-Überlieferung in ein Spannungsverhältnis, in dem Unverfügbarkeit und Freiheit Gottes mit der Verhandelbarkeit von Geschichte und der Verwundbarkeit Gottes durch die faktischen politischen Entwicklungen zusammengedacht werden muss. Durch den Exodus-Bund konstituiert sich eine Kollektivindividualität, die im »Höre Israel« auf den Punkt gebracht wird. 5.17 Diese Kollektivindividualität gilt zunächst für Israel, weist aber darüber hinaus. Der Schlüssel hierfür ist der Übergang vom achten Tag der

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Walzer, Exodus, 87.

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Entfremdung zum neunten Tag des konstruktiven Umgangs mit Entfremdung als Vollendung der Schöpfung des Menschen. Diese Vollendung der Schöpfung wird eingeleitet durch die Logik der Repräsentation von Menschheit in Abraham nach dem 1. Buch Mose 12,3 (»in Dir sollen gesegnet sein alle Völker«). Diese Zusage bildet – systematisch betrachtet – den Abschluss der Urgeschichte, weil durch diese Zusage Universalität und Repräsentation (Erwählung des Volkes Israel) der Geschöpflichkeit des Menschen gekoppelt werden und damit die Ablösung von der reinen Entfremdung beginnt. In der Bundeszusage an Abraham wird das Neue des neunten Tages als Form des möglichen Umgangs mit der zuvor geschilderten Entfremdung beschreibbar gemacht. Abraham und in dessen Folge der Bund im Exodus-Geschehen werden für das Individuum zur Grundlage einer Kollektivindividualität und für die Menschheit zum Modell, wie Sozialität unter den Vorzeichen der Entfremdung konstruktiv gewendet werden kann. Vollendet wird diese Vorstellung der Geschöpflichkeit des Menschen im »Höre Israel« als Sozialität der Geschichtlichkeit. 5.18 Das hebräische Narrativ gründet somit das Sein in der Deutung von Zeit als einer bestimmten Geschichte. Das hebräische Narrativ gründet in einer Befreiungserfahrung, die jeglicher Gegenwart den Spiegel vorhält, wie Menschen mit Menschen umgehen, wie Herrschaft organisiert und legitimiert ist, wie insbesondere mit Menschen, die in einem sklavenähnlichen Zustand als Ausgegrenzte, Marginalisierte am Rande einer Gesellschaft existieren, umgegangen wird. 5.19 Das Selbst wird dabei konstituiert durch die Gleichzeitigkeit von Selbstbewusstsein und Selbstinfragestellung. Das Bewusstsein resultiert daraus, dass der Mensch als Individuum angesprochen ist, als je Einzelne bzw. Einzelner in die Geschichte einzutreten und in ihr über die gegenwärtigende Erinnerung (siehe unten) Verantwortung zu übernehmen. Gleichzeitig ist dabei jedoch das Motiv leitend, dass mit Israel immer ein systemischer Zusammenhang des Alltagshandelns als »Volk« angesprochen ist. So sehr die Einzelnen je für sich angesprochen sind, sind sie es gerade nicht als a-soziale Singularität. Kollektiv bestimmt ist die Teilhabe an einer vorgegebenen, überlieferten Geschichte. Individuell bestimmt jedoch ist die Fortschreibung, Aktualisierung, Realisierung der Geschichte in der eigenen Existenz. 5.20 Das Bewusstsein einer solchen Kollektivindividualität ist die Grundlage aller Bildung. Es geht um das Vor-Urteil, mit dem das eigene Sein und von dort aus andere Menschen und die ganze Menschheit als Teil von Geschichte (Gottes) betrachtet werden.

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5.21 Dass im Umgang mit dem eigenen Lernen das Sein nur aus der Zeit heraus zu verstehen ist, gilt damit sowohl für die überindividuelle Geschichte des Kollektivs als auch für eine individuelle Aneignung von Zeit durch Erinnerung an eben diese Geschichte. 5.22 Damit bekommt der Selbstbezug im eigenen Lernen als zu verantwortende Selbstreflexivität der Wahl von Vor-Urteilen aufgrund der Ambivalenz der Freiheit (nach dem Ausgang aus dem Paradies) eine paradoxe Grundspannung: sich gleichzeitig in der Gestaltungsfähigkeit und in dem Gefährdungspotenzial sehen und aushalten zu müssen.

6.

Gegenwärtigende Erinnerung – zum Paradox des Weltbezugs

6.1 Neben dem Deutungsmuster der Kollektivindividualität ist es der Modus des gegenwärtigenden Erinnerns, der die Vor-Urteilsstruktur von »Bildung« im hebräischen Sinne näher bestimmt. 6.2 Die Rolle des Menschen als Geschöpf wird im Modus des gegenwärtigenden Erinnerns aus einer doppelten Logik beschrieben: der Logik, dass der Mensch ein Wissender ist, und der Logik, dass der Mensch ein Orientierungsbedürftiger ist. 6.3 Das Bild vom Menschen als Wissendem verweist auf eine andere Dimension in dem Fall vom Baum der Erkenntnis als die, die bislang betont wurde. Gerade bildungstheoretisch begründet dieser Fall als Verfehlung gegen die von Gott vorgesehene Ordnung nicht nur den Beginn einer unaufhebbaren Entfremdung, mit der der Mensch umzugehen zu lernen hat. Zugleich ist mit diesem Motiv auch konstruktiv ein Ermöglichungshorizont von kollektiver und individueller Lebensbewältigung über Lernen angezeigt. 6.4 In der Möglichkeit, die Befähigung zu Wissen zur Grundlage aller Vor-Urteile zu machen, wird die Hoffnung mitgeführt, dass es einen konstruktiven Umgang mit Entfremdung geben kann. So scheinen Maßstäbe wie Frieden oder Gerechtigkeit zumindest möglich, wenn auch nicht selbstverständlich oder naheliegend. 6.5 Diese Hoffnung wird im hebräischen Denken gespeist durch den Rückverweis auf die Orientierungsbedürftigkeit des Menschen. Das Spannungsverhältnis von Wissen und Orientierungsbedürftigkeit kann bearbeitet werden in einer gegenwärtigenden Erinnerung, in der der Mensch in seinem geschichtlichen Bewusstsein an die Architektur des Bundes verwiesen wird.

Zeit und Sein

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6.6 Zwischennotiz 1: Bildung verweist formal auf die Einsicht in die Verantwortung für das eigene Lernen. In dieser Einsicht geht es um einen solchen Umgang mit der Befähigung zu Wissen, in dem die eigene Freiheit verantwortet wird. Bildung verweist (im hebräischen Denken) material auf ein Lesen der Wirklichkeit unter den Vorzeichen von Bund und Exodus. Damit verbunden ist der Appell einer Perspektivübernahme der Weisung, beispielsweise zum Umgang mit innerweltlichen Autoritäten, mit Besitz, mit Fremdheit und Fremden. 6.7 Zwischennotiz 2: Gegenwärtigung verweist auf den Prozess einer Entmythologisierung des Innerweltlichen, der in dem hebräischen Denken selbst angelegt ist. Entmythologisierung – oder (post)modern gesprochen: Dekonstruktion – verweist vor dem Hintergrund der absoluten Differenz von Mensch und dem ganz Anderen auf die notwendige Relativität aller innerweltlicher Herrschaftsansprüche und Deutungsmuster. Es gibt für Menschen keinen Gott auf Erden, seien es die Sterne am Himmel, sei es der König auf dem Thron, sei es ein noch so golden glänzendes Kalb. 6.8 Gegenwärtigung wird materialisiert durch die Erinnerung an das Exodus-Geschehen, mit der Kriterien für das Be-Urteilen des je Gegenwärtigen diskutiert werden können. Im Zentrum der Erinnerung steht der Umstand, dass Israel »herausgeführt [wurde] aus dem Land Ägypten« (Num 15,41). Das ist zu erinnern, das ist als Vor-Urteil orientierungsgebend für das Bedenken des und Handeln im Alltäglichen. 6.9 Daran wird deutlich, dass die gegenwärtigende Erinnerung an den Exodus – didaktisch betrachtet – eine doppelte Intention verfolgt. So geht es um eine ethische Ausrichtung der Erinnerung in zweifacher Hinsicht: als Kritik und als Handlungsprinzip. Als Kritik verweist der Exodus sozialanalytisch auf die Entmythologisierung der innerweltlichen Machtansprüche. In letzter Konsequenz mündet dies in eine Haltung, die als innerweltlicher Atheismus 22 beschrieben werden kann. »Achtet aber darauf, dass euer Herz sich nicht verführen lässt und ihr nicht abfallt und anderen Göttern dient und sie anbetet« (Dtn 11,14). 6.10 Daneben aber führt die Erinnerung zugleich auch einen konstruktiven Appell zur Weltgestaltung innerhalb eines Strukturzusammenhangs von Erbarmen, Recht und Kult mit sich. Als solche ist der Exodus auch als regulative Idee für Gesellschaftsentwicklung etwas, was in den Umgang mit dem eigenen Lernen einfließen soll. Die kritisch-sozialanalytische

22 Vgl. R. Koerrenz, Pragmatischer Atheismus. Freiheit als Leitmotiv protestantischer Bildung, Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 65 (2013), 142–154.

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Seite und die konstruktive Seite des Exodus-Motivs sind materiale Konkretionen in der hebräischen Grundlegung von Bildung. 6.11 Der Blick auf das je Gegenwärtige als Bewährungsraum des eigenen Lernens hat somit – noch einmal anders formuliert – eine positivkonstruktive und eine negativ-dekonstruktive Seite. Beide Seiten bilden Impulse zur Deutung von Realität, die von einem Rahmen umgrenzter Uneindeutigkeit aus interpretiert werden soll. Die Welt ist uneindeutig, streitbar, bunt, nicht-feststellbar, paradox, von Konflikten und Aushandlungsprozessen durchzogen, so sehr wir uns auch nach Erlösung durch paradiesische Vereindeutigungen sehnen. Das aber ist gerade ein Merkmal des hebräischen Narrativs, dass wir postparadiesisch leben müssen, aber auch dürfen. Danach gibt es eben kein eindeutiges Ideal oder ideales Eindeutiges, dessen Führung wir gedankenlos folgen können und sollen. So wenig es Eindeutigkeit gibt, so wenig gibt es aber auch reine Beliebigkeit. Es gibt im umgrenzenden Schutz des Zaunes immer eine Bandbreite des Lebensmöglichen und die Erkenntnis, dass Andere oftmals seltsam anders sind als ich, als »wir«. Als Konsequenz des hebräischen Narrativs und damit auch im Zentrum des Bildungsverständnisses ist Vielfalt nicht nur möglich, sondern zwingende Realität. Damit müssen wir uns – nicht zuletzt – in der Steuerung unseres Lernens abfinden. 6.12 Das bedeutet auch: Die Erinnerung an den Exodus kann in ihrer konstruktiven Dimension nicht in positive Absolutheit umgesetzt werden. Daran, was positiv ein-deutig das Beste ist, bleiben lernend im Letzten immer Zweifel. Ansonsten würde die menschliche Erkenntnis sich an die Stelle Gottes setzen. Gegenwärtigende Erinnerung richtet den Entmythologisierungsanspruch immer auch gegen sich selbst, die eigene Lektüre von Wirklichkeit, den eigenen Umgang mit dem eigenen Lernen. 6.13 Dem hingegen muss die Erinnerung an den Exodus in negative Absolutheit umgesetzt werden. Kritik, die Unterscheidung dessen, was möglich ist, von dem, was unmöglich bleiben muss, ist geboten beschreibbar und somit auch ein Prinzip für die Vor-Urteilsstruktur im Bildungsprozess. Jenseits der Umzäunung dessen, was Menschen möglich sein soll, beginnt das Unmenschliche. Es geht in Bildung darum, sich nicht den Prinzipien der Entfremdung jenseits des Zaunes auszuliefern. Diese Konturen der Umzäunung können namhaft gemacht und in Kriterien für den Umgang mit dem eigenen Lernen transformiert werden. 6.14 Die Spannung zwischen dem uneindeutigen Positiv und dem eindeutigen Negativ begründet in der gegenwärtigenden Erinnerung ein Paradox des Weltbezugs.

Zeit und Sein

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6.15 Das Paradoxe als Denkform ist danach durch mindestens zwei kulturelle Muster im Umgang mit dem eigenen Lernen näher bestimmt: das Muster der Uneindeutigkeit und das Muster der unaufhebbaren Widersprüche. 6.16 Das erste Muster ist das Sich-Einlassen auf Welt unter dem Vorzeichen der Nicht-Eindeutigkeit, des Nicht-Absoluten. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass alles Scheinbare, alles vor Augen-Stehende und vor Augen-Kommende kritisch zu betrachten ist. Das Augen-Fällige ist potenziell immer der Vordergrund für etwas, was im Hintergrund Machthierarchien, Ausgrenzungen und Konflikte mit sich führt. 6.17 Das zweite Muster ist die Anerkenntnis, dass sich die faktischen Widersprüche im Sein innerweltlich nie auflösen lassen. Es gibt keine Erlösung von der Spannung im Heterogenen, von der Widersprüchlichkeit im Jetzt. Die menschliche Existenz ist geprägt durch die unaufhörliche Produktion von neuen widersprüchlichen Seinsstrukturen, von neuen Paradoxien. 23 Die Aufgabe besteht darin, sich selbst über Bildung in der Existenz, also der unaufhebbaren paradoxen Widersprüche, verstehen zu lernen. 6.18 Dennoch: Die Umzäunung hat Pflöcke, die den Zaun des Menschlichen aufrecht halten und uns die Grenzen zum Unmenschlichen vor Augen und Ohren führen. Die Umzäunung wird im hebräischen Denken getragen von einer Vorstellung von »Gerechtigkeit«, die sich im Zusammenspiel von Recht, Erbarmen und Gotteserkenntnis konkretisiert. Für den Umgang mit dem eigenen Lernen ist es im hebräischen Narrativ konstitutiv zu bedenken, dass und wie »alle drei Elemente des Gesetzes in strengen Wechselzusammenhängen stehen. Wer zuerst Gotteserkenntnis aufrichten will, um in deren Folge irgendwie Recht und Erbarmen zu erwirken, hat vom Gesetz Gottes ebensowenig etwas verstanden wie derjenige Mensch, der in abstrakter Weise Recht und Erbarmen üben will, um aufgrund eines guten Sozialzustandes irgendwie Gotteserkenntnis zu erlangen oder herbeizuführen.« 24 6.19 Damit bekommt das sozialanalytische Vor-Urteil der Dekonstruktion in dem sozialkritischen Vor-Urteil ein konstruktives, alltagsbezogenes Pendant, das für die lernende Auseinandersetzung mit Alltag konstitutiv ist. Unmittelbar, auch säkular nachzuvollziehen ist dabei vor allem die Funktion der Regeln zum sozialen Miteinander, in denen Rechtssicher-

23 24

J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München 21989. M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen 1992, 113.

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heit und eine vor allem über Erbarmen zu gewährleistende Elementarhumanität sich wechselseitig näher bestimmen. 25 Diese Regeln zeigen den Menschen die elementaren Bedingungen der Wahrung des Mensch-Seins trotz bzw. in aller Entfremdung auf und appellieren gleichzeitig daran, diese Regeln zum Maßstab der eigenen Praxis zu machen. 6.20 Wenn wir menschliches Erkennen und Kommunizieren, wie es beispielsweise Martin Buber in seinem Motiv des »Saums des ewigen Du« 26 zum Ausdruck gebracht hat, als etwas betrachten, in das ein Unverfügbares des Moments, des erfüllten Augenblicks, hineinspielt oder hineinspielen kann, dann geht es um die Bedeutung von Gottes Geist für die Alltagspraxis – der Individuen wie auch der Kollektive. Lerntheoretisch gewendet verweist dies in aller Reflexion der eigenen Vor-Urteile auf die Dimension der Unverfügbarkeit des Augenblicks. 27 6.21 Gottes Geist erhält in dieser Hinsicht – anthropologisch betrachtet – auch die Funktion einer Mahnung an Gottes Option für die Ausgegrenzten und Unterdrückten. Dieses Optieren verbindet die Sozialität der Schöpfung über die Geschichtlichkeit des Einzelnen mit der gesamten Schöpfung nach Genesis 1–3: »Der Geist gibt die schöpferische Macht Gottes zu erkennen, die die Vielfalt des Geschöpflichen in reiche, fruchtbare, lebenerhaltende, stärkende und schützende Beziehungen bringt. Der Geist Gottes offenbart die Kraft des Erbarmens Gottes, die Gott besonders den Schwachen, Vernachlässigten, Ausgegrenzten und Hinfälligen zuwendet.« 28 6.22 Die zuvor bedachten Motive sind Dimensionen der gegenwärtigenden Erinnerung, die neben der Vollendung der Schöpfung des Menschen in einer Kollektivindividualität die wesentliche Eigenheit von Bildung im hebräischen Denken markiert. Bildung ist nicht neutral, nie neutral – weder mit Blick auf das Individuum (das auf den kritischen Umgang mit sich selbst in seinem Lernen zurückgeworfen wird), noch mit Blick auf das Kollektiv (dessen Alltagsorganisation unter den Prüfzeichen des Exodus und insbesondere des Strukturzusammenhangs von Erbarmen, Recht und Kult steht). All dies ist eine Lesart des Lebens als Existenz: »Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele

25 R. Koerrenz, Armut und Armenfürsorge – hebräische Grundlagen, in: ders./B. Bunk (Hg.), Armut und Armenfürsorge. Protestantische Perspektiven, Paderborn 2014, 15–32. 26 M. Buber, Ich und Du, in: ders., Das dialogische Prinzip, Darmstadt 41984, 7–138, hier 10. 27 R. Koerrenz, Die Differenz – Perspektiven einer kommunikativ-advokatorischen Pneumatologie, JBTh 24, Neukirchen 2011, 369–397. 28 Welker, Gottes Geist, 16.

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und mit deiner ganzen Kraft« (Dtn 6,5). Die ganze Existenz mit Herz, Seele und Kraft sind unterschiedliche Dimensionen des Menschlichen, die in dem Umgang mit dem eigenen Lernen zusammenfließen. 6.23 Es geht in allem um gegenwärtigende Erinnerung und nicht um Vergegenwärtigung. »Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen in deinem Herzen bleiben« (Dtn 6,6). Es geht um Gegenwärtigung im Sinne existentieller Bedeutsamkeit, während in der Vergegenwärtigung immer eine Distanz zwischen dem Erinnerten und dem eigenen Urteilen, Denken und Handeln bleibt. Der Zusammenhang von Urteilen, Denken und Handeln ist gerade mit Blick auf den Umgang mit eigenem Lernen unauflösbar, »damit ihr an alle meine Gebote denkt und sie einhaltet und eurem Gott heilig seid« (Num 15,40). Eine rein oder »nur« theoretische Haltung bzw. ein entsprechendes Für-Wahrhalten als Herrschaft über die Zeit ist dem Menschen nicht möglich. Vergegenwärtigung symbolisiert Kontrolle und Verfügbarkeit des Erinnerten – genau dies aber ist nach dem hebräischen Narrativ nicht als theoretischer Besitz, sondern nur als tastende und zu bewährende Praxis möglich. Es geht um gegenwärtigende Erinnerung an den Exodus. Es geht um die Existentialisierung des Exodus. 6.24 Am Ende bleibt Eines als Zentrum der gegenwärtigenden Erinnerung »Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR« (Dtn 6,4). Anfang und Ende aller Bildung im hebräischen Denken ist die Erfahrung der absoluten Differenz einerseits und deren Verweltlichung in der Form, dass keine innerweltliche Instanz im Letzten eine absolute Unterwerfung und einen absoluten Gehorsam einfordern kann andererseits.

7.

Bildung – Fragmente eines schweigenden Gesprächs

7.1 Am Anfang eines Gesprächs mit anderen Vor-Stellungen von »Bildung« stehen für das hebräische Modell die Selbst-Wahrnehmung über Kollektivindividualität und die Konturen gegenwärtigender Erinnerung: »Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR« (Dtn 6,4). Anfang und Ende aller Bildung im hebräischen Denken ist die Erfahrung der absoluten Differenz einerseits und deren Verweltlichung in der Form, dass keine innerweltliche Instanz im Letzten eine absolute Unterwerfung und einen absoluten Gehorsam einfordern kann andererseits. 7.2 Setzen wir an den Anfang des Ausblicks ein typologisches Klischee: Bildung wird über Humboldt (und in stiller Abgrenzung zu Kant und Mendelssohn) gerne zurückgeführt auf das Ideal des Mensch-Seins, wie es in der griechischen Antike konturiert worden ist. Es ist sicherlich eine typologische Verkürzung, was nachfolgend als Kennzeichnung der grie-

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chischen παιδεία (paideia) 29 gelten soll. Doch der Tendenz nach scheinen folgende Konturen – trotz der sokratischen Skepsis – den Ausgangspunkt der Pädagogik im antiken Griechenland grob zu erfassen: das Ideal der harmonischen »gebildeten« Persönlichkeit, die durch Erziehung in die Lage versetzt wird, an der Sozialstruktur der antiken Stadtstaaten aktiv teilzunehmen. 7.3 Isokrates’ eher pragmatistisch anmutende Theorie und Praxis rhetorischer Sprachbeherrschung unterscheidet sich darin gerade nicht von der eher ethisch-utopistisch akzentuierten Bildungstheorie im Kontext der platonischen Ideenlehre. Selbst die innerweltliche Autoritätskritik bei den Sophisten bleibt letztlich dem positiven Ideal einer ganzheitlichen Ausformung des Menschen zum Schönen und Guten hin verpflichtet. 7.4 Im Hellenismus erhält das παιδεία-Konzept mit einem überwiegend literarisch-musisch bestimmten Bildungsideal seine über Jahrhunderte maßgebende Gestalt. Das Lernen des Menschen ist mit Blick auf den Weg und das Ziel durch Harmonie gekennzeichnet – einer Harmonie, die von der Autonomie des Subjekts ausgeht und auf diese hinzielt. Die Signatur für die Vorstellung des Menschen ist die καλοκἀγαθία (kalokagathía), die Verschmelzung des Schönen und Guten in einer sich selbst verantwortlichen Person. 7.5 In dieser Betonung der Autonomie des Subjekts als Grundlage, Weg und Ziel der Erziehung das spezifisch griechische Paradigma der Pädagogik zu sehen, ist sicher eine typologische Verkürzung bzw. Fokussierung. Andererseits ist dies gewiss eine dem Kern nach zutreffende Umschreibung. Auch wenn mit diesem Vollendungsideal des Menschlichen sowohl die Differenzen allein zwischen den unterschiedlichen Hauptströmungen (Platon, Aristoteles, Stoa, Epikur) überdeckt werden, stellt es doch eine verbindende Grundlage dafür da, Sinn und Zweck des Mensch-Seins zu bestimmen. 7.6 Auch wenn die Vollendung des Menschen in der und durch die παιδεία ein schwerer und anstrengender Weg ist (im Umgang mit der 29 Auch bei Moses Mendelssohn findet sich eine Referenz auf die griechische Antike, wenn er schreibt: »Die Griechen hatten beides, Kultur und Aufklärung. Sie waren eine gebildete Nation, so wie ihre Sprache eine gebildete Sprache ist.« (Mendelssohn, Aufklärung, 5; Kursivsetzung im Original). Dennoch eröffnet insbesondere die Verbindung mit dem weiten Verständnis von selbstverschuldeter Unmündigkeit in Kants Aufklärungsschrift ein ent-idealisiertes Verständnis von Bildung, nach der »kein Mensch über eine voll erkannte und jeder Kritik enthobene Wahrheit verfügt, mithin auch nicht eine in Wahrheit fundierte Mündigkeit anstreben kann.« (Benner, Bildung, 37). »Bildung« bleibt so immer ein offener, nicht abschließbarer Prozess, der nie in einem Idealzustand aufgehoben werden kann.

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Erkenntnis des Seienden außerhalb ebenso wie mit den Trieben und Bedürfnissen des Menschen innerhalb seiner selbst), so steht doch die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit einer nicht-entfremdeten Existenz auf der Erde als Möglichkeit außer Zweifel. παιδεία ist somit ein Synonym für die Vollendung des Menschen und in diesem Sinne seine »Erlösung« im Hier und Jetzt. Das παιδεία-Ideal hat die abendländische Diskussion um Bildung als Prozess und Produkt bis in die Gegenwart hinein geprägt. 7.7 In den vorliegenden Überlegungen 30 wurde zu zeigen versucht, dass in der europäischen Pädagogik jedoch auch noch eine andere Tradition wirkmächtig war und bis heute geblieben ist: das hebräische Paradigma der Bildung. Die Differenz besteht – neben anderen Punkten – in einem unterschiedlichen Verständnis der menschlichen Vernunft, aufbauend auf einer unterschiedlichen Anthropologie und mündend in eine unterschiedliche Antwort auf die Frage, ob dem Menschen eine nicht-entfremdete Existenz auf der Erde möglich ist. 7.8 Das hebräische Narrativ des Exodus, der Dialektik von Versklavung und immer wieder neu zu erkämpfender und gefährdeter Befreiung steht dem Ideal einer harmonischen Persönlichkeit grundlegend entgegen. Es gibt keine absolute Befreiung und Freiheit im Hier und Jetzt. Wege der Weisheit sind zweifelsohne begehbar, doch bleiben auch sie immer unter dem Vorzeichen der Erinnerung, dass Leben ein permanenter Exodus ist.

30 Die Sprach- und Darstellungsform der Gedanken zu Zeit und Sein sind ungewöhnlich. Warum habe ich sie gewählt? Weil ich – auch nach mehreren, anders geformten Versuchen – das Nach-Denken nicht anders zum Ausdruck bringen konnte. Die Sache wollte nicht auf einen Punkt kommen, sondern ordnete sich wie ein gerahmtes Labyrinth um Orientierungspunkte wie Freiheit und Verantwortung, Individualität und Kollektivität, Zeit und Geschichte, Positionalität und Perspektivität. Aber vielleicht hat die Form der Gedanken auch eine ganz andere Ursache, in dem Gegen-Stand selbst. Vielleicht sind die Leerräume, die Lücken zwischen den einzelnen Paragrafen mindestens ebenso wichtig wie das, was in den Sätzen selbst markiert wird. Die Leerräume verweisen auf das Unausgesprochene, das Unaussprechliche, das auf die absolute Differenz zwischen Schreiber, »der Sache« und den Lesenden verweist. Vielleicht ist deswegen die Schreibform der aufeinanderfolgenden Leerräume eine ästhetische Symbolisierung dessen, worum es in Bildung gerade nach dem hebräischen Narrativ (mit seiner Betonung der absoluten Differenz und der Unverfügbarkeit des Anderen) geht. Dann kommt die Zurückgeworfenheit der Lernenden, der Lesenden, Sprechenden und Hörenden, auf das eigene Denken ins Spiel. In letzter Konsequenz verweist die Form auf die Grunddynamik allen Seins in der Zeit: das Lernen und den bedachten Umgang mit diesem. Gerade die Leerräume verweisen auf die Freiheit im Lesen bzw. Hören und zugleich auf die Verantwortung für das, was vom Gelesenen oder Gehörten in die Steuerung des eigenen Lernens transformiert wird. Insofern ist die Sprachform dann nicht nur der Ausdrucksbeschränktheit des Verfassers geschuldet, sondern der Logik der Sache selbst: Bildung im hebräischen Sinne.

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7.9 Dieser Exodus aber realisiert sich in einer Analyse, Identifizierung und Benennung der Unterdrückungs- und Ausgrenzungsmechanismen einer jeweiligen Gegenwart, der Erinnerung an die Gabe elementarer sozialer Grundregeln im Bund Gottes mit dem Volk Israel und der Aussicht, dass es im Leben immer nur den Vorschein einer Versöhnung des Menschen mit sich selbst (und dies eingebunden in die Versöhnung von Gott, Menschheit und Individuum) geben kann. Die ideale, ungebrochene, nicht-entfremdete παιδεία-Persönlichkeit aber ist ein Fremdwort in der Erinnerung an die soziale Realität des Exodus. 7.10 Gemeinsam ist dem griechischen und dem hebräischen Paradigma die Frontstellung gegenüber dem Mythos, auch wenn beide Denkwege auf ihre Weise das Mythische integriert und verarbeitet haben. Gemeinsam ist, die vom Mythos eingeforderte vorvernünftige Unterwerfung unter eine Erzählung durch das Gesetz der Vernunft zu überwinden. Menschen können, dürfen und sollen Entscheidungen treffen, Verantwortung übernehmen. Die Frage ist jedoch, was als vernünftig anzusehen ist. Die Antwort auf diese Frage markiert dann die Differenz zwischen beiden Traditionen: Während das griechische Paradigma von dem Maßstab der Autonomie, des auf sich selbst verwiesenen Menschen, bestimmt ist, findet sich der Leitgedanke in der hebräischen Traditionslinie in dem Spannungsverhältnis von Kollektividentität und gegenwärtigender Erinnerung. 7.11 Aus Gründen der Vernunft die Relativität derselben einzusehen, dabei jedoch nicht skeptisch zu verharren, sondern sich mit hörendem Herzen einer höheren Vernunft einer bestimmten Auslegung der Geschichte unter- bzw. einzuordnen – dieser Prozess ist für die Art und Weise, wie im hebräischen Narrativ der Mensch auf seine Grundkonstitution als Lernender zurückverwiesen wird, markant. 7.12 Auch in der hebräischen Grundlegung von Bildung geht es um Aufklärung – dies jedoch unter anderen anthropologischen Voraus-Setzungen. Menschliche Existenz ist nicht ohne Konflikte und den Hang zu beschreiben, dass Menschen sich selbst in ihrer Erkenntnis oder praktischen Machtausübung absolut setzen wollen. Diese, eher auf Konfliktstrategien und Ideologiekritik zielende Aufklärungspädagogik der hebräischen Tradition zu skizzieren, ist die Grundlage dafür, die Bibel insgesamt als Buch der Bildung im Sinne eines Selbstdeutungsangebots des Individuums zu lesen. Denn wozu bräuchte man eine solche Erzählung, wenn sie lediglich ein – mehr oder weniger interessantes – Geschichtswerk von FestStellungen wäre? Wozu bräuchte man eine solche Erzählung, wenn sie mit Blick auf eine sogenannte individuelle Religiosität lediglich einen (individuell oder kulturell) bestätigenden, ideologisierenden, überhöhenden Charakter hätte? Die Erkenntnis des Selbst als eines fröhlich-gebrochenen

Zeit und Sein

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Fremden im Selbst- und Weltbezug und die Auseinandersetzung mit der mitzuverantwortenden Gestimmtheit des Selbst im Selbst- und Weltbezug sind eine tragfähig-spannende Grundlage für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Lernen – und die Grundlage für Bildung in einem realistischen Sinne. Abstract “Bildung” is a German language word that was used in the 18th century by Jewish philosopher Moses Mendelssohn to sum up the Enlightenment. The word “Bildung” neither exists in Greek nor in Roman antiquity nor in any other linguistic-cultural context. Therefore, it is important to determine what can be understood systematically by the term “Bildung”. Following Immanuel Kant and Moses Mendelssohn, it is shown that in the Hebrew way of thinking an anthropology is developed in which “Bildung” can be understood as the completion of the human creationality. In the backdrop there is the depiction of human alienation in Gen 4–11 as the negative foil. This is taken seriously in the Exodus Covenant, but at the same time transformed into ideas of successful coexistence. “Bildung” in the Hebrew sense is characterized on the one hand by the pattern of “collectiveindividuality” (“Kollektivindividualität”), on the other hand it is about the pattern of a “presenting recollection” (“gegenwärtigende Erinnerung”) of the oppression and liberation which are told in the Exodus events. Through these two patterns, the relationship of human beings to their own learning process gains a specifically ethical-cultural cause. Systematically considered, thus a realistic path of “Bildung” is developed in Hebrew thinking. Ralf Koerrenz, Prof. Dr. phil. Dr. theol. rer. soc. habil, Jg. 1963, ist Professor für Historische Pädagogik und Globale Bildung am Institut für Bildung und Kultur und seit 2013 Leiter des Kollegs Globale Bildung am Institut für Bildung und Kultur der Universität Jena.

Euler Renato Westphal

Der Mensch und seine Gefährdungen (Gen 4–11) 1.

Einleitung »One can describe Judaism and Christianity, religions that are historically and theologically rooted in history, as religions of remembrance«. 1

Der französische Historiker Jacques Le Goff betrachtet die Erinnerung, das Gedächtnis und das Gedenken, als den hermeneutischen Schlüssel, die Eigenheit der biblischen Religionen des Judentums und des Christentums näher zu charakterisieren. Bezogen auf den nachfolgenden Kontext wäre danach hervorzuheben, dass die hebräische Tradition von den Erzählungen der Erinnerungen an die Vergangenheit lebt. Das aber verweist auf die Herausforderung der Vermittlung von Erinnerung: einerseits des Inhalts der Erinnerung, andererseits die Form des Erinnerns als ein Prozess, den das Volk Israel und in ihm alle Individuen zu verinnerlichen haben. Damit aber geht es um die Organisation von Lehren und Lernen, damit die Erinnerungen an Gottes Handeln über die Generationen hinweg als tragender Grund des Kollektivgedächtnisses erhalten bleiben. Theologie, Erinnerung und Kultur gehören als Elemente des Lehrens und Lernens zusammen. Darin fließt das Erleben von Freude, aber auch von Trauer, Tragödie und Hoffnung in eins. Lernen geschieht, indem die Erinnerungen an diese Erfahrungen in einem relationalen Prozess erzählt werden. Dieses Erzählen bildet die Grundlage dafür, dass Menschen in diesem Erzählhorizont den Gegenstand des Erzählten verinnerlichen und auf sich beziehen. Mit dieser Seite der Aneignung gelangen wir in einen Bereich des Zu-Sich-Selbst-Verhaltens, den wir als Bildung bezeichnen können. Ein spezieller Baustein der Erinnerung, und damit auch Thema sowohl der Vermittlung als auch der Aneignung, sind die Motive der menschlichen Verführbarkeit und Fehlbarkeit, wie sie in Genesis 4–11 symbolisch skizziert werden. Gerade mit diesen Motiven ist der Mensch herausgefordert, in der Welt als Schöpfung mit Würde zu leben. Würde verweist dabei zurück auf die ersten drei Kapitel der Genesis, in denen der Mensch über das Motiv der Ebenbildlichkeit einen besonderen Status innerhalb der 1

J. Le Goff, História e memória. Trad. I. Ferreira, B. Leitão, S. Ferreira Borges, Campinas 438.

52003,

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Schöpfung verliehen bekommen hat. Wenn wir von der Vermittlung und Aneignung der Erinnerung als Grundlage von Bildung ausgehen, dann ist vorweg systematisch-theologisch zu betonen, dass der sogenannte Sündenfall dem Menschen die Würde nicht gänzlich genommen hat. In all seinen Gefährdungen bleibt er Ebenbild Gottes und ist so herausgefordert, sich in der Schöpfung als würdig zu erweisen. Dabei gibt es mehrdimensionale Gefährdungen hin zu einer potentiellen Entmenschlichung, wenn man bedenkt, dass im Brudermord und in der Umweltbedrohung der Mensch Täter und Opfer zugleich ist. Blickt man auf ethische Probleme der Gegenwart – gerade auch aktuell von einem brasilianischen Standpunkt aus –, dann könnte man zu einer Aussage wie der gelangen, dass heute wie in den biblischen Texten die Zeichen des Todes die Gesellschaft und die Natur durchdringen. Man beobachtet eine deutliche Abnahme menschlicher Sensibilität für die Bedürfnisse des Nächsten, des Bruders wie der Schwester. 2 Und es stellt sich die Frage: Könnte die Erinnerung an die biblischen Motive der sogenannten Urgeschichte, könnte der von dieser Erinnerung angestoßene Bildungsprozess als Schutzvorkehrung fungieren, damit die Menschenwürde vor den Gefährdungen zunächst einmal neu bewusst wird, dann vielleicht sogar ein wenig mehr bewahrt bleibt? In diesem Artikel werden Wege und Interpretationsmöglichkeiten dieser Erinnerung systematischtheologisch und ethisch diskutiert. Ausgehend von den biblisch-theologischen Beobachtungen möchte ich versuchen, sie auf Themen für eine aktuelle Erinnerung als Bildung anzuwenden. Es kann nicht alles thematisiert werden; der Schwerpunkt dieses Aufsatzes liegt bei einigen aktuellen sozialen, anthropologischen und theologischen Aspekten, die sich aus der Interpretation der Texte Gen 4–11 ergeben.

2.

Wissen als Gefährdung und Gabe

In der Darstellung des Sündenfalls des Menschen liegt der Schwerpunkt auf der Frage: »Wo bist du?« (Gen 3,9). Darin bezeichnet ist das Drama der Bestimmung des Menschen, Gut und Böse zu erkennen, den Baum des Lebens zu erkennen und so wie Gott zu werden. Die Tragödie des Menschen kommt in dem Anspruch zum Ausdruck, wie Gott sein zu wollen. In der narrativen Linie des Erzähltextes folgt auf die Schuld, das Schicksal und die persönliche Verantwortung des Menschen in seinem Bestreben, Gott gleich zu sein, eine zugespitzte Symbolisierung der menschlichen Tragödie in ihrer horizontalen Beziehung: Der Bruch in der vertikalen Beziehung zwischen Gott und Mensch führt zur Gefährdung

2

Z. Bauman, Liquid Love: On the Frailty of Human Bonds, Cambridge 2003.

Der Mensch und seine Gefährdungen (Gen 4–11)

37

in der horizontalen Beziehung, also in der Beziehung zwischen Kain und seinem Bruder Abel. Die Darstellung der Schöpfung und des Sündenfalls wird in der Urgeschichte (Gen 1–11) zwar auf eine Geschichte der Zukunft und Zusage, auf eine Heilsgeschichte (Gen 12) führen. Zunächst einmal dominieren in dieser Erzählung jedoch die unmittelbaren Folgen des Sündenfalls. Diese Erzählungen stehen unter einem dialektisch zu wendenden Vorzeichen. Auch wenn der Mensch in seiner privilegierten Stellung das Vertrauens- und Liebesverhältnis, das Gott zu ihm begründet hat, zerstört hat: Gott gibt seine Schöpfung nicht auf. Der Mensch bleibt immer noch im Zeichen der anhaltenden Gnade Gottes für seine Schöpfung, das heißt, das Leben ist durch die Gnade Gottes getragen. Dietrich Bonhoeffer drückt dies auf markante Art und Weise aus, indem er sagt: [. . . ] wir selbst die Betroffenen, die Gemeinten, die Angeredeten, die Angeklagten, die Verurteilten, die Ausgestossenen, Gott selbst – der Segnende und Verfluchende; unsere Urgeschichte, wirklich unsere eigene, jedes einzelnen Anfang, Schicksal, Schuld, Ende [. . . ]. 3

Obwohl Adam und Eva unter den Bedingungen von Leiden, Tod, Bestechlichkeit und menschlicher Bosheit stehen, befinden sie sich immer noch unter der Obhut Gottes. Gott bekleidet Eva (Gen 3,21) und macht sie zur Mutter aller Völker. Gut und Böse erkennen zu können (ya¯ dha’), wird jedoch zu ihrem Fluch (Gen 3,22), weil sie sich etwas aneignet, das nur Gott gehört. Obwohl Gottes Gerichtsspruch unverkennbar ist, tragen Adam und Eva immer noch den (Be-)Zeugungswillen in sich, um Gottes Lebenswillen für die Menschheit zu konkretisieren. Durch dieses Motiv wird symbolisiert, dass die Menschheit Kontinuität hat und nicht verschwinden wird. Dieses Vorzeichen ist – systematisch betrachtet – die Grundierung der nachfolgenden Motive von Genesis 4–11. Dazu muss Adam Eva (ya¯ dha’) »erkennen«. Das Verb, ya¯ dha’, beschreibt »Wissen« als das Werk und Mittel der Sündenfalltragödie im Paradies (Gen 3,22); es ist zugleich auch das Verb, das die Nachkommenschaft der Menschheit symbolisiert, denn Adam »erkennt« Eva. Wissen ist mehr als Gut und Böse zu erkennen: Wissen gründet sich auf die Beziehung zwischen Mann und Frau, zwischen Menschen, die im Vertrauen, gegenseitigem Engagement, Verantwortung, Zuneigung und Respekt leben. Dies kann so interpretiert werden, dass ya¯ dha’ eine Zuschreibung Gottes ist, die sich die Menschen angeeignet haben. Es war die Initiative Gottes, die Beziehung mit den Menschen aufzubauen, Leben hervorzurufen und es zu erhalten. Menschen leben in diesem Vertrauensverhältnis,

3

D. Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, München 32007, 77.

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Euler Renato Westphal

das die Kontinuität des Lebens durch den Geschlechtsverkehr garantiert. Damit wird ein bestimmtes Verständnis von Wissen und Wahrheit aufgerufen, das sich von unseren, aus dem griechischen Denken gespeisten Alltagsbegriffen unterscheidet. Der griechische Wissensbegriff (Gnosis) ist vor allem (zweck)rational zu verstehen. Das daraus abgeleitete Konzept des modernen Wissens ist analytisch, mathematisch, intellektuell. Das hebräische Verständnis von Wissen unterscheidet sich von diesem Verständnis, das von der Aufklärung verstärkt wurde und sich beispielsweise in einer Formulierung von Moses Mendelssohn findet: Auf vernünftige Erkenntnis (objekt.) und Fertigkeit (subj.) zum vernünftigen Nachdenken über Dinge des menschlichen Lebens nach Massgebung ihrer Wichtigkeit und ihres Einflusses in die Bestimmung des Menschen. 4

Das hebräische Wort ya¯ dha’ bedeutet auch Wissen, aber es ist mehr als nur intellektuelle Erkenntnis. Ya¯ dha’ ist der Aufbau von Beziehungen, wie z.B. der Beziehung zwischen Gott und den Menschen sowie der gelebten Vertrauensbeziehung zwischen den Menschen selbst. Der eine erkennt den anderen in der Koexistenz (an), in der Erfahrung des Lebens, im Austausch von Weisheit und Erfahrungen; somit gestalten Menschen ihre Existenz gemeinsam. Dies schließt die sexuelle Beziehung als Zeugungskraft zwischen Adam und Eva und den aus dieser Beziehung entstandenen Kindern mit ein. Im Paradies ist Geschlechtsverkehr eine gegebene Schöpfungsordnung, Sexualität wird dort nicht als Sünde verstanden, im Gegenteil, es ist eine Bedingung und Möglichkeit, dass zukünftige Generationen, trotz der tragischen Realität der Sünde und der Vorzeichen menschlicher Endlichkeit 5, weiter existieren. Diese Realität der Sünde wird in den nachfolgenden Kapiteln in verschiedenen, symbolischen Erzählungen mehrperspektivisch entfaltet. 3.

Der Mensch und seine Gefährdungen

Aus dem »Erkenntnisprozess« zwischen Adam und Eva werden zwei Jungen geboren: der erstgeborene Kain und der jüngere Abel. Kain wird Bauer und Abel Hirte (Gen 4,2–3), Kain kultiviert das Land und Abel züchtet Tiere. Es gibt Sorgfalt, das heißt Kultur 6 in den Berufen, die 4 M. Mendelssohn, Über die Frage: Was heißt aufklären? (1784), in: E. Bahr (Hg.), Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, Stuttgart 2004, 3–8, hier: 4. 5 W. Brueggemann, Old Testament Theology: An Introduction, Nashville 2008; ders., Teologia do Antigo Testamento: testemunho, disputa e defesa. Übersetz. J. L. Hack, Santo André, São Paulo 2014. 6 Kultur (Cultura) hat in den romanischen /lateinischen Sprachen die Bedeutung von Hegen, Bewahren, Sorgfalt. In diesem Sinne soll es auch hier verwendet werden (cultus, colere).

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jeder ausübt. Landwirtschaft und Viehzucht sichern das Überleben. Der Ertrag aus beidem wird zugleich als Anbetung Gottes angesehen. Beide, Kain und Abel, geben jeweils einen Teil des Ertrages der Landwirtschaft und der Viehzucht als Opfergabe, um Gott zu ehren. Aus einem Grund, der im Text nicht genauer erwähnt wird, ist Gott mit Abels Opfergaben zufrieden, aber nicht mit den Opfergaben Kains (Gen 4,4–5). Eine Erklärung für diese unterschiedliche Beurteilung der Opfer an Gott findet sich in Exodus 33,19: »Ich erweise Gnade, wem ich gnädig bin, und erzeige Barmherzigkeit, wessen ich mich erbarme.« Was im Text der Genesis ins Zentrum rückt, sind nicht die Qualität der Opfergaben oder die Würde der Berufe, sondern die Reaktion Kains auf das Urteil Gottes über die Anbetung durch den Erstgeborenen. Der Hass ergreift Kain mit solcher Wucht, dass er die Kontrolle über seine Gedanken und Taten verliert. Sein Gesicht (Paniim) ist vor Hass und Neid entstellt und vollkommen niedergeschlagen (Panal) (Gen 4,6). Die Erzählkurve steigt an bis zur Klimax, in der sie das Drama der unkontrollierbaren Wut im Herzen Kains ungeheuer bildhaft wiedergibt. Wenn Neid und Hass nicht unter Kontrolle gebracht werden können, sondern freigesetzt werden, werden Wut und Hass zu Instinkten eines Raubtiers, das alles verschlingen will, was sich vor ihm bewegt. Das Füttern der abgründigen Gedanken und das Drängen des Herzens verschlingen nicht nur andere, sondern auch die Person Kains selbst: Er wird Opfer seiner eigenen zerstörerischen Kräfte, die er nicht in den Griff bekommen hat. So wird die Sünde mit einem unkontrollierbaren und zerstörerischen Tier verglichen. Kain füttert seine Gefühle, als würde er ein Raubtier füttern, das direkt vor den Toren seines Herzens wohnt. Im Laufe der Zeit wird es frei und ohne moralische Einschränkungen herangezüchtet. So wird diese von Gott geschaffene Person zum Raubtier seines Bruders. Hass gegen Gott markiert den Beginn der Todesgeschichte: »Warum mordet Kain? Aus Hass gegen Gott. Die Geschichte des Todes stehet unter dem Zeichen Kains.« 7 Abel jedoch nimmt das Böse in den Absichten seines Bruders nicht wahr. In Gen 4,8 lädt Kain Abel scheinbar freundlich ein, mit ihm gemeinsam auf das Feld zu gehen. Abel ahnt aber nicht, dass sein Schicksal damit besiegelt ist, denn Kain plant den Tod Abels und täuscht freundliches und heiteres Benehmen vor, als er sich Abel nähert: eine Falle, eine täuschende Spielerei, um seinen Bruder anzulocken. Es zieht ihn von dem Ort der Anbetung, an dem Abel sich wohl und sicher fühlt, an einen Ort, der keine Zeugen hat. Kain will bei seinem Brudermord keine Spuren und keinen Anlass für Verdacht hinterlassen. Die Erzählung gewinnt an Dichte in dem, was auf böses und schreckliches Handeln hindeutet; sie enthält

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Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, 135.

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ein Crescendo, das auf einen tragischen Ausgang verweist. Abel tritt naiv in die Falle, weil er denkt, dass sein Bruder es gut meint. Tatsächlich jedoch liegt das Verlangen nach dem Bösen im Herzen des Menschen tief begründet. Kain füttert weiter das Raubtier, das in seinem Herzen wohnt, bis er keine Kontrolle mehr über seine Gedanken und Gefühle hat. Ohne dass Abel etwas ahnt, erhebt sich Kain gegen seinen Bruder und tötet ihn. Der Verfasser des Textes beschreibt es als eine absichtliche und bewusste Handlung, die lange geplant wurde. 8 Der Bericht darüber ist kurz und prägnant: Der Tod geschieht auf einen Schlag. Es gibt keinen körperlichen Kampf, keine Möglichkeit, dass Abel sich verteidigen kann. Er wird von einer unerwarteten Aktion überrascht: Es herrscht scheinbare Harmonie, und plötzlich geschieht das Unvorhersehbare – die mörderische Tat des Bruders. Damit wird über die grauenvolle Handlung des ersten begangenen Verbrechens, das noch dazu – umso schrecklicher – zwischen Brüdern passiert, berichtet. Wie in der Erzählung des Sündenfalls begegnet Gott dem Menschen mit einer Frage und sucht ihn. Die Frage ist jedoch nicht »Wo bist du?« (Gen 3,9), wie in der Erzählung des Sündenfalls, sondern »Wo ist dein Bruder?« (Gen 4,9). Die theologische Frage, die Frage Gottes, hat demnach also Kontinuität in der Frage der Beziehung zum Bruder. Kain will das perfekte Verbrechen begehen, indem er die Leiche des Bruders versteckt. Gott fragt: »Wo ist dein Bruder?« Der Körper ist versteckt, aber das Blut Abels, das auf die Erde gegossen wurde, schreit (tsa’aq) zu der Gegenwart Gottes. In gleicher Weise schreit die Sünde Sodoms und Gomorras zum Himmel (Gen 18,20). Das Blut des Ermordeten und die Sünde der Menschen schreien zu Gott. Der Text wird laut. Im Schrei wird darauf verwiesen: Blut und Leben gehören zueinander. Beides ist im Alten Testament miteinander verbunden, denn im Blut ist das Leben. 9 Mit einem Mord beraubt der Mensch das Recht eines anderen auf Leben und Eigentum, er reißt somit die von Gott garantierten Rechte an sich. Abels Blut beschuldigt seinen Bruder des Verbrechens vor dem Thron Gottes. Die Erde hat das Blut des Bruders in sich aufgesogen: Die Erde, die Gott geschaffen hat, um den Samen des Lebens aufzunehmen, ist mit dem Samen des Todes getränkt, dem Blut des ermordeten Bruders (Gen 4,10). Der Raum außerhalb des Paradieses, der ein Ort der brüderlichen Gemeinschaft sein sollte, wird zum Schauplatz des ersten Brudermordes. Gott ruft Kain ins Gewissen und fragt: »Wo ist dein Bruder?« Kains Antwort ist knapp und gleichgültig: »War ich der Hüter meines Bruders?« »Er sprach: Ich weiß nicht. Soll ich meines Bruders Hüter sein?« Kain belügt also Gott, indem er behauptet, dass er nichts wisse. So wie er falsch

8 9

C. Westermann, Genesis, Berlin 31983, 411. H.W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, Berlin 1980, 64ff.

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gehandelt hat, als er Abel einlud, sagt er nun, er habe keine Ahnung, was mit seinem Bruder passiert sei. Und schlimmer noch, er behauptet, er trage keine Verantwortung gegenüber seinem Bruder. Er kann nicht der Wächter seines Bruders sein. Die Antwort ist geprägt von Neid, Hass und Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal Abels. Gegenseitige Fürsorge als menschliche Haltung scheint bei Kain keinen Platz zu haben. Die Gleichgültigkeit gegenüber dem tragischen Geschehen lässt das Ereignis noch brutaler erscheinen. Vielleicht besteht darin der unmenschliche Aspekt des Bösen: kein Bedauern, keine Reue ist vorhanden. Die Lüge und die Gleichgültigkeit prägen das Leben Kains. Ab Gen 3 kommt es zu einer allmählichen Eskalation der Ereignisse. Das Land, das die Grundlage für die Erhaltung des Lebens war, wird mit dem Blut des Lebens der ersten Generation getränkt, der Söhne Adams und Evas. Dieser Vorgang könnte mit Gerhard von Rad so zusammengefasst werden: Furchtbarer als die Strafworte in Kap. 3 ist Gottes Richterspruch über den Brudermörder: Etwas nie wieder gut zu machendes, etwas, das der antike Mensch viel unheimlicher empfand, war geschehen: die Erde, die mütterliche Lebensgrundlage des Menschen, hatte Bruderblut getrunken. 10

Die Bedeutung des Namens Kain ist Lobruf, Lobname, Jubelruf. Die Geburt des Erstgeborenen bringt Freude und Hoffnung. Er ist derjenige, der eine vielversprechende Geschichte über das Glück in der Kontinuität der Menschheit schreiben könnte. Trotz des Sturzes in die Tiefe der Schuld hat Gott die Zeugungsfähigkeit der Menschheit nicht genommen. 11 Derselbe Mensch, der sich dennoch immer noch unter dem Horizont der Gnade für die Fortdauer der Menschheit befindet, ist paradoxerweise zu einem Instrument seiner möglichen Zerstörung geworden. Wenn wir die Konstellation dieser Erzählung näher betrachten, haben wir auf den ersten Blick gar keine Geschichte von Kain und Abel, sondern vor allem eine Geschichte von Kain vor Augen. Kain ist der Akteur, der Aktive. Abel ist nicht der Hauptdarsteller. Im Gegenteil, er ist in der Erzählung auf den ersten Blick passiv. Seine Rolle besteht darin, Gott anzubeten, und erst als er tot ist, schreit sein Blut vor dem Thron Gottes. 12 Abel ist Opfer des Neides seines Bruders, der sich in tödlichen Hass verwandelt. Neid ist der Ursprung des Mordes. Kains Antwort ist ein höhnischer Witz, der mit der Lüge zusammenhängt: »Ich weiß nicht, wo er sein soll.« Auch darin ist Kain der Aktive, dass er versucht, die Leiche zu verbergen. Dann aber ändern sich die Positionen von aktiv und passiv. Obwohl es keine Hinweise auf den Tod seines Bruders gibt, 10 G. von Rad, Das erste Buch Mose – Genesis, Göttingen 1981, 77. 11 Westermann, Genesis, 394. 12 H. Frey, Das Buch der Anfänge. Kapitel 1–11 des ersten Buches Mose, Stuttgart 81977, 74–75.

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kann der Brudermord an Abel nicht vertuscht werden, weil die Stimme des Blutes zum Himmel schreit (Gen 4,10). 13 Die Passivität Abels schlägt um in eine handlungsleitende Aktivität durch das Schreien seines Blutes. Das Opfer beschuldigt also aktiv seinen Mörder. Trotz der Planung und Irreführungen gibt es kein perfektes Verbrechen. In 2 Kön 21 gibt es einen – quasi »legalen« – Justizmord, als Nabot vom Königshaus getötet wird. Es wird auch erzählt, wie David Uria umbringt (2 Sam 11 und 12), ohne jedoch einen Tropfen Blut zu vergießen – David verursacht versehentlich den Tod von Uria. Gott verurteilt die Mordpraktiken, indem er den Propheten Nathan schickt, um David anzuprangern. Gott sendet Elia, um Ahab und Isebel zu tadeln. Abels Blut schreit jedoch ohne Vermittlung eines Fürsprechers aktiv nach Gott. 14 Mutter Erde, die für den Erhalt des Lebens der Menschheit verantwortlich ist, nimmt das Blut Abels auf, das durch Kains Hände vergossen wurde. Es ist das vergossene Blut in der Erde, das die Sünde des Bruders bezeugt. Auf diese Weise ist es nicht länger möglich, das Verbrechen zu leugnen oder die Leiche zu verbergen (Gen 4,11–12). Die Konsequenz ist dramatisch und nachhaltig: So wie in Gen 3,14–15 die Schlange verflucht wird, steht jetzt Kain unter dem Fluch Gottes. Der Bauer, der das Land kultiviert hat, muss das Land aufgeben, das ihm so kostbar war. Von dem Ertrag der Ernte konnte er dem Herrn Opfer bringen (Gen 4,3). In Gen 3 ist nur die Schlange verflucht, Adam und Eva jedoch nicht. Jetzt allerdings wird der Mensch zum ersten Mal verflucht. Gott eliminiert das Leben des Mörders nicht, er lässt ihn leben, wenn auch im Zeichen des Fluches. Wegen des Fluches, der durch den Brudermord auf ihr liegt, wird Mutter Erde von sich aus, quasi selbstverständlich, keine Früchte mehr geben. Sie verweigert Kain von sich aus den Lebensunterhalt, denn die Erde ist vom Blut seines Bruders befleckt. Kain ist der Verfluchte Gottes und der Verfluchte der Erde. Er wird von Gott und der Erde ausgestoßen. Dem Verfluchten bleiben nur noch die Flucht und das rastlose Wandern harter körperlicher Arbeit. Er wird ein Wanderer sein. Die Konsequenz ist erstaunlich, systematisch-theologisch jedoch weitreichend: »Unter den Menschen, die entfernt von Gott und in ihrer Begrenztheit durch Sterblichkeit und Fehlbarkeit leben, gibt es die ausserordentliche Möglichkeit eines Lebens unter dem Fluch«. 15 Der Fluch wird zum prägnanten Merkmal im Verständnis menschlicher Existenz auf der Erde. In den Versen 13–14 sehen wir einen Schrei der Verzweiflung und des Schreckens, denn der Mörder ist angesichts der Schwere seiner Tat und ihrer Folgen zur Einsicht seiner Schuld gekommen. Er sagt: »Siehe, du hast mich heute von der Fläche des Ackerbodens 13 14 15

Westermann, Genesis, 412. Ebd., 414–416. Ebd., 417.

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vertrieben« (Gen 4,14). Dieser Aufschrei des Verdammten und Verzweifelten über sein Schicksal drückt die Klage gegen Gott, gegen sich selbst und gegen den Feind aus (Gott-Klage, Ich-Klage, Feind-Klage). 16 Der Fluch bedeutete Exil, Verbannung aus dem Lebensraum. Die Bedingungen für das Leben durch das Land mit seiner Nahrung sind genommen. Kain weiß, dass er von der Gemeinschaft ausgeschlossen ist. Verflucht zu werden ist dasselbe, wie das Todesurteil zu bekommen (Hiob 3,1–3): Der Verdammte ist tot im Leben. Er lebt rastlos, äußerst verzweifelt und ruhelos auf der Erde. Auf diese Weise ist klar, dass er von einem Ort zum anderen wandert und nicht weiß, ob er etwas zu essen haben wird, wo er leben und schlafen soll. »Kain übersieht sofort: ein Leben fern von Gott ist ein Leben, das Gott nicht mehr schützt. Hat einmal Gott seine Hand von ihm abgezogen, so werden alle über ihn herfallen.« 17 Kain weiß, dass er ein Opfer der Gewalt werden kann, denn jetzt sind die Mechanismen des sozialen Schutzes für sein Leben weggenommen. Es gibt keine Grenzen mehr. In seinem Fluch setzt Gott jedoch Schutzmaßnahmen ein, um Kains körperliche Unversehrtheit sicherzustellen. Es ist nicht das Urteil, das ausschlaggebend ist, sondern der Schutz Gottes wird Kains weiteres Leben ermöglichen: Gott stellt ihn unter seinen Schutz; Kain wird das Zeichen Gottes an seinem Körper tragen als Warnung vor Rache – wer auch immer er ist, der das Recht beanspruchen würde, gegen ihn rachsüchtig zu handeln. Dieses Zeichen Gottes ist das Zeichen des Schutzes über das Leben angesichts unwiderruflicher und irreparabler Schuld. Inmitten des Fluchs gehört Kain Gott und nicht den Rächern. Gott selbst beschützt und pflegt den Mörder. Die Barmherzigkeit Gottes umarmt den Verbrecher. Im Land der Ruhelosigkeit (Gen 4,12) wird Kain von Gott beschützt. Kains Geschichte zeigt, wie der Ungehorsam gegenüber der ursprünglichen Schöpfung tragische Auswirkungen hat. Der gefallene Mensch, der weit vom Paradies entfernt ist, zeigt, dass die Sünde ein unermessliches Ausmaß an Bosheit angenommen hat. Eine ungelöste Schuld bringt Reue und Schande vor den Opfern. Die Reue jagt den Täter überall und jederzeit. Und es ist zwecklos, sich der Illusion hinzugeben, man könne von dem Einstehen für die Schuld erfolgreich davonlaufen. So ist es »nicht gut, wenn Kain bis ans Ende der Welt davonläuft und tausend Meilen unter der Erde verschanzt, denn er steht unaufhaltsam der eindringlichen Erinnerung an seine Schuld gegenüber.« 18 Der Mensch ist böse, und das ist seine Schuld, seine Tragödie, sein Schicksal und seine Verantwortung. Kain sündigt nicht weit von der Gemeinschaft mit Gott entfernt,

16 17 18

Ebd., 421. von Rad, Das erste Buch Mose, 78. V. Jankélévitch, O paradoxo da moral, Übers. E. Brandão, São Paulo 2008, 9.

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im Gegenteil, das Böse nimmt Gestalt an in der Gegenwart Gottes, im Gottesdienst, im Opfer und vor dem Angesicht Gottes (Gen 4,4–5). Neid liegt in der Natur des Menschen, aber Hass und Neid auf religiöse Rechtfertigung erhalten eine unkontrollierbare Dynamik. 19 Diese Darstellung des ersten Mordes in der Geschichte der Menschheit ist mit der Erzählung über den Fall verbunden (Gen 2–3). Der Mensch ist eine Kreatur Gottes, die mit der Sünde lebt, von Sünde gezeichnet und von Sterblichkeit geprägt ist. Unter dieser Realität des – von Martin Luther so skizzierten – »unfreien« Willens leben die Menschen, um sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten Kultur zu schaffen, sich ihr Leben zu gestalten. Die Menschen prägen ihren Lebensraum durch Berufe, künstlerische Fähigkeiten (Gen 4,21), Instrumente (4,22), der Kultivierung der Erde und der Aufzucht von Tieren für den Unterhalt. Die Fähigkeit zur biologischen Fortpflanzung des Menschen und aller Wesen der Schöpfung gewährleistet die Kontinuität der Arten (Gen 4,2). 20 Es gibt in dieser Erzählung nicht nur eine Beziehung zur Vergangenheit, sondern sie bezieht sich direkt auf die Bildung und Geschichte der Völker in der Zukunft sowie auf die Heilsgeschichte, die mit Abraham beginnen wird (Gen 12).

4.

Brudermord als Symbol für die Gefährdung von Sozialität

Die Geschichte von Kain und Abel kann als eine zwischenmenschliche Tragödie zwischen zwei Brüdern im Angesicht Gottes gelesen werden. Dies ist naheliegend, reduziert jedoch die systematische Aussageweite, die mit dieser Erzählung verbunden ist. Gerade aus einer Perspektive des Globalen Südens liegt es nahe, diese Geschichte auch sozial zu interpretieren, als ein Symbol für die Markierung der permanenten Gefährdung sozialer Verhältnisse. Eine solch symbolische Interpretation von Kain und Abel auf soziale Verhältnisse hin schließt ein symbolisches und damit weitergehendes Verständnis von Mord und damit einhergehender Auslöschung von Leben ein. Ein erster Schritt in Richtung Sozialität kann gegangen werden, wenn wir die Frage des Brudermords erinnert mit Jak 5,4–6 in Verbindung bringen: Siehe, der von euch vorenthaltene Lohn der Arbeiter, die eure Felder geschnitten haben, schreit, und das Geschrei der Schnitter ist vor die Ohren des Herrn Zebaoth gekommen. Ihr habt auf der Erde in Üppigkeit gelebt und geschwelgt; ihr habt eure Herzen gemästet an einem Schlachttag. Ihr habt verurteilt, ihr habt getötet den Gerechten; er widersteht euch nicht. 21

19 20 21

von Rad, Das erste Buch Mose, 79–80. O. Bayer, Freiheit als Antwort, Tübingen 1995, 60–75. Übersetzung nach Die Heilige Schrift. Revidierte Elberfelder Bibel, Wuppertal 1986.

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So wie Abels Blut den Mord an »Herr Zebaoth« anprangert, ist auch das von den Mächtigen einbehaltene Arbeitergehalt eine Form der Mordanzeige. So wie das Leben im Blut ist, garantiert das Arbeitergehalt das Leben der Arbeiter und ihrer Familien. Die Reichen nehmen die Löhne der Armen, unterdrücken die sozial Schwachen und töten für Geld. Die Gerechten werden durch den Kauf und Verkauf von Urteilen ermordet, weil Richter sich bestechen lassen. Es ist ein sozial erweitertes Verständnis von Brudermord, das in einer solchen Interpretation angedeutet wird. Weitere Verbindungen lassen sich zu der Botschaft der biblischen Propheten ziehen. Amos 2,6 prangert an, dass die Richter die Gerechten für Geld verkaufen und die Bedürftigen für ein Paar Sandalen verurteilen. Die Großgrundbesitzer nehmen den Armen die Produktionsmittel weg und vergrößern ihren Reichtum und ihr Land (Mal 3,5–6). Im Allgemeinen hat die christliche Tradition der sozialen Frage des Brudermordes wenig Bedeutung beigemessen. 22 Anders argumentiert jedoch die Befreiungstheologie südamerikanischer Prägung, die die soziale Dimension der Sünde und die daraus resultierende Notwendigkeit, Ungerechtigkeit und Unterdrückung anzuprangern und zu überwinden, auf die Tagesordnung der Bibelauslegung gesetzt hat. In Lateinamerika, insbesondere in Brasilien, sind Ungerechtigkeiten in den unterschiedlichsten Formen und zugleich ganz konkret die Ermordung von Armen, Indigenen und ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen zur Routine geworden. 23 Die Morde sind größtenteils das Ergebnis von Neid, Machthunger, Geldgier und dem übermäßigen Reichtum einiger und der absoluten Armut vieler. 24 Von diesen konkreten Kontexten aus erscheint es auch möglich, globale Strukturen der Weltwirtschaft mit einer symbolischen Interpretation des Brudermordes in Beziehung zu setzen. Die Konzentration des Reichtums der Weltwirtschaft in den Händen von ungefähr 70 Menschen kann diesem Verständnis nach ebenfalls als eine Form des Mordes angesehen werden. 25 Die strukturellen Hintergründe weisen dabei Parallelen zu anthropologischen Motiven in der Geschichte von Kain und Abel auf. Die internationale Wirtschaftsagenda braucht den übertriebenen Konsum, der durch Neid und Unzufriedenheit hervorgerufen wird. Neid wird zu einem allgegenwärtigen Gefühl, wobei oftmals das beneidete Glück anderer durch Profitmaximierung getragen wird. Wie Kain im Vergleich zu Abel

22 Westermann, Genesis, 433. 23 L. Boff, Igreja: carisma e poder: ensaios de eclesiologia militante, São Paulo 1994; ders., Church: Charism and Power – Liberation Theology and the Institutional Church, Eugene /OR 1985. 24 R. von Sinner /E.R. Westphal, Lethal Violence, the Lack of Resonance and the Challenge of Forgiveness in Brazil, International Journal of Public Theology 12, Leiden 2018, 38–55. 25 A. Nickel-Schwäbisch, Gott und Mammon. Biblische Perspektiven zum Umgang mit Geld, Neukirchen-Vluyn 2019.

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muss die Unzufriedenheit, die der Konsum erzeugt, mit immer mehr und immer neuen Konsumgütern befriedigt werden. Die Frage, was man selbst zum Leben elementar braucht, wird durch den permanenten neidgetriebenen Vergleich überdeckt. Die Konsumgesellschaft trägt durch den steten Vergleich mit anderen zu einem negativen und fragilen Selbstwertgefühl bei, das aus Neid resultiert und zugleich neuen Neid und Gier hervorruft. Bei alledem wecken die Medien immer stärker den Wunsch, von anderen akzeptiert, anerkannt und geliebt zu werden. Die Würde der Anerkennung als Person wird oftmals durch den Erwerb perfekter Konsumgüter, Schönheit und Gesundheit versprochen. Wenn wir uns aus protestantischer Perspektive auf die Theologie Martin Luthers rückbeziehen, finden wir hier strukturelle Parallelen, die eine symbolische Auslegung von Kains Brudermord auf soziale Verhältnisse nahelegen. Luther versteht in der Erklärung des Fünften Gebotes im Großen Katechismus Ungerechtigkeit als eine Form des Mordes. Zugespitzt formuliert: Gleichgültigkeit gegenüber den Grundbedürfnissen anderer gilt für ihn bereits als Brudermord. Luther formuliert es so: Zum andern ist auch dieses Gebots schuldig nicht allein, der da Böses tut, sondern auch wer dem Nächsten Gutes tun, zuvorkommend wehren, schützen und retten kann, dass ihm kein Leid noch Schaden am Leibe widerfahre, und tut es nicht. Wenn du nun einen Nackten lässt gehen und könntest ihn kleiden, so hast du ihn erfrieren lassen. Siehst du jemand Hunger leiden und speisest ihn nicht, so lässt du ihn Hungers sterben. Also siehst du jemand zum Tode verurteilt oder in gleicher Not, und rettest nicht, so du Mittel und Wege dazu wüsstest, so hast du ihn getötet. Und wird nicht helfen, dass du verwendest, du habest keine Hilfe, Rat noch Tat dazu gegeben; denn du hast ihm die Liebe entzogen und der Wohltat beraubt, dadurch er bei dem Leben geblieben wäre. 26

Mord ist nach Luther also auch anderes und zugleich viel mehr als nur physisch zu töten, indem man unmittelbar das Leben einer anderen Person vernichtet. Es gibt ganz unterschiedliche Formen von Mord, verursacht durch Gleichgültigkeit gegenüber Bedürftigen, Migranten, Geflüchteten, Waisen und Witwen. Neutestamentlich betrachtet, geht Jesus von einem noch radikaleren Verständnis aus, wenn er sagt, dass bereits ein abfälliges Wort Mord ist. Die Erzählung von Kain und Abel dient als Beispiel für die Radikalisierung des Verständnisses von »Mord«. Mord beginnt danach bereits in der immateriellen Welt der Gedanken und Wünsche, also des Herzens (1 Joh 3,12). Mord wird immateriell zugespitzt: »Jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Menschenmörder« (1 Joh 3,15).

26 M. Luther, Das fünfte Gebot – Du sollst nicht töten, in: Großer Katechismus. Nach der Fassung des deutschen Konkordienbuches (Dresden 1580), https://www.ekd.de/Grosser-Katechismus-Fuenfte-Gebot-13484.htm, Zugriff: 24.07.2020.

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Folgen wir dem Gedankenansatz Luthers, dann ist der Mensch in dieser Hinsicht von seiner Konstitution aus hin zum Bösen gefährdet und »Mord« durchdringt als Möglichkeit auch die guten Taten und Absichten des Menschen. Selbst im religiösen Leben, beim Opfer Kains, speist der Neid die mörderischen Instinkte. Luther verwendet im oben genannten Text hierfür das anschauliche Beispiel: »wenn dein Nachbar sieht, dass du besser Haus und Hof, mehr Gutes und Glückes von Gott hast denn er, so verdrießts ihn, neidet dich und redet nichts Gutes von dir.« Luther merkt – psychologisch bemerkenswert – überdies an, dass mit der Zunahme von erlittenen Ungerechtigkeiten und Kränkungen die Tendenz wächst, sich zu rächen. Der Mensch will dann in letzter Konsequenz in seiner Rache Gott sein und tritt an die Stelle der Gerechtigkeit Gottes. Luther formuliert: »Da erhebt sich denn wieder Fluchen und Schlagen, daraus endlich Jammer und Mord folgen. Da kommt nun Gott zuvor wie ein freundlicher Vater, legt sich ins Mittel und will denn geschieden haben, dass kein Unglück daraus entstehe.« Angesichts dieser Konstellation stellt sich die Frage, was ein angemessener Umgang mit der so geschilderten Natur des Menschen ist. In der Tat sind wir dann nicht nur mit einer fernen Erzählung von Kain und Abel konfrontiert, sondern auch mit der uns selbst betreffenden menschlichen Natur mit all ihrer Sünde und Boshaftigkeit, die uns als Möglichkeit eigenen Denkens und Handelns innewohnt. Deshalb brauchen wir nach Luther den usus politicus legis, damit der Herrscherwillkür des Menschen Grenzen gesetzt werden. 27 Bildung ist ein Mittel, um die freundliche Seite der menschlichen Natur zu entwickeln. Dies setzt jedoch ein Bewusstsein für die Differenz von Mensch und Gott voraus. Bildung hat nicht die Fähigkeit, Menschen in eine perfekte Seinsweise zu verwandeln, sondern zu lehren und zu erziehen, um über ein Bewusstsein der eigenen Möglichkeiten, Grenzen und Verantwortlichkeit »Sicherheitsvorkehrungen« gegen menschliche Abgründe wie Hass, Neid und deren zerstörerische Fähigkeiten zu entwickeln. Bildung, Ethik, Geselligkeit, Kultur und Menschlichkeit können im besten Fall zusammenwirken, da-

27 »Die Fragestellung der protestantischen Tradition muss vom ›usus politicus‹ des Gesetzes her gesehen werden. Von hier aus sind Kultur und Bildung wichtige Aspekte, damit das Leben bewahrt und das Böse vom Gesetz eingegrenzt wird, das dazu dient, dass die Schöpfung bewahrt und nicht von den Kräften der Sünde zerstört wird. Für Luther, ausgehend vom ›usus politicus‹ oder ›civilis‹ des Gesetzes, gewinnen Bildung, Ehe, Handarbeit, Musik, Feste und Freude ihre Würde. Bei Luther wird klar zwischen Gesetz und Evangelium unterschieden. Der Glaube in Christus ist unterschieden von der Bildung und Kultur. Dennoch, Gesetz und Evangelium werden in Beziehung gesetzt. Kinder zu erziehen und Persönlichkeiten zu formen, damit sie einen Beruf haben, ist Ausdruck des Evangeliums.« (E.R. Westphal, Protestantische Bildung und Kultur in Übersee am Beispiel Brasiliens, in: C. Spehr [Hg.], Reformation Heute: Protestantische Bildungsakzente, Bd. 1, Leipzig 2014, 138–162, hier: 144; vgl. auch Bayer, Freiheit, 89–93, 297–302).

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mit die zerstörerischen Kräfte des Menschen, wie sie in Kain symbolisiert sind, in Schranken gehalten werden. Die mit Bildung, Ethik, Geselligkeit, Kultur und Menschlichkeit verbundene Idee zielt darauf, dass Diskriminierung, Hass, Rassismus, Gewalt und Kriminalität zumindest nicht als selbstverständlich betrachtet werden. Positiv gewendet: Bildung, Kultur und ethisches Verhalten sollen die positiven Eigenschaften des Menschen fördern. 28 Bildung hat danach die Funktion, das persönliche Bewusstsein und Gewissen für die eigene Verantwortung vor der Schöpfung zu wecken. Das Verhältnis des Menschen zum Geschaffenen – und darin liegt die permanente Gefährdung – wendet sich jedoch ins Negative, wenn Geschaffenes selbst als Gott verehrt wird. Zum Problem wird es dann, wenn die Sachgüter der Schöpfung zu Götzen werden und dadurch Neid, Unzufriedenheit und Gier hervorrufen. Aus der Perspektive des globalen Südens könnte man zugespitzt formulieren: Die Konsumgesellschaft erschafft ihre Opfer, indem sie tausende Menschen auf verschiedene Arten »ermordet«, um für einen kleinen Prozentsatz der Weltbevölkerung, der in angelsächsischen 29 und westeuropäischen Ländern lebt, einen unangemessenen Gewinn zu erwirtschaften. Wir sehen immer noch eine Gleichgültigkeit der Wohlhabenden gegenüber den Menschen, die ausgebeutet wurden und werden. Das Migrationsphänomen in vielen Teilen der Welt legt die ungleiche Beziehung zwischen den Menschen offen. Das »wichtigste« Kriterium in den menschlichen Beziehungen ist in einem solchen Denken nicht die Solidarität, sondern die Rentabilität. Das Diktum Luthers bringt analytisch und systematisch die Kritik an einer solchen Haltung auf den Punkt: »Darum sage ich abermal, dass die rechte Auslegung dieses Stückes sei, dass einen Gott haben heißt: etwas haben, darauf das Herz gänzlich traut.« 30 Die Sachgüter der Schöpfung beginnen eine geradezu religiöse Bedeutung zu erhalten, denn die Sachgüter der Schöpfung mutieren oftmals zu einem Idol. 31 Exemplarisch für die damit einhergehende Güterverteilung steht ein Bericht des Independent aus dem Januar 2014: The 85 richest people on the planet have accumulated as much wealth between them as half of the world’s population, political and financial leaders have been warned ahead of their annual gathering in the Swiss resort of Davos.

28 A. Schweitzer, Kultur und Ethik, München 1996, 85. 29 Unter angelsächsischem Raum sollen in diesem Zusammenhang alle Englisch sprechenden Länder inclusive Nordamerika verstanden werden. 30 M. Luther. Das erste Gebot – Du sollst nicht töten, in: Großer Katechismus. Nach der Fassung des deutschen Konkordienbuches (Dresden 1580), https://www.ekd.de/Grosser_ Katechismus-Erste-Gebot-13480.htm, Zugriff: 11.07.2019. 31 E.R. Westphal. Protestantische Orientierungen in einer postmodernen Kultur. Bioethische Herausforderungen und lutherische Theologie, Leipzig 2015.

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The tiny elite of multibillionaires, who could fit into a double-decker bus, have piled up fortunes equivalent to the wealth of the world’s poorest 3.5bn people, according to a new analysis by Oxfam. The charity condemned the ›pernicious‹ impact of the steadily growing gap between a small group of the super-rich and hundreds of millions of their fellow citizens, arguing it could trigger social unrest. 32

Geld als »Gott« kann alles, auch den Menschen, in eine Ware verwandeln, sodass Geld nicht nur allmächtig, sondern allgegenwärtig zu sein scheint. Außerdem wird Geld geradezu zu einer personalen Größe. Das Geld und die Märkte erhalten menschliche und religiöse Attribute. 33

5. Kain und Christus: Die Verdammten Gottes und von Menschen Ausgeschlossenen Kain ist ein unruhiges Wesen, denn er würde der Gewalt desjenigen ausgeliefert sein, der ihn findet. Gott beschützt ihn, indem er das Zeichen – eine Marke an seinem Körper, die kein Mensch löschen kann – auf ihn legt als Zeichen des Bundes zwischen Gott und ihm. Wenn wir alle unter dem Urteil Gottes stehen und – symbolisch gesprochen – in den verschiedensten Formen an Mord beteiligt sind, unterscheiden wir

32 N. Morris, World’s 85 richest people have as much as poorest 3.5 billion: Oxfam warns Davos of ›pernicious impact‹ of the widening wealth gap. The Independent, 20 January 2014, http://www.independent.co.uk/news/world/politics/oxfam-warns-davos-ofpernicious-impact-of-the-widening-wealth-gap-9070714.html, Zugriff: 23.08.2019. 33 Vgl. Nickel-Schwäbisch, Gott und Mammon: In diesem Band macht es sich die Autorin zur Aufgabe, den Kreislauf von Gier, Geld und Entwürdigung des Menschen und der Schöpfung zu untersuchen. Herausgearbeitet wird als Grundstruktur: Der Mensch wird vermarktet, er wird missbraucht, mit dem Zweck, Gewinne zu erzielen. Es geht dabei nicht nur um materiellen Besitz, sondern auch um die Entmenschlichung der Gefühle und der persönlichen Beziehungen. Gewinn und Profit nehmen zu und es kommt zu einer Entsolidarisierung und Distanzierung auch in den Familien und im näheren Freundeskreis. Wenn Geld eigentlich nur ein Medium der zwischenmenschlichen Tauschbeziehungen sein sollte, wird Geld nun zum Selbstzweck und die Würde des Menschen wird vom Besitz bestimmt. Das Buch zeigt uns auf eine bildhafte Art und Weise, dass eine bestimmte Form des Glaubens für den Stellenwert des Geldes entscheidend ist, damit die Wirtschaft funktioniert, denn nur so wird das Geld als Ware eingetauscht. In der säkularisierten Gesellschaft wird das Geld zum Selbstzweck und es fungiert als ein Gott, dem man sein Leben anvertraut. Damit wird Geld zur Religion des säkularisierten Menschen. Im Anschluss an NickelSchwäbisch kann mit Luther die Frage in einen neuen Kontext gestellt werden: Wer ist mein Gott? Unsere Gesellschaft sollte wieder lernen, dass der Mensch eine Bedeutung an sich hat und nicht verdinglicht werden kann. Die moderne Sklaverei reduziert den Menschen auf seinen ›Preis-Wert‹. Die Würde eines Menschen müsste von seiner ›Unantastbarkeit‹ her verstanden werden. In der gegenseitigen Anerkennung kann der Mensch seine Würde entfalten. Vgl. dazu auch E.R. Westphal, Para entender Bioética, São Leopoldo 2006, 85– 96.

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uns nicht von Kain. Die Menschheit in ihrer Gesamtheit steht unter dem Fluch und dem Fall der Sünde. Oder systematisch mit Paulus gesprochen: wie geschrieben steht: ›Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer. Da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der nach Gott fragt. Alle sind sie abgewichen und allesamt verdorben. Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer‹ (Röm 3,10–12).

Systematisch-theologisch ist die Einsicht in die unaufhebbare Sündhaftigkeit des Menschen nach Luther jedoch nur das vorletzte Wort. Nach Luther hat Gott uns durch den stellvertretenden Tod Christi vor den Mächten der Sünde, des Todes und der Götzen gerettet – und nicht durch Geld. Das Werk Christi, das im Gegensatz zu den Idolen des Marktes die Freiheit des Menschen erkauft hat, gibt dem Menschen die Möglichkeit, seine überschüssigen Güter in den Dienst derer zu stellen, die sie brauchen. Luthers Theologie kann uns in diesem Reflexionsprozess helfen. »Christus hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden ist – denn es steht geschrieben: ›Verflucht ist jeder, der am Holz hängt!‹« (Galater 3,13). Luther interpretiert diesen Vers, indem er sagt, Christus sei der verfluchte Mensch, der den Fluch der Menschheit auf sich genommen hat. Jesus wird vom Vater zur Sünde gemacht, damit wir gerecht gesprochen werden. 34 Die unmittelbare Verbindung zu unserem Fokus auf das Verständnis von Mensch-Sein vor dem Hintergrund der Erzählung von Kain und Abel zieht Dietrich Bonhoeffer in seinen Überlegungen zu »Schöpfung und Fall«: Christus am Kreuz, der gemordete Sohn Gottes, das ist das Ende der Geschichte Kains, und damit das Ende der Geschichte überhaupt. Das ist der letzte verzweifelte Ansturm auf das Tor des Paradieses. 35

Alle Verfluchten werden durch Christus gesegnet. Durch ihn können wir in einer erneuerten Form das Ebenbild Gottes in einer von Sünde zerstörten Welt werden. Es ist dabei wichtig, den christologischen Aspekt herauszustellen, denn die neue Schöpfung wird von der Vergebung gekennzeichnet. Schöpfung und Versöhnung laufen hier zusammen. Paul Ricœur und Hannah Arendt weisen je auf ihre eigene Art darauf hin, dass Vergebung kulturgeschichtlich der einzige Weg für den Menschen ist, den Teufelskreis aus Rache, Hass und Schuld zu durchbrechen. Selbst bei irreparablen Verbrechen muss die Bestrafung angewendet werden, jedoch nicht im Hinblick auf Rache, sondern auf Versöhnung. Hannah Arendt verweist auf die funktionale Parallele einer christologischen und säkularen Begründung von Vergebung: 34 35

M. Luther, Kommentar zum Galaterbrief 1519, München /Hamburg 1968, 135–140. Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, 135.

Der Mensch und seine Gefährdungen (Gen 4–11)

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The discoverer of the role of forgiveness in the realm of human affairs was Jesus of Nazareth. The fact that he made this discovery in a religious context and articulated it in religious language is no reason to take it any less seriously in a strictly secular sense. 36

Wenn es keine Vorstellung davon gäbe, dass das Unverzeihliche in der Strafe zugleich begnadigt werden muss, gäbe es in einer Gesellschaft nur Rache. Vergebung muss bedingungslos sein, sonst würde die Barmherzigkeit vernichtet. 37 Ricœur knüpft in seiner Thematisierung von Vergebung an Jacques Derrida an und verweist auf die integrierende abrahamitische Tradition für ein bestimmtes Verständnis von Kultur: It is, Derrida notes, ›to a religious heritage, let us say Abrahamic, to gather under it Judaism and the various forms of Christianity and Islam‹ (›Le Siècle et le pardon‹), that the language we are attempting to fit into the imperative mood belongs. This complex and differentiated, even conflicting, tradition is at once singular and in the process of universalization. It is singular in the sense that it is carried by ›the Abrahamic memory of the religions of the Book and in a Jewish, but more especially Christian interpretation of the neighbor and the fellow human being‹ [. . . ]. In this regard, no one is unaware that Saint Paul’s hymn to love is inseparable from the kerygma of Jesus Christ, from its inscription in a trinitarian proclamation and a typology of ›gifts‹ within the community of the early church. 38

6.

Kultur als Bedingung und Möglichkeit der Humanisierung

Das Verständnis von Kultur bildet die Grundlage dafür, von der Auseinandersetzung mit der Deutung von Mensch-Sein zu der bildungstheoretischen Relevanz der Erzählung von Kain und Abel zu gelangen. Gottes Gnade richtet sich für das Mensch-Sein nach Kain, das durch den Schweiß der Arbeit das Überleben sichern muss, auf die Kultur. Gottes erhaltende Gnade drückt sich aus in der Kultur, im Bau der Städte, Anbau von Feldfrüchten, in der Kunst und Musik. Durch die Erschaffung von Technologien gibt Gott die Gabe der schöpferischen Fähigkeit des Menschen, Werkzeuge zur Kontrolle der Naturkräfte herzustellen. Einerseits verweist dieser Bezug systematisch darauf, dass und wie Gott seine

36 H. Arendt, The Human Condition, Chicago 21958, 238. 37 P. Ricœur, Memory, History, Forgetting, Transl. K. Blamey, D. Pellauer, Chicago 2004, 470–478; vgl. auch ders., Amour et justice; Liebe und Gerechtigkeit. Übers. M. Raden, Tübingen 1990. 38 P. Ricœur, A memória, a história o esquecimento, Transl. A. François, Campinas 2007, 468; Ricoeur, Memory, 470–478; Arendt, Human Condition; vgl. ebenso Ricœur, Amour et justice, 27–37; J. Derrida, On Cosmopolitanism and Forgiveness, Transl. M. Dooley, M. Hughes, London /New York 2005.

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Schöpfung erhält. Andererseits verweisen die Erzählungen von Gen 3 und 4 auf den unersättlichen Willen des Menschen, die Schöpfung gottähnlich beherrschen zu wollen. Diese Konstellation bildet den Hintergrund dafür, dass Gott es bereut, den Menschen erschaffen zu haben (Gen 6,6–7). Auf diese Weise leidet Gott mit dem Schicksal seiner Schöpfung, weil die menschliche Arroganz sich gegen Gott behaupten will. Faktisch jedoch erinnern seine Schwäche und Sterblichkeit den Menschen stets daran, dass er nicht Gott ist. 39 Eine ähnliche Doppelfigur findet sich in der Erzählung von Noah. Trotz der Hybris der Menschen ist Gott dem Fortbestand der menschlichen Existenz über Noah gnädig. Gott interveniert durch die Sintflut als Gericht und die Bundeslade als Gnade der Errettung der Menschheit durch Noah. Gott rettet seine Familie und die Lebewesen, die Noah auf dem Abenteuer der Errettung der Menschheit begleiten (Gen 6,9– 7,24). Gott greift in die Geschichte ein, wenn Gott sich an Noah erinnert (Gen 8,1). Gottes Erinnerung (zakar) ist verbunden mit Gottes barmherzigem Handeln gegenüber den Menschen und allen Wesen der Schöpfung. »In diesem ›Gedenken‹ ist das Ebarmen mit dem Todbedrohten impliziert; zugleich aber ist damit schon das rettende Handeln eingeleitet (so auch Ex 2,24).« 40 Gott hat seinen Bund mit Noah geschlossen, um alle Lebensformen zu schützen: sowohl Tiere als auch Menschen (Gen 9,3–6). Die Begründung liegt nicht in der humanistischen, sondern in der theologischen Logik, dass der Mensch »Eigentum Gottes ist und nach dem Bilde Gottes geschaffen ist.« 41 Gott tritt in einen Bund mit Noah und seiner Nachkommenschaft. Inmitten von menschlicher Bosheit und Verwilderung legt Gott sein Siegel auf die Menschheit, die nicht Eigentum des Bösen ist, sondern Gott gehört. Wir haben also Gottes nachhaltige Gnade in der Welt und in der Geschichte. Gott gibt die Menschen nicht auf, obwohl er es bedauert, sie erschaffen zu haben. Diese nachhaltige Gnade geschieht sowohl durch Zeugung als auch durch Kultur, denn es gibt verschiedene Völker, Städte und viele Sprachen, die der Mensch erfunden hat (Gen 10,1–31). So geht die Linie Noahs durch die Völker bis Abraham als Ausdruck des Bundes Gottes mit der ganzen Menschheit: Israel sah sich illusionslos und ganz unmythisch inmitten der Völkerwelt. Was Israel von Jahwe her erfährt und erlebt, das wird sich ausschliesslich im Raum der Geschichte begeben. Die Einfügung der Vökertafel bedeutet biblischtheologisch den radikalen Bruch mit dem Mythos. 42

39 40 41 42

Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, 36–38. Westermann, Genesis, 592–593. von Rad, Das erste Buch Mose, 99. Ebd., 110.

Der Mensch und seine Gefährdungen (Gen 4–11)

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In der Logik von Genesis 4–11 sehen wir als Rahmung die Verdichtung des Wissens (Gen 3), das zu technologischen Fähigkeiten und Errungenschaften zum Bau eines Denkmals führt, wodurch wiederum die großen Taten des Menschen gefeiert werden, des Menschen, der behauptet, Gott zu sein (Gen 11). Das Problem liegt nicht im Wissen selbst oder in den technischen Fähigkeiten zur Schaffung von Kultur, Sprache, Zivilisation, Urbanisierung und der Entwicklung der Landwirtschaft. All dies erfordert Wissen. Weltgestaltung, Weltverantwortung und Sprache stehen unter dem Auftrag Gottes.

7.

Bildung zwischen Gnade und Gefährdung

Der Gedanke an Bildung kann – wenn wir den Grundfiguren von Gen 4– 11 Relevanz beimessen – nicht in einer (Selbst)Perfektionierung des Menschen bestehen. Bildung ist vor diesem Hintergrund nicht vom Motiv einer Vervollkommnung oder auch nur einer Annäherung an Vollkommenheit zu verstehen. Es ist ein anderes Grundmotiv, das die Vorzeichen für ein Verständnis von Bildung markiert: Der Mensch lebt ständig in Gefährdung in all seinen Beziehungen. Trotzdem beginnt mit der Geschichte der Menschheit auch der Versuch von Kultur mit der Funktion, vor jener Aggressivität und dem Potenzial zum Bösen zu schützen, das im Wesen des Menschen steckt. Bei alledem gibt Gott den Menschen nicht auf. Dessen Berufung ist es jedoch, sich selbst in seiner Position in der Welt angemessen wahrzunehmen. Dies bedeutet auch das Eingeständnis der eigenen Gefährdung, sich selbst zu entmenschlichen. Es geht darum, Mensch zu bleiben, ein Abbild Gottes zu sein und kein Opfer jener eigenen Hybris zu werden, die zur Entmenschlichung führt. Kultur liefert den Denk- und Handlungsraum für die Konstruktion eines Weltbildes und einer Vision eines möglichen (Über)Lebens. Der Verlust von Kultur, getragen von der Einsicht in die eigenen Gefährdungen über Bildung, würde zu Konstellationen führen, die nicht in der Lage wären, Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten. Kultur ist demnach Ausdruck der Erfahrung, des Erlebens, der Geschichte und der Werte einer Gesellschaft. 43

43 »Die Begriffe Bildung und Kultur schließen Begriffsambivalenten ein, die zwischen Unschuld, Naivität, Distanz und Stolz, und einem Gefühl der Überlegenheit oszillieren können. Die Bildung kann unmenschlich werden und der Kultur kann auch ein Potenzial der Zerstörung menschlicher Beziehungen inne wohnen. Auch wenn die Fragestellung der Ambivalenz der Kultur und der Bildung im vorliegenden Artikel nicht thematisiert wird, gehen wir von der lutherischen Voraussetzung aus, dass die Sünde als moralische und ontologische Grösse auch die menschlichen Bemühungen eine Kultur zu schaffen und der Gesellschaft Bildung zu ermöglichen, durchzieht.« (Westphal, Protestantische Bildung, 21,

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Die Frage stellt sich, woher Kriterien für die Gestaltung von Kultur gewonnen werden können. Der Verlust der Identifikation des modernen Menschen mit der symbolischen Welt führte dahin, dass der moderne Mensch in der vereinheitlichten Sprache des früheren christlichen Glaubens keine Bezugspunkte mehr findet. Die Stütze zur Übermittlung von Werten, die man durch das Lesen der Bibel fand und die die Vorstellung und die symbolische Welt der Menschen prägten, wurde auf den materiellen und technischen Fortschritt, die Wissenschaft allgemein, übertragen. Dadurch wurde der Mythos entmythologisiert, aber auch die Erzählungen, die Gedichte, die Berichte, die Gebete des Tages, die Trauergebete. Davon ausgehend wurden die Werte der symbolischen Welt nicht mehr an die folgenden Generationen weitergegeben. Die Moderne lebt von den Vorteilen der Befreiungsbotschaft der Reformation, bricht jedoch gleichzeitig mit wesentlichen Grundlagen der Theologie der Reformation. 44 In diesem Sinne weist Paul Tillich auf den Zerfall des Person-Bewusstseins hin, der sich mit Blick auf den modernen Menschen in der Verabsolutierung von Subjektivität und des Gewissens als maßgebende Autorität äußert. Nach Tillich ist diese Entwicklung verantwortlich für das Zunehmen der geistigen Krankheiten vor allem in den protestantischen Ländern. Tillich formuliert es so: The disintegration of the consciousness-centered personality is now proceeding on a terrifying scale. The immediate expression of it is the increase in mental diseases, especially in Protestant countries. 45

144). Siehe auch M. Winkler, Bildung und Kultur. Verwirrende Grundlagen versuchsweise dargestellt, in: M. Fröhlich (Hg.), Bildung und Kultur: Relationen, Jena 2012, 13–53. 44 E.R. Westphal, Brincando no paraíso perdido: as estruturas da ciência, São Bento do Sul 2006, 125. Problematisch ist es, wenn Bildung zu einem Mittel für menschliche Erlösung wird und sich als Ersatzreligion präsentiert. Im Prozess der Säkularisierung wurde Bildung als diesseitige Erlösung von den Mächten, die den Menschen gefährden, verstanden. Dieses Verhältnis von Bildung und Erlösung kann man so zusammenfassen: »Wenn Bildung zum Motor der Erlösung wird – der Befreiung des Menschen von der irdischen Last –, dann werden die Pädagogen die Mittler dieser Erlösung und wir gehen, wie Friedrich Vischer es schon angesichts der Paulskirchenversammlung 1848 sagte, auf das ›allgemeine Priestertum der Lehrer‹ zu. Das ist eine bittere Parodie auf das ›Priestertum aller Getauften‹, das durch die Reformation einst freigelegt und als Motor der Emanzipation entdeckt wurde.« (M. Hein, Erlösung durch Bildung? Theologische Würdigung und Kritik, in: C. Spehr [Hg.], Reformation Heute: Protestantische Bildungsakzente, Bd. 1, Leipzig 2014, 163–178, hier: 169). Dieses säkularisierte-religiöse Element der Bildung und Kultur finden wir auch bei Eagleton. Die Förderung von Geselligkeit und Herzlichkeit ist der Weg der menschlichen Erlösung, denn der Mensch sich von der bösen Natur zur guten Gnade entwickelt, das heißt, »reprobate nature to the grace of culture«. Die Gnade der Kultur ist durch »ethical pedagogy« zu erlangen. Die Erlösung durch Bildung kann so zusammengefasst werden: »Like grace, culture must already represent a potential within human nature, if it is to stick.« (T. Eagleton, The Idea of Culture, Oxford 2000, 5). 45 P. Tillich, The Protestant Era, Chicago 1948, 111.

Der Mensch und seine Gefährdungen (Gen 4–11)

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Die Kompensationsstrategie für den Verlust übergeordneter Autoritätsinstanzen sind danach das wirtschaftliche Konsumverhalten und das Suchen nach materiellem Erfolg als einzige Formen, Glück zu erlangen. Zugespitzt könnte man insbesondere aus der Perspektive des globalen Südens formulieren: Im verweltlichten Protestantismus lebt man in der Illusion des freien Gewissens, das jedoch faktisch gar nicht existiert. 46 Wenn wir am Ende zum Fokus des vorliegenden Gedankengangs zurückkehren, so stellt sich die Frage, was diese symbolische Realität Kains in unserem Heute für das Verständnis von Bildung aussagt. Bildung steht unter dem Vorzeichen der Fürsorge Gottes für den Menschen. Die Notwendigkeit, dass die im Menschen virulenten Gefährdungen durch einen usus politicus legis kontrolliert werden, bildet dann nur die Rückseite eben dieser Fürsorge. Kultur trägt beides in sich: die Hoffnung auf gelingende Gestaltung und die Gefährdung eines Auseinanderbrechens notwendiger Ordnung. In letztgenanntem Sinn hat Kultur den Zweck, zerstörerische menschliche Kräfte einzudämmen, die das Leben bedrohen, um Bedingungen für ein glückliches Leben zu schaffen. Clifford Geertz hat dies so formuliert: »Culture, the accumulated totality of such patterns, is not just an ornament of human existence but – the principal basis of its specificity – an essential condition for it.« 47 Bildung und Kultur sind somit Schutzvorkehrungen, Dispositive, die es dem Menschen einerseits ermöglichen, in aller Fragmentierung den Gedanken des MenschSeins als Ebenbild Gottes zur Leitlinie des eigenen Lebens zu machen. Auf der anderen Seite werfen Bildung und Kultur ein bestimmtes Licht auf die Aktualität Kains in den Gefährdungen des Mensch-Seins. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass eben diese Gefährdungen durch Bildung und Erziehung eingedämmt werden. Das menschliche Leben wird geordnet durch Beziehungen zur Politik, Musik, Erfindungsreichtum und Arbeitswelt. Eine Grundlage zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung ist die Bildung. Abstract Creation and the Fall are the prelude to the examination of sinfulness, which is unfolded in Genesis 4–11 in various symbolic narratives. The article explores the question of how such a concept as “Bildung” can be thought of from the anthropological core statements of Gen 3 and Gen 4 in particular. The emphasis is placed on a dialectical figure. On the one hand, even the sinful man (both Eve and Cain) continues to be under the protection of God. On the other hand, in the transgressions of Eve and especially Cain, the potential of the threats to humanity inherent in every human being is revealed. This dialectic of protection

46 47

Jankélévitch, O paradoxo da moral. C. Geertz, The Interpretation of Cultures, New York 1973, 46.

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and endangerment is related in a systematic theological way to current ethical challenges. From the perspective of the Global South the evaluation of consumer habits and distribution of goods is asked for. The systematic-theological connection from the history of Cain and Abel to the ethical debate with the present is drawn via theological motives of Martin Luther and Dietrich Bonhoeffer. Against this background, “Bildung” in anthropological terms can only be interpreted from the dialectic of God’s permanent protection on the one hand and the inherent potential of danger to human beings on the other. Prof. Dr. theol. Euler Renato Westphal, geb. 1957, ist Professor of Systematic Theology an der Faculdade Luterana de Teologia – FLT (Lutheran College of Theology) und Professor an der Universidade da Região de Joinville – UNIVILLE (University of the Region of Joinville).

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Die biblische Josephsgeschichte als Bildungsroman?

Natürlich ist die biblische Josephsgeschichte (Gen 37–50) kein Bildungsroman; von dieser Literaturgattung lässt sich sinnvollerweise erst seit dem 18. Jahrhundert sprechen. Gleichwohl nimmt die Josephsgeschichte in der Sache Elemente von Bildungsromanen vorweg, 1 wie sie dann exemplarisch mit Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/1796), mit Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (1802) oder mit Gottfried Kellers Der grüne Heinrich (1854/1855) Gestalt annehmen: Sie erzählt von ihrem jugendlichen Protagonisten – die Bezeichnung »Held« wäre zu einseitig –, der sich von einem verzärtelten, überheblichen Jüngling zu einem verantwortungsvollen Bruder entwickelt, der für den Zusammenhalt und die Existenz seiner Großfamilie sorgt. 2 Die Josephsgeschichte ist aber auch in einem weiteren, ungewohnten Sinn als »Bildungsroman« zu charakterisieren: Sie stellt nicht nur die Entwicklung der Hauptfigur Josephs und seiner Brüder dar, sondern sie ermöglicht – in pragmatischer Hinsicht – ihren Leserinnen und Lesern, selbst einen Bildungsprozess zu durchlaufen. Dies ist nicht nur ein rezeptionsästhetisches Urteil, denn es ist historisch wahrscheinlich, dass die Abfassung der Josephsgeschichte nicht zuletzt auch zu einem solchen Zweck erfolgt sein könnte 3 – auch wenn sich dies naturgemäß nicht stringent be1 Vgl. P. Golban, A History of the Bildungsroman. From Ancient Beginnings to Romanticism, Newcastle 2018, 67–79; vgl. auch O. Gutjahr, Einführung in den Bildungsroman, Darmstadt 2007. 2 Vgl. zur Entwicklung Josephs K. Schmid, Josephs zweiter Traum. Beobachtungen zu seiner literarischen Funktion und sachlichen Bedeutung in der Josephsgeschichte (Gen 37– 50), ZAW 128 (2016), 374–388. 3 Zu Einleitungsfragen zur Josephsgeschichte vgl. K. Schmid, Die Josephsgeschichte im Pentateuch, in: J. Gertz /ders./M. Witte (Hg.), Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion (BZAW 315), Berlin /New York 2002, 83–118; T. Römer, The Joseph Story in the Book of Genesis: Pre-P or Post-P?, in: F. Giuntoli /K. Schmid (Hg.), The Post-Priestly Pentateuch (FAT 101), Tübingen 2015, 185–201; F. Ede, Die Josefsgeschichte: Literarkritische und redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung von Gen 37–50 (BZAW 485), Berlin 2016; E. Blum /K. Weingart, The Joseph Story: Diaspora Novella or North Israelite Narrative?, ZAW 129 (2017), 501–521; R. Albertz, Die Josephsgeschichte im Pentateuch, in: T. Naumann /R. Hunziker-Rodewald (Hg.), Diasynchron: Beiträge zur Exegese, Theologie und Rezeption der Hebräischen Bibel. Walter Dietrich zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2009, 11–36; J. Wöhrle, Joseph in Egypt: Living under Foreign Rule according to the Joseph Story and its Early Intra- and ExtraBiblical Receptions, in: R. Albertz /ders. (Hg.), Between Cooperation and Hostility: Multiple Identities in Ancient Judaism and the Interaction with Foreign Powers (JAJSup 11), Göttingen 2013, 53–72.

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legen lässt, da ihr Verfasser oder ihre Verfasser keine Absichtserklärungen hinterlassen haben, was sie mit ihrem Text bezwecken wollten. Diese beiden Aspekte von Bildung in Bezug auf Joseph sind das Thema dieses Beitrags. Ein erster Abschnitt wird die Bildung der Josephsfigur in der Erzählung als solcher nachzeichnen, ein zweiter Abschnitt wird die pragmatischen Potentiale dieses Bildungsprozesses Josephs im Blick auf die Leserinnen und Leser thematisieren. Eine kurze Auswertung wird diesen Beitrag beschließen.

1.

Die Bildung Josephs

Es ist eine der grundlegendsten Beobachtungen zur narrativen Logik der Josephsgeschichte, dass sie in elementarer Weise die Entwicklung von Josephs Brüdern zu ihrem Gegenstand macht. Die Brüder werden als Opponenten Josephs eingeführt, den sie wegen seiner Träume, die Josephs Herrschaft über sie impliziert, hassen (Gen 37,5–11). Der Inhalt dieser Träume veranlasst die Brüder dazu, einen Mordanschlag auf Joseph zu planen, den sie auch durchführen, allerdings in abgemilderter Form, sodass Joseph nicht stirbt, sondern nach Ägypten verkauft wird. Hinter dieser Aktion der Brüder steht ein wohlbekanntes Motiv: Träume oder Orakel werden wahr, indem diejenigen, die sie betreffen, sich mit allen Mitteln dagegen wehren, dass sie sich erfüllen. Erreicht wird mit dieser Gegenwehr aber genau dasjenige, was vermieden werden soll: Im Falle von Joseph und seinen Brüdern wird es nur durch den Verkauf Josephs möglich, dass er in Ägypten zum zweiten Mann im Staat aufsteigen kann und sich die Brüder dann bei ihren Reisen nach Ägypten vor ihm verbeugen müssen, so wie Joseph es Jahre zuvor geträumt hatte. 4 Weniger oft wurde gesehen, dass auch Joseph sich während der Erzählung verändert und entwickelt. Joseph ist nicht der glanzvolle, erst tragische und dann triumphierende Held der Josephsgeschichte, sondern er wandelt sich innerhalb der Erzählung in grundlegender Weise. Zu Beginn wird er als Liebling seines Vaters eingeführt, der nicht mit seinen Brüdern Schafe hütet, sondern ein Gewand – einen ‫» כתנת פסים‬Ärmelrock« –

4 Zu den Träumen in der Josephsgeschichte vgl. J. Lanckau, Der Herr der Träume. Eine Studie zur Funktion des Traumes in der Josefsgeschichte der Hebräischen Bibel (AThANT 85), Zürich 2006, 168–175; R. Pirson, The Lord of the Dreams. A Semantic and Literary Analysis of Genesis 37–50 (JSOT.S 355), London /New York 2003, 50–52; J.-D. Döhling, Die Herrschaft erträumen, die Träume beherrschen. Herrschaft, Traum und Wirklichkeit in den Josefsträumen (Gen 37,5–11) und der Israel-Josefsgeschichte, BZ 50 (2006), 1–30, s. auch o. Anm. 2.

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trägt, das keine Arbeitskleidung ist (vgl. 2 Sam 13,18). 5 Die Bedeutung seiner beiden Träume, die ihm die Feindschaft seiner Brüder einbringen, wird zwar häufig als identisch angesehen, tatsächlich aber geht der zweite über den ersten hinaus, indem er neben dem Niederfallen der Sterne vor Joseph auch dasjenige von Sonne und Mond, die offenbar für seine Eltern stehen, in den Blick nimmt. Dieses Element von Sonne und Mond ist in doppelter Hinsicht bezeichnend: Zum einen wird es sich in der Josephsgeschichte nie erfüllen (Josephs Mutter ist ohnehin nicht präsent in der Josephsgeschichte, ihr Tod und Begräbnis wird in Gen 35,16– 20 erzählt, und auch Jakob fällt nie vor Joseph nieder), 6 zum anderen impliziert das Bild selbst eine gewisse Hybris Josephs: Gestirne verehren in der Hebräischen Bibel nie Menschen, sondern nur Gott allein (vgl. Ps 148,1.3; Hi 38,6f). Joseph wird also in einer gewissen Ambiguität gezeichnet. Zwar ist er Jakobs Lieblingssohn, gleichzeitig aber zeigt er keine Solidarität mit seinen Brüdern und träumt sich, vielleicht unwissentlich und unwillentlich, aber doch deutlich, an die Stelle Gottes. Im weiteren Verlauf der Erzählung verändert sich Joseph in mehrfacher Hinsicht. Zunächst ist zu erkennen, dass er sich vom Träumer (Gen 37) zum Traumdeuter (Gen 40f) entwickelt. Auffälligerweise wird in der Josephsgeschichte nirgends erklärt, woher sich Joseph diese Kompetenz des Traumdeutens erworben hat. Die nächstliegende Erklärung lautet, dass die Erzählung ihrer Leserschaft implizit nahelegen will, dass es Josephs außergewöhnliche Erfahrungen sind – der überlebte Mordanschlag, der Verkauf nach Ägypten, sein Aufenthalt und seine Widerfahrnisse im Haus Potifars sowie im Gefängnis –, die ihn zum Traumdeuter »gebildet« haben. Dann zeigt sich, dass Joseph sich vom kühlen Planer zum mitfühlenden Bruder wandelt. Die Josephsgeschichte gibt zwar nirgends darüber Auskunft, was in Joseph bei seinem Ägyptenaufenthalt vorgeht, wenn er zunächst Simeon und dann Benjamin festhält, doch es ist ohne weiteres erschließbar, dass er damit die Absicht verfolgt, seine Brüder auf die Probe zu stellen. Sind sie noch dieselben, die einen der ihren nach Ägypten verkauft haben? Oder haben sie sich verändert und verhalten sie sich nun solidarisch zu ihren gefährdeten Brüdern? In der Tat zeigen sich

5 Die LXX macht aus dem »Ärmelrock« einen »bunten Rock«: ἐποίησεν δὲ αὐτῷ χιτῶνα ποικίλον. Zur Kleidersymbolik vgl. A. da Silva, La symbolique des rêves et des vêtements dans l’histoire de Joseph et de se frères, Montréal 1994; V.H. Matthews, The Anthropology of Clothing in the Joseph Narrative, JSOT 65 (1995), 25–36; R. Lux, Josef. Der Auserwählte unter seinen Brüdern, BG 1, Leipzig 2001, 77f. 6 Zu Gen 47,31b vgl. R. de Hoop, Genesis 49 in its Literary and Historical Context (OTS 39), Leiden 1999, 328–332.460–464; ders., ›Then Israel Bowed Himself . . . ‹ (Genesis 47,31), JSOT 28 (1994), 467–480; J. Ebach, Genesis 37–50 (HThKAT), Freiburg im Breisgau 2007, 521f; Döhling, Herrschaft, 20–23.

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die Brüder solidarisch, zunächst mit Simeon und dann vor allem mit Benjamin. Erkennbar wird dies vor allem aus der Rede Judas, die diese Solidarität bis hin zur Selbstaufgabe bezeugt (Gen 44,18–34). 7 Er bietet sich selbst Joseph als Sklaven an, an Stelle des zu Unrecht verdächtigten Benjamin, bemerkenswerterweise mit der Begründung, dass der Vater, Jakob, es nicht überleben würde, neben Joseph auch noch Benjamin zu verlieren. Damit zeigt Juda nicht nur Verantwortung für seinen Bruder, sondern auch für den Vater, den er mit seinen Brüdern in Gen 37 an den Abgrund des Totenreichs gebracht hat. Es ist außerordentlich bemerkenswert, dass die Josephsgeschichte die Form der Rede – Gen 44,18–34 ist die längste zusammenhängende Rede im Buch Genesis – gewählt hat, um die Peripetie der Erzählung herbeizuführen: Die Macht des Wortes wird dabei entscheidend hervorgehoben. Und tatsächlich: Die Rede Judas überwältigt Joseph. Gemäß Gen 45,1–3a verliert Joseph die Kontrolle über sich selbst: Da konnte sich Joseph nicht länger beherrschen (‫ )ולא־יכל יוסף להתאפק‬vor allen, die bei ihm standen, und rief: Führt alle hinaus und weg von mir! So war niemand bei ihm, als Joseph sich seinen Brüdern zu erkennen gab. Und er weinte so laut, dass es die Ägypter hörten und auch das Haus des Pharao es hörte. Und Joseph sprach zu seinen Brüdern: Ich bin Joseph. Lebt mein Vater noch?

So legt die Josephsgeschichte großen Wert darauf, dass die Prüfung der Brüder durch Joseph als Plan Josephs nicht einfach aufgeht, aber auch nicht einfach nicht aufgeht. Vielmehr ergreift die Situation selbst die Herrschaft, und Joseph wird nach Judas ergreifender und überwältigender Rede das Heft seiner eigenen Pläne aus der Hand genommen. Wir wissen nicht, was Joseph mit seinem Handeln an den Brüdern intendierte – die Josephsgeschichte gibt nur Einblick in das Geschehen selbst, nicht aber in die Gedankenwelt des Protagonisten Joseph. Doch die schwierige Situation löst sich auf, ob Joseph dies mit seinem Test an den Brüdern nun selbst intendiert haben mag oder nicht. Nach dieser Veränderung der Brüder, die auch Joseph verändert, kann die Josephsgeschichte ihrem Ziel der Versöhnung der Brüder untereinander zulaufen. 8 Sowohl die Brüder als auch Joseph haben einen Prozess durchlaufen, der sie in gewissem Sinne »gebildet« hat; sie sind andere 7 Vgl. M.A. O’Brien, The Contribution of Judah’s Speech, Genesis 44:18–34, to the Characterization of Joseph, CBQ 59 (1997), 429–447; J. Joosten, Biblical Rhetoric as Illustrated by Judah’s Speech in Genesis 44.18–34, JSOT 41 (2016), 15–30. 8 Vgl. J. Ebach, »Ja, bin denn ich an Gottes Stelle?« (Genesis 50:19): Beobachtungen und Überlegungen zu einem Schlüsselsatz der Josefsgeschichte und den vielfachen Konsequenzen aus einer rhetorischen Frage, BI 11 (2003), 602–616; G. Fischer, Die Josefsgeschichte als Modell für Versöhnung, in: A. Wénin (Hg.), Studies in the Book of Genesis. Literature, Redaction and History (BETL 155), Leuven 2001, 243–271.

Die biblische Josephsgeschichte als Bildungsroman?

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geworden als sie zuvor waren, und diese »Bildung« ist eine Voraussetzung für die Möglichkeit einer nachhaltigen Koexistenz unter ihnen.

2.

Bildung anhand von Joseph

Nun soll in diesem Beitrag nicht nur gefragt werden, wie die Josephsgeschichte die Bildung Josephs darstellt, sondern auch, wie anhand der Josephsgeschichte Bildung selbst möglich ist. Welche Bildungsmöglichkeiten offeriert die Erzählung ihren Leserinnen und Lesern? Damit wird die Frage nach ihrer Pragmatik gestellt, die sich naturgemäß für ihre ursprüngliche Leserschaft nicht mehr empirisch gedeckt beantworten lässt. Wir wissen nicht, wer die Josephsgeschichte gelesen hat, 9 und wir wissen auch nicht, wie man sie genau verstanden hat, wenn auch natürlich die Rezeptionen in der Antike gewisse Anhaltspunkte liefern können. 10 Allerdings sind diese Rezeptionen in der Regel produktiver Art. Sie sind nicht darauf ausgerichtet, die Aussageakzente der biblischen Erzählung aufzuspüren und ihre Leerstellen zu berücksichtigen, vielmehr verfolgen sie rezeptionelle Eigeninteressen. So glättet etwa das im 2. Jahrhundert v.Chr. verfasste Jubiläenbuch Züge, die Joseph in negativem Licht erscheinen lassen könnten. In der Szene der Entsendung Josephs zu seinen Brüdern fehlt das Motiv seiner Bevorzugung durch Jakob sowie der Umstand, dass Joseph, anders als seine Brüder, nicht arbeitet (Jub 34,10–14). Auch in seiner gehobenen Position als Herrscher über Ägypten wird Joseph als gnädig und barmherzig dargestellt (Jub 40,9f). Philo betont die moralische Vollkommenheit Josephs (De Iosepho, 4–6.54.268f), Josephus hebt seine große Weisheit hervor (Antiquitates, 2,87). Für die Erhebung der pragmatischen Dimension der biblischen Josephsgeschichte hat man sich deshalb an diese selbst zu halten. Für deren Profil sind folgende Beobachtungen maßgeblich: Wie dies oft bei bib-

9 Zu den Schreibermilieus im antiken Israel und Juda vgl. D.M. Carr, Schrift und Erinnerungskultur. Die Entstehung der Bibel und der antiken Literatur im Rahmen der Schreiberausbildung (AThANT 107), Zürich 2015; A. Grund-Wittenberg, Literalität und Institution. Auf der Suche nach lebensweltlichen Kontexten der Literaturwerdung im alten Israel, ZAW 129 (2017), 327–345; E. Blum, Institutionelle und kulturelle Voraussetzungen der israelitischen Traditionsliteratur, in: R. Ebach /M. Leuenberger (Hg.), Tradition(en) im alten Israel. Konstruktion, Transmission und Transformation, FAT 127, Tübingen 2019, 3–44; W. Schniedewind, The Finger of the Scribe: How Scribes Learned to Write the Bible, New York 2019. 10 Vgl. M.R. Niehoff, The Figure of Joseph in Post-Biblical Jewish Literature (AGJU 16), Leiden 1992; B. Schipper u.a., Art. Joseph (Son of Jacob), EBR 14, Berlin /Boston 2017, 680–713.

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lischen Erzählungen der Fall ist, 11 verzichtet die Josephsgeschichte fast vollständig darauf, Auskünfte über die Motivation ihrer Protagonisten zu geben, wenn diese sich zu bestimmten Handlungszügen entschließen. Man erfährt bei der Lektüre kaum, was Joseph oder die anderen Akteure bei ihrem Handeln antreibt oder bestimmt. Dies wird sprachlich in aller Regel offengelassen und in die Imagination der Leserschaft verlegt. Der pragmatische Effekt dieser literarischen Maßnahme besteht darin, dass die Leserinnen und Leser diese Motivationen jeweils für sich rekonstruieren müssen. Was geht in Joseph vor, wenn er sich seinen Brüdern nicht zu erkennen gibt, als sie das erste Mal nach Ägypten kommen, um Getreide zu kaufen? Weshalb behält er Simeon zurück, und weshalb will er Benjamin gefangen setzen? Weshalb gibt er sich zu erkennen? Auf diese Fragen sind unterschiedliche Antworten möglich. Der narrative Verlauf der Josephsgeschichte macht dabei bestimmte Auslegungen wahrscheinlicher als andere. Die so geforderte Mitarbeit der Leserinnen und Leser beim Prozess des Verstehens der Josephsgeschichte zwingt sie, sich umfassend in die das Verhalten der Akteure bestimmenden Determinanten hineinzudenken und deren komplexe Wechselwirkungen zu rekonstruieren. Damit hängt ein zweiter Punkt zusammen. Bildung in der Josephsgeschichte ist Bildung durch Erfahrung, nicht durch Unterricht oder Unterweisung. Josephs Prozess der Veränderung ergibt sich nicht aus Belehrungen, sondern aus seinem Schicksal. Die Leserinnen und Leser werden durch die Lektüre von Gen 37–50 an ihre eigene Erfahrung gewiesen, die sie in ihrer Selbstwahrnehmung verändern kann. Selbstverständlich werden diese Erfahrungen nicht von einer solchen Dramatik sein wie diejenigen, die Joseph gemäß Gen 37–50 macht: Man hat die Josephsgeschichte auch schon als Josephsnovelle bezeichnet, da in ihr – mit Goethes Beschreibung im Gespräch mit Johann Peter Eckermann – eine »unerhörte Begebenheit« 12 erzählt werde. Gewissermaßen in einem Schluss a maiori ad minus lässt sich aber die Josephsgeschichte als Impulsgeberin für die Interpretation der eigenen Lebensgeschichte heranziehen. Die Leserschaft der Josephsgeschichte wird eingeladen, sich anhand der Quintessenz der Erzählung in Gen 50,19f 13 zu fragen: ‫כי התחת אלהים‬ ‫» אני‬Bin ich denn an Gottes statt?« Es ist gerade der mit Macht ausgestattete Joseph, der sich nun explizit von Gott unterscheidet (im Gegensatz zu

11 Vgl. etwa für Gen 22 K. Schmid, Die Rückgabe der Verheißungsgabe. Der »heilsgeschichtliche« Sinn von Genesis 22 im Horizont innerbiblischer Exegese, in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog, FS O. Kaiser (BZAW 345/I), Berlin /New York 2004, 271– 300. 12 J.W. Goethe, Gespräch vom 29. Januar 1827, zitiert nach E. Trunz (Hg.), Goethes Werke, Bd. VI, Hamburg 1960, 726. 13 Vgl. o. Anm. 8.

Die biblische Josephsgeschichte als Bildungsroman?

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seinem zweiten Traum in Gen 37,9f). Die Position der Stärke ermöglicht es Joseph erst, seine Grenze anzuerkennen. Und – Josephs eigene Deutung des Geschehens (‫ואתם חשׁבתם עלי‬ ‫» רעה אלהים חשׁבה לטבה‬ihr zwar habt Böses gegen mich geplant, Gott aber hat es zum Guten gewendet«) offeriert eine mögliche Perspektive auf eigene Erfahrungen der Leserschaft, hinter bestimmten Ereignissen so etwas wie eine göttliche Führung zu erkennen. Die Josephsgeschichte legt dabei größten Wert darauf, dass diese Deutung nicht auf der Ebene der Erzählung selbst lokalisiert wird, sondern – im Modus der direkten Rede – vielmehr als subjektive Interpretation des Protagonisten selbst dargestellt wird. Die Botschaft der Josephsgeschichte an ihre Leserschaft lautet nicht: Gott wirkt im Verborgenen. Vielmehr zeigt sich aufgrund dieser literarischen Stilisierung: Gott lässt sich als im Verborgenen Wirkender sehen. Es handelt sich um eine Möglichkeit, nicht mehr und nicht weniger. Abstract The following article discusses the idea that the Biblical Joseph’s Narrative (Gen 37–50) anticipates important elements of what 18th century authors like Johann Wolfgang von Goethe, Novalis, and Gottfried Keller developed as the genre “Bildungsroman”. This thesis is demonstrated on two levels. First, the text describes its protagonist’s development as a person, his “Bildungsweg”, in more detail than most other Biblical narratives. Second, the Joseph’s Narrative also opens space for processes of “Bildung” on the side of its readers who can find orientation both at the narrative and at its main character, the figure of Joseph. Konrad Schmid, Dr. theol., geb. 1965, ist Professor für Alttestamentliche Wissenschaft und Frühjüdische Religionsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich.

Micha Brumlik

Prophetie und Bildung 1.

Vorbemerkungen

Das Verhältnis von »Prophetie« und »Bildung« zu bestimmen, ist schon deshalb problematisch, weil es in der Sprache der Hebräischen Bibel keinen Begriff für Bildung bzw. kein genaues Analogon zu dem griechischen »Paideia« 1 gibt. Viel eher geht es um unterschiedliche Formen des Lehrens und Lernens. Hier besteht eine Spannung, mehr noch: auf den ersten Blick eine grundsätzliche Differenz – gewiss beinhalten auch Bildungsprozesse starke Elemente des Lehrens und Lernens, allerdings doch stets mit Blick auf einen starken Eigenanteil des sich bildenden Subjekts. Lässt sich dies auch in den prophetischen Büchern nachweisen? Zunächst jedenfalls erscheint das von Gott erwählte Volk Israel eher als ein Lernmittel, vielleicht sogar als eine Gruppe von Lehrenden: Und er sprach: Zu wenig ist es, dass Du mein Diener, um die Stämme Jakobs aufzurichten, und die von Israel zurückzubringen, die bewahrt worden sind. Zum Licht für die Nationen werde ich Dich machen, damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht. (Jesaja 49,6)

Hier, bei Jesaja, geht es um eine grundsätzliche Aufforderung, eine Weisung, die sich so im christlichen Glauben nicht findet – sieht man einmal vom Missionsbefehl des Auferweckten (Matthäus 28,19: »Gehet hin in alle Völker«) ab. Tatsächlich geht es in den jesajanischen Versen um den geschichtstheologischen Auftrag, mehr noch: die Verheißung an Israel (das sich damals noch nicht als »jüdisches Volk« verstand), als »Licht unter den Völkern« bis ans Ende der bekannten Erde zu wirken. Das war eine Position, die im 19. Jahrhundert bedeutende Gelehrte wie etwa Hermann Cohen als Inbegriff des Judentums verstanden. In seinem postum, 1918, erschienenen religionsphilosophischen Hauptwerk, der »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums«, heißt es dazu und in genau diesem Sinne: Das geschichtliche Leiden Israels gibt ihm seine geschichtliche Menschenwürde, seine tragische Mission, welche seinen Anteil an der göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts darstellt. [. . . ] Es ist eben nicht ein trauriges Schicksal der Juden, für die Verbreitung des Monotheismus zu leiden, sondern das Leiden bildet vielmehr seinen tragischen Beruf;

1

W. Jäger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin /New York 1989.

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denn es beweist den Herzensanteil dieses Glaubensvolkes an der Bekehrung der Völker. 2 Es ist kein Zufall, dass Cohen hier Lessing mit der »Erziehung des Menschengeschlechts« zitiert und ein Lehren und Lernen aus Leiden beschwört. 2.

Das Judentum: Eine Religion des Lernens 3

Tatsächlich: Das Judentum ist eine lernende Religion, oder anders, eine Religion, eine Kultur des Lernens. Im Judentum jedenfalls standen Lehren und Lernen seit Anbeginn im Horizont intergenerationeller Beziehungen. So kennt die alltägliche und festtägliche jüdische Liturgie, die Gebetsordnung des rabbinischen Judentums, zwei zentrale Gebete: einerseits das »Höre Israel«, das ein direktes Zitat aus dem Deuteronomium (6,4–9) ist, sowie andererseits das nur im Kreise von mindestens zehn Erwachsenen und im Stehen zu sagende Achtzehnbittengebet. Beide Gebete gehören zur synagogalen Liturgie – frühestens seit dem dritten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung, spätestens seit dem frühen zweiten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung. Das synagogale »Schma Israel« (Deut 6,4–9) beginnt in seinem ersten Absatz mit dem Satz: »Höre Israel, der Ewige, unser Gott, der Ewige ist einzig« worauf ein so in der Bibel nicht fixierter Einschub erfolgt: »Gelobt sei der Name der Herrlichkeit seines Reiches immer und ewig«. Dem folgt dann ein Katalog von Weisungen: Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele und deinem ganzen Vermögen. Es seien diese Worte, die ich dir heute befehle, in deinem Herzen. Schärfe sie deinen Kindern ein und sprich von ihnen, wenn du in deinem Hause sitzest und wenn Du auf dem Weg gehst, wenn du Dich niederlegst und wenn du aufstehst. Binde sie zum Zeichen auf deinen Arm, und sie seien zum Denkband auf deinem Haupte. Schreibe sie auf die Pfosten deines Hauses und deiner Tore. Das »Schma Israel«, das »Höre Israel«, hebt somit mit einer eigentümlichen Verschränkung von Aufforderung und Aussage an und gleicht insofern einem Lehrvortrag: Als erstes wird die Gemeinde aufgefordert, 2 H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Eine jüdische Religionsphilosophie, Wiesbaden 2008, 349. 3 Hier nehme ich Passagen aus meinem Artikel »Jüdische Bildung und Erziehung« auf, der in dem von Jochen Sautermeister und Elisabeth Zwick herausgegebenen Band »Religion und Bildung: Antipoden oder Weggefährten? Diskurse aus historischer, systematischer und praktischer Sicht« erschienen ist (M. Brumlik, Jüdische Bildung und Erziehung, in: J. Sautermeister /E. Zwick (Hg.), Religion und Bildung: Antipoden oder Weggefährten? Diskurse aus historischer, systematischer und praktischer Sicht, Leiden u.a. 2019, 285– 291).

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eine Tatsache zu akzeptieren und zu verstehen, nämlich, dass der Gott Israels ewig und einzig ist, eine Behauptung, die in einer polytheistischen Umwelt offenbar so wenig selbstverständlich war, dass sie mit allerlei Merkzeichen immer wieder beglaubigt und weitergegeben werden musste. Einzigartigkeit und verbürgte Zuwendung (»unser Gott«) sind die Gründe für die folgende Aufforderung, Gott zu lieben, und zwar mit der ganzen Persönlichkeit, mit allen Worten, Gedanken und Taten. Dazu ist zu erklären, dass im alten Orient »Lew« (Herz) – anders als heute – nicht für Gefühl und Emotion stand, sondern für Persönlichkeit und Verstand, während »Nefesch« (Seele) und »Meod« (Verstand) so viel wie Lebenskraft und Klugheit bedeuteten. Dass hier, im »Höre Israel«, »Liebe«, »Gottesliebe« gewiesen wird, ist deshalb kein Paradox, weil es sich bei diesem Begriff von Liebe gerade nicht um ein romantisch aufflackerndes, nur spontan, letztlich unverfügbares Gefühl handelt, sondern um die Haltung tätiger Zuwendung, einer Liebe, die sich nicht im Sehnen und Trachten, sondern eben im Befolgen der Weisung, der Tora, erweist. Die folgenden Passagen des »Höre Israel« (Deut 11,13) stellen dann das Verhältnis von Tun und Ergehen, von Weisung und Leben ins Zentrum: Und es sei, wenn ihr auf meine Weisungen hört, die ich euch heute weise, den Ewigen, euren Gott zu lieben und ihm zu dienen mit eurem ganzen Herzen und eurer ganzen Seele. So werde ich den Regen eures Landes zu seiner Zeit geben, Frühregen und Spätregen, du wirst dein Getreide einsammeln und deinen Most und dein Öl [. . . ]. Auf dass sich eure Tage vermehren und die Tage eurer Kinder auf dem Erdboden, den der Ewige euren Vätern zugeschworen, ihnen zu geben, wie die Tage des Himmels über der Erde. Die Weisung ermöglicht es, Gott zu lieben, während sich umgekehrt die Liebe zu Gott im Erfüllen seiner Weisungen erfüllt. Auf jeden Fall: Die für eine Theorie des Lernens und damit des Fortbestandes des Judentums im Horizont der Tora entscheidenden Aussagen des »Schma Israel« finden sich in dem Abschnitt: »Es seien diese Worte, die ich dir heute befehle, in deinem Herzen. Schärfe sie deinen Kindern ein und sprich von ihnen, wenn du in deinem Hause sitzest und wenn Du auf dem Weg gehst.« Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die Formulierung »Schärfe sie deinen Kindern ein« – und zwar deshalb, weil die Empfänger der Lehre im Vertrauen darauf, dass Gottes Weisung gut ist, bereit sind, der Weisung zuerst zu willfahren, um sie erst dann, in einem darauffolgenden, zweiten Schritt kritisch zu erörtern – »Naasseh ve nischma«, d.h. »Wir werden es tun und dann hören«. Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas verbindet das Prinzip des »Naasseh ve nischma«, aus Exodus 24,7, also des »Wir werden es tun und dann hören«, mit der Idee radikaler zwischenmenschlicher Verantwortlichkeit, der Diakonie, wie Levinas sie in Jesaja 53, den sogenannten Got-

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tesknechtsliedern, vorfindet. Die diesem Gedanken vorgeschaltete Passage Exodus 24,7, also die Bereitschaft, Gott und seiner Weisung zu vertrauen, bereit zu sein, der Weisung zuerst zu entsprechen und sie erst dann kritisch anzuhören, stellt demnach einen Ausdruck des Vertrauens in die Güte von Gott und seiner Weisung dar. Nach diesen grundsätzlichen Vorklärungen soll nun im Folgenden der Versuch unternommen werden, prophetische Lern- und Bildungsprozesse an einem Fall exemplarisch nachzuvollziehen. Sich in dieser Frage auf alle prophetischen Schriften zu beziehen, würde das hier vorgegebene Format sprengen. Wenn es gelänge, in einem exemplarischen Falle grundlegende Strukturen eines prophetischen »Bildungsverständnisses« zu gewinnen, wäre für das Weitere bereits viel erreicht. Die leitende Vermutung lautet jedenfalls, dass sich das Bildungsverständnis auch der Propheten an der paradox klingenden Aussage »Wir werden es tun und dann hören« orientiert. Aber mehr noch: Zum prophetischen Bildungsbegriff gehört die gebieterische Warn- und Drohrede unabweisbar dazu. Im Folgenden wird dieser Gedanke am Beispiel des Propheten Amos entfaltet. 3.

Amos

Amos als einer der ältesten Schriftpropheten verkündet ein moralisches sowie völkerrechtlich-ethisches Bildungsprogramm für die ganze Menschheit. 4 Im ersten Kapitel des Amos-Buches wird in 1,3–5 das Land Aram dafür gescholten, Gilead mit eisernem Schlitten gedroschen zu haben. In 1,6–8 sollen die Philister bestraft werden, weil sie ganze Ortschaften gefangengenommen haben, um sie an Edom auszuliefern, während in 1,9 die Phönizier bestraft werden sollen, weil sie Verträge nicht eingehalten haben. Edom selbst wiederum soll in 1,11–12 dafür bestraft werden, weil es »seinen Bruder mit dem Schwert verfolgte, sein Erbarmen erstickte, seinen Groll nährte, und seinen Grimm bewahrte für ewige Zeiten«. Ammon wird in 1,13–14 bestraft, weil es den schwangeren Frauen von Gilead den Bauch aufgeschlitzt hat, um eigenes Gebiet zu erweitern, während Moab

4 Hier nehme ich Passagen aus meinem Beitrag »Prophetisches Völkerrecht und Heiligung des Menschen« auf, der in dem von Friedrich Johannsen herausgegebenen Band »Die Menschenrechte im interreligiösen Dialog. Konflikt- oder Integrationspotential?« (M. Brumlik, Prophetisches Völkerrecht und Heiligung des Menschen, in: F. Johannsen [Hg.], Die Menschenrechte im interreligiösen Dialog. Konflikt- oder Integrationspotential?, Stuttgart 2013, 99–110) und in dem von Severin J. Lederhilger herausgegebenen Band »Gott verlassen. Menschenwürde und Menschenbilder – 8. Ökumenische Sommerakademie Kremsmünster 2006« (M. Brumlik, Prophetisches Völkerrecht und Heiligung des Menschen, in: S.J. Lederhilger [Hg.], Gott verlassen. Menschenwürde und Menschenbilder – 8. Ökumenische Sommerakademie Kremsmünster 2006, Frankfurt 2007, 77–90) erschienen ist.

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angeklagt wird, die Gebeine des Königs von Edom verbrannt zu haben. Schließlich wird in 2,4 das Königreich Juda angeklagt, Gottes Satzungen verworfen zu haben und Götzen nachgelaufen zu sein, während Israel, in dem Amos selbst wirkt, angeklagt wird, für Geld Unschuldige verkauft, die Armen bedrängt und Kultprostitution betrieben zu haben. So scheint der Prophet seine Hörer mit drei Rechtskreisen zu konfrontieren: erstens dem der – mit Ausnahme der Philister – sprachlich verwandten, nordsemitisch-kanaanäischen Fremdvölker, 5 zweitens dem des gleichen Gott verehrenden Staates Juda und jenem des eigenen Staates Israel. Dass es bei den von Amos im Namen Gottes verkündeten Normen, gegen welche die Fremdvölker verstoßen haben, um übergreifende, nicht um parteiliche Normen geht, wird etwa daran deutlich, dass einerseits Edom dessen geziehen wird, unbarmherzig seinen Bruder verfolgt zu haben, dass aber andererseits Moab dafür behaftet wird, die Gebeine des Königs von Edom verbrannt zu haben. Der Hauptvorwurf gegen Juda besteht darin, Gottes (des gemeinsamen Gottes) Weisung verlassen zu haben. Hier wird – anders als in den Völkersprüchen – an eine gemeinsame Glaubensbasis, eine gemeinsame Bundesvergangenheit appelliert. Die Vorwürfe schließlich, die Amos an seine eigene Gesellschaft richtet, sind sowohl sozial- als auch religionspolitischer Art, 6 sie gelten der Bedrängung der Armen und der Kultprostitution – von Mord, Totschlag, Bruch der Verträge oder Leichenschändung ist hier nirgends die Rede. Man wird mithin erstens davon ausgehen müssen, dass Amos einen Verhaltenskodex formuliert, der auch dann als verbindlich gilt, wenn die Adressaten nicht Teil der Bundesgeschichte Israels sind, und deshalb zweitens fragen müssen, welche die Legitimationsquellen dieser Ansprüche sind. Schließlich ist zu fragen, warum Amos in seinen Völkersprüchen ausschließlich die kleinen, sprachlich verwandten kanaanäischen Staaten erwähnt, die in ihren Taten aber gewiss mindestens ebenso verurteilungswürdigen Großmächte Ägypten und Assyrien völlig auslässt? Stellen die Rechtskreise des Amos am Ende doch nur ein System von weiter und enger gefassten Verwandtschafts- und Verbindlichkeitskreisen dar? Bevor diese Fragen beantwortet werden, seien aber zuvor die Hauptnormen dessen zusammengefasst, was Amos als ein mindestens kanaanäisch-nordsemitisches Völkerrecht postuliert hat: Erstens ist es verboten, die landwirtschaftliche Infrastruktur eines Feindes zu zerstören. Zweitens ist es verboten, ganze Bevölkerungen zu versklaven und auszuliefern. Drittens ist es verboten, internationale Verträge zu brechen. Viertens ist es verboten, einen unversöhnlichen Bürgerkrieg zu führen. Fünftens ist 5 Zum historischen Hintergrund auch der kanaanäischen Nachbarn vgl. K. A. D. Smelik, Historische Dokumente aus dem Alten Israel, Göttingen 1987. 6 Zum sich universalisierenden Binnenrecht Israels und Judas vgl. F. Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München 1992.

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es verboten, schwangere Frauen und ihre Leibesfrucht mit dem Ziel zu vernichten, die eigene Herrschaft zu erweitern. Sechstens ist es verboten, die Leichen – zumal die Leichen ausländischer Herrscher – zu schänden. Infrastruktur, bestehende und zukünftige Bevölkerung, internationale Verträge und innerer Frieden sowie legitimes herrscherliches Prestige – das sind die Rechtsgüter, die in Amos’ Völkersprüchen geschützt werden, Rechtsgüter, die offensichtlich nicht individueller Art sind, sondern den einzelnen Individuen genau dadurch Schutz gewähren, dass sie im Prinzip wechselseitig anerkannte, legitime Güter von Klein- und Stadtstaaten einer sich als verwandt fühlenden Sprachfamilie sind. Die Quelle dieser Gemeinsamkeit sieht Amos in einer Reihe von Bundesschlüssen, die jener Gott, den Juda und Israel als den ihren unter seinem eigenen Namen anerkennen, eigens – und das findet sich so ausschließlich bei Amos – mit anderen Völkern geschlossen hat: »Seid ihr mir nicht«, heißt es in Am 9,7, »gleich den Kuschiten, ihr Söhne Israels, spricht Jahwe. Habe ich nicht Israel aus dem Land Ägypten herausgeführt und die Philister aus Kaphtor und die Aramäer aus Kir?« Indem der Prophet einerseits darauf beharrt, dass es derselbe Jahwe ist, der mit anderen Völkern Befreiungsbündnisse geschlossen hat, er andererseits aber keinen Zweifel daran lässt, dass es sich dabei um Bünde eigener Art handelt, gelingt es ihm, am strikten Monotheismus festzuhalten und gleichwohl eine situationsbedingte Spezifikation monotheistischer Normen zu behaupten. Die Propheten waren in politischer Hinsicht keine religiösen Missionare anderer Völker und beließen diesen im historischen Kräftespiel durchaus ihren eigenen Glauben; allenfalls bauten sie in eschatologischer Perspektive auf eine allgemeine Bekehrung der Völker. Moshe Weinfeld 7 kommt in seinem resümierenden Überblick über eine Reihe verschiedener Propheten zu einer Liste von Vergehen, die beinahe identisch ist mit dem Bruch jener Normen, die Amos für wesentlich hielt: Ausrottung von Völkern, Zerstörung von Städten und Verwüstung von Ländern, Grenzversetzungen, Plünderung und Ausbeutung von Völkern, Absetzung nationaler Führer, Vertreibung der Einwohner. Betrachtet man nun die nur aus dem jeweiligen Kontext heraus verständliche Reichweite der Kritik im Namen dieses früh hochkulturellen Völkerrechts, das noch keine unmittelbaren Menschenrechte kennt, so wird deutlich, wie falsch sowohl Max Webers in »Wirtschaft und Gesellschaft« vorgebrachte Kritik der Propheten als intellektuelle Demagogen und wie treffend Michael Walzers Charakterisierung prophetischer Politik war. 8 Gegen Weber ist zu sagen, 7 M. Weinfeld, Der Protest gegen den Imperialismus in der altisraelitischen Prophetie, in: S.N. Eisenstadt (Hg.), Kulturen der Achsenzeit. Ihre Ursprünge und ihre Vielfalt, Teil 1, Frankfurt am Main 1987, 240–257. 8 Vgl. M. Walzer, Der Prophet als Gesellschaftskritiker, in: ders, Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik, Frankfurt am Main 1993, 81–108.

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dass die immer an bestimmte Adressaten gerichteten Völkersprüche, die hier einige ausnehmen, um dort andere zu adressieren, von einem geschärften Bewusstsein der eigenen staatlichen, politischen und vor allem außenpolitischen Situation zeugen. Dieses geschärfte Bewusstsein unterschiedlicher Propheten, das einmal kleinere Mächte in den Blick nimmt, um die Großmächte auszulassen, dort die Großmächte angreift, 9 um die kleineren Mächte zu vernachlässigen, und das übrigens am Ende einmütig für eine bestimmte Großmacht als Träger universalen Rechts votiert, nämlich für das aufstrebende Perserreich des Kyros (»So spricht der Herr zu Kyros« – heißt es in Jesaja 45,1–2 – »den ich bei seiner rechten Hand ergriff, dass ich Völker vor ihm niederwerfe [. . . ] Ich will vor dir hergehen und das Bergland eben machen«), präsentiert in der Substanz wenig anderes als einige in ihren Auslassungen durchaus verantwortungsethisch geschärfte praktikable Maximen, die aber, anders als Walzer das wollte, sich keineswegs nur auf den Binnenraum der israelitischen und judäischen Gesellschaft beziehen. Freilich haben auch die damaligen Großmächte, etwa Assyrien, so etwas wie ein Völkerrecht als Vasallenrecht schon gekannt. 10 Die ein Völkerrecht verkündenden biblischen Propheten erweisen sich aber im Unterschied dazu mit ihrer Betonung wechselseitiger Rechte und Pflichten nicht nur als engagierte Bürger ihrer eigenen Kultur, sondern in ihren – innenund religionspolitische Fragen weitgehend ausklammernden – Fluchsprüchen zwar nicht als Kosmopoliten im strikt universalistischen Sinne, aber doch als engagierte Bürger einer Koine; als Bürger eines ihnen in seinen ethnischen und geographischen Grenzen bekannten Völkerkosmos, den sie im Ganzen von einem übergeordneten göttlichen Recht durchwaltet sahen, das anderer Art war als die Tora 11, sich aber auch von der Minimalethik der noachidischen Tora 12, die als Adressaten alle einzelnen Individuen hatte, deutlich unterschied. Es ist der erstmals bei Amos im achten Jahrhundert entwickelte Gedanke, dass der eine Gott als letzte Rechtsquelle mit ihrem Wesen nach verschiedenen politischen Gemeinschaften in je eigener, aber gleichwohl universaler Verbindlichkeit Bünde schließt, der es erlaubt, die Grenzen der Binnensolidarität zu überwinden. Dieses Recht, das von einer integralen Einheit der Menschen mit ihren staatlichen Gemeinschaften ausging,

9 Zur außenpolitischen Situation allgemein vgl. H. Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen, Teil 2, Göttingen 1986, sowie R. Albertz, Religionsgeschichte in alttestamentlicher Zeit, Göttingen 1992. 10 Vgl. W. Beyerlin (Hg.), Religionsgeschichtliches Textbuch zum Alten Testament, Göttingen 1985, 153ff. 11 Vgl. Crüsemann, Die Tora. 12 K. Müller, Eine Tora für die Völker. Die noachidischen Gebote und Ansätze zu ihrer Rezeption im Christentum, Berlin 1998.

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kannte eine rechtsgeschützte Individualität im engeren Sinne nicht. Der Gedanke des Schutzes eines Individuums ohne den gleichzeitigen Schutz der Integrität jener Gemeinschaft, in der es lebt, war den Propheten als Denkern einer konnektiven Tun /Ergehen-Solidarität nicht fassbar. Indem sie aber den Gedanken eines Völkerindividuen einander verpflichtenden Rechts postulierten, eines Rechts, das kraft der Betonung der Integrität des Gemeinwesens auch die Integrität der einzelnen, in ihm lebenden Menschen garantierte, haben sie eine Idee vorgedacht, die erst dann wieder zum Ausdruck kommen konnte, als die Engführungen des Jus Europaeum Christianum durch die Staatsdenker der Aufklärung überwunden wurden.

4.

Ausblick – der prophetische und rabbinische Bildungsprozess

Vor diesem Hintergrund wird es nun möglich, eine erste Hypothese über einen prophetischen Bildungsbegriff aufzustellen. Am Anfang steht die Erwählung eines Volkes durch den einzigen Gott. Eine Erwählung, die – wie sich bei Amos zeigt – keineswegs nur die Israels sein muss. Auf die Erwählung, die sich im befreienden Handeln Gottes manifestiert, folgt dann – nicht nur am Sinai – Gottes Weisung, verbunden mit einem Bundesschluss. In dankbarer Entgegennahme der Weisung sowie im unbedingten Willen, ihr Folge zu leisten, tritt in den prophetischen Schriften die Bereitschaft, der Weisung zu willfahren und sie erst dann, später, zu deuten. Erst sehr viel später, im rabbinischen Judentum, wurde das universalistische Recht der Völker durch eine weitere, im engeren Sinne menschenrechtliche, Präzisierung auch individualisiert, mehr noch, wurde klar, dass ein Hören auf die Weisung ohne deren Deutung, ohne deren Interpretation nicht möglich war. So versteht das rabbinische Judentum die Auslegung von Gottes Willen allemal als abhängig von den rabbinischen Interpretationsgemeinschaften und ihrer Geschichte, mehr noch: 13 das rabbinische Denken hat sogar gewagt, Gott selbst als Mitglied dieser Interpretationsgemeinschaft explizit auszuschließen und so eine Theorie der Selbstentmachtung und Preisgabe Gottes zu skizzieren, die sich von der grausamen und blutigen Selbstentmachtungslehre Gottes, wie sie die christliche Kreuzestheologie

13 Im Folgenden verwende ich einen Abschnitt aus meinem Beitrag »Das rabbinische Verständnis theologischer Wahrheit – ein Vorläufer pragmatistischer Wahrheitstheorien?«, der in dem von Michael Kühnlein und Matthias Lutz-Bachmann herausgegebenen Band »Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor« erschienen ist (M. Brumlik, Das rabbinische Verständnis theologischer Wahrheit – ein Vorläufer pragmatistischer Wahrheitstheorien?, in: M. Kühnlein /M. Lutz-Bachmann [Hg.], Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor, Berlin 2011, 780–796).

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aufweist, doch erheblich unterscheidet: »Es wird gelehrt«, heißt es im Traktat »Bawa Mezia« (59a/59b), dem »Mittleren Tor« im Buch »Nesikin« (Schändigungen), das sich mit Problemen des Eigentumsrechts auseinandersetzt: A. An jenem Tage brachte Rabbi Elieser alle Einwendungen der Welt vor. Aber sie nahmen diese nicht von ihm an. Er sagte zu ihnen: Wenn die Halacha meiner Meinung entspricht, so wird es dieser Johannisbrotbaum beweisen. Da rückte der Johannisbrotbaum hundert Ellen weit von seinem Ort, andere sagen: vierhundert Ellen. Sie sagten zu ihm: Von dem Johannisbrotbaum bringt man keinen Beweis. Wiederum sagte er zu ihnen: Wenn die Halacha meiner Meinung entspricht, so wird es dieser Wasserlauf beweisen. Da zog sich der Wasserlauf zurück. Sie sagten zu ihm: Von dem Wasserlauf bringt man keinen Beweis. Wiederum sagte er zu ihnen: Wenn die Halacha meiner Meinung entspricht, so werden es die Wände des Lehrhauses beweisen. Da neigten sich die Wände des Lehrhauses, um einzustürzen. B. Da bedrohte sie Rabbi Jehoschua und sagte zu ihnen: Wenn Gelehrte miteinander um den Sieg der Halacha ringen – ihr da, was ist denn das für eine Art von euch. Sie stürzten nicht ein wegen der Ehre Rabbi Jehoschuas, und sie richteten sich nicht auf wegen der Ehre Rabbi Eliesers. Und noch immer stehen sie geneigt. C. Wiederum sagte Rabbi Elieser zu ihnen: Wenn die Halacha meiner Meinung entspricht, so werden sie es vom Himmel her beweisen. Da ging eine Hallstimme hervor und sprach: Was habt ihr mit Rabbi Elieser? Die Halacha ist auf jeden Fall, wie er sagt. D. Da stellte sich Rabbi Jehoschua auf seine Füße und sagte »Nicht im Himmel ist sie«. Was bedeutet »Nicht im Himmel ist sie«? Rabbi Jirmeja sagte: daß die Weisung schon am Berg Sinai gegeben worden ist. Wir kümmern uns nicht um eine Art Stimme, denn schon am Berge Sinai hast du in die Weisung geschrieben: »Sich zur Mehrheit neigen«. E. Rabbi Natan traf Elia und sagte zu ihm: Was tat der Heilige, gelobt sei er in dieser Stunde? Er sagte zu ihm: »Er lächelte und sprach: meine Söhne haben mich besiegt, meine Söhne haben mich besiegt«. Damit liegt eine theologische Theorie der Wahrheit vor, die auf die Berufung auf einen bekannten und nur verkündeten absoluten göttlichen Willen ebenso verzichtet wie auf die Hoffnung, einen Gesichtspunkt jenseits der Geschichte einnehmen zu können – eine theologische Theorie zudem, die den Menschen und nur den Menschen die Verantwortung für das Schicksal von Gottes Weisungen zubilligt und aufbürdet, und vor allem dabei das Prinzip einer demokratischen Konsensbildung nicht scheut. Midrasch Tehillim 12:4 beglaubigt dies ausdrücklich: R. Yannai sagte: Die Worte der Tora wurden nicht mit klar geschnittenen Entscheidungen gegeben. Für jedes Wort, das der Heilige, gelobt sei er, zu

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Micha Brumlik

Moses sagte, bot er ihm neunundvierzig Argumente, aufgrund derer ein Ding als unrein angesehen werden könnte. Als Moses fragte: Herr des Universums, wie sollen wir wissen, was der wahre Sinn einer Weisung ist? Gott antwortete: Man folge der Mehrheit, wenn die Mehrheit sagt, dies Ding ist unrein, ist es unrein, wenn die Mehrheit sagt, es ist rein, so ist es rein.

Spätestens mit dem rabbinischen Judentum des frühen zweiten Jahrhunderts wird dann unübersehbar, dass und wie das Denken der griechischen »Paideia« Eingang in ein Diskursuniversum findet, dessen Prinzip bisher im Gehorsam gegenüber einer befreienden Weisung »Naasseh ve nischmah« bestand. Der in Berkeley forschende und lehrende Judaist Daniel Boyarin hat in seiner 2009 publizierten Untersuchung »Socrates and the fat rabbis« 14 einerseits zu zeigen versucht, dass die vermeintliche Dialogizität der talmudischen Schriften in Wahrheit verkappte Monologe sind, musste aber andererseits doch einräumen, dass sowohl die platonische Philosophie als auch die talmudischen Traktate dialogisch gelesen werden können. 15 Das heißt, Bildungsprozesse, sofern sie jüdisch gedacht werden, sind – wenn so pauschalierend zu schreiben zulässig ist – allemal dialogisch: entweder zweistellig im Dialog zwischen dem einen Gott und den von ihm erwählten Kollektiven, den Völkern, aber dann doch eben auch im mehrstelligen Dialog zwischen dem einen Gott sowie den vielen Individuen innerhalb der von ihm adressierten Völker, und – last but not least – im Dialog zwischen diesen Individuen. Damit aber wäre eine Brücke zum griechischen Verständnis von Bildung, nämlich zu »Paideia«, geschlagen. Abstract The Hebrew Bible does not know a term for “Bildung”. Nevertheless, it is possible to describe the contours of “Bildung” precisely with regard to the prophets. Isaiah and Amos can be cited as examples. In the background of all this is the insight that Judaism is supported by a living culture of teaching and learning. The Shma Israel is of special importance in this context. The order in the thought “We will do it and then listen” is groundbreaking in Jewish learning practice. This can also be seen as a leitmotif from the prophetic ethics of action, from which a prophetic understanding of “Bildung” can be derived. The rabbinical understanding of “Bildung” as an insight into the inevitability of one’s own positionality represents a further development of this prophetic approach. Prof. em. Dr. Micha Brumlik, geb. 1947, ist seit 2017 Seniorprofessor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, an der er von 2000 bis 2013 als Professor für »Theorien der Bildung und Erziehung« am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft forschte und lehrte. 14 15

Vgl. D. Boyarin, Socrates and the Fat Rabbis, Chicago 2009. Boyarin, Socrates, 341.

Matthias Ederer

Wie gebildet ist ein »weiser Sohn«? Spr 10,1–5 als Beispiel für »Bildung« in der biblischen Weisheit 1.

Bildung und Weisheit? Einführung und Fragestellung

Gibt es Bildung in der biblischen Weisheit? Wer mit den modernen Humanwissenschaften Bildung als (individuellen) Prozess einer »Selbstwerdung« des Menschen umschreibt, – der mit einer umfassenden Entfaltung der individuellen Fähigkeiten und Veranlagungen einhergeht, – der mit dem Erlangen von Meta-Ebenen verbunden ist, die die Gebildeten in die Lage versetzen, über sich selbst, ihre kulturellen und persönlichen Ressourcen, ihre Bedingtheiten und ihre Möglichkeiten zu reflektieren, – und der den Menschen zu einem (selbst-)verantwortlichen und vernünftigen Handeln befähigt; wer Bildung also in diesem modernen Sinne definiert, mag zunächst zögern, in den Weisheitstexten der Hebräischen Bibel nach einer in dieser Weise verstandenen (und damit klar von ›Erziehung‹ abgegrenzten) Bildung zu suchen. Immerhin nämlich präsentieren sich v.a. die Texte der sogenannten »klassischen Weisheit« (z.B. Spr) selbst als Texte der Erziehung, nicht jedoch der Bildung, machen sie doch beinahe durchgehend die fordernde, befehlende, werbende oder warnende Stimme von Eltern oder Lehrenden zum Subjekt der Unterweisung, 1 was zwangsläufig zur Folge hat, dass die explizit oder implizit angesprochenen Kinder /Schülerinnen und Schüler primär als Objekte eines Erziehungsvorgangs, nicht jedoch als Subjekte ihrer eigenen (Aus-)Bildung vorgestellt werden. Andererseits jedoch zeigt sich, dass mentale und soziale Prozesse und Dynamiken, die in zeitgenössischen Debatten unter dem Label ›Bildung‹ (mit-)verhandelt werden – z.B. die kritische Selbstverortung des Menschen in größeren Systemen (Gesellschaft, »Welt« bzw. Kosmos, . . . ) oder

1 Das Sprichwörterbuch wird durch seine Einleitung in Spr 1,1–7 ausdrücklich als ein »Lehrbuch« definiert, das den »Anfängern« grundlegend und umfassend Unterweisung vermitteln (vgl. v.a. Spr 1,2–4), zugleich aber auch die »Weisen« (vgl. V.5) ansprechen und sie zu tieferer Einsicht führen will. Vgl. z.B. die Auslegung von Spr 1,1–7 bei B. Schipper, Sprüche (Proverbien). Teilband 1: Proverbien 1,1–15,33 (BK.AT 17/1), Göttingen 2018, 117–133. Dieser unterweisende (erziehende) Duktus aber wird in den Lehrreden in Spr 1– 9, der ersten Teilsammlung des Sprichwörterbuchs, unmittelbar weitergeführt, wenn diese als Belehrung eines Sohnes durch seinen Vater (und seine Mutter) gestaltet sind.

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eine »Metareflexion« über Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Handelns –, biblischen Weisheitstexten alles andere als fremd sind. Zugleich jedoch gilt, dass die alttestamentlichen Weisheitstexte die entsprechenden Fragestellungen in ihrer eigenen Begrifflichkeit, auf der Basis eines altorientalischen Welt- und Menschenbildes und in spezifischer Schwerpunktsetzung diskutieren. Somit kann es kaum das Ziel des folgenden Beitrags sein, moderne Konzepte samt dazugehöriger Terminologie in biblischen Texten zu entdecken. Vielmehr ist die Frage zu stellen, inwieweit biblische Texte Problemstellungen und Erfahrungsbestände reflektieren, die in vergleichbarer Weise auch in zeitgenössischen Bildungsdebatten eine Rolle spielen – und es gilt, die biblischen Antwortversuche zur Sprache zu bringen. Exemplarisch soll dabei mit Spr 10,1–5 eine kompositorisch zentrale Perikope aus dem biblischen Sprichwörterbuch untersucht werden, die mit dem ‫( בן חכם‬ben ha¯ kha¯ m, ›weiser Sohn‹; 2 vgl. Spr 10,1b; ˘ vgl. auch Spr 13,1; 15,20) und dem ‫( בן כסיל‬ben kes¯ıl, ›törichter Sohn‹; vgl. Spr, 10,1c), zwei interessante Figuren bzw. »Typen« vorstellt, deren Charakterisierung Elemente und Motive aufnimmt, die sich als anschlussfähig an einen neuzeitlichen Bildungsbegriff erweisen. So trägt der ben ha¯ kha¯ m als erfolgreich Handelnder Züge eines »Gebildeten«, während sein ˘Antagonist, der ben kes¯ıl, sich durch das Fehlen von Kompetenzen und die Unfähigkeit zu adäquatem Handeln, also durch einen Mangel an »Bildung« – hier zunächst in einem weiten Sinne gesprochen –, »auszeichnet«. Kompositorisch eröffnet Spr 10,1–5 mit der »Präsentation« des ben ha¯ kha¯ m den zweiten Hauptteil des Sprichwörterbuchs, die Kapitel Spr ˘10,1–22,17 3, die durch die »Überschrift« in Spr 10,1a (‫)משלי שלמה‬ als Sammlung der Sprichwörter Salomos ausgewiesen sind. Betont an den Anfang dieses Buchteils gestellt, präsentiert sich der ben ha¯ kha¯ m ˘ 2 Das Nomen ‫ בן‬ist nicht an allen Belegstellen zwingend als Verwandtschaftsbegriff (›Sohn‹) zu lesen, sondern kann in einer Constructus-Verbindung auch den »Inhaber« einer Qualität oder Eigenschaft ausdrücken (vgl. P. Joüon /T. Muraoka, A Grammar of Biblical Hebrew, Rom 22009, § 129j.), so dass der ben ha¯ kha¯ m auch ein ›(typischer) Weiser‹ sein ˘ kann. In Spr 10,1(–5) jedoch – und interessanterweise auch in Spr 13,1; 15,20 –, steht der ben ha¯ kha¯ m stets seinem erfreuten Vater (bzw. in Spr 10,1; 15,20 sein jeweiliger Antagonist ˘ betrübten Mutter) gegenüber. Der ben ha¯ kha¯ m wird also faktisch an allen Belegstellen einer ˘ was die gewählte Übersetzung ›weiser Sohn‹ in Spr 10–22 als Sohn seiner Eltern präsentiert, mit einfängt. 3 Im Folgenden ist – mit Schipper – eine Unterteilung des Sprichwörterbuchs in sieben Abschnitte vorausgesetzt, die an die Bucheröffnung in Spr 1,1–7 anschließen: (I) Spr 1,8– 9,18; (II) 10,1–22,16; (III) 22,17–24,22; (IV) 24,23–34; (V) 25,1–29,27; (VI) 30,1–33; (VII) 31,1–31. Vgl. Schipper, Sprüche, 13. Diese Aufteilung ist – zumindest für Spr 1–29, d.h. für die ersten fünf Teilsammlungen – weitgehend Forschungskonsens. Unterschiedliche Positionen finden sich lediglich zur Unterteilung der beiden letzten Kapitel des Buchs (Spr 30–31). Vgl. dazu exemplarisch A. Meinhold, Die Sprüche. Teil 1: Sprüche Kapitel 1– 15 (ZBK.AT 16/1), Zürich 1991, 23–26; M. Saebø, Sprüche (ATD 16/1), Göttingen 2012, 357–358.

Wie gebildet ist ein »weiser Sohn«?

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den Rezipientinnen und Rezipienten der »Sprichwörter Salomos« als Identifikationsfigur, 4 was auch daran deutlich wird, dass an zwei weiteren, kompositorisch ebenfalls zentralen Stellen (Spr 13,1; 15,20) nochmals auf ihn rekurriert wird. Diese – zusammen mit Spr 10,1 – insgesamt drei Belege markieren den Anfang (Spr 10,1[–5]), das Zentrum (Spr 13,1[–2]) und den Abschluss (Spr 15,20 bzw. 15,19–24) von Spr 10,1–15,33, dem ersten Teilabschnitt von Spr 10,1–22,17, 5 und gewinnen so eine rahmende Funktion für Spr 10–15. 6 Neben seiner Funktion als Eröffnungstext der »Sprichwörter Salomos« (Spr 10,1–22,16) kann Spr 10,1(–5) zugleich auch an den ersten Hauptteil des Buchs, Spr 1,8–9,18, anschließen. Spr 1,8–9,18 ist durch Lehrreden geprägt, 7 die ihrerseits über die durchgehende Anrede an einen zu unterweisenden ›Sohn‹ (vgl. Spr 1,8; 2,1; 3,1.21; 4,1.10.20; 5,1; 6,20; 7,3) als elterliche Erziehung gestaltet sind. Der in Spr 10,1 vorgestellte »weise Sohn« ist somit von Spr 1–9 her als derjenige ›Sohn‹ wahrnehmbar, der die Belehrung seiner Eltern (vgl. Spr 1–9) gehört, angenommen und verinnerlicht hat – und nun für eine weiterführende Lehre (und Bildung?) bereit ist, die ihm in den »Sprichwörtern Salomos« (Spr 10,1–22,16) eröffnet wird. 8 In der nun folgenden Auslegung von Spr 10,1–5 ist die folgende Arbeitsübersetzung und Satzeinteilung vorausgesetzt: 9

4 Vgl. Saebø, Sprüche, 166. 5 Spr 10,1–22,16 wird in der Forschung relativ einhellig in die beiden Teilabschnitte Spr 10,1–15,33 und Spr 16,1–22,16 unterteilt, deren feinere Gliederung jedoch – z.T. auch abhängig vom jeweiligen methodischen und hermeneutischen Zugang – sehr unterschiedlich beschrieben und kontrovers diskutiert wird. Vgl. dazu z.B. Schipper, Sprüche, 580–595. 6 Vgl. R. Scoralick, Einzelspruch und Sammlung (BZAW 232), Berlin /New York 1995, 174–175. 7 Vgl. zur Komposition von Spr 1–9 ausführlich Schipper, Sprüche, 89–116. 8 Vgl. Meinhold, Sprüche, 165; O. Plöger, Sprüche Salomos (BK.AT 17), NeukirchenVluyn 1984, 123; Schipper, Sprüche, 617–618; M. Winkler, Das Salomonische des Sprichwörterbuchs (HBS 87), Freiburg 2017, 301–302. 9 Zur vorausgesetzten Satzabgrenzung vgl. die Biblia Hebraica transcripta Forschungsdatenbank 3.0 (http://www.bht.gwi.uni-muenchen.de/) (Zugriffsdatum: 06.08.2020). 10 Die Formulierung ‫( כף רמיה‬Spr 10,4a) wird bisweilen auch mit ›trügerische Waagschalen‹ übersetzt (vgl. z.B. E. Ginsburg, Mishle. Proverbs. A new Translation with a Commentary anthologized from Talmudic, Midrashic, and Rabbinic Sources. Volume I: Chapters 1–15 (ArtScroll Tanach Series), New York 1998, 174–175.), was lexikalisch durchaus möglich ist und mit dem Thematisieren einer betrügerischen Absicht, die den Betrüger letztlich doch arm macht, eine deutlich andere Akzentsetzung in Spr 10,4 aufscheinen lässt, als die oben vorgeschlagene Übersetzung. Für letztere spricht, dass ‫ רמיה‬in den weiteren Belegstellen in Spr (vgl. Spr 12,24.27; 19,15), die jeweils auch erkennbar auf Spr 10,4 rekurrieren, an keiner Stelle eine (manipulierte) Waage, sondern stets eine Hand(fläche) bezeichnet (zu Spr 12,24.27 s.u.).

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Die Sprichwörter Salomos Ein weiser Sohn erfreut einen Vater, ein törichter Sohn aber ist die Sorge seiner Mutter. Nicht nützen Schätze von Frevel, Gerechtigkeit /gerechtes Handeln aber rettet vor dem Tod. Nicht lässt JHWH hungern die næphæš eines Gerechten, das Verlangen von Frevlern aber stößt er zurück. Arm macht eine Hand(fläche) von Laxheit, 10 eine Hand von Fleißigen aber lässt reich werden. Wer einsammelt im Sommer, ist ein verständiger Sohn, wer schläft während der Ernte(zeit), ist ein schändlicher Sohn.

2.

‫משלי שלמה‬

1a

‫בן חכם ישמח אב‬

1b

‫ובן כסיל תוגת אמו‬

1c

‫לא יועילו אוצרות רשע‬

2a

‫וצדקה תציל ממות‬

2b

‫לא ירעיב יהוה נפש צדיק‬

3a

‫והות רשעים יהדף‬

3b

‫ראש עשה כף רמיה‬

4a

‫ויד חרוצים תעשיר‬

4b

‫אגר בקיץ בן משכיל‬

5a

‫נרדם בקציר בן מביש‬

5b

Die Struktur von Spr 10,1b–5

Spr 10,1(b)–5 besteht aus fünf jeweils antithetisch formulierten Sprüchen, die die Thematik des (wirtschaftlichen) Erfolgs bzw. des Erwerbs und Nutzens von Reichtum behandeln. 11 Auffällig ist dabei, dass V.2–3 und V.4–5 – auf formaler bzw. syntaktischer Ebene ebenso wie auf inhaltlicher – deutlich als Spruchpaare profiliert sind. 12 In besonderer Weise gilt dies von den Versen Spr 10,2– 3, die Frevel und gerechtes Handeln (V.2) bzw. Gerechten und Frevler (V.3) einander gegenüberstellen. Sie lassen mit der Abfolge von je einem ‫לא‬-jiq.tol-x- (V.2a.3a) und einem w=x-jiq.tol-Satz (V.2b.3b) eine syntaktisch exakt parallele Gestaltung erkennen, in die allerdings thematisch eine chiastische Anordnung eingeschrieben ist (vgl. ‫ צדקה‬bzw. ‫ צדיק‬in V.2b.3a, ‫ רשע‬bzw. ‫ רשעים‬in V.2a.3b). 13

11 Vgl. Meinhold, Sprüche, 165; B. Waltke, The Book of Proverbs. Chapters 1–15 (NICOT), Grand Rapids 2004, 450–451. 12 Vgl. H.F. Fuhs, Sprichwörter (NEB 35), Würzburg 2001, 75; Meinhold, Sprüche, 165; R.E. Murphy, Proverbs (WBC 22), Nashville 1998, 72; Winkler, Salomonische, 302. 13 Vgl. Meinhold, Sprüche, 166; Saebø, Sprüche, 167; Scoralick, Einzelspruch, 172; Waltke, Proverbs, 452–453; Winkler, Salomonische, 302–303.

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Wie gebildet ist ein »weiser Sohn«? ‫לא ירעיב יהוה נפש‬ ‫צדיק‬

3a

‫והות רשעים יהדף‬

3b

x

‫לא יועילו אוצרות‬ ‫רשע‬

2a

‫ לא‬-jiq.tol-x

‫וצדקה תציל ממות‬

2b

w=x-jiq.tol

Die beiden Sprüche V.4.5 sind v.a. thematisch durch die Antithese von Faulheit und Fleiß verbunden, wobei auch hier eine zu V.2–3 vergleichbare chiastische Anordnung gegeben ist: 14 A »Faulheit« B »Fleiß« B′ »Fleiß« ′ A »Faulheit«

(V.4a) (V.4b) (V.5a) (V.5b)

In ihrer formalen Gestaltung unterscheiden sich beide Verse allerdings insofern, als in V.4 die beiden Halbverse hinsichtlich der Anordnung der Syntagmen chiastisch angeordnet sind und in V.5 parallel. 15 Neben der beschriebenen Verknüpfung von V.2–3.4–5 zu zwei Spruchpaaren ist zuletzt auch der Bezug zwischen V.1 und V.5 bedeutsam. Dieser wird zunächst dadurch konstituiert, dass V.5 mit der Gegenüberstellung eines »verständigen« (‫בן משכיל‬, V.5a) und eines »schändlichen Sohns« (‫בן מביש‬, V.5b) an die Antithese von »weisem« und »törichtem Sohn« aus V.1bc anknüpft. 16 Zusätzlich unterstrichen aber wird der Bezug beider Verse durch deren analoge formale Gestaltung. So zeigen sie – ungeachtet der Tatsache, dass sie je eine Antithese zwischen zwei gegensätzlichen Söhnen formulieren – in ihren Halbversen eine strikt parallele Anordnung der Syntagmen: 17 Spr 10,5

Spr 10,1

‫בן משכיל‬

‫בקיץ‬

‫אגר‬

‫ישמח אב‬

‫בן חכם‬

‫בן מביש‬

‫בקציר‬

‫נרדם‬

‫תוגת אמו‬

‫ובן כסיל‬

In dieser Weise aufeinander bezogen, legen die Verse Spr 10,1.5 einen Rahmen um den Abschnitt Spr 10,1–5, der u.a. auch die Abgrenzung vom folgenden Teilabschnitt Spr 10,6–12 begründet. 18 Darüber hinaus aber ist wesentlich, dass durch die Verklammerung von V.1 und V.5 die in den beiden Verspaaren V.2–3.4–5 entfaltete Reflexion über Reichtum und 14 Vgl. Meinhold, Sprüche, 167–168; Saebø, Sprüche, 167; Scoralick, Einzelspruch, 173; Waltke, Proverbs, 454; Winkler, Salomonische, 303. 15 Vgl. Scoralick, Einzelspruch, 173. 16 Vgl. Winkler, Salomonische, 302; 304. 17 Vgl. Saebø, Sprüche, 168; Schipper, Sprüche, 599; Scoralick, Einzelspruch, 171–173. 18 Vgl. zur Abgrenzung von Spr 10,1–5 ausführlich Scoralick, Einzelspruch, 170–173 (gg. z.B. Saebø, Sprüche, 168–169). Vgl. auch Fuhs, Sprichwörterbuch, 74–75; Murphy, Proverbs, 72; Winkler, Salomonische, 303.

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Armut, die in V.5 in das Gegenüber zweier konträrer Söhne einmündet, im Lektürevorgang als illustrierende Entfaltung der in V.1 eröffneten Antithese von weisem und törichtem Sohn verstehbar wird 19 – ungeachtet der Tatsache, dass V.1 für sich allein gelesen die in V.2–5 zentrale Thematik des wirtschaftlichen Erfolgs (noch) nicht anschneidet. Als literarische Einheit jedoch bietet Spr 10,1–5 eine differenzierte Vorstellung des ben ha¯ kha¯ m und seines Antagonisten, des ben kes¯ıl, und bringt dabei ˘ Handlungen und Haltungen auf den Punkt, die beide charakterisieren. Letztere sollen in der folgenden Auslegung erhoben und mit Blick auf die einleitend gestellte Frage reflektiert werden: Wie gebildet ist ein ben ha¯ kha¯ m? ˘ 3. Der »weise Sohn« und sein erfolgreiches Handeln. Eine Auslegung von Spr 10,1–5 Der geeignete Ansatzpunkt für eine Auslegung von Spr 10,1–5 ist das zweite Spruchpaar des Abschnitts (V.4–5), das in V.4 mit der Darstellung allgemeinen Erfahrungswissens einsetzt. Letzteres jedoch bedarf einer weiterführenden Einordnung und Reflexion, die zunächst durch V.5, dann aber auch in den Versen V.2–3 geleistet wird, die V.4 als Interpretationshilfe voranstehen. 20 a)

Fleiß macht reich? (Spr 10,4)

In Spr 10,4 liegt ein allgemeiner Sinnspruch vor, 21 der – antithetisch formuliert und in seinen beiden Halbversen streng chiastisch aufgebaut – den Zusammenhang zwischen Fleiß/Einsatz bzw. Faulheit einerseits und wirtschaftlichem (Miss-)Erfolg andererseits thematisiert und darin grundlegende menschliche Erfahrungen reflektiert. 22 Spannenderweise ist dabei in V.4 nicht allgemein vom Menschen oder von verschiedenen »Typen« die Rede, sondern – pars pro toto – von der ›Hand‹ (‫יד‬, V.4b) bzw. der ›Handfläche‹ (‫כף‬, V.4a). Fokussiert wird also das entscheidende »Organ« des menschlichen Tätig-Seins, wobei die Bandbreite möglicher »Qualitäten« durch den Gegensatz von ›Laxheit, Ermüdung‹ (‫ ;רמיה‬V.4a) 19 Vgl. Meinhold, Sprüche, 167; B. Schipper, From Epistemology to Wisdom Theology: The Composition of Proverbs 10, in: S. C. Jones u.a. (Hg.), »When the Morning Stars Sang«. Essays in Honor of Choon, Leong Seow on the Occasion of his Sixty-Fifth Birthday (BZAW 500), Berlin /Boston 2018, 143–157, hier: 146–147. Waltke, Proverbs, 450; Winkler, Salomonische, 303. 20 Vgl. ähnlich Schipper, Sprüche, 599–601. 21 Vgl. Schipper, Sprüche, 622. 22 Vgl. Schipper, Sprüche, 601; 622.

Wie gebildet ist ein »weiser Sohn«?

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und ›Fleiß, Einsatz‹ (vgl. ‫חרוצים‬, V.4b) abgesteckt wird. 23 So gelingt es dem Text, Haltungen pointiert zu charakterisieren, die menschliches (Nicht-)Handeln bestimmen. Das Gegenüber der »Qualitäten« bildet dabei – inhaltlich wie formal – das Zentrum des chiastischen Spruchs. An den »Rändern« jedoch werden die Folgen und Wirkungen angedeutet, die aus der »Qualität« der Hände bzw. den darin jeweils angedeuteten Haltungen und Handlungsweisen erwachsen: 24 Drohende Armut (vgl. ‫ראש‬, V.4a) steht gegen ›reich werden‹ (‫עשר‬-hi., V.4b) 25 – ohne weiterführende (Be-)Wertung des aufgewiesenen Konnexes oder der Handlungsfolgen. 26 Artikuliert wird damit eine grundlegende Beobachtung – Einsatz zahlt sich aus, von nichts kommt nichts . . . –, die zugleich auch mit einer zentralen menschlichen Erfahrung oder Erwartung zusammenhängt, die letztlich jedem absichtsvollen Handeln mehr oder weniger explizit zugrunde liegt, der Erfahrung bzw. Erwartung, über das Handeln tatsächlich auch Einfluss auf das eigene Geschick nehmen und spürbare Wirkungen entfalten zu können. Diese »Selbstwirksamkeits-Erfahrung« 27 hält Spr 10,4 – positiv wie negativ gewendet – als eine Einsicht fest und plausibilisiert diese anhand des aus dem Handeln erwachsenden (wirtschaftlichen) Erfolgs. 28 Dieselbe menschliche Grunderfahrung wird – mit je eigener Akzentuierung – auch in den beiden Versen Spr 12,24.27 reflektiert, in denen die Stichworte ‫( חרוץ‬vgl. Spr 12,27b) bzw. ‫( יד חרוצים‬vgl. Spr 12,24a) sowie ‫( רמיה‬vgl. Spr 12,24b.27a) wieder auftauchen und die damit erkennbar in einem Zusammenhang mit Spr 10,4 stehen. Deutlich näher an Spr 10,4 liegt dabei der Spruch Spr 12,24: Eine Hand von Fleißigen gelangt zur Herrschaft, [eine] von Laxheit aber wird zur Fron werden.

Dieser Vers bestimmt als die möglichen Konsequenzen eifrigen bzw. laxen Handelns einerseits ›Herrschaft‹ (vgl. ‫ ;משל‬V.24a) und andererseits ›Fron‹

23 Vgl. Waltke, Proverbs, 454–455; Winkler, Salomonische, 302. 24 Vgl. Plöger, Sprüche, 123; Waltke, Proverbs, 454. 25 Vgl. ähnlich Spr 12,24, wo Herrschaft und Knechtschaft mit der Aktivität der Hände verbunden sind (s.u.). 26 Vgl. Meinhold, Sprüche, 168. 27 Vgl. dazu das auf A. Bandura zurückgehende Konzept der (percieved) self-efficacy (›Selbstwirksamkeits[-erwartung]‹) in der zeitgenössischen Entwicklungspsychologie (Vgl. dazu z.B. A. Bandura, Perceived Self-Efficacy in Cognitive Development and Functioning, Educational Psychologist 28/2 (1993) 117–148; ders., Self-efficacy: The exercise of control, New York 1997.), das genau die in Spr 10,4 reflektierte Erfahrung bzw. Erwartung des Menschen beschreibt, aus eigener Kraft und mit seinen eigenen Kompetenzen eine Handlung erfolgreich ausführen sowie die mit der Handlung verbundenen Ziele erreichen zu können. 28 Vgl. Schipper, Sprüche, 601; 622.

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(‫ ;מס‬V.24b), und fokussiert damit v.a. auf den sozialen Status sowie Freiheit und Abhängigkeit der Handelnden. 29 In Spr 12,27 hingegen ist weniger das Erringen von Reichtum oder das Sichern eines sozialen Status das Thema, sondern eher das optimale Ausnutzen von grundsätzlich bereits vorhandenen Ressourcen: Nicht brät 30 er in Laxheit seine Jagdbeute, das Vermögen eines Menschen aber wird wertvoll dem Fleißigen.

So skizziert V.27a die Möglichkeit, dass das Zubereiten einer (bereits erlegten) Jagdbeute aus Faulheit scheitert, ein eigentlich bereits errungener Erfolg (Beute) letztlich also doch keinen greifbaren Nutzen generieren kann. 31 Umgekehrt jedoch gewinnt ein bereits vorhandenes Vermögen (‫ )הון‬einen konkreten Wert (vgl. ‫ )יקר‬erst durch den Fleiß/Einsatz dessen, der mit ihm richtig umgeht (V.27b). Spr 10,4 ist – ebenso wie Spr 12,24.27 – als Verbalisierung einer grundlegenden menschlichen Erfahrung und Überzeugung somit einerseits sehr plausibel: Der Mensch nimmt durch sein Handeln (oder NichtHandeln) effektiv Einfluss auf sein eigenes Geschick. Besonders plausibel erscheint dabei der Halbvers V.4a (vgl. Spr 12,24b.27a), der die negativen Folgen von Faulheit /Trägheit benennt bzw. die Faulheit als (eine) Ursache für Misserfolg und Scheitern ausweist. Der positiv formulierte Halbvers V.4b hingegen, der einen Zusammenhang von Fleiß und Reichtum /Erfolg konstatiert, ist in mehrfacher Hinsicht erklärungsbedürftig und fordert Präzisierungen ein. 32 So bildet er die Erfahrung des Misserfolgs trotz Mühen (und ggf. auch des Erfolgs trotz Faulheit) ebenso wenig ab, wie er eine Differenzierung zwischen einem erfolgversprechenden Einsatz und einem ziellosen Aktivismus vornimmt oder den eingetretenen Erfolg mit einer ethischen Bewertung des Handelns verknüpft. All diese weiterführenden Anfragen an die generelle Aussage in V.4 werden in V.5 bzw. V.2–3 aufgenommen, sodass diese Verse als ein (weisheitliches) Reflektieren (vgl. V.5) bzw. als theologisches Einordnen (vgl. V.2–3) des in V.4 dargelegten Erfahrungswissens zu verstehen sind. 33 b)

Zwei gegensätzliche »Söhne« zur Erntezeit (Spr 10,5)

Der Vers Spr 10,5, der – wie oben aufgezeigt – mit dem vorangehenden Vers Spr 10,4 ein Spruchpaar bildet, bietet v.a. ein Reflektieren 29 Vgl. Meinhold, Sprüche, 214; Schipper, Sprüche, 733. 30 Zur Übersetzung vgl. Schipper, Sprüche, 703; 736; Waltke, Proverbs, 542. Gegen z.B. Plöger, Sprüche, 146. 31 Vgl. Schipper, Sprüche, 736; Waltke, Proverbs, 542–543. 32 Vgl. Schipper, Sprüche, 599. 33 Vgl. Saebø, Sprüche, 168; Schipper, Sprüche, 599–601.

Wie gebildet ist ein »weiser Sohn«?

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der allgemeinen Erfahrungstatsachen aus V.4 anhand eines anschaulichen Beispiels, nämlich der Erntearbeit im Sommer. 34 Auf diese verweisen die beiden in den Halbversen parallelen Stichworte ‫›( קיץ‬Sommer‹; V.5a) und ‫›( קציר‬Ernte[-zeit]‹; V.5b). Sommer und Ernte(-zeit) stehen dabei für eine neuralgische Zeitspanne, auf die die Feldarbeit eines ganzen Jahres hinzielt und in der es gilt, die Früchte dieser Arbeit einzuholen, 35 die zugleich die Lebensgrundlage für das kommende Jahr darstellen. Mit in dieses Bild bzw. Motiv der Erntezeit gehört das Wissen um die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeitspanne, die Eile und vollen Einsatz einfordert, wenn sie optimal ausgenutzt werden soll. Vor dieser in einer agrarischen Gesellschaft vertrauten Situation, die der Vers aufruft, wird nun in Spr 10,5 das unterschiedliche Handeln zweier konträr gezeichneter »Typen« angedeutet, das des ›verständigen Sohnes‹ (‫ ;בן משכיל‬V.5a) und das des ›schändlichen Sohnes‹ (‫ ;בן מביש‬V.5b). Ersterer ist dabei dadurch charakterisiert, dass er (unablässig) 36 einsammelt (‫ ;אגר‬V.5a), d.h. den rechten Zeitpunkt der Ernte effektiv ausnutzt, während sich sein Antagonist durch ein unablässiges Schlafen (vgl. ‫ ;נרדם‬V.5b) auszeichnet, das – so die bei ‫רדם‬-ni. mitzuhörenden Konnotationen – tief und gleichsam »komatös« 37 ist. So lässt es den »schändlichen Sohn« die rechte Zeit verpassen bzw. ihre Notwendigkeiten versäumen. 38 Als Ideal präsentiert Spr 10,5 folglich ein Handeln, das zum einen situationsadäquat ist, das also eine Vertrautheit mit den dem Menschen unverfügbar vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten und Dynamiken des Kosmos (z.B. Jahreslauf und Vegetationszyklen) ebenso voraussetzt wie eine vor dem Hintergrund dieser Vertrautheit mögliche Beurteilung der konkreten Situationen und ihrer jeweiligen Notwendigkeiten. Zum anderen aber deutet der Spruch über das Erntemotiv auch ein (selbst-)verantwortliches (ethisches) Handeln an, 39 das durch die aktive Sorge des Handelnden um seinen eigenen Lebensunterhalt – und den einer ganzen Gemeinschaft, deren Teil er ist – motiviert ist. Zuletzt jedoch können auch praktische Kompetenzen in den Blick kommen, schließt doch ein »unablässiges Einsammeln« (vgl. V.5a), das erfolgreich sein will, mit ein, dass die erforderlichen Erntearbeiten in richtiger Weise ausgeführt werden.

34 Vgl. Plöger, Sprüche, 123; Winkler, Salomonische, 302. 35 Diesen Zusammenhang setzen auch die Belege v.a. in der prophetischen Literatur voraus, die Sommer und Ernte als Gerichtsmetaphern verwenden (vgl. v.a. Am 8,1–3; Jes 16,9; Jer 48,32; u.a.). 36 Zum durativen bzw. frequentativen Aspekt des Partizips vgl. Joüon /Muraoka, Grammar, § 121c – f. 37 Vgl. Meinhold, Sprüche, 168; Schipper, Sprüche, 624; Waltke, Proverbs, 456; Winkler, Salomonische, 304. 38 Vgl. Winkler, Salomonische, 304. 39 Vgl. Saebø, Sprüche, 168; Schipper, Sprüche, 624.

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Die in Spr 10,5 vorgestellten »Typen«, der »verständige Sohn«, der situationsadäquat, verantwortlich und kompetent handelt, und der »schändliche Sohn«, der dies nicht tut, sind nun innerhalb des Spruchpaars Spr 10,4–5 unschwer mit den gegensätzlichen »Händen« aus V.4 zu korrelieren. Dabei ergibt sich – wie oben bereits aufgezeigt – durch die Zuordnung des »verständigen Sohnes« (V.5a) zur »Hand von Fleißigen« (V.4b) bzw. des »schändlichen Sohns« (V.5b) zur »Handfläche von Laxheit« (V.4a) eine chiastische Struktur des Spruchpaars, in deren Zentrum das erfolgversprechende Tun der »Hand von Fleißigen« (V.4b) mit dem Sammeln des »verständigen Sohnes« (V.5a) verbunden wird. Über diese Zusammenstellung aber ist auch eine wichtige Präzisierung der letztlich erklärungsbedürftigen Aussage von V.4b gegeben. Immerhin nämlich wird deutlich, dass Fleiß und Einsatz (vgl. ‫)יד חרוצים‬, die theoretisch ja auch ziel- und sinnloser Aktivismus sein können, nicht »an sich« zum Erfolg führen, sondern (allein) ein aktives Handeln, das aus genauer Kenntnis der Ordnungen und Zusammenhänge der Lebenswelt und menschlicher Möglichkeiten das Richtige zur rechten Zeit anzugehen versteht und von Verantwortlichkeit für sich selbst und andere getragen ist (vgl. V.5a). Die damit als wesentlich zu Tage tretende reflektive Ebene des Handelns – mit Handlungswissen, Verantwortlichkeit und bewusstem Welt- bzw. Gesellschaftsbezug – aber ist in der Umschreibung des tatkräftig Handelnden als ›verständigem Sohn‹ (‫ )בן משכיל‬eingefangen, eine Umschreibung, die ihn zugleich mit dem ben ha¯ kha¯ m aus V.1a ˘ (V.1a) weist soverbindet. 40 Den Verständigen (V.5a) bzw. Gebildeten mit – Spr 10,4–5 zufolge – nicht in erster Linie sein Wissen als einen solchen aus, sondern letztlich die Qualitäten und Motivationen seines Handelns sowie die personalen Ressourcen (z.B. Tatkraft, Weltwissen, Situationskompetenz, Handlungskompetenz, Verantwortlichkeit als reflektierter Selbst- und Gemeinschaftsbezug), auf die er in seinem Handeln zurückgreifen kann. 41 Zu ergänzen ist dieses v.a. aus V.4b – 5a erhobene Bild des »tatkräftigen Verständigen« schließlich durch eine interessante Beobachtung in V.5b, wo der zur Erntezeit tief schlafende Antagonist des »Verständigen« nicht etwa als Fauler bzw. Tor, Unverständiger oder Ungebildeter bezeichnet wird (obgleich er all das wohl auch sein soll), sondern als ›schändlicher Sohn‹ (‫)בן מביש‬. Er wird also letztlich über eine moralische Bewertung seines Handelns eingeordnet. 42 Interpretationsoffen bleibt dabei, worin genau die Schändlichkeit liegt, im Ignorieren der Schöpfungsordnung (und des offenbarten Gotteswillens), in denen zwar Arbeit und Ruhe des 40 Vgl. Plöger, Sprüche, 123; Saebø, Sprüche, 168; Winkler, Salomonische, 304. 41 Vgl. Meinhold, Sprüche, 168. Zum Erntemotiv vgl. auch Spr 6,6–11. 42 Vgl. Saebø, Sprüche, 168. Vgl. dazu z.B. den Beleg in Spr 19,26, wo sich der mev¯ıš im Misshandeln seiner Eltern als schändlich erweist.

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Menschen vorgesehen sind, beide jedoch zu ihrer angemessenen Zeit? 43 Im unverantwortlichen Vernachlässigen der Sorge um den Lebensunterhalt? Im Unwillen zu situationsgerechtem Handeln, . . . ? 44 In Spr 10,5a hingegen wird eine vergleichbare moralische Bewertung des Tuns des ›verständigen Sohns‹ nicht explizit greifbar, der ›verständige‹ und der ›schändliche Sohn‹ bilden also – ungeachtet der exakten formalen Parallelität von Spr 10,5ab – kein exakt austariertes Gegensatzpaar. 45 Letztlich jedoch hat genau dieser Umstand, dass nämlich die beiden Stichen V.5a.5b durch unterschiedliche Akzentsetzungen bestimmt sind, ein facettenreiches Gesamtbild zur Folge, in dem die Akzente eines Halbverses auch auf den je anderen »ausstrahlen«, sodass letztlich wohl auch eine positive moralische Bewertung des Verständigen mit impliziert ist. c)

Erfolg und Gerechtigkeit (Spr 10,2–3)

Spr 10,2–3 korreliert das in V.4(–5) formulierte Erfahrungswissen mit einer dezidiert theologischen Reflexion. 46 Diese setzt zunächst mit der Wendung ‫›( אוצרות רשע‬Schätze von Frevel‹; V.2a) ein, die über das Stichwort ‫›( אוצרות‬Schätze‹) eine Brücke zu der in V.4–5 verhandelten Thematik schlägt 47 und zugleich die Problematik eines ungerecht bzw. verbrecherisch erworbenen Reichtums einbringt, über die ein weiterführendes Nachdenken über den wirtschaftlichen Erfolg und seine Grundlagen möglich wird. Ein Schlüsselbegriff ist dabei das in V.2b – als Oppositionsbegriff zu ‫›( רשע‬Frevel‹; V.2a) – belegte Abstraktum ‫צדקה‬ (›Gerechtigkeit‹; V.2b), dessen weites Bedeutungsspektrum zunächst auszuloten ist. Im TaNa“K finden sich mit ‫ צדק‬und ‫ צדקה‬zwei Nominalbildungen der Wurzel ‫›( צדק‬gerecht sein /handeln‹), 48 unter denen die in V.2b belegte, grammatikalisch feminine Form ‫ צדקה‬stärker auf einen konkreten, praktischen Erweis von »Gerechtigkeit«, d.h. auf ein gerechtes Handeln abhebt – im Gegenüber zum grammatikalisch maskulinen ‫צדק‬, das eher ein »Grundprinzip« von Kosmos und Gesellschaft bezeichnet. 49 Dabei kann an den unterschiedlichen Belegstellen von ‫ צדקה‬im TaNa“K auf 43 Vgl. Schipper, Sprüche, 624. 44 Meinhold denkt an eine soziale Ausgrenzung des offensichtlich (auch für die Nachbarn erkennbaren) Faulen (vgl. ders., Sprüche, 168. Vgl. auch Winkler, Salomonische, 304–305). 45 Auch in Spr 14,35; 17,2 stehen sich ‫ משכיל‬und ‫ מביש‬in vergleichbarer Weise gegenüber, wobei in diesen Versen jeweils der soziale Status der beiden im Fokus steht. 46 Vgl. auch Schipper, Epistemology, 146–147. 47 Vgl. Schipper, Sprüche, 619; Winkler, Salomonische, 306. 48 Vgl. B. Johnson, Art. ‫צדק‬, s. a¯ daq, ThWAT VI (1989), 898–924, hier: 909–912. ¯ 49 Vgl. K. Koch, S. ädäq und Ma’at. Konnektive Gerechtigkeit in Israel und Ägypten, in: J. Assmann /B. Janowski /M. Welker (Hg.), Gerechtigkeit. Richten und Retten in der

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der einen Seite eine göttliche Gerechtigkeit in den Blick kommen, die den Menschen entweder als dauerhafte Setzung begleitet (vgl. z.B. Ps 36,7) oder sich in einer (punktuellen) rettenden Tat manifestiert (vgl. z.B. Ri 5,11; Ps 82). 50 Auf der anderen Seite aber kann ‫ צדקה‬auch ein menschliches Handeln umschreiben, das sich v.a. dadurch auszeichnet, dass es gemeinschaftstreu und gemeinschaftsförderlich im Hinblick auf dasjenige Gegenüber ist, an dem bzw. für das gehandelt wird und das zugleich auf eine Reziprozität hin angelegt ist. 51 Somit scheint stets auch die Vorstellung von einer »konnektiven Gerechtigkeit« auf, die sich auf der Ebene der menschlichen Gesellschaft in einem »lebensförderlich-füreinanderHandeln« manifestiert. 52 Doch ist von ‫ צדקה‬nicht nur auf dieser sozialen bzw. zwischenmenschlichen Ebene die Rede, steht das Nomen doch ganz allgemein für eine sinnvolle und sinnstiftende Verknüpfung von Tat und Folge auch auf einer kosmischen Ebene oder im Gegenüber von Mensch und Gott. 53 Stets jedoch gilt: »Gerechtes Handeln ist ein Handeln in Übereinstimmung mit dem der Welt inhärenten Sinn.« 54 Wendet man nun dieses weite Bedeutungsspektrum von ‫ צדקה‬auf Spr 10,2 an, so ist dieser Vers zuerst als eine Evaluation gegensätzlicher menschlicher Handlungsoptionen und »Grundentscheidungen« zu lesen, die über die Stichworte ‫›( רשע‬Frevel‹; V.2a) und ‫›( צדקה‬gerechtes, gemeinschaftsförderliches Handeln‹; V.2b) qualifiziert und die – wie das Nomen ‫›( אוצרות‬Schätze‹) anzeigt – anhand der in Spr 10,1–5 bestimmenden Grundthematik des wirtschaftlichen Erfolgs verhandelt werden. So manifestiert sich im rücksichtslosen Akkumulieren von materiellen Gütern und Ressourcen (‫ ;אוצרות‬V.2a) eine selbstbezogen-egoistische Grundhaltung (‫)רשע‬, die die tragenden Beziehungen des »Frevlers« zu seinen Mitmenschen und zu Gott zerstört und die sich daher letztlich als (im existenziellen Sinne) nutzlos erweist (V.2a). 55 Im Gegenüber dazu liegt es nahe, beim Stichwort ‫ צדקה‬in V.2b zunächst an einen gemeinschaftsför-

abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, München 1998, 37– 64, hier: 41; 59–61. 50 Vgl. J. Assmann /B. Janowski /M. Welker, Richten und Retten. Zur Aktualität der altorientalischen und biblischen Gerechtigkeitskonzeption, in: dies. (Hg.), Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, München 1998, 9–35, hier: 21–26; Johnson, s. a¯ daq, 912–914. ¯ 51 Vgl. Assmann /Janowski /Welker, Richten, 21; Johnson, s. a¯ daq, 910; 912–913; 916; Koch, ¯ S. ädäq, 43–45; 52–54. 52 Vgl. Assmann /Janowski /Welker, Richten, 9–10. 53 Vgl. Assmann /Janowski /Welker, Richten, 9–10; Koch, S. ädäq, 54–57. Vgl. auch das Konzept der ma’at z.B. bei: J. Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990, 35–37. 54 Assmann /Janowski /Welker, Richten, 9. 55 Vgl. Murphy, Proverbs, 72; Winkler, Salomonische, 306.

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derlichen und verantwortungsbewussten Umgang mit Vermögen oder an soziale Rücksichtnahme im Erwerbsleben zu denken. 56 Eine mögliche Assoziation, die in diese Richtung weist, wird durch den Stichwortbezug zu Dtn 24,13 angeregt, wo das allabendliche Zurückgeben eines gepfändeten Mantels, der zugleich auch die Schlafunterlage bzw. die wärmende Decke des Schuldners ist, als »gerechtes Handeln vor JHWH, deinem Gott« (‫ )צדקה לפני יהוה‬bezeichnet wird. 57

Zugleich jedoch fällt auf, dass Spr 10,2b deutlich grundsätzlicher und allgemeiner formuliert als der Halbvers V.2a, der durch das Stichwort ‫›( אוצרות‬Schätze‹) auf die Thematik des ökonomischen Handelns festgelegt ist. So ist Spr 10,2b auch als eine generelle Aussage über die Lebensförderlichkeit eines adäquaten Agierens in allen Lebensbereichen lesbar, wobei der Text spannungsvoll offenhält, woraus diese Lebensförderlichkeit im Letzten erwächst. Ist sie im gerechten (menschlichen) Handeln selbst angelegt, insofern dieses den Handelnden in den für ihn konstitutiven Beziehungen hält und diese stärkt – und damit auch das Leben des Handelnden selbst? Oder ist sie vielmehr als »Effekt« einer zur menschlichen Gerechtigkeit reziproken göttlichen Gerechtigkeit zu deuten? Im engeren Kontext gelesen, macht der Zusammenhang mit V.2a, der die dem Frevel immanente Nutzlosigkeit aufweist, die erste Interpretation plausibler, 58 der Zusammenhang mit V.3a hingegen die zweite. Damit kongruiert die Beobachtung, dass auch die Rede von einer vor dem Tod rettenden ‫ צדקה‬selbst offenhält, ob ein menschliches Handeln oder aber eine göttliche Hinwendung zum Menschen im Blick ist – und auch hier favorisiert im engeren Kontext V.2a die erste Option (menschliches Handeln) und V.3a die zweite (göttliche Gerechtigkeit). Letztlich aber sind die beschriebenen Deutungsvarianten nicht als einander ausschließende Alternativen zu lesen, sondern in einem komplementären Sinne aufzulösen: Gerechtigkeit ist adäquates und reziprokes Füreinander-Handeln, sowohl auf zwischenmenschlicher Ebene als auch auf der Ebene Gott-Mensch,

56 Vgl. Meinhold, Sprüche, 166; Schipper, Sprüche, 620. 57 Vgl. Meinhold, Sprüche, 166; Schipper, Sprüche, 620. 58 Diese Akzentuierung findet sich auch in Spr 11,4–6, einer engen Parallelstelle zu Spr 10,2–3, die – wie Spr 10,2–3 – mit der pointierten Gegenüberstellung von Gerechtigkeit und Frevel argumentiert. Dabei ist ›Frevel‹ hier v.a. eine Umschreibung für ein falsches Vertrauen in den eigenen (materiellen) Besitz, das als tödlich aufgewiesen wird, während Gerechtigkeit als gemeinschaftsförderliches Handeln aus sich heraus (»immanent«) lebensdienlich ist. Die Idee einer (rettenden) göttliche Gerechtigkeit wird in Spr 11,4– 6 nicht eingebracht, dafür aber evoziert V.4 in der Formulierung ‫›( ביום עברה‬am Tag des Zorns‹) die Motivwelt eines göttlichen Gerichts über die Frevler. Zu Spr 11,4–6 vgl. Meinhold, Sprüche, 187–188; Murphy, Proverbs, 81; Schipper, Sprüche, 667–669; Waltke, Proverbs, 486–487.

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wobei beide Ebenen letztlich nicht trennbar sind. 59 Spr 10,2 eröffnet somit grundlegend die Alternative zwischen einem Dasein unter dem Vorzeichen eines durch materielle Güter nicht abwendbaren Scheiterns auf der einen und einem gelingenden Leben auf der anderen Seite. Den Ausschlag zwischen beiden Alternativen aber geben die Handlungsdispositionen und Grundhaltungen, die sich jeweils in einem konkreten Tun manifestieren. 60 In Spr 10,3 wird die in Spr 10,2 angestoßene theologische Reflexion insofern weitergeführt, als hier die Haltungen, die V.2 skizziert, »personalisiert« werden, sodass nun der »Gerechte« (‫ ;צדיק‬V3a) den »Frevlern« (‫ ;רשעים‬V.3b) gegenübersteht. 61 Bemerkenswert in V.3 aber ist, dass hier JHWH explizit als aktiv Handelnder in Erscheinung tritt, der sowohl die in V.3a thematisierte Versorgung des Gerechten als auch den Misserfolg der Frevler (V.3b) ins Werk setzt und dabei in reziproker Weise auf die in V.2 skizzierten Grundhaltungen und Handlungsdispositionen von Menschen reagiert. Auffällig ist weiterhin, dass in V.3ab mit den beiden antagonistischen »Typen« je ein zentraler anthropologischer Begriff verbunden ist, der die Aussage des Spruches zusätzlich konturiert. So fokussiert V.3a auf die ‫ נפש‬des Gerechten, der grundlegendsten Wortbedeutung nach also auf seine ›Kehle‹. Faktisch jedoch bezeichnet der Terminus die (»gesamte«) Person und charakterisiert sie zugleich als ein »von Natur aus« abhängiges und bedürftiges Wesen, das nicht aus sich heraus (über-)leben kann (und darum auch weiß). 62 So liegt die Pointe von V.3a in der Zusage, dass JHWH die der ‫ נפש‬des Gerechten eigene, kreatürliche Bedürftigkeit nicht ungestillt lassen wird, ihr vielmehr das zukommen lassen wird, was sie benötigt, und damit an ihr in gerechter Weise handelt. 63 In V.3b hingegen findet sich – als Gegenbegriff zur ‫ – נפש‬die »Gier« bzw. »Begierde« (‫ )חוה‬der Frevler. ‫ חוה‬ist an allen Belegstellen 64 eindeutig negativ besetzt 65 und bezeichnet – weit über die Bedürftigkeit der ‫נפש‬ hinaus – ein »übergriffiges«, gesetzte Grenzen überschreitendes menschliches Wollen. 66 Dieses jedoch – so die Überzeugung von V.3b – wird von

59 Das Bewahren vor dem Tod meint dabei wohl nicht eine Aufhebung der Sterblichkeit des Menschen. Vielmehr hat Spr 10,2b auf eine lebensverlängernde (und die Lebensqualität steigernde) Wirkung der Gerechtigkeit im Blick. Vgl. dazu (u.a.) Meinhold, Sprüche, 166; Schipper, Sprüche, 619–620. 60 Vgl. Meinhold, Sprüche, 166; Schipper, Sprüche, 619–620. 61 Vgl. Meinhold, Sprüche, 167. 62 Vgl. S. Schroer/Th. Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 1998, 45–49. 63 Vgl. Meinhold, Sprüche, 167; Winkler, Salomonische, 306. 64 Vgl. Jes 47,11; Ez 7,26; Mi 7,3; Ps 5,10; 38,13; 52,4.9; 55,12; 57,2; 91,3; 94,20; Spr 10,2; 11,6; 17,4; 19,13; Ijob 6,2.30; 30,13. 65 Vgl. Meinhold, Sprüche, 167. 66 Vgl. Winkler, Salomonische, 306.

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JHWH »eingedämmt« werden, sodass Gott in beiden Halbversen letztendlich als (aktiv handelnder) Garant der schöpfungsgemäßen Ordnung von Kosmos und Gesellschaft präsentiert wird. Er stillt die Bedürftigkeit derjenigen, die in adäquater Weise in den Ordnungen und Beziehungen leben, und »zwingt« diejenigen in eben diese Ordnungen zurück, die sie handgreiflich und gierig übertreten. 67 Spr 10,3 beschreibt also die Dynamik einer (aktiven) creatio continua und präsentiert damit auch eine dezidiert theologische Begründung und Interpretation der in V.2 umrissenen »Gesetzmäßigkeiten«: Gerechtes (menschliches) Handeln bewahrt vor dem Tod, weil JHWH die Gerechten nicht hungern lässt (V.2b–3a), gemeinschaftsförderliches Handeln also reziprok mit gemeinschaftsförderlichem Handeln »beantwortet« – und Schätze von Frevel sind nutzlos, weil JHWH die Gier der Frevler zerschlägt (V.2a.3b). d)

Der Zusammenhang von Spr 10,2–3 und Spr 10,4–5

Was nun das Nacheinander der Spruchpaare Spr 10,2–3.4–5 anbelangt, so ist zwar ein verbindendes Thema 68 auszumachen – Reichtum und Erfolg –, das in V.2–3 durch das Stichwort ‫›( אוצרות‬Schätze‹) eingebracht wird. Zugleich jedoch wird dieses gemeinsame Thema unter divergierenden Perspektiven und mit unterschiedlichen Akzenten verhandelt, wenn V.4–5 mit dem Ertrag der Mühen des Verständigen einen eindeutig positiv bewerteten Reichtum in den Blick nimmt, während V.2–3 letztlich materielle Güter und Frevel assoziiert (vgl. V.2a). Vor diesem Hintergrund ist das wesentlichste Argument dafür, V.2–3 auf V.4–5 hin zu lesen, nicht die inhaltliche Ausrichtung der Verse, sondern v.a. die kompositionelle Gestaltung des Abschnitts Spr 10,1–5, insbesondere die durch V.1.5 geschaffenen Klammer. Diese macht die Vorstellung des weisen (V.1b) bzw. verständigen (V.5a) Sohns (im Gegenüber zum törichten und schändlichen) zum bestimmenden Thema des gesamten Abschnitts Spr 10,1–5 – einschließlich der theologisch reflektierenden Verse Spr 10,2–3, die damit unter den durch V.1.5 gesetzten Vorzeichen zu lesen sind. 69 Unter dieser hermeneutischen Vorgabe sind in V.1–5 letztlich drei unterschiedliche Perspektiven auszumachen, die komplementär ineinander greifen: 1.) eine genuin weisheitliche, die mit dem Gegensatz von weise /verständig und töricht /schändlich arbeitet (V.1.5); 2.) eine deutlich theologisch ausgerichtete mit dem Gegensatz von Gerechtigkeit /Gerechtem und Frevel /Frevler (V.2–3); und zuletzt 3.) das Gegenüber von Fleiß und Faulheit (V.4–5). 67 Vgl. Winkler, Salomonische, 305–306. 68 Signifikante Stichwortbezüge zwischen V.2–3 und V.4–5, die den thematischen Zusammenhang auch auf leikalischer Ebene untermauern, finden sich nicht. 69 Vgl. Plöger, Sprüche, 123; Winkler, Salomonische, 304.

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Spr 10,2–3 aber »funktioniert« in dem durch die Verse Spr 10,1.5 gelegten Rahmen als interpretierende »Vorschaltung« vor Spr 10,4–5, wobei der Textduktus nahelegt, den tatkräftigen verständigen /weisen Sohn (vgl. V.1b.4b–5a) mit dem in V.3a eingeführten »Gerechten« zu verbinden bzw. seinen faulen Antagonisten (vgl. V.1c.4a.5b) mit den Frevlern aus V.3b. Dieser Zusammenhang wird auch durch die formale Gestaltung der beiden Spruchpaare V.23.4–5 unterstrichen, die jeweils chiastisch aufgebaut sind, wobei in V.2–3 Gerechtigkeit bzw. der Gerechte das Zentrum besetzen (vgl. V.2b–3a) und in V.4–5 die »Hand von Fleißigen« (V.4b) bzw. der verständige Sohn (V.5a), während die negativen Gegenpole jeweils die Ränder der Rahmenstrukturen einnehmen (vgl. V.2a.3b; V.4a.5b). 70

Liest man nun aber V.4–5 von V.2–3 her, so wird deutlich, dass das in V.4 wertgeschätzte tatkräftige Handeln (vgl. V.4) nicht nur durch einen reflektierten Situationsbezug qualifiziert sein kann (vgl. V.5), wenn es im vollen Sinne erfolgversprechend sein will, sondern ebenso auch durch eine adäquate Haltung, die Gerechtigkeit. Das tatkräftige Handeln ist also von Vornherein auch als ein solidarisches und gemeinschaftsförderliches Handeln »definiert«, in dem der Mensch die Beziehungen, in die er – gegenüber anderen Menschen, im Gesamt des Kosmos und Gott gegenüber – eingebunden ist, in verantwortungsvoller und förderlicher Weise gestaltet. Spannenderweise trägt diese Idee bis V.5 durch, wenn der den Sommer in Untätigkeit Verschlafende als »schändlicher Sohn« (V.5b) qualifiziert und damit mit einer auch »moralischen« Bewertung belegt wird, die eine gedankliche Verbindung mit den »Frevlern« aus V.3b herstellt. Umgekehrt jedoch entpuppt sich der »verständige Sohn«, der zur Erntezeit eifrig einsammelt (vgl. V.5a), d.h. der tatkräftig und situationsadäquat handelnde Weise, zugleich auch als »Gerechter« in dem Sinne, dass er sich in seinem Tun in die Ordnungen der Schöpfung (agrarischer Jahreslauf) einfügt und seine Verantwortung für sich und das Gemeinwesen bzw. seine Großfamilie wahrnimmt. 71 4.

Erträge der Exegese von Spr 10,1–5

In der oben unternommenen Auslegung von Spr 10,1–5 hat sich einerseits gezeigt, dass V.2–3.5 in differenzierter Weise das Erfahrungs- und Beobachtungswissen, das V.4 auf den Punkt bringt, weisheitlich durchdringt und präzisiert sowie theologisch reflektiert. 72 Darüber hinaus wurde deut70 71 72

Vgl. Plöger, Sprüche, 124. Vgl. Winkler, Salomonische, 307–308. Vgl. Schipper, Sprüche, 598–602. Vgl. auch Plöger, Sprüche, 123.

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lich, dass die Verse ein differenziertes und vielschichtiges Bild des ben ha¯ kha¯ m – als in seinen Relationen zu Mitmensch, Gesellschaft, Welt und ˘Gott »Gerechter« sowie als tatkräftig, verantwortungsvoll und situationskompetent Handelnder – zeichnen. Wenn er als ein solcher mit Spr 10,1 seine Eltern erfreut, so ist innerhalb des Sprichwörterbuchs zwar zunächst eine Verbindung mit dem vorauslaufenden Buchabschnitt Spr 1,8–9,18 greifbar, die den »weisen Sohn« gleichsam als »Produkt« elterlicher Erziehung (vgl. die väterlichen Lehrreden in Spr 1–9) ausweist. Zugleich jedoch konnte die Exegese von Spr 10,1–5 zeigen, dass der ben ha¯ kha¯ m ˘ mehr ist als »nur« ein »wohlerzogener« Sohn: So werden in der Vorstellung des ben ha¯ kha¯ m bzw. in der Gegenüberstellung von ben ha¯ kha¯ m und ˘ ben kes¯ıl ˘– exemplarisch anhand der Thematik des wirtschaftlichen Erfolgs – letztlich die Möglichkeiten und Bedingtheiten eines erfolgreichen menschlichen Handelns ausgelotet und nicht zuletzt auch die größeren Sinnhorizonte angedeutet, in denen dieses sich vollzieht. Auf diese Weise verwickelt die Perikope ihre Lesenden in eine kritische Reflexion über die konstitutiven Zusammenhänge und Relationen, in denen sich der Mensch vorfindet, sowie über seine Potenziale (und Grenzen), durch sein eigenes Handeln »seine Welt« und sein Geschick in gelingender Weise mitzugestalten. Sie »moderiert« eine Selbstverortung des Menschen in einem »größeren Ganzen«, einer auf solidarischem Zusammenleben basierenden Gesellschaft und einem von einem Schöpfer sinn- und heilvoll geordneten Kosmos und wirbt bei ihren Lesenden für die Option, auf den Spuren des ben ha¯ kha¯ m tatkräftig, verantwortlich und mit der begründeten Aussicht auf ˘Erfolg zu handeln. So leistet sie nicht nur eine (auf einem genuin altorientalischen Welt- und Menschenbild basierende) »Aufklärung« des Menschen über sich selbst, sie bewirbt auch ein Handeln, das in der Diktion der europäischen Aufklärung als vernünftig zu qualifizieren ist und dem Wohl des Handelnden ebenso dient wie dem Wohl der Gesellschaft, in der und für die er handelt. Dieser Zug aber ist es, der in Spr 10,1–5 ein Element aufscheinen lässt, das sich in vergleichbarer Weise auch in neuzeitlichen Konzepten von ›Bildung‹ findet und das dazu führt, dass der tatkräftig und verantwortlich handelnde »Gerechte«, als welcher der ben ha¯ kha¯ m präsentiert ˘ wird, zugleich auch – etwas anachronistisch und in moderner Diktion – ein »Gebildeter« ist. Als ein solcher aber steht er betont am Beginn der Salomo-Sammlung Spr 10,1–22,16, sodass nun in einem weiteren Schritt, der allerdings über diesen Beitrag hinausführen würde, zu prüfen und genauer zu analysieren wäre, wie und inwiefern dieser »Einleitungstext« im Kapitel Spr 10, aber auch in der gesamten Sammlung Spr 10–22 nachwirkt und inwieweit er als »Leseanleitung« dafür dient, die in Spr 10,6–22,16 »vorgestellten« »Typen« – Gerechte und Ungerechte, Weise bzw. Verständige und Toren,

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Unverständige oder Schändliche – von den »Leitbildern« des ben ha¯ kha¯ m ˘ bzw. des ben kes¯ıl her zu lesen? Indizien dafür, dass dies gelingen kann, sind neben den bereits angesprochenen Rückbezügen auf Spr 10,1–5 am Ende (Spr 15,20) und in der Mitte (Spr 13,1) der Teilsammlung Spr 10–15 auch zwei Passagen in Spr 10, die das in V.1–5 gezeichnete Bild des ben ha¯ kha¯ m – jeweils ˘ mit deutlichen Stichwortbezügen zu V.4 – weiterreflektieren. Erstmals geschieht dies in V.15, wo der Reiche (V.15a) und die Armen (V.15b) kontrastiert und die positiven Effekte von Reichtum gegen die negativen der Armut gestellt werden. 73 Damit beschreibt Spr 10,15 (ähnlich wie Spr 10,4) – ohne erkennbare Bewertung der Voraussetzungen und Hintergründe von Armut und Reichtum – soziale Realitäten und Dynamiken. 74 Diese jedoch werden v.a. durch den nachfolgenden Vers Spr 10,16(–17) mit einer theologischen Reflexion verbunden, die über die Stichworte ‫›( צדיק‬Gerechter‹; V.16a) und ‫›( רשע‬Frevler‹; V.16b) an V.2–3 anschließt und unterstreicht, dass nicht jeder Reichtum ein solides Fundament darstellt, da allein das Werk des Gerechten zum Leben führt (V.16a[.17a]). 75 Der zweite wichtige Vers ist Spr 10,22, der in seinem ersten Halbvers explizit eine Gegenposition zu Spr 10,4b zu formulieren scheint: nicht die »Hand von Fleißigen« (V.4b), sondern ausdrücklich der Segen JHWHs (vgl. die durch die Deixis ‫ הוא‬nachdrücklich gesetzte Betonung) ist die Ursache von Reichtum. 76 Tatsächlich aber ist V.22 nicht so sehr als Widerspruch zu bzw. als »scharfe Korrektur« 77 von V.4b zu lesen, sondern letztlich als Aussage, die einerseits das in Spr 10,2–5 Entfaltete in wenigen Worten komprimiert, es andererseits aber auch in solcher Weise zuspitzt, dass V.22 und V.4 als komplementär zueinander erscheinen: Ohne JHWHs ist kein menschlicher Erfolg denkbar (V.22; vgl. auch V.3), aber aktives Handeln des Menschen ist nötig (vgl. V.4), um das zu realisieren, was in JHWHs Segen angelegt ist. 78 Wenn sich dies zeigen lässt, wofür vieles spricht, dann wäre – mit der bei einer Anwendung eines modernen Reflexionsbegriffs auf antike Literatur stets gebotenen Vorsicht – in gewisser Weise die gesamte SalomoSammlung von Spr 10–22 als »Bildungsliteratur« zu greifen.

73 74 75 76 77 78

Vgl Meinhold, Sprüche, 175. Vgl. Meinhold, Sprüche, 175, Saebø, Sprüche, 171; Schipper, Sprüche, 636. Vgl. Meinhold, Sprüche, 176; Saebø, Sprüche, 171; Schipper, Sprüche, 637–638. Vgl. Meinhold, Sprüche, 178–179; Schipper, Sprüche, 642. Saebø, Sprüche, 172. Vgl. ähnlich auch Meinhold, Sprüche, 179; Schipper, Sprüche, 642.

Wie gebildet ist ein »weiser Sohn«?

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Abstract The pericope Prov. 10:1–5, which is analyzed in this article, serves as a prologue of the collection Prov. 10–22 and introduces the figure of a “ben ha¯ kha¯ m” (‘wise son’), who is portrayed as an active and situation-competent ˘actor and as a “righteous” person (in his relationships towards fellow human beings, society, world, and God). Based on the description of the “wise son” and his actions, the text presents a critical reflection on the constitutive relationships and correlations in which man finds himself and it considers the possibilities and the limits of man, to successfully shape “his” world and his fortune through his own actions. Inasmuch as the text thus initiates a self-locating of man within a “greater whole”, an element of education (‘Bildung’) – in the modern sense of the word – becomes recognizable in Prov. 10:1–5. Matthias Ederer, geb. 1977, Dr. theol., ist Professor für Exegese des Alten Testaments an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.

Irmtraud Fischer

Für das Leben lernen wir – und das Leben lehrt uns Zu Kontexten, Inhalten und Bildungsverläufen im Alten Testament

Die Frage, was über Bildungsbiografien aus dem Alten Testament in Erfahrung gebracht werden kann, ist dann nicht einfach zu beantworten, wenn man sich erwartet, reale Lebensbeschreibungen von historischen Personen vorzufinden, aus denen deren Persönlichkeitsentwicklung ablesbar sei. Mag sein, dass in den Texten auch Hinweise auf solche Gegebenheiten verarbeitet sind, aber literarische Texte sind niemals tatsachengetreue Berichte über menschliche Werdegänge – auch bei den heute so beliebten Prominenten-Biografien ist dies so: Worauf wird Wert gelegt, dass es entsprechend gewichtig präsentiert wird? Was wird tunlichst verschwiegen? Wie weit bestimmen Ideale das Dargestellte und Erzählte? Was wird tabuisiert? Wieviel Apologetisches in Lebensbeschreibungen zu finden ist, ist immer nur aus dem konkreten Kontext zu erheben, der Bildungsideale kreiert und definiert. Mit biblischen Bildungsbiografien ist es auch nicht anders. Erzählungen über Lebensläufe von biblischen Figuren sind immer fiktiv, da ihr Fokus nicht in der Wiedergabe historischer Tatsachen, sondern vielmehr in narrativer Theologie zu suchen ist. 1 Aus ihnen lassen sich einerseits Bildungsideale der erzählenden Zeit erheben, andererseits geben sie indirekt Auskunft über Vorstellungen, wann denn ein Leben auch als verfehlt gelten kann. Im Folgenden soll unter diesen Prämissen einigen Bildungsbiografien alttestamentlicher Figuren nachgegangen werden, 2 wobei besonderer Wert darauf gelegt wird, dass Sachverhalte nicht – wie in solchen Fällen meist üblich – ausschließlich an männlichen Beispielen aufgezeigt werden, sondern geschlechterfair auch an weiblichen. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass die Mehrheit der weiblichen – wie auch die Mehrzahl der deutlich häufiger auftretenden männlichen – Figuren nur als Protagonistinnen in

1 »Die Bibel stellt Lebensgestalten vor, der Kanon verfolgt ein didaktisches Ziel der Konzentration auf Exempla des Lebens vor Gott.« So G. Steins, Zwei Konzepte – ein Kanon. Neue Theorien zur Entstehung und Eigenart der Hebräischen Bibel, in: ders./J. Taschner (Hg.), Kanonisierung – die Hebräische Bibel im Werden (BThSt 110), Neukirchen-Vluyn 2010, 8–45, hier: 43. 2 Die Fragestellung ist nicht genuin alttestamentlich, aber es entwickelte sich als ein interessantes Experiment, die alttestamentlichen Texte ihr entlang zu rezipieren. Der Zugang kann bei der ins Treffen geführten Anzahl von Texten nicht strikt exegetisch sein, sondern muss zwingend eher essayistisch bleiben.

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einzelnen Erzählungen oder begrenzten Erzählzusammenhängen auftreten. Figuren, deren Lebensweg narrativ von der Geburt oder zumindest von einer Erwählung oder Berufung bis zum Tod ausgefaltet werden, sind im biblischen Erzählzusammenhang zahlenmäßig sehr beschränkt. Es sind Jakob, Josef, Mose, Samuel, David und eventuell noch Aaron, Josua, Saul und Salomo. Um eine Geschlechterfairness in der Darstellung zu gewährleisten, wähle ich im Folgenden andere Figuren, die entweder mit weiblichen in Zusammenhang stehen oder deren Schicksal sich an Figuren beiderlei Geschlechts aufzeigen lässt. Bildungsentwicklungen finden aber auch kollektiv statt. Auch das Volk Israel als Erzählfigur kann also in mehreren Aspekten auf eine Bildungsbiografie hin untersucht werden. 1.

Wie erlangt man in Alt-Israel Bildung?

Bildungsbiografien werden heutzutage häufig tabellarisch als Abfolge von absolvierten Schulen, Studien- und Lehrgängen sowie Ausbildungs- und Fortbildungsveranstaltungen visualisiert. Sie sind damit sehr stark von institutionell verankertem Lernen geprägt. Bis heute hat man aber für die formative Epoche des alttestamentlichen Kanons vor der Hellenisierung weder literarisch noch archäologisch eindeutige Hinweise auf die Institution eines Schulwesens gefunden. Von der Euphorie eines davidisch-salomonischen Großreichs, das mit seinem Verwaltungsapparat zwingend eine Schule voraussetzen würde, ist aufgrund der neueren archäologischen und historischen Forschungen nichts mehr übriggeblieben. Der sogenannte Bauernkalender von Gezer 3 aus dem zehnten Jahrhundert v.Chr. ist bis heute das älteste Dokument, das althebräische Schrift – noch dazu in recht ungelenker Form – bezeugt. Aber wo wurden Menschen in der Gesellschaft, die die biblischen Texte hervorbrachte, (aus)gebildet? Und was waren die Lehrinhalte? Wie kam es zu dieser Gemeinschaft, die sich als Buchreligion durch das gehörte und verschriftete Wort definierte (Dtn 4,12) und die man mit Recht eine frühe Bildungsgesellschaft nennen kann? a)

Lernorte und Lerninhalte

Biblische Texte bezeugen vor allem ein Lernen in der (Groß-)Familie und geben nur vage Hinweise auf die Existenz von Schulen, die im Folgenden als Institutionen, in denen (junge) Menschen kollektiv von Expertinnen und Experten unterrichtet werden, verstanden werden sollen. 3 Siehe dazu und auch zum Folgenden: J. Krispens, Schule, wibilex 2007, https://www. bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/schule-1/ ch/49b137a494fa791f608b2237d7945477/ (zuletzt abgerufen am 5.6.2020).

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Lernen stellt im AT ein Desiderium insbesondere deuteronomischer oder deuteronomistisch geprägter Texte dar. 4 Wie auch die beiden diesbezüglich berühmtesten Texte, das Schem’a und die Kinderfrage beim Pesach (Dtn 6,4–8.20–25), eindrücklich belegen, bildet die Familie den primären Lernort der kollektiven Erinnerung und der Tradition des Gottesvolkes. Umso mehr haben wir anzunehmen, dass lokale Traditionen und familiäre Angelegenheiten von den Eltern an die Kinder weitergegeben wurden. Das Sprüchebuch stellt denn auch in seinen Lehrreden (Spr 1,8; 6,20; 31,1) Vater und Mutter als Lehrende vor – nicht etwa Weisheitslehrer, wie dies häufig insinuiert wird. Erziehung bedeutet dabei nicht nur die Vermittlung von basalen Kulturtechniken, ethischen Verhaltensweisen, Sitten und Riten einer Gesellschaft, sondern auch der religiösen, identitätsstiftenden Traditionen. Dabei ist hervorzuheben, dass in den großen Lehrreden am Eingang zu den Sprichwörtern (Spr 1–9) zweimal der Mutter die Vermittlung von Tora zugeschrieben wird und die Weisheit, die personifiziert zum rechten Leben anweisen will, als Frau auftritt. Dies stellt einen bemerkenswerten Kontrapunkt zum in der Christentumsgeschichte weitgehend befolgten Lehrverbot für Frauen dar, das auf 1 Kor 14,34f zurückgeht. In Familien findet zudem die Sozialisation der jungen Generation statt, die aufgrund geschlechtsspezifisch verteilter Arbeit fest umrissene Geschlechterrollen produziert und fortschreibt. 5 Dabei werden die Kulturtechniken des Ackerbaus, der Viehzucht, der Textil- und Metallherstellung und -verarbeitung, der Nahrungsmittelproduktion und -zubereitung, der Vorratshaltung und der Jagd sowie der Bautechnik und der Künste vermittelt. Eindrücklich vorgestellt wird dies in Gen 4,20–22, im Abschnitt über die Erfindung der Kulturtechniken zusammengefasst, die in der Ikonographie der mittelalterlichen Genesis-Zyklen neben Schöpfungsdarstellungen niemals fehlen durften. Auch wenn wir heutzutage bestrebt sind, Sozialisation von Bildung zu unterscheiden, so gewährleistet die Vermittlung elementarer, wenngleich auch stark gewandelter Kulturtechniken bis heute die Partizipation am Gemeinwesen und stellt kulturelle Identität für das Individuum und Kontinuität für die soziale Gruppe her. Aber sicher ist als Lernort auch das Heiligtum mit seinen Opfern, Riten und Liturgien in Betracht zu ziehen. Die großen Geschichtspsalmen (z.B. Ps 78; 105; 135; 136), die bestimmt keine Spontangebete

4 Mit dieser Thematik hat sich ausführlich K. Finsterbusch, Weisung für Israel. Studien zu religiösem Lehren und Lernen im Deuteronomium und in seinem Umfeld (FAT 44), Tübingen 2005, beschäftigt. 5 Geschlechterrollen sind weder naturgegeben noch historisch stabil. Darauf haben bereits C. West /D.H. Zimmerman, Doing Gender, Gender and Society, Vol. 1, No. 2 (1987), 125–151, verwiesen (http://links.jstor.org/sici?sici=0891-2432%28198706%291%3A2% 3C125%3ADG%3E2.0.CO%3B2-W, zuletzt abgerufen am 5.6.2020).

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wiedergeben, sprechen hier Bände. Auch die in der Eisenzeit sicher nicht flächendeckend verbreiteten Kulturtechniken des Lesens und Schreibens werden wohl primär an den Orten, an denen man sie brauchte, vermittelt worden sein: Am Heiligtum und am Königshof sowie an deren dezentralen Verwaltungseinrichtungen, wo Abgaben verzeichnet, diplomatische Korrespondenz geführt und auch wohl erste Aufzeichnungen religiöser, politischer, administrativer und juridischer Traditionen stattfanden. 2.

Bildung als Notwendigkeit und Auszeichnung der Führungselite

Dezentral organisierte Gesellschaften, wie sie etwa im Richterbuch ihren erzählerischen Niederschlag finden, sind nicht durch dauerhafte und zentralistische Führung gekennzeichnet. Vielmehr treten in ihnen Führungspersönlichkeiten nach Bedarf und spontan hervor – oder eben von Gott berufen, wie dies etwa das Richterbuch darstellt. Dort, wo sich in Führungspositionen Kontinuität herausbildet, entstehen Eliten, die, um dauerhaft an der Macht zu bleiben, einen Wissens- und Erfahrungsvorteil ausbilden müssen. Die im Alten Orient entsprechenden literarischen Formen sind etwa Prinzen- und Prinzessinnenunterweisungen oder die schriftliche oder mündliche Weitergabe von (arkanem) Wissen um Riten und Kultangelegenheiten an Tempeln. a) Evaluierung zur Aufnahme in Bildungseliten: Die Königin von Saba und Salomo Auch wenn bei diesem gebildeten Paar die Erzählungen ungleich gewichtet sind und wir wesentlich mehr über Salomo erfahren als über die ausländische Königin, kann an ihm dennoch der Stellenwert von Bildung gezeigt und Einblick in Bildungsinhalte gegeben werden. Salomo hat – wie alle Vertreter der ersten drei Generationen des Königtums in Alt-Israel – keine Kindheitsgeschichte. Man erfährt nur in einer Notiz, dass er als letzter Sohn Davids von dessen Frau Batseba geboren wurde (2 Sam 12,24f). Dann spielt er erst wieder in der Thronfolgeszene in 1 Kön 1 eine Rolle, in der er, offenkundig ohne selber anwesend zu sein, von seiner Mutter Batseba und deren alteingesessenen Jerusalemer Verbündeten, dem Propheten Nathan und dem Priester Zadok, an die Macht geputscht wird (1 Kön 1,26.32ff). 6 Der zeitgleich bereits als König agierende reguläre Thronfolger Adonja wird dadurch nicht nur seiner 6 Die alteingesessenen jebustitischen Verbindungen der Protagonisten in 1 Kön 1 aufgezeigt zu haben, ist das Verdienst von G.H. Jones, The Nathan Narratives (JSOT.S 80), Sheffield 1990, insbes. 119–147.

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bereits angemaßten Stellung enthoben und als Thronprätendent ausgeschaltet, sondern verliert im Verlauf der Geschehnisse auch sein Leben (2,25). Der Erzählfortgang legt nahe, dass David offenkundig noch zu Lebzeiten abdankt (1 Kön 1,43.48), um seinem weisen Sohn (2,6) den Thron zu übergeben. Die Eignung für das Amt und das Wissen um dessen Führung, also königliche Weisheit, werden in der folgenden Erzählung sowie in der inner- und nachbiblischen Rezeption für die Salomo-Figur konstitutiv. 7 Sowohl die Traumoffenbarung in Gibeon (1 Kön 3,4–15), in der JHWH dem König drei Wünsche freistellt, dieser aber bloß ein hörendes Herz erbittet und daher alles andere dazubekommt, als auch die Erzählung über das salomonische Urteil, bei dem seine sprichwörtliche Weisheit im gerechten Gericht zum Ausdruck kommt (1 Kön 3,16–28), bescheinigen diesem König wie keinem anderen eine weise Regentschaft. Als königliches Bildungsideal erweisen sich in beiden Erzählungen Achtsamkeit und Gerechtigkeit, die er selbst der untersten sozialen Schicht, den weiblichen Prostituierten, ohne Ansehen der Person Recht verschafft. Königliche Bildung und Eignung ist also daran abzulesen, wie ernst der Herrscher sein Volk nimmt. Eine weise Führungspersönlichkeit zeigt sich zudem daran, dass sie weder parteiisch ist noch sich selber oder nur die eigene Gruppe bedient – wie dies in krassem Gegensatz zu Salomo sein eigener Sohn Rechabeam mit desaströsem Ausgang tut (1 Kön 12,1–19). Stefan Wälchli 8 hat anhand altorientalischer Vergleichstexte aufgezeigt, dass der Topos der gottunmittelbaren Begabung mit Weisheit vor allem bei Königen in einer irregulären Erbfolge auftritt. Die beiden Erzählungen um die Regierungsweisheit Salomos fungieren also als göttliche Legitimation gegenüber älteren Erbfolgeansprüchen: Der Bestgeeignetste hat nach David die Regierung angetreten, nicht irgendeiner, der nach dem Tod einiger Thronfolger als ältester Königssohn verblieben ist. Zu einem altorientalischen Herrscher gehört aber selbstverständlich auch die standesgemäße Repräsentation. Diesem Themenkomplex widmen sich die Erzählungen über Salomos Reichtum und vor allem über seine Bautätigkeit mit Engagement von internationalen Künstlern (1 Kön 5–9). Beide Aspekte werden in der Erzählung um den Besuch der Königin von Saba einer internationalen Evaluation unterzogen. 9 1 Kön 5,9–14 7 Zum Zusammenhang des Salomo zugeordneten Sprüchebuches mit den Weisheitserzählungen aus 1 Kön siehe M. Winkler, Das Salomonische des Sprichwörterbuches (HBS 87), Freiburg 2017. 8 S. Wälchli, Der weise König Salomo. Eine Studie zu den Erzählungen von der Weisheit Salomos in ihrem alttestamentlichen und altorientalischen Kontext (BWANT 141), Stuttgart 1999, 215f. 9 Siehe dazu ausführlicher I. Fischer, Salomo und die Frauen, in: F.L Hossfeld /L. Schwienhorst-Schönberger, (Hg.), Das Manna fällt auch heute noch. FS E. Zenger (HBS 44), Freiburg im Breisgau 2004, 218–243.

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weist bereits darauf hin, dass Salomos außergewöhnlich luxuriöse königliche Hofhaltung und seine unvergleichliche Weisheit als international anerkannt und gesucht gelten. Die in 1 Kön 10,1–13 erzählte Begehung vor Ort durch eine sagenhaft weise und reiche Königin wird also durch Salomos internationalen Ruf provoziert (10,1). In klassisch-weisheitlicher Manier stellt sie die Weisheit des jungen Königs in Israel mit Rätselfragen, wie wir sie exemplarisch wohl auch in den Zahlensprüchen des Sprüchebuches finden (vgl. z.B. Spr 30,16–33), auf die Probe. Salomo besteht sowohl diese Prüfung als auch jene seiner königlichen Prunkentfaltung und Hofhaltung. Die Akteurin dieser Erzählung ist ausschließlich die Königin von Saba. Nur sie spricht in direkten Reden und nur sie agiert, während Salomo bloß einmal re-agiert, wo es zur Klärung der Prüfungssituation nötig ist. Die Autoritätsverhältnisse sind also auch auf diskursiver Ebene eindeutig – ganz so, wie man es heute aus Evaluierungssituationen kennt. Beide erweisen sich insofern als ideale Herrschende, als sie Weisheit besitzen und daraus auch materiellen Gewinn zu ziehen vermögen. Beides wird nicht für sich behalten, sondern reichlich verschenkt (1 Kön 10,10.13). Die beiden Führungspersönlichkeiten zeichnen sich damit gemäß den Prinzipien von Spr 9,7–9 als ideale royale Figuren aus: Weise wird man, indem man Weisheit teilt und bereit ist, Lehre anzunehmen. Besitz als Ausdruck von Gottes Segen nur zu horten und neidisch zu behüten, zeichnet hingegen einen Toren aus. 10 Die überdimensionierten gegenseitigen Geschenke und der gelehrte Diskurs malen die Königin von Saba und Salomo im Licht der Weisheitsliteratur als Ideale. Das Wissen um die Herkunft sowohl von Reichtum als auch von Erkenntnis ist beiden Herrscherfiguren eigen und wird in 10,9 ausdrücklich genannt: Beides stammt von JHWH. Wollte man aus den Texten um Salomo eine Bildungsbiografie erstellen, so verläuft sie keineswegs geradlinig. Die ersten, durchaus problematischen Entscheidungen zur Beseitigung aller seiner Gegner und der zu starken Persönlichkeiten aus der Regierungszeit des Vaters werden der Initiative der Eltern zugeschrieben: Der nach 1 Kön 1,1–4 bereits greise David schwingt sich vor seinem Tod nochmals zum entscheidungsfreudigen Herrscher auf, der dem Sohn am Königthron den Ratschlag zur Beseitigung aller Widersacher rät (1 Kön 2,1–10). Batsebas Initiative 11 führt zum Verdacht der Planung eines Umsturzes durch den regulären Thronfolger Davids, Adonja (2,13–25). In der blutigen Beseitigung seiner Gegner durch Auftragsmord erscheint Salomo in diesem Kontext als 10 Dieser Erzählzug wird durch die Figur des namhaften Toren Nabal in 1 Sam 25,3.10f.36 ausgefaltet. 11 Siehe zu dieser Deutung I. Fischer, Gotteslehrerinnen. Weise Frauen und Frau Weisheit im Alten Testament, Stuttgart 2006, 111–116.

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gehorsamer Sohn, der die Weisung der Eltern beachtet. Er stellt sich in die Fußstapfen des Vaters, der ebenfalls bei Regierungsantritt die Führungsriege seines Vorgängers gewaltsam beseitigen lässt, wenngleich das Fürstenideal vorweg von Abigail vertreten und von David durch die mäeutische Lehre der hochintelligenten Frau auch akzeptiert wird: Ein Mensch, auf dem Blutschuld lastet, 12 ist ungeeignet für die Herrschaft (1 Sam 25,24–31). Durch die unmittelbare Abfolge der beiden Weisheitserzählungen von Kap 3 auf diesen blutigen Introitus wird Salomo jedoch als weiser König par excellence vorgestellt, als der er schließlich im Gesamt des Kanons auch verewigt wird. Dennoch läuft der kritische Erzählfaden von Anfang an durch die gesamte Geschichte hindurch parallel: Zwar wird in 1 Kön 5,5 betont, dass von seinem üppigen Lebensstil auch das ganze Volk profitiere, wenn es in Sicherheit unter seinen Weinstöcken und Feigenbäumen sitzen kann; aber V. 6 erzählt ganz nebenbei und dennoch in sprachlicher Aufnahme des deuteronomischen Königsgesetzes, dass Salomo militärische Hochrüstung betreibt (vgl. auch 1 Kön 10,26– 29). Nach Dtn 17,16 ist dies dem König explizit verboten. Die folgenden Erzählungen um den Tempelbau (1 Kön 5,15–8,66) stilisieren Salomo sodann als exemplarischen Frommen, der seinen Reichtum nicht nur für seinen Palast (7,1–12), sondern auch für das Heiligtum verwendet, zu dessen Einweihung er durch ein hochtheologisches Gebet von dtr Kreisen groß in Szene gesetzt wird. Nahtlos darauf folgt die Erneuerung der sog. Nathansverheißung, die allerdings – in Anlehnung an den Bundesschluss am Ende des Buches Deuteronomium – mit der Bedingung des Gebotsgehorsams versehen wird (1 Kön 9,1–9). Die folgenden Verse erzählen wenig Rühmliches: Salomo muss zur Finanzierung seiner Prachtbauten zwanzig Städte an seinen Financier Hiram von Tyrus abgeben, die noch dazu nicht dessen Gefallen finden (9,10–14). Um all den Luxus bezahlen zu können, reicht der von Gott geschenkte Reichtum also doch nicht aus. Salomo vergreift sich nach dtr Verständnis damit am Erbland, dessen Verteilung sakrosankt ist und das nicht auf Dauer veräußert werden darf. Zudem legt er dem Volk Frondienst auf wie einst Pharao in Ägypten (9,15–28). In diesem Passus wird abermals die repräsentative diplomatische Heirat mit der Pharaonentochter erwähnt (3,1; 9,24), die den Grundstein für den später so gegeißelten Harem aus fremdstämmigen Ehefrauen bildet, die Salomo zur Verehrung anderer Gottheiten verführen (11,1–13). Die exogamen Ehen bilden schließlich die Begründung für den Zerfall des Königtums (V. 11f), stellen sie doch einen gravierenden Verstoß gegen das Königsgesetz dar (Dtn 17,17).

12

Vgl. ebd., 26–36.

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Von rückwärts gelesen, ist die Bildungsbiografie des sprichwörtlich Weisen unter den Königen damit als tragisch zu charakterisieren, da Salomos Ende nicht dem Verständnis einer weisen Regierung standhält. Als Gesamtes (auf Endtextniveau!) ist sie jedoch von Anfang an mit überaus problematischen Erzähldetails versetzt. Die Weisheit und Freigebigkeit, die Spiritualität und Führungsqualität dieses Königs wird eine ganze (erzählte) Lebensgeschichte lang von Gewalt, Unterdrückung und mangelnder Beachtung der Weisung Gottes, insbesondere des Königsgesetzes, konterkariert. Es ist damit ein überaus menschliches Bild, das das Königebuch von Salomo zeichnet. Er ist zwar ein weiser König, aber es gelingt ihm nicht, dadurch sein ganzes Leben zu prägen. Von der Erzählfigur der Königin von Saba erfahren wir freilich nur einen kleinen Ausschnitt, der auch bei Salomo äußerst positiv ausfällt. Sie ist wie er eine ideale Herrscherfigur, deren Bildungsbiografie jedoch nicht im Interesse der biblischen Schriftsteller lag. b) Unterweisung des königlichen Nachwuchses durch die Mutter: Spr 31 Das durch Überschriften in sieben Teile gegliederte Sprüchebuch setzt in 31,1 über die letzte Teilsammlung folgende Information: »Worte Lemuëls, des Königs von Massa, mit denen ihn seine Mutter mahnte«. Das gesamte 31. Kap. wird damit auf eine Königin zurückgeführt, 13 die in V. 2–9 ihren Sohn über die Führung des Königtums in Massa belehrt. Wenn V. 3 mit dem Ratschlag beginnt, »Gib nicht für die Frauen deine Fähigkeit, und deine Wege [nicht] an die, die Könige austilgen!«, so bedeutet das nicht, dass einer eifersüchtigen Mutter für ihren Sohn keine Frau recht wäre. Da für jedes Königshaus Nachwuchs eine unumgängliche Voraussetzung für die Dynastiebildung darstellt, kann es dabei nicht um eine Empfehlung zur Ehelosigkeit gehen. Der Plural »Frauen« verweist vielmehr auf Haremsbildung, die im Alten Orient durch diplomatische Heiraten zur Machtstabilisierung und durch das patriarchale Eheverständnis auch zur repräsentativen Prunkentfaltung diente. Die Königin ist also nicht als böse Schwiegermutter 14 zu missdeuten und zu trivialisieren, sondern sie erzieht den offenkundig ausländischen König vielmehr nach dem Königsgesetz der Tora (Dtn 17,14–20), das in V. 17 einem König in 13 Siehe dazu ausführlicher I. Fischer, Gotteslehrerin. Ein Streifzug durch Spr 31,10–31 auf den Pfaden unterschiedlicher Methodik, Biblische Zeitschrift 49 (2005), 237–253. 14 Für F. Dijk-Hemmes, Traces of Women’s Texts in the Hebrew Bible, in: A. Brenner /dies., On Gendering Texts (BIS 1), Leiden 1993, 17–109, 55f, gehört dieser Text daher zu den androzentrischen.

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Israel verbietet, viele Frauen zu nehmen. Dass ausgerechnet dieses Verbot jenem König zum Fallstrick wird, dem das Sprüchebuch zugeschrieben wird (Spr 1,1), und Salomos Haremshaltung für den Abfall von JHWH verantwortlich gemacht wird, ist ein nicht zu vernachlässigender Zug für eine nachzuzeichnende Bildungsbiografie dieses berühmten Weisen. Die folgenden Lehren in V. 4–9 spiegeln die Konzeptionen königlicher Tugenden wider: Da der Herrscher als oberster Richter gilt, braucht es Nüchternheit, um nicht nur ohne Ansehen der Person zu richten, sondern auch um speziell das Recht jener zu vertreten und zu stützen, die keine mächtigen Freunde und im Gericht keine Verbündeten oder gar keine Rechtsvertretung haben. Die Armen, Schweigenden und Verstummten einer Gesellschaft brauchen die Unterstützung des Königs, dessen Urteilskraft daher nicht durch Alkoholexzesse oder diesen nachfolgenden Erpressungen getrübt sein darf. Diese Lehre ist sprachlich so gestaltet, dass die Königsmutter sowohl über Könige ganz allgemein spricht als auch in direkter Anrede zu ihrem Sohn (V4 »Nicht ist es für Könige, Lemuël, nicht ist es für Könige [geziemend], Wein zu trinken . . . «). Dieselbe Technik der Lehre findet sich auch im folgenden Abschnitt V. 10–31, der keine etwaige Neueinführung einer lehrenden Figur erkennen lässt. Offenkundig ist Lemuels Mutter immer noch am Wort. Nur in diesen Versen belehrt sie nicht den Prinzen, wie denn eine ideale Frau für ihn aussehen sollte, 15 sondern die Prinzessin, die sie in V. 29 direkt anspricht: »Viele Töchter erweisen sich als fähig. Du aber übertriffst sie alle!« Aufgrund der Tatsache, dass in patriarchalen Gesellschaften, die nach dem Alter positiv diskriminieren, die eigene Mutter nicht mit Tochter angesprochen werden kann, ist die herkömmliche Deutung, diesen Vers als Lob im Mund von Ehemann und Kinder für eine fähige Frau zu verstehen (V. 28), nicht zu empfehlen. Die Parallelität der Unterweisung beider Kinder, die die Tugenden für königliche Familienmitglieder verallgemeinert ausführen, um sodann Sohn und Tochter direkt anzusprechen, erlaubt es nicht, Spr 31,10–31 als Fortführung der Prinzenunterweisung zu lesen; das akrostische Gedicht lehrt vielmehr dessen Schwester(n). Die Bildungsinhalte, die die Königin ihre Tochter lehrt, differieren wesentlich von jenen des Prinzen, der auf seine Herrscherrolle vorbereitet wird. Sie belehren auch weniger durch Anweisung als vielmehr durch Beschreibung eines Ideals, dem es nachzueifern gilt. Diese Tochter wird nicht zur diplomatischen Ressource für internationale Heiratspolitik ausgebildet, sondern offenkundig als Ehefrau, die unabhängig von der

15 Zu den Deutungen siehe K. Brockmöller, »Eine Frau der Stärke – wer findet sie?« Exegetische Analysen und intertextuelle Lektüren zu Spr 31,10–31 (BBB 147), Berlin 2004, 230–238, die schließlich für das Brautschaukompendium votiert.

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Tüchtigkeit und dem Reichtum ihres Mannes es verstehen soll, einen Wirtschaftsbetrieb mit vielen Zweigen zu führen, zu vermehren und unter Wahrung der Verantwortung für alle Bediensteten zu erhalten. Unter all den Tätigkeiten und Zuständigkeiten, die durch grammatikalische Formen und Possessivsuffixe auf sie bezogen sind – und nicht auf ihren Mann –, lassen sich mehrere Sparten identifizieren: Landwirtschaft mit Acker- und Weinbau (V. 16b), Textilproduktion (V. 13) mit internationaler Vermarktung (V. 14.24), Investments- (V. 16a) und Ausbildungskapazität (V. 26). Diese Tochter wird nicht nur mit Führungsfähigkeiten ausgestattet (V. 27), um effektiv arbeiten zu lassen, sondern sie arbeitet auch selber Tag und Nacht (V. 18f). In ihren Betrieben beschäftigt sie offensichtlich keine Versklavten, sondern junge Lohnarbeiterinnen, die nach vorab vereinbartem Vertrag (V. 15) 16 bezahlt werden. Obwohl es ihr und ihrem Haus durchaus nicht an absoluten Luxusgütern mangelt (nach V. 21f Purpur, Karmesin, Byssos) und sie daher ihren eigenen, hart erarbeiteten Ertrag entsprechend genießt, vergisst sie bei all dem nicht auf die Armen, für die sie stets eine offene Hand zeigt (V. 20). Güte ist offenkundig ihre Lebensmaxime, die sie nicht nur durch ihr authentisch gelebtes Beispiel lehrt, sondern auch im Unterricht (V. 26). Auf ihren Ehemann kommt es offensichtlich nicht an. Nicht sie bezieht ihren Status von ihm, wie das in patriarchalen Gesellschaften bis auf den heutigen Tag üblich ist, sondern er von ihr als Königstochter, die unabhängig vom Geschick des (wohl nicht königlich vorgestellten) Ehemannes zu wirtschaften und ihr Leben für ihr ganzes Haus zu erhalten versteht. Hier wird für Frauen ein absolut ungewöhnliches Bildungsideal gelehrt, das durch Universalität gekennzeichnet ist, die sich sowohl in ökonomischen Kenntnissen als auch in Weisheit und Tora-Gelehrsamkeit (V. 26) äußert. Wenn die Königin ihre Tochter am Abschluss dieses Bildungskonzepts benotet (»Du übertriffst sie alle!«), so kann man diesen Text auch als Ausschnitt der Bildungsbiografie einer Frau der höchsten gesellschaftlichen Schicht verstehen. 3.

Bildungsbiografien, die das Leben schreibt

Lernen durch Erleben ist für viele Menschen heute ein idealer Bildungsmodus, der etwa in der Erlebnispädagogik oder in Abenteuerurlauben seine Anwendung findet. Aber freilich lehrt das Leben auch durch Gegebenheiten und Ereignisse, die man lieber nicht kennengelernt hätte. In der Hebräischen Bibel stehen dafür exemplarisch die beiden Figuren Ijob und Noomi. 16 Zur Bedeutung von hq siehe C.R. Yoder, Wisdom as a Woman of Substance. A Socioeconomic Reading of Proverbs 1–9 and 31:10–31 (BZAW 304), Berlin 2001, 60– 62.

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Die Bildungswege Ijobs, seiner Frau und seiner Freunde

Als klassisches Beispiel für Lernen aus Lebensumständen mag das Ijobbuch gelten, das oberflächlich als Erziehung durch Leiden gelesen werden kann. Nur die Leserinnen und Leser wissen freilich von Anfang an, dass all das Schreckliche, das den untadeligen, gottesfürchtigen und wohlhabenden Mann treffen wird, nur zur Erprobung dient und nicht zu seinem Tod führen wird. Vom aufklärerischen Standpunkt aus gesehen ist ein Gott, der Kinder und Angestellte für eine Wette sterben lässt, nicht nur in hohem Maße zynisch, sondern schlichtweg abzulehnen. Aber dies ist nicht der Diskussionspunkt, auf den die altorientalische Ijoberzählung mit ihrer literarischen Figur des leidenden Gerechten hinzielt. Vielmehr geht es im Ijobbuch um die Reversibilität des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, der gerade durch diese Exposition in der Rahmenerzählung auf die Spitze getrieben werden kann: Ijob ist und bleibt ein Gerechter (Ijob 1,21; 2,10), auch wenn ihn Unheil trifft, und er wehrt sich gegen die Deutung, dass Unglück nur von böser Tat verursacht sein könne. Die erste Serie schwerer Schicksalsschläge trifft sowohl Ijob als auch seine Frau – schließlich sind es auch ihre Kinder, die sterben und auch ihr Lebensstandard, der verlorengeht. In der zweiten Prüfung schlägt Satan nur ihn und ausgerechnet mit einer Krankheit, die ausschließlich im Kontext des Bundesbruches erwähnt wird: 17 Nach 2,7 wird Ijob »mit bösen Geschwüren von seiner Fußsohle bis zu seinem Scheitel« übersät. Diese Formulierung findet sich in der gesamten Bibel nur noch ein einziges Mal in der Fluchserie für den Bundesbruch in Dtn 28,35. Es handelt sich also nicht um irgendeine Krankheit, sondern um eine mit gezieltem Hinweischarakter. Sowohl seine Frau, die von dieser Plage nicht betroffen ist, als auch seine Freunde wissen sein Ergehen daher zu deuten, allerdings mit einem gravierenden Unterschied: Seine Frau zitiert die Gottesrede (2,9 vgl. 2,3) und konstatiert, dass er an seiner Untadeligkeit noch immer festhält, was die Freunde in ihren langen Reden jedoch bezweifeln. Am Ende des langwierigen Leidensweges des Gerechten, an dem Gott sich endlich offenbart, wird Ijob als gerecht und untadelig befunden, während seine Freunde von Gott gescholten werden und seiner Fürbitte bedürfen (42,7–9). Ijobs Frau wird jedoch von Gott nicht getadelt; sie ist und bleibt offenkundig seine Frau und beide werden schließlich wieder Eltern vieler Kinder und ihr Leben nach diesem katastrophischen Abschnitt ist mehr gesegnet als vor der rigorosen Prüfung (42,12f). Die Bildungsbiografien im Ijobbuch schreibt das Leben – durch den dahinterstehenden Gott mit seinen unbegreiflichen Ratschlüssen. Ijob

17

Siehe dazu ausführlicher Fischer, Gotteslehrerinnen, 100f.

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wird gelehrt, dass er Recht hatte, nicht klein beizugeben und sich unterwürfig schuldig zu bekennen, wo es keine Schuld gab. Seine Untadeligkeit besteht damit auch in seiner Standhaftigkeit, mit der er seine Integrität verteidigt. Seine Frau geht diesen Bildungsprozess weitgehend mit. Sie beschuldigt ihn nicht der Verfehlung, wird jedoch von der satanisch ausgewählten Krankheit mit Hinweischarakter, die ihn im zweiten Prüfungsdurchgang befällt, überzeugt, dass diese Krankheit ihren Mann nicht überleben lassen wird. Sie lernt, dass der Tat-Folge-Zusammenhang nicht umkehrbar ist und ihr Mann daher Recht hatte: Vom Ergehen kann nicht auf das Tun geschlossen werden. Die Freunde, die unbarmherzig gerade darauf beharrten, werden in einer direkten Rede von Gott getadelt und bedürfen der Wiedergutmachung. Das Ijobbuch schreibt damit Bildungsbiografien, die gegen allzu fromme Stereotypen eine universale Gottheit lehren, die den Menschen nicht in allen Dimensionen zugänglich und begreifbar ist, die aber dennoch für alles in der Welt Sorge trägt, auch wenn es Zeiten und Umstände gibt, in denen alles anders aussieht.

b)

Noomi und Rut, Boas

Noomi, eine der Hauptfiguren des Rutbuches, wird im ersten Kapitel als Ijobfigur gezeichnet. 18 Auch ihr wird wie Ijob alles genommen. Das Schicksal verschärfend, stirbt auch noch ihr Ehemann und sie findet sich als kinderlose Witwe in der Fremde wieder. Als sie, die »voll« aus Betlehem auszog, »leer« zurückkehrt (Rut 1,21), empfangen sie die Frauen des Ortes, erkennen sie und nehmen an ihrer Lebenstragödie Anteil, ohne sie jedoch zu belehren (1,19–22). Wohl deswegen sind sie nach der Kehrtwende zum Guten und der Wiedereingliederung Noomis samt ihrer fremdstämmigen Schwiegertochter am Ende in 4,14f der Lage, die neue Lebenssituation zu deuten: Gepriesen sei JHWH, der es dir heute nicht an einem Löser fehlen ließ! Und sein Name werde ausgerufen in Israel. Er ist für dich der, der den Lebensgeist zurückkehren lässt und dein Alter versorgt. Denn deine Schwiegertochter, die dich liebt, hat ihn geboren. Sie, die für dich besser ist als sieben Söhne!

Die mit der vom Unheil verfolgten Noomi solidarische weibliche Öffentlichkeit Betlehems kann mit einem Gotteslob von der Bühne abtreten,

18 Siehe dazu bereits I. Fischer, Rut (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), Freiburg im Breisgau 22005, 151f, sowie ausgefeilt weiter ausgearbeitet nun A. Beyer, Hoffnung in Bethlehem. Innerbiblische Querbezüge als Deutungshorizonte im Ruthbuch (BZAW 463), Berlin /Boston 2014, 145–159.

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während die belehrenden Freunde aus dem Ijobbuch erst nach göttlicher Rüge und Fürbitte des Beschuldigten die Szene verlassen. Aber auch die anderen Hauptfiguren des Rutbuches werden durch die untadelige Rut und durch die Führung JHWHs einem Lernprozess unterworfen. Noomi, die meint, dass der geeignete Platz einer Frau, an dem sie ihr Lebensglück findet, an der Seite eines Mannes sein müsse (1,9; 3,1), wird durch Ruts Treue vom Gegenteil überzeugt: Diese Schwiegertochter ist nicht nur mehr wert als ihre beiden verstorbenen Söhne, sondern übertrifft sieben männliche Nachkommen – in der Bibel der sprichwörtliche Ausdruck für gesicherte Altersvorsorge (vgl. 1 Sam 2,5). Dementsprechend präsentiert sich als das Schlussbild des Buches Noomi mit dem Kind im Arm, denn Rut hat es nicht für Boas geboren, sondern für die geliebte Mutter ihres verstorbenen Mannes. Aber auch die männliche Hauptfigur, Boas, eine Säule der Gesellschaft, 19 der in 2,1 als ein heldenhaft fähiger Mann vorgestellt wird und von der rückkehrenden, zur kinderlos gewordenen Witwe und Verwandten Noomi weiß (2,11), aber nichts gegen die Linderung ihrer Not unternimmt, macht durch die Initiative Ruts eine Entwicklung durch: Von anfänglicher Passivität über das Zulassen der Selbstversorgung der jungen Moabiterin auf seinem Feld durch Nachlese (Kap. 2) bis hin zur Eigeninitiative der Versorgung (3,15) und Integration beider Witwen in die judäische Gesellschaft (Kap. 4) reicht der Bogen seiner Bildungsbiografie. Die Moabiterin lehrt ihn Großzügigkeit durch ihr vorbildhaftes Leben in Solidarität. Rut, die nicht nur Kenntnis der Traditionen Israels hat, sondern mit diesen auch kreativ umzugehen vermag, nach ihnen förderlich für alle lebt und die Noomis Gottheit zu ihrer eigenen erklärt hat, erfährt, dass diese sich ihrer annimmt und alles zum Guten zu wenden vermag. Ihr Bildungsprozess beruht auf Gottvertrauen in starker Eigeninitiative.

4. Kontinuierliches Lernen der Geschichte als Aufgabe kollektiver Bildungsbiografie Bildungsentwicklungen, deren Dynamiken freilich nicht nur vom Erreichen idealer Standards, sondern auch vom Gegenteil geprägt sein können, lassen sich nicht nur an individuellen Figuren aufzeigen, sondern auch an Kollektiven. Insbesondere in Texten, die das Volk im Singular adressieren, wird deutlich, dass Bildungsprozesse und -ideale auch in der Volksgeschichte verdeutlicht werden können.

19 Siehe zu dieser Deutung aufgrund der Namensgleichheit mit einer der Säulen des Salomonischen Tempels bereits D.N. Fewell/D.M. Gunn, Boaz, Pillar of Society. Measures of Worth in the Book of Ruth (JSOT 45), Dallas /Decatur 1989, 45–59.

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Lernen aus der Geschichte als Rezeptionsprozess

»Denk an die Tage der Vergangenheit, lerne aus den Jahren der Geschichte«, so übersetzt auch die Neue Einheitsübersetzung Dtn 32,7, obwohl das Diktum, dass die Geschichte ein Lehrmeister sei, heiß umstritten ist. »Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich«, 20 schreibt Margaret Atwood im Klappentext zu ihrem neuen Roman Zeuginnen – und genau darum geht es wohl auch, wenn Kohelet sein Motto »Nichts Neues unter der Sonne!« formuliert oder die alttestamentliche Geschichtstheologie Ereignisse nicht nur zum Lobpreis von vergangenen Heilstaten JHWHs rekapituliert, sondern auch als Leitlinien vor Augen stellt, wie denn Entscheidungen in der Gegenwart getroffen werden müssen. Das Moselied am Ende der Tora, aus dem der eingangs zitierte Vers stammt, ist mit seinem eröffnenden Höraufruf in Dtn 32,1f zweifellos als Lehre zu verstehen. Es stellt, wie fast alle Geschichtsrückblicke in atl. Büchern, die Dynamik der Geschichte vor Augen, indem den Wohltaten Gottes die Geringachtung derselben und die mangelnde Befolgung durch das Volk folgt – mit desaströsen Folgen für die Gemeinschaft. Diese Geschichtsrückblicke basieren offenkundig auf der deuteronomisch-deuteronomistischen Theologie, die als einen ersten Schritt der Bewältigung der traumatisierenden Ereignisse um den Untergang Jerusalems und Judas die Ursache nicht bei einer allzu schwachen Gottheit suchen, sondern im eigenen Fehlverhalten diagnostizieren. Wie Ruth Poser 21 eindrücklich gezeigt hat, bietet dieser aus der Psychologie bekannte Mechanismus, dass Traumatisierte die Schuld für die gewaltsamen Erlebnisse bei sich selber suchen, den unglaublichen Vorteil, dass die Opfer die Macht des Handelns wieder in die Hand bekommen. Denn wer bei sich selber etwas ändern kann, um nicht noch einmal katastrophisch-traumatisierenden Ereignissen ausgesetzt zu werden, kann mit Vermeidungsstrategien einen ersten Ausweg aus der Erstarrung finden und die Welt neu zu gestalten beginnen. Die großen Geschichtsrückblicke 22 spiegeln diese Theologie wider, wenn sie eine souveräne, stets neu rettende und unterstützende Gottheit zeichnen, das Volk aber immer wieder mit Undank auf die Zuwendungen reagiert und sich anderen Gottheiten zuwendet oder nicht nach den Regeln im Lande lebt, über die man sich am Ende der Tora im Moabbund verständigt hatte. Ein Lernen aus der Geschichte setzt dabei keine Wieder-

20 Motto auf dem inneren Klappentext von M. Atwood, Die Zeuginnen, Berlin 2019. 21 R. Poser, Verkörperte Erinnerung: Trauma und »Geschlecht« in prophetischen Texten, in: I. Fischer /J. Claassens (Hg.), Prophetie (BuF 1.2), Stuttgart 2019, 273–292, insbes. 285– 290 den Abschnitt zur traumatischen Scham. 22 Um nur einige Geschichtsrückblicke, die sich häufig in Gebeten finden, exemplarisch zu nennen: Dtn 32*; Ps 78; 105+106; 135+136; Neh 9; Jes 63,7–64,11.

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holung der Ereignisse voraus, sondern versucht, Muster aufzuzeigen, nach dem auch unter völlig anderen Voraussetzungen Ereignisse ablaufen können – seien sie zum Guten oder zum Schlechten. Alle diese Geschehnisse der Geschichte, derer man in einer Memoria gedenkt, bilden letztlich die Bildungsbiografie des Volkes, das aus jeweils neuem Erlebten seine Lehren zieht.

b)

Lernhorizonte im Juditbuch

Ein bemerkenswertes Beispiel des Lernens der Geschichte und aus der Geschichte bietet das griechisch verfasste Juditbuch, in dem der Ammoniter Achior offenkundig besser über die Geschichte Israels Bescheid weiß als die Ältesten der belagerten Stadt Betulia. Achior rekapituliert dabei in seiner Rede an Holofernes vor allem jene Teile der erzählten Geschichte Israels, die mit den Babyloniern, den Chaldäern, in Verbindung zu sehen sind (Jdt 5,6–19: Abrams Auszug aus Ur Chasdim nach Gen 11,27–12,4; Zerstörung Jerusalems und Exilierung vgl. Gen 15,18f.) und die Auseinandersetzung mit Ägypten, einem anderen Großreich, aufzeigen, die mit dem Exodus der Israeliten siegreich endete (5,10–16). Dabei warnt er den Großkönig und seinen Heerführer eindrücklich, gegen Israel vorzurücken, da das Heer nur dann siegreich sein könne, wenn Israel seinem Gott und dessen Gesetz untreu werde. Die Volksgeschichte Israels wird in dieser Rede von einem Mitglied eines Landes, dessen Menschen nach Dtn 23,4 nicht in die Gemeinde aufgenommen werden dürfen, in einer Weise dargestellt, die die Zuhörenden zum Nachdenken über ihre projektierten Handlungen anregen sollen. Nicht alle Ereignisse sind dabei gleich wichtig, sondern nur jene, aus denen Analogien gezogen werden können. Die Kenntnis der Geschichte dieses für Achior fremden Volkes erweist ihn als gebildeten Menschen; sein Ansinnen des Transferlernens aus den ausgewählten Episoden macht ihn zum Lehrer, der allerdings erfahren muss, dass ihn die Mitteilung seines Wissens an den Rand des Todes bringt. Während die Verteidiger Betulias lange Zeit tapfer die Stellung halten, beginnt ihre Zuversicht in sich zusammenzufallen, als das Wasser in der Stadt zu Ende zu gehen droht (Jdt 8,9). Die reiche Witwe Judit liest den Ältesten die Leviten, da diese beschlossen hatten, nach fünf Tagen die Stadt aufzugeben, wenn keine Hilfe käme. Aus den vielen Ereignissen der Geschichte, aus der sie die drei Erzväter ins Treffen führt, könnte man schließen, dass Gott auch in der aktuellen Situation sein Volk prüfe, aber kein Strafgericht mit ihm vorhabe (9,26f). Auch hier geht es um Transferlernen durch Beispiele aus der Geschichte. Beachtenswert im Juditbuch sind allerdings die Protagonisten, die die Geschichte als Bildungsinhalt einer Biografie des Volkes einbringen: Es sind ein Ausländer aus einem

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tabuisierten Volk und eine verwitwete Frau – nach den Vorstellungen sehr vieler Ausleger Vertreterinnen und Vertreter von Personengruppen, die gerade nicht für die Weitergabe offizieller Tradition geeignet sind. 5.

Lernorte des Rechts

Aspekte einer Bildungsbiografie des Volkes Israel lassen sich auch in der Entwicklung seines Rechts nachvollziehen. Große Teile seiner Rechtsvorstellungen hat Israel mit dem Alten Orient gemeinsam; allerdings gibt es auch in vielen Bereichen Akzentsetzungen, die sich nirgends in den altorientalischen Rechtssammlungen finden. 23 Zudem existierten altorientalische Rechtsregelungen, die im biblischen Recht keinen Niederschlag gefunden haben, wohl aber in Erzählungen. 24 Generell ist festzustellen, dass kodifiziertes Recht nicht nur einer Entwicklung unterliegt, sondern dieses auch in der Anwendung ausgelegt und damit aktualisiert wird. Solche Prozesse der Veränderung durch Applikation hinterlassen ihre Spuren zwar auch in Rechtssammlungen, wenn diese aus unterschiedlichen Zeiten stammen, 25 aber sie sind vor allem durch narrative Texte nachzuvollziehen, die die teils massiven Rechtslücken oder Fehleinschätzungen von Umständen und Rechtsträgern thematisieren. Zwei solcher Sachverhalte sollen im Folgenden aufgezeigt werden: Der Zweifel an der generellen Zuverlässigkeit der Zweizeugenregel in Gerichtsprozessen und die irrige Annahme, dass in einer sehr eng gebauten altorientalischen Stadt keine Vergewaltigung geschehen könne, da man den Hilferuf einer Frau hören und ihr zu Hilfe eilen würde. c)

Zweizeugenregel

Dtn 19,15 sieht vor, dass eine Anzeige eines Verbrechens niemals von einem einzigen erfolgen kann, sondern mindestens zwei Zeugen das Geschehen bestätigen müssen. Diese Regelung ist aufgrund der fehlenden Gewaltenteilung an sich sinnvoll, da in einem speziellen Rechtsfall ein Zeuge, wenn es sich um einen Ältesten in der Torgerichtsbarkeit handelt, 23 Hier könnte man das vom heutigen Standpunkt her als überaus humanes Kriegsrecht zu bezeichnende Konvolut von Dtn 20 nennen, das bei strikter Anwendung ohne moralische Imperative vermutlich gar keinen Krieg ermöglichen würde. 24 Dazu zählt etwa das stellvertretende Gebären einer Sklavin für die Hauptfrau; vgl. dazu ausführlicher in I. Fischer, Die Erzeltern Israels. Feministisch-theologische Studien zu Gen 12–36 (BZAW 222), Berlin 1994, 97–101. 25 So etwa das Bundesbuch und das dtn Gemeindegesetz siehe dazu generell E. Otto, Biblische Rechtsgeschichte als Fortschreibungsgeschichte, Bibliotheca Orientalis 56 (1999), 5–14.

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ja gleichzeitig Ankläger und Richter sein könnte. Dtn 19,16–21 sieht für den Fall einer Falschanklage eine drakonische Strafdrohung vor: Der Falschzeuge erfährt die für das angezeigte Verbrechen vorgesehene Strafe am eigenen Leib. Die ausschließlich griechisch überlieferte Susanna-Erzählung des Buches Daniel 26 thematisiert für diesen Kontext die Gesetzeslücke, die bei Absprache zweier Zeugen entsteht, wenn diese als Älteste Richtergewalt haben. Durch den prophetisch begabten jungen Daniel, dessen Name die Richtergewalt Gottes widerspiegelt, wird die (gesetzes-)treue Ehefrau Susanna vor der Falschanklage des Ehebruchs bewahrt. Sie, die sich in der für sie unausweichlichen Situation für die Verweigerung des geforderten Beischlafs und für die Falschanklage entscheidet, weiß, dass dies nicht nur den Ruin ihrer Ehre, sondern auch den Verlust des Lebens nach sich ziehen wird. Dan 13 ist damit eine eminent sozialkritische Erzählung, die die wahre Frömmigkeit gerade nicht bei den für das Gemeinwesen verantwortlichen Männern ortet, sondern bei den Jungen und den Frauen. Mit dieser ihrer gesellschaftskritischen Sicht betreibt die Erzählung auch Rechtsauslegung, indem sie die Möglichkeiten des Rechtsbruchs der Mächtigen aufzeigt, in deren Hand all jene sind, die nicht als Patriarchen im Tor sitzen. d)

Keine sexuellen Gewaltverbrechen in der Stadt?

Die Susanna-Erzählung thematisiert zudem die irrige Annahme aus Dtn 22,23–27, dass in der Stadt keine Sexualverbrechen begangen werden könnten, da man bei den engen Bauverhältnissen den Hilfeschrei der Betroffenen hören und ihnen sofort zu Hilfe eilen würde. Nach der Theodotionfassung von Dan 13,24 schreien jedoch die gewaltbereiten Ältesten gleichzeitig mit Susanna, um den Hilfeschrei der Frau zu übertönen und um damit das von Susanna niemals begangene Verbrechen des Ehebruchs anzuzeigen. Eine ähnliche Situation wird zweimal in den Davidserzählungen problematisiert: David lässt Batseba holen und schläft mit ihr, obwohl er weiß, dass sie die Ehefrau eines seiner Soldaten ist, der für ihn gerade im Krieg steht. Wenn 2 Sam 11 von keinerlei Reaktion Batsebas erzählt, so wird deutlich gemacht, dass sie in der Opferrolle nicht einmal eine Stimme hat. Wenn der König ruft, hat die Frau zu gehorchen und zu kommen. Niemand wird ihr zu Hilfe eilen, wenn sie in den königlichen Gemächern um Hilfe ruft. 26 Dieser Erzählzug gilt für alle griechischen Versionen; siehe dazu C. Leisering, Susanna und der Sündenfall der Ältesten. Eine vergleichende Studie zum Frauenbild der Septuaginta- und Theodotionfassung von Dan 13 und ihren intertextuellen Bezügen, Münster 2008.

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Gleichsam als Kettenreaktion auf diese Gewalttat des Königs wird in 2 Sam 13 von der Vergewaltigung der Königstochter Tamar durch den Thronfolger Amnon erzählt. Er schickt alle Bediensteten hinaus, bevor er der eigenen Schwester Gewalt antut (13,9). Tamar schützt weder die städtische Umgebung noch ihre rationale Überzeugungsarbeit (V. 12–14) vor gewalttätiger Erniedrigung. 27 Allerdings ist sie nach dem Verbrechen nicht bereit, den für solche Fälle offenkundig üblichen Weg der Vertuschung zu gehen (V. 20a), sondern macht es publik (V. 18f.20b). Das nimmt ihr freilich jegliche gesellschaftliche Eigenständigkeit und Reputation und verdammt sie zu einem zurückgezogenen Dasein im Haus des Schutz gewährenden Bruders. Diese Erzählung hat insofern Sprengkraft, als in ihr nicht nur wie in der Susanna- und der Batseba-Episode die Erzählpassagen das Verbrechen aufzeigen, sondern dies die betroffene Erzählfigur auch selber tut. Diese beiden Beispiele für eine Bildungsbiografie des Volkes in Bezug auf seine Rechtsregelungen sind insofern besonders interessant, als sie nicht nur eine Sensibilisierung des Rechtsempfindens in Bezug auf Gesetzeslücken belegen, sondern auch die Androzentrik altorientalischen Rechts mit seiner Begünstigung der freien, voll rechtsfähigen Männer kritisch hinterfragen. Sie bilden insofern einen Beleg für eine Entwicklung in einer kollektiven Bildungsbiografie, die offenkundig je länger umso deutlicher erkennt, dass Recht nur Gerechtigkeit schaffen kann, wenn alle Mitglieder der Gesellschaft egalitären Zugang dazu haben. Resümee Die Frage nach Bildungsbiografien in der Bibel ist zwar anachronistisch, aber letztlich sind das fast alle Fragestellungen, mit denen wir heute an die Bibel herangehen. Da Alt-Israel mit gutem Recht zumindest ab der ausgehenden Perserzeit als Bildungsgesellschaft, in deren Zentrum ein religiöser kanonisierter Text stand, bezeichnet werden kann, hat sich dieser suchende Rundgang durch die Texte als durchaus fruchtbar erwiesen: Die Bibel gibt Einblick in Bildungsideale vor allem höherer und höchster Gesellschaftsschichten und erweist sich für diese Schichten und die erhobenen Bildungsideale als wesentlich weniger geschlechterstereotyp als dies bei geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und Sozialisation vermutet werden könnte. Aber auch in den Lebenserfahrungen, die Menschen wachsen lassen und bilden, erzählt sie durchaus geschlechterfair. Es gibt nicht nur männliche Helden, die durch Unterricht und Erleiden von Schicksalsschlägen erzogen werden, sondern durchaus auch Frauen jeglichen Alters. 27 Zu dieser Deutung siehe I. Müllner, Gewalt im Hause Davids. Die Erzählungen von Tamar und Amnon (2 Sam 13,1–22) (HBS 13), Freiburg 1997, 259–272.

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Wer die alttestamentlichen Texte, die freilich statistisch wesentlich mehr über Männer reden als über Frauen, vorurteilsfrei liest, entdeckt in Bezug auf Bildung vieles, das Frauen in unseren westeuropäischen Kulturen erst vor gut einem Jahrhundert begannen, sich zu erstreiten. Für Evaluierungskommissionen qualifiziert und Managementaufgaben ausgebildet sind zudem Frauen erst seit Kurzem und das nur zu einem sehr geringen Prozentsatz . . . Abstract The article is dedicated to contexts and contents of formation and education in Old Testament texts. It questions spaces as well as institutions and subjects of education, being aware that in research such issues often were treated with a gender-bias. Therefore, the examples are chosen gender-fair: On a male and a female figure is demonstrated that formation was obligatory for ruling positions and given also by mothers, to sons as well as to daughters. Educational biographies are exemplified likewise on a male and a female figure. Continuing education is seen as life-long task of Israel’s collective biography. Finally, narratives are decoded as educational detectors of loopholes in the law, which helped developing a more accurate formulation of legal regulations. Univ.-Prof. Dr. theol. Dr. phil. h.c. Irmtraud Fischer, geb. 1957, ist Institutsleiterin und Universitätsprofessorin am Institut für Alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz.

Tobias Nicklas

Die Botschaft vom Reich Gottes Erziehung und Bildungsangebot im Markusevangelium

In seiner noch immer lesenswerten Abhandlung Licht vom Osten beschreibt Adolf Deissmann das frühe Christentum als eine Bewegung »von unten«. Jesus von Nazareth sei »ganz unliterarisch« gewesen, die frühesten christlichen Schriften, also die Texte, die Einzug in das Neue Testament fanden, seien als einfachste Volksliteratur zu verstehen: Was von den Worten des unliterarischen Jesus durch andere auf uns gekommen ist und was wir von den unliterarischen Briefen des Paulus noch besitzen, zeigt uns das Christentum der schöpferischen Urzeit aufs engste verwachsen mit den unteren Schichten, noch ohne wirksame Verbindung mit der kleinen Oberschicht der Macht und der Bildung. Und zwar steht Jesus mehr bei den kleinen Leuten einer ländlichen und landstädtischen Kultur, die Leute der großen Stadt haben ihn verworfen; Paulus steht mehr bei den Bürgern und Handarbeitern der internationalen Weltstädte, beide gleichermaßen erfüllt von prachtvoller Ironie und überlegenem Mißtrauen gegen die Oberschicht. 1

Heute wird der Idee, das frühe Christentum sei als bildungsfernes Unterschichtenphänomen zu begreifen, in zunehmendem Maße widersprochen. So kommt etwa Udo Schnelle in einem programmatischen Beitrag zu dem Schluss: Ein neues kulturelles System wie das frühe Christentum konnte nur entstehen, weil es in der Lage war, sich mit bestehenden kulturellen Strömungen auseinanderzusetzen, sich zu vernetzen und Neuorganisation von Vorstellungen und Überlieferungen vorzunehmen. All dies setzt Bildung voraus, einen denkenden Glauben, der intellektuell attraktive Angebote machte, die so anziehend waren, dass viele Menschen ihre bisherigen religiösen und sozialen Welten verließen. Daraus ergibt sich eine veränderte, neue Sicht des frühen Christentums: Es war als umfassendes Lebens-, Deutungs- und Denkprogramm von Anfang an auch ein Bildungsphänomen; eine Einladung, sein Handeln zu verändern und Gott, die Welt, den Nächsten und sich selbst neu zu denken und zu verstehen. 2 1 Beide Zitate aus A. Deissmann, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, Tübingen 1923, 208 sowie 209–210. 2 U. Schnelle, Das frühe Christentum und die Bildung, NTS 61 (2015) 113–143, hier: 142. Vgl. darüber hinaus auch die wichtige Studie von A. Weiß, Soziale Elite und Christentum. Studien zu den Ordo-Angehörigen unter den frühen Christen (MillenniumStudien 52), Berlin /Boston 2015.

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Tobias Nicklas

An diesen Gedanken möchte ich anschließen. Anders als Schnelle interessiere ich mich im folgenden Beitrag allerdings nicht für den Prozentsatz der Mitglieder der frühesten Gemeinden, die lesen und schreiben konnten, oder die Frage, wie und inwiefern bereits in früher Zeit geschriebene Texte Beiträge zu christlicher Erziehung leisteten. 3 Stattdessen möchte ich Schnelles (an sich spannendem) Zugang eine zweite Möglichkeit an die Seite stellen, über frühes Christentum und Erziehung bzw. Bildung nachzudenken: Wenn Lernen einen anthropologisch elementaren Prozess beschreibt, welcher zutiefst mit Mensch-Sein und Mensch-Werdung sowie der damit einhergehenden Aneignung der Welt verbunden ist, 4 dann liegt zunächst einmal die Frage nahe, ob und inwiefern biblische Texte Prozesse des Lernens zunächst im Sinne von »Erziehung« (von außen gesteuert) beschreiben, aber auch anstoßen können. Deutlich schwieriger ist die Frage, ob sie, wenn »Bildung« einen Prozess der Selbststeuerung des eigenen Lernens beschreibt, auch Bildungsangebote machen. Ob konkrete Leserinnen und Leser nach ihrer Lektüre des Textes dessen Anstöße in Bildungsprozesse umsetzen, ist eine dem Exegeten dann letztlich nicht mehr zugängliche Frage. Die uns im Folgenden mehrfach begegnende Rede vom Text als »Erzieher« ist zugleich vereinfachend und vereinseitigend. Dies hat damit zu tun, was wir unter »Texten« verstehen: Wenn Texte als Texte nie einfach an sich existieren, sondern immer erst in Rezeptionsvorgängen (wie »Hören« oder »Lesen«) konstituiert werden, 5 dann sind solche Prozesse zudem nie als rein äußerlich zu betrachten. Wenn Text nur aufgrund der Bereitschaft von Rezipientinnen und Rezipienten, dem ihnen begegnenden Zeichensystem »Sinn« zuzuweisen, in seiner Textualität konstituiert wird, 6 dann ist der Text bereits als solcher nie reines Gegenüber – und damit rein von außen wirkender »Erzieher«. Gleichzeitig aber verbleibt das, was er aussagt, auch nicht in vollkommener Beliebigkeit. Mit anderen Worten: Ein System von Zeichen als Text wahrzunehmen und diesen dann auf unterschiedliche, vielleicht auch unterschiedlich intensive Weise sprechen zu lassen, ist nicht einfach ein den Lesenden äußerlich bleibender Vorgang, der sich alleine im Abrufen von »Lesekompetenzen« erschöpft, sondern Resultat

3 Schnelles Begriff von Bildung ist natürlich weniger spezifisch als der im vorliegenden Band vorausgesetzte. 4 Vgl. hierzu die entsprechenden Gedanken in der Einleitung des vorliegenden Bandes. 5 Vgl. hierzu z.B. die Gedanken von U. Eco, Lector in Fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München /Wien 31998, 63–64, der Texte als »träge Mechanismen« beschreibt, welche auf die Kooperation des Lesers angewiesen sind. 6 Hierzu vgl. auch die Überlegungen bei J.S. Petöfi, Explikative Interpretation. Explikatives Wissen, in: ders./T. Olivi (Hg.), Von der verbalen Konstitution zur symbolischen Bedeutung – From verbal constitution to symbolic meaning (Papiere zur Textlinguistik 62), Hamburg 1988, 184–195, hier: 184.

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einer Entscheidung, sich auf den Text »einzulassen«, ihn auf eine bestimmte, durchaus durch die Zeichen von außen gelenkte Weise zum Sprechen zu bringen. Bereits wo die Zeichen von Leserinnen und Lesern zu einem sie ansprechenden Text konstituiert werden, ist damit, wenn ich recht verstehe, wenigstens ansatzweise bereits ein Prozess der Bildung mit (ein)beschrieben. Ich vertrete die These, dass das Markusevangelium sinnvoll als ein erziehender Text gedeutet werden kann, 7 welcher seine Leserinnen und Leser dazu provoziert, sich der Vorurteilsstrukturen bewusst zu werden, die der eigenen Weltsicht zugrunde liegen, und sie dazu anregt, diese, konfrontiert mit der im Text angebotenen Sicht der Welt, zu hinterfragen. Darauf basierend können neue Deutungsmuster von Welt in die Reflexion des das eigene Selbst konstruierenden Lernens integriert werden. Gleichzeitig ist die Lehre des Markusevangeliums so »offen«, dass sie ohne – dann nicht mehr von außen kontrollierbare – Prozesse der Bildung in der Gefahr des Scheiterns steht. Mit anderen Worten: Zum Evangelium kann nicht erzogen werden. Eine am Evangelium orientierte Lebenshaltung verlangt von Einflüssen von außen befreite Bildungsprozesse. Mir ist bewusst, dass ich damit einen Begriff der Aufklärung an das Evangelium anlege. Dieser Anachronismus ist jedoch dann vertretbar, wenn sich zeigt, dass die mit »Bildung« gemeinte Sache wenigstens in entscheidenden Zügen in den beschriebenen Prozessen erkennbar wird. Ich setze voraus, dass es Sinn macht, das Markusevangelium trotz seines über weite Teile episodischen Aufbaus 8 als eine kohärente Ein-

7 Bereits dies ist keineswegs selbstverständlich und verlangt von Leserinnen und Lesern ein gehöriges Maß an Konstruktionsarbeit! Genauso ist es natürlich möglich, das Markusevangelium als antike Biographie, als Quelle für die Arbeit zur Rekonstruktion des Lebens Jesu oder als Sammlung lebensferner Erzählungen ungebildeter Naivlinge zu lesen. 8 So z.B. C. Breytenbach, Nachfolge und Zukunftserwartung bei Markus. Eine methodenkritische Studie (AThANT 71), Zürich 1984, 82–84, der vom MkEv als einer »episodischen Erzählung« spricht. Der im angelsächsischen Raum zunehmend verbreiteten, auf die Arbeit von R.A. Burridge, What are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biography, Waco 2018 (1992), zurückgehenden Vorstellung, bei den Evangelien handele es sich um antike Biographien, stehe ich auf verschiedenen Ebenen skeptisch gegenüber: Will man von einem griechisch-römischen Genre »Biographie« ausgehen, dann sind die einzelnen Texte, die dieses Genre ausmachen, so unterschiedlich, dass sie m.E. kaum etwas für die konkrete Interpretation der Evangelien austragen, welche wiederum – will man sich, anders als Burridge, nicht alleine auf die kanonischen Evangelien konzentrieren – untereinander dramatische Unterschiede aufweisen, offenbar in der Antike aber trotz ihrer Unterschiede als »Evangelien« aufgefasst werden konnten. Gleichzeitig kenne ich keine antike Biographie, die an ihrem Ende von der Auferstehung ihres Protagonisten (plus Aussendung seiner Jünger zur Verkündigung dieser Auferstehung) spricht. Rein methodisch halte ich es zudem für wichtig, der Analyse der Erzählung den Vorrang vor der Zuweisung einer Gattung (bzw. eines Genres) einzuräumen. Zur aktuellen Diskussion um diese Frage vgl. die Beiträge bei D. Moessner /M. Calhoun /T. Nicklas (Hg.), The Gospel and Ancient Literary Criticism. Continuing the Debate over Gospel Genre(s) (WUNT), Tübingen 2020 [im Druck].

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Tobias Nicklas

heit zu lesen, der ein nachvollziehbarer Plot zugrunde liegt, welcher aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen beschrieben werden kann. 9 Zur Entfaltung meiner These gehe ich in drei Schritten vor:

1.

Erster Schritt: Erziehung: Der »Lehrer« Jesus und seine »Schüler«

Bereits bei der Untersuchung wichtiger im Text begegnender Begriffe zeigt sich, dass das Markusevangelium an Prozessen des Lernens interessiert ist. Zwar erfahren wir schon im ersten Vers, dass Jesus der Messias und – je nach textkritischer Einschätzung des Schlusses von Mk 1,1 10 – der Sohn Gottes ist. Angesprochen wird Jesus jedoch häufig als »Lehrer« (διδάσκαλος) 11 – und dies selbst da, wo Jesus überhaupt nicht als »Lehrer« im üblichen Sinne auftritt: So reden ihn seine Begleiter auf dem stürmischen See oder die Trauernden aus dem Haus des Jairus als »Lehrer« an (Mk 4,38; 5,35). In beiden Fällen agiert Jesus aber als Wundertäter, im zweiten ist er gar konkret als Heiler angefragt (Mk 5,22–23). Ganz Ähnliches ist bei dem in Mk 9,14–29 erzählten Exorzismus (vgl. Mk 9,17) der Fall. Erst danach verbindet sich die Anrede Jesu als Didaskalos tatsächlich auch einige Male mit Lehrgesprächen (vgl. Mk 10,17.20; 12,14.19.32; 13,1). 12

9 Ein besonders schönes Beispiel hierzu bietet S. Alkier, Das Markusevangelium als Tragikomödie lesen, in: Moessner u.a. (Hg.), Gospel and Ancient Literary Criticism, 219–242 [im Druck]. – Vgl. aber auch meine eigenen Versuche, einerseits mit einem christologischen, andererseits einem theo-logischen Fokus: T. Nicklas, The Crucified Christ and the Silence of God. Thoughts on the Christology of the Gospel of Mark, in: C. Karakolis /K.-W. Niebuhr /S. Rogalsky (Hg.), Gospel Images of Jesus Christ in Church Tradition and Biblical Scholarship (WUNT 288), Tübingen 2012, 349–372, sowie ders., Mark’s ›Jesus Story‹. A Story About God, in: B. Estrada /E. Manicardi /A. Puig i Tàrrech (Hg.), The Gospels. History and Christology. The Search of Joseph Ratzinger – Benedict XVI, Vatikanstadt 2013, 37– 62. 10 Zur Diskussion vgl. knapp B.M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart 1994, 62. 11 Die folgenden Ausführungen zu Jesus als »Lehrer« und seinen Jüngern als »Schülern« verstehen sich nicht mit Blick auf den historischen Jesus, sondern auf seine Darstellung im Markusevangelium. Weiterführend zu einer konkreten Einordnung in historische LehrerSchülertypologien vgl. M. Ebner, Der Wanderprediger und sein Anhang als ›Lehrer‹ und ›Schüler‹: Jesus und seine Jünger im Rahmen der römischen Lehrertopographie, in: J. Verheyden /J. Kloppenborg (Hg.), The Gospels and Their Stories in Anthropological Perspective (WUNT 409), Tübingen 2018, 147–171. 12 Darüber hinaus finden sich weitere Fälle, in denen Jesus als Lehrer angesprochen wird (Mk 9,38; 10,35) oder von sich als Lehrer spricht (Mk 14,14). Hinzu zu nehmen sind die Fälle, in denen Jesus als »Rabbi« (Mk 9,5; 11,21; 14,45) bzw. »Rabbuni« (Mk 10,51) angesprochen wird. Vgl. hierzu auch ausführlicher S. Byrskog, Das Lernen der Jesusgeschichte nach den synoptischen Evangelien, in: B. Ego /H. Merkel (Hg.), Religiöses Lernen in

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Während neben Jesus auch andere Figuren als Verkündigende (Verb: κηρύσσω) bezeichnet werden können (vgl. Mk 1,4.7 [Johannes der Täufer], 3,14 und 6,12 [die Zwölf], 5,20 [der Geheilte aus Gerasa] sowie 14,9 [spätere Verkünder]), wird Jesus als Lehrer zwar mit den Schriftgelehrten verglichen (vgl. Mk 1,22b), tritt im Grunde aber als einzige Figur der Erzählung explizit lehrend auf. 13 Fünf Mal ist von seiner Didach¯e, d.h. seiner »Lehre«, die Rede (Mk 1,22.27; 4,2; 11,18; 12,38). Wenn Jesus gleich bei seinem ersten öffentlichen Auftreten in der Synagoge von Kafarnaum lehrt, 14 dann wird dabei nicht nur betont, dass er dies »in Vollmacht« tut, sondern wird dies auch gleich durch einen ersten und zugleich paradigmatischen Exorzismus untermalt. 15 Dem »Lehrer« Jesus wiederum folgt nicht nur eine immer unüberschaubarer werdende Menschenmenge, die er »belehrt« (διδάσκω: Mk 2,13; 4,1–2; 6,2.6b u.a.); ihn umgibt auch ein kleinerer Kreis von »Jüngern« oder – wörtlich übersetzt – »Schülern« (µαθηταί: 46 Vorkommen!), aus denen er wiederum die Gruppe der »Zwölf« »macht« bzw. »kreiert« (Mk 3,14: ἐποίησεν). Auch diese werden zur Verkündigung ausgesandt (Mk 3,14 und 6,12); über ihre eigene Lehre wird jedoch nie explizit berichtet. Ihnen bzw. einem engeren Schülerkreis kann an wichtigen Stellen eine spezielle Form der Lehre zuteilwerden (vgl. z.B. Mk 4,10–20; 8,31–33; 9,28–29 u.a.), die sich nicht an die große Volksmenge richtet. Schließlich wird immer wieder betont, welch außergewöhnliche Reaktionen Jesu Lehre hervorruft. Immer wieder verwendet Mk hierzu das Verb ἐκπλήσσοµαι, mit dem eine Mischung aus Bestürzung, Erschrecken und Erstaunen zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Mk 1,22; 6,2; 7,37; 10,26; 11,18). Jesu Lehre verhallt also nicht ungehört. Ob sie im Rahmen der erzählten Welt des Evangeliums jedoch zu dem Resultat führt, das sie anzielt, ist eine andere Frage. Die »Erziehung« der Schüler durch den »Lehrer« Jesus scheint zu missglücken. 16 Für die vorliegende Fragestellung besonders wichtig ist: Der Lehrer Jesus verkündet das »Evangelium Gottes« von der (in seinem eigenen Wirken) unmittelbar nahe gekommenen Königsherrschaft Gottes (Mk 1,15).

der biblischen, frühjüdischen und frühchristlichen Überlieferung (WUNT 180), Tübingen 2005, 194–196. 13 Dies ist trotz des kaum erkennbaren semantischen Unterschieds zwischen den Verben κηρύσσω und διδάσκω (vgl. auch Byrskog, Lernen, 195) eine wichtige Differenzierung. 14 Der Inhalt seiner Lehre wird hier nicht expliziert; dieser aber dürfte vor dem Hintergrund von der Verkündigung des Evangeliums in Mk 1,15 zu verstehen sein. 15 Ausführlich hierzu H. Giesen, Dämonenaustreibungen – Erweis der Nähe der Herrschaft Gottes. Zu Mk 1,21–28, in: ders., Jesu Heilsbotschaft und die Kirche. Studien zur Eschatologie und Ekklesiologie bei den Synoptikern und im ersten Petrusbrief (BEThL 179), Leuven u.a. 2004, 15–30. 16 Über den erfolglosen Lehrer Jesus im MkEv vgl. M. Rescio, Il maestro e i suoi discepoli: esperienza iniziatica e trasmissione delle parole di Gesù nel Vangelo di Marco, Diss. Bologna 2008.

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Dies wiederum verlangt eine grundsätzlich veränderte, nicht auf reine Ethik zu reduzierende Haltung des Menschen: »Denkt um und vertraut auf das Evangelium« (Mk 1,15). Jesu Lehre fordert also Metánoia und Pistis: Mit der Übersetzung des Begriffs Metánoia (µετάνοια) als »Umdenken« statt »Umkehren« oder gar »Buße« versuche ich einerseits, negative Konnotationen des Begriffs »Buße« zu vermeiden, und andererseits den Bezug zwischen Metánoia und Nous, d.h. »Denken«, stark zu machen, welcher bei der Übersetzung mit »Umkehr« verloren geht. 17 Pistis (πίστις) darf natürlich auch mit »Glauben« übersetzt werden, nur steht dieser Glaube nicht für eine gegenüber sicherem Wissen defizitäre Haltung, auch bezieht er sich nicht alleine auf Inhalte. Stattdessen geht es um eine den ganzen Menschen betreffende Lebenshaltung, die Gott und seinem Evangelium alles zutraut, deswegen ganz auf ihn traut 18 und aufgrund derer dem Menschen Möglichen grundsätzlich keine Grenzen gesetzt sind (vgl. Mk 11,23–24!). Wenn wir Mk 1,15 als einen ersten Schlüsseltext verstehen wollen, welcher entscheidende Aspekte der Lehre des markinischen Jesus so zusammenfasst, dass spätere Passagen als seine Entfaltungen verstanden werden können, dann fällt auf, dass wir im Verlauf des Markusevangeliums zwar manches Mal davon lesen können, dass die Pistis einiger der handelnden Figuren Wunderbares ermöglicht (Mk 5,34; 10,52; vgl. auch 11,20–25). Doch erfahren wir an keiner Stelle explizit, dass Figuren der erzählten Welt tatsächlich beginnen, in der Weise umzudenken, wie der »Lehrer Jesus« dies eigentlich fordert. 19 Stattdessen führt Jesu Lehre in Vollmacht und das damit verbundene Handeln zu ganz unterschiedlichen Reaktionen: 20 Wir hören von Ablehnung, die an manchen

17 Damit geht es mir nicht darum, das Motiv der Metánoia moralisch zuzuspitzen oder gar einzuengen – bereits die Verbindung mit Pistis (und sicher auch »Nachfolge«) bedeutet, dass sie einen ganzheitlichen, den gesamten Menschen umfassenden, aber von der denkerischen Reflexion ausgelösten Prozess beschreibt. Ich verdanke entscheidende Impulse zu diesem »Um-Denken« Gesprächen mit Stefan Alkier, Frankfurt. Ausführlicher habe ich den Gedanken entwickelt in T. Nicklas, Buße tun heißt »Um-Denken«! Neutestamentliche Perspektiven, in: S. Demel /M. Pfleger (Hg.), Sakrament der Barmherzigkeit. Welche Chance hat die Beichte?, Freiburg im Breisgau 2017, 383–400. 18 Ähnliche Wortspiele bei N. Baumert, Der Weg des Trauens. Übersetzung und Auslegung des Briefes an die Galater und des Briefes an die Philipper (Paulus neu gelesen), Würzburg 2009, allerdings in Bezug auf Paulus. In Bezug auf Mk finden sich wichtige Gedanken bei C. Breytenbach, Identity and rules of conduct in Mark. Following the suffering, expecting the coming Son of Man, in: J.G. van der Watt (Hg.), Identity, Ethics, and Ethos in the New Testament (BZNW 141), Berlin /New York 2006, 49–75, hier: 54–56. 19 Das Verb µετανοέω begegnet tatsächlich nur in Mk 1,15 und 6,12, Letzteres im Zusammenhang mit der Verkündigung der Zwölf. 20 Mit etwas anderem Fokus (Reaktionen auf Wunder Jesu) vgl. auch die Einzelanalysen bei J. Kiffiak, Responses in the Miracle Stories of the Gospels. Between Artistry and Inherited Tradition (WUNT II.429), Tübingen 2017, 59–182.

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Stellen gar so weit geht, ihm Blasphemie zu unterstellen (Mk 2,7 und 14,64). Man hält Jesus für »außer sich« (Mk 3,21) oder gar besessen (Mk 3,22.30), ja beschließt seinen Tod (erstmals bereits in Mk 3,6). Pilatus schließlich »wundert« sich über Jesus (Mk 15,5). 21 Vor allem aber lesen wir trotz der oben genannten Bestürzung auch von einer das ganze Evangelium durchziehenden »Furcht«, die mit unterschiedlichen Termini (φοβέοµαι: Mk 4,41; 5,15.33.36; 6,20.50; 9,32; 10,32; 11,18.32; 12,12; 16,8; φόβος: Mk 4,41; ἐκθαµβέοµαι: Mk 9,15; 14,33; 16,5–6; δείλος: Mk 4,40 u.a.) zum Ausdruck gebracht werden kann.

2. Zweiter Schritt: Über die erzählte Welt hinaus. Jesu Lehre und die Lesenden Das Markusevangelium erzählt davon, dass die Botschaft des Lehrers Jesus bei den Figuren der erzählten Welt bestenfalls bruchstückhaft, in den meisten Fällen aber gar nicht ankommt, ja von Verstockung begleitet ist. Es scheint aber davon überzeugt zu sein, dass diese Botschaft wenigstens bei seinen Leserinnen und Lesern ankommen kann. Dies wiederum wird auf zwei Ebenen angedeutet: Bereits die Tatsache, dass die Jesusgeschichte im Markusevangelium schriftlich festgehalten ist, signalisiert, dass es Menschen geben muss, die dem im Evangelium skizzierten Programm des »Umdenkens« und »Vertrauens« wenigstens ansatzweise gefolgt sind. Vor allem aber finden sich auch im Text immer wieder Elemente, die über die erzählte Welt hinausweisen. Diese machen nur dann Sinn, wenn die vom Text vermittelte Botschaft Jesu über das Evangelium Gottes auch da greift, wo Jesus selbst nicht mehr anwesend gedacht wird. Mit anderen Worten: Anders als z.B. das Matthäusevangelium spricht das Markusevangelium nicht explizit von der Präsenz des Auferstandenen in der Gemeinde. 22 Diese Zeit der Abwesenheit muss durch die im Buch »Markusevangelium« präsentierte Botschaft überbrückt werden. 23 An die Stelle des abwesenden »Lehrers« Jesus tritt nun das Buch mit seiner Erzählung über Jesus. In diesem Buch, das die Lehre des irdischen Jesus so stark thematisiert, finden sich wiederum Elemente, die so über die erzählte Welt hinausweisen, dass sie eigentlich nur in der Welt der Leserinnen und Leser verwirklicht

21 Vgl. auch Mk 5,20, wo wir von der Verwunderung derer lesen, die die Verkündigung des einst Besessenen in der Dekapolis hören. 22 Hierzu ausführlich die Studie von D.S. du Toit, Der abwesende Herr. Strategien im Markusevangelium zur Bewältigung der Abwesenheit des Auferstandenen (WMANT 111), Neukirchen-Vluyn 2006. 23 Eine zusätzliche Rolle mag sicherlich auch die Feier der Eucharistie gespielt haben. Die Erzählung von der Einsetzung der Eucharistie bietet bei Mk jedoch keinen Auftrag zu Wiederholung dieses Akts im Gedenken an Jesus.

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werden können. Stefan Alkier erinnert hier zunächst an das Gleichnis vom Sämann (Mk 4,1–9) und seine Deutung (Mk 4,13–20): Wenn Mk das Gleichnis wirklich als Erzählung über die Saat des Wortes versteht, dann bietet sein eigenes Evangelium eine Vielzahl von Beispielen dafür, wie das von Jesus gesäte Wort verloren geht und keine Frucht bringt. Diejenigen, »die es hören und aufnehmen und Frucht bringen, dreißigfach, ja sechzigfach und hundertfach« (Mk 4,20), sind nicht in der erzählten Welt des MkEv zu finden, sondern außerhalb: »Die das MkEv zustimmend Lesenden sind es, die vielfache Frucht bringen.« 24 Gleiches gilt für die Endzeitrede, in der Jesus zwar textintern zu Petrus, Jakobus, Johannes und Andreas spricht (Mk 13,3), wo diese Kommunikationssituation jedoch in V. 14b durch ein Signal des Erzählers durchbrochen wird: »Der Lesende begreife.« Nicht alleine die vier genannten Apostel, über deren Weitergabe des von Jesus vermittelten Wissens uns Mk nichts erzählt, sind angesprochen, sondern die Lesenden, die von nun an vor diesem Horizont Zeit und Welt deuten sollen. 25 Wir brauchen dabei jedoch nicht stehen zu bleiben: Mit diesen Beobachtungen im Hintergrund öffnet sich das Markusevangelium aber nicht nur hier, sondern an vielen Stellen für die Welt der Lesenden, denen klarwerden muss, dass der offene Schluss des Markusevangeliums eben nicht das »Ziel« oder »Ende des Evangeliums« – ich formuliere bewusst in Anspielung auf Mk 1,1 – gewesen sein kann. Über die genannten Abschnitte in Mk 4 und Mk 13 finden sich m.E. Hinweise durch den gesamten Text hindurch. Man könnte bereits bei der Verkündigung Johannes des Täufers einsetzen und die Frage stellen, wo im Text des Markusevangeliums denn die Prophezeiung in Erfüllung geht, dass Jesus die Angesprochenen »in Heiligem Geist eintauchen 26 werde« (Mk 1,8). 27 Im Text selbst ist nach der Taufszene praktisch nie vom Wir-

24 Alkier, Markusevangelium als Tragikomödie [im Druck]. 25 Alkier, Markusevangelium als Tragikomödie [im Druck], schreibt hierzu: »Wie der Gleichnisrede in Mk 4, so kommt auch der Endzeitrede in Mk 13 eine das gesamte Evangelium deutende Funktion zu. Das verstehende Lesen des Markusevangeliums ist Teil des kosmologischen Aktes, zu dem auch Tod und Auferweckung des Gekreuzigten gehören und an dessen Ende das Kommen des Menschensohns und das ewige Leben im Reich Gottes für diejenigen stehen wird, die ihm nachfolgen, indem sie die Botschaft des Markusevangeliums mit ihrem eigenen Leben weiter tragen, also ihr Kreuz auf sich nehmen (vgl. 8,34).« – Wichtige Gedanken auch bei C. Breytenbach, Das Wissen und Nicht-Wissen um die Zeit als Verhaltensregel: Eine textpragmatische Analyse der Endzeitrede in Markus 13, in: R. Zimmermann /S. Joubert (Hg.), Biblical Ethics and Application. Purview, Validity, and Relevance of Biblical Texts in Ethical Discourse (WUNT 384), Tübingen 2017, 105– 120, bes. 118–120. 26 Ich übersetze das üblicherweise als »Taufen« wiedergegebene Verb βαπτίζω bewusst in seiner ursprünglichen Bedeutung als »Tauchen, Eintauchen«. 27 Mit G. Guttenberger, Das Evangelium nach Markus (Zürcher Bibelkommentare NT 2), Zürich 2017, 35, wird diese Prophezeiung »innerhalb der Erzählung nicht einge-

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ken des Heiligen Geistes die Rede. Nur in Mk 13,11, also wieder in der über das Wirken Jesu hinausgreifenden Endzeitrede, öffnet sich die Perspektive auf künftige Verfolgungen der dort Angesprochenen (wiederum sicherlich nicht einfach nur Petrus, Jakobus, Johannes und Andreas): Die Vorstellung, dass anstelle der einst vor Gericht Gestellten der Heilige Geist reden werde, setzt voraus, dass der Text trotz des weitgehenden Fehlens von Aussagen über den Geist davon ausgeht, dass dieser jenseits der erzählten Zeit bei den Angesprochenen wirkt. Mk 13,31, die Rede davon, dass Jesu »Worte nicht vergehen werden«, vermittelt Ähnliches. 28 Erwähnt werden könnten auch die Hinweise auf die wahre Familie Jesu, die zwar zunächst den Kreis derer beinhaltet, die in der konkreten Szene um Jesus sitzen (Mk 3,34), die sich aber mit Mk 3,35 auf alle hin öffnet, die den Willen Gottes tun. 29 Zugleich könnte man auch an die Passagen über die Nachfolge Jesu (Mk 8,34–38) denken, die sich bewusst vom engen Kreis der Zwölf auf die Menge hin öffnet. Schließlich setzt auch Mk 14,9 eine Verkündigung des Evangeliums jenseits der im Text erzählten Zeit (wie auch jenseits der in der Erzählung beschriebenen Welt) voraus, wenn Jesus prophezeit, dass man sich »überall auf der Welt, wo auch immer das Evangelium verkündet wird«, der Frau erinnern werde, die seinen Leib »für das Begräbnis gesalbt« habe (Mk 14,8). Etwas problematischer ist sicherlich die markinische Eucharistie-Szene. Anders etwa als die Parallele bei Lk 22,19 und 1 Kor 11,24, gibt der Jesus des Markusevangeliums ja keine Anweisung, dies zur Erinnerung an ihn zu wiederholen. Wenn wir jedoch von Leserinnen und Lesern des Markusevangeliums ausgehen, die die Praxis der Eucharistie aus ihren Gemeinden her kennen, dann entsteht selbst hier eine Brücke vom Text des Markusevangeliums in die Zeit der Lesenden, welche wiederum im Horizont der Prophezeiung Jesu steht, dass er selbst »nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken« werde

löst.« Dies impliziert im Grunde bereits J. Gnilka, Das Markusevangelium (EKK Studienausgabe), Neukirchen-Vluyn /Düsseldorf 22015 (1978), 48, wenn er schreibt: »Die Glieder der christlichen Gemeinde haben diesen Geist bei der Taufe empfangen.« 28 Vgl. hierzu auch den Beitrag von J. Marcus, The Spirit and the Church in the Gospel of Mark, in: P. Dragutinovi´c/K.-W. Niebuhr /J.B. Wallace (Hg.), The Holy Spirit and the Church according to the New Testament (WUNT 354), Tübingen 2016, 395–403, der mit Blick auf Mk 13,11 und 31 sehr Ähnliches schreibt: »We can, then, generalize the promise made in 13:11 to Jesus’ disciples: it is not just you who will speak; your voice will be the voice of the Spirit. Or, as Jesus promises in 13:31, his words will never pass away, but will continue to reverberate throughout the universe after his death. All this means that Jesus’ words – which bear the authority of God himself (1:22,27) – can become the words of later Christian preachers, including Mark himself, and even perhaps his readers. And so the Spirit of God, the Spirit of Jesus, lives out in the Church« (ibid., 402–403). 29 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik bietet M. Rescio, La famiglia alternative di Gesù. Discepolato e strategie di trasformazione sociale nel Vangelo di Marco (Antico e Nuovo Testamento 13), Brescia 2013.

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»bis zu dem Tag, an dem ich von Neuem davon trinke im Reich Gottes« (Mk 14,25). 30 Dies sind nur einige Signale – ihre Zahl ließe sich erweitern. 31 Sie alle kulminieren schließlich in dem geheimnisvollen Schluss des Markusevangeliums, der mit den Worten »Und sie erzählten niemandem etwas davon. Sie fürchteten sich nämlich« (Mk 16,8) geradezu in einen Abgrund blicken lässt. Reinhard von Bendemann zeigt anhand der Verwendung von Verbformen in Mk 16,1–8, dass sich die Erzählung Mk 16,1–8 auf ein Ereignis beziehen will, welches »als vergangen an eine Grenze geführt« wird. »[Z]urückgelassen werden in Mk 16,1–8 vor allem die primären Charaktere der Erzählung des zweiten Evangeliums. Es sind die Figuren, über die die Vergangenheit als Vergangenheit, gewissermaßen im praeteritum ›begraben‹, zurückbleibt.« Wenn Jünger, und schließlich auch die in Furcht verharrenden Frauen, so in der Vergangenheit zurückgelassen sind, »eröffnet sie [die Geschichte des Markusevangeliums; TN] in ihrem Ende freien Handlungsraum für die Gegenwart. Sie schafft sich den Freiraum einer neuen, potentiell unbelasteten Zeit.« 32 Dies jedoch gilt nicht für die Botschaft Jesu. Die Rede von der Fülle der Zeit und der Nähe der Gottesherrschaft ist durch Verbformen im Perfekt zum Ausdruck gebracht (Mk 1,15: πεπλήρωται – ἤγγικεν): Die Zeit ist weiterhin voll, die Königsherrschaft Gottes bleibend nahe und damit gilt der Ruf Jesu, umzudenken und auf das Evangelium zu trauen, über die erzählte Zeit des Markusevangeliums hinaus, er trifft damit also direkt die Lesenden: Während vieles in der Vergangenheit zurückbleiben darf und muss, bleibt die Botschaft des »Erziehers« Jesus somit im und über den Text präsent. Mk 1,15 ist nun aber einerseits Kern all dessen, was der Jesus des Markusevangeliums verkündet und gleichzeitig andererseits radikal offen. Weder die Rede von einer »gefüllten Zeit«, noch die Idee, dass in der Welt Gott als König regiert, oder gar die Vorstellung, dass das, was Jesus, dessen Weg ihn ja ans Kreuz geführt hat, verkündet, einfach »frohe Botschaft« ist, sind in klare Lerninhalte zu gießende Aussagen, die an sich definierbar sinnvoll sind. Sie können dem Leser rein äußerlich bleibende

30 Für die Frage nach der »Nähe« der Gottesherrschaft ist dies sicherlich der problematischste Satz des Markusevangeliums. Selbst die Unmittelbarkeit, mit der momentweise Gottesherrschaft präsent werden kann, bedeutet nicht, dass diese in ihrer Fülle bereits jetzt für immer fass- und greifbar ist. 31 Ausführlich zur Frage der Transparenz des erzählten Texts auf die Erzählgemeinschaft (mit vielen zusätzlichen Beispielen) S. Hübenthal, Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis (FRLANT 253), Göttingen 2014, 355–452. 32 Alle Zitate R. von Bendemann, »Er ist nicht hier [. . . ] Er geht euch voraus nach Galiläa« (Mk 16,6F.). Die Bedeutung des Erzählschlusses für die narrative Topographie des zweiten Evangeliums, in: G. van Oyen (Hg.), Reading the Gospel of Mark in the Twenty-First Century. Method and Meaning (BEThL 301), Leuven /Paris /Bristol 2019, 39–68, hier: 66, 67 und 68.

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»Zeichen« bleiben, die sich zu Wörtern und Sätzen zusammensetzen und grammatisch wie semantisch analysieren lassen. Solange Leserinnen und Leser aus ihnen nicht ihren »Text« machen, der sie im wahrsten Sinne des Wortes existenziell »an-geht«, bleiben sie Leerstellen. Wo das Evangelium alleine »erzieht«, bleibt es rein äußerliches Zeichen und verliert so seinen Charakter als die gesamte Existenz ansprechendes Evangelium – es ist radikal auf die Freiheit der Entscheidung seiner Adressatinnen und Adressaten angewiesen. Wo jedoch die radikale Offenheit des Kerns der Botschaft des markinischen Jesus als Herausforderung angenommen wird, die mit »Welt« und »Leben« »angereichert« werden muss, kann dies der Ausgangspunkt eines Prozesses sein, der von der je unverfügbaren Entscheidung ausgeht, sich ganz auf die geforderte Metánoia und die mit ihr einhergehende Reflexion des eigenen Lernens im Gegenüber zu einer Welt einzulassen, die – in neuer Sicht – zur uneinholbaren Herausforderung wird. 33 Die Gegenüber von »Erziehung« (von außen) und »Bildung« (aufgrund freier Entscheidung von innen und im Gegenüber zu sich selbst) beginnt zu verschwimmen.

3.

Dritter Schritt: »Evangelium«, Erziehung und Bildungsangebot

Ein möglicher Ansatzpunkt ist die Auseinandersetzung mit den bereits angedeuteten Fragen: Wie sind »meine« Vorurteile von Welt und die Idee der »Königsherrschaft Gottes« zusammenzudenken? Wie ist es möglich, dass die Botschaft, die zum Kreuz führt, »frohe Botschaft« sein und bleiben kann? Was heißt es, dem vom Text geforderten Trauen ganz zu trauen? Bereits in der (nicht vom Text angeleiteten!) Entscheidung, sich diesen Fragen zu stellen – und damit als Leserin oder Leser den Text zu meiner Erzählung zu machen –, beginnt Metánoia. Ich kann hier nur einige der sich aus dem Evangelium ergebenden Angebote, eigene Vorurteile von Welt zu reflektieren, andeuten. Mit ihnen leistet das Evangelium zunächst einmal »Erziehung«. Vom ersten Auftreten Jesu an ist auffallend, in welch düsteren Farben Mk die Welt zeichnet, in der Jesus auftritt und lehrt. In dieser Welt ist es nicht möglich, am Sabbat in die Synagoge zu gehen und dort zu lehren, ohne dass einem dort ein »Mensch in einem unreinen Geist« (Mk 1,23) begegnet, oder seinen Freund zu besuchen, ohne dass sich eine (womöglich) Todkranke

33 Was ich im Folgenden verkürzt als Prozess einer oder mehrerer Lektüren beschreibe, ist natürlich der unzureichende Versuch, eine verkürzte Form dessen, was sich als lebenslanger, nie abschließbarer oder gar eindeutig beschreibbarer Prozess in unterschiedlichster Form ereignen kann.

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im Haus befindet (vgl. Mk 1,29–31). 34 Der Sammelbericht in Mk 1,32– 34 wiederum setzt voraus, dass ein Ort wie Kafarnaum voll von Kranken und Besessenen ist. 35 So könnte man fortfahren – paradigmatisch ist die Beschreibung des Besessenen von Gerasa (Mk 5,1–20), in dem Mk uns geradezu einen lebenden Toten vor Augen führt, einen Menschen, der sich unter dem Einfluss des Bösen selbst zerstört und fernab jeder Gemeinschaft lebt. Wie ein Lichtstrahl bricht das Wirken des markinischen Jesus in die so beschriebene, unter der Herrschaft Satans stehende Welt hinein. Die größte Gefahr dieser Situation jedoch geht für Mk von der mit dieser Herrschaft verbundenen »Verstockung« aus, die den Menschen an dem von Jesus verlangten Umdenken hindert, ihn sehen lässt, ohne zu erkennen, und hören, ohne zu verstehen (Mk 4,12; vgl. aber auch Mk 8,18). 36 Diese Gefahr besteht nicht nur für die Gegner Jesu oder die ihm nachfolgenden Menschenmengen; selbst die Jünger sind nicht vor ihr gefeit. So können sich die Jünger auch nach den beiden Brotvermehrungen in Mk 6,30–44 und 8,1–10 weiterhin nicht von der Sorge lösen, kein Brot dabei zu haben (Mk 8,16). Petrus wiederum akzeptiert trotz seines Messiasbekenntnisses Jesu Lehre über das Leiden, Sterben und die Auferstehung des Menschensohnes (Mk 8,32) noch nicht und wird deswegen mit den Worten »Geh hinter mich, Satan, denn du denkst nicht die Dinge Gottes, sondern die der Menschen« angeherrscht (Mk 8,33). Petrus wird erzogen, doch weder denkt er um, noch wird er je als im Vollsinn Trauender beschrieben. 37 Gleichzeitig ist auch die Aussage vom »Denken der Dinge Gottes« radikal offen. Der Text bietet eine Vielzahl von Impulsen, die erzieherisch andeuten, wie ein solches Denken aussehen könnte – die Aussage »definitorisch« auszufüllen und in ihrer Fülle zu erfassen ist jedoch nicht möglich.

34 Meine Mitarbeiterin M. Rescio bereitet derzeit eine Studie vor, welche unter dem Einbezug papyrologischen Materials die Bedeutung des hier erwähnten »Fiebers« beleuchtet. 35 Zur Funktion der Sammelberichte für die erzählte Theologie des MkEvs weiterführend E.-M. Becker, Die markinischen Summarien. Ein literarischer und theologischer Schlüssel zu Mk 1–6, in: dies., Der früheste Evangelist. Studien zum Markusevangelium (WUNT 380), Tübingen 2017, 327–350. 36 Vgl. hierzu auch D. Moessner, Mark’s Mysterious Beginning as the Hermeneutical Code to Mark’s Messianic Secret, in: ders./M. Calhoun /T. Nicklas, The Gospel and Ancient Literary Criticism. Continuing the Debate over Gospel Genre(s) (WUNT), Tübingen 2020 [im Druck]: »Undoubtedly the most deleterious influence of the Satan in Mark is the domination of humanity’s thinking, a personified evil that opposes the special human capacity of deliberating and adjudicating a variety of understandings and approaches to life in a ›world‹ filled with multifarious forces and manifestations of the Divine.« 37 Ich sehe die Figur des Petrus im MkEv als hoch ambivalent. Hierzu weiterführend T. Nicklas, Mark’s Image of Peter. A Distanced Portrait, in: C. Preda /M. Vild (Hg.), The Light of the Divine Scriptures, Bukarest 2020 [im Druck].

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(1) Immer wieder lesen wir davon, dass der markinische Jesus ἐν παραβολαῖς spricht (vgl. Mk 3,23; 4,11; 12,1; vgl. 4,34). Vielleicht sollten wir diesen Ausdruck nicht zu schnell mit dem üblichen »in Gleichnissen« übersetzen. Tatsächlich bedeutet der griechische Begriff παραβολή »Vergleich« und sicherlich auch »Gleichnis«. Dabei schwingen jedoch auch Assoziationen wie »(nebeneinander oder durcheinander) Werfen«, ja selbst »Daransetzen« und »Wagnis« eine Rolle. Eingeordnet in die Lehre Jesu vom »Umdenken« verstehen sich die Gleichnisse Jesu also als ein »Nebeneinander-Werfen« von Bildern, die ein Denkwagnis einfordern, wenn man sich auf sie einlassen will. Und tatsächlich gehen von den Gleichnissen Jesu Anstöße aus, die ein »Umdenken« erfordern. Ich habe dies anderen Orts z.B. für das Zueinander der Gleichnisse vom Wachsen der Saat (Mk 4,26–29) und vom Senfkorn (Mk 4,30–32) gezeigt: Beide Gleichnisse setzen [. . . ] an alltäglichen Ereignissen an [. . . ] Ihre Art der Darstellung dieser alltäglichen, zunächst dem Bereich der Kultur [. . . ], d.h. dem zielgerichteten Handeln des Menschen, zugeordneten Ereignisse sensibilisiert dafür, wie sehr selbst hier die Natur zum Subjekt wird, gegenüber dem das Handeln des Menschen eine untergeordnete Rolle spielt. Das selbstverständlich machbar Erscheinende wird so in das Licht des Geheimnisvollen, nicht Fassbaren gerückt: Der Mensch weiß nicht, wie es zum Keimen und Wachsen seiner Saat kommt (Mk 4,27) – und selbst aus dem Kleinsten kann das Größte werden (Mk 4,32). Die in beiden Gleichnissen erfolgenden Zuspitzungen der jeweils üblichen Sachverhalte dienen auf erster Ebene der Provokation – und sollen gleichzeitig eine Änderung der üblichen Wahrnehmung dieser Dinge ermöglichen. 38

Mit anderen Worten: Um die beiden genannten ganz kurzen Gleichnisse, die sich in die Lehre Jesu (Mk 4,1) über die Gottesherrschaft (Mk 4,26 und 4,30) einordnen wollen, zu interpretieren, ist es nicht notwendig, ein Tertium Comparationis zu ermitteln oder gar eine Erzählung hinter der Erzählung zu (re-)konstruieren. Stattdessen geht es zunächst einfach darum, wahrzunehmen – und dann wirklich für wahr zu nehmen –, wie sehr selbst ganz alltägliche, vollkommen selbstverständliche Handlungen und Situationen, wenn man sie nur mit den rechten, nicht »verstockten« Augen betrachtet, transparent für das unverfügbare Wirken Gottes sind. Beide Gleichnisse können somit als Illustrationen des Satzes »Die Königsherrschaft Gottes ist nahe« (Mk 1,15) verstanden werden. Gerade, weil auch sie als Erzählungen nicht einfach in definier- und damit als Inhalt greifbare »Lehrsätze« übersetzbar sind, sondern offenbleiben, appellieren sie nicht nur an ein neues Weltverhältnis, sondern stellen, letztlich in der Weise der Entgrenzung, Möglichkeiten eigenen Lernens radikal in

38 T. Nicklas, Transparent für Gottes Wirken. »Natur« in den synoptischen Evangelien, JBTh 34 (2019) [im Druck].

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Frage. Die so beschriebene »Nähe« aber lässt sich dann nicht als auf einem gleichmäßig verlaufenden Zeitstrahl zu vermessende »kurze Zeit« beschreiben, sondern steht für eine zu entdeckende Unmittelbarkeit. 39 Umzudenken bedeutet dann zunächst, bereits jetzt in einer Weise sehen zu lernen, die nicht nur die erzählte, sondern auch die erlebte, erfahrene Welt als Gottes Schöpfung transparent für die Nähe der Gottesherrschaft macht, und, damit verbunden, sich bei dieser neuen Wahrnehmung der Welt neu zu erkennen. (2) Die Lehre Jesu bezieht sich jedoch nicht alleine auf die Nähe der Königsherrschaft Gottes. In paradoxer Weise fügt sich ab dem geographischnarrativen Wendepunkt der Erzählung in der Szene in Caesarea Philippi (Mk 8,27) diesem Aspekt ein zweiter hinzu, der mit dem ersten zumindest zunächst vollkommen unvereinbar scheint. Der gleiche Jesus, der bisher in Vollmacht die Nähe der Königsherrschaft Gottes verkündete, beginnt nun seine »Schüler« über das zukünftige Schicksal des Menschensohns zu belehren: Und er begann sie zu belehren, dass der Sohn des Menschen vieles erleiden müsse, dass er von den Ältesten, den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten verworfen würde und getötet und dass er nach drei Tagen auferstehen werde (Mk 8,31).

Dies wird bekanntlich mit leichten Variationen zwei Mal wiederholt (Mk 9,30–32 und 10,32–34) und auch im Gleichnis von den bösen Winzern (Mk 12,1–12) 40 wieder aufgegriffen. Die mit dieser Lehre verbundene Herausforderung wiederum ist so groß, dass die Schüler sie bis zum Ende des Evangeliums nicht anzunehmen scheinen. Wie oben schon betont: Der »Erzieher« Jesus scheitert bei seinen Schülern. Wo Lesende jedoch entscheiden, das Evangelium als sie »an-sprechenden« Text zu

39 In seiner sprachlichen Analyse von Mk 1,14–15 schreibt F. Mußner, Jesu Ansage der Nähe der eschatologischen Gottesherrschaft nach Markus 1,14.15. Ein Beitrag moderner Sprachwissenschaft zur Exegese (1980), in: ders., Jesus von Nazareth im Umfeld Israels und der Urkirche (WUNT 111), Tübingen 1999, 223–244, hier: 229: »Etwas erkennt aber der Hörer bzw. der Leser von Mk 1,15c immer noch nicht, nämlich dies: Ob die VPr ἤγγικεν lokal oder temporal gemeint ist; denn beide Bedeutungen kann bekanntlich das Verbum ἐγγίζειν haben.« – Ich bin der Meinung, dass die Entscheidung in dieser Alternative nicht zu schnell im Sinne einer temporalen Nähe fallen sollte, stattdessen die jederzeit mögliche, gnadenhaft geschenkte »Präsenz« (räumlich wie zeitlich verstanden) der Gottesherrschaft zum Ausdruck gebracht werden soll. 40 Zur Bedeutung dieser Szene, die ich hier nicht im Detail analysieren kann, für die Frage nach der »Enthüllung« der Identität Jesu im MkEv vgl. D.S. du Toit, »Es gibt nichts Geheimes, das nicht ans Licht kommen soll.« Verhüllung und Enthüllung als Erzählmotiv und als narrative Strategie im Markusevangelium, in: P. Dragutinovi´c u.a. (Hg.), Christ of the Sacred Stories (WUNT II.453), Tübingen 2017, 27–56, hier 41–42.

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konstruieren, setzen sie sich der Forderung aus, in dem gottverlassen scheinenden, leidenden Gerechten Jesus von Nazaret, der mit einem Schrei am Kreuz seinen Geist aushaucht (Mk 15,37), weiterhin und trotz allem den Menschensohn zu sehen, der, wie er selbst in Mk 14,62 ankündigte, »zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen« wird (Mk 14,62; vgl. Mk 13,26 und Dan 7,13). Der Text selbst bietet verschiedene Weisen an, die Dinge zu sehen: Entweder kann man das Offensichtliche tun und die Szene so deuten wie diejenigen, die spottend unter dem Kreuz stehen: »Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten« (Mk 15,31). Und noch deutlicher auf das Sehen anspielend: »Der Messias, der König Israels, soll doch jetzt vom Kreuz herabsteigen, damit wir sehen und glauben« (Mk 15,32). Oder man kann andere Dinge in dieser Szene sehen und hören: Eine Sonnenfinsternis zu unmöglicher Stunde (Mk 15,33) und das Zerreißen des Tempelvorhangs von oben nach unten (Mk 15,38). Wie auch immer man beides im Detail interpretieren will 41 – die Kreuzigung Jesu wird mit Elementen einer Epiphanie beschrieben. Vor allem aber bieten die Hinweise auf Psalm 22 einen wichtigen Schlüssel zur Szene: Jesus leidet wie der Gerechte aus Psalm 22, er betet zu Gott in einer Situation, die tiefste Gottverlassenheit spürbar werden lässt. Dieser Moment der Gottverlassenheit darf keinesfalls zu schnell aufgelöst werden, und doch eröffnet Psalm 22, wenn wir den Text ganz ernst nehmen, die Hoffnung, dass Gott auch auf das Schreien dieses Beters hören wird (Ps 22,25). 42 Als einziger Zeuge dieses Geschehens scheint der Centurio unter dem Kreuz wenigstens auf dem Weg zu sein, die Szene angemessen zu deuten: »Wahrlich, dieser Mensch war Sohn eines Gottes« (Mk 15,39). Die Herausforderung an die Lesenden besteht nun darin, in diesen Satz nicht nur einstimmen zu können, sondern, noch ohne eine Zeile der Ostererzählung gelesen zu haben, hinzuzufügen: »Und wahrhaftig, er ist der Menschensohn«. 43 Sich dafür zu entscheiden, diese Herausforderung – besser eine Zumutung – anzunehmen, erfordert eine

41 Zu älteren Deutungen beider Motive vgl. z.B. Gnilka, Markusevangelium, 321 und 324–325. 42 Zur Funktion von Ps 22 für das Verständnis der markinischen Passionserzählung vgl. T. Nicklas, Die Gottverlassenheit des Gottessohns. Funktionen von Ps 22/21 LXX in frühchristlichen Auseinandersetzungen mit der Passion Jesu, in: W. Eisele u.a. (Hg.), Aneignung durch Transformation. Beiträge zur Analyse von Überlieferungsprozessen im frühen Christentum. Festschrift für Michael Theobald (HBS 2013), Freiburg im Breisgau 2013, 395–415, hier: 398–401. 43 Damit ist der Aussage des Centurio noch nicht ihr Charakter als Bekenntnis genommen. Dieses mag sicher weitergehen als alle anderen Bekenntnisse menschlicher Figuren der erzählten Welt des Mk, ich halte aber auch dieses Bekenntnis für der Ergänzung bedürftig. Zur Diskussion um den Bekenntnischarakter der Passage siehe auch P.-G. Klumbies, Narrative Kreuzestheologie bei Markus und Lukas, in: ders., Das Markusevangelium als Erzählung (WUNT 408), Tübingen 2018, 93–110, hier: 104–105.

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radikal kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen. 44 Sehr viel mehr an Umsturz der bisherigen Sicht auf die Welt ist im Grunde nicht denkbar. (3) Vor diesem Hintergrund eröffnet sich auch der Blick auf das markinische »Bildungsangebot« in den Forderungen des markinischen Jesus zur Nachfolge. Ich denke hier an Mk 8,34–8,38, der unmittelbar auf die erste Rede über das Schicksal des Menschensohns folgenden Belehrung der »Volksmenge zusammen mit den Schülern« (Mk 8,34). 45 Spätestens mit Mk 8,36 zeigt sich, dass es dabei um nichts weniger als geglücktes Menschsein geht. Der Text arbeitet mit Paradoxien: Jesus nachzufolgen bedeutet, sich selbst zu verleugnen und sein Kreuz auf sich zu nehmen (Mk 8,34b). Dieser Aufforderung kommt gleichzeitig die Funktion einer These zu, die in den nachfolgenden Sätzen, in denen vier Mal die Konjunktion »denn« (γάρ) begegnet, begründet wird. V. 35 spricht vom »Retten« der Psyche¯ , d.h. des »Lebens« bzw. der »Seele«, dessen also, was menschliches Leben ausmacht, 46 und steht gleichzeitig im größtmöglichen Gegensatz zu den Vorstellungen, die den Aussagen der Spötter unter dem Kreuz zugrunde liegen: Wer nämlich seine Psyche¯ retten will, wird sie verlieren. Wer aber seine Psyche¯ um meinet- und des Evangeliums Willen verliert, wird sie retten. 15,31 Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. 8,35

8,36 wiederum konkretisiert das vorher Gesagte noch einmal: Die Einstellung, die, signalisiert durch die Verwendung des Verbs κερδαίνω (»Gewinn haben, Vorteil ziehen«), auf den eigenen Vorteil, den Gewinn, bedacht ist, wird mit der Gefahr konfrontiert, selbst bei größtmöglichem Erfolg, dem Gewinn der ganzen Welt, dabei die Psyche¯ und damit das, was menschliches Leben ausmacht, einzubüßen. Einen Kaufpreis (ἀντάλλαγµα) für die so verlorene Psych¯e jedoch gibt es nicht. Radikaler könnte man kaum zum Ausdruck bringen, dass es in jedem menschlichen Leben zuallererst und zutiefst um das menschliche Leben selbst geht. 47

44 Auch die bewusste Entscheidung sie nicht annehmen zu können, ist damit aber ein Akt der Bildung. 45 Ich habe den normalerweise zu dieser Szene hinzugerechneten Vers 9,1 für den Moment ausgeblendet. Auch er steht für mich nicht alleine im Horizont der auf einem gleichmäßigen Zeitstrahl betrachteten rein zeitlich messbaren Nähe der Gottesherrschaft, sondern für die raumzeitliche Unmittelbarkeit ihrer Präsenz. 46 Zur Diskussion um die (problematische) Übersetzung des Begriffs Psych¯e in diesem Kontext vgl. z.B. A. Yarbro Collins, Mark. A Commentary (Hermeneia), Minneapolis 2007, 409. 47 E. Reinmuth, Anthropologie im Neuen Testament (UTB 2768), Tübingen /Basel 2006, 95, formuliert das folgendermaßen: »Es geht in diesem Textabschnitt um das Leben

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In der Vielfalt der Möglichkeiten, es zu leben – und zu verlieren –, bietet der markinische Jesus eine paradox klingende Möglichkeit an, es zu gewinnen: durch die radikale, selbst das Risiko des Lebensverlusts eingehende Bindung an Jesus, den einst »mit den heiligen Engeln in der Hoheit des Vaters kommenden Menschensohn« (Mk 8,38), und das von ihm verkündete Evangelium. 48 Das Markusevangelium ist damit keineswegs naiv: Es schickt Jesus selbst auf diesen Weg des Kreuzes, auf einen Weg, in dem er sein Leben nicht retten kann, sondern in offensichtlicher Gottverlassenheit stirbt. Gleichzeitig deutet es nicht nur am Ende an, dass dieser Weg trotzdem weitergeht (vgl. v.a. Mk 16,7) und so trotz allem auf das Evangelium vertraut werden kann. (4) Wer sich auf den Weg macht, so »umzudenken«, sich auf diese Paradoxien einlässt und sich auf diese Weise einer Lebenshaltung annähert, die dem Evangelium vertraut, wird vom Text in einen Horizont gestellt, der die Grenzen des üblicherweise Erfahrbaren sprengt. Das wird nicht nur in Mk 11,20–25 illustriert, sondern spielt auch anderen Orts immer wieder eine Rolle. Die Heilung des Gelähmten (Mk 2,1–12) – zunächst als Vergebung seiner Sünden und dann als Wiederherstellung seiner Gesundheit – geschieht, weil die Träger der Bahre bei dem Versuch, zu Jesus zu kommen, größte Hindernisse überwinden, ja selbst das Dach des Hauses aufgraben, in dem er sich befindet, und sich darin ihre Pistis, d.h. ihr Trauen, ihr Glaube, zeigt. Der blutflüssigen Frau wie auch dem blinden Bartimäus spricht Jesus zu: »Deine Pistis hat dich (bleibend!) heil gemacht« bzw. »gerettet« (Mk 5,34; 10,52: ἡ πίστις σου σέσωκέν σε). 49 Der Text verwendet hier das gleiche Verb σῴζω (»retten, heilen«) wie in den Szenen über Nachfolge und Kreuzigung! Auch hier wirkt der Text erziehend. Es ist nicht nötig, einen Wunderheiler Jesus von Nazaret um sich zu haben, um »heil«, »gerettet« zu werden; die entsprechende

im Vollsinn des Wortes, tatsächlich eigentliches und so auch dauerndes Leben. Es gründet nicht im Festhalten, sondern im Loslassen, im Preisgeben. Die Rettung, das Finden des Lebens wird durch keine Lebensbemühung möglich, nur durch Anschluss an Christus – und eben dieser Anschluss, die Nachfolge, stellt das Leben zur Disposition. Wer es aber in dieser Weise verfügbar hält um Jesu willen, wird es erhalten, weil er sich damit ganz an den hängt, der ins Leben führt. Der aber, der es festhalten will, liefert sich damit dem Tod aus, der seine einzig sichere Zukunft ist. Das Wort zielt auf eine Grundbewegung, die menschliches Leben auf vielfältige Weise kennzeichnet: Sich im Loslassen finden, im Heraustreten zu sich selbst kommen.« 48 Auch Mk 10,17–21 kann als Illustration des gleichen Gedankens verstanden werden. 49 Die Perfektform des Verbs wiederum signalisiert, dass die Heilung dauerhaft ist. Ausführliche Überlegungen zur konkreten Übersetzung des Verses bei A.W. Zwiep, Jairus’s Daughter and the Haemorrhaging Woman. Tradition and Interpretation of an Early Christian Miracle Story (WUNT 421), Tübingen 2019, 62–63.

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Pistis ist auch da möglich, wo Jesus nicht greifbar scheint. 50 Eine solche Lebenshaltung wiederum ist in der Lage, alle Furcht zu überwinden: Dies ist bereits in Mk 4,40–41 vorausgesetzt, als Jesus, welcher in V. 38 erneut als »Lehrer« angesprochen wird, seinen Schülern vorwirft, »furchtsam« (δειλοί) zu sein – und noch keine Pistis zu haben (Mk 4,40). Die Reaktion der Jünger – v.a. auf die in der Stillung des Sturms erkennbare Epiphanie – ist jedoch das genaue Gegenteil: Sie »fürchteten sich mit großer Furcht« (Mk 4,41). Das Motiv der Furcht (v.a. als Reaktion auf Jesu Handeln) wiederum begegnet nicht nur hier, sondern durchzieht, wie schon oben angedeutet, in verschiedensten Variationen und unter Verwendung unterschiedlicher Begriffe das ganze Markusevangelium. Vielleicht die stärkste Entsprechung zur Sturmstillungsszene – gleichzeitig ganz klar eine Epiphanieerzählung 51 – findet sich in der bereits mehrfach angesprochenen Auferstehungserzählung: Wollen wir die Imperativ-Präsens-Form µὴ ἐκθαµβεῖσθε (Mk 16,6) ganz ernst nehmen, dann reagiert der himmlische Bote im Grab damit nicht einfach auf das spontane Erschrecken und Außer-SichGeraten der Frauen, von dem Mk 16,5 (Aor.: ἐξεθαµβήθησαν: »sie wurden von Erschrecken ergriffen«) erzählt. Vielmehr kommt er zu einer viel grundsätzlicheren Aussage: »Ihr sollt euch generell nicht mehr von Furcht ergreifen lassen.« 52 Damit aber wird dieses üblicherweise einfach als typisches Zeichen einer Epiphanie aufgefasste Motiv zugleich zu einem wichtigen Inhalt der Osterbotschaft des Jünglings /Engels 53 (und damit des »Eu-Angelions«), der sich direkt aus der Botschaft von der Auferweckung des Gekreuzigten ableiten lässt. Wenn die Frauen daraufhin außer sich vor Furcht vom Grab fliehen – und das Evangelium mit der Antiklimax »Sie fürchteten sich nämlich« endet, dann ist damit auf geradezu bestürzende Weise ausgedrückt, wie wenig von der Weltsicht, die das Evangelium vermitteln möchte, wirklich bei den Figuren der Erzählung angekommen ist. Die eben vorgeschlagene Deutung der Aussage des Engels wiederum steht nicht einfach als isolierte, vielleicht zufällige Einzelaussage am Ende des Markusevangeliums, sie bildet vielmehr, wie angedeutet, das Schlussglied

50 Eine wichtige Rolle, die ich im vorgegebenen Rahmen nicht diskutieren kann, spielt in diesem Konzept zudem das Gebet. Zur Rolle des Gebets im MkEv weiterführend allerdings K.-H. Ostmeyer, Kommunikation mit Gott und Christus. Sprache und Theologie des Gebetes im Neuen Testament (WUNT 197), Tübingen 2006, 212–234. 51 So schon K. Kertelge, Die Wunder Jesu im Markusevangelium (StANT 23), München 1970, 93. 52 So auch nahezu wörtlich S. Alkier, Markusevangelium als Tragikomödie [im Druck]. 53 Bekanntlich spricht die Szene nicht explizit von einem Engel, sondern einem »jungen Mann«, der jedoch durch seien Attribute klar als Wesen einer himmlischen Welt verstanden werden kann. Ob der Text sich damit bewusst offen für Assoziationen an andere Kontexte (z.B. Taufszenen) zeigen will, möchte ich hier offenlassen.

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einer Vielzahl von Aussagen, in denen von Furcht die Rede ist. 54 Sie alle kulminieren in einem mit Recht an das österliche Grab platzierten Schlusspunkt, der so herausfordernd ist, dass die Frauen ihn nicht annehmen können. Gleichzeitig deutet er aber den eigentlichen Horizont des markinischen Erziehungsprogramms an: die Befreiung des Menschen von aller Furcht im Vertrauen auf das im österlichen Grab noch einmal bekräftigte, wenn auch mit anderen Worten ausgedrückte Evangelium. Wie wenig dieser Horizont tatsächlich je einholbar ist, illustriert die Passion Jesu, den in Getsemani, dem Schweigen Gottes ausgeliefert, selbst diese Furcht ergreift (Mk 14,33). All dies erfordert tatsächlich ein »Umdenken« wie es radikaler kaum sein könnte und nie endgültig bei einem definierbaren »Lernziel« ankommen könnte. Das Evangelium lädt ein, die bleibend unmittelbare Nähe der Gottesherrschaft in eins zu denken mit der Gottverlassenheit des Gekreuzigten. Es bietet an, in dem verspotteten Gekreuzigten, dem leidenden Gerechten, den Menschensohn zu erkennen, der »zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen« wird (Mk 14,62) 55 und fordert dazu heraus, alles auf ein Leben nach einer Botschaft zu setzen, die ihren Verkünder in den Tod führt. Mit dem abgründigen Mk 16,8 – »Sie fürchteten sich nämlich!« endet der Text des Markusevangeliums. Mit seinem radikal offenen Schluss entlässt der Erzieher Markusevangelium seine Leserinnen und Leser. Ob sie sich dann – bewusst die Ideen von Welt und Menschsein des Evangeliums ablehnend – in ihre alte Existenz in ihrer bisherigen Welt zurückziehen oder ob sie von nun an immer neu zurückkehren in die Welt des Texts, ist ihre eigene Entscheidung. Wenn sie sich in Auseinandersetzung mit dieser Entscheidung auf einen immer wieder neu zu reflektierenden Weg zu einem sich ändernden, nie fertigen Bild von sich selbst und der Welt, in der sie leben, machen, ist dies Ausdruck von Bildung. Abstract This paper starts with the assumption that early Christianity has been a movement interested in different forms of education and intellectual exchange from its very beginning. After this it offers an analysis of the Gospel of Mark on three different levels: first, it examines in how far Jesus is understood as a teacher whose disciples (or better: pupils) do not fully understand his message. Second, it looks for signals in the text, which show that the Markan Jesus’ teaching is not just meant for the disciples but wants to educate the text’s readers. Third, it analyses elements wherein the text becomes an educator of its readers by offering a different view of

54 Hierzu im Detail T. Nicklas, ›Fear‹ and Related Motifs in the Gospel of Mark, in: ders./J. Kelhoffer /M. Seleznev (Hg.), The Gospel of Mark: Language, Narrative and Theology (WUNT), Tübingen 2020/21 [im Druck]. 55 Ich bin Ralf Koerrenz für eine Vielzahl von Impulsen – sei es in Gesprächen, sei es aufgrund seiner kritischen Lektüre früherer Fassungen dieses Beitrags – zu Dank verpflichtet.

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the world and challenging answers of what it means to live as a human being following Jesus Christ. The text’s openness – both its open ending and the semantic openness of Jesus’ key message about the Kingdom of God –, finally, sets its readers free to develop their own relation to their own self within the world by either taking over Mark’s views in a creative way or abandoning them. Prof. Dr. Tobias Nicklas, geb. 1967, ist Inhaber des Lehrstuhls für Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments an der Fakultät für Katholische Theologie und seit 2018 Leiter des Centre for Advanced Studies »Beyond Canon_« der Universität Regensburg.

Uta Poplutz

Bildungs-Allusionen im lukanischen Doppelwerk Streiflichter impliziter paideia-Konzeptionen 1.

Hinführung

Das griechische Lexem παιδεία (paideia) heißt Bildung oder Erziehung und leitet sich vom Verb παιδεύω (paideuο) ab, welches den Wortstamm παῖς (pais, Kind, Knabe) enthält. Wörtlich bedeutet παιδεύω (paideuο), »sich mit einem Kind zusammen zu befinden« oder »sich mit einem Kind intensiv oder berufsmäßig zu beschäftigen.« 1 Das Substantiv paideia begegnet erstmals bei dem Tragödiendichter Aischylos, hat dort aber noch dieselbe Bedeutung wie τροφή (troph¯e), was schlicht das Aufziehen von Kindern meint, dabei aber eher vegetativen Charakter trägt. 2 Spätestens seit den ersten Sophisten 3 des 5. Jahrhunderts v.Chr. wurde paideia dann einerseits als der Prozess der intellektuellen und ethischen Erziehung und Bildung 4 sowie andererseits als das Ergebnis des Erziehungsprozesses im Sinne von Ausbildung, Bildung oder Einsicht verstanden. 5 In gewisser Weise kann

1 Das in παιδεύω enthaltene Verbalsuffix -ευω ist eine Zustandsbeschreibung, vgl. D. Fürst /S. Wibbing, Art. παιδεύω κτλ., in: L. Coenen /K. Haacker (Hg.), Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament, Bd. 1, Wuppertal /Neukirchen 1997, 409–412, hier: 409; zu den zahlreichen Bedeutungen und Belegen der Derivate vgl. Liddell /Scott, 1286–1289. 2 Aesch., Sept. c. Theb. 18. Vgl. zum Begriff der Bildung im antiken Kontext auch B. Orth, Lehrkunst im frühen Christentum. Die Bildungsdimension didaktischer Prinzipien in der hellenistisch-römischen Literatur und im lukanischen Doppelwerk (Beiträge zur Erziehungswissenschaft und biblischen Bildung 7), Frankfurt am Main 2002, bes. 75–78. Umfassend und informativ ist auch der Sammelband J. Christes /R. Klein /C. Lüth (Hg.), Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike, Darmstadt 2006. 3 Das Programm der Sophisten wurde vorrangig durch Argumentationstechniken und rhetorische Ausdrucksbildung bestimmt und diente der Bildung des Individuums. In gewissem Sinne kann man dies als eine frühe Form der »Aufklärungspädagogik« bezeichnen, wie R. Koerrenz, Art. Pädagogik, II. Geschichte, RGG4 6 (2003), 776–781, hier: 777 vorschlägt. Denn die Sophisten waren wohl die ersten, die alle Menschen, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, als bildungs- und erziehungsfähig betrachteten. Eine Einschränkung gab es allerdings: Sie verlangten ein Honorar für ihre Dienste. 4 Dieselbe Bedeutung hat auch παίδευσις (paideusis), vgl. etwa Aristoph., Nu. 961; Thuc. 2,39,1. 5 Vgl. z.B. Democr. 180; Plat., Prot. 327d; Gorg. 470e; Resp. 378e; Aristot., Pol. 1338a30; vgl. G. Bertram, Art. παιδεύω κτλ., ThWNT 5 (1954), 596–624, hier: 596f; Fürst /Wibbing, Art. παιδεύω κτλ., 409; J. Christes, Art. Bildung, DNP 2 (1997), 663– 673, hier: 663. Lesenswert zur Entwicklung der Pädagogik immer noch H.-I. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, Freiburg /München 1957. Die neueste Auseinandersetzung damit bietet C. Auffarth, Henri-Irénée Marrous Geschichte der Erzie-

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man die Sophisten somit als die »erste pädagogische Bewegung« 6 verstehen. Sie stuften drei Faktoren, die beim Unterricht zu berücksichtigen seien, als wichtig ein: Begabung, Unterrichtsinhalte und Übung. 7 Inhaltlich knüpften die Sophisten zwar an die traditionelle elementare Bildung in Gymnastik, Musik, Lesen, Schreiben und Rechnen an, fügten aber darüber hinaus noch Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Geometrie, Astronomie und Harmonielehre hinzu. 8 Die weiteren Entwicklungen markierten dann Persönlichkeiten wie Isokrates (436–338 v.Chr.), der das Ideal uneigennütziger geistiger Bildung rhetorisch-humanistischer Prägung anstrebte, bei welchem das Gut-Denken mit dem Sich-gut-Ausdrücken und dem Gut-Handeln Hand in Hand gehen sollten; 9 diese Art der Bildung sollte auf alle Berufe und Lebensverhältnisse übertragbar sein und wurde als politische Bildung verstanden. 10 Platon (428–347 v.Chr.) hingegen distanzierte sich von der vorherrschenden Rhetorik, die auch Isokrates vertrat, da sie an keine Ethik gebunden sei, und legte mit der Πολιτεία (politeía, Staat) sein pädagogisches Hauptwerk vor. Ohne darauf an dieser Stelle näher eingehen zu können, lässt sich für die Entwicklung des antiken paideia-Konzepts insgesamt konstatieren, »dass die paideia spätestens seit Platon wie eine Ellipse zwei Brennpunkte in sich beschließt: einerseits den Bereich der Erziehung im engeren Sinn mit dem Erwerb von Wissen, Können und Haltung, andererseits die Formung des Erwachsenen, die den Gebildeten als einen Menschen ausweist, der Probleme als solche zu erkennen und Behauptungen adäquat zu beurteilen vermag.« 11 In diesem Sinne ist paideia als eine Art »Formgebung der ganzen menschlichen Existenz« 12 zu verstehen und in keinem Fall auf die Schulbildung zu verengen. Im Neuen Testament kommt die Wortgruppe um das Lexem paideia insgesamt 24 Mal vor. 13 Auffällig ist, dass Lukas der einzige Evangelist hung im klassischen Altertum. Der Klassiker kontrastiert mit Werner Jaegers Paideia, in: P. Gemeinhardt (Hg.), Was ist Bildung in der Vormoderne? (SERAPHIM 4), Tübingen 2019, 39–66. 6 M.A. Ritter, Art. Pädagogik, LAW (1965), 2188–2192, hier: 2189. 7 Vgl. C. Lüth, Einführung. Griechenland, in: J. Christes/R. Klein /C. Lüth (Hg.), Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike, Darmstadt 2006, 11–16, hier: 12. 8 Ebd., S. 15. 9 Vgl. ebd., S. 12. 10 Vgl. dazu ausführlich W. Steidle, Redekunst und Bildung bei Isokrates, in: H.-T. Johann (Hg.), Erziehung und Bildung in der heidnischen und christlichen Antike (WdF 377), Darmstadt 1976, 170–226. 11 S. Vollenweider, Bildungsfreunde oder Bildungsverächter? Überlegungen zum Stellenwert der Bildung im frühen Christentum, in: P. Gemeinhardt (Hg.), Was ist Bildung in der Vormoderne? (SERAPHIM 4), Tübingen 2019, 283–304, hier: 287. 12 P. Gemeinhardt, Wege und Umwege zum Selbst. Bildung und Religion im frühen Christentum, in: J. Rüpke /G.D. Woolf (Hg.), Religious Dimensions of the Self in the Second Century CE (STAC 76), Tübingen 2013, 259–277, hier: 260. 13 Das Substantiv παιδεία (paideia) begegnet in Eph 6,4; 2 Tim 3,16 sowie in Hebr 12,5.7.8.11; Verbformen von παιδεύω (paideuο) finden sich in Lk 23,16.22 (schla-

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ist, der sich dieser »Bildungstermini« bedient (Lk 23,16.22; Apg 7,22; 22,3). Zwar sind die Nennungen für die Eruierung eines dahinterstehenden lukanischen Bildungskonzeptes auf den ersten Blick nicht besonders aussagekräftig, können aber gleichwohl Ausgangspunkt und legitimer Anlass sein, exemplarisch dem spezifisch lukanischen Bildungsanspruch nachzugehen. Denn während Jesus und seine Jünger aller Wahrscheinlichkeit nach der höheren Bildung eher fernstanden, 14 zumindest aber ihre Verkündigung durch die Einfachheit und Rustikalität der gewählten Bildersprache dominiert wurde (wie z.B. in den Gleichnissen und Bildworten), 15 erweiterten und modifizierten Ende des 1. Jahrhunderts n.Chr. die vier synoptischen Evangelisten auf je unterschiedliche Weise diese Verkündigung, um sie für ihre städtischen Gemeinden oder eine eher ortsungebundene »christliche« Leserschaft nachvollziehbar und attraktiv zu machen. Wie selbstverständlich verwendeten sie dabei vorgegebene Gattungen der hellenistisch-römischen Kultur als Medium. Dabei ragt das lukanische Selbstverständnis besonders heraus: 16 Als schriftgelehrter und historisch gebildeter Christ, der für ein Publikum schreibt, das sich gen, disziplinieren); Apg 7,22; 22,3 (unterrichten, bilden); vgl. auch 1 Kor 11,32; 2 Kor 6,9; 1 Tim 1,20; 2 Tim 2,25; Tit 2,12; Hebr 12,6.7.10; Offb 3,19; der παιδευτής (paideut¯es, Lehrer, Erzieher) in Röm 2,20 und Hebr 12,9; der παιδαγωγός (paidago¯ go¯ s, Erzieher, Tutor) in Gal 3,24.25; 1 Kor 4,15. 14 Optimistischer schätzt R. Riesner, Jesus als Lehrer. Eine Untersuchung zum Ursprung der Evangelien-Überlieferung (WUNT II /7), Tübingen 31988, das Bildungsniveau Jesu ein; dies ist seiner Grundthese geschuldet, dass wir vom historischen Jesus bis zu den synoptischen Evangelien einen zuverlässigen mündlichen Tradierungsprozess vorliegen haben. 15 Christes, Art. Bildung, 671: »Jesus und seine Jünger standen der ant[iken Bildung] fern. Die ›Fischersprache‹ der Bibel und rusticitas und simplicitas der Christen – überwiegend einfacher Leute – blieben lange geschmäht. Erst im Verlauf des 2. Jh. traten vermehrt Personen mit höherer B[ildung] dem Christentum bei. Die Aufwertungsversuche der frühesten Apologeten vermochten niemanden zu beeindrucken.« Demgegenüber hat sich in den letzten Jahren eine Art neutestamentliche »Bildungsinitiative« gebildet, deren stärkster Verfechter wohl Thomas Söding ist, der das Christentum als »Bildungsreligion« identifiziert und damit die intellektuelle Kritik paganer Autoren an der Bildungsferne der Christinnen und Christen als reine Polemik wertet, vgl. T. Söding, Das Christentum als Bildungsreligion. Der Impuls des Neuen Testaments, Freiburg u.a. 2016. Ähnlich optimistisch auch U. Schnelle, Das frühe Christentum und die Bildung, NTS 61 (2015), 113–143. Kritik findet sich bei Vollenweider, Bildungsfreunde, 285: »Die heutigen Anwälte eines bildungsfreundlichen Urchristentums arbeiten mit einem sehr großzügig entworfenen Bildungsverständnis. Was immer in den frühchristlichen Schriften an Lehren und Lernen, an Textproduktion und Textrezeption in Erscheinung tritt, wird unter diesem Label verhandelt. Das ist natürlich möglich. Aber die Kehrseite dieser Sprachregelung besteht darin, dass die Kategorie selber nicht mehr wirklich griffig ist.« Zum Bildungsniveau Jesu vgl. auch C. Heil, Analphabet oder Rabbi? Zum Bildungsniveau Jesu, in: ders., Das Spruchevangelium Q und der historische Jesus (SBAB 58), Stuttgart 2014, 265–291. 16 Vgl. K. Backhaus, Die Apostelgeschichte: Anspruch und Aktualität. Eine Hinführung, in: ders., Die Entgrenzung des Heils. Gesammelte Studien zur Apostelgeschichte (WUNT 422), Tübingen 2019, 1–19, hier: 9: »Lukas ist bereits als Christ von der paganen Mehrheitskultur so geprägt, dass er sie – kritisch und selbstbewusst – nicht als Fremdes

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offenbar durch Bildung und ein gewisses Maß an Wohlstand auszeichnet, 17 hat er das Interesse, den Christusglauben auch für intellektuell und sozial höherstehende Personengruppen im Römischen Reich als attraktiv darzustellen. Auch wenn die antiken Christinnen und Christen in den ersten zwei Jahrhunderten kein eigenes Schulsystem und auch kein genuines Bildungsprogramm entwickelten, 18 sondern als Teilkultur unter dem Dach der hellenistisch-römischen Mehrheitskultur vom herrschenden Bildungssystem geprägt und beeinflusst waren – insbesondere im städtischen Milieu 19 –, war das Christentum bereits seit Mitte des 2. Jahrhunderts keine Religion der sogenannten »kleinen Leute« mehr. 20 Der Evangelist Lukas setzt mit seinem Doppelwerk auf diesem Weg eine besondere Landmarke. Wie er als christlicher Schriftsteller und Historiker bestimmte Bildungskonzepte und -diskurse aufnimmt und in seinen theologischen Entwurf sublim einbindet, soll im Folgenden anhand exemplarisch ausgewählter Schlaglichter erhellt werden.

wahrnimmt: Er ist Zeitgenosse, weil ihm nichts anderes übrigbleibt, aber er ist im Neuen Testament der wachste Zeitgenosse.« 17 Vgl. Vollenweider, Bildungsfreunde, 291. 18 Dies hängt selbstredend damit zusammen, dass die akute Naherwartung, die die ersten Christinnen und Christen prägte, jedwede Form von Bildungsprogrammen theoretisch und praktisch obsolet werden ließ. 19 Dazu Vollenweider, Bildungsfreunde, 289: »Es ist hinlänglich bekannt, wie ungemein stark die Gravitationskraft der hellenistisch-römischen Bildung die Menschen der damaligen globalisierten Mittelmeerwelt, insbesondere ihre urbanen Eliten, bestimmt hat. Wir können im Frühchristentum des ersten und zweiten Jahrhunderts eine ganze Palette von Bildungsphänomenen beobachten, von denen sich einige gelegentlich und indirekt auf das Bildungssystem der Mehrheitskultur beziehen [. . . ].« 20 Vgl. Gemeinhardt, Wege, 261 mit Verweis auf Just. apol. 2.10.8, der davon spricht, dass neben Handwerkern (χειροτέχναι) und gewöhnlichen Leuten (παντελῶς ἰδιῶται) auch Philosophen (φιλόσοφοι) und literarisch Gebildete (φιλόλογοι) zur christlichen Gemeinde gehörten. Es ist daher zu vermuten, dass der Anteil der Stände in den frühen christlichen Gemeinden in etwa den Verhältnissen der Gesamtgesellschaft entsprach. Zu dieser Ambiguität formuliert treffend A. Merkt, »Eine Religion von törichten Weibern und ungebildeten Handwerkern«. Ideologie und Realität eines Klischees zum frühen Christentum, in: F.R. Prostmeier (Hg.), Frühchristentum und Kultur (KfA.E 2), Freiburg u.a. 2007, 293–309, hier: 303: »Ja, das frühe Christentum war eine Religion der Unterschichten – aber eben nicht nur. Und ebenso sehr stimmt: das frühe Christentum war eine Religion der Mittel- und Oberschichten – aber eben nicht nur. Die dürftige Quellenlage erlaubt es uns nicht, die genauen Anteile der einzelnen Stände in den christlichen Gemeinden zu bestimmen.«

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2.

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Kompetenz: Jesus Didáskalos

Im Lukasevangelium wird Jesus häufig als διδάσκαλος (didáskalos, Lehrer) 21, aber auch als ἐπιστάτης (epistát¯es, Vorsteher, Meister) 22 bezeichnet, während die griechischen Transliterationen des hebräischen ῥαββί (Rabbi, mein Meister) und ῥαββουνί (Rabbuni) nicht begegnen. 23 Die lukanische Konzentration auf den lehrenden Jesus nimmt ihren Anfang in der Kindheitserzählung, wo die besondere Intelligenz und Begabung des Zwölfjährigen hervortreten, 24 als er im Jerusalemer Tempel mit den Schriftgelehrten auf eine Weise diskutiert, dass diese »außer sich geraten« vor Erstaunen und Ekstase (Lk 2,41–51a; V. 47: ἐξίστηµι, exhist¯emi) – eine Reaktion, mit der im Verlauf der Erzählung Menschen auch auf die Wundertaten Jesu reagieren. 25 Jesus erscheint hier durchaus als den διδάσκαλοι (didáskaloi, Lehrern) ebenbürtig, da er ihnen nicht nur als Fragender und Lernender (Lk 2,46), sondern auch als Verstehender und Antwortender (Lk 2,47) begegnet. 26 Dass die Schriftgelehrten an dieser Stelle explizit mit dem Prädikat διδάσκαλοι (didáskaloi) bezeichnet werden, welches im Lukasevangelium ansonsten fast ausschließlich für Jesus reserviert ist, 27 transportiert eine sublime Aussage: Trotz dieser für die Evangelien einmaligen Erzählung aus der Jugendzeit Jesu ist Jesus

21 Lk 7,40; 8,49; 9,38; 10,25; 11,45; 12,13; 18,18; 19,39; 20,21.28.39; 21,7; 22,11; auch Johannes der Täufer (3,12) und die Schriftgelehrten (2,46) werden als διδάσκαλοι (didaskaloi, Lehrer) bezeichnet. 22 Lk 5,5; 8,24.45; 9,33.49; 17,13; diese Anrede für Jesus findet sich im Neuen Testament ausschließlich bei Lukas; dezidiert ersetzt Lukas in Lk 8,24 und 9,49 die Anrede διδάσκαλε aus der Markusvorlage durch ἐπιστάτα. 23 Ausführlich zum statistischen Befund V. Tropper, Jesus Didáskalos. Studien zu Jesus als Lehrer bei den Synoptikern und im Rahmen der antiken Kultur- und Sozialgeschichte (ÖBS 42), Frankfurt am Main 2012, bes. 17–35. Lukas verzichtet generell auf hebräischaramäische Termini, vermutlich, weil sie seiner Leserschaft nicht mehr geläufig waren. 24 Falsch liegt m.E. hingegen J.R. Backes, Die Nazoräerschule. Bildung und Identität bei Lukas, in: ders./E. Brünenberg-Bußwolder /P. van den Heede (Hg.), Orientierung an der Schrift. Kirche, Ethik und Bildung im Diskurs (BThS 170), Göttingen 2017, 173–188, hier: 174f, wenn er formuliert: »Jesus ist als Schüler bereits Lehrer, wenn er als Zwölfjähriger im Tempel zu Jerusalem den Schriftexperten zuhört, sie befragt und zum allgemeinen Erstaunen ihre Fragen beantworten kann«. Nirgendwo ist hier davon die Rede, dass Jesus seine Zuhörer belehrt, vielmehr wird seine besondere Intelligenz und Begabung hervorgehoben, vgl. schon B. van Iersel, The Finding of Jesus in the Temple. Some Observations on the original Form of Luke ii 41–51a, NT 4 (1960), 161–173, hier: 166: »In Luke ii 47 Jesus does not act as διδάσκαλος, but on the contrary as a disciple, who ›sits, listens and asks questions‹«; R.E. Brown, The Birth of the Messiah. A Commentary on the Infancy Narratives in Matthew and Luke, London 1977, 474. 25 Vgl. Lk 5,26; 8,56; vgl. auch die Reaktionen in Apg 2,7.12; 3,10; 8,9.11.13; 10,10.45f; 12,16. 26 Vgl. N. Krückemeier, Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Lk 2.40–52) und die biografische Literatur der hellenistischen Antike, NTS 50 (2004), 307–319, hier: 313. 27 Vgl. Anm. 21.

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eben nicht der klassische Schüler, der sich Lehrern anschließt und eine Ausbildung durchlaufen muss, um dann selbst zum Lehrer zu werden; vielmehr ist er von Anfang an mit einer besonderen Weisheit (σοφία, sophía) »begnadet« (vgl. Lk 2,40.52), für welche die Schriftgelehrten am Tempel, die nun alles andere als im Verdacht stehen, parteiisch zu sein, ihr unabhängiges Zeugnis ablegen. Ohne persönliche Verbindung zum Schüler Jesus zeigen die διδάσκαλοι (didáskaloi), die aufgrund ihrer Profession wohl als die zuverlässigsten »Gutachter« gelten können, zusammen mit ausnahmslos »allen, die ihn hörten«, ihre Begeisterung ob seiner frühen Verständigkeit. 28 Damit ist Jesu herausragende Begabung quasi offiziell besiegelt. Das Milieu, in dem diese Szene stattfindet, ist dabei eng mit dem Unterrichtsgeschehen verbunden: Das Tempelareal, an das Lukas hier denkt, ist wahrscheinlich die Säulenhalle (στοά, stoa) Salomos, in der später auch die Lehrstätte der Apostel lokalisiert wird. 29 Zugleich weicht die Darstellung allerdings von jeder Norm ab: Während üblicherweise ein Lehrer mehrere Schüler um sich herum versammelt, die »zu seinen Füßen« sitzen (vgl. Apg 22,3), befindet sich Jesus alleine »in der Mitte« (Lk 2,46) mehrerer Lehrer und demonstriert ihnen im Gespräch seine Weisheit. 30 Auf diese Weise installiert Lukas eine möglichst große unabhängige Jury, die Jesu außergewöhnliche Begabung gewissermaßen zertifiziert.

28 Neben der σοφία verfügt Jesus auch über σύνεσις (synesis, Einsicht, Urteilskraft, Verständnis), was in der Septuaginta häufig eine vom religiösen Glauben genährte Einsicht ist, vgl. F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Lk 1,1–9,50) (EKK 3,1), NeukirchenVluyn 1989, 157f. Nach Jes 11,2 LXX sind σοφία und σύνεσις die ersten Merkmale des verheißenen Friedensfürsten, der Träger des Geistes Gottes ist (Jes 11,1–9), vgl. Tropper, Jesus, 131. 29 Vgl. Apg 3,11; 5,12.21.25; auch Lk 11,31. H.J. de Jonge, Sonship, Wisdom, Infancy. Luke 11,41–51a, NTS 24 (1978), 317–354, hier: 329: »Colonnades were the most usual locale for secondary and higher education in the time of Luke. Gymnasia consisted, according to the architectural tradition of the period, simply of four colonnades around a square courtyard, and many philosophers besides the Stoics taught their pupils in colonnades which offered protection from the sun. Furthermore, a colonnade named after Salomon, who was famous for his wisdom (Luke xi. 31), must have been, for Luke, a peculiarly appropriate place for instruction.« Vgl. B. Heininger, Familienkonflikte. Der zwölfjährige Jesus im Tempel (Lk 2,41–52), in: C.G. Müller (Hg.), »Licht zur Erleuchtung der Heiden und Herrlichkeit für dein Volk Israel«. Studien zum lukanischen Doppelwerk (FS J. Zmijewski) (BBB 151), Hamburg 2005, 49–72, hier: 64. 30 Dem entspricht 1 Sam 10,10f, wo Saul »inmitten« der Propheten gesehen wird (ἐν µέσῳ αὐτῶν) und sich alle, die ihn von früher kannten, fragen, ob er nun auch ein Prophet geworden sei, vgl. M. Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 148; instruktiv zur Ausbildungssituation in diesem Kontext C.S. Keener, Acts. An Exegetical Commentary, vol. 3, 15:1–23:35, Grand Rapids 2014, 3220–3222; umfassend T. Vegge, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus (BZNW 134), Berlin /New York 2006.

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Die Perikope illustriert auf anekdotisch-erzählerische Weise die beiden summarischen Rahmenverse Lk 2,40 und 2,52, die von 1 Sam 2,21.26 inspiriert sind: 31 Das Kind aber wuchs und wurde stark, erfüllt mit Weisheit, und die Gnade Gottes war auf ihm. (Lk 2,40) Und Jesus schritt fort in der Weisheit und im Alter und in Gnade bei Gott und den Menschen. (Lk 2,52)

Beide Summarien heben hervor, dass Jesus mit zwölf Jahren zwar kein (kleines) Kind mehr ist, seine Entwicklung aber weder physisch noch spirituell oder intellektuell abgeschlossen ist. 32 Während Lk 2,40 die Phase des Wachstums betont (Wachstumsnotiz), hat Lk 2,52 das Fortschreiten in der Weisheit im Blick (Entwicklungsnotiz): 33 Jesus wird mit zunehmendem Alter immer weiser und angesehener, aber bereits als Kind verfügt er über eine bemerkenswerte Begabung. Sowohl Weisheit (σοφία, sophía) als auch Gnade (χάρις, cháris) sind nun aber nicht nur traditionelle Attribute von Gottesmännern, 34 sie finden sich als motivische Analogien auch in Jugendepisoden der hellenistischen biographischen Literatur. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Lukas diese Konventionen kennt und stillschweigend auf seinen Protagonisten appliziert, um sie für seine Jesus-Biographie in Dienst zu nehmen. 35 Dies setzt voraus, dass Lukas sich in der hellenistischen biographischen Literatur sehr gut auskannte und die einschlägigen Jugendepisoden gelesen hat: »Dabei hat er nicht etwa einen schriftlichen Katalog inhaltlicher Motive vor Augen, von denen er nun eines nach dem anderen in seine Erzählung vom jungen Jesus im Tempel einbaut und abhakt.« 36 Vielmehr greift er locker bestimmte Topoi auf, um die außerordentliche Besonderheit Jesu darzustellen. Gerade indem er dabei über das Fundament des Bekannten und Vertrauten hinausgeht, kann er das Profil Jesu narrativ schärfen. 31 Vgl. zu diesem Themenkomplex bes. R.D. Aus, The Child Jesus in the Temple (Luke 2:42–51a), and Judaic Traditions on the Child Samuel in the Temple (1 Samuel 1–3), in: ders., Samuel, Saul and Jesus. Three Early Palestinian Jewish Christian Gospel Haggadoth, Atlanta 1994, 1–64. 32 Vgl. de Jonge, Sonship, 321f. In Lk 2,43 wird Jesus dezidiert als παῖς (pais, Kind) bezeichnet. Während ein Junge mit zwölf Jahren noch für zwei bis drei weitere Jahre als Kind galt, befand sich ein Mädchen mit zwölf Jahren an der Schwelle zum Erwachsenwerden und damit im heiratsfähigen Alter. Lukas hat das gewusst, weshalb er – anders als Markus (Mk 5,42) – das Alter der Tochter des Jaïrus der Erzählung von ihrer Heilung pointiert voranstellt (in Lk 8,42) und damit die besondere Tragik der Situation verdeutlicht, vgl. ebd., 320. 33 Vgl. Bovon, Das Evangelium nach Lukas, 162. 34 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 147; Belege bei H. Conzelmann, Art. χάρις κτλ., ThWNT 9 (1973), 366. 35 Zur grundlegenden Diskussion vgl. R.A. Burridge, What are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biography, Grand Rapids 22004. 36 Vgl. Krückemeier, Der zwölfjährige Jesus, 316.

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In der griechischen Biographik werden Herrscher und Politiker wie Kyros, Solon oder Themistokles in den Blick genommen, aber auch Philosophen wie Apollonius von Tyana oder Pythagoras sowie Redner wie Cicero oder Dichter wie Homer. 37 Die deutlichsten Parallelen finden sich aber in der Vita Augusti des Nikolaus von Damaskus (ca. 20 v.Chr.), der Vita Apollonii des Flavius Philostratos (ca. 200 n.Chr.) und der Vita Pythagoricae von Iamblichos (ca. 300 n.Chr.). 38 Obwohl die Schriften zeitlich relativ weit auseinanderliegen, zeigen sich zahlreiche gemeinsame Motive, die offenbar zum Pool dieser Gattung gehörten, und die an dieser Stelle nur summarisch aufzuzählen sind: a) Alle vier Verfasser (inklusive Lukas) beziffern das jugendliche Alter ihrer Protagonisten recht genau; b) alle vier Jugendlichen unternehmen eine Reise, auf der sie sich dann zum Teil verschiedenen Lehrern anschließen und ihre geistige Stärke beweisen; c) diese Reise führt Augustus, Apollonius, Pythagoras und Jesus u.a. zum Tempel, wo die Öffentlichkeit eine Kostprobe ihrer Aussprüche erhält und die überragende Weisheit der Jugendlichen demonstriert wird. »Diese σοφία schließt nun zweierlei Dimensionen in sich ein: eine intellektuelle und eine religiöse bzw. liturgische Dimension.« 39 d) Alle vier Jugendlichen bringen schließlich die Menschen, die ihrer Weisheit gewahr werden, in Erregung und zum Staunen; dabei spielen auch Lehrer auf unterschiedliche Weise eine Rolle. 40x

Lukas stattet seinen Jesus von Nazaret mit tradierten und bei Gebildeten vertrauten Attributen von Jugendbiographien aus, welche ausschließlich herausragenden Persönlichkeiten wie Herrschern oder Philosophen gewidmet waren, und demonstriert, dass bereits der junge Jesus über staunenswerte Weisheit verfügt und die Gnade Gottes in ihm wohnt. Darüber hinaus veranschaulicht er aber auch, dass Jesus »stark geworden ist« (ἐκραταιοῦτο, ekrataiouto, Lk 2,40). Dieses Stark-Werden, das ein gottgewirkter Vorgang ist, beinhaltet einen herrschaftlichen Anspruch. 41 Damit fließt in die Jugendepisode Lk 2,42–51 – die auch deshalb von besonderem Gewicht ist, weil hier das erste Jesuswort des Doppelwerks

37 Vgl. de Jonge, Sonship, 339–342. 38 Vgl. dazu die sehr schöne Analyse von Krückemeier, Der zwölfjährige Jesus, 307–319, an der ich mich im Folgenden orientiere. Selbstverständlich gibt es noch weitere antike Parallelen, auch aus dem jüdischen Bereich, vgl. W. Radl, Der Ursprung Jesu. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lukas 1–2 (HBS 7), Freiburg im Breisgau 1996, 248– 251. 39 Ebd., 311. Die intellektuelle Dimension zeigt sich darin, dass die Protagonisten öffentliche Reden halten oder kluge Antworten auf die ihnen gestellten Fragen geben; die liturgisch-religiöse Komponente kommt darin zum Ausdruck, dass die Episoden sich häufig am Tempel abspielen, aber auch die besondere Nähe der Jugendlichen zu Gott illustriert wird. 40 Vgl. ebd., 312f. 41 Vgl. W. Michaelis, Art. κράτος κτλ., ThWNT 3 (1950), 905–914. Mit κράτος (krátos) wird im Neuen Testament gewöhnlich die herrschende Macht Gottes bezeichnet, vgl. z.B. Lk 1,51.

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begegnet (Lk 2,49) und Jesus somit zum ersten Mal zu seinem eigenen Interpreten wird, nachdem bisher immer nur andere über ihn geredet haben 42 – ein Motiv ein, das bereits in der Geburtserzählung begegnete: die Messianität Jesu. 43 Bei der Taufe wird er dann schließlich noch mit dem Geist ausgestattet (Lk 3,21f) und als Sohn Gottes proklamiert. Ein solches Motiv findet sich bei den hellenistischen Schriftstellern nicht, hier bedient sich Lukas vielmehr Impulsen aus der jüdischen Literatur. Gemäß dem lukanischen Konzept hat Jesus seine Befähigung als Lehrer somit bereits in seiner Kindheit bzw. Jugend erhalten und seine Lehre überwältigt die Menschen auch weiterhin, wie etwa bei seiner Antrittspredigt in Nazaret (Lk 4,16–30, bes. Lk 4,22: ». . . und alle staunten über die Worte der Gnade (ἐπὶ τοῖς λόγοις τῆς χάριτος, epi tois lógois t¯es cháritos), die aus seinem Mund kamen . . . «) 44 oder seinem anschließenden Aufenthalt in Kafarnaum (Lk 4,31–37, bes. 4,32: »sie gerieten außer sich über seine Lehre, denn er redete mit Vollmacht [ἐν ἐξουσίᾳ, en exousía]«); auch bei einer späteren Auseinandersetzung im Tempel sind Jesu Antworten so aufsehenerregend, dass sie sogar die heuchlerischen Fragesteller zum Schweigen bringen (Lk 20,26). 45 Im Emmausbericht wird Jesus schließlich als Prophet bezeichnet (vgl. Lk 7,16), der »mächtig in Tat und Wort« (Lk 24,19) ist, was eine Zusammenfassung seiner öffentlichen Wirksamkeit (Wundertaten und Verkündigung) darstellt.

3.

Vertiefung: Gnade, Weisheit und Wirkmacht

Nicht nur Jesus ist von Gnade, Weisheit und Geist erfüllt, er verheißt auch seinen Jüngern den heiligen Geist als Beistand vor weltlichen Gerichten (Lk 12,11f) sowie »Mund und Weisheit (στόµα καὶ σοφία, stóma kai sophía)« (Lk 21,15), die eine solche Überzeugungskraft bewirken, dass sich ihnen – wie schon bei Jesus in Lk 20,26 – alle Gegner argumentativ geschlagen geben müssen: »sie können weder widerstehen (ἀντιστῆναι, antist¯enai) noch widersprechen (ἀντιλέγειν, antilégein)« (Lk 21,15). 46 Mit

42 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 146. 43 Krückemeier, Der zwölfjährige Jesus, 318. 44 Dieses Erstaunen betrifft neben der familiären Herkunft Jesu (»Ist dieser nicht ein Sohn Josefs?«) implizit auch das Bildungsmilieu, aus dem er stammt; analog, wenn auch explizit ausformuliert, fällt auch die Reaktion auf Petrus und Johannes aus (Apg 4,13), s.u. 45 Vgl. Radl, Der Ursprung Jesu, 262f. 46 Wie sich Lukas eine pneumatisch inspirierte Verteidigung vorstellt, zeigt er in Apg 4,8, wo Petrus, erfüllt vom heiligen Geist, eine apologetische Rede hält, vgl. Wolter, Lukasevangelium, 446.

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anderen Worten: Den Jüngern wird das Charisma der überzeugenden Rede – besonders in feindlicher Umgebung – verheißen. 47 Dies erfüllt sich in der Figur des Stephanus: »Sie vermochten der Weisheit und dem Geist, mit dem er redete, nicht zu widerstehen (ἀντιστῆναι, antist¯enai)« (Apg 6,10). 48 Im Kontext der Stephanusepisode ist dann bezeichnenderweise auch noch von Gnade (χάρις, cháris) und Kraft (δύναµις, dynamis) die Rede, 49 von denen er erfüllt ist (Apg 6,8); damit wird eine gezielte Korrespondenz zwischen Jesus und Stephanus hergestellt: Es darf als redaktionelle Absicht des Lukas gewertet werden, dass er χάρις und σοφία als besondere Pneumagaben nennt und dass er den Herrn und die Jünger nicht nur in ihrem Schicksal, sondern auch in ihren herausragenden Merkmalen analogisiert. 50

Dass diese Merkmale ein dezidiert intellektuelles Gepräge haben, zeigt sich im Zuge der Stephanusrede Apg 7 – übrigens mit 52 Versen der längsten Acta-Rede überhaupt –, wo unter anderem auf Josef und Mose Bezug genommen wird, denen ebenfalls Gnade und Weisheit attestiert werden: Er befreite ihn [sc. Josef] aus all seinen Bedrängnissen, und er gab ihm Gnade (χάρις) und Weisheit (σοφία) gegenüber Pharao, (dem) König von Ägypten, und er setzte ihn ein zum Führer über Ägypten und über sein ganzes Haus. (Apg 7,10)

Josef, der in der Fremde lebende Nachfahre Abrahams, wird von Gott mit der Weisheit der Traumdeutung gesegnet und kann als Prototyp des (leidenden) Gerechten verstanden werden, 51 aus dessen Leiden gerade aufgrund seiner unwiderstehlichen Weisheit reicher Segen für die Seinen fließt. 52 Zugleich wird er damit transparent für Stephanus, den Mann »voll Gnade und Kraft« (Lk 6,8) und »Weisheit« (Lk 6,3.10) – und natürlich für Jesus. 53 47 Vgl. K. Erlemann, Lizenz zum Reden. Die lk. Apostel zwischen Geist und Rhetorik, in: A. v. Dobbeler /ders./R. Heiligenthal (Hg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments (FS Berger), Tübingen 2000, 79–91, hier: 81. 48 Die Gaben von Geist und Weisheit haben Stephanus und die anderen Mitglieder des Siebenergremiums als Diakon qualifiziert (Apg 6,3), vgl. Erlemann, Lizenz, 82; J. Zmijewski, Die Apostelgeschichte, RNT, Regensburg 1994, 300. 49 E. Haenchen, Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 71977, 163: »Die neben der χάρις genannte δύναµις entspricht der πίστις von V. 5.« 50 Erlemann, Lizenz, 82. Zu präzisieren wäre, dass σοφία für Personen der Jesusgemeinschaft neben Jesus ausschließlich für Stephanus und seinen Kollegen aus dem Siebenergremium reserviert ist, nicht für die anderen Jünger (vgl. Apg 6,3.10). 51 Vgl. R. Pesch, Die Apostelgeschichte (Apg 1–12) (EKK 5,1), Düsseldorf 32005, 250. 52 Vgl. Zmijewski, Apostelgeschichte, 310. 53 Lukas erweitert hier Gen 41,33.39 durch das Attribut der Weisheit, vgl. Zmijewski, Apostelgeschichte, 317; K. Kliesch, Das heilsgeschichtliche Credo in den Reden der Apostelgeschichte (BBB 44), Köln /Bonn 1975, 156.

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Über Mose bemerkt Stephanus in seiner Rede dezidiert, dass er eine Ausbildung in Ägypten genossen hat: 54 Und ausgebildet wurde Mose in aller Weisheit der Ägypter (ἐπαιδεύθη Μωϋσῆς [ἐν] πάσῃ σοφίᾳ Αἰγυπτίων), und er war aber kraftvoll (δυνατός) in seinen Worten und Werken. (Apg 7,22)

Diese Ausbildung in der Diaspora wird ohne Abstriche positiv dargestellt, was sich im für alle sichtbaren Ergebnis niederschlägt (mächtige Worte und Werke). Zur Zeit des Lukas war das keineswegs eine Selbstverständlichkeit. 55 Josephus etwa konstatiert, dass die Weisheit aller Völker ihren Ursprung im jüdischen Gesetz habe und sich die griechischen Philosophen bis hin zu Platon dieser Blaupause bedienten. 56 Und Artapanos von Alexandrien macht Mose zum Lehrmeister der Ägypter. 57 Davon kann hier keine Rede sein; vielmehr signalisiert Lukas eine Wertschätzung paganer Bildung, die offenkundig auch Stephanus und seine hellenistischen Kollegen genossen haben. 58 Das wird die lukanische Leserschaft mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen haben und konnte es als anerkennende Bestätigung durchaus auf sich und die eigene pagane oder diasporajüdische Vergangenheit beziehen. Die Charakterisierung des Mose als »kraftvoll in seinen Worten und Werken« nimmt exakt die Charakterisierung Jesu in Lk 24,19 auf und wird auch in Bezug auf die rhetorischen Fähigkeiten Apollos leicht variiert wiederholt (Apg 18,24). Interessant ist daran nun, dass Stephanus resp. Lukas dem Mose diese Befähigung noch vor der Dornbusch-Szene attestiert (vgl. Apg 7,30), was von der biblischen Erzählung markant abweicht. Ex 4,10 hebt hervor, dass Mose gerade nicht besonders wortgewandt war und dies als großes Manko betrachtete: 59 Mose aber sagte zum Herrn: Herr, ich bin kein Mann von Worten. Ich war es früher nicht und bin es auch nicht, seit du zu deinem Diener redest; schwerfällig sind mein Mund und meine Zunge. (Ex 4,10)

Josephus (neben ihm auch Sir 45,3) tilgt diese offensichtliche Schwäche des Mose und macht ihn von Kindesbeinen an zu einem Hochbegabten, der nicht nur »von imponierender Erscheinung war«, sondern auch »die Gabe besaß, durch natürliche Beredsamkeit auf Volksmassen einzuwir-

54 Vgl. auch Philo, Vit. Mos. 1,20–23; Flav. Jos., Ant. 2,232–237. 55 Vgl. C.S. Keener, Acts. An Exegetical Commentary, vol. 2, 3:1–14:28, Grand Rapids 2013, 1385f. 56 Flav. Jos., Apion. 2,257.280f. 57 Artapanos 3,6–8; vgl. Pesch, Apostelgeschichte, 252. 58 Vgl. Keener, Acts 2, 1387. Dass dies »offenkundig« ist, mache ich an der durchkomponierten Rede der erzählten Welt fest, die Lukas dem Stephanus in den Mund legt. 59 Vgl. ebd.

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ken« (Flav. Jos., Ant. 3,13). 60 Keener liegt mit seiner Einschätzung richtig: »Indeed, Josephus makes Moses into a Hellenistic orator (3.14–23).« 61 Lukas nimmt diese Linie auf (»kraftvoll in seinen Worten«) und lässt Mose eine Ausbildung in der ganzen Weisheit der Ägypter durchlaufen, was an die wachsende Weisheit Jesu in Lk 2,40.52 erinnert; allerdings benötigt Jesus keine Unterweisungen und hat dem Mose die Geistesfülle voraus (Lk 4,1). 62 Gnade (χάρις) und Weisheit (σοφία) spielen in der hellenistischen Geistes- und Ideengeschichte unwiderlegbar eine herausragende Rolle, worauf an dieser Stelle lediglich verwiesen werden kann. 63 Nicht nur in der frühjüdischen Weisheitsspekulation, auch in der griechisch-römischen Umwelt gilt das Streben nach σοφία als höchstes Ziel. Für Philo hängen χάρις, σοφία und Vollkommenheit eng zusammen. 64 Während χάρις die »Ausstattung des Menschen durch die Schöpfung ist« 65, kann nur der Fromme sie auch als solche erkennen. Bei Quintilian, dem römischen Rhetoriker und Zeitgenossen des Lukas, waren Weisheit und Redekunst ursprünglich zwei Seiten einer Medaille, die aber im Laufe der Zeit fahrlässig auseinandergerissen wurden: Und es waren ja zuerst, wie Cicero aufs klarste beweist, Philosophie und Redekunst wie ihrem Wesen nach verbunden so auch in ihrer praktischen Wirkung im Leben vereint, so dass weise und beredt für dasselbe galt (ut idem sapientes atque eloquentes haberentur). Dann aber spaltete sich dies einheitliche Streben, und durch Lässigkeit in ihrer Betätigung kam es, dass es so schien, als handelte es sich um mehrere verschiedene Tätigkeiten. 66

Wenn Philosophie und Rhetorik ihrem Ursprung nach dasselbe sind, ist nur derjenige ein guter Redner, der auch ein guter Mann (vir bonus) und

60 Vgl. auch Flav. Jos., Ant. 2,230 (Übersetzung Clementz): »Das Alter des Knaben aber blieb hinter seinem Verstande und seiner Klugheit zurück, denn er war an Weisheit und Ausbildung des Geistes so entwickelt, dass er einem vorgerückten Alter Ehre gemacht hätte.« 61 Keener, Acts 2, 1387. Auch Paulus, der sich selbst »Schwachheit, Furcht und Zittern« (1 Kor 2,3) attestiert, macht Lukas in der Apg zu einem fulminanten Redner. 62 Vgl. Zmijewski, Apostelgeschichte, 319; die Formulierung »erfüllt vom heiligen Geist« (πλήρης πνεύµατος ἁγίου, Lk 4,1) findet sich auch in Bezug auf den Siebenerkreis von Jerusalem (Apg 6,3.5), Stephanus (Apg 7,55) und Barnabas (11,24). 63 Vgl. Erlemann, Lizenz, 82f; weitere Belege bei U. Wilckens, Art. σοφία κτλ., ThWNT 7 (1964), 498–503; ausführlich D. Zeller, Charis bei Philon und Paulus (SBS 142), Stuttgart 1990. 64 Vgl. ebd., 33–128.130; instruktiv zum Gesamtthema E. Früchtel, Philon und die Vorbereitung der christlichen Paideia und Seelenleitung, in: F.-R. Prostmeier (Hg.), Frühchristentum und Kultur (KfA.E 2), Freiburg u.a. 2007, 19–33. 65 Conzelmann, Art. χάρις, 380. 66 Vgl. Erlemann, Lizenz, 82f; weitere Belege bei Wilckens, Art. σοφία; ausführlich Zeller, Charis.

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ein Philosoph ist. 67 Die gratia varietatis, die abwechslungsreiche Rede, ist das Markenzeichen eines professionellen Rhetors – womit quasi die anmutige und ästhetische Ausschmückung gemeint ist –, 68 während sapientia (Weisheit) eher die inhaltliche Seite benennt. Im griechisch-römischen Denken bezeichnet σοφία das Bildungsideal schlechthin. 69 Betrachtet man nun vor diesem Hintergrund die lukanische Konzeption, wird sichtbar, wie unmissverständlich der Verfasser des Doppelwerks an das tradierte Bedeutungsspektrum anknüpft, um die christlichen Hauptakteure für (jüdisch-)hellenistisch gebildete Kreise anschlussfähig zu machen: Bereits die Väter der jüdischen Geschichte zeichneten sich durch Weisheit und Gnade (Gunsterweise) aus, die sie dazu befähigten, die Schrift oder auch Träume (Josef) auszulegen: Jesus und Stephanus führen diese Linie nahtlos fort. 70 In der hellenistischen Literatur waren Herrscher, Wundertäter oder Philosophen mit der Gabe überzeugender Rede gesegnet, die sich zum Teil schon im Jugendalter manifestierte: Auch Jesus und Stephanus besitzen das Charisma, so auftreten, dass sie ihre Gegner argumentativ übertrumpfen. Neben die σοφία tritt bei Jesus und Stephanus nun noch das πνεῦµα (pneuma, Geist): Die Weisheitsrede ist dezidiert eine Gottesgabe. 71 Zwar beinhaltet auch χάρις den Aspekt der Gnadengabe, des Gunsterweises – durchaus auch durch eine höhere Macht oder Gottheit vermittelt –, sie ist aber beispielsweise in der Septuaginta kein theologischer Begriff. 72 4.

Ausweitung: Die Kunst der freimütigen Rede

Fragt man nun weiter, wie die charismatische und wirkmächtige Rede der Hauptakteure in der Apostelgeschichte näher umrissen werden kann, 67 Quint., Inst. Orat. 1, Pr. 18: »Es sei also der Redner der Mann, der den Namen des Weisen recht eigentlich verdient: nicht nur in seiner Lebensführung vollkommen – denn nach meiner Meinung genügt das noch nicht, wenn auch andere anderer Meinung sind –, sondern vollkommen auch durch sein Wissen und die Gabe, für alles das rechte Wort zu finden.« 68 Vgl. z.B. Quint., Inst. Orat. 9,4,43; 8,3,52; auch 8,3,3: sublimitas profecto et magnificentia et nitor et auctoritas expressit illum fragorem. – »Die Erhabenheit, die Großartigkeit, der Glanz und das Gewicht seiner Worte war es doch gewiss, was ein solches Tosen auslöste!« 69 Vgl. Erlemann, Lizenz, 83. 70 Die immer wieder durchscheinende Rekurrenz zwischen Jesus und Stephanus zeigt sich auch darin, dass Stephanus unter vergleichbaren Umständen stirbt wie Jesus (vgl. Lk 23,46; Apg 7,59f); vgl. dazu K. Backhaus, Mose und der Mos Maiorum. Das Alter des Judentums als Argument für die Attraktivität des Christentums in der Apostelgeschichte, in: ders., Die Entgrenzung des Heils. Gesammelte Studien zur Apostelgeschichte (WUNT 422), Tübingen 2019, 257–282, hier: 274. 71 Vgl. Wilckens, Art. σοφία, 515. 72 Vgl. Conzelmann, Art. χάρις, 379 mit Belegen.

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stößt man auf den Begriff der παρρησία (parrh¯esía), der freimütigen Rede. 73 Fünfmal, und zwar durchgängig an zentralen Stellen, kommt das Substantiv vor (Apg 2,29; 4,13.29.31; 28,31). Die prominente Bedeutung, die Lukas der παρρησία beimisst, zeigt sich darin, dass sie das vorletzte Wort des Doppelwerks ist: Paulus kann im Zentrum der damaligen Welt, mitten in Rom und trotz seines Hausarrests, die Herrschaft Gottes und die Lehre über Jesus Christus, den Herrn, verkünden – und zwar »in allem Freimut, ungehindert« (µετὰ πάσης παρρησίας ἀκωλύτως). In der Apg beziehen sich parrh¯esía und das dazugehörige Verb eng auf das λαλεῖν (lalein, reden) und διδάσκειν (didáskein, lehren) der Apostel (4,29.31; 9,27f; 18,25f). 74 Immer ist das Forum, vor dem die freimütige Rede zur Geltung kommt, die Öffentlichkeit des Volkes und der politischrichterlichen Instanzen. 75 Somit liegt die Vermutung nahe, »dass auch dieser Begriff eine Affinität zu hellenistischer παιδεία und Rhetorik hat.« 76 Und in der Tat: Einem Philosophen des ersten Jahrhunderts war die kühne, furchtlose und freie Rede ein wichtiges Ziel. 77 Allerdings bekam er dadurch regelmäßig Schwierigkeiten, besonders, wenn ein humorloser Kaiser im Publikum saß: Mehrere berühmte Philosophen aus der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts, besonders unter Nero und den Flaviern, erlitten für ihr endloses moralisches Geplapper den Tod oder wurden ins Exil geschickt. [. . . ] Es verhielt sich ganz so, wie Epiktet sagte, bevor er von Domitian verbannt wurde, dass nämlich die Tyrannenherrschaft die Weisheit hasst. Das Kennzeichen des wahren Philosophen war daher seine Entschlossenheit, mit parrh¯esia zu reden, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. 78

Nehmen wir erneut Quintilian als Gewährsmann, so ist parrh¯esia (lat. licentia) weitaus mehr als ein rhetorisches Mittel, das aus Gründen der Schmeichelei gewählt wird und mit einer wohl durchdachten Mischung aus Lob und Tadel das Risiko negativer Reaktionen einzudämmen ver-

73 Vgl. dazu M. Becker, Lukas und Dion von Prusa. Das lukanische Doppelwerk im Kontext paganer Bildungsdiskurse (Studies in Cultural Contexts of the Bible 3), Paderborn 2020, 112–120; W.C. van Unnik, The Christian’s Freedom of Speech in the New Testament, in: ders., Sparsa collecta. The collected Essays of W.C. van Unnik II (NT.S), Leiden 1980, 269–289, bes. 279–283. 74 Vgl. H. Schlier, Art. παρρησία, παρρησιάζοµαι, ThWNT 5 (1954), 880. 75 Entweder sind es allgemein die Juden (Apg 2,29; 927f; 13,46; 18,26; 19,8), die jüdischen Behörden (Apg 4,13; 26,26) oder die Juden und die Völker (Apg 14,2f; zusammen mit den politischen Repräsentanten Apg 4,29.31), vgl. Schlier, Art. παρρησία, 880. 76 Erlemann, Lizenz, 84. 77 Musonius definiert παρρησία ganz allgemein als das »Nicht-Verschweigen dessen, was man denkt« (Muson., Diatr. 9,48,14f). 78 S. Mason, Flavius Josephus und das Neue Testament (UTB für Wissenschaft 2130), Tübingen 2000, 318.

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sucht. 79 Nach Quintilians Einschätzung müsse vielmehr jede Rede von ihrem Grundzug her parrh¯esia zeigen: Das gleiche soll auch von der freimütigen Rede (oratione libera) gelten, die Cornficius ›Freiheit‹ (licentiam) nannte, die Griechen παρρησίαν. Denn was ist weniger angenommene Figur (figuratum) als die echte Freiheit (vera libertas)? Aber häufig verbirgt sich unter dieser Oberfläche Schmeichelei (adulatio). 80

Freimütige Rede ist somit nicht allein eine Redefigur, sondern orientiert sich an der Wahrheit, die sie ohne Schmeichelei und Scheu benennt. »Technik und Tugend gehen hier ineinander über.« 81 In der frühjüdischen Weisheitsliteratur wiederum ist parrh¯esia vor allem eine Eigenschaft des Gerechten und Weisen, 82 kann aber auch auf die Weisheit selbst 83 oder auf Gott bezogen werden. 84 Eine Schlüsselstelle für das lukanische Verständnis von παρρησία – aber auch für den in diesem Beitrag interessierenden Aspekt der Bildungsthematik – ist Apg 4,1–22, wo Petrus und Johannes aufgrund ihrer eindrucksvollen Tempelpredigt dem Synedrium vorgeführt werden. In der Situation des Verhörs redet Petrus nun »erfüllt vom heiligen Geist« in aller parrh¯esia (Apg 4,8–13), was die Verheißung Jesu aus Lk 12,12 einholt (vgl. auch 21,12–15). Damit wird die freimütige Rede auf die pneumatische Inspiration zurückgeführt. Die Reaktion lässt nichts zu wünschen übrig und passt in die bereits bekannte Reihe von Reaktionen, die auf geisterfüllte Worte und Taten folgen:

79 Selbstverständlich ist παρρησία auch ein rhetorisches Stilmittel (vgl. etwa Cic., Orat. 3,205; weitere Belege bei Schlier, Art. παρρησία, 869–872), Quintilian wirbt aber für ein tieferes Verständnis, das über παρρησία als reiner Ornamentik (ornatus) hinausgeht; dies passt generell zu seiner Kritik moderner Redner, deren Stil seiner Ansicht nach zu ausschweifend und üppig sei und allein auf das Vergnügen der ungebildeten Menge abziele (vgl. Quint., Inst. Orat. 10,1,43); instruktiv dazu F. Kühnert, Quintilians Stellung zu der Beredsamkeit seiner Zeit, Listy Filologické/Folia Philologica 87 (1964), 33–50; ebd., 36: »Quintilian tadelt also an den modernen Rednern im allgemeinen, dass sie nur auf den Beifall der Menge, nicht aber auf den Nutzen und den Sieg der von ihnen vertretenen Sache bedacht sind, dass sie ihre Redekunst prahlerisch zur Schau stellen, dass sie mit ihrer Beredsamkeit, die schlaff und verweichlicht ist, nur dem Genuss und Vergnügen der Zuhörer dienen.« 80 Quint., Inst. Orat. 9,2,27f. 81 Erlemann, Lizenz, 85. 82 Vgl. Spr 13,5; 20,9; Weish 5,1; 4 Makk 10,5; Schlier, Art. παρρησία, 874: »Der δίκαιος, nicht der ἀσεβής, hat παρρησία. Dabei ist der δίκαιος zugleich der σοφός, so dass die hellenistische Auffassung, die dem Philosophen Parrhesie zuschreibt, hier in einer der jüdischen Orientierung am Gesetz entsprechenden Umwandlung wiederkehrt.« 83 Spr 1,20. 84 Vgl. Ψ 93,1.

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Als sie aber den Freimut (παρρησία) des Petrus und des Johannes sahen und merkten, dass sie ungebildete Menschen sind und Laien, wunderten sie sich. Es wurde ihnen klar, dass sie zu Jesus gehörten. Und da sie den Menschen, der geheilt worden war, bei ihnen stehen sahen, konnten sie ihnen nichts entgegenhalten. (Apg 4,13f)

Interessant ist an dieser Stelle, dass die Verwunderung über die rhetorischen Fähigkeiten der Apostel Petrus und Johannes das Bildungsniveau betreffen. Und das weicht von der lukanischen Linie zunächst einmal signifikant ab: Wenn Lukas sonst in seinen Schriften auf den Bildungshintergrund der von ihm Dargestellten expressis verbis zu sprechen kommt, und das passiert im gesamten Neuen Testament nur bei ihm, hebt er überwiegend Positives hervor. 85

Hier hingegen zeigen sich die Mitglieder des Synedriums ausgesprochen erstaunt über die rhetorischen Fähigkeiten der Verhörten, die sich in der παρρησία ausdrückt und im Widerspruch zu ihrem Bildungsstand zu stehen scheint: Petrus und Johannes werden als Analphabeten (ἀγράµµατος, agrámmatos) und Laien (ἰδιῶται, idiótai) dargestellt. Mit Matthias Becker gehe ich aber davon aus, dass dieser Hinweis zur mangelnden Bildung keine (historische) Aussage über den soziokulturellen Hintergrund der Apostel darstellt, sondern als Bescheidenheitsgestus zu verstehen ist, um wahre paideia von unnützer Vielwisserei zu unterscheiden. 86 Dies lässt sich etwa anhand der Selbstinszenierung eines Dion von Prusa verdeutlichen: Dions Philosophenideal orientiert sich nicht an hochgebildeten Philosophen, die über eine umfassende Allgemeinbildung verfügen, sondern an rudimentär gebildeten Persönlichkeiten wie Sokrates und Diogenes; und auch von diesen wähnt er sich noch »weit entfernt.« 87 Mit seiner Bildungskritik reiht sich Dion ein in gewisse Kreise der kynischen, stoischen, epikureischen und skeptischen Schulrichtungen. So kann etwa Seneca fragen: Man kann sogar auch folgendes behaupten, dass man ohne die freiheitlichen Wissenschaften und Künste zur Weisheit zu gelangen vermag: Obwohl man nämlich die sittliche Vollkommenheit erlernen muss, erlernt man sie dennoch nicht mit deren Hilfe. Welchen Grund aber gibt es für mich zu meinen, nicht 85 Becker, Lukas und Dion, 615 mit Verweis auf Apg 7,22; 22,3; 18,24–19,1; auch Jesus wird bei Lukas nie als Zimmermann (Mk 6,3) oder Sohn eines Zimmermanns (Mt 13,55) bezeichnet. 86 Vgl. (auch zum folgenden) Becker, Lukas und Dion, 615f. 87 Dion, Or. 72,16 (Übers. E. Amato, in: R. Burri u.a. [Hg.], Der Philosoph und sein Bild: Dion von Prusa, Tübingen 2009 (SAPERE 13), 72–109, hier: 109): »Auch jeder von uns trägt das Gewand eines Sokrates und Diogenes, im Denken aber sind wir weit davon entfernt, jenen Männern ähnlich zu sein oder ähnlich wie sie zu leben oder uns mit solchen Worten zu unterhalten. Deshalb schaut man auf uns, und wir ziehen, wie die Eulen, eine große Schar von – wahrhaftig – Vögeln an, während wir selbst dumm sind und von ebensolchen Leuten belästigt werden.«

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werde weise sein, wer die Buchstaben nicht kennt, obwohl sich die Weisheit nicht in den Buchstaben befindet? (Sen., Ep. 88,32) 88

Es ist nun alles andere als auszuschließen, dass die pagan-gebildeten Leserinnen und Leser des Lukas, die mit dieser Art von Bildungskritik vertraut waren, »in Apg 4,13 den in der kynisch-stoischen Philosophie hergestellten Konnex zwischen sprachlich-literarischer Unbildung und wahrem Tugend- und Weisheitsstreben assoziieren konnten«. 89 Dann wäre eine Botschaft dieses Textes, dass Christsein keine speziellen Bildungsvoraussetzungen kennt, sondern alle sozialen Schichten anspricht. Zugleich wird offensichtlich, dass die freimütige Rede eine göttliche Gabe ist, die jede menschliche Ausbildung transzendiert: Sie kann eben nicht in Rhetorikschulen erworben werden, sondern ist – wie χάρις und σοφία – eine Gabe des Ηeiligen Geistes. 90 Alle diese Gaben befähigen ihre Träger, ihre Botschaft so überzeugend zu vermitteln, dass sie die Zuhörerschaft in pures Erstaunen versetzen.

5.

Fazit: Implizite paideia-Allusionen

Die vorgelegten Ausführungen, die bewusst nicht den Apostel Paulus mit seiner Bildungsbiographie (Apg 22,3) oder die Areopagrede (Apg 17,16– 34), sondern eher sublime Anspielungen auf (rhetorische) Bildungskonzepte und -diskurse in den Blick nehmen wollten, konnten zeigen, wie fein Lukas seine Bildungsaffinität narrativ einbindet. Den Ausgangspunkt stellte der zwölfjährige Jesus im Tempel dar, der mit Weisheit begnadet (Lk 2,40.52) so außergewöhnliche Fähigkeiten des Schriftverständnisses an den Tag legte, dass ihm die anwesenden Lehrer (διδάσκαλοι, didáskaloi) uneingeschränkten Respekt zollten. Diese einmalige Jugendepisode lässt sich in den Kontext antiker Biographien um die Frühreife berühmter Persönlichkeiten einordnen und konnte von den intendierten Leserinnen und Lesern mit paganer und /oder jüdischer Bildung vor diesem Hintergrund verstanden werden. Die lukanische Leserschaft konnte allerdings darin auch die Abweichung von gängigen Jugend-Bioi erkennen: Die σοφία, mit der Jesus begabt ist, wird nämlich unabhängig von jedweder menschlichen paideia gedacht – sie verdankt sich einzig Gott als der Quelle und dem Geber aller Weisheit. Der mit Gnade, Weisheit und Geist erfüllte Jesus verheißt auch seinen Jüngern das Charisma überzeugender Rede, was sich besonders an

88 Übers. M. Rosenbach (Hg.), L. Annaeus Seneca, Philosophische Schriften 4, Darmstadt 1999, 317. 89 Becker, Lukas und Dion, 621. 90 Vgl. Erlemann, Lizenz, 87.

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Stephanus zeigt, der über weite Strecken mit Jesus analogisiert wird. In der Stephanusrede wird im Zuge eines Rekurses auf Mose konstatiert, dass dieser eine Ausbildung in der ägyptischen Diaspora genossen habe – und zwar noch vor der Dornbuschszene. Diese Ausbildung ist positiv konnotiert, so dass dies potentielle Leserinnen und Leser mit einer analogen paideia-Erfahrung als Wertschätzung wahrnehmen konnten. Die charismatische Rede ist eine Frucht der Begabung mit Weisheit (σοφία) und Gnade (χάρις). Auch bei Stephanus kommt – wie schon bei Jesus – das πνεῦµα (pneuma, Geist) als Gottesgabe hinzu. Die so einschlagende und wirkmächtige Rede, die Jesus und die Apostel an den Tag legen, kulminiert in der freimütigen Rede: In der Öffentlichkeit, vor allem aber auch vor politisch-richterlichen Instanzen legen die Hauptakteure παρρησία (parrh¯esía) an den Tag. Zwar ist freimütige Rede auch ein rhetorisches Stilmittel, aber sie soll sich gemäß Quintilian an der Wahrheit orientieren und ist in der frühjüdischen Literatur eine Eigenschaft des Gerechten und Weisen. Die auf den ersten Blick etwas irritierende Bemerkung, dass den Aposteln Petrus und Johannes dezidiert jegliche Bildung abgesprochen wird, kann als Anspielung auf bekannte Bildungsdiskurse verstanden werden: Die christliche Verkündigung kennt keine spezifischen Bildungsvoraussetzungen, sondern kann von jedem weitergetragen werden. Freimütige Rede wird nicht in Schulen erworben, sondern ist ebenso wie die Gabe der Weisheit und Gnade ein unverfügbares Gottesgeschenk. Abstract As a historically educated Christian author, Luke has an interest in portraying the Christian faith as an attractive option for the intellectual and social upper class in the Roman Empire. In doing so, he takes up certain educational concepts of the Hellenistic-Roman mainstream culture in a very subtle way and integrates them into his theological draft. The present article especially focuses on the implicit paideia allusions, which have not been given much notice in the discussion about Lukan educational concepts. In this context, the focus is on the portrayal of Jesus as a teacher (διδάσκαλος, didáskalos), which is already evident in the story of the twelveyear-old Jesus in the temple (Lk 2:41–51), who dazzles the teachers present with his speech filled with grace, wisdom, and Holy Spirit. Jesus even promises these gifts to his disciples. This is particularly realised in the depiction of Stephen, which reveals many analogies to that of Jesus. Powerful speech culminates in frank speech (παρρησία, parrh¯esía), which qualifies Jesus and the apostles, and which is a quality of the righteous and wise. It cannot be acquired in schools, but is a gift from God. Uta Poplutz, Univ.-Prof. Dr. theol., geb. 1971, ist Lehrstuhlinhaberin für Biblische Theologie mit dem Schwerpunkt Exegese und Theologie des Neuen Testaments an der Bergischen Universität Wuppertal.

Thomas Schärtl

Ostern und Einsicht Bildung im Lichte der Deutung der Auferstehung Jesu

Sind die Osterdebatten verklungen? Haben Sie einen Konsens in der Theologie erzeugt? Vielleicht erwartet zu viel, wer von Debatten Lösungen erhofft, die als Fundament für weitere Erörterungen dienen können. Eher ist es so, dass sich durch die Osterdebatten Perspektiven geschärft und Optionen klarer herauskristallisiert haben. 1 Ein, auf den ersten Blick, trivial klingendes Resultat solcher Debatten dürfte lauten: Ohne hermeneutische Vorvergewisserungen können wir uns weder den Ostererzählungen annähern noch innerhalb der Osterdebatten eine eigene Position beziehen. Ganz und gar nicht trivial ist diese Einsicht, wenn wir bedenken, dass die Last der Hintergrundannahmen, die für und wider eine jeweilige Position sprechen, erdrückend ist und dass eben diese Hintergrundannahmen nicht mehr einfach innerhalb eines einhelligen Theorierahmens vermittelt oder argumentativ gewichtet werden können. Mehr denn je dürfte inzwischen klar geworden sein, dass die ostertheologischen Standortbestimmungen von ontologischen und erkenntnistheoretischen Grundentscheidungen abhängen. Für die Reflexionen auf Bildung ist das Osterereignis selbst allerdings prima facie ein zugegebenermaßen sperriger Referenzpunkt; wer – wie etwa Hans Kessler 2 auf den Schultern einer ganzen Reihe von theologischen Annährungen – an dem Überwältigungsmoment, an der Unvordenklichkeit, ja an der kategorialen Uneinholbarkeit des Ostergeschehens festhält, wird Ostern und Bildung erst einmal nicht in eine Reihe zu stellen wagen: Ostern ist – wie es zunächst scheint – kein Bildungsprogramm; es scheint Vormeinungen aufzuheben, alte Gewissheiten in Frage zu stellen und uns mit radikal neuen Gesichtspunkten zu konfrontieren. Allerdings ist diese Sicht durchaus nicht zwingend die des Neuen Testaments; die theologische Deutung des Ostergeschehens als eines radikal 1 Vgl. hierzu stellvertretend für die prominentesten Eckpfeiler der englischsprachigen Debattenszenerie R.B. Stewart (ed.), The Resurrection of Jesus. John Dominic Crossan and N.T. Wright in Dialogue, Minneapolis 2006. Vgl. weiterführend auch T. Schärtl, Die Auferstehung Jesu denken. Ostern zwischen Glaubensgrund und Glaubensgegenstand, ThPh 95 (2020), 1–37, hier: 3f. 2 Vgl. H. Kessler, Sucht den Lebenden nicht bei den Toten. Die Auferstehung Jesu Christi in biblischer, fundamentaltheologischer und systematischer Sicht, erw. Neuausg. Würzburg 2002, 233–236.

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unvordenklichen Ereignisses ist nicht die einzige Option, die wir zur Verfügung haben. Denn die Darstellungsformen und Darstellungsweisen, wie im Neuen Testament von Ostern gesprochen und erzählt wird, sind verflochten sowohl mit den Darstellungsmustern aus der religions- und kulturgeschichtlichen Umwelt des Neuen Testaments als auch mit ›dem, worum es geht‹: einer Verkündigungs- und Darstellungsabsicht, die solche narrativen Muster nicht wahllos einsetzen kann. John Alsup sieht, um ein konkretes Beispiel anzuführen, in den neutestamentlichen Erscheinungsberichten eine Gattung eingesetzt – mit durchaus in den Elementen angelegten Variationsmöglichkeiten –, die die christlichen Schriftsteller aus der geistigen Umwelt des Christentums in vielfachen Abwandlungen bereits kannten und in deren semantischen Horizonten sie sich ganz selbstverständlich zu bewegen wussten: The ›appearance‹ or its substitute gave the solution to a particular problem: the θεῖος ἀνήρ did not die, but has disappeared, he has been translated from this to another sphere, lives on in a higher form of existence and continues in one way or another to function on behalf of or at least in connection with those dependent on him. Moreover, this is a necessity from the viewpoint of the Gattung because a θεῖος ἀνήρ cannot die like others, but in the light of his wisdom and virtuous, mighty deeds he must be exalted on high. This story Gattung is a Greek type and has its origins in the heroic epics of the Homeric period and was developed further in the transition from small literary units to larger ones [. . . ]. Where similarities in these stories thoroughly overlap with those of the gospel accounts [. . . ] dependence of a direct nature, the latter upon the former, is probable, understood in part as a characteristic borrowing in the later stages of the literary development [. . . ]. 3

Der Schlüssel zum Verständnis des Einsatzes dieser Gattung liegt in zwei Stichworten, die Alsup en passant erwähnt hat: Weisheit und Tugend des Heroen verbieten es erzähllogisch, dass seine Geschichte mit seinem Verschwinden, seinem Verlust oder seinem Tod endet. Zu bedenken ist allerdings auch, dass das Grundschema des Suchens und Findens, des Entschwindens, Verborgenseins und Wiedererscheinens von den Ostererzählungen noch einmal ›überschrieben‹ wird mit offenbarungstheologischen (erzählgenetisch mit Theophanien verwobenen) Elementen. 4 Solche Überschreibungen verleihen den österlichen Narrativen ein eigentümliches Gepräge, eine ausgesprochen besondere Note, stellen aber keine narrative Einzigartigkeit dar, die die steile These der Unkategorisierbarkeit der Ostererfahrung rechtfertigen würde. Wenn (zu Recht) behauptet wird, dass die Ostererzählungen nicht mit subjektiven Traum- oder objektiven

3 J.E. Alsup, The Post-Resurrection Appearance Stories of the Gospel Tradition, Stuttgart 1975, 238. 4 Vgl. Alsup, Appearance, 251f.

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Visionserzählungen verrechnet werden können, 5 so darf solch ein Negativbescheid nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Strukturelemente der oben skizzierten, theologisch durchaus höchst relevanten Gattungen in einander überschreibender Form zum Einsatz gekommen sind. 6 Diese Beobachtung beschreibt allerdings schon deswegen keine Selbstverständlichkeit, weil es durchaus prominente exegetische Stimmen gibt, die im Sinne einer Differenzen markierenden Interpretation das unterscheidend Christliche an den textlich-strukturellen und inhaltlichen Unterschieden festzumachen versuchen. So stellt N.T. Wright heraus, dass sich die Auferstehungsbotschaft des jungen Christentums radikal von vergleichbaren Konzepten der paganen Umwelt, aber auch des zeitgenössischen Judentums abhebe. Wright geht von sechs Veränderungen aus, die die neutestamentlichen Schriften an der jüdischen Tradition vorgenommen hätten: 7 (i) Die eschatologische Fragestellung sei vom Rand in das Zentrum der theologisch-dogmatischen Blickrichtung gerückt. (ii) Die Rede von »Auferstehung« sei konzeptionell vereindeutigt worden, sodass vom Begriff eines neuen, das Physische mit einschließenden Lebens auszugehen sei. (iii) Anders als im Judentum und in der paganen Umwelt habe das Christentum die Frage nach dem postmortalen Schicksal des /der Einzelnen innerhalb eines engen Spektrums eindeutig zu beantworten versucht. (iv) Das Christentum habe ein Konzept gestaffelter Eschatologie entwickelt, deren Beginn mit Ostern und deren Vollendung am jüngsten Tag zu denken sei. (v) Auferstehung – alttestamentlich auch als Metapher für die Reinstituierung des exilierten Volkes Israel verstanden – werde metaphorisch-semantisch neu konnotiert und zur Schablone für die (sakramentale und eschatologische) Teilhabe am Erlösungsgeschehen. (vi) Die Verbindung von Messiastheologie und Auferstehung sei ein Novum, weil traditionelle Messiasvorstellungen nicht von einem gekreuzigten Gottesgesandten ausgingen. Wrights ›differenzhermeneutischer‹ Zugang, der schlussendlich dem verständlichen und noblen Interesse dient, die Ostergeschichten ›näher‹ an die ›historische‹ Wahrheit heranzurücken, wurde allerdings auch kritisiert, weil er den Akzent zu sehr auf die eschatologische Seite des Osterereignisses setzt und die theo-logische und christologische Seite demgegenüber zurückstuft. Auch die apokalyptische Dimension der (im Zusammenhang 5 Vgl. Kessler, Sucht den Lebenden, 222–230. 6 Vgl. dazu auch M. Whitaker, Is Jesus Athene or Odysseus? Investigating the Unrecognisability and Metamorphosis of Jesus in his Post-Resurrection Appearances, Tübingen 2019, 212–216. 7 Vgl. N.T. Wright/J.D. Crossan, The Resurrection. Historical Event or Theological Explanation. A Dialogue, in: R.B. Stewart (ed.), The Resurrection of Jesus. John Dominic Crossan and N.T. Wright in Dialogue, Minneapolis 2006, 16–47, hier: 18–20; vgl. auch Wright, The Resurrection of the Son of God, Minneapolis 2003, dort exemplarisch für die ›Differenzhermeneutik‹ z.B. 608–615.

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mit der Passionserzählung und ihrer Deutung stehenden) Ostererzählungen kommt in Wrights Interpretationsperspektive zu kurz. Als solche ist diese Perspektive aber auch typisch für eine theologische Versuchung: die Osternarrative exzeptionistisch aus einem religionsgeschichtlich belangvollen Kontext herausnehmen zu wollen, in zäher Argumentationsarbeit ein invertiertes Entmythologisierungsprogramm zu vertreten, das fast maximalistisch zu nennende Maßstäbe entwickelt, um Ostern vor den Ansprüchen historisch zu etikettierender Geschichtlichkeit zu retten. Dieser Versuchung stellen sich die zwei zusammenhängenden Thesen des vorliegenden Beitrags entgegen: In gewisser Hinsicht sind die Osternarrative (besonders der Evangelien) durchaus ein Bildungsprogramm. Sie fordern von uns, erstens, verstehen zu lernen – was einschließt, dass sie hermeneutisch mit keinem anderen Maßstab gemessen werden sollen als mit ihrem eigenen. Und sie bieten uns eine Gelegenheit, sehen zu lernen: Trotz aller legitimationstheoretischen Untertöne bieten uns, so die zweite These, die Osternarrative all jene Hinweise, all jene Indizien an, die wir benötigen, um auch jetzt, in der Gegenwart, Jesus von Nazareth, der als Lebendiger und als Sohn Gottes verkündet wird, begegnen zu können; sie werden dadurch zu Erzählungen, die Präsenz vermitteln wollen. Secunda facie ist Ostern, so könnten wir zwischenzeitig kurz festhalten, ein geradezu ideales Bildungsprogramm: Das Verständnis der Osternarrative drängt uns zu einem Lernprozess, bei dem wir die Verstehensvoraussetzungen für den Zugang zu den einschlägigen Texten erst schaffen müssen, damit wir einen zweiten Lernprozess initiieren: die Präsenz Jesu, des Lebendigen, sehen zu lernen.

1.

Verstehen Lernen

Was die Ostererzählungen uns im Sinne kreativer semantischer Imaginationen vorstellen, erschließt sich erst, wenn wir eine Perspektive wählen, die diesen Erzählungen gegenüber adäquat ist. Vorausgesetzt wird dafür formal ein hermeneutisches Rationalitäts- und Verlässlichkeitsprinzip, das sich (zumindest in Teilen) auf Donald Davidson zurückführen lässt: Wir dürfen anderen Subjekten die Rationalität ihrer Überzeugungen unterstellen und darin auch die Rationalität ihrer sprachlichen Artikulations- und Darstellungsformen; 8 auf eben diesem Boden des Rationalitätsvorschusses gedeiht dann auch jeder weitere, hermeneutisch komplexere Verstehensversuch. Obwohl Davidson seinen hermeneutischen Ansatz zunächst auf dem Boden der Wahrnehmungsurteile und der erfahrungsbasierten Über-

8 Vgl. D. Davidson, Ist eine Wissenschaft der Rationalität möglich?, in: ders., Probleme der Rationalität, Frankfurt am Main 2006, 204–232.

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zeugungen entwickelt, spricht im Grundsatz nichts gegen eine Erweiterung, die auch andere Ausdrucksformen miteinschließt. Aber was folgt aus dieser Rationalitätsunterstellung? Zunächst impliziert die Betonung der Eigenrationalität die Notwendigkeit, die Eigenlogik der Ostererzählungen zu respektieren und durch ein hermeneutisches ›Brückenprinzip‹ einen Zugang zu schaffen, der eine verstehende Annäherung gestattet. David Brown hat aus der eingangs skizzenhaft formulierten unabdingbaren Rekontextualisierung biblischer Narrative eine Wiederaufnahme einer mytho-poietischen Hermeneutik entwickelt, wobei in dieser Ehrenrettung des mythologischen Anschauens die imaginative Kraft und Kreativität, die dem Erschaffen von Mythen zugrundeliegt, der Tatsache auch Rechnung getragen werden soll, dass mythische Anschauungsformen nicht verschwinden werden oder je wirklich überholt werden können. 9 Browns Grundthesen sind auf dem Fundament einer Rehabilitierung des mythologischen Anschauens gegründet, die all jene Positionen hinter sich lässt, die einen Keil zwischen Mythos und Logos, zwischen Mythologie und aufklärender Vernunft, Anschauung und Begriff zu treiben versuchen. Deshalb mache auch eine Entmythologisierung keinen Sinn, weil sie das sprichwörtliche Kind mit dem Badewasser ausschütte. Für Brown sind Mythen Vehikel der Wahrheit, die universelle moralische, metaphysische oder religiöse Wahrheiten anzeigen können und in komplexer Weise auch mit der Historie verflochten sind, sodass es ungenügend wäre, alles Mythische als ahistorisch zu verbuchen. 10 Der Mythos eröffnet erst den Relevanzhorizont für die Welt des Faktischen, sodass es durchaus auch Fälle gibt, in denen ein historischer Report durch angereichertes Wiederund Neuerzählen langsam zum Mythos avanciert, weil das Neuerzählen die Darlegung immer mehr mit Relevanz- und Sinnstiftungselementen anreichert. 11 In diesem Sinne unterstreicht Brown: To the modern mind it can be decidedly irritating that no sharp distinction is thus drawn between fact and fiction, but that is to adopt an unengaged attitude to the ›facts‹. For as soon as we ask questions about relevance to ourselves, the narrowly historical recedes and gives place to questions of significance that open up more intangible forms of truth. What then matters in deciding where the facts are of any interest in determining how we live our lives is not so much the facts themselves as how they are presented. 12

Auch wenn es weder möglich noch im Detail statthaft ist, eine entmythologisierende Phänomenologie des mythologischen Geistes zu verfassen, so

9 Vgl. D. Brown, Tradition and Imagination. Revelation and Change, Oxford 1999 (RP 2008), 178–180. 10 Vgl. Brown, Tradition and Imagination, 180f. 11 Vgl. Brown, Tradition and Imagination, 182f. 12 Brown, Tradition and Imagination, 183.

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lässt sich mit Brown ebenfalls festhalten, dass der Ursprung spezifischer mythologischer Sujets sich ebenso spezifischen geschichtlichen Kontexten verdankt: In einer Situation, in der eine etablierte (kulturelle oder religiöse) Lebensweise in die Krise gerät, wird das Thema Metamorphose und Transformation unausweichlich und schiebt sich in den Vordergrund mytho-poietischen Anschauens. 13 Dass solche Krisen selbstverständlich auch als Gotteskrisen – Krisen der institutionell verbreiteten Gotteskonzeption, der Gotteserfahrung und der Gottesvermittlung – erlebt und mythologisch verarbeitet werden können, liegt auf der Hand und kann sogar als Signatur der mytho-poietischen Intention vieler biblischer Schriften aufgefasst werden. Stellen wir die in apokalyptischen Anschauungsformen greifbare religiös-politische Krise zur Zeit Jesu in Rechnung, 14 so nimmt es nicht Wunder, dass uns die Evangelien – und die Ostererzählungen insonderheit – auf eine narrative Reise einladen, die in der Transformation Jesu 15 auch unsere eigene Metamorphose zum Thema hat. Die mytho-poietische Kraft unserer Imagination ist eine epistemologische Quelle für unsere Überzeugungen und ihre Reflexion; allerdings ist der Übergang von der Anschauungsform dieser narrativen Imagination zu jenen Propositionen, die als Reflexionsprodukte das kognitive Destillat unserer Überzeugungen ausmachen werden, alles andere als geradlinig. Um zu verdeutlichen, dass hier eine Übersetzung stattfindet, die ihrerseits ohne eine erst zu erwerbende Kompetenz nicht gelingen kann, sei auf ein anderes Beispiel verwiesen, das Catherine Elgin in ihrer Erkenntnistheorie bemüht: die epistemologische Rolle von Kunst – verdeutlicht am Beispiel eines Tanzes, der durch die Verkörperungsdimension die Immersionsintensität narrativer Imaginationen zwar noch einmal deutlich übertrifft, aber von uns in einer ganz analogen Weise eine besondere hermeneutische Achtsamkeit erfordert: Dance can deepen understanding by sensitizing us to things we tend to overlook, by undermining stereotypes, by problematizing assumptions we did not even know we were making. Since dance, like the other arts, lacks the capacity to adduce arguments, it might seem that at best, it can advance hypotheses whose merits need to be demonstrated by argument. Even if this were so, dance would have an important epistemic function in identifying hypotheses worth testing. But, I suggest, argument is not the only way to buttress epistemically tenable convictions. Examples can be equally tenable.

13 Vgl. Brown, Tradition and Imagination, 185f. 14 B.D. Ehrman, Jesus. Apocalyptic Prophet of the New Millenium, Oxford 1999, 103– 123. 15 Vgl. Ehrman, Jesus, 230–233. Dass diese Themen auch die Erscheinungsberichte selbst prägen, hat noch einmal Matthias Remenyi herausgearbeitet; vgl. M. Remenyi, Auferstehung denken. Anwege, Grenzen und Modelle personaleschatologischer Theoriebildung, Freiburg im Breisgau 2016, 264–269.

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An exemplar – even if it is a nonverbal symbol – can show that something is the case, even though it is powerless to say anything. A work of art, such as a dance or a symphony, being an extended, textured, multilayered symbol, can show something quite significant. 16

Elgin fordert in ihrem erkenntnistheoretischen Ansatz, dass wir – um gerade dem gerecht werden zu können, was wir schlussendlich auf der Ebene wissenschaftlichen Denkens und Forschens versuchen – die Rolle der Imagination konstitutiv in die Liste unserer Erkenntnisquellen einzubeziehen haben. Der entscheidende Widerstand diesem Eingeständnis gegenüber liegt jedoch in einem philosophisch belangvollen Vorurteil begründet, das den Wahrheitsbegriff zum Kernanteil des Wissensbegriffs avancieren lässt 17 und Wahrheit wiederum in einer faktualistischen Manier als Übereinstimmung mit bestehenden Sachverhalten definiert. Auch wenn wir im Bereich der strengen Wissenschaften verbleiben könnten, müssten wir jedoch – wie Elgin betont – zugestehen, dass wir auf zahlreiche Formen symbolischer Repräsentation und Darstellung angewiesen sind, die unter strenger Betrachtung eher falsch als richtig sind, 18 dass wir Modelle und Analogien imaginieren müssen, deren Adäquatheit nicht an einer faktualistischen Akkuratheit bemessen werden kann: Understanding is often couched in and conveyed by symbols that are not true. Many of them do not even purport to be true. Such symbols are epistemically felicitous falsehoods. Not all scientific models are propositional. Besides equations and verbal models, science is rife with diagrams, such as harmonic oscillator depictions in physics texts, three-dimensional models such as tinkertoy models of proteins, real-life simulations, and computer-based simulations. Nonpropositional models and diagrams are not, strictly speaking, false. But if interpreted as realistic representations of their referents, they are inaccurate in much the same way that false descriptions of an object are inaccurate. All represent their referents as they are not. So despite the fact that it is a bit of a misnomer, for ease of exposition, I label all such models falsehoods; if despite (or even because of) their inaccuracy they afford epistemic access to their objects, they are felicitous falsehoods. I contend that we cannot understand the cognitive contributions of science, philosophy, or even our everyday accounts of things, if we fail to account for the epistemic functions such symbols perform. 19

Die Darstellungsweise solcher Symbole lässt sich nicht allein über eine ikonische Repräsentationsfunktion erhellen; Elgin lädt uns dagegen ein, von einer komplexen Exemplifikationsfunktion auszugehen, die deswegen

16 17 18 19

C.Z. Elgin, True Enough, Cambridge /London 2017, 220. Vgl. Elgin, True Enough, 12. Vgl. Elgin, True Enough, 1 Elgin, True Enough, 23.

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kompliziert ist, weil das Symbol je nach Kontext und Relevanzperspektive verschiedene Eigenschaften, die eine Wirklichkeit exemplifizierend genommen werden wollen, aufleuchten lassen kann: Exemplification is not just a device for underscoring salient features or supplying emphasis. It often highlights and affords epistemic access to features that were previously disregarded, even to features that are semantically unmarked. It points up a feature, enabling us to mark out its contours and appreciate its significance. It equips us to recognize that feature when we encounter it in other contexts. Exemplification, then, is not just a vehicle for conveying salience; it is a source of salience. Moreover, the features an exemplar highlights may be difficult to discern. An effective exemplar can marginalize conspicuous features in order to exemplify elusive ones. 20

Die hier skizzierten epistemologischen Hinweise gelten selbstredend auch für narrative Imaginationen. Ihre Eigenart wird – und so ließe sich die von Catherine Elgin vorgegebene Linie weiter ausziehen – unter einer rein faktualistischen Betrachtungsweise nicht erfasst; denn in dieser Perspektive blieben sie (allenfalls) glückliche Fehlleistungen. Aber auch in imaginierenden Erzählungen geht es um die Exemplifikation bestimmter Eigenschaften, die – wie im Falle der Ostererzählungen – eine Transformation und Metamorphose zum Inhalt haben und deren Anliegen es ist, das, was wir als Sachverhalte zu betiteln geneigt sind, in einen Relevanzhorizont einzubetten, der durch weitere Exemplifikationszusammenhänge selbst noch einmal anschaulich gemacht wird. Die Pointe einer solchen Sichtweise wird vielleicht noch deutlicher, wenn wir uns kurz einem Alternativkonzept zuwenden: Michael Liconas The Resurrection of Christ ist eine Art detektivischer Suche nach dem historischen Kern des Auferstehungsglaubens. Licona stellt eine klassische Korrespondenzauffassung von Wahrheit in die Mitte; 21 die Aufgabe der Geschichtswissenschaft wird als Entdeckung von Fakten beschrieben. 22 Im Streit rivalisierender Auffassung empfiehlt Licona bekannte Kriterien, die einen Schluss auf die ›bessere‹ Erklärung erlauben sollen. 23 Dazu zählen allgemein: Erklärungsreichweite, Erklärungskraft, Plausibilität, Verallgemeinerbarkeit und Einsichtskraft. 24 Obwohl – rein oberflächlich betrachtet – aus historisch-kritischer exegetischer Perspektive diesen Schlagworten teilweise zugestimmt werden könnte, fällt doch auf, dass schon hier zwei ausnehmend wichtige Aspekte unterbelichtet bleiben: Zum einen blitzt hinter dem Faktenbegriff die alte faktualistische These 20 Elgin, True Enough, 187. 21 Vgl. M. Licona, The Resurrection of Jesus. A New Historiographical Approach, Downers Grove 2010, 89–93. 22 Vgl. Licona, Resurrection of Jesus, 93f. 23 Vgl. Licona, Resurrection of Jesus, 108f. 24 Vgl. Licona, Resurrection of Jesus, 109–114.

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auf, dergemäß zwischen Fakten einerseits und Werten, Einstellungen und Deutungen andererseits glasklar unterschieden werden könne. Durch die Art und Weise, wie Licona eine Korrespondenzauffassung von Wahrheit beschwört und in Dienst nimmt, verbaut er sich auch einen Weg zu der Einsicht, dass die ›Welt der objektiven Fakten‹ nichts ist, was einfach so vorliegt, sondern vielmehr etwas darstellt, was im Transparentmachen unserer Einstellungen und den tragenden Überzeugungen unseres Weltbildes erst diskursiv ermittelt werden muss. 25 Zum anderen ist jeder Schluss auf die beste Erklärung immer insofern heikel und nicht über jeden Zweifel erhaben, als das, was als bessere oder beste Erklärung gelten kann, dezidiert von unseren Hintergrundüberzeugungen abhängt. Wenn Licona in einer langen Auseinandersetzung 26 die historisch-kritischen Rekonstruktionen des Auferstehungsgeschehens von Geza Vermes 27, Michael Goulder 28, Gerd Lüdemann 29, John Dominic Crossan 30 und Pieter Craffert 31 als naturalistisch und in erklärungstheoretischer Hinsicht unzureichend verwirft, dann offenbart das eher einen Konflikt der rivalisierenden Hintergrundüberzeugungen als die tatsächliche Überlegenheit einer alternativen Theorie, da eine Überlegenheit nur dann eindeutig ausgewiesen werden kann, wenn ein signifikanter Bestand von gemeinsamen Hintergrundüberzeugungen geteilt wird. Licona hält in einer maximalistischen Sichtweise schlussendlich die Auferstehungsthese – die These, dass ein wieder zum Leben erweckter, physisch präsenter Jesus von Nazareth von den Jüngern auch tatsächlich (perzeptionell) gesehen wurde – für die beste Erklärung. 32 Doch dieser Erklärungswert ergibt sich nur, wenn man Liconas Supranaturalismus schon als Hintergrundüberzeugung akzeptiert hat. Wie seine naturalistisch erklärenden Gegenpositionen fällt Liconas Vorgehen jedoch durch eine erkenntnistheoretische Verkürzung auf: Die in den Ostererzählungen sich verdichtende Überzeugung wird kausalistisch auf ein die Überzeugungen auslösendes Element zurückgeführt; in

25 Vgl. T. Schärtl, Dialektik statt Dualismus. Gegen einseitige Diäten in theologisch motivierten Realismus-Antirealismus-Debatten, in: B.P. Göcke /ders. (Hg.), Freiheit ohne Wirklichkeit? Anfragen an eine Denkform, Münster 2020, 135–166, hier: 144f. 26 Vgl. Licona, Resurrection of Jesus, 470–582. 27 Vgl. G. Vermes, The Resurrection, New York 2008. 28 M. Goulder, Jesus’ Resurrection and Christian Origins. A Response to N.T. Wright, Journal for the Study of the Historical Jesus 3 (2005), 187–195. 29 G. Lüdemann, Die Auferstehung Jesu. Historie, Erfahrungen, Theologie, Stuttgart 1994, bes. 191–197. 30 Vgl. J.D. Crossan, The Historical Jesus. The Life of a Mediterranean Jewish Peasant. New York 1991, bes. 395–416. 31 Vgl. P. Craffert, The Life of a Galilean Shaman. Jesus of Nazareth in AnthropologicalHistorical Perspective, Eugene 2008, bes. chap. 12. 32 Vgl. Licona, Resurrection of Jesus, 600–607.

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Liconas eigenem Entwurf spielt das Sehen des den Tod abgestreift habenden, physisch präsenten Jesus von Nazareth die Rolle eines solchen Auslösers. Die naturalistischen Gegenentwürfe bieten dafür andere Surrogate. Ein sprechendes Beispiel dafür ist Pieter Craffert, der die Erscheinungen des Auferstandenen auf veränderte Bewusstseinszustände (altered states of consciousness) zurückführt; dabei verweist Craffert nicht zu Unrecht auf die Kontexte der antiken und vorderorientalischen Kultur, in der Visionen, Träume, Trancezustände und andere ›mehrphasig‹ verschobene geistige Zustände durchaus legitime Erkenntnisquellen darstellen. It is possible that some of the appearance accounts really are forms of legitimation of specific disciples by means of visionary reports and are not accounts of visionary experiences. On the basis of the current data, it is almost impossible to tell the difference between an account of an actual ASC experience (vision) and an account of a legitimation of a specific group of followers by means of an appearance story as an ascribed vision – either way, visions as basis for knowledge play a remarkable role in the foundation of their claims. Either way, it is confirmed that Jesus’s presence with them is connected to or finds support from visionary experiences. Put differently, for them, visionary experiences – actual or reported about – were a sufficient basis for claiming an afterlife existence for Jesus of Nazareth. One of the most difficult things for people not socialized in a polyphasic culture is to accept the ease with which even normal human phenomena (such as eating or speaking) are reported in such visionary accounts as what has happened. But this is precisely what is encountered in these reports: accounts of normal human phenomena together with phenomena common to their cultural system (such as encounters with angels). 33

Obwohl Craffert meint, textliche Belege für diese steile These auf seiner Seite zu haben (der Verweis auf das Entsetzen, die Furcht, die veränderte Gestalt Jesu, der Übergang von Nichterkennen zu Erkennen), bleibt das Fundament für seine Theorie doch schmal; die Ostererzählungen enthalten nicht die geringsten Spuren, die auf bewusstseinsverändernde Praktiken oder Voraussetzungen bei den Jüngern hindeuten. 34 Crafferts Theorie, die ihre Vorzüge darin hat, dass sie die anthropologisch-kulturelle Kontextualisierung der neutestamentlichen Texte ernst zu nehmen versucht, bleibt in dieser Hinsicht bloß spekulativ. Und sie sucht, strukturanalog zum Vorgehen Liconas, nach auslösenden Faktoren für die Genese der entsprechenden Glaubensüberzeugungen. Unterschätzt wird dabei jedoch die ›logische‹ Rolle, die Gründe spielen. Gerade innerhalb ihres kulturellen Eingebettetseins mögen die Jünger gute Gründe gehabt 33 Craffert, Shaman, chap. 12, 5. 34 Man könnte, ganz im Gegenteil, unterstreichen, dass Mk 16,6 sehr direkt ausspricht, gerade nicht furchtsam zu sein, also gerade nicht in einen außergewöhnlichen emotionalen Zustand oder Bewusstseinszustand zu geraten.

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haben, ihre Überzeugung, dass Jesus lebt, innerhalb bestimmter Darstellungsformen zu artikulieren und in bestimmte narrative Imaginationen zu gießen. Auch wenn wir (mit Craffert) durchaus zugestehen können, dass das Gewicht und die Dignität von Gründen in einer anderen Kultur als der unseren auch anders beurteilt werden kann (und darf), so bleibt festzuhalten, dass die Dignität der Gründe sich im Raum der Gründe zu bewähren hat und nicht kurzerhand – etwa durch Rekurs auf ein kausalistisches Modell – auf sogenannte Naturtatsachen (hier im Rahmen einer naturalisierten Epistemologie veränderter Bewusstseinszustände) zurückgeführt werden kann. Die Aufdeckung möglicher Entstehensbedingungen von Überzeugungen, die bei der Frage nach dem ›Grund‹ des Glaubens an die Auferstehung Jesu von Rekursen auf echtes Sehen auf der einen Seite zu Trancezuständen, Visionen oder alternativen Bewusstseinszuständen auf der anderen Seite reichen mögen, können uns vielleicht über das denkbare Erkenntnisinstrumentarium informieren und darin Fragen der Zuträglichkeit bestimmter Mechanismen aufwerfen, beantworten die Geltungsfragen aber nicht. Die Geltungsfrage stellt sich im Raum der Gründe und muss darin beantwortet werden. In Apg 24,14–16 finden wir einen Hinweis darauf, wie dies geschieht: Der Glaube an die Auferstehung muss sich unter Kohärenzbedingungen einfügen in den Glauben Israels und bewährt sich in der aus ihm resultierenden performativen Kraft in der Umgestaltung einer Lebensführung: 14ὁµολογῶ

δὲ τοῦτό σοι ὅτι κατὰ τὴν ὁδὸν ἣν λέγουσιν αἵρεσιν, οὕτως λατρεύω τῷ πατρῴῳ θεῷ πιστεύων πᾶσιν τοῖς κατὰ τὸν νόµον καὶ τοῖς ἐν τοῖς προφήταις γεγραµµένοις, 15ἐλπίδα ἔχων εἰς τὸν θεὸν ἣν καὶ αὐτοὶ οὗτοι προσδέχονται, ἀνάστασιν µέλλειν ἔσεσθαι δικαίων τε καὶ ἀδίκων. 16ἐν τούτῳ καὶ αὐτὸς ἀσκῶ ἀπρόσκοπον συνείδησιν ἔχειν πρὸς τὸν θεὸν καὶ τοὺς ἀνθρώπους διὰ παντός.

David Brown verweist zudem darauf, dass die detektivische Konzentration auf den auslösenden Faktor der ›Ostererfahrung‹ auch den Texten gegenüber deutlich zu kurz greift: Kein Evangelium endet ›nur‹ mit dem Sehen des Auferstandenen. 35 Das Markusevangelium endet im originalen Schluss lediglich mit einer Ankündigung des Erscheinens (Mk 16,6f.), während die christologische Proklamation schon am Kreuz geschehen ist (Mk 15,39). Matthäus endet mit einem überwältigenden Panorama, das eine Völkermission verkündet (Mt 28,16–20). Lukas bietet die nicht weniger gloriose Himmelfahrtszenerie (Lk 24,21–23), Johannes endet in Kap. 20 mit dem Zeugnis des Thomas (Joh 20,24–29). Die narrativen Imaginationen präsentieren eine vierdimensionale Szenenfolge, in der das

35

Vgl. Brown, Tradition and Imagination, 295–298.

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Erscheinen des Auferstandenen in einen größeren und umfassenderen narrativen Horizont eingesenkt ist. Und die Evangelien selbst enden im Grunde mit einer Eröffnung – am prägnantesten das Markusevangelium, das uns an die Eingangstopographie des Evangeliums (Galiläa) zurückverweist und damit eine Wiederaufnahme all dessen, wofür dieser Topos steht, fordert. Die anderen Evangelien entlassen den Leser in die Mission und Sendung und setzen damit das Zeugnis des lebendigen Christus auf neuen Ebenen fort.

2.

Sehen Lernen

Wenn wir uns von einem einseitigen kausalistischen Erfahrungsmodell verabschieden und die Ostererzählungen in ihrer narrativen Eigenlogik und Imaginationskraft zu würdigen suchen, dann ist auch zu unterstreichen, dass die wichtigste Einsicht, die uns vermittelt wird, die ist: dass Jesus von Nazareth – durch seinen Kreuzestod hindurch – da ist. Dieses Da-Sein wird von den Evangelien unterschiedlich akzentuiert; die Unterschiede führen nicht zu Widersprüchen, sondern stellen eine imaginative Galerie von Modi der Präsenz in den Mittelpunkt: Christus ist nach Markus aktiv im neuen Aufbruch in Galiläa, er handelt – so Matthäus – in der Mission und verspricht seine Präsenz bis zum Ende der Zeiten, er ist – so die lukanische Modellierung – der eigentliche Akteur in der Sendung der Kirche und greift (denken wir an die Apostelgeschichte) auch in die Zeit ein. Johannes stellt uns eine durch den Parakleten und die Jüngergemeinde vermittelte Präsenz vor Augen. Schon diese – nennen wir sie dezidiert christologische – Modellierung der Präsenz Jesu in der Zeit sollte uns vorsichtig machen gegenüber allen Vorschlägen, 36 die die Auferstehung Jesu als physisch-biologische Restitution verstanden wissen wollen. In solch einem engen Korsett lässt sich die Entgrenzung der Aktivität Jesu, die als Konstante in den eröffnenden Schlusssequenzen der Evangelien proklamiert wird, nicht richtig verstehen. Der Auferstandene ist nämlich gerade als Erhöhter lebendig und wirksam. Dass darin eine Herausforderung an unsere theologischen Theoriebildungen stecken mag, sei eingestanden. An anderer Stelle habe ich mich daher dafür ausgesprochen, die entgrenzte Präsenz des Auferstandenen über die sogenannte Extended Mind-Theorie zu plausibilisieren, die grundsätzlich betonen würde, dass die Präsenz bewusstseinsbegabter Wesen nicht auf die engen Grenzen des biologischen Körpers festgelegt ist, sondern sich auch deutlich über diese

36 Vgl. zu derartigen Ansätzen S.T. Davis, Risen Indeed. Making Sense of the Resurrection, Grand Rapids 1993, 57–61.

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Grenzen hinaus in andere Vollzüge hinein vermitteln und auch andere Entitäten integrieren kann. 37 Für die oben skizzierten Probleme ist allerdings eine andere Frage vordringlicher: Worauf verweisen uns die Osterzeugnisse, wenn wir konkreter nach dem Erfahrungsgehalt der Erscheinungen fragen? Wenn wir Gründe haben, um die Unkategorisierbarkeitsthese abzulehnen, dann bietet sich am ehesten der ohnedies weite, nicht-perzeptionell verengte Erfahrungsbegriff an, um das einzufassen, was unter erkenntnistheoretischer Rücksicht in den Erscheinungsberichten vermittelt wird. David Brown gibt uns aber noch eine weitere Hinsicht zu bedenken: My suspicion is that the resurrection appearances took a variety of different forms, some exalted, some more human, but that by the time the Gospels came to be written it was the more human that there was the most need to record, in order to establish the continuity of the now exalted Lord with the once earthly Christ. 38

Nehmen wir diesen Faden auf, so müssen wir die Ostererzählungen noch viel näher an uns heranrücken, als wir das gewöhnlich tun. Denn in der von Brown angedeuteten Weise dürften wir festhalten, dass es den Osternarrativen nicht nur darum geht, die Identität und Kontinuität des Gekreuzigten mit dem Erhöhten auszusagen, zu bezeugen und zu proklamieren, sondern auch und gerade die Identität und Kontinuität des Auferstandenen mit dem auch jetzt (für uns) präsenten und wirkenden Christus. Die Situation der Suchenden (vgl. z.B. Mk 16,6 und Joh 20,11– 18) wäre somit ganz grundsätzlich und immer der Situation der Hörerin bzw. Leserin des Evangeliums vergleichbar. Und es wäre – ziehen wir diese Linie weiter – nun auch gar nicht verwunderlich, wenn uns die Evangelien selbst darauf verweisen, wo und wie wir den Auferstandenen und Erhöhten sehen und finden können: im Evangelium selbst, wie Markus andeutet, im Brotbrechen, wie das Lukasevangelium darlegt, im Hören des Wortes und der Mahl- und Liebesgemeinschaft, wie das Johannesevangelium hervorhebt. 39 In diesen Erfahrungsgegenständen ereignet sich die Kontinuität zwischen dem vorösterlichen und ›nachösterlichen‹ Christus. Und diese Erfahrungen sind auch für alle, die jetzt den erhöhten Herrn ›suchen‹, zugänglich. Natürlich besitzen die Nachgeborenen nicht die Zeugenschaft der historischen Zeitgenossenschaft zu Jesus von Nazareth; daher lässt sich der Unterschied zwischen den Jüngern erster und zweiter Hand letztlich nicht einebnen. 40 Aber die Osternarrative

37 Vgl. Schärtl, Auferstehung Jesu, 30–36. 38 Vgl. Brown, Tradition and Imagination, 297. 39 Vgl. Schärtl, Auferstehung Jesu, 24–26. 40 Zum Problem und zur Tragweite dieser Differenz siehe H. Verweyen, Gottes letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie, Regensburg 32000, 346f.

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verweisen neben dem Zeugnis der autorisierten Zeugen eben auch auf Erfahrungsweisen, die eine Kontinuität über die Zeiten hinweg herstellen können. Aber ist diese Weise, die Präsenz Jesu zu denken, nicht doch zu schwach? Wenn wir mit nur menschlichen Analogien an solche vermittelten Weisen von Präsenz heranzugehen versuchen, bleibt natürlich der eigentümliche Eindruck bestehen, dass ein Text, eine Mahlgemeinschaft, ein sakramentales Geschehen, eine Sendungsautorität, eine Liebesgemeinschaft nur uneigentliche Formen einer graduell heruntergestuften Leiblichkeit sind. Die Evangelien stellen dies auf ihre Weise nicht in Abrede; die Körperdiskurse der Osternarrative, die mit Präsenz und Entschwinden, Anwesenheit und Exaltation spielen, streichen die Leiblichkeit der Gegenwart des Auferstandenen nicht durch. Aber sie erwarten von uns auch, dass wir sehen lernen – nämlich durch eine dezidiert christologische Brille hindurch: Dasjenige, wodurch und worin die Präsenz Christi vermittelt wird, wäre eben nicht das Medium seiner Anwesenheit, hätte sich Jesus von Nazareth damit nicht selbst radikal identifiziert. Dieser Identifikationsmodus ist, darauf spielen die Evangelien zumindest an, so radikal zu denken, dass er bekanntes Menschenmaß übersteigt. Es wird erst die dezidiert christologische Formulierung sein, die von den zwei Naturen spricht, die diese Radikalität in dem nur der göttlichen Natur eigentümlichen Universalisierungsmoment begrifflich und bekenntnishaft einzuholen versucht. Aber als narrativer Duktus ist diese Einsicht in den Evangelien schon da. Die Modi der vermittelten Präsenz, die auch für uns die ›Erscheinungen‹ des Auferstandenen zugänglich und (im weiten Sinne des Wortes) erfahrbar machen, wären nicht möglich ohne jenen Entgrenzungsvorgang, der nur und allein als Aktivität Gottes verstanden werden kann, die uns den Erhöhten ›sehen‹ lässt. Die Richtung der in den Ostererzählungen vorgestellten mytho-poietischen Absicht – und hier lässt sich die Linie von David Brown weiter ausziehen – zielt auf Transformation und Metamorphose: Am Schicksal des Einzelnen, der gleichzeitig der Universale ist, wird auch unsere Transformation und Metamorphose angezeigt. Wenn in paulinischer Tradition (und diese mag bei Markus einen Abdruck hinterlassen haben) ein Zusammenhang von Ostern und Taufe hergestellt wird, dann ist dies keine metaphorische Überbelichtung eines Rituals, sondern führt die mythopoietische Imagination der Ostererzählungen in Performativität über. Die Wahrheit dieser mytho-poietischen Imagination bewährt sich nämlich erst in der Performativität – und diese wiederum schließt alle mit ein, die sich auf den angezeigten Transformationsprozess einlassen. Aber wie lassen sich diese österlichen Erfahrungen, auf die uns die Ostererzählungen sozusagen mit der Nase stoßen, weiter qualifizieren? Die Theologiegeschichte hatte hier eine Reihe von Angeboten formuliert – von subjektiven Visionen bis hin, wie wir gesehen haben, zu Zuständen

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der Bewusstseinsveränderung. 41 Das in den Erscheinungsberichten sich herauskristallisierende Identifikations- und Rekognitionsschema 42 mahnt uns aber zu einer gewissen Nüchternheit; der ›epistemologische‹ Weg wird nicht weiter spezifiziert, der Vorgang der Identifikation und Reidentifikation zählt. Für Erfahrungen, die solches leisten können und noch dazu imstande sind, neue Sichtweisen zu eröffnen, bietet sich der Terminus Disclosure-Erfahrung an. 43 Dieser Erfahrungstyp unterscheidet sich von privilegierten religiösen Erfahrungen prinzipiell dadurch, dass er in den verschiedensten Kontexten auftreten kann: Die instantane Einsicht beim Lösen einer mathematischen Aufgabe, eine Durchbruchserfahrung nach einem komplizierten und müden Überlegensprozess, eine ästhetisch gewonnene Einsicht, ein Einleuchten, das einen Umdenkens- oder gar existenziellen Transformationsprozess einleitet – all das sind sehr ›weltliche‹ Beispiele für Disclosure-Erfahrungen. Die Übertragung und damit die Antwort auf unsere Frage liegt aber auf der Hand: Die Identifikation des Lebendigen und Erhöhten an alledem, womit sich Jesus von Nazareth selbst identifiziert hat, kann eine vergleichbare Disclosure-Erfahrung auslösen, die ihrerseits zur Basis eines Umdenkens oder Neu-Sehens wird. Die Osternarrationen nehmen uns hier buchstäblich bei der Hand; sie verlangen nicht, dass wir Schicht um Schicht abzutragen versuchen, um auf einen harten Kern zu stoßen, dem sich alles verdankt. Sie präsentieren den, den wir suchen, anhand der Vermittlungsweisen, die die Kontinuitätsgräben zu überbrücken helfen. Aber sie erwarten von uns, dass wir sehen lernen. Abstract The article examines the challenges of an adequate hermeneutics regarding the Easter narratives. It uses David Browns theological theory of imagination and Catherine Elgins epistemological concept of symbolic exemplification to develop a more suitable approach to unfold the multi-layered meaning of the resurrection stories. The insight into the hermeneutical tools has to be equated with, and this is the core message of the paper, with a process of learning which was as such already envisaged by the New Testament writings themselves. Furthermore, these writings broaden the horizon of this very lesson by leading us to those experiences that are meant to get us in touch with the Risen Lord even nowadays. Prof. Dr. Thomas Schärt-Trendel, geb. 1969, war von 2006 bis 2009 Assistant Professor of Systematic Theology an der CUA in Washington DC, von 2009 bis 2015 Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der

41 Vgl. dazu in Übersicht D.C. Allison, Resurrecting Jesus. The Earliest Christian Tradition and its Interpreters, New York /London 2005, 201–213. 42 Vgl. Schärtl, Auferstehung Jesu, 16–19. 43 Vgl. Schärtl, Auferstehung Jesu, 22–24.

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Universität Augsburg, von 2015 bis 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg; er ist seit Oktober 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Fundamentaltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der LMU München.

Ute Leimgruber

Nachfolge ist Bildung ist Weltgestaltung Frauenorden als paradigmatischer Ort einer risikoreichen Bibelrezeption

Bildung und Nachfolge sind aufs engste miteinander verbunden – und beide sind als neutestamentliche Motive auch in der Praktischen Theologie zu reflektieren. Nachfolge konstituiert die Schülerinnen- und Schülerschaft des Jesus von Nazareth (vgl. Mk 1,17; 2,14; Mt 4,19; 8,22; Lk 9,59). Eine Person wird mit der Aufforderung zur Nachfolge immer so angesprochen, dass eine Änderung von Wahrnehmen und Denken, von Verhalten und Handeln erfolgt, eine Änderung also, die Lernen voraussetzt. Mit anderen Worten: Die Prozesse im Individuum, die das neutestamentliche Nachfolge-Motiv und mit ihm das »Um-Denken« (metanoia) und »Anders-Handeln« umfassen, können als Dimensionen dessen gesehen werden, was mit »Bildung« bezeichnet wird. Nun geschehen diese Transformationen ja nicht jenseits von gesellschaftlichen, kulturellen bzw. religiösen Kontexten, und damit auch nicht jenseits von Machtstrukturen und hegemonialen Systemen. Nachfolge zielt auf Änderung über Lernen (vgl. Joh 1,39), und in der Reflexion braucht es dazu die Berücksichtigung von Machtkontexten. Wie prekär und fragil der Zusammenhang dieser Topoi (Nachfolge – Macht – Bildung /Lernen) in den konkreten Lebenszusammenhängen der Menschen ist, zeigt sich exemplarisch an den Frauenorden und den Geschichten von Ordensfrauen. Ihre spezifischen Kontextbedingungen von Lernen – und auch ihre Nachfolgeoptionen – unterliegen seit den biblischen Erzählungen genderspezifischen Einschränkungen und erfordern gendersensible Perspektivierungen. An den Frauenorden zeigt sich paradigmatisch die Bedeutung von »Bildung« als Möglichkeit, Kultur zu gestalten und Macht- und Abhängigkeitsstrukturen zu durchdringen, sich dazu aktiv in ein Verhältnis zu setzen oder sogar neu zu ordnen – und zwar in Verbindung mit dem Nachfolgemotiv. Frauenbiografien spiegeln Bildung als Welt- und Lebensgestaltung und deren hegemoniale und patriarchale Begrenzung in besonderer Weise; im Leben von Ordensfrauen öffnet sich im Konnex mit dem biblischen Nachfolgemotiv ein interessantes Lernfeld für ein gerechtes und biblisch fundiertes Bildungsverständnis heute.

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Bildung – freisetzende Weltaneignung in Machtkontexten

»Bildung« wird – im Wissen um den äußerst komplexen Bildungsbegriff und Bildungsdiskurs – im Folgenden thematisiert im Umfeld der Verantwortung der Menschen für den Umgang mit ihrem Lernen. Dies zeigt sich insbesondere in ihrer Angewiesenheit auf und ihrer Befähigung zum Lernen. Selbstreferentialität und vom Individuum her zu verantwortende Weltaneignung bilden das Spannungsgefüge eines Bildungsbegriffs, der sich in die Diskussion um die Rolle der Frauen in Kirche und Gesellschaft, ihre Kreativitätsfelder und Einhegungen im Kontext der Wissensaneignung und Wissensvermittlung und die ihnen zur Verfügung stehenden Foren geistigen, intellektuellen und kulturellen Handelns einfügt und gleichermaßen daraus ergibt. Bildung ist intersubjektiv übergreifend und hat Anteil am »Prozess der Vermittlung von Selbst und Welt, von Subjekt und Objekt [. . . ], in dem sich beide Seiten, Person und Welt, verändern.« 1 Wenn man nun aber Lernen und Bildung im Umfeld von Befreiungsund Gestaltungsmöglichkeiten thematisiert, muss gleichzeitig auch ihre unheilvolle Verstrickung in Macht- und Herrschaftsverhältnisse gesehen werden. 2 Es mag vorausgesetzt werden, dass Bildung als anthropologisches – und damit vom Anspruch her universelles 3 – Motiv in den biblischen Texten bezeugt ist und sowohl in den geschriebenen Texten als auch in den ›gelebten Texten‹ eine Rolle spielt, also auf die Lebensgestaltung der Lesenden rückwirkt. Gleichzeitig entsteht eine enorme Spannung, wenn man aus der anthropologisch-universalen Lesart die Genderdimension herausschält. Denn für Frauen gestaltete sich diese anthropologische

1 B. Dressler, Unterscheidungen. Religion und Bildung, Leipzig 2006, 85. 2 Dass dies auch in Teilen der jüngeren Philosophie rekonstruiert wurde, macht Nora Sternfeld deutlich: »Von der Verschleierung der Autorität, der freiwilligen Selbstregulierung der Legitimierung der Verhältnisse bis zur Reproduktion herrschender Subjektvorstellungen wurde [von Gramsci, Foucault und Rancière] vielfach beschrieben, wie leicht bei allem Anschein der Emanzipation Herrschaft reproduziert wird.« N. Sternfeld, Das pädagogische Unverhältnis. Lehren und Lernen bei Rancière, Gramsci und Foucault, Wien 2009, 9. 3 Vgl. zur Debatte um Universalismus N. Sternfeld, Wem gehört der Universalismus?, in: jungle world 2010/48; https://jungle.world/artikel/2010/48/wem-gehoert-der-universalismus (30.7.2019): »Von postkolonialer und feministischer Seite wurde der ›Universalismus‹ als weißer, westlicher Partikularismus entlarvt, in dem eben nur manche ›alle‹ waren (und noch heute sind), in dem zwar von ›universellen Rechten‹ die Rede ist, der tatsächlich aber oft genug noch heute eine weiße, westliche und männliche Perspektive als universell setzt. [. . . ] Die Ausschlüsse und Ungleichheiten erforderten es, Bewusstsein für Ungleichheiten zu bilden und damit auch partikulare, identitäre Positionen zu beziehen, etwa partikulare Positionen von Frauen, Schwarzen, Arbeitern und Arbeiterinnen, deren Gleichheit der Universalismus nicht von vornherein vorsah, sondern die erst durch soziale Kämpfe in den Universalismus hinein reklamiert werden musste und teils heute noch muss.« Alle im vorliegenden Text zitierten Webseiten waren bei Redaktionsschluss nachweislich aufrufbar.

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Grunddimension konkret-historisch nicht als Teilhabe-, sondern als Diskriminierungspraxis der Ungleichheit und Exklusion. 4 a)

Ambivalenz von Bildung – zwischen Exklusion und Freisetzung

Bildung hat grundsätzlich sowohl material als auch formal freisetzendes Potenzial. Denn wenn Menschen Bildung erlangen – nicht nur basale Fertigkeiten erlernen, wie Lesen und Schreiben und Rechnen, sondern auch Fähigkeiten wie das Reflektieren und Urteilen üben, pluralitätsund ambiguitätsfähig werden –, verändern sie sich als Individuen und in Konsequenz auch die Umwelt um sich herum; gleichzeitig erhalten sie material ein Instrumentarium, um in Macht- und Herrschaftskontexte einzugreifen. Lernen öffnet Handlungsräume, und es beziffert gleichzeitig die Exklusion von Menschen aus diesen Handlungsräumen, indem man für sie schlichtweg die Tür dazu versperrt hält. Die Frauengeschichte ist voll von Erzählungen, in denen sich Frauen mit List den Zugang zu Bildungs-Räumen erschleichen konnten oder sich die Köpfe an den Wänden blutig geschlagen haben. Mädchen- und Frauenbildung ist also immer auch politisch, sie ist immer auch das Symbol für geschlechtsspezifische Unterdrückung und Emanzipation gleichermaßen. Bildung und Erziehung ist nie neutral, geschieht nie objektiv oder außerhalb von politischen, sozialen und, v.a. historisch gesehen, auch religiösen Kontexten, 5 im 20. Jahrhundert u.a. von Paulo Freire verdeutlicht. 6 Bildung bzw. Lernen ist damit im Bereich der Pädagogik und des Erziehens besonders unter machttheoretischem Aspekt ambivalent; es kann mit seiner ideologischen Funktion 4 Die Trennlinien hinsichtlich gender (im Fokus der religion) sind Gegenstand dieses Artikels; Bildung (und damit Gerechtigkeit, Befreiung, Teilhabe) ist genauso ein Mittel zur Trennung entlang der Linien von race und class und stellt damit eine intersektionale Differenzierungsnorm dar. Grundlegend: G. Winker /N. Degele, Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 22010. Zur neueren Diskussion des Einflusses von intersektionalen gesellschaftlichen Strukturkategorien vgl. bspw. T. Knauth /M. Jochimsen (Hg.), Einschließungen und Ausgrenzungen. Zur Intersektionalität von Religion, Geschlecht und sozialem Status für religiöse Bildung, Münster 2017. Intersektionale Analysen haben eher zögerlich Eingang in die Theologie gefunden und werden erst jüngst etwas breiter diskutiert; vgl. G. Werner, Doing intersectionality – Perspektiven für Systematische Theologie aus der intersektionalen Analyse von Macht, in: J. Rahner /T. Söding (Hg.), Kirche und Welt – ein notwendiger Dialog. Stimmen katholischer Theologie (QD 300), Freiburg i.Br. 2019, 284–296; A. Qualbrink, Frauen in kirchlichen Leitungspositionen. Möglichkeiten, Bedingungen und Folgen der Gestaltungsmacht von Frauen in der katholischen Kirche, Stuttgart 2019. 5 Vgl. z.B. A.M. Zumholz, ›Das Weib soll nicht gelehrt seyn‹. Konfessionell geprägte Frauenbilder, Frauenbildung und weibliche Lebensentwürfe, Münster 2016; M. Schattkowsky, Frauen und Reformation. Handlungsfelder – Rollenmuster – Engagement, Leipzig 2016. 6 Vgl. P. Freire, Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Reinbek 1973.

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darauf zielen, »die existierenden Verhältnisse zu konsolidieren, einzuüben und einzuzementieren«, 7 es kann aber gleichermaßen emanzipatorisches und kritisch-befreiendes Potenzial entfalten. In dieser Hinsicht ist Lernen bestenfalls »das Einholen und Ausprobieren von Veränderungswissen und entsprechenden Fähigkeiten«, 8 es führt zu Veränderungen im Verhältnis und Verringerungen von Unterschieden zwischen Lehrenden und Lernenden und damit zu Machtverschiebungen. Nicht zuletzt kann der Bildungsprozess den »Versuch[,] für die Veränderung von Welt Mitkämpferinnen oder Mitgestalterinnen zu gewinnen«, 9 bedeuten. Dass dieses Verständnis in der Entwicklung von Frauenbildung und -emanzipation, auch und gerade im religiösen Bereich, eine gewichtige Rolle spielt, liegt beinahe auf der Hand, wie z.B. die Biografie von Mary Ward beweist. Im Zusammentreffen mit dem Nachfolgemotiv, v.a. in religiösen Frauenbiografien, wird Bildung zu einem Feld, auf dem Kämpfe um die jeweils dominierenden Ordnungsmuster und Rollenerwartungen innerhalb religiöser und gesellschaftlicher Einflussbereiche ausgetragen werden. Denn wenn Frauen die biblische Botschaft so rezipieren, dass sie selbstbestimmt über ihre Form der Nachfolge entscheiden wollen, ist dies in gewisser Weise ein Ausfluss des biblischen Bildungsverständnisses, ein selbstbestimmter Akt von gläubigen Menschen, ein Akt des Glaubens selbst. Das Nachfolgemotiv hat seit Beginn des Christentums Frauen an die ihnen von außen vorgegebenen Grenzen gehen, sie überschreiten und neu definieren lassen. Gleichzeitig steht es in einer enormen Spannung, denn in Rückbezug auf eine bestimmte Lesart des biblischen Nachfolgemotivs wurden Hierarchien auch erst recht zementiert und Ungleichheiten reproduziert. Bildung steht wie Nachfolge in der Spannung der Gleichzeitigkeit von Unterdrückung und Befreiung, oder, mit Jacques Derrida, von Möglichem und Unmöglichem. Zwischen Bildung und Nachfolge steht möglicherweise jenes »vielleicht«, das – im Gegensatz zur Notwendigkeit oder dem Möglichen – Platz für Veränderung lässt: Ich werde nicht behaupten, dieses Denken des unmöglichen Möglichen, dieses andere Denken des Möglichen sei ein Denken des Notwendigen. Es ist vielmehr [. . . ] ein Denken des ›vielleicht‹, jener gefährlichen Modalität [. . . ]. Ohne Erfahrung des ›vielleicht‹ gibt es keine Zukunft und es gibt keinen Bezug zum Kommen des Ereignisses. 10

Was also Bildung – und nicht zuletzt auch Nachfolge, wie sich zeigen wird – ausmachen könnte oder möglicherweise sogar sollte, ist eine Offenheit im Verlauf, d.h. eine Offenheit bezüglich der Frage, ob überhaupt 7 Sternfeld, Das pädagogische Unverhältnis, 20. 8 F. Haugg, Lernverhältnisse. Selbstbewegungen und Selbstblockierungen, Hamburg 2003, 45. 9 Haugg, Lernverhältnisse, 45. 10 J. Derrida, Die unbedingte Universität, Frankfurt am Main 2001, 74.

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etwas und, wenn ja, was sich ereignet. Was bei so einem Prozess geschieht, der bei Bildung und Nachfolge Emanzipation von weltlichen Herrschaftskontexten bedeuten kann, steht nicht schon vorher fest: »Vielleicht denken heißt ›wenn‹ und ›falls‹ denken, ›was, wenn?‹« 11 Die Biografien etlicher Frauen in Ordensgemeinschaften zeigen eindrücklich, wie hoch das Risiko eines »was, wenn?« und wie immens der Widerstand sein konnte, der bei der Überschreitung von Bildungs- und Nachfolgekonventionen von Frauen beinahe zwangsläufig entstand. b) Intellektuelle Gestaltung des eigenen Lebens in der Gefolgschaft Christi Am Leben von Marcella von Rom, 12 einer Frau aus der römischen Oberschicht, wird sehr früh der Topos von Bildung als Weltgestaltung in christlicher Nachfolge deutlich. Vermutlich in den Jahren 342–343 gründete ihre Mutter, die Witwe Albina, eine generationenübergreifende Frauengemeinschaft: Albina, ihre Tochter Marcella, selbst früh verwitwet, und deren Tochter Principia und andere Frauen führten eine Art konventuales Leben in Rom. Das Haus auf dem Aventin wurde im Laufe der Jahre zum Mittelpunkt einer asketischen und intellektuellen Bewegung, zeitweise mit Hieronymus als einer Art spiritus rector. 13 Marcella hatte eine breite Bildung, sie kannte die Schriften Platos und Ciceros und beschäftigte sich ausgiebig mit Schriftlesung und -exegese sowie mit zeitgenössischen christlichen Schriften, z.B. von Hieronymus, Tertullian oder Cyprian. Marcella genoss hohes Ansehen, sie wurde wohl sogar als iudex (Expertin /Schriftkennerin /Kritikerin) bei der Lösung schwieriger textkritischer und exegetischer Fragestellungen angesehen; Hieronymus und ihre Mitschwestern nannten sie magistra (Lehrerin). 14 Marcella intendierte die Bildung anderer Frauen (später auch die Bildung von Männern), um sie über die Heilige Schrift und die christliche Tradition aufzuklären. Ab 385 n.Chr. entwickelte sich ihr Haus zu einer Art »Akademie«, in der sie über Bibelauslegung diskutierte und lehrte, entgegen der ablehnenden Meinung der Kirchenväter über die generelle 11 Derrida, Die unbedingte Universität, 75. 12 Vgl. U. Leimgruber, Avantgarde in der Krise. Eine pastoraltheologische Ortsbestimmung der Frauenorden nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, Freiburg im Breisgau 2011, 106–108. 13 Es gab einen regen Briefwechsel zwischen Hieronymus und Marcella (es sind 19 Briefe von Hieronymus an Marcella überliefert, die Briefe Marcellas an Hieronymus sind hingegen nicht überliefert), wenngleich mit Unterbrechungen. Vgl. B. Conring, Hieronymus als Briefschreiber: ein Beitrag zur spätantiken Epistolographie, Tübingen 2001, 144f. 14 Vgl. auch K. Greschat, Gelehrte Frauen des frühen Christentums. Zwölf Porträts, Stuttgart 2015; darin: Kap 9. Die unbeirrbare Wissenschaftlerin Marcella, 102–115.

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Lehrtätigkeit von Frauen, fußend auf den Aussagen des Corpus Paulinum (1 Kor 11,3.7; 1 Kor 14,34f; 1 Tim 2,11f) und zurückgreifend auf eine entsprechende Interpretation der biblischen Schöpfungserzählungen und der Sündenfallgeschichte sowie die fehlende ausdrückliche Beauftragung durch Christus. 15 Indem Marcella als angesehenes und intellektuelles Mitglied der römischen Oberschicht die Heilige Schrift mit anerkannten Methoden und Techniken auslegte, wurde der biblische Text in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit entscheidend aufgewertet. Gleichzeitig wurde die missionarische Bedeutung von Bildung offenkundig: Ohne Kenntnis der Schrift war ein Kennenlernen des Christentums kaum denkbar. Marcellas Kreis verfügte über eine öffentlich zugängliche Bibliothek, zu der auch verschiedene Sammlungen biblischer Schriften und Kommentare gehörten. Die Frauen kopierten die Kommentare und Übersetzungen der antiken christlichen Schriften entweder selbst oder ließen sie kopieren und verteilten sie schließlich. Bachiarius, ein spanischer Mönch, schrieb diesen Frauen ein Herz zu, »in dem eine Bibliothek voller Bücher gespeichert ist«. 16 Frauen unterrichteten Frauen und trugen (wenn auch nicht unumstritten) die Titel didaskalos und paidagogos. 17 Viele der später entstehenden zönobitischen Gemeinschaften von Frauen entwickelten sich zu Zentren, in denen Frauen Bildung erfuhren und in ihren intellektuellen Fähigkeiten gefördert wurden. Die römische Adelige Marcella blieb Vorbild: Beispielsweise bezog sich im 12. Jahrhundert die Äbtissin Heloise in ihren Briefen an Abaelard legitimierend auf Marcella, um deutlich zu machen, dass »Intellekt und die Bibel Maßstab des Ordenslebens waren«. 18 Die Frauenklöster führten die Praxis des Lesens und Schreibens christlicher Texte fort; lesen und schreiben zu können zählte zu den elementaren Fähigkeiten etlicher Nonnen in den Klöstern des Mittelalters – und lesen und schreiben zu dürfen zu ihren Privilegien. Lesefähigkeit und Schreibfertigkeit zeigten sich in reich ausgestatteten Skriptorien und Bibliotheken – zentrale Elemente monastischer Kulturprägung. Nonnenskriptorien waren wohl bereits im frühen Mittelalter 15 Der Rückbezug auf den bewusst geäußerten – oder wahlweise nicht explizit geäußerten – Willen Christi ist mithin bis heute in der Ablehnung der Frauenordination ein Argument, vgl. folgendes Zitat: »Jesus hat bewusst nur Männer als Apostel berufen, als Stammväter des neuen Israel, die ihn dann zu vergegenwärtigen hatten auch im christlichen Kult.« R. Voderholzer: Predigt zur Eröffnung des Kongresses »Freude am Glauben« in Ingolstadt am Freitag, 14. Juni 2019, www.bistum-regensburg.de /news /als-mann-und-frau-schuf-ersie-bischof-voderholzer-zur-ehe-zum-weiheamt-und-zur-gender-ideologie-6806/, Zugriffsdatum: 18.06.2020. 16 Zit. nach C. Krumeich, Hieronymus und die christlichen feminae clarissimae, Bonn 1993, 223. 17 Vgl. S. Elm, ›Virgins of God‹. The Making of Ascetism in Late Antiquity, Oxford (1994) reprinted 2004, 95. 248. 18 R. Heyder, Selbst ist die Frau. Frauenaufbrüche vom Mittelalter bis zum Zweiten Vatikanum, in: Herder Korrespondenz 7/2019, 13–15; hier: 13.

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kein isoliertes Phänomen, schreibende Klosterfrauen, die nicht selten von adliger Herkunft waren, keine Seltenheit. Noch heute künden Klosterbzw. Stiftsbibliotheken von einer Tradition, in der Lesen und Schreiben, Denken und Forschen zu den genuinen Tätigkeitsfeldern vieler Mönche und Nonnen gehörte. Damit wird sehr früh in der Geschichte des Christentums die Verbindung von Freisetzung durch Bildung auf dem Feld der Nachfolge Jesu Christi deutlich. Die Frauen lebten in asketischer Beschränkung und gleichzeitig in der Entgrenzung der ihnen zugeschriebenen Rollenmuster. Das Nachfolgemotiv, das für die clarissimae der frühen Zeit maßgeblich war, wurde gerade durch ihre Bildung zu einem den individuellen Lebenslauf gestaltenden Faktor, auch da sie sich selbst als handlungsmächtig erfuhren und die Umstände ihrer Nachfolgepraxis eigenbestimmt gestalten konnten. Christinnen erhielten so gesellschaftsprägende Kraft. c)

Bildung – Frauenleben als »umkämpftes Terrain«

Das Feld der Bildung legt aber auch die Dramatik vieler Frauenleben offen. Es ist in Frauenbiografien stets durch einen paternalistischen Machtzugriff charakterisiert. Bei aller Unterschiedenheit der Zeitläufte – von der Antike bis hin zur Aufklärung oder der Bildungsrevolution der 1968er –, bei aller Differenziertheit individueller Lebensverläufe: Frauen hatten, was ihre Bildungs- und Lernchancen anging, über Jahrhunderte das Nachsehen. Ihnen waren enge kulturelle und gesellschaftliche Grenzen gesetzt, die sie nur selten überschreiten konnten, besser gesagt: durften, denn stets befanden sich Frauen innerhalb eines patriarchal organisierten Erlaubnisdispositivs. Möglich war ihnen allerhöchstens, was ihnen zugestanden wurde. Bildung war für Frauen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nie durch freie Wahl greifbar, sondern stand unter Zwängen und Vorbehalten, manche davon galten für Männer und Frauen gleichermaßen, viele aber betrafen in besonderer – und besonders einengender – Weise nur Frauen. Bildung ist in Frauenbiografien damit ein enorm machtbesetztes Feld, das trotzdem auch Machtgrenzen sprengen konnte und kann. 19 Ob Frauen lesen lernen durften, entschieden nicht sie selbst, sondern (je nach Gesellschaftsschicht und Region) der Vater bzw. der Familien19 Nicht umsonst ist Frauenbildung in fundamentalistischen und misogynen, patriarchalen Gesellschaften eine Bedrohung, die zu erreichen Frauen und Mädchen nicht selten mit Leib und Leben bezahlen. Paradigmatisch für die Gefährdung von Frauenleben auch heute, die Macht und gleichzeitig die Ohnmacht von Frauen und Mädchen im Umfeld von Bildung, steht die Biografie von Malala Yousafzai, die, nachdem sie als 12-jährige bildungsbegeisterte Bloggerin einen Anschlag der Taliban überlebte und seitdem in Großbritannien lebt, eine Stiftung für Mädchenbildung gegründet und im Jahr 2018 für ihr Wirken den Friedensnobelpreis erhalten hat. Vgl. www.malala.org, Zugriffsdatum: 18.06.2020.

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verbund, und selbst in Klöstern bzw. Ordensgemeinschaften hatten sich die Frauen anderen Zulassungszwängen zu unterwerfen. Die Äbtissin, die Priorin, die Generaloberin wählten in der Regel den Einsatzort der Frauen. Mit anderen Worten: Andere Personen entschieden über die Zulassung zu Bildung, über die spezifische Form der Nachfolge, über die Art der christlichen Sendungserfüllung. Trotzdem entwickelten Klöster und Ordensgemeinschaften für Frauen eine besondere Bedeutung. Denn in den Klöstern und Ordensgemeinschaften konnten Frauen die ihnen aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Herkunft zugeschriebenen Begrenzungen, die kulturell und religiös festgelegten Machtverhältnisse zumindest innerhalb eines bestimmten – wiederum kulturell und religiös erlaubten und von den Oberen definierten – Rahmens ausloten. 20 Die Möglichkeiten, die sich Frauen in Ordensgemeinschaften boten, reichen weit über die Horizonte einer bis zum 19. Jahrhundert hinein »normalen« Frauenbiografie hinaus. Die Orden waren lange Zeit Prägeorte für menschliches Lernen und Bildung in der Spur der Christus-Nachfolge – und gerade, weil Bildung für Frauen in der patriarchal strukturierten Gesellschaft bis weit ins 19. Jahrhundert hinein kaum oder gar nicht vorgesehen war, spiegelt sich darin die befreiende Dimension einer christlich motivierten Bildung. Die Bibel bzw. deren »Lektüre« kann als Bindeglied von Nachfolgeund Bildungsmotiv im Leben von Frauen gedacht werden: Die Nachfolgegeschichten, die die Bibel schildert, und die Geschichten der Frauen, die »nach Ostern« in die Nachfolge treten wollten, können dabei miteinander ins Gespräch gebracht werden. Denn Frauen, die – den Männern gleich – aufgrund ihrer Begegnung mit Jesus bzw. der Bibel in die Nachfolge treten wollten, gerieten sehr schnell an die Grenzen ihrer Gestaltungsmöglichkeiten. Damit hat die Bibel in einem doppelten Sinne eine direkte Verbindung v.a. zur Bildung von Frauen: a) Die Bibel ist eine Art »Sehnsuchtsobjekt« gläubiger Frauen. Sie zu lesen ist ein Akt der Selbst-Ermächtigung innerhalb prekärer Machtrelationen, ein Akt der Gestaltung des eigenen Welt-Selbst-Verhältnisses, also ein Bildungsakt; schließlich wurde Frauen der Status der Bildungssubjekte, d.h. eigenständige, reflektierende, resonanzfähige Leserinnen der biblischen Schriften zu sein, aufgrund ihres Geschlechts allzu lange verwehrt. b) Bibel ist gleichermaßen Präsenzraum des Bildungsmotivs, in den genau jene Vorstellungen und Interpretationen eines aktiven Orientierungsprozesses eingeschrieben sind, die mit dem Begriffsfeld Bildung heute umrissen werden. Die Bibel wäre damit die Basis für ein bestimmtes Verständnis von Bildung und menschlichem

20 Vgl. ausführlich und mit weiteren Nachweisen Leimgruber, Kap. 3: Schmelztiegel weiblicher Entfaltungsmöglichkeiten: Ein Blick auf die Geschichte der Frauenorden, in: dies., Avantgarde in der Krise, 29–196.

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Lernen: als Grundlage eines existenziellen Lern- und Deutungsprozesses derer, die die Bibel lesen. 21 Es geht dabei um zweierlei, nämlich Ziel und Ermöglichungsrahmen von Bildungsprozessen. Bibel ist das »Auf-etwas-hin« und das »Von-etwasher«, das christliches Leben ebenso wie Bildung im besten Sinne ermöglicht und Person und Welt verändert – und zwar im Konnex mit der Nachfolge Jesu Christi. Im Folgenden wird dieses Bildungspotenzial der Bibel mit dem Begriffsfeld der Nachfolge im Umfeld der Geschichte von Frauen in Ordensgemeinschaften exemplarisch verknüpft. Einige wenige Frauen und ein kurzer Blick auf ihre Biografien bzw. deren Überlieferungen mögen dies verdeutlichen. 2.

Nachfolge – eine mehrdimensionale Annäherung

Unter Nachfolge 22 wird zumeist alles das subsumiert, was »Jesus Christus, gemäß den Evangelien, von seinen Jüngern (und Jüngerinnen) erwartet. Dementsprechend ist mit Nachfolge alles zu verbinden, was in den Evangelien mit den Begriffen ›Jüngerschaft‹ und ›Sendung‹ sowie mit den Verben ›(nach)folgen‹, ›glauben‹ und ›dienen‹ über Jesu Gefolgschaft ausgesagt wird.« 23 Interessant für den Fokus auf die Frauen in der Gefolgschaft Jesu ist der Blick in die Evangelien, einerseits um einen Begriff des Nachfolgemotivs herauszuschälen, andererseits um jene Frauen in den Blick zu nehmen, die für viele der nachfolgenden Frauen, die sich, häufig gegen Widerstände, in Jesu Nachfolge gestellt haben, Role Models und Vorbilder waren. 21 Zur Bedeutung der Bibel als Ressource für Emanzipationsprozesse von Frauen und den kritischen Reaktionen der patriarchalen Kontexte vgl. z.B. Heyder, Selbst ist die Frau. Dass es über die Jahrhunderte unzählige Frauen gab, die eigenständig die Bibel lasen, meditierten oder ausdeuteten, und hier mit Hilfe einer breiten Bildung auch philologische Textkritik übten, zeigt Irmtraud Fischer auf: I. Fischer u.a., Die Bibel und die Frauen. Eine exegetischkulturgeschichtliche Enzyklopädie, Stuttgart 2010. 22 Das Feld des Nachfolgemotivs ist äußerst heterogen. Mit ihm verbindet sich eine breite Auslegungs- und Überlieferungsgeschichte, sodass hier lediglich eine Verortung, wenngleich keine eingehende Diskussion stattfindet. 23 So Peter J. M. A. van Ool mit Verweis auf Karl Barth; P. J. M.A. van Ool, Befreiende Praxis der Nachfolge. Biblische, historische und befreiungstheologische Impulse zur Nachfolge Jesu, des Christus, Würzburg 2000, 13. Zumeist wird Nachfolge von Nachahmung unterschieden; Nachfolgen (sequi) weist auf ein persönliches Bindungsverhältnis hin, das das ganze Leben betrifft, Nachahmen (imitari) meint eher ein Gleichtun, einen »inneren Nachvollzug, eine Angleichung in der Gesinnung«; ebd. 14. Dass die beiden Begriffe miteinander zusammenhängen, jedoch nicht deckungsgleich sind – Nachahmung ist gewissermaßen ein Teilaspekt der Nachfolge –, z.T. aber deckungsgleich verwendet wurden, ist in der christlichen Spiritualitätsgeschichte von Belang, soll jedoch an dieser Stelle nicht näher vertieft werden. Auch wenn in diesem Zitat von »Jüngern und Jüngerinnen« die Rede ist, soll im Folgenden der neutestamentlich passendere Begriff »Schüler und Schülerinnen« verwendet werden.

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Von Jesus selbst in die Nachfolge berufen

Der Ruf von Frauen in die Nachfolge ist – wenn es nicht dem konventionellen Rahmen des jeweiligen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontextes entspricht – oft mit Widerständen verbunden. Als Beispiele seien hier Neugründungen von Ordensgemeinschaften »nach Art der Männer« oder der Kampf von Frauen um eine apostolische Form der Nachfolge außerhalb der strengen Klausurvorschriften angeführt. Die Schwierigkeiten von Frauen in der Realisierung ihrer Nachfolgeformen ist verknüpft mit Selbstbestimmungskonflikten, d.h. Auseinandersetzungen in und mit Machtverhältnissen, in der Regel im Kontext von Bildungsbestrebungen. Viele der Leitbilder, Handlungsmuster und Lebensformen, die religiöse Frauen im Laufe der Jahrhunderte für sich beanspruchten, wurden von ihnen direkt auf den Ruf Jesu und ihr Verständnis der biblischen Schriften zurückgeführt. Nachfolge ist dabei eines der Schlüsselmotive, an dem sich der Streit festmachte. Kommt her – mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. Und sogleich ließen sie ihre Netze liegen und folgten ihm nach. (Mk 1,17f)

In den synoptischen Evangelien scheint »nachfolgen« als der Inbegriff des Schüler*inseins des irdischen Jesus zu gelten. Jesus ruft, fordert auf, ergreift die Initiative (vgl. Mk 1,17; 2,14; Mt 4,19; 8,22; Lk 9,59). Wer von Jesus aufgefordert wird, ihm nachzufolgen, geht mit ihm mit und teilt sein Leben eines Nicht-Sesshaften. Der Appell Jesu richtet sich zumeist nicht an Gruppen oder das ganze Volk, sondern an einzelne Menschen; sein Ruf ist dringlich und duldet keinen Aufschub, der Ruf wird zur höchsten Priorität im Leben der Gerufenen. 24 Die Berufung geht von Jesus mit Vollmacht aus, 25 und seine Vollmacht wird dabei nicht hinterfragt. Immer wieder berichten die Evangelien auch von Menschen, die Jesus aus eigener Motivation heraus bitten, in seine Nachfolge treten zu dürfen – auch hier bestimmt schließlich Jesus über die Zugehörigkeit (vgl. Mk 5,18f; Mt 8,18.22; Lk 9,57f.61f). Es ist eindeutig: Jesus ist Herr über die »Auswahl«, von ihm geht die Berufung zur Nachfolge aus, an ihm hängt die Bestätigung des Rufs. Dass der Ruf zur Nachfolge von Christus selbst ausgeht, ist auch für viele der Frauen in den Jahrhunderten danach unanzweifelbar – und damit auch unhinterfragbar. Sie müssen sich oft dagegen wehren, dass ihr (patriarchales) Umfeld ihre Berufung nicht anerkennt oder gar torpediert. Bis heute ist die Berufung von Frauen ein Streitthema, z.B. wenn es um die Frage nach der Berufung zum Priestertum (und deren »Echtheit«

24 25

Vgl. U. Luz, Nachfolge Jesu I, TRE 23, Berlin /New York 1994, 678–686; hier: 680. Vgl. m.w.N. van Ool, Befreiende Praxis der Nachfolge, 182f.

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bzw. Autorität) geht. 26 Eine, die sich ihrer spezifischen Berufung durch Christus sicher war und nicht nachgelassen hat, dieser so zu folgen, wie sie es verstanden hat, ist Mary Ward (1858–1645), Gründerin der »Englischen Fräulein«. Nach einigen Jahren des Suchens nach einem religiösen Leben jenseits der traditionellen Klosterklausur hatte Mary Ward den Ruf Gottes »gehört«: »Take the same as the society« – was für sie hieß: eine religiöse Frauengemeinschaft nach der Regel der Jesuiten. 27 Keine andere Lebensweise kam ab dato für sie mehr in Betracht. Es war ein Ruf von göttlicher Autorität, der für sie über allem menschlichen Entscheiden stand. Ihm nachzufolgen bedeutete für Mary Ward persönlich: Kampf, Widerstand, Niederlagen und zu ihren Lebzeiten das Scheitern ihres Vorhabens. Doch in ihrer überzeugten Nachfolge machte sie auch die Erschütterungen in den Machtkonstellationen ihrer Zeit offenkundig. Mary Ward beanspruchte aus dem Hören eines göttlichen Rufs heraus die Regel des Jesuitenordens für ihre Gemeinschaft, und das hieß für sie: »kein Leben hinter Klostermauern, sondern Leben in Gemeinschaft und offenen Häusern; eine gründliche Ausbildung und Studien für die Mitglieder, um die Aufgabe der Erziehung und Bildung entsprechend umsetzen zu können; keine Bindung an den Diözesanbischof, sondern ein zusätzliches Gehorsamsgelübde gegenüber dem Papst, um im umfassendsten Sinn Missionarinnen für die katholische Sache zu sein.« 28 Als ihre Hauptaufgabe formulierte Mary Ward die Bildung und Erziehung von Mädchen; sie gründete etliche Schulen, in denen Mädchen kostenlos unterrichtet wurden. Die florierenden Schulen wurden von Papst und Kardinälen, häufig ohne weitere Begründung, geschlossen. Trotz ihres unermüdlichen Einsatzes wurden die »Jesuitinnen« 1631 von Papst Urban VIII. verboten; Mary Ward musste sogar für einige Monate als Gefangene der Inquisition ins Gefängnis. Ihre Bildungsbemühungen wurden als Ungehorsam und Auflehnung gegen die Kirche interpretiert. Trotz der Rehabilitierung durch den Papst blieb den »Englischen Fräulein« der Status einer geistlichen Gemeinschaft versagt, jegliche apostolische Tätigkeit blieb verboten. Mary Ward starb 1645 im Glauben, dass ihr Werk gescheitert sei. Dennoch setzte sich nach ihrem Tod ihr Gründungsimpuls fort, ihr Institut breitete sich wieder aus; doch erst 2004 erhielten die »Jesuitinnen« ihre endgültige Konstitution und den Namen Congregatio Jesu. Die Bedeutung der Frauenorden und der Schulen in ihrer Trägerschaft für die Mädchenbildung sind vielerorts beispielhaft. 29

26 Vgl. B. Velik-Frank, Die Donaupriesterinnen »Danube Seven«. Eine heterotope Provokation, Graz 2017. 27 Vgl. zu Mary Ward m.w.N.: Leimgruber, Avantgarde in der Krise, 179ff. 28 Leimgruber, Avantgarde in der Krise, 180f. 29 In Bayern beispielsweise waren die »Englischen Fräulein« in Regensburg Pionierinnen: 1916 legte in der Ordensschule in Regensburg die erste Gruppe von bayerischen Schülerin-

180 e)

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Personelle Bindung in totaler Hingabe Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. (Mk 10,28)

Die biblischen Texte machen immer wieder deutlich, dass der Ruf in die Nachfolge eine radikale Entscheidung zur Folge hat. Jesus folgen geht einher damit, »alles zu verlassen« (neben Mk 10,28 z.B. auch Lk 5,11.28): »Nachfolge beansprucht den Menschen ganz und fordert [. . . ] rückhaltlose Aufgabe der bisherigen Existenz.« 30 Dazu gehören nicht nur der Verzicht auf Besitz (vgl. Mk 10,21.29f), das Zurücklassen von Beruf (vgl. Mk 1,18ff; Lk 5,11) und verwandtschaftlichen Bindungen (vgl. Mk 10,29f; Mt 10,37), sondern auch eine veränderte Einstellung zum Leben: Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert. (Mt 10,38)

Nachfolge ist ein völliges Neuordnen und -gestalten der lebensprägenden Paradigmen, es braucht offenkundig erst den Bruch mit familiären, beruflichen und materiellen Bindungen, bevor es zu neuen Bindungen und Orientierungen kommen kann. Nur wer umdenkt 31 (vgl. Mk 1,15) und seine bisherige Lebensführung grundlegend hinterfragt, ist geeignet für die Nachfolge Jesu und zum Dienst an der Gottesherrschaft (vgl. Lk 9,62). Der Bruch mit den bisherigen Konventionen ist nicht schon die Nachfolge selbst, sondern die Voraussetzung für die bedingungslose Nachfolge, die sich vollständig auf den Messias und das Gottesreich bezieht und letztlich in totaler Hingabe besteht (vgl. Mt 10,39). Wer sich in die Nachfolge stellt, bindet sich an Jesus: personell, emotional und theologisch im Glauben an seine Botschaft. Für die Schülerinnen und Schüler des irdischen Jesus bedeutet es erst einmal ganz schlicht, mit Jesus zu leben, mit ihm durch die Dörfer und Städte zu ziehen, mit ihm eine neue Lebens- und letztlich auch Schicksalsgemeinschaft einzugehen. 32 Dies ist nicht nur ein alternativer, sondern ein riskanter und in letzter Konsequenz lebensgefährlicher Lebensstil; das Logion von der Kreuzesnachfolge bemisst dies eindrücklich (vgl. Mt 10,38; 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23; 14,27). nen das Abitur an ihrer eigenen Schule ab. Bis dahin hatten sich Mädchen extern auf die Prüfung vorbereiten und dann an einer Knabenschule den Prüfungen unterziehen müssen. Vgl. D. Adler (Hg.), Nur Frauen. Der Weg zum ersten bayerischen Mädchenabitur 1916 bei den Englischen Fräulein in Regensburg. Begleitpublikation zur Ausstellung, Staatliche Bibliothek Regensburg, Regensburg 2016. 30 Van Ool, Befreiende Praxis der Nachfolge, 185. 31 So die wörtliche Übersetzung des in der Einheitsübersetzung mit »umkehren« wiedergegebenen metanoein. Vgl. T. Nicklas, Buße tun heißt »Um-Denken«! Neutestamentliche Perspektiven, in: S. Demel /M. Pfleger (Hg.), Sakrament der Barmherzigkeit. Welche Chance hat die Beichte?, Freiburg im Breisgau 2017, 383–400; hier: 383f. 32 Vgl. van Ool, Befreiende Praxis der Nachfolge, 190f.

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Mit Clara von Assisi (1194–1253) soll hier eine von zahllosen (und viel zu oft auch namenlosen) Frauen vorgestellt werden, die die von den Evangelien umfasste Nachfolgeradikalität über 1000 Jahre nach den historischen Ereignissen um Jesus von Nazareth realisiert hat. Clara gilt als Role Model für viele Frauen, die ihrer Nachfolge in radikaler Verbundenheit mit dem Evangelium Ausdruck verleihen wollten; sie hat neben Franziskus von Assisi und inspiriert von dessen Radikalität und Spiritualität in konsequenter Hingabe und Armut gelebt. Franziskus ist sicher eine der prägendsten Figuren, die Nachfolge als christlich radikale Existenz verstanden haben; seine durch das Evangelium initiierte und öffentlichkeitswirksame Distanzierung von seiner Familie und seinem bisherigen Leben im Jahr 1206 gehört zu den bekanntesten Narrativen christlichen Lebens. Auch Clara brach – nach mehreren Gesprächen mit Franziskus – aus ihrer Lebenswelt einer Adligen aus, wurde 1212 gegen den Willen ihrer Familie von Franziskus eingekleidet, und ging schließlich nach San Damiano, wo sie in vollkommener Armut Christus nachfolgte. Nun wäre aber die Geschichte von Clara nur unzureichend beleuchtet, würde man nicht auch bei ihr den Aspekt, der im Kontext mit dem hier vorgestellten Bildungsverständnis steht, miteinbeziehen. Denn zunächst einmal war das Leben in radikaler Nachfolge für Frauen im 13. Jahrhundert nicht im gleichen Maß möglich wie für Männer: Während die männlichen franziskanischen Ordensbrüder in der Öffentlichkeit auftreten konnten, z.B. durch Predigt, soziale Arbeit oder Betteln, lebten die Frauen ausschließlich in strenger Klausur. Clara wollte sich ihre Vorstellung von religiösem Leben in absoluter Armut päpstlich bestätigen lassen 33 und erkämpfte sich das Privileg, arm und ohne Privilegien leben zu dürfen. Da ihr aber die von Papst Innozenz III. vorgelegte Konstitution nach der Benediktsregel nicht entsprach (diese kennt Armut nur als Verzicht auf Privateigentum, nicht jedoch als Verzicht auf kollektiven Besitz), schrieb sie gegen Ende ihres Lebens eine eigene Regel: als erste Frau in der Geschichte. Zwei Tage bevor Clara starb, wurde ihre Regel am 9. August 1253 von Papst Innozenz IV. approbiert.

f)

Nachfolge als »sehen« und lernen . . . lernt von mir (Mt 11,29)

Ein Aspekt des biblischen Nachfolgemotivs ist das Lernen. Jesus wird mehrfach als Lehrer und Meister betitelt (vgl. Mt 17,24; 23,8; Mk 10,20); er unterweist das ganze Volk, besonders aber jene, die er in die direkte

33 Seit dem Vierten Laterankonzil 1215 war die Gründung von Ordensgemeinschaften mit neuer Ordensregel eigentlich untersagt.

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Nachfolge gerufen hat. Diese in die Nachfolge berufenen Begleiterinnen und Begleiter Jesu sind im Wortsinn Schülerinnen und Schüler, d.h. eine irdische Lerngemeinschaft: Sie sollen auf sein Wort hören und von ihm lernen. 34 Nicht immer sind sie lernwillig bzw. lernfähig, und dennoch ist Lernen eine Grundbedingung für ihre Aufgabe, das Reich Gottes zu verkündigen in Wort und Tat. Dabei hat das Lernen nicht nur eine epistemologische und eine ethische Ebene, sondern stets auch eine theologische: Sehen lernen heißt glauben lernen. Besonders das Johannesevangelium fokussiert auf diesen Aspekt. »Kommt und seht!« (Joh 1,39) sind die Berufungsworte des johanneischen Jesus. Auch die Heilung des Blindgeborenen (Joh 9,1–41) ist in diesem Sinne ein »Bildungsweg«, bei dem nicht zuletzt verschiedene Weisen des »Blindseins« und »Sehens« differenziert werden. »Sehen« und »Nachfolge« gehören zusammen, denn erst als sehende Person kann Jesus als der erkannt werden, der er ist: der Messias. Nachfolge heißt also auch, erkennen, wer Jesus ist, und das heißt, vorbehaltlos vertrauen, oder, mit anderen Worten: glauben. Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben. (Joh 8,12)

Der Verweis auf das Licht im Johannesevangelium lässt die Wahrheit assoziieren, und Wahrheit hat weniger mit der rechten Theorie, sondern mit dem rechten Handeln, dem »Tun« der Wahrheit, zu tun: Die Selbstaussage Jesu ist an dieser Stelle des Johannesevangeliums direkt verknüpft mit Nachfolge als orientierender Matrix. 35 Tiefe religiöse Glaubenserkenntnis als Orientierung in der Dunkelheit ist von zahllosen Mystikerinnen belegt. V.a. im Hochmittelalter blühte die Frauenmystik auf, 36 oft in enger Verbindung mit der Spiritualität der Armutsbewegung. Hier fanden die Frauen zu einer Vereinigung mit Christus »ohne vermittelnde Zwischeninstanzen«, 37 die ihnen die Richtung vorgaben (Christus selbst gibt die Richtung, die Orientierung vor!), und genau diese Gottesunmittelbarkeit war es mithin auch (u.a. wegen der schrumpfenden Bedeutung kirchlicher Mittlerinstanzen), die die Frauen nicht selten dem Häresieverdacht aussetzte. 38 Die Mystikerinnen traten

34 Vgl. van Ool, Befreiende Praxis der Nachfolge, 192. 35 Vgl. K. Wengst, Das Johannesevangelium. Neuausgabe, Stuttgart 2019, 261; M. Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1–12, Regensburg 2009, 568f. 36 Es ist zumindest erwähnenswert, dass – im Gegensatz zu den männlichen Heiligen – fast alle weiblichen Heiligen und Seligen des 13./14./15. Jh. auch Mystikerinnen waren, vgl. mit Verweis auf P. Dinzelbacher: Leimgruber, Avantgarde in der Krise, 117. 37 I. Schmale, Frauen und ihr Glaube im Hoch- und Spätmittelalter, in: dies., Anstifterinnen. Was die Kirche den Frauen verdankt, Düsseldorf 1999, 67–84; hier: 73. 38 Die Begine Marguerite Porète (ca. 1250/60–1310) veröffentlichte im Altfranzösischen ein theologisch-spirituelles Werk: Le miroir des simples âmes (Spiegel der einfachen Seelen). Sie wurde von der Inquisition dafür verurteilt und gemeinsam mit dem Buch als Häretikerin

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mit Autorität auf, sie schrieben in der jeweiligen Volkssprache und nicht selten veröffentlichten sie ihre Schriften auch. Eine Hauptfigur deutscher Mystik ist die Begine Mechthild von Magdeburg (ca. 1208/10–1282/83). Sie lebte mehr als 30 Jahre als Begine in Magdeburg und hatte bereits als zwölfjährige erste mystische Erfahrungen, als sie, wie sie selbst sagte, vom Hl. Geist angeredet wurde. Ihr Werk Das fließende Licht der Gottheit wurde in Niederdeutsch aufgezeichnet und in sechs Büchern veröffentlicht; es ist die erste im deutschen Sprachraum entstandene mystische Schrift in der Volkssprache. Bis dato galt theologische Literatur in der Volkssprache als »theologieunfähig«. 39 Mechthild schrieb über die mystische Vermählung der Seele mit Christus. Ihre Schrift enthielt aber auch kritische Passagen über den ausschweifenden Lebenswandel des Klerus ihrer Zeit, sodass sie in Bedrängnis geriet und sich schließlich ins benachbarte Zisterzienserinnenkloster Helfta zurückzog. 40 Dort fand sie nicht nur Schutz vor den Verfolgungen, sondern auch spirituell und theologisch Verwandte: die Äbtissin Gertrud von Hackeborn, Mechthild von Hackeborn und Gertrud von Helfta, genannt die Große. Helfta war ein intellektueller Schmelztiegel, Gertrud von Hackeborn sorgte dafür, dass die Frauen und Mädchen eine exzellente Bildung bekamen, denn dies war ihrer Ansicht nach die Voraussetzung dafür, Bibel und Glauben verstehen zu können. 41 Auch Gertrud die Große hatte Visionen, Christus erschien ihr. Die Aufzeichnungen ihrer Visionen sind in zwei Büchern überliefert: Legatus Divinae pietatis (Der Gesandte der göttlichen Liebe) und Exercitia spiritualia (Die Geistlichen Übungen). Gertrud betrachtete sich aufgrund ihrer Erkenntnisse, die sie auf Christus selbst zurückführte, als teilhabend am geistgewirkten Amt, auf der Grundlage des gemeinsamen Priestertums, zu dem sie sich u.a. durch die Taufgnade autorisiert sah. Neben die Legitimierung durch das kirchliche Amt stellte sie mit geradezu prophetischem Anspruch die Autoritätsbegründung durch ihre mystische Christusbeziehung. Gertrud die Große gilt heute als eine der größten deutschen Mystikerinnen.

auf dem Scheiterhaufen in Paris verbrannt. Vgl. I. Leicht, Marguerite Porète. Eine fromme Intellektuelle und die Inquisition, Freiburg im Breisgau 1999. 39 H. Keul, Der ungelehrte Mund der Frauen. Eine verschwiegene Autorität in der Frage nach Gott, in: M. Delgado /G. Fuchs (Hg.), Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung, Band 1: Mittelalter, Fribourg 2004, 225–246; hier: 228: Vgl. dies., Verschwiegene Gottesrede. Die Mystik der Begine Mechthild von Magdeburg, Innsbruck 2004. 40 Der Bischof von Olmütz ereiferte sich z.B. darüber, dass »sich Laien-Frauen als religiosi verstehen; dass sie sich keiner Ordensdisziplin unterwerfen; dass sie dem Pfarrklerus nicht gehorchen; und dass sie öffentlich das Wort ergreifen – ›geschwätzig‹, wie der Bischof dies nennt«, so Keul, Der ungelehrte Mund, 235. 41 Vgl. m.w.N. Leimgruber, Avantgarde in der Krise, 120.

184 g)

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Diakonie als Prinzip von Nachfolge Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus! (Mt 10,7f)

Einer der zentralen Inhalte von Nachfolge ist kondensiert im Begriff »diakonia« bzw. »dienen«, dessen genaue Bestimmung allerdings in Tradition und Interpretation nicht eindeutig war und ist, gerade auch im Hinblick auf Frauen in der Nachfolge Christi. 42 Wer sich in die Nachfolge Jesu begibt, stellt sich automatisch in den Dienst des Reiches Gottes – darum soll es den Jüngerinnen und Jüngern zuallererst gehen (vgl. Mt 6,33). Dienst am Reich Gottes bedeutet Verkündigung des Evangeliums und heilende Tat in gegenseitiger Verwiesenheit. Darin kulminieren Botschaft und Wirken Jesu Christi, und von daher bezieht Nachfolge ihre je vergegenwärtigende Bedeutung. Nachfolge Jesu kann nur als Dienst an der Reich-Gottes-Botschaft verstanden werden, und dieser Dienst ist vom Evangelium her klar als heilend und befreiend bestimmt. 43 Wer sich auf Gott und seine basileia beruft, wird sich auch in seinem eigenen Handeln auf die biblische »Wahrheit« des Evangeliums befragen lassen müssen. Jesus weist sich selbst und diese »Wahrheit« auf Anfrage Johannes des Täufers darin aus, dass er im Anschluss an den Propheten Jesaja ausrichten lässt: »Blinde sehen wieder, Lahme gehen und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium verkündet« (Lk 7,22). Hier wird deutlich, wer Jesus ist. Seine Antwort ist indikativisch, und damit macht Jesus klar, dass »in seiner Botschaft das Heil Gottes als bereits jetzt für Menschen erfahrbares Heil anbricht und eine Botschaft von Heil und Befreiung nur dann authentisch ist, wenn Menschen Heil und Befreiung als eigene Wirklichkeit erfahren können.« 44 Jesus legt Zeugnis ab von der unbedingten, unverfügbaren Zuwendung Gottes zum Menschen, und diese Zuwendung Gottes zum Menschen motiviert schließlich die Menschen selbst zu einem heilenden und befreienden Tun im Raum der Heilszuwendung Gottes. Jesu Existenz ist eine durchgehend diakonische Existenz, »[d]ementsprechend leistet sich Jesus selbst keine Rede von Gott außerhalb konkreter, heilender und rettender Begegnung.« 45 Die biblische Überlieferung zeigt auf, dass im Hinblick auf das Reich Gottes das Handeln des Menschen in genau dieser 42 Vgl. u.a. L. Schottroff, Frauen in der Nachfolge Jesu in neutestamentlicher Zeit, in: dies., Befreiungserfahrungen. Studien zur Sozialgeschichte des Neuen Testaments, München 1990, 96–133 und A. Hentschel, Gemeinde, Ämter, Dienste. Perspektiven zur neutestamentlichen Ekklesiologie, Neukirchen-Vluyn 2013. 43 Vgl. H. Haslinger, Diakonie. Grundlagen für die soziale Arbeit der Kirche, Paderborn 2009, 273–300. 44 Haslinger, Diakonie, 283. 45 O. Fuchs, Heilen und befreien. Der Dienst am Nächsten als Ernstfall von Kirche und Pastoral, Düsseldorf 1990, 27.

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Perspektive zählen wird: Entscheidend wird sein, ob Hungernde zu essen, Dürstende zu trinken bekommen haben, ob Obdachlose aufgenommen wurden, Nackte Kleidung erhalten haben, ob Kranke und Gefangene besucht worden sind (Mt 25,31–46). Die Praxis einer solchen heilendbefreienden Nachfolge ist »das Ereignis der ansatzhaften Vergegenwärtigung des Reiches Gottes im Leben der Menschen« 46 und damit Zeugnis von Gott. . . . die das Wort Gottes hören und tun (Lk 8,21)

Die Aufforderung zur Nachfolge in den Evangelien ist mit einer Veränderung der sozialen Bezüge und einer Neuausrichtung des Handlungsfokus’ verbunden. Diejenigen, die Christus nachfolgen, bilden eine neue »Familie«; sie sind seine Brüder und Schwestern, als solche sind sie gesandt. Dies setzt sich fort: Die rechte Nachfolge und damit die Zugehörigkeit zur »neuen Familie« Christi wurden auch nachösterlich in den christlichen Ordensgemeinschaften als diakonische Nachfolge thematisiert. Dienst an Armen und Kranken, an Pilgernden und Hilflosen gehörte von Anbeginn an zu den Grundpfeilern apostolischen Lebens. Den Menschen nach dem Vorbild Jesu Christi und in ihnen Christus selbst helfend und liebend zur Seite zu stehen und darin dem Verkündigungs- und Nachfolgeauftrag gerecht zu werden, war für viele Frauen zu allen Zeiten zentraler Beweggrund ihres Handelns. 47 Seit die ersten Frauen sich zu religiösen Gemeinschaften zusammengefunden hatten, waren sie in vielerlei Hinsicht diakonisch tätig. Während die Asketinnen des frühen Christentums mit großer Selbstverständlichkeit den Armen halfen und dies als untrennbar mit ihrem asketischen Leben ansahen, wurde die helfende Tat von Ordensfrauen im Laufe der Zeit immer schwieriger, denn ihr Handlungsraum wurde zunehmend beschränkter. Sozial-diakonisches Engagement von Ordensfrauen v.a. außerhalb der Klosterklausur war zu allen Zeiten ein mehr oder weniger großer Zankapfel. Es war keine Selbstverständlichkeit, dass religiosae Armen und Kranken beistehen konnten, da sie ihr Kloster nicht verlassen und mit niemandem außerhalb der Gemeinschaft Kontakt haben durften. Die Frauen kämpften für ihr Verständnis einer apostolisch-diakonischen Nachfolgepraxis. Die tridentinische und nachtridentinische Epoche hatte die Kritik am vermeintlich »freien« Leben der Frauengemeinschaften auch kirchenrechtlich verankert, so dass sich Frauen mit innovativen Wünschen rasch in einer 46 Haslinger, Diakonie, 302. 47 Vgl. die beiden Sammelbände A.M. von Hauff (Hg.), Frauen gestalten Diakonie, Bd. 1: Von der biblischen Zeit bis zum Pietismus, Stuttgart 2007; dies. (Hg.), Frauen gestalten Diakonie, Bd. 2: Vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006. Der zweite Band stellt Frauen vornehmlich aus dem protestantischen Milieu vor, während der erste Band auch für die nachreformatorische Zeit katholische und protestantische Beispiele schildert.

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unrechtmäßigen Position wiederfanden oder ihre Lebensform wenigstens rechtfertigen mussten. Trotz vieler Widerstände gründeten Frauen neue Gemeinschaften, auch aus ihrem Verständnis von Berufung und biblischem Nachfolgeauftrag heraus. Sie wollten einen aktiven Platz in Kirche und Gesellschaft einnehmen, die Schwierigkeiten waren zu allen Zeiten eng verbunden mit Zuständigkeiten, Macht- und Erlaubnisdiskursen und damit auch Bildungschancen. Erst mit dem 19. Jahrhundert war die Zeit für apostolisches Wirken religiöser Frauengemeinschaften gekommen. Es entstanden die großen Kongregationen – franziskanische, jesuitische, dominikanische Gemeinschaften, die sich v.a. erzieherischen, pflegerischen oder missionarischen Tätigkeiten widmeten –, Jahre bevor sich Staat oder Kirche der »sozialen Frage« planstabsmäßig annahmen. Bemerkenswert ist, dass die Frauenorden, insbesondere die Kongregationen des 19. Jahrhunderts, die in der Gesellschaft fehlenden Entfaltungsmöglichkeiten für Frauen geschaffen und so mitgeholfen haben, dass sich sogenannte Frauenberufe auch für andere Frauen entwickeln konnten – sie legten einen wichtigen Grundstein z.B. für die Feminisierung und die Professionalisierung der Caritas. [W]omen religious [. . . ] played major roles in the organization of social services, in the institutionalization of health care facilities, in the development of the professional nurse, in the colonization of the non-Western world, and in the creation of modern pedagogy. In the United States they administered and staffed the world’s largest and most successful private education system. 48

Als letztes Beispiel sei hier die Ärztin Anna Dengel (1892–1980) vorgestellt, da ihr aufgrund ihres Geschlechts zwei spezifische Grenzen auferlegt waren, die sie beide überschritt, und die beide den Kern von Nachfolge und Bildung gleichermaßen exemplifizieren: Als Frau studierte sie Anfang des 20. Jahrhunderts Medizin und als Ordensfrau setzte sie durch, dass sie medizinisch (d.h. auch eigenständig kurativ und nicht nur wie bisher pflegerisch und die Männer unterstützend) tätig werden durfte und so ihr Verständnis von Mt 10,8 (»heilt Kranke«) realisieren konnte. 49 Geboren in Steeg im Lechtal /Tirol, wurde sie zunächst Deutschlehrerin in Lyon und arbeitete als Übersetzerin. Bald aber erkannte sie, dass sie Ärztin werden wollte, um in der Mission christlich tätige Hilfe zu leisten, und so studierte Anna Dengel in Cork /Irland Medizin. 50 1920 ging sie als Ärztin nach Rawalpindi in Indien, wo die medizinische Versorgung besonders der Frauen katastrophal war. Anna Dengel erkannte ihre eigentliche Berufung: Sie würde eine eigene Ordensgemeinschaft zum Zweck des 48 P. Ranft, Women and the religious life in premodern Europe, Houndmills 1996, 129. 49 Vgl. zu Anna Dengel: H.P. Rhomberg, Anna Dengel, Innsbruck 21993. 50 Sie war begeisterte Hockey-Spielerin der Universitäts-Mannschaft und gab Deutschunterricht, um ihr Studium zu finanzieren. 1919 wurde sie mit Auszeichnung promoviert.

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missionsärztlichen Apostolats gründen. In Amerika warb sie unermüdlich um Spenden, um die Not der Frauen in Indien zu lindern. Und sie fand Mitstreiterinnen: Gemeinsam mit drei anderen Frauen gründete Anna Dengel im September 1925 in Washington die Kongregation der Missionsärztlichen Schwestern. Allerdings dauerte es noch einige Jahre, bis die Schwestern das, wozu ihre Gemeinschaft gegründet worden war, auch offiziell durften: als katholische Ordensfrauen und gleichzeitig als ausgebildete Ärztinnen tätig sein. Die dargestellten Frauenbiografien haben exemplarisch zu verdeutlichen vermocht, worauf das Derrida’sche »vielleicht« hindeutet; dass sie über die zu ihrer jeweiligen Zeit hegemonial formulierten »Notwendigkeiten« (z.B. dass Frauen notwendigerweise bestimmte Verhaltensnormen zugesprochen wurden) und »Möglichkeiten« (also gesellschaftlich akzeptierte Veränderungen) hinaus gegangen sind, war die Bedingung des Ereignisses von Veränderungen. Ein Leben in christlicher Nachfolge bedeutet bestenfalls die Ermöglichung von Lebenschancen, Freisetzung auch in dem Sinn, dass sich die Menschen, die im Bildungsprozess stehen, relational zu sich selbst, ihren Mitmenschen und zur Welt verhalten und dass dieses Verhältnis einem Veränderungsprozess unterworfen ist. Das Nachfolgemotiv kann in diesem Sinn als Prägung für menschliches Lernen verstanden werden, basierend auf dem oben genannten Verständnis der Bibel als »Auf-etwas-hin« und »Von-etwas-her«, das christliches Leben fundamental verändern kann. Biblisch grundierte Bildung und Nachfolge zielen beide – wenngleich in unterschiedlicher Dimensionierung – auf die Entfaltung und Befreiung der Menschen: der Handelnden selbst und der Menschen in deren Umwelt.

3.

Nachfolge und Bildung: Risiko und Offenheit im Ausgang

Nachfolge ist die Gestaltung und Veränderung des Lebens aus personaler Christusverbundenheit heraus – und als Gestaltung des Lebens ist es Bildung: Befreiung, Veränderung durch Lernen und Anders-Denken, Weltaneignung, Durchkreuzen von vorgegebenen Machtstrukturen und eigenen Ohnmachtsgrenzen. Es entsteht ein neues, kreatives Verhältnis von Personen untereinander und zur Welt. Eine solche Gestaltung von Lebensmöglichkeiten ist vom Motiv her Innerstes der christlichen Anthropologie und Ziel christlicher Handlungen. Wie prekär dies in der Realität oft war, wie risikoreich und wie gefährdend, wird am Leben von Mädchen und Frauen besonders deutlich. An der Form der Nachfolge kann die Nähe zu den biblischen Wurzeln und zu Jesus Christus nachverfolgt werden. Die biblische Kriteriologie ist eigentlich eindeutig, und dennoch wurde sie viel zu oft unterlaufen. Denn die Verweigerung von Bildung ist ebenso unbiblisch und ungerecht wie

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die hegemoniale Verweigerung von biblisch inspirierten Lebensformen, bei Frauen mit dem Hinweis, es sei ihnen (aus welchen Gründen auch immer: Die Argumente reichen von Gewohnheits- über Natur- bis zu göttlichem Recht) nicht gestattet, eben weil sie Frauen seien. Bibelrezeption führt in ganz konkrete Lebenswelten hinein – und aus diesen heraus wird die Bibel gelesen. Für Frauen stellt dies ein Risiko dar; Wege jenseits der vorformulierten Deutungshoheitsgrenzen sind nicht risikofrei zu beschreiten. Bis heute ist es keine breit akzeptierte Selbstverständlichkeit, die Bibel aus feministischen, postkolonialen oder ähnlichen Perspektiven zu lesen. 51 Die feministische bzw. die feministisch-postkoloniale Perspektive war und ist der Versuch, Unterdrückungsmechanismen zu identifizieren und zu Befreiungserfahrungen zu gelangen. Dabei geschieht etwas, das von jeher als ein Paradigma von Bibellektüre gelten mag: Bestenfalls gelingt es, die Welt nicht nur anders zu sehen, sondern sie zum Besseren, zum Gerechteren zu verändern. 52 Auf der Suche nach dem Verhältnis von Nachfolge und Bildung gelangt man also unweigerlich zu höchst aktuellen und höchst prekären Problemlagen. Die Beziehung zu Jesus war von Anfang an dadurch gekennzeichnet, dass in ihr Grenzen gesprengt worden sind, bis hin zu den Grenzen des Todes. Jesu Radikalität bestand darin, in seiner Botschaft vom Reich Gottes Heilung und Befreiung konkret erfahrbar gemacht zu haben 53 – und die Bemühungen vieler Frauen um ein selbstbestimmtes Leben zeigen genau diese Radikalität an. Darin sind sie Mahnerinnen für eine bestimmte, gerade nicht herrschaftsförmige Rezeption der Bibel und ein entsprechendes Verhältnis zur jeweiligen Gegenwart. Die Suche nach dem Zusammenhang von Bildung und Nachfolge lässt in den Geschichten der religiosae das Risiko deutlich werden, das dadurch entsteht, dass Menschen im Kontext bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse zu ei-

51 M.W. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis 2000. Als Beispiel für Musa Dubes Ansatz ein deutscher Artikel: Dies., Markus 5,21–43 in vier Lektüren. Narrative Analyse – postcolonial criticism – feministische Exegese – HIV/AIDS, ZNT 33 (17/2014), 12–23. Oft werden im sog. Mainstream die feministischen, postkolonialen usw. Theologien eher als Randbereiche angesehen (und als solche behandelt, z.B. bei der Vergabe von Fördergeldern), als dass ihr Anliegen, das mit seinen Fragen nach Gerechtigkeit und der Repräsentation von Marginalisierten ins Herz christlicher Thematik zielt, auf breiter Ebene in den theologischen Diskursen diskutiert wird. 52 Vgl. Dube, Markus 5,21–43, 13. 53 Vgl. folgendes Zitat aus dem Kommentar von Adela Yarbro Collins zum Markusevangelium: »With v. 16 begins the narrative proper, the representation of specific deeds and sayings of Jesus. In the section 1:16–45, mention is made of Jesus’ teaching (1:21– 22,27) and proclaiming (1:38–39), but the emphasis is on the mighty deeds of Jesus, exorcising (1:23–28, 32, 34, 39) and healing (1:29–31, 32, 34, 40–45). The authoritative teaching and the mighty deeds are manifestations of the nearness of the kingdom of God (1:15) [. . . ].« A.Y. Collins, Mark: A Commentary (Hermeneia Series), Minneapolis 2007, 156.

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nem Bewusstsein der eigenen Situation gelangen, aus diesem Bewusstsein heraus Leserinnen und Leser der Bibel sind und dieses »Lesen« ein (häufig grundlegend) veränderndes »Lernen« bedeutet. Eine solche Positionierung stellt die umgebende Gesellschaft in Frage, es kommt zu einer Perspektivenverschiebung, zu Selbstermächtigung und unweigerlich zu Konflikten mit den herrschenden Gefügen. Dies weist auf das Grunddilemma eines befreienden Verhältnisses von Nachfolge und Bildung. Der Prozess der christlichen Nachfolge hat im Grunde einen offenen Ausgang, ist vom Wesen her nicht beherrsch- oder kontrollierbar – und wurde bzw. wird trotzdem gelenkt und eingezäunt. Ebenso gilt dies für den Prozess der Bildung. Bei beiden geht es um Befreiung, um Selbstermächtigung, dennoch wird der Prozess beide Male angeleitet. 54 Die Geschichten vieler Frauen erzählen von diesem Dilemma und davon, dass sich das Evangelium vom Reich Gottes gerade darin ereignen kann; nicht in der bekannten Dialektik von Kontinuität und Unterbrechung, sondern als Ereignis im Sinne von Derrida, dass sich das Unmögliche als möglich erweist. 55 Es ist bleibende Aufgabe der Theologie, daran zu erinnern und christlichen Lebensstil und christliche Sozialformen als prozesshaft und ereignisoffen zu beschreiben – als eine Verbindung von Nachfolge und Bildung, die Veränderung und Lernen inhäriert, um bereits in der diesseitigen Weltgeschichte Befreiung und eine je größere Gerechtigkeit zu ermöglichen. Dazu gehört die grundlegende Entscheidung gegen bestehende Ungerechtigkeitsverhältnisse und für eine Veränderung im Sinne des Evangeliums. Es ist Pflicht der Theologie, die toten Winkel der erzwungenen Exklusion und Unterdrückung, die in der Rede von Bildung und Nachfolge zwischen gender, race und class seit jeher bestehen, zu finden, sie intersektional zu durchleuchten und stetig zu minimieren. Abstract The transformations that are taking place in the process of “learning” are not beyond social, cultural, or religious contexts, and thus also not beyond powerful structures and hegemonial systems. How precarious and fragile this connection is, becomes evident in the concrete contexts of religious women. Their specific circumstances of “learning” have always been bound by gender-specific restrictions, this requires gender-sensitive perspectives. The lives of the “religiosae” show paradigmatically the importance of reading the Bible and “learning” as a chance to form culture and to penetrate or even reorganize patterns of power and dependence. In the New Testament’s texts, the relationship with Jesus is characterized by the fact that restrictions and limits have been removed. The

54 Dass es ein Widerspruch in sich ist, jemanden von oben herab zur Selbstermächtigung anzuleiten, beschreibt Sternfeld, Das pädagogische Unverhältnis, 51. 55 Vgl. J. Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003.

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efforts of nuns and religious women to lead a self-determined life indicate precisely this dimension, “learning” and “succession” are bound together. Until today, these women are reminders of a non-dominant and liberating reception of the Bible. Ute Leimgruber, geb. 1974, Dr. theol. habil., ist Professorin für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Regensburg. Sie ist Mitglied der Theologischen Kommission des Katholischen Deutschen Frauenbunds e.V. (KDFB) und Vorstandsmitglied von AGENDA Forum katholischer Theologinnen e.V.

Dorothea Sattler

Zeugnis leben als Frau und Mann für Jesus Christus Biblisch-theologische Aspekte ökumenischer Bildung 1.

Einleitung

Bildung besteht nicht (allein) im Erlernen von Kenntnissen. Definitorische Unterscheidungen, historisches Wissen und weitere Einsichten sind gewiss im Blick auf eine jede Thematik von hoher Bedeutung. Bildung meint jedoch mehr als die umfassende kognitive Erfassung eines Sachverhalts. Bildung ist ein Prozess in der biographisch geprägten Entwicklung einer Persönlichkeit. Niemand ist für dieses Geschehen allein verantwortlich. Das Individuum in seiner subjektiven Perspektive auf die Weltverhältnisse ist jedoch dabei nicht zu ersetzen. Heute werden im Geschehen der Bildung narrative Sprachformen sowie performative, auf das Handeln bezogene Zeugnisse mit Wertschätzung bedacht. Ich könnte nun viel erzählen von den Orten meiner ökumenischen Bildung. 1 Ein solches Vorgehen war lange Zeit ungewohnt in wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Heute werden entsprechende Beiträge jedoch vermehrt gezielt angefragt: Wir leben in einer Zeit, in der durch Berichte über persönliche Erlebnisse eine Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung bewirkt werden kann. Es ist nicht mehr selbstverständlich, sich zum christlichen Glauben zu bekennen. Welche Folgerungen aus den biographischen Zeugnissen zu ziehen sind, bleibt dann denen überlassen, die bereit sind, sich einem solchen Handeln in kommunikativer Weise auszusetzen. Mein Anliegen in diesem Beitrag ist es, das Verständnis von christlich-ökumenischer Bildung bibeltheologisch zu profilieren. Es bietet sich dabei an, von den österlichen Erzählungen über die Begegnung mit dem vom Tod erlösten Christus Jesus auszugehen (Abschnitt 2). Die narrativen Aspekte in der Überlieferung des Ostergeschehens legen es nahe, über den engen Zusammenhang zwischen einer individuellen Berufung und der Suche nach Gewissheit über die Bedeutung des Geschehens in Gemeinschaft nachzudenken. Ist es nicht so, dass es bis heute unerwartet ist, Leben auch im Tod zu erhoffen? Christliche ökumenische Bildung hat mit der Reflexion auf die Anfänge zu beginnen: mit dem Blick auf

1 Vgl. D. Sattler, »Ein Haus mit vielen Wohnungen«. Erfahrungen einer römisch-katholischen Frau in der christlichen Ökumene, in: M. Flachsbarth u.a. (Hg.), Ökumene, die das Leben schreibt. Konfessionelle Identität und ökumenisches Engagement in Zeitzeuginnenberichten, Münster 2017, 150–163.

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die Strukturen der Formung des österlichen Bekenntnisses, bei denen die Erzählungen über das Erleben von Frauen wie auch über jenes von Männern sehr wichtig sind. Die Ökumenische Bewegung – und in ihr Reflexionen über Formen der ökumenischen Bildung – ist bei aller Orientierung an der gemeinsamen österlichen Hoffnung sehr stark auf Zeitsignaturen bezogen. Ich möchte daher in einem weiteren Schritt andeuten, was unter dem Aspekt der ökumenischen Bildung wandelbar ist und was – gewiss unter immer wieder neuen Vorzeichen – bleibend wichtig erscheint; in diesem Zusammenhang möchte ich an die unterschiedlichen Formen sowie Orte ökumenischen Lernens erinnern (Abschnitt 3). Ich schließe mit einem Versuch, das Wesen des Zeugnisses in Verbindung mit dem Begriff der Bildung zu bringen (Abschnitt 4). Martyrologische Zugänge zur Ökumene sind in jüngerer Zeit mehrfach bedacht worden. Andeuten möchte ich vorab, wie ich die Begriffe »Lernen«, »Bildung« und »Zeugnis« verstehe und einander zuordne: Etwas erlernen und Bildung erfahren sind zwei Vorgänge, die enge Verwandtschaft haben und im alltäglichen Sprachgebrauch nicht immer deutlich unterschieden werden. »Bildung« ist der umfassendere Begriff; die gesamte Entwicklung einer Persönlichkeit kann darunter verstanden werden; wechselseitig kommunikative Prozesse stehen vor Augen. »Lernen« lässt eher an die Situation eines ungleichen Verhältnisses denken: Kundige geben Wissen weiter. Auch beim »Zeugnis« ist die Zeugnis gebende Person in einer anderen Situation als diejenige, die das Zeugnis vernimmt; das Zeugnis ist unvertretbar. Anders als bei Lerninhalten lässt sich der Wahrheitsgehalt eines Zeugnisses nicht objektiv überprüfen, er kann jedoch Bestärkung durch weitere Zeugnisse erfahren.

2. Bildung als Geschehen individueller österlicher Erkenntnis in kommunikativer Gestalt Die Schilderungen über die Begegnung mit dem auferstandenen Jesus Christus in den neutestamentlichen Schriften erschließen in anschaulicher, konkreter Weise, dass das Erstaunen und die Verwunderung über dieses Widerfahrnis sehr spontan dazu anregt, anderen Menschen im vertrauten Umkreis davon zu erzählen: Die Emmaus-Jünger kehren nach ihrer Wiedererkenntnis des lebendigen Christus beim Brotbrechen »noch in derselben Stunde« (Lk 24,33) nach Jerusalem zurück, um Zeugnis zu geben. Dort sind Menschen versammelt, denen der auferstandene Jesus Christus bereits begegnet ist. Die Einzelpersönlichkeiten suchen in der Kommunikation nach einer Deutung eines unerwarteten Geschehnisses, um in Gemeinschaft Vertrauen in die Wahrheit des eigenen Erlebens

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zu gewinnen und den persönlichen Glauben zu festigen. Auch in der biblischen Erzählung von der Begegnung der Maria von Magdala mit dem Auferstandenen (vgl. Joh 20,11–18) folgt auf das Ereignis der kommunikative Austausch: Jesus Christus sendet diese Frau ausdrücklich und persönlich dazu, vor den versammelten Brüdern Zeugnis über ihre Erfahrung zu geben. Sie vertrauen auf das Zeugnis dieser Frau. ChristusErfahrung und Sendung zur Verkündigung sind in biblischer Tradition sehr eng miteinander verbunden. Der Versuch, die österliche Existenz von Menschen zu stärken, ist aus meiner Sicht der Grundsinn der ökumenischen Bildung. Wer jemals erfahren hat, dass andere Menschen jener Antwort, die sie selbst auf die gemeinsamen Lebensfragen gefunden haben, in glaubwürdiger und ansprechender Weise Ausdruck verleihen können, wird sich dem Reiz des geistlichen Miteinanders nicht mehr entziehen wollen. Das Leben lässt viel zu wünschen übrig. Gemeinsam fällt es leichter, sich in die Dunkelheit des Daseins zu begeben, den unausweichlichen Tod und die belastende Sünde zu bedenken. Nur in Gemeinschaft lässt sich das Licht des Vertrauens auf den Gott des Lebens hüten. Die Suche nach einem geeigneten institutionellen, kirchenamtlichen Gefüge der Kirche(n) tritt angesichts der offenen Fragen des Lebens in den Hintergrund. In der ökumenischen Hermeneutik wird an der Erwartung festgehalten, in einem gemeinsamen, von Gottes Geist gewirkten Geschehen zur Erkenntnis der einen Mitte der biblischen Schriften gelangen zu können, von der ausgehend sich die Einzelthemen in ihrem Stellenwert einander zuordnen lassen: 2 Was die Erkenntnis Jesu Christi fördert, genau das ist das Maß, an dem sich jede Schriftauslegung in ihrer Bedeutung messen lässt. Wir sind in der christlichen Ökumene heute daher keineswegs skeptisch, das Kriterium gemeinsam benennen zu können, das jede Schriftauslegung zu leiten hat: Es ist das Zeugnis für Gottes Bereitschaft, sich den Sünderinnen und Sündern in seiner gnädigen Barmherzigkeit zuzuwenden. Die Ausübung des apostolisch begründeten Dienstamtes zum Zeugnis für Jesus Christus untersteht einem inhaltlichen Kriterium. Das Amt der Verkündigung hat sich am Gehalt des österlichen Evangeliums zu orientieren. Das Christentum hat seinen Ursprung in der befreienden Botschaft, die Gott in Jesus von Nazareth verkündigt hat, und die in Gottes heiligem Geist in Zeit und Geschichte gegenwärtig bleibt. Ökumenische Bildung hat immer wieder diesen Ursprungsort aufzusuchen. Ich fasse inhaltlich das Kriterium für diese Treue zum apostolischen Ursprung in der Rede 2 Vgl. Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, Schriftverständnis und Schriftgebrauch. Abschließender Bericht, in: Th. Schneider /G. Wenz (Hg.), Verbindliches Zeugnis, Bd. III: Schriftverständnis und Schriftgebrauch, Freiburg /Göttingen 1998, 288–389.

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vom menschlichen Zeugnis für Gottes Leben schenkendes Handeln selbst noch im Tod und für Gottes Versöhnungsbereitschaft trotz aller Sünde zusammen. Gott bewahrt der sündigen Schöpfung seine barmherzige Beziehungswilligkeit. Sünde und Tod können ihre zerstörerische Macht dort nicht entfalten, wo Gott als Quelle der Versöhnung und des unverlierbaren Lebens erfahren wird. Menschen, die in den apostolischen Dienst berufen werden, haben dies mit Wort und Tat zu verkündigen. Sie können diesen göttlichen Auftrag im lebendigen, prozesshaften, personalen, von Menschen gestalteten Bildungsgeschehen nicht als Einzelwesen allein erfüllen. Die Gestaltung einer christlichen Gemeinschaft ist der beständige Rahmenkontext ökumenischer Bildung. In den ökumenischen Gesprächen ist vielfach bedacht worden, dass es wenig Sinn macht, die Frage nach den Menschen, nach den Personen, die die Treue zum apostolischen Ursprung gewährleisten (successio personae), zu trennen von der Frage nach den Inhalten, der Wahrung der Botschaft der Evangelien (successio verbi). Die apostolische Sukzession hat im gelingenden Fall Bezug zu beiden Wirklichkeiten: Menschen dienen der Verkündigung des Evangeliums Gottes. Christus Jesus ist Gottes letztes, Gottes für alle Zeiten gültiges Wort der Versöhnung mit seinen Geschöpfen. In vielen ökumenischen Dialogen 3 wird beschrieben, dass der Garant der Bewahrung der Kirchen in der apostolischen Tradition nicht eine aus menschlichen Gründen zeitbedingt sinnvoll erscheinende Ämterordnung ist, vielmehr allein Gottes Geist das Verbleiben in der apostolischen Tradition garantiert. Gottes Geist ist der Garant der Kontinuität der Kirchen der Gegenwart mit dem apostolischen Ursprung der einen Kirche Jesu Christi. In allen christlichen Traditionen ist in jüngerer Zeit die Aufmerksamkeit auf die Frage gewachsen, ob im Sinne des apostolischen Ursprungs Frauen gleich wie Männer zu einem öffentlichen Zeugnis für Jesus Christus berufen sind. Die Geschichte dieser Fragestellung mit den erforderlichen konfessionellen Differenzierungen ist inzwischen sehr gut erforscht. 4 Die Teilhabe von Frauen am Geschehen der religiösen Bildung war über Jahrhunderte auf den häuslichen und familiären Bereich konzentriert. In vielen evangelischen Kirchen weltweit ist es inzwischen möglich geworden, sich kritisch mit der Weisung der paulinischen Tradition, auf die sich die Reformatoren berufen haben, auseinander zu setzen, der gemäß Frauen in der öffentlichen Versammlung schweigen sollten (vgl. 1 Kor 14,33–35). Die historischen Kontexte dieser Anordnung in 3 Vgl. Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, Abschließender Bericht, in: D. Sattler /G. Wenz (Hg.), Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge, Bd. III: Verständigungen und Differenzen, Freiburg /Göttingen 2008, 167–267. 4 Vgl. M. Eckholt /U. Link-Wieczorek /D. Sattler /A. Strübind (Hg.), Frauen in kirchlichen Ämtern. Reformbewegungen in der Ökumene, Freiburg 2018.

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Auseinandersetzung mit spalterisch wirksamen Gruppierungen in den Gemeinden werden bedacht. Die Erinnerung an die Geistbegabung aller Getauften im Sinne der paulinischen Lehre von den Charismen (vgl. 1 Kor 12 und Röm 12) erscheint wichtig. Die Anfänge der öffentlichen Predigttätigkeiten von Frauen im Kontext der reformatorisch geprägten Kirchen sind mit Bewegungen verbunden, bei denen die Erweckung durch das Wirken des Geistes Gottes spürbar war. Eine Erneuerung der Tradition wurde so bewirkt. Apostolizität meint Sendung: Mission als gelebte Verkündigung des Evangeliums. Die Berufung zu einem apostolischen Dienst ist nicht auf ein Amt beschränkt, mit dem die öffentliche Verkündigung des Wortes Gottes und die Feier der Sakramente verbunden sind. Missionarisch zu leben, das bedeutet, im Alltag des Daseins Zeugin und Zeuge für Jesus Christus zu sein: das erste Wort sprechen nach langem Schweigen; zumindest die Hand reichen, auch wenn keine versöhnlichen Worte zu finden sind; aufmerksam zuhören auch dann noch, wenn wir in Eile sind und keine Zielorientierung im Gespräch gegeben zu sein scheint; Schäden beheben, auch wenn wir sie nicht selbst verantworten; immer wieder Morgen für Morgen aufstehen für die tägliche Sorge umeinander, auch wenn es manchmal so schwer fällt. Über Jahrtausende haben Frauen – gewiss auch Männer – solche apostolischen Dienste gelebt. Was in Liebe geschieht, bewahrt Wert. Zugleich bedarf es in unserer Zeit mit Gottes Geist begabter Frauen, die in der Öffentlichkeit reflektiert und bezogen auf die Heiligen Schriften verkündigen, die von ihren gläubigen Überzeugungen sprechen und andere anregen, ebenso zu handeln. Für die Tradierung der österlichen Botschaft ist es wichtig, den ordinierten Dienst auch von Frauen vorzusehen, damit die gesamte getaufte Christenheit ihre apostolische Mission leben kann, dazu zumindest ermutigt wird und getrost bleibt, wenn es wieder einmal nicht zu gelingen vermag. Ein kirchliches Amt ist ein Dienst an den Diensten aller getauften Christinnen und Christen. Begabungen entdecken, sie fördern, Menschen im Guten bestärken – das ist eine herausfordernde Aufgabe in der Nachfolge Jesu Christi im Sinne der Bildung österlich lebender Persönlichkeiten.

3.

Grundformen ökumenischer Bildung gestern und heute

Für ein wirksames, die Perspektiven veränderndes Geschehen ökumenischer Bildung sind aus meiner Sicht zwei Konstellationen grundlegend wichtig: zum einen die Bereitschaft, sich als Person für ein Gespräch mit offenem Ausgang bereit zu halten, zum anderen die in Gestalt eines Zeugnisses bekundete Orientierung an einer bereits vorhandenen gemeinsamen Mitte, die alle am Lerngeschehen beteiligten Menschen verbindet.

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In der christlichen Ökumene lässt das Bekenntnis zu Jesus Christus die Menschen immerzu wieder zurückfinden zu den zentralen Fragen ihrer gläubigen Existenz. Oft wiederholt und daher vertraut ist die Einsicht, dass nur diejenigen etwas lernen, die dazu motiviert sind – innerlich durch das eigene Interesse (intrinsisch) oder äußerlich durch vorgegebene Bewertungsmaßstäbe in Qualifikationssituationen (extrinsisch). Diese beiden Blicke auf das zielorientiert zu planende Geschehen erscheinen mir im Hinblick auf das Erlernen der Ökumene von hoher Bedeutung: Es gibt eine nicht unbedeutende Zahl von Menschen, die aus eigenem inneren Antrieb – oft ist dies biographisch begründet – Freude an ökumenischen Lernerträgen haben. Zugleich gibt es zunehmend Personen, bei denen es zu ihrem fachlich geforderten Profil gehört – gewollt oder auch nicht gewollt – Kompetenzen in der Ökumene im Hinblick auf eine berufliche Tätigkeit erwerben zu müssen. Eine Alltagsweisheit ist: Niemand lernt je aus. Das Geschehen der ökumenischen Bildung lässt sich nicht auf die Jahre des theologischen Studiums reduzieren. Im Fachgebiet der Ökumene ist – anders als in manchen anderen Disziplinen der theologischen Reflexion – die Gegenwartsorientierung beständig erforderlich. Kurze oder längere »Berichte aus den Kirchen«, wie sie beispielsweise bei Versammlungen der multilateral tätigen Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene üblich sind, legen offen, dass es in jeder Konfessionsfamilie immer wieder ganz konkrete aktuelle Herausforderungen gibt, die personelle und geistige Kräfte binden. Ökumenisches Lernen hat eine wache Aufmerksamkeit auf andere christliche Traditionen zur Bedingung. Orte, Personen und Ereignisse, die anderen Christinnen und Christen sehr wichtig sind, erscheinen angesichts der eigenen religiösen Sozialisation möglicherweise zunächst sehr fremd. Nicht selten wird im Erzählen und Zuhören die Erkenntnis gefestigt, dass jede Konfessionsgemeinschaft auch in internationalen Kontexten lebt, die anderen Kirchen oft nicht bekannt sind. Wir wissen noch immer zu wenig voneinander – und dies gilt für alle Bereiche der Ökumene. Keine Einzelpersönlichkeit kann nach meiner Einschätzung in der weltweiten Ökumene heute noch überschauen, welche thematischen Annäherungen zwischen den Konfessionen inzwischen erreicht worden sind, welche Vereinbarungen regional getroffen wurden, welche Strukturen die einzelnen ökumenischen Begegnungen haben und welche Konflikte ausgetragen werden. An jedem Ort wird die Ökumene anders gelebt. Jeweils verantwortliche Persönlichkeiten sind dabei ebenso einflussreich wie alte Traditionen und gefestigte Institutionen, die sich nur mühsam verändern lassen. Auch wenn viele Unterschiede in der gelebten Ökumene vor Ort bestehen, meine ich doch sagen zu können, dass folgende Gedanken bei verantwortlich tätigen

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Menschen im Hinblick auf die ökumenische Bildung heute prinzipiell befürwortet werden: (1) Jeder Mensch wird in eine vorgegebene Familiensituation hinein geboren, in der – selbst im Widerspruch zum Gottesglauben – eine religiöse Prägung geschieht; niemand wählt die eigene konfessionelle Grundorientierung ganz frei. Biographische Kontexte sind im ökumenischen Lerngeschehen zu berücksichtigen. (2) Es gibt Ereignisse in der Geschichte der Identitätsbildung der Konfessionen, die nicht primär unter dem Vorzeichen eines zu fällenden theologischen Urteils zu betrachten sind, sondern bei der Reflexion in einem hohen Maße die Bereitschaft zur Empathie einfordern. (3) Jede Person in einer ökumenischen Lerngruppe ist mit gleicher Wertschätzung anzuerkennen. Interesse an anderen konfessionellen Lebenswegen und Neugier im Hinblick auf unbekannte Details christlicher Existenz in anderer Tradition werden artikuliert. Auf Augenhöhe geschieht ein Austausch der Gedanken. Im ökumenischen Lerngeschehen begegnen die Komplexität und die Pluralität der kirchlichen Wirklichkeiten. Es fällt oft nicht leicht, klare Abgrenzungen vorzunehmen, durch die Übersicht zu gewinnen wäre. In vielen Themenbereichen sind die Differenzen nicht allein zwischen den Konfessionen, sondern vor allem innerhalb der Konfessionen verortet. Zerreißproben sind dann in der eigenen Konfessionsfamilie miteinander zu bestehen. Bündnisse werden über die Konfessionen hinweg je nach dem theologischen Standort getroffen. Oft sind es Kontroversen in der Frage einer angemessenen Hermeneutik in der Schriftauslegung, die in allen Konfessionen unterschiedliche Positionierungen zur Folge haben: Gilt allein der Wortlaut der Bibel oder ist immer auch die geschichtliche Distanz zur Entstehungszeit der Texte bei der Interpretation zu beachten? Die dabei vorrangig zu Kontroversen Anlass gebenden Themen sind vor allem einzelnen Fragen im Bereich der Sexualethik und der Geschlechteranthropologie zuzurechnen: Verbieten die biblischen Weisungen gleichgeschlechtliche Partnerschaften? Ist die zölibatäre Lebensweise in kirchlichen Dienstämtern zu bevorzugen? Auch bei der ethischen Beurteilung von Lebensformen zu Beginn und am Ende des menschlichen Daseins lassen sich nicht immer konfessionelle Grenzlinien ausmachen. Neben diesen ethischen Themenbereichen finden sich im binnenkonfessionellen Raum nicht selten kontroverse Ansichten über das Verständnis der Kirchenverfassungen und der angemessenen Wege in Entscheidungsfindungsprozessen. Innerkonfessionelle Debatten binden viele Kräfte. Die weltweit vielfältigen ökumenischen Bemühungen bedürfen einer neuen Anstrengung zur Koordination. Neue Gemeinschaften – unter ihnen vor allem die lokalen pentekostalen Bewegungen, die Pfingstkirchen in ihrer Unterschiedlichkeit weltweit – stellen alle Kirchen vor große Herausforderungen: Haben die etablierten Kirchen noch im Blick, dass Menschen auf Heilung an Leib und Seele durch Gottes Geist hier und heute schon hoffen? Andere Sorgen stehen oft im Vordergrund: An

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manchen Orten führen finanzielle Beschränkungen zu einem Erlahmen des ökumenischen Eifers. Die zunehmende Knappheit der Ressourcen kann auch zu neuen Formen der Zusammenarbeit führen. Kirchenräume werden füreinander geöffnet. Was gemeinsam verantwortet werden kann, darf nicht in konfessioneller Selbstbegrenzung geschehen. Begründungsbedürftig ist, was vor Ort nicht gemeinsam geschieht – trotz der einen christlichen Verantwortung für die Verkündigung des Evangeliums. Nach fruchtbaren Jahrzehnten der Annäherung steht die Ökumenische Bewegung vor neuen Herausforderungen: Grundlegende Fragen des Glaubens, in denen die Kirchen gemeinsame Optionen haben, werden in das gesellschaftliche Gespräch eingebracht. Vorrangig wichtig erscheint es zudem, gemeinsam die weltpolitischen, sozialethischen und individualethischen Herausforderungen anzunehmen, die die Gemeinschaft der Geschöpfe bedrängen. Alle Kirchen sind gefordert, sich den Fragen der Gegenwart zu stellen: Wie finden die Menschen einen sicheren Ort für die Gestaltung ihres Lebens? Wie ist es möglich, Versöhnung und Frieden unter den Völkern zu erreichen? Wie können die Lebensgrundlagen für alle gesichert werden? Warum gelingt es nicht, die entlohnte Arbeit gerecht zu verteilen? Wer stillt den Hunger und Durst der Bedürftigen in den Ländern, in denen es selten regnet? In welcher Weise lassen sich die Verstrickungen lösen, die viele Menschen im Blick auf ihr Leben in Beziehungen empfinden? Wer steht den Verzweifelten Tag und Nacht zur Seite? Wer tröstet die Sterbenden mit der Osterbotschaft des gemeinsamen christlichen Evangeliums? Die geistliche Ökumene ist von sehr hoher Bedeutung auch in der Zukunft der Ökumene. Wahre geistliche Erfahrungen in ökumenischen Begegnungen lassen viel zu wünschen übrig – in einem guten Sinne: In ihnen wird die Trauer über die fortbestehende Trennung spürbar, und sie vermitteln eine frohstimmende Ahnung von dem großen Reichtum des christlichen Glaubens. Übrig bleibt viel: der Wunsch nach einer währenden, nicht von Trennung bedrohten, lebendigen christlichen Gemeinschaft im Hören auf Gottes Wort, im sakramentalen Gedächtnis des Todes und der Auferweckung Jesu Christi und in der Bereitschaft zum Zeugnisdienst mit Tat und Wort. Das Ziel der Ökumene ist offen. Mehr denn je ist sich die Ökumenische Bewegung bewusst, dass sie keine Einmütigkeit in ihrer Zielbestimmung hat. Ökumene ist immer auch Teil der weltweiten Kirchenpolitik und daher allein auf der Grundlage sachlicher Argumentationen nicht hinreichend zu verstehen. Persönlichkeiten mit ihren Eigenarten und divergierenden Standorten prägen die ökumenische Theologie mehr als andere Bereiche. Wer wollte wissen, welche kirchenleitenden Persönlichkeiten zukünftig die Ökumenische Bewegung gestalten? Jedes Lerngeschehen steht in einem biographischen und gesellschaftlichen Kontext. Als eine römisch-katholische Frau in Westeuropa mit aka-

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demischer Ausbildung und ohne äußere Bedrohung durch Bürgerkriege, Armut und Verfolgung habe ich andere Möglichkeiten, Aufgaben, Interessen und Ziele als Menschen, die sich Tag für Tag durch ökumenische Kooperationen für die Bewahrung des Lebens von Witwen und Waisen, Hungernden, Flüchtenden und Opfern vielgestaltiger Gewalt einsetzen. Das in der reformatorischen Tradition verortete Verständnis der Ökumene im Sinne einer weltweiten Gemeinschaft von Menschen in einer konfessionellen Tradition erinnert daran, dass nicht nur die zwischenkirchlichen Beziehungen wichtig sind, ökumenische Bildung vielmehr auch Sensibilität für die Anliegen in der gesamten Schöpfung Gottes wecken möchte. In der römisch-katholischen Theologie wird der (weithin nur) in der evangelischen Theologie vollzogene Paradigmenwechsel in der Regel als Abkehr von der Konvergenz- (oder gar Konsens-) Ökumene und einer damit verbundenen Hinkehr zu einer Sozial-Ökumene verbunden. Wenig im Bewusstsein ist dabei aus meiner Sicht zuweilen, dass es sich dabei um zwei profilierte Handlungsbereiche handelt, die im Blick auf die Gesamtheit der an der ökumenischen Bewegung beteiligten Menschen keineswegs alternativ sind, sich lediglich in einem einzigen Menschenleben mit guten Gründen nicht gleichzeitig als Optionen verwirklichen lassen. Viele Faktoren – intendierte und /oder situativ vorgegebene – wirken sich bei der persönlichen Wahl des jeweiligen ökumenischen Engagements aus. Die Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Handlungsformen in der gemeinsamen Ausrichtung auf das eine Evangelium ist eine Stärke der Ökumene. Die Lehre trennt nicht nur, und nicht ausschließlich der Dienst eint. Eigene Aufmerksamkeit muss aus meiner Sicht in diesem Zusammenhang der Aspekt der Dringlichkeit erfahren: Es gibt Orte und Zeiten, da gilt es, sofort zu handeln und nicht mehr zu sprechen. Im Fortgang möchte ich drei Orte der ökumenischen Bildung besprechen: (1) die Universität, (2) Fort- und Weiterbildung sowie (3) außerordentliche Veranstaltungen. Nicht versäumen möchte ich es jedoch zuvor, auf die konfessionsverbindenden Familien und ihren Beitrag zur Bildung des ökumenischen Bewusstseins dankbar zu verweisen. 5 (1) Eine wissenschaftlich verantwortete Darstellung über die Geschichte der ökumenischen Lehre im universitären Kontext muss noch geschrieben werden. Aus römisch-katholischer Perspektive sind diesbezüglich die Ermutigungen zur umfassenden ökumenischen Bildung aller

5 Vgl. dazu ausführlicher an anderer Stelle: D. Sattler, Konfessionsverbindend? – Leben in einer konfessionsverschiedenen Ehe und Familie, in: M. Kappes u.a. (Hg.), Basiswissen Ökumene. Bd. 1: Ökumenische Entwicklungen – Brennpunkte – Praxis, Leipzig /Paderborn 2017, 179–199.

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Getauften durch das 2. Vatikanische Konzil 6 von hoher Bedeutung. Die Konzilsaussagen hatten entsprechende Weisungen in den Ökumenischen Direktorien zur Folge. 7 In einem eigenständigen Dokument des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen wird die Notwendigkeit der ökumenischen Ausbildung von Studierenden der Theologie (im weltweiten römisch-katholischen Kontext in der Regel Priesteramtskandidaten) in den Blick genommen und die Prüfungsrelevanz dieser Materie betont. 8 An drei westdeutschen Universitäten (Tübingen, München und Münster) wurden in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts Ökumenische Institute gegründet, die bis heute in enger Kooperation mit den dortigen Fakultäten der Evangelischen Theologie arbeiten. Zahlreiche Professuren wurden seitdem bei Neuausschreibungen zudem mit dem Zusatz »Ökumenische Theologie« verbunden. Dabei lassen sich unterschiedliche Tendenzen mit konfessionellen Prägungen erkennen: Während im römisch-katholischen Kontext die Anbindung der Ökumenischen Theologie an die Dogmatik oder die Fundamentaltheologie naheliegt, weil die theologischen Dialoge über Inhalte des kirchlichen Glaubenslebens im Vordergrund der wissenschaftlichen Studienarbeit stehen, zeigt sich im reformatorischen Bereich die Tendenz, die Ökumene der Reformationsgeschichte als einer historischen Disziplin oder der Missionstheologie als einer praktischen Fachausrichtung zuzuordnen. Eigener Aufmerksamkeit bedarf die Zuordnung der Ökumenischen Theologie zur Religionswissenschaft, die an einzelnen Ausbildungsorten – insbesondere in den neuen Bundesländern – vorgenommen wird. Ein einheitliches, miteinander abgestimmtes Konzept zur Gestaltung des Studiums der Ökumene ist überregional an staatlichen universitären Einrichtungen (vermutlich nicht nur für mich) nicht zu erkennen. Die

6 Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Dekret über den Ökumenismus »Unitatis Redintegratio«, besonders Nr. 10: »Die Unterweisung in der heiligen Theologie und in anderen, besonders den historischen Fächern muss auch unter ökumenischem Gesichtspunkt geschehen, damit sie umso genauer der Wahrheit und Wirklichkeit entspricht« (K. Rahner /H. Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg /Basel /Wien 1966, 239). 7 Das »Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus« (1993) sieht neben der Anerkenntnis der ökumenischen Dimension aller theologischen Disziplinen einen »Spezialkurs im Ökumenismus« als verpflichtenden Bestandteil der theologischen Ausbildung vor; dieser soll in zwei Stufen mit einer Einführung zu Studienbeginn und einer Vertiefung am Ende des ersten Abschnitts der theologischen Studien erfolgen; eine Kooperation mit Lehrenden anderer Fakultäten ist ausdrücklich erwünscht: Vgl. Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen, Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 110, Bonn 1993, Nr. 79–81. 8 Vgl. Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen, Die ökumenische Dimension in der Ausbildung /Bildung derer, die in der Pastoral tätig sind, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 134, Bonn 1998.

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weitgehende Autonomie der Hochschulen bei der Denomination der Professuren hat ein hohes Maß an Pluralität unter Rücksichtnahme auf die Geschichte der Ausbildungsstätte zur Folge. Regulierungsmaßnahmen könnten durch kirchenamtliche Vorgaben für Prüfungsordnungen sowie bei Akkreditierungsverfahren vorgenommen werden. Nach meiner Einschätzung wird in diesem Zusammenhang eher die Erwartung formuliert, die ökumenische Perspektive sei durchgängig in der konfessionellen Lehre zu berücksichtigen, als zu fordern, ausgewiesene Lehrveranstaltungen seien explizit ökumenischen Themenstellungen zu widmen. Hierzu fehlt nicht selten die Fachexpertise im Kollegium. Es entspricht meiner Erfahrung, dass viele Studierende mit Grundfragen der Ökumene bis zum Studienbeginn oft unvertraut sind. Es bedarf einer (oft extrinsisch begründeten) Erstmotivation zur Teilhabe an entsprechenden Lehrveranstaltungen. Eine solche ergibt sich nicht selten durch die Zwänge der Studienorganisation und der mit ihnen verbundenen Notwendigkeit der Zeitplanung. Nicht selten gelingt es, Studierende durch spezifisch ökumenische Themen von Vorlesungen, Seminaren und Übungen nicht allein auf der kognitiven Ebene auf die Bedeutung der christlichen Verbundenheit in dem einen trinitarischen Gottesbekenntnis, in der einen Taufe sowie in weiten Bereichen der Glaubenslehre aufmerksam zu machen. Dabei sind authentische Begegnungen mit Orten und Personen aus anderen konfessionellen Traditionen sehr wichtig. Nicht selten habe ich als Rückmeldung auf eine Aufgabenstellung für Studierende in den ersten Semestern, sie mögen einen evangelischen Kirchenraum (möglichst mit Teilhabe an einer Liturgie und Gesprächen im Anschluss) aufsuchen und ihre Beobachtungen reflektieren, Dank für die erstmalige Begegnung mit der so eng verwandten und doch fremden Wirklichkeit erfahren. Nach meiner Erfahrung können ausdrücklich unter ökumenischer Perspektive konzipierte Lehrveranstaltungen eine nachhaltige (intrinsische) Motivation zur Teilhabe an der ökumenischen Bewegung bewirken. Wer sich diesbezüglich engagieren möchte, bedarf einer Einführung in die komplexen Strukturen der institutionalisierten Ökumene. Diese Überlegungen stehen nicht im Widerspruch zu der Erkenntnis, dass eine durchgängige Berücksichtigung der ökumenischen Bedeutung aller theologischen Themenbereiche im Studienalltag wichtig ist. In diesem Zusammenhang wäre es wichtig, zwischen den Berufszielen (Tätigkeit in der Pastoral oder in der schulischen Religionsdidaktik) und den korrespondierenden Studien- und Prüfungsordnungen zu unterscheiden. Beide Gruppen bedürfen gewiss einer Grundorientierung über konfessionelle Argumentationen in jenen Themenbereichen, die noch immer zu den ökumenischen Kontroversen zählen. Zugleich sind die Bezüge zur ökumenischen Praxis unterschiedlich: Im Bereich der Pastoral (Diakonie, Katechese und Liturgie) gilt es, beständig auf bereits bestehende und noch zu wünschende Möglichkeiten einer ökumenischen Gestaltung von

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Geschehnissen aufmerksam zu machen. Im Blick auf die Religionsdidaktik erscheint es angeraten zu sein, auf die Gefahren eines mit Schülern und Schülerinnen (leichter) einzuübenden Vergleichs der konfessionellen Standpunkte hinzuweisen. Im schulischen Kontext sollte nicht aufgrund didaktischer Überlegungen (vereinfachte Anamnese durch Reduktion der Komplexität) verloren gehen, was eine Errungenschaft der modernen ökumenischen Bewegung ist: die Einsicht in die inzwischen gewonnene Nähe aller christlichen Bekenntnistraditionen zueinander. Es zeichnet sich ab, dass die Erwartungen an den Erwerb ökumenischer Kompetenzen angesichts der wachsenden Offenheit für konfessionell-kooperative Modelle der Religionsdidaktik 9 erheblich steigen werden. (2) Oft stellt sich erst im Rahmen der Berufstätigkeit im Anschluss an eine theologische Grundausbildung die Erkenntnis ein, in den selbst zu verantwortenden Handlungsfeldern auf ökumenische Kooperationen angewiesen zu sein. In den Bereichen der kategorialen Seelsorge beispielsweise in Kliniken, im Strafvollzug, im Militärwesen, bei Kriseninterventionen oder in der Pflege gibt es diesbezüglich bewährte Modelle. Die Praxisrelevanz des ökumenischen Lernens ist dann offenkundig. An den Universitäten ist oft aus Rücksicht auf die Eigenständigkeit der Fakultäten, die Sorge tragen müssen für den jeweiligen Personalbestand, nur gelegentlich nach Absprache möglich, was im Bereich der Fort- und Weiterbildung als bewährte Form des ökumenischen Lernens gilt: eine konfessionell gemischte Lerngruppe, die unter der Leitung von Fachleuten aus unterschiedlichen Traditionen zu ökumenisch relevanten Themen arbeitet. Vielfach habe ich erfahren, wie verändert die Gesprächssituation ist, wenn Menschen, die eine konfessionell spezifische Position vertreten, mit ihrer eigenen Stimme authentisch präsent sind. Menschen lernen nachhaltig mehr vom geäußerten Zeugnis anderer Menschen als von Texten und Statistiken. Gemeinsame Reflexionen auf Erlebnisse beim Besuch von Orten und Personen (beispielsweise in Rom bei einer Papstaudienz oder in Genf beim Ökumenischen Rat der Kirchen), die in einer bestimmten Tradition von hoher Bedeutung sind, verändern das Bewusstsein, weil dabei deutlich wird, dass die Zugehörigkeit zu einer konfessionellen Gemeinschaft nicht allein in einer argumentativ vertretenen theoretischen Position begründet ist, vielmehr auf komplexe Weise biographisch verortet und emotional konnotiert ist. Solche Aspekte der ökumenischen Bildungsarbeit miteinander im Gespräch zu vertiefen, kann nicht die

9 Vgl. aus jüngerer Zeit mit vielen Literaturhinweisen: S. Pemsel-Maier, Konfessionell – kooperativer Religionsunterricht: Ökumene in der Schule, in: Michael Kappes u.a. (Hg.), Basiswissen Ökumene. Bd. 1: Ökumenische Entwicklungen – Brennpunkte – Praxis, Leipzig /Paderborn 2017, 301–321; S. Altmeyer u.a. (Hg.), Ökumene im Religionsunterricht, Jahrbuch der Religionspädagogik 32 (2016).

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Aufgabe einer universitären Schulung sein, bei der zertifizierte Qualifikationen im Wettstreit um die Noten zu erwerben sind. Bei Fort- und Weiterbildungen besteht in höherem Maße die Möglichkeit, die eigene Meinung zu vertreten und in das Gespräch einzubringen. (3) Das Jahr 2017, das Gedenkjahr der Reformation, war reich an Events – an Einzelereignissen von ökumenischer Relevanz. An vielen Orten haben sich Menschen versammelt, um ihre ökumenische Gesinnung zu vertiefen. 2017 war ein gutes Jahr für die ökumenische Bildung – nicht nur auf kognitiver, auch auf emotionaler Ebene. Die mediale Aufmerksamkeit beispielsweise auf den von der ARD übertragenen Versöhnungsgottesdienst in der Passions- und Fastenzeit 2017 in Hildesheim 10 hat möglicherweise einen ökumenischen Impuls bewirkt, der sich aus dem Staunen über die erreichten Annäherungen und den dort öffentlich bekundeten Selbstverpflichtungen ergibt. Besuche der Wirkstätten von Martin Luther in Eisleben, Erfurt, Wittenberg, Eisenach und Halle haben für ungezählte ökumenische Besuchergruppen anschaulich werden lassen, welche Reformanliegen Luther vertrat und an welche Grenzen er im Hinblick auf die Realisierung seiner theologischen Ideale gestoßen ist. Die Geschehnisse im Jahr 2017 lassen sich als eine Ermutigung verstehen, im Sinne früherer Ausbildungskonzepte die klassische Konfessionskunde in erneuerter Weise wieder zu beleben. Es besteht nach meiner Wahrnehmung heute eine hohe Bereitschaft, fremde Kulturphänomene mit historischem Interesse ohne vorrangige Neigung zum Urteil zunächst wertfrei zu studieren. Sozialgeschichtliche und biographische Zugänge zu den konfessionellen Phänomenen machen neugierig. Bei diesem Geschehen kann die lernende Persönlichkeit in innerer Distanz zu den Themen bleiben. Nicht jedes ökumenische Lerngeschehen dient der bloßen Wissensvermittlung. Es bedarf aus meiner Sicht beim ökumenischen Lernen zukünftig auch neuer Formate, bei denen die Begegnung miteinander unter dem Aspekt der Gabe der Zeit bedacht sein sollte. Wer in einer Reisegruppe im Bus viele Stunden fährt, kann Gespräche mit Menschen in unmittelbarer Nähe zum eigenen Sitzplatz initiieren. Es ist wichtig, die Erlebnisse miteinander zu reflektieren. Dazu bedarf es eines angemessenen Zeitmaßes. Es ist aus meiner Sicht sehr verständlich, dass es in jüngerer Zeit eine wachsende Wertschätzung zeitlich sehr intensiver Veranstaltungen in Verantwortung von Akademien und Tagungshäusern gibt. Dies begrüße ich sehr, denn nicht selten muss ich Tagungsorte rasch für einen nächsten Termin verlassen, ohne die Gelegenheit zu haben, nicht nur zu

10 Vgl. Deutsche Bischofskonferenz /Evangelische Kirche in Deutschland, Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen. Ein gemeinsames Wort zum Jahr 2017, Bonn /Hannover 2016 (Gemeinsame Texte, Nr. 24).

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Menschen zu sprechen, vielmehr auch auf sie zu hören. Die Gruppe der (in der Regel älteren) Menschen, die sich noch in Bildungswerke und Akademien zu einem Abendvortrag einladen lässt, nimmt beständig ab. Jüngere Menschen suchen seltener (freiwillig) Bildungsstätten auf, sie haben dann jedoch einen hohen Anspruch an das Geschehen: Sachinformationen sollten regelmäßig aktualisiert, anschaulich präsentiert und digital abrufbar sein, um sich jederzeit einen raschen Überblick verschaffen zu können. Zugleich werden Begegnungen geschätzt, bei denen unvertretbare authentische Zeugnisse in Gespräche führen. 4.

Zeugnis und Bildung

Was macht das Zeugnis zu einem Zeugnis? Klaus Hemmerle 11 beantwortet diese Frage in seiner Beschreibung des Phänomens des menschlichen Zeugnisgebens in vierfacher Weise: (1) Das Zeugnis eröffnet ansonsten Verborgenes; (2) das Zeugnis erinnert Vergangenes um der Zukunft willen; (3) die bezeugte Einsicht drängt sich auf; (4) das Zeugnis ist angewiesen auf das menschliche Wort, die Aussagebereitschaft, die Sprachfähigkeit des Menschen. Ich erläutere diese vier Aspekte mit eigenen Worten: (1) Ein Zeugnis ist dadurch gekennzeichnet, dass es eine ansonsten unzugängliche Wirklichkeit in den Raum der Erfahrung holt. Dabei bleibt zunächst offen, ob das Zeugnis in einem Vorgang besteht – ein Geschehen ist – eine Geste, eine Rede, eine Tat –, oder ob das Zeugnis als Objekt vorliegt – ein Gegenstand ist, ein Bauwerk, eine Urkunde, ein Brief etwa –, Objekte, die als Zeugnis vergangener Tage Bestand haben. Ob Handlung eines Subjekts oder Anwesenheit eines Objekts – immer bietet das Zeugnis die Gelegenheit zur Vergegenwärtigung des ansonsten Verborgenen. (2) Das Zeugnis ist kein absichtsloses Gedächtnis, kein wertloses, nicht ohne Intention. Das Zeugnis beansprucht Gültigkeit. Das Zeugnis ist nicht nur die Kundgabe von einer ansonsten entzogenen Zeit, die unbetroffen zurückgelassen werden könnte; das wahre Zeugnis fordert ein – auf Zukunft hin. Das Zeugnis beansprucht Bedeutung für das Leben heute und morgen. (3) Wenn Menschen Zeugnis von einer ansonsten verborgenen Wirklichkeit ablegen, die bleibende Gültigkeit hat, dann erfahren sie sich als überwältigt – als angegangen – angesprungen von einer Gewissheit, die sie sich nicht selbst gebildet haben. Im Zeugnis besprechen Menschen eine ihnen auferlegte Einsicht, eine geschenkte, eine nicht selbst erdachte Wahrnehmung. Die Zeugin und der Zeuge – sie sind frei, sich dieser Einsicht zu verschließen oder sich ihr zu öffnen. 11 K. Hemmerle, Wahrheit und Zeugnis, in: B. Casper u.a. (Hg.), Theologie als Wissenschaft. Methodische Zugänge, Freiburg 1970, 54–72.

Zeugnis leben als Frau und Mann für Jesus Christus

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(4) Das Zeugnis hat Wortcharakter; es ist die Aussage einer Person; das Zeugnis ist darin verwiesen an den Dialog; die Rede erwartet Gegenrede. In seinem Wort-Charakter leuchtet die unvertretbare Subjektivität des Zeugnisses auf. Das eigene Wort kann niemand dem anderen Menschen streitig machen. Das Wort des Zeugnisses ist unvertretbar – ein personales Wort in letzter Entschiedenheit. Das zeugnisgebende Wort des Menschen muss nicht aus gesprochenen Silben bestehen – entscheidend ist der Aspekt der unvertretbaren, personalen Aussage über die Gegebenheit einer Wahrnehmung; eine solche Aussage ist möglich auch »in der Gebärde, im Schrei, im Lied, im Tun, im Werk, im Schweigen, in der Liebe, im Tod«. 12 Was macht das Zeugnis zu einem Zeugnis? Auf diese Frage antworten die biblischen Schriften nicht in Gestalt systematisierter Rede. Die Aspekte, unter denen das menschliche Zeugnis in der Bibel betrachtet wird, sind vielgestaltig. Ich habe einige wenige ausgewählt und ordne sie bewusst der soeben skizzierten phänomenologischen Umschreibung zu. Manche Eigenarten der biblischen Betrachtung sollen dabei vor Augen treten. (1) Das Zeugnis eröffnet ansonsten Verborgenes: Der primäre Ort, auf den bezogen in biblischer Zeit von der Bedeutung des menschlichen Zeugnisses gesprochen wird, ist das Gericht: Der Zeuge vor Gericht hat Kenntnis von Gegebenheiten, die anderen verborgen sind. »Tod und Leben stehen in der Macht der Zunge« (Sprichwörter 18,21). In Zeiten, in denen der Indizienbeweis vor Gericht noch wenig Bedeutung hatte, war das Geschick eines Beschuldigten oft eine Konsequenz der Worte, die Zeugen über ihn sprachen. Das falsche Zeugnis über einen anderen Menschen vor Gericht unterstand einer hohen Strafe in Israel (Dtn 19,16– 21; Ex 23,1; Spr 6,19; 12,17.19; 19,5.9; 21,28). Jesaja greift die Israel vertraute Wertschätzung der Zeugenschaft in seiner Bildrede vom Göttergericht auf. Die fremden Götter, die im Wettstreit mit Jahweh stehen, sie sind zeugenlos – niemand ist da, der ihre geschichtliche Wirksamkeit bestätigen könnte. Anders ist es bei Jahweh: Israel ist Gottes Zeuge; ohne Israels Zeugnis bliebe Gottes rettendes Handeln verborgen. Eindringlich mahnt der Prophet in Gestalt der Gottesrede Israels Gotteszeugnis an: »Ihr seid meine Zeugen – Spruch Jahwehs [. . . ] Vor mir wurde kein Gott erschaffen und auch nach mir wird es keinen geben. Ich bin Jahweh, ich, und außer mir gibt es keinen Retter. Ich habe es selbst angekündigt und euch gerettet, ich habe es euch zu Gehör gebracht. Kein fremder Gott ist bei euch gewesen. Ihr seid meine Zeugen – Spruch JHWH« (Jes 43,10–12). (2) Das Zeugnis beansprucht Gültigkeit auf Zukunft hin. Um die biblische Rezeption dieses Gedankens verständlich zu machen, erscheint es mir hilfreich, auf eine Unterscheidung zurückzugreifen, die in der

12

Ebd., 66.

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philosophischen Tradition begegnet: die Unterscheidung zwischen dem Tatsachenzeugnis und dem Wahrheitszeugnis. Aristoteles unterscheidet in seiner Rhethoriklehre zwischen Redeweisen, die auf geschichtliche Gegebenheiten, auf Tatsachen, aufmerksam machen, und Redeweisen, in denen jemand die Wahrheit eines Wertes bezeugt. Über die Stimmigkeit eines Tatsachenberichts kann gestritten werden; ethische Überzeugungen aber, sittliche Werte, Einstellungen und Ansichten sind im letzten dem Streit der Meinungen entzogen. Der Zeuge beansprucht für sie bleibende Gültigkeit – Wahrheit – für Gegenwart und Zukunft. In den biblischen Schriften erscheinen Tatsachenzeugnisse in charakteristischer Verbindung mit Wahrheitszeugnissen. Jahweh, der Israel aus der Knechtschaft Ägyptens befreit hat, dieser Jahweh fordert die Achtung der Tora. Israels Zeugnis für die zeitmächtige, in aller Zeit bleibende Gültigkeit der Tora ist ein Wahrheitszeugnis: Gottes Wille ist die unbedingte Anerkenntnis der Lebensrechte seiner Geschöpfe. (3) Das Zeugnis gibt eine auferlegte Einsicht wieder: Die biblischen Schriften sprechen nicht nur über das Zeugnis, das Menschen für Gottes Handeln und für Gottes Willen ablegen; sie sprechen auch von dem Zeugnis, das Gott von sich selbst gibt – die Rede vom Gotteszeugnis meint dann ein göttliches Selbstzeugnis vor den Menschen. Gott selbst erklärt nach Dtn 31,26 die in die Lade gelegte Bundesurkunde zum Zeugen für seinen Willen, für Gottes Willen. Gottes Handeln an David ist offenbarendes Gotteszeugnis – Selbstzeugnis Gottes, das den Völkern von Gott vor Augen gehalten wird (vgl. Jes 55,3–5). Innerhalb der neutestamentlichen Schriften ist die Rede vom Selbstzeugnis Gottes in den johanneischen Schriften am deutlichsten zu greifen. Sehr klar spricht der 1. Johannesbrief: »Wenn wir von Menschen ein Zeugnis annehmen, so ist das Zeugnis Gottes gewichtiger; denn das ist das Zeugnis Gottes: Er hat Zeugnis abgelegt für seinen Sohn. [. . . ] Und das Zeugnis besteht darin, dass Gott uns das ewige Leben gegeben hat; und dieses Leben ist in seinem Sohn« (1 Joh 5, 9.11). Gottes Tat der Auferweckung Jesu ist Zeugnis für den Leben erwirkenden Gott; dieses Zeugnis bestätigt, bekräftigt das Gotteszeugnis Jesu. (4) Werbendes Zeugnis – in diesem Sinne sehe ich die personale Dimension des menschlichen Zeugnisses in den biblischen Schriften aufgegriffen und geformt: Der Gedanke der unvertretbaren, persönlichen Zustimmung zur Wahrheit des Bezeugten – der persönliche Glaube – er verbindet sich mit dem drängenden Wunsch, für die Wahrheit des Bezeugten einzutreten, für sie zu werben, sie zu verkündigen. Die Sendung von Jüngerinnen und Jüngern als Zeugen des Lebens, des Sterbens und der Auferweckung Jesu Christi ist vielfach im Neuen Testament belegt – vor allem in den beiden lukanischen Schriften. Lukas schildert zu Beginn der Apostelgeschichte ein Mahl; der auferweckte Christus sagt zu seinen Jüngern: »Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch

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herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde« (Apg 1,8). Das Zeugnis von Menschen offenbart Verborgenes; es bezieht sich auf geschichtliche Ereignisse oder auf ethische Weisungen. Sein Sinn ist es, dem Erlebten und Gelebten bleibende Bedeutsamkeit zu sichern; dazu ist Kunde – ein Künden, eine Aussage, eine Äußerung erforderlich, die nicht notwendig in Worten geschehen muss, zu der die Zeugin und der Zeuge sich frei entscheiden und mit der sie werbend eintreten für die Wahrheit des Bezeugten. Der in der phänomenologischen Beschreibung benannte Aspekt der Vorgabe, der Auflage der bezeugten Wahrheit weist auf die Erfahrung der Zeugen hin, die Gültigkeit des eigenen Zeugnisses nicht allein mit der eigenen Einsicht begründen zu können. Zeugen erfahren sich eingefordert von dem, was sich ihnen zeigt. Die biblischen Schriften greifen alle genannten Aspekte des Zeugnisses auf. Eigen ist dem biblischen Verständnis des Zeugnisses, dass das Zeugnis der Erkenntnis eines geschichtlich sich offenbarenden Gottes dient, der erkannt werden möchte in seinem rettenden Handeln und in seiner ethischen Weisung. Gemeinschaftstreue, nicht Gemeinschaftsbruch, fordert dieser Gott – das ist seine Tora, die Israel und auch die Christen zu bezeugen haben. Das Leben, nicht den Tod, will dieser Gott. Israel erfährt es so in seiner Geschichte. Die frühen christlichen Gemeinden legen Zeugnis ab für Gottes Selbstzeugnis in Jesus Christus, einer geschichtlichen Gestalt, die die Weisung Gottes lebte und im Sterben bezeugte, dass es Hoffnung gibt auch für die, die die Weisung Gottes verfehlen – Hoffnung, die begründet ist in Gott, der auch den Sünderinnen und Sündern das Leben bewahrt, wenn sie ihm glaubend vertrauen. Verliert angesichts der Osterzeugnisse der Glaube den Charakter des Wagnisses? Was bedeuten die Zeuginnen und Zeugen, die dem Auferweckten begegnet sind in Gestalt eines Widerfahrnisses, das sie unbeabsichtigt getroffen hat? Hat in dieser Gewissheit um das Leben im Tod nicht die Hoffnung einen sicheren Grund, sodass das Sterben leicht wird? Ja und nein; auch der österliche Glaube ist Glaube – Vertrauen auf Gott in all der Ungewissheit, ob die Zeugen nicht einer Illusion, einem Wunschgebilde, einer Einbildung erlegen sind. Wir wissen es nicht. Ich vertraue darauf, dass es nicht so war. Ich weiß es nicht. Karl Rahner bezeichnet ganz am Ende seiner Bemerkungen zum Begriff des Zeugnisses auch die »theologische Rede« als einen »Modus des Zeugnisses« – als einen defizienten zwar, aber – in allem Ernst – als »Zeugnis«, als Kunde von Gottes Wahrheit, für die die Theologin und der Theologe mit der ganzen Person, dem Wort und der Tat einstehen. 13 Ich

13 Vgl. K. Rahner, Theologische Bemerkungen zum Begriff »Zeugnis«, in: Schriften zur Theologie 10 (1972) 164–180, hier 180.

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stimme dem aus ganzem Herzen zu und wollte gerne bei der Gestaltung der ökumenischen Bildung so leben. Abstract This essay reflects today’s ecumenical formation against the background of biblical scriptures. The main focus is on the common mission of all Christians, which is giving witness for their paschal faith. Men and women are called to this apostolic service. Only in communion a personal experience can become an assurance of faith. Ecumenical formation can be found in different places of concrete communication. The effort to clarify the definition of formation can help to differentiate between ecumenical education and ecumenical formation: rather than only acquiring knowledge, the formation changes the personality which also involves implementations.

Dorothea Sattler, Prof.in Dr. theol., Jg. 1961, ist Professorin für Ökumenische Theologie und Dogmatik und Direktorin des Ökumenischen Instituts an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Peter Gemeinhardt

»Den Heiden eine Torheit«?* Bildung im paulinischen Schrifttum und im frühen Christentum 1. »Bildung« im antiken Christentum: Methodologische Vorüberlegungen Das Christentum ist eine Bildungsreligion. Es war dies von Anfang an, und zwar so, dass der Bezug auf Bildung das Christentum mit seiner Umwelt sowohl in engster Weise verband als auch signifikant von ihr unterschied. Was den Heiden als Torheit erscheinen mochte, entwickelte sich in rasanter Geschwindigkeit zu einer Philosophie sui generis. Damit wäre das Wesentliche bereits gesagt. Warum es dennoch notwendig ist, die These, das Christentum sei eine Bildungsreligion – und dies nicht erst in der Moderne – ausführlich zu begründen, liegt auf der Hand. Ich operiere mit Begriffen, deren Sachbezug alles andere als selbstverständlich ist. Das Neue Testament dokumentiert die Entstehung einer in sich vielfältigen religiösen Bewegung in der frühen römischen Kaiserzeit, die sich erst später als »Christentum« bewusst von dem abgrenzte, was zeitgleich als »Judentum« erkennbar wurde. Dass sich Christentum und Judentum sukzessive als eigenständige – in sich plurale – Religionen voneinander unterschieden, ist für die folgenden Überlegungen von Bedeutung, insofern Paulus, aber auch die Apologeten und die alexandrinischen Theologen an Bildungstraditionen des frühen Judentums partizipierten. Das betraf insbesondere Methoden der Auslegung von Texten, die – teils im Rückgriff auf die hellenistische Homerexegese – z.B. in Qumran und bei Philon von Alexandrien auf die biblischen Schriften angewandt worden waren. 1 Religiöse Texte »kunstgerecht« auszulegen war

* Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des von der DFG geförderten SFB 1136 »Bildung und Religion« (Georg-August-Universität Göttingen), Teilprojekt C 04 »Vermittler von Bildung im spätantiken Christentum: Lehrerrollen in Gemeinde, Familie und asketischer Gemeinschaft«. Für kritische Lektüre danke ich sehr herzlich meinem Kollegen Florian Wilk und meiner Mitarbeiterin Krystyna-Maria Redeker. Die Abkürzungen patristischer Quellen folgen W. Geerlings /S. Döpp (Hg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg u.a. 32002. 1 Zu Qumran vgl. G.J. Brooke, Aspects of Education in the Sectarian Scrolls from the Qumran Caves, in: ders./R. Smithuis (ed.), Jewish Education from Antiquity to the Middle Ages. Studies in Honour of Philip S. Alexander (AJEC 100), Leiden /Boston 2017, 11– 42 sowie R.G. Kratz, Text und Kommentar: Die Pescharim von Qumran im Kontext der hellenistischen Schultradition, in: P. Gemeinhardt /S. Günther (Hg.), Von Rom nach Bagdad. Bildung und Religion in der späteren Antike bis zum klassischen Islam, Tübingen

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also nichts, was erst hätte erfunden werden müssen – welche »Kunst« dafür geeignet war und unter welchen Voraussetzungen sie zur Interpretation der »Schrift« dienen konnte, war allerdings strittig. Die Frage ist daher nicht, ob, sondern in welcher Weise man vom frühen Christentum als einer Bildungsreligion sprechen kann. Das erfordert allerdings eine Klärung, was mit »Bildung« in biblischer und frühchristlicher Zeit gemeint ist. Eine Definition von Bildung als Oberbegriff von »Kultur« und »Aufklärung« und als Differenzbegriff zu »Erziehung«, wie in der Einleitung zum vorliegenden Band – »Bildung« sei »danach eine Kennzeichnung des Mensch-Seins, mit der durch bewusste Formen des Handelns (Kultur) und des Denkens (Aufklärung) eine kritische Selbstbezüglichkeit / Selbstreferentialität in der Auseinandersetzung mit / Aneignung von Wirklichkeit in den Blick genommen wird« (S. VII) –, läuft Gefahr, sowohl Praxis als auch Theorie antiker und frühchristlicher Bildung zu verfehlen. Ein am Individuum und seiner Selbsttätigkeit orientiertes Bildungsverständnis, wie es sich im 18. Jahrhundert entwickelte, ist Teil der Wirkungsgeschichte der Bibel, nicht deren Voraussetzung. Der deutsche Begriff »Bildung« ist schon im Spätmittelalter bei Meister Eckhart († 1328) im Rahmen seiner mystischen Theologie bezeugt, wird aber erst seit der Aufklärung zu einem philosophischen und pädagogischen Kernbegriff. 2 Die Erschaffung des Menschen zum Ebenbild Gottes (Gen 1,27) und die Wiederverwandlung in Christi Bild (2 Kor 4,6) sind zentrale biblische Hintergründe; der Begriff knüpft aber auch an traditionelle philosophische Kategorien an. Schon die antike Philosophie rief den Menschen auf, sich um eine ὁµοίωσις θεῷ, d.h. um eine »(Wieder-) Verähnlichung mit Gott«, zu bemühen (s.u. S. 211). Sogar eine »theonome« Bildung lässt sich außerhalb der jüdisch-christlichen Tradition erkennen: Der delphische Philosoph und Priester Plutarch (gest. ca. 125 n.Chr.) verstand die am dortigen Apollontempel zu lesende Maxime γνῶθι σαυτόν (»Erkenne dich selbst«) als Aufruf zur Selbsterkenntnis im Gegenüber zum Göttlichen und als Beziehungserkenntnis, die ein geschichtliches Gewordensein des Selbst impliziert. 3 Der moderne Bildungsbegriff hat also durchaus Anhalt an vormodernen biblischen und philosophischen Konzepten. Aber ist damit bereits alles Wesentliche über die antike Bildung gesagt? Bildung war in der Antike grundlegend in soziale Praktiken eingebunden. Insofern war eine selbstbezügliche kritische Auseinandersetzung mit

2013, 51–80. Zu Philon vgl. M.R. Niehoff, Philon von Alexandria. Eine intellektuelle Biographie, Tübingen 2019, bes. 203–225. 2 Vgl. B. Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2012, 215–218. 3 Plutarch, De E apud Delphos 21 (394C); vgl. E. Almagor, Dualism and the Self in Plutarch’s Thought, in: J. Rüpke /G. Woolf (ed.), Religious Dimensions of the Self in the Second Century CE (STAC 76), Tübingen 2013, 3–22, hier: 19.

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oder Aneignung der Wirklichkeit vielleicht das Ziel elitärer philosophischer Lernzirkel, aber kein Ideal, das alle Menschen in gleicher Weise erstreben sollten. Bildung diente vielmehr dazu, sich in soziale Rollen einzuleben; diese umfassten ein weites Spektrum von Rollenangeboten, dessen Verfügbarkeit wiederum durch Herkunft, Stand und Finanzkraft präfiguriert wurde. Die Konstitution von Identität durch Bildung führte so zu einem komplexen Ineinander sozialer und individueller Momente personaler Identität. Daher ist ein beim einzelnen Menschen und dessen (Selbst-)Aufklärung ansetzender Bildungsbegriff nicht ohne Weiteres geeignet, um Normen und Praktiken von Bildung in der Antike und im frühen Christentum zu erfassen. 4 Zudem sollte die Grenze zwischen Bildung und Erziehung für die Vormoderne nicht so strikt gezogen werden, wie das unter modernen bildungstheoretischen Gesichtspunkten sinnvoll erscheinen mag. Das macht schon ein Blick auf die Terminologie deutlich. Mit dem Wortfeld παιδεία / παιδεύειν kann die (direktive und affirmative) Erziehung bezeichnet werden, im Sprachgebrauch der Septuaginta und des Neuen Testaments auch die »Züchtigung«, ebenso aber auch die literarische Bildung, durch die man ein πεπαιδευµένος wurde, gipfelnd in der »abgerundeten Bildung« (ἐγκύκλιος παιδεία), dem Inbegriff der für gesellschaftliches Handeln relevanten Wissensbestände und Kompetenzen. 5 Eine solche παιδεία galt seit Platon als Grundlage philosophischer »Selbst-Formung« (ἑαυτὸν πλάττειν); 6 diese zielte auf eine »Angleichung an Gott nach Möglichkeit« (ὁµοίωσις θεῷ κατὰ τὸ δυνατόν), die sich in einer asketischen Lebensweise realisierte, durch die man »gerecht und fromm mit Einsicht« (δίκαιον καὶ ὅσιον µετὰ φρονήσεως) wurde. 7 In dieser Hinsicht erscheint παιδεία als Bestandteil des gemeinsamen Projekts der spätantiken Philosophen (auch der christlichen!), die sich dem Ziel verschrieben hatten,

4 Vgl. hierzu und zum Folgenden P. Gemeinhardt, Bildung in der Vormoderne – zwischen Norm und Praxis, in: ders. (Hg.), Was ist Bildung in der Vormoderne? (SERAPHIM 4), Tübingen 2019, 3–38. 5 Vgl. P. Gemeinhardt, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung (STAC 41), Tübingen 2007, 7f (παιδεία als »Zucht«) und 46–51 (ἐγκύκλιος παιδεία); zum Corpus Paulinum C.S. Smith, Pauline Communities as »Scholastic Communities«. A Study of the Vocabulary of »Teaching« in 1 Corinthians, 1 and 2 Timothy and Titus (WUNT II, 335), Tübingen 2012, 313–322; zu den Pastoralbriefen F. Krumbiegel, Erziehung in den Pastoralbriefen. Ein Konzept zur Konsolidierung der Gemeinden (ABG 44), Leipzig 2013, 53–78. 6 Platon, Res Publica 500cd. 7 Platon, Theaetetus 176ab; vgl. Res publica 613ab; Timaeus 90d; Leges 716cd; dazu M. Becker, Zwischen Gelehrsamkeit und Angleichung an Gott. Bildung in der spätantiken Philosophie, in: P. Gemeinhardt (Hg.), Was ist Bildung in der Vormoderne? (SERAPHIM 4), Tübingen 2019, 205–228, hier: 209.222.

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»das Selbst, das Subjekt, die Seele, den Geist, das Innere des Menschen zu bilden und zu stärken«. 8 Literarische Bildung konnte aber nicht nur als Vorstufe, sondern auch selbst als Inbegriff des erfolgreichen Bildungsweges betrachtet werden: Cicero in der späten römischen Republik und Aulus Gellius im zweiten Jahrhundert n.Chr. sahen mit der ἐγκύκλιος παιδεία bzw. mit den bonae artes die Bildung wahren Mensch-Seins (humanitas) gegeben. 9 Diese Bildung war es wiederum, die Quintilian, zeitlich zwischen den beiden Genannten schreibend, als Merkmal des orator perfectus ansah, des in der Öffentlichkeit wirkenden freien Mannes, und darauf sollten Kinder und Heranwachsende aus der Oberschicht vorbereitet werden. 10 Eine kompetente Ausübung der Rhetorentätigkeit war demnach ein Erziehungs-Ziel, stand aber mit dem Ideal selbsttätiger Bildung begrifflich und sachlich in enger Verbindung. 11 Solche Bildung wirkte distinktiv, sie unterschied den freien – ökonomisch unabhängigen – Mann, der die Zeit zum Bildungserwerb hatte, vom »Banausen«, der von seiner Arbeit leben musste, und vom Fachgelehrten, der in einer τέχνη ausgebildet war, wie z.B. ein Arzt. 12 Solche Bildung war stets nur das Privileg einer kleinen Elite, die ihren Kindern Unterricht ermöglichen konnte; die Masse der Bevölkerung waren die illitterati. Praktisch und moralisch erzogen wurden diese aber dennoch, sowohl von den Eltern und Familienangehörigen als auch in der alltäglichen Praxis, intentional, aber auch – und vor allem – beiläufig, d.h. durch Sozialisation. Diese sozialgeschichtlichen Kontexte müssen im Blick bleiben, wenn nach dem Christentum als einer Bildungsreligion gefragt wird, weil erst damit die eingangs formulierte These begründet werden kann. Das Neue Testament erwähnt φιλοσοφία nur einmal (kritisch: Kol 2,8) und das Wortfeld παιδεία / παιδεύειν nicht besonders oft. 13 Das

8 T. Kobusch, Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität, Darmstadt 2006, 64. 9 Cicero, Pro Marco Caelio 54; Aulus Gellius, Noctes Atticae XIII 17,1; vgl. Gemeinhardt, Christentum, 47. 10 Quintilian, Institutio oratoria I praef. 9; 10,1; ähnlich auch Cicero, De oratore I 16,72. 11 Der Bildungskanon der septem artes liberales ist allerdings erst bei Porphyrius, Historia philosophica frg. 224 Smith und Augustin, ord. II 12,35–16,44 (BiTeu 169,10–175,19 Fuhrer /Adam) bezeugt. 12 Vgl. R. von Bendemann, Enzyklische Wissenschaften, in: K. Erlemann u.a. (Hg.), Neues Testament und antike Kultur, Bd. 2: Familie – Gesellschaft – Wirtschaft, Neukirchen-Vluyn 2005, 238–241, hier: 239; zu Bildung als Distinktionsmerkmal vgl. K. Vössing, Die Geschichte der römischen Schule – ein Abriß vor dem Hintergrund der neueren Forschung, Gymnasium 110 (2003), 455–497, hier: 481–483. 13 Vgl. allerdings die berechtigte Warnung von P. Müller, Das frühe Christentum und die Bildung, in: H. Rupp u.a. (Hg.), Zukunftsfähige Bildung und Protestantismus, Stuttgart 2002, 17–28, hier: 24, die Aussagekraft des Fehlens einer bestimmten Bildungsterminologie zu hoch einzuschätzen.

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könnte darauf hindeuten, dass theoretische Konzepte von Bildung weniger im Fokus der ersten christlichen Autoren standen als vielmehr konkrete Prozesse des Lehrens und Lernens. Gehäuft finden sich nämlich die Wortfelder διδάσκαλος / διδάσκειν sowie µαθητής / µαθητεύω. Die häufigste Bezeichnung für Jesus ist »Lehrer«, die für seine Gefährten »Schüler« 14; diese sollen wiederum alle Völker »in den Stand versetzen, selbst Jünger zu werden« (µαθητεύειν), um diese zu »taufen« (βαπτίζειν) und dann – weiter – zu »belehren« (διδάσκειν; Mt 28,19f). 15 Es geht also nicht um ein Überstülpen der christlichen Botschaft, sondern um deren gewinnende Vermittlung, damit die Adressaten sie als wahr anerkennen und sich taufen lassen – woraufhin sie nicht »fertig« sind, sondern weiterer Unterweisung bedürfen. »Alle Völker« (πάντα τὰ ἔθνη) zu belehren hieße jedoch, die oben erwähnte Funktion sozialer Distinktion durch Bildung zu unterlaufen. Allen Menschen 16 wurde hier zugetraut, Einsicht in die Wahrheit des Glaubens zu erlangen, sich bewusst zur Taufe zu entscheiden und dann auch das christliche Ethos lebenspraktisch umzusetzen. Bildung wurde also nicht von hergebrachten sozialen Strukturen, sondern von Gott her definiert – mit Paulus gesagt: Die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind. Seht doch, Brüder und Schwestern, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist (1 Kor 1,25–27). 17

Dass das Christentum eine Bildungsreligion war, wird im Neuen Testament – neben dem lukanischen Doppelwerk – in den Paulusbriefen (einschließlich der pseudepigraphischen Briefe) besonders anschaulich. Der doppelten Zumutung – dass auch solche Menschen sich um Bildung bemühen sollten, denen das nicht an der Wiege gesungen worden war, und dass Bildungswerte für Menschen reformuliert wurden, die sich auf 14 Vgl. R. Feldmeier, Gottessohn und Lehrer – Jesus von Nazareth, in: T. Georges /J. Schreiner /I. Tanaseanu-Döbler (Hg.), Bedeutende Lehrerfiguren. Von Platon bis Hasan alBanna, Tübingen 2015, 37–62, hier: 38 mit Anm. 1. Grundlegend: R. Kany, Jünger, RAC 19 (2001) 258–346; ders., Lehrer, RAC 22 (2008) 1091–1132. 15 Vgl. W. Reinbold, »Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker«? Zur Übersetzung und Interpretation von Mt 28,19f, ZThK 109 (2012), 176–205, hier: 179–182 zur Entdeckung, dass die vermeintlich von Luther stammende Wendung »Machet alle Völker zu Jüngern« erstmals in der revidierten Lutherbibel von 1956 stand. Seine Paraphrase lautet: »Beginnt damit, alle Völker als Schüler anzunehmen, von nun an lehrt alle Völker!« (202). 16 Nach M. Konradt, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 1), Göttingen 2015, 462f. gilt dies unter Einschluss von Israel (mit Bezug auf Mt 10,6–8.23). 17 Übersetzungen von Bibeltexten folgen der Lutherbibel 2017, teils mit kleineren Modifikationen, die nicht eigens vermerkt werden.

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ihr Wissen einiges einbildeten – wird im Folgenden anhand der Briefe des Paulus (2) und der sich auf ihn berufenden Tradition (3) nachgegangen. Ausblicksweise wird die christliche Literatur bis zu Origenes in den Blick genommen, einschließlich paganer Kritik an christlichen Bildungsansprüchen (4). Ob die christliche Lehre eine »Torheit für die Heiden« blieb, ist abschließend (5) zu fragen. 18

2.

Das Christentum als Weisheit sui generis? Paulus und die Korinther

Paulus war ein Gebildeter (πεπαιδευµένος), und dies in zweifacher Hinsicht: Er war »mit aller Sorgfalt unterwiesen im väterlichen Gesetz« (πεπαιδευµένος κατὰ ἀκρίβειαν τοῦ πατρῴου νόµου, Apg 22,3), 19 beherrschte aber auch die griechische Rhetorik in dem Maße, das für das Verfassen von Briefen erforderlich war. 20 Ob Paulus auch ein überzeugender Redner war, ist strittig, und zwar schon innerhalb der neutestamentlichen Schriften: Dafür sprechen seine Missionsreden, zumal die auf dem Areopag (Apg 17,16–34) – die sich aber der literarischen Gestaltung durch Lukas verdanken. 21 Werner Jaeger erblickte in dieser Perikope »die historische Situation des beginnenden Ringens zwischen Christentum und klassischer Welt«. 22 Jedoch musste »das Wort vom Kreuz« (1 Kor 1,18) den Trägern einer hellenistischen Bildung erst plausibel gemacht werden. Die korinthischen Vertreter dieser Bildung bezweifelten, dass Paulus die erforderliche Autorität und rhetorische Performanz mitbrachte: Wie wollte jemand, der »nicht mit der Weisheit von Worten« (οὐκ ἐν σοφίᾳ λόγου, 1 Kor 1,17) auftrat, eine solche Botschaft an den Mann bringen?

18 Eine umfassende Auseinandersetzung mit der Forschung zu Bildung bei Paulus kann und soll hier nicht geleistet werden. Gesteigertes Interesse am Thema in jüngerer Zeit belegen neben Smith, Pauline Communities und Krumbiegel, Erziehung vor allem T. Vegge, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus (BZNW 134), Berlin /New York 2006 und B.A. Edsall, Paul’s Witness to Formative Early Christian Instruction (WUNT II, 365), Tübingen 2014. 19 Das bestätigen Gal 1,14 und Phil 3,5f. Vgl. K.-W. Niebuhr, Heidenapostel aus Israel. Die jüdische Identität des Paulus nach ihrer Darstellung in seinen Briefen (WUNT 72). Tübingen 1992, 21–24.44–48.103–109. 20 Vgl. Vegge, Paulus, 357–372.457–486; T.J. Bauer, Paulus und die kaiserzeitliche Epistolographie (WUNT 276), Tübingen 2011, 404–418. 21 Hierzu vgl. S. Vollenweider, »Mitten auf dem Areopag«. Überlegungen zu den Schnittstellen zwischen antiker Philosophie und Neuem Testament, Early Christianity 3 (2012), 296–320, hier: 318f; M. Becker, Lukas und Dion von Prusa. Das lukanische Doppelwerk im Kontext paganer Bildungsdiskurse (Studies in Cultural Contexts of the Bible 3), Paderborn 2020. 22 W. Jaeger, Das frühe Christentum und die griechische Bildung, Berlin 1963, 7; vgl. ebd.: »Dies war der entscheidende Augenblick in der Begegnung von Griechen und Christen. Die Zukunft des Christentums als einer Weltreligion hing von ihm ab.«

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Von frühchristlichen Theologen wurde Paulus bisweilen so verstanden, als habe er gar nicht erst versucht, »kunstgerecht« zu argumentieren und stattdessen, so Tertullian († nach 215), Glauben gegen vernünftige Einsicht gefordert: Der Sohn Gottes wurde gekreuzigt – ich schäme mich nicht dafür, eben weil man sich dafür schämen müsste. Der Sohn Gottes ist auch verstorben – dies ist glaubwürdig, eben weil es ungehörig ist. Er wurde auch begraben und ist hernach auferstanden – dies ist gewiss, eben weil es unmöglich ist. 23

Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass Paulus es in Bezug auf argumentative Kompetenz mit seinen Kontrahenten durchaus aufnehmen konnte. Dass er »in der Rede ungeschickt« (ἰδιώτης τῷ λόγῳ, 2 Kor 11,6) war, ist Teil seiner brieflichen Selbststilisierung; 24 die »Narrenrede« (2 Kor 11,16–12,10) ist vielmehr ein Beispiel für geschickte rhetorische Gestaltung, jedenfalls in schriftlicher Form. Ob Paulus in Korinth tatsächlich »nicht mit der Überzeugungskraft der (menschlichen) Weisheit« (ἐν πειθοῖ σοφίας, 1 Kor 2,4) aufgetreten war und deshalb Kritik auf sich gezogen hatte, und ob sich dies mangelnder Kompetenz oder einem gewusst eingenommenen Habitus verdankte, ist anhand der brieflichen Auseinandersetzung, von der uns ja nur die Ansicht des Paulus überliefert ist, nicht zu entscheiden. Klar ist hingegen, dass für diejenigen, an die sich seine literarisch anspruchsvollen Briefe richteten, »ein beachtliches Bildungsniveau vorauszusetzen« 25 war, und zwar konkret in Bezug auf die Schrift. Das wiederum gilt nicht nur für die »Aufgeblasenen« (1 Kor 4,18), gegen die Paulus argumentiert, sondern für alle Adressatinnen und Adressaten. Damit ist nicht behauptet, dass alle Gemeindemitglieder in Korinth, Philippi oder Rom selbst lesen konnten oder dass dies von ihnen 23 Tertullian, carn. 5,4 (FC 84, 176,14–16 Lukas) – gegen Marcion gerichtet: Crucifixus est dei filius; non pudet quia pudendum est. Et mortuus est dei filius; credibile est quia ineptum est. Et sepultus resurrexit; certum est quia impossibile. Übers. a.a.O. 177. Zuvor (Kap. 4,5; a.a.O. 174,1) nimmt er auf 1 Kor 1,27 Bezug. Der Tertullian zugeschriebene Satz credo quia absurdum est ist im erhaltenen Werk dagegen nicht nachweisbar. 24 Zur rhetorischen Stilisierung dieser Passage vgl. Bauer, Paulus, 411f. Anders als bei Petrus und Johannes, die in Apg 4,13 als ἀγράµµατοι καὶ ἰδιώται mit vollmächtiger Rede trotz mangelnder Bildung Aufsehen erregten, kann bei Paulus überprüft werden, ob er wirklich nicht wusste, was er rhetorisch tat. Der wirkungsgeschichtlich bedeutsame Topos, dass Christus »Fischer, nicht Rhetoren zum Predigen aussandte« (piscatores citius quam sophistam ad praeconium emittens; Tertullian, anim. 3,3; CChr.SL 2, 785,17f Waszink – m.W. der früheste Beleg), hat in den Paulusbriefen nur im Blick auf die Selbstinszenierung des Apostels Anhalt, nicht in Bezug auf die ihm faktisch zu attestierenden rhetorischliterarischen Kompetenzen. 25 U. Schnelle, Das frühe Christentum und die Bildung, NTS 61 (2015), 113–143, hier: 125; am Beispiel von 1 Kor 3–4 demonstriert dies F. Wilk, Schriftauslegung als Bildungsvorgang im ersten Korintherbrief des Paulus – untersucht ausgehend von 1 Kor 4,6, in: ders. (Hg.), Scriptural Interpretation at the Interface between Education and Religion. In Memory of Hans Conzelmann (TBN 22), Leiden /Boston 2019, 88–111, hier: 97–101.

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verlangt worden wäre. Die Zugehörigkeit zu einer von Paulus gegründeten Gemeinde implizierte aber, seine Briefe zu rezipieren, die darin enthaltenen Weisungen zu befolgen und somit seine Autorität als Lehrer zu akzeptieren. 26 Paulus trat dabei nicht in eigenem Namen oder als Vermittler der traditionellen Bildung auf, sondern als Apostel Jesu Christi, zu dem die Christen in Beziehung treten sollten. Das erübrigte nicht das Lehren und Lernen innerhalb der Gemeinde, stellte es aber in einen spezifisch religiösen Rahmen, der in antiken Schulen – für Grammatik, Rhetorik oder Philosophie – nicht in vergleichbarer Weise gegeben war. Die besondere Lehraufgabe des Paulus – von einem »Lehramt« zu sprechen wäre nicht falsch, aber im Blick auf spätere Institutionalisierungen christlicher Ämter missverständlich – zielte auf das Verständnis des Christusereignisses im Horizont der »Schrift« und auf die Anleitung der Glaubenden zu einem Christus entsprechenden Leben als Individuen und in der Gemeinschaft vor Ort. Die von ihm intendierte Bildung adressierte Gläubige als Einzelne und Glieder einer Gruppe, deren Zusammenhalt nicht fakultativ, sondern obligatorisch war. Der rechte Lehrer war daher derjenige, der die Gemeinde zusammenhielt, während die (Ein-) Gebildeten in Korinth offenbar die Bildung von Kleingruppen vorangetrieben hatten (1 Kor 1,12). Wenn man Lukas’ Aussagen über Apollos – er war »redegewandt« und »bewandert in den Schriften« (ἀνὴρ λόγιος [. . . ] δυνατὸς ἐν ταῖς γραφαῖς), »unterwiesen im Weg des Herrn« und »lehrte zutreffend das, was Jesus betraf« (κατηχηµένος τὸν ὁδὸν τοῦ κυρίου ἐδίδασκεν ἀκριβῶς τὰ περὶ τοῦ ᾿Ιησοῦ, Apg 18,24f) 27 – glauben darf, könnte sich Paulus’ Kritik an den »Weisen« (σοφοί) und »Schriftgelehrten« (γραµµατεῖς, 1 Kor 1,20) gegen eine Hochschätzung des Apollos in Korinth richten und auf eine Konkurrenz von Affiliationen zu verschiedenen διδάσκαλοι hindeuten. 28 Paulus wurde dabei

26 Edsall, Paul’s Witness unterscheidet zwischen »Explicit Reminders about his Message«, »Direct Appeals to Knowledge« und »Implicit Appeals to Paul’s Teaching«, um zu analysieren, wie Paulus seine Gemeinden in Thessalonich und Korinth belehrt und auf bereits Gelehrtes Bezug nimmt. »Formative Instruction« wird damit in ihrer Dynamik und zugleich in ihrer inhaltlichen Dimension beschrieben, was gegenüber einer Konzentration auf rein semantische Beobachtungen wie bei Smith, Pauline Communities vorzuziehen ist. 27 Das begrenzte Wissen über Apollos’ Bildungsprofil führt J. Wehnert, Apollos, in: T. Georges /F. Albrecht /R. Feldmeier (Hg.), Alexandria (COMES 1), Tübingen 2013, 403–412, hier: 404 auf. 28 Vgl. H.G. Snyder, Teachers and Texts in the Ancient World. Philosophers, Jews and Christians, London /New York 2000, 201; Wilk, Schriftauslegung, 89; ders., Bezüge auf »die Schriften« in den Korintherbriefen, in: ders./M. Öhler (Hg.), Paulinische Schriftrezeption. Grundlagen – Ausprägungen – Wirkungen – Wertungen (FRLANT 268), Göttingen 2017, 149–173, hier: 160–164. S. Vollenweider, Kreuzfeuer. Paulus und seine Konflikte mit Rivalen, Feinden und Gegnern, in: J. Schröter u.a. (Hg.), Receptions of Paul in Early Christianity. The Person of Paul and His Writings Through the Eyes of His Early Interpreters (BZNW 234), Berlin /Boston 2018, 649–674, hier: 654 spricht von »Rivalen im Sinn von

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am Maßstab rhetorischer Performanz gemessen und galt manchen als guter Briefschreiber, aber als schlechter Redner (2 Kor 10,10). Wäre das so gewesen, hätte er jedoch kaum »in der Öffentlichkeit und in häuslichen Gemeinschaften« erfolgreich gelehrt (Apg 20,20: δηµοσίᾳ καὶ κατ᾿ οἴκους). 29 Deutlich ist, dass unterschiedliche Erwartungshorizonte bezüglich des Einsatzes antiker Bildung für Zwecke der Mission und des Gemeindeaufbaus konkurrierten. 30 Botschaft und Medium bzw. Performanz sind dabei nicht voneinander zu trennen. Die Frage war daher von Anfang an nicht nur, »was?«, sondern »wie?« und »woran?«, vor allem aber »woraufhin?« vermittelt wurde. Die paulinische Argumentation in 1 Kor 1–4 lässt sich also als Auseinandersetzung zwischen zwei Arten, Philosophie zu treiben, verstehen: In seiner Rede über die Weisheit (1 Kor 2,6–16) »reklamiert er [sc. Paulus] für die Verkündigung des Evangeliums all das, was sich ein guter Teil der kaiserzeitlichen Philosophie als Weisheitsliebe nur wünschen kann«, bis zum νοῦς als Referenzpunkt (2,16), führt aber mit dem Kreuz »ein markantes Differenzkriterium zwischen weltlicher und christlicher Weisheit« ein. 31 Dabei wird der philosophische Begriff νοῦς durch den Bezug auf Christus neu qualifiziert. Entsprechend verzichtet Paulus nicht auf eine überzeugende Beweisführung (ἀπόδειξις, 2,4), nur ist deren Kriterium nicht – wie die Korinther meinten – »von Menschen geschätzte und vermittelte Weisheit«, sondern »die Kraft Gottes« (2,5). Weil dies den menschlichen Kenntnissen und Erwartungen widerspricht, bedarf es eines Bildungsprozesses, der aus »Unmündigen« (νήπιοι, 3,1) »Vollkommene« (τέλειοι, 2,6) macht, dessen Kern mit Wilk in Paulus’ Anweisung gesehen werden kann, niemand möge »über das hinausgehen, was geschrieben steht« (4,6). Diese grundsätzliche Haltung eines Lebens im Horizont der Schrift schließt ein, dass die Korinther an Paulus und Apollos den Maßstab einer christusgemäßen Bildung lernen sollen, um die durch Orientierung

›freundlicher Konkurrenz‹«; nicht zwischen Paulus und Apollos selbst bestünden Dissonanzen, sondern in der »Inanspruchnahme von Autoritäten durch einzelne Fraktionen« in Korinth (655). 29 Wenn Snyder, Teachers, 205 von einer Lehrtätigkeit »in public and in private« spricht, erweckt das den Eindruck einer Lehrsituation unter vier Augen, wie man sie zu Beginn des 5. Jh. in Augustins De catechizandis rudibus findet, jedoch kaum in den missionarischen Settings der ersten Jahrzehnte nach Jesu Tod. 30 Vollenweider, Kreuzfeuer, 661–670 zeichnet 2 Kor 10,10f und 11,6f in den Kontext der populären kaiserzeitlichen Sophistenschelte ein: »Das Gegensatzpaar zwischen rhetorischem Amateur und Prunkrednern spiegelt so gesehen nicht die ›Realien‹, sondern die jeweiligen Stereotype, und zwar auf beiden Seiten« (669). 31 Vollenweider, »Mitten auf dem Areopag«, 313; vgl. ders., Bildungsfreunde oder Bildungsverächter? Überlegungen zum Stellenwert der Bildung im frühen Christentum, in: P. Gemeinhardt (Hg.), Was ist Bildung in der Vormoderne? (SERAPHIM 4), Tübingen 2019, 283–304, hier: 298f.

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nur an einem der beiden Apostel provozierten Spannungen in der Gemeinde aufzulösen. 32 Solches Lernen soll sich Paulus selbst zum Vorbild nehmen (µιµηταί µου γίνεσθε, 1 Kor 4,16; 11,1), und zwar in Bezug auf die von ihm vorgetragene, von Christus her autorisierte Lehre. 33 Materialiter besteht ein zentrales Lernziel im Erwerb der nötigen Demut, die verhindert, das durch die Schrift gesetzte Maß zu überschreiten. Paulus beschreibt sich selbst und Apollos als »Mitarbeiter Gottes« (συνεργοὶ θεοῦ, 3,9), die dies vorgelebt hätten, indem sie sich nicht exkludierend auf die jeweils eigene »Weisheit« bezogen, sondern Gottes Urteile über eingebildete Weise beherzigt hätten, die Paulus Hiob 5,13 und Ps 94,11 entnimmt (zitiert in 1 Kor 3,19f). Damit definiert er zugleich eine Kompetenz: das verstehende Aneignen und lebenspraktische Gebrauchen der Schrift. Denn was die Schrift lehrt, »hat uns Gott offenbart durch den Geist« (2,10). Wiewohl es dafür menschlicher Vermittlung bedarf, ist der eigentliche Lehrer doch Gott selbst durch den Geist (2,12). Folgerichtig besteht die entscheidende Differenz zwischen »Worten, die menschliche Weisheit lehren kann« und »Worten, die der Geist lehrt« (ἐν διδακτοῖς [λόγοις] πνεύµατος, 2,13), die nur dem »geistlichen Menschen« zugänglich sind, der entsprechend vor-gebildet ist, nicht aber dem Ein-Gebildeten, der meint, sich den geistlichen Bildungsprozess sparen zu können (2,15), und sich anmaßt, Gott selbst zu »unterweisen« (συµβιβάζειν, 1 Kor 2,16 in Aufnahme von Jes 40,13 LXX). Wer in rechter Weise gebildet ist, hat den νοῦς Χριστοῦ (ebd.) und ist »vollkommen« (2,6). Der νοῦς steht nicht für sich, sondern ist von Christus her bestimmt. Er ist also keine neutrale Instanz (etwa der »gesunde Menschenverstand«), an dem sich das Wort vom Kreuz messen lassen müsste. Insofern postuliert bereits Paulus eine christliche »Philosophie«. Indem Paulus den Anspruch erhebt, an philosophische Diskurse anzuknüpfen, formatiert er diese zugleich neu, weil sich dieser »Sinn« eben nur durch den Blick auf das Kreuz erschließt – und dabei an die Akzeptanz und das Verständnis der »Schrift« geknüpft ist. 34 Ein Beispiel für Paulus’ Vorgehen, »ein philosophisches Ideal seiner Zeit aufzunehmen und zugleich von der Kreuzestheologie her umzuprägen«, 35 ist z.B. das Denkmodell von »innerem« und »äußerem« Menschen (Röm 7,22; 2 Kor 4,16; aufgegriffen

32 Hierzu und zum Folgenden Wilk, Schriftauslegung, bes. 89–97. 33 Nach Wilk, Schriftauslegung, 91 Anm. 24 ist »Lernen an [. . . ]« (ἐν ἡµῖν µάθητε) im NT und in der Septuaginta analogielos. 34 Schnelle, Christentum, 136 attestiert Paulus eine »doppelte Traditionstiefe«, nicht nur biographisch, sondern auch in Bezug auf die Diskurse, die er aufgreift und in seinen Briefen verknüpft. 35 Schnelle, Christentum, 137.

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in Eph 3,16). 36 Entscheidend ist allerdings die Reichweite, die Paulus dem Aufruf zur Erneuerung des inneren Menschen zumisst: Alle, die Adressaten seiner Briefe sind, können und sollen diesen Bildungsprozess durchlaufen. Zu den Gemeinden, mit denen Paulus kommunizierte, gehörten Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, beider Geschlechter, mit diversen kulturellen und religiösen Prägungen, Bildungsvoraussetzungen und Erfahrungshorizonten. Gerade die Differenz von jüdischer und nichtjüdischer religiöser Affiliation impliziert aber keinen prinzipiellen Unterschied für die christliche Bildung. Mit dem Glauben an Jesus Christus ist, so Paulus, eine ganz neue Art der Gotteskindschaft eingetreten, sodass nicht mehr das jüdische Gesetz als »Zuchtmeister« (so die Lutherbibel), »Erzieher« oder »Aufpasser« (παιδαγωγός, Gal 3,24) auf Christus hin fungieren muss (Gal 3,24–26). 37 Das bedeutet, so Eisele, »dass wir in religiösen Dingen erwachsen geworden sind« – doch behält das Gesetz seine Relevanz als Resonanzraum, »aus dem er [sc. der Christ gewordene Mensch] wie Paulus sein neues Sein in Christus erst begreift, allerdings so wie ein Erwachsener im Gespräch mit seinem geschätzten Pädagogen.« 38 Das gilt aber auch für »die Schrift« insgesamt, die »zu unserer Belehrung (εἰς τὴν ἡµετέραν διδασκαλίαν) geschrieben ist« (Röm 15,4), die also – so Wilk – »für alle, die sie auf der Basis des Christusglaubens lesen«, als »Lehrbuch« fungiert. 39 Dass Paulus alle Gemeindeglieder zu dieser religiösen Selbst-Bildung aufruft, 40 ist dabei ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber den in aller

36 Vgl. C. Markschies, Innerer Mensch, RAC 18 (1998), 266–312, hier: 279f. Die konkrete Formulierung ὁ ἔσω / ἔξω ἄνθρωπος scheint eine Neuprägung des Paulus zu sein. Platon, Res publica 589b spricht vom ἐντὸς ἄνθρωπος, der mit dem λογιστικόν, d.h. mit dem »Wagenlenker« aus Phaedrus 246a–257d, äquivalent ist. – Für das Folgende ist zu beachten, dass Paulus in 2 Kor 4,7–18 primär das Apostelamt thematisiert, in Röm 7,7– 25 seine eigene »adamitische« Existenz unter dem Gesetz, beide Male jedoch in einer verallgemeinernden, nicht auf seine Biographie beschränkten Weise – so wurden diese Texte schon von patristischen Exegeten verstanden. 37 Zum sozial- und erziehungsgeschichtlichen Hintergrund der Galaterstelle vgl. W. Eisele, Vom »Zuchtmeister Gesetz« zur »erziehenden Gnade« (Gal 3,24f.; Tit 2,11f.). Religiöse Erziehung in der Paulustradition, BZ 56 (2012), 65–84, hier: 70–76; zur Rolle des παιδαγωγός in der antiken Familie vgl. C.B. Horn /J.W. Martens, »let the little children come to me«. Childhood and Children in Early Christianity, Washington D.C. 2009, 29f. 38 Eisele, »Zuchtmeister Gesetz«, 76. 39 F. Wilk, »Zu unserer Belehrung geschrieben . . . « (Römer 15,4): Die Septuaginta als Lehrbuch für Paulus, in: W. Kraus u.a. (Hg.), Die Septuaginta – Text, Wirkung, Rezeption (WUNT 325), Tübingen 2014, 559–578, hier: 561; es geht hier nicht nur um das unmittelbar zuvor zitierte Schriftwort Ps 68,10 LXX (a.a.O. 567), vielmehr zeigt sich daran die grundlegende »Prägung des Apostels durch die Schrift« (575). 40 Vgl. T. Söding, Das Christentum als Bildungsreligion. Der Impuls des Neuen Testaments, Freiburg u.a. 2016, 179: »Als homo politicus hat Paulus durch seine Didaktik und Katechese gerade diejenigen auf einen Bildungsweg geleitet, denen ihr Bürgerrecht auf

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Regel elitären Philosophenzirkeln der frühen Kaiserzeit. 41 Das brachte, zumal in der korinthischen Gemeinde, erhebliche Sprengkraft mit sich. Spätere Vorwürfe, die Christen würden sozial und intellektuell nicht satisfaktionsfähige Personen »philosophieren« lassen, haben hier ein fundamentum in re. Allerdings sah Paulus auch, dass Selbst-Bildung sich nicht von selbst ergibt. Erziehung und Bildung sind nicht strikt zu trennen, weil – modern gesagt – die »Bildsamkeit des Menschen« der »Fremdaufforderung zur Selbsttätigkeit« bedarf. 42 Die Zumutung der Selbst-Bildung erübrigt also nicht das Agieren Einzelner als Lehrer für andere. Paulus selbst bringt die Verantwortung für den je eigenen Bildungsprozess und die Möglichkeit, ja Notwendigkeit, des Anstoßes und der Begleitung durch andere Menschen treffend zum Ausdruck: »Nicht dass wir Herren wären (κυριεύοµεν) über euren Glauben, sondern wir sind Gehilfen (συνεργοί) eurer Freude; denn ihr steht im Glauben« (2 Kor 1,24). Die Haltung der Demut aufseiten des Apostels verhindert nicht das Mitwirken an individuellen Bildungsprozessen der Gläubigen. 43 Es gab in den paulinischen Gemeinden aber auch andere »Lehrer« (διδάσκαλοι, 1 Kor 12,28). Diese firmieren hinter den »Aposteln« und »Propheten« an dritter Stelle der »Ämter«, aber vor den – spontanen und daher nicht ad personam zurechenbaren – »Gnadengaben« (χαρίσµατα) und »Krafterweisen« (δυνάµεις). 44 Dabei führt das Bild des Leibes Christi, an dem jedes Glied seine Aufgabe hat, nicht aber jedes Glied in gleichem Erden verwehrt, von Gott aber im Himmel gewährt wurde (Phil 3,20), auf dass es in der Kirche geachtet und verwirklicht werde.« 41 Auch Kyniker, die auf formale Bildung, sozialen Status und entsprechende Umgangsformen ostentativ keinen Wert legten, verfolgten nicht das Ziel, breite Bevölkerungsschichten zu ihrer Lebensweise zu »bekehren«. 42 So die beiden »konstitutiven Prinzipien« der Pädagogik nach D. Benner, Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns, Weinheim 72012, 70f.80. 43 Dabei tritt Paulus in unterschiedlichen Rollen auf, als »Offenbarungsempfänger«, »verbindliches Vorbild«, »inspirierter Führer« und »Mittler des Evangeliums«, so U. Schnelle, Denkender Glaube. Schulen im Neuen Testament, in: P. Gemeinhardt /S. Günther (Hg.), Von Rom nach Bagdad. Bildung und Religion in der späteren Antike bis zum klassischen Islam, Tübingen 2013, 81–110, hier: 97; vgl. K. Scholtissek, Paulus als Lehrer, in: ders. (Hg.), Christologie in der Paulusschule. Zur Rezeption des paulinischen Evangeliums (SBS 181), Stuttgart 2000, 11–36, hier: 26; ausführlich dazu D. Wolff, Paulus beispiels-weise. Selbstdarstellung und autobiographisches Schreiben im Ersten Korintherbrief (BZNW 224), Berlin /Boston 2017. 44 Zur Analyse dieser »gebrochenen Reihe von drei Aemtern und fünf Gemeindefunktionen« vgl. A.F. Zimmermann, Die urchristlichen Lehrer. Studien zum Tradentenkreis der διδάσκαλοι im frühen Christentum (WUNT II, 12), Tübingen 21988, 106–113, hier: 106f. Da von christlichen διδάσκαλοι bei Paulus nur hier die Rede ist, erklärt Zimmermann die Ämtertrias als einen »vorredaktionellen« (108) »Rest uralter Gemeindeordnung mit geradezu hierarchischen Zügen« (110); das verweise nach Antiochien, wo nach Apg 13,1 ebenfalls »Propheten und Lehrer« tätig gewesen seien, und damit auf die »Kephas-Partei« in Korinth. Paulus zitiere in 1 Kor 12,28 »die antiochenische Trias« als »sein äusserstes Zuge-

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Maße für jede beliebige Aufgabe begabt ist – »Sind sie denn alle Apostel? Sind sie alle Propheten? Sind sie alle Lehrer?« (1 Kor 12,29) –, zur individuell verantworteten Beteiligung an der Gemeindeversammlung, in der gleichberechtigt dazu beigetragen werden soll, »dass alle lernen und ermahnt werden« (1 Kor 14,31): Wenn ihr zusammenkommt, so hat ein jeder einen Psalm, er hat eine Lehre (διδαχή), er hat eine Offenbarung (ἀποκάλυψις), er hat eine Zungenrede (γλῶσσα), er hat eine Auslegung (ἑρµενεία). Lasst es alles geschehen zur Erbauung (οἰκοδοµή)! (1 Kor 14,26).

Die Gleichberechtigung findet allerdings ihre Grenze wenige Verse später an der Anweisung, dass Frauen in der Gemeindeversammlung nicht das Wort nehmen sollen (1 Kor 14,33b–36). Nach 1 Kor 11,5 dürfen sie hingegen das Wort in prophetischer Weise führen, solange sie nur dabei ihr Haupt bedecken. 45 Selbst wenn es sich lediglich um Kritik am Dazwischen-Reden allzu wissbegieriger Frauen handelt 46 oder der Abschnitt als Interpolation auszuscheiden ist 47, wäre es doch zu optimistisch anzunehmen, in Korinth und anderswo hätte eine strikt egalitäre Gesprächskultur geherrscht, in die alle Anwesenden ihre geistlichen Bildungserfahrungen spontan eingebracht hätten. Dagegen spricht die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, in der das Schweigegebot unhinterfragt akzeptiert und gegen autoritative weibliche Gottesrede wie im Montanismus angeführt wurde. 48 Auch Paulus selbst hierarchisiert Formen von Erkenntnis und Rede: Alle haben ihr Recht, dienen aber in unterschiedlicher Weise der »Auferbauung«; es bedarf der Auslegung, wenn jemand in Zungen redet (14,13f.27f), und sogar der kritischen Überprüfung, was die Prophe-

ständnis an die Ekklesiologie der Petriner« (112), ohne sie sich zu eigen zu machen, so dass die διδάσκαλοι schon in Eph 4,11 »als eigenes charakteristisches Amt [. . . ] offensichtlich nicht mehr in Betracht« kommen (117). Im Hintergrund steht seine – kritisch aufgenommene – These, die urchristlichen διδάσκαλοι hätten als Tradenten der »Evangelienstoffe« fungiert, »als sich die Urgemeinde noch ganz im Rahmen des Judentums bewegte« (33). – Sehr viel einfacher erklärt C. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (Kapitel 8– 16) (ThHKNT 7/II), Berlin 1982, 114 die ganze Reihe als Aufzählung der in der Gemeinde wirkenden Charismen, innerhalb derer »die drei für Gründung und Bestand der Gemeinde wichtigsten« vorangestellt und »personal formuliert« werden. 45 Insofern ist es fragwürdig, dass die Lutherbibel 2017 in 1 Kor 14,26 ἀδελφοί mit »Brüder und Schwestern« übersetzt, ohne auf die Schwierigkeiten mit der Textüberlieferung und ihrer Deutung hinzuweisen. 46 So Wolff, Brief, 143f. 47 So H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 111969, 289f; W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther, Teilbd. 3: 1 Kor 11,17–14,40 (EKK 7,3), Zürich /Neukirchen-Vluyn 1999, 479–487, wobei die Interpolation hier auf V. 34f beschränkt wird. 48 Zur altkirchlichen Rezeptionsgeschichte vgl. Schrage, Brief, 493.500f.

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ten betrifft (14,29). 49 Paulus’ Option für eine der οἰκοδοµή dienlichen Redeweise ist klar: »Ich will in der Gemeinde lieber fünf Worte reden mit meinem Verstand (τῷ νοΐ µου), damit ich auch andere unterweise (κατηχήσω), als zehntausend Worte in Zungen!« (1 Kor 14,19). Die unmittelbar folgende Aufforderung, sich nur in Bezug auf die Bosheit, nicht aber auf die Einsicht (φρήν) als noch nicht rechenschaftspflichtige Kinder zu erweisen (14,20), schlägt den Bogen zurück zu den einleitenden Kapiteln (1 Kor 1–4, bes. 2,6–16), wo die Bildung des νοῦς am Maßstab des Heilshandelns Christi präsentiert wurde. Entsprechend geht es auch in Kap. 14 mit νοῦς nicht um die vernunftgeleitete Instanz im Menschen an sich, sondern um den auf das Kreuz Christi ausgerichteten Verstand. Der geistlichen Partizipation an der Gemeindeversammlung und damit der Initiation und Begleitung von Bildungsvorgängen diente nicht nur die Verlesung der theologisch und hermeneutisch sehr voraussetzungsreichen Apostelbriefe, sondern auch deren intensive Diskussion, auf die Paulus’ Erläuterungen (1 Kor 5,9–13; 7,1–40) und die Sendung des Timotheus als Hermeneuten hinweisen. Wie man allerdings innerhalb der Gemeinde zum Lehrer wird, was jemanden dafür qualifiziert, wie die Unterweisung konkret aussieht – darüber schweigt sich der Apostel aus. »Die Kirche als Bildungsinstitution« 50 zu betrachten erscheint daher für Paulus überpointiert, zumal schon die nachfolgenden Generationen genau hier Ergänzungsbedarf sahen. 51

49 Dass Propheten in christlichen Gemeinden zunehmend kritisch betrachtet wurden, zeigen die Anweisungen zur Überprüfung von als Propheten auftretenden Reisenden in Did. 11,7–12 (FC 1, 128,5–130,8 Schöllgen). 50 So Söding, Christentum, 183, der im selben Abschnitt (180–185) mit den ebenfalls nur cum grano salis passenden Begriffen »Didaktik« und »Katechetik« operiert. 51 Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Entwicklung von Bildungsidealen, -praktiken und -institutionen in der deuteropaulinischen Tradition (Abschnitt 3) und in den folgenden zwei Jahrhunderten (Abschnitt 4), in der paulinische Texte und Themen eine wichtige Rolle spielten, nicht jedoch auf die Geschichte der Paulus-Rezeption in katechetischem Kontext; vgl. hierzu jetzt B.A. Edsall, The Reception of Paul and Early Christian Initiation. History and Hermeneutics, Cambridge 2019, der insbesondere Bezugnahmen und Paulus-Bilder aus den Acta Pauli sowie den Schriften von Clemens von Alexandrien, Origenes und Johannes Chrysostomus traktiert. Dass Paulus hier als Katechet par excellence figuriert wird, bedeutet allerdings nicht, dass die notorisch umstrittene Interpretation von 1 Kor 1–3 »by the light of their [sc. der o.g. Autoren] catechetical institutional contexts« (Edsall, The Reception of Paul, 229) durch eine Verbindung zweier Paulusbilder – einer »confrontational and independent figure« und einer »pedagogically ecclesial figure« (a.a.O. 231) – geklärt werden könnte. Auch ist es unbefriedigend, das Zurücktreten des »pedagogical Paul« Luthers gegen Erasmus etabliertem Paulusbild und dessen Wiederaufnahme durch Ferdinand Christian Baur (a.a.O. 232–247) zuzuschreiben und damit einmal mehr – wie in der anglophonen Forschung verbreitet – »nineteenth century German Protestant scholars« (a.a.O. 247) pauschal für tatsächliche oder vermeintliche exegetische Fehlentwicklungen verantwortlich zu machen. Damit wird nicht die Möglichkeit und Notwendigkeit, Auslegung und Rezeption in ein fruchtbares Gespräch zu bringen, bestritten (wofür Edsall,

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3.

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Unterwegs zur Didaktik des Christlichen: Die Deuteropaulinen

Die Debatte, ob es eine »Paulusschule« gab, ob es sich nur um geistige Traditionsbildung oder um einen institutionalisierten Schulbetrieb handelte (dessen Produkte die deuteropaulinischen Briefe wären) und anhand welcher Vergleichsphänomene diese Fragen zu beantworten seien, kann und muss hier nicht nachgezeichnet werden. 52 Philosophische Schulen in der griechisch-römischen Welt der frühen Kaiserzeit 53 gründeten überwiegend auf personellen Verbindungen von Lehrern und Schülern, waren voneinander unterschieden durch Bezugnahmen auf Lehrtraditionen und (zunehmend) Gründerpersönlichkeiten und gewannen Stabilität durch eine spezifische Praxis der Unterweisung. Gegenüber der platonischen Akademie oder dem aristotelischen Peripatos erscheinen christliche Lehr-Lernzusammenhänge als höchst fluide – bei Paulus, der sich gegenüber den Korinthern ja dezidiert gegen »Spaltungen (σχίσµατα)« anhand der Affiliation zu Lehrer- oder gar Gründerfiguren wehrt (1 Kor 1,10– 17), verwundert das nicht. 54 Durch die Nennung von Mitarbeitern in

The Reception of Paul, 252 mit Recht plädiert), sondern nur eine »katechetische Lektüre« des 1. Korintherbriefs problematisiert. 52 Vgl. knapp Scholtissek, Paulus, 34f. Die neuere Diskussion über eine »Paulusschule« beginnt mit H. Conzelmann, Die Schule des Paulus, in: C. Andresen /G. Klein (Hg.), Theologia Crucis – Signum Crucis. FS E. Dinkler, Tübingen 1979, 85–96. Die Kriteriologie bei T. Schmeller, Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit (HBS 30), Freiburg u.a. 2001, 91f nimmt die zeitgenössischen philosophischen Schulen als Maßstab, zumal den Institutionalisierungsgrad, den sozialen Status der Lehrer und die Verehrung der »Gründerpersönlichkeiten« – diesen Merkmalen entsprechen frühchristliche Gemeinschaften von Lehrern und Schülern nicht. Anders R. Brucker, Rhetorische und philosophische Bildung, in: K. Erlemann u.a. (Hg.), Neues Testament und antike Kultur, Bd. 2: Familie – Gesellschaft – Wirtschaft, Neukirchen-Vluyn 2005, 241–244, hier: 244: »Die Art, wie Paulus seine Gemeinden betreut, ähnelt in manchen Punkten dem Lehrbetrieb einer philosophischen Schule; als eine Art ›Schulgründer‹, der hohe Autorität und Verehrung genießt, wird er dann z.T. in den deuteropaulinischen Briefen (bes. Kol und Past) dargestellt.« Für die Rede von »Schulen« votiert Schnelle, Christentum, 134: »Die paulinische und die johanneische Schule waren höchst kreative Erscheinungen der antiken Religions- und Bildungsgeschichte. Dabei umfasst der Begriff der ›Schule‹ Traditionszusammenhänge im Sinn einer geistigen Prägung, er benennt aber immer auch zugleich eine Lebens-, Lern- und Organisationsform sowie ein soziales Gebilde«; vgl. Schnelle, Denkender Glaube, 88–102. 53 Vgl. Schmeller, Schulen, 48–61; zur weiteren Entwicklung I. Tanaseanu-Döbler, »Damit die Nachfolge Platons rein und unverfälscht bewahrt werde«. Religiöse Bildung und Institutionalität in spätantiken Philosophenschulen, in: P. Gemeinhardt /I. Tanaseanu-Döbler (Hg.), »Das Paradies ist ein Hörsaal für die Seelen«. Institutionen religiöser Bildung in historischer Perspektive (SERAPHIM 1), Tübingen 2018, 101–127. 54 Hingegen gilt er anderen als »Vorsteher der Schulrichtung der Nazarener« (Apg 24,5: προστάτης τῆς τῶν Ναζωραίων αἵρεσις). In Ephesus unterrichtet er in einer σχολή, also an einem Ort, wo Lehrer und Schüler miteinander interagieren (Apg 19,9f); vgl. Schnelle, Christentum, 133.

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Präskripten und Grußlisten tragen die Briefe »den Charakter von Gemeinschaftswerken«. 55 Es sind nicht zufällig solche Mitarbeiter, die als Adressaten der Pastoralbriefe auftauchen und damit die Fortschreibung der Paulustradition autorisieren. 56 Eine institutionalisierte Schulbildung entstand daraus nicht, ebenso wenig durch die christlichen Schulen (etwa Justin in Rom); erst Origenes’ »Universität« in Alexandrien und Caesarea in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts ist als Bildungsinstitution anzusehen, 57 die nach dem Tod ihres Gründers in Gestalt der Bibliothek bis in die Zeit Eusebs von Caesarea († ca. 340) fortbestand. Wichtiger ist, dass schon im Laufe der ersten beiden Generationen nach Paulus eine starke »Didaktisierung« der Kommunikation des Evangeliums erfolgte. Man sollte vorsichtig mit der Klassifikation der entsprechenden Briefe als »Schulprodukte« sein, 58 dennoch ist mit Vollenweider festzuhalten, dass »sich im Corpus der Pastoralbriefe die Umrisse eines christlichen Bildungsprogramms abzuzeichnen [beginnen], das über die Erziehung im engeren Sinn, also die Formung von Charakter und Verhalten durch Zucht und Übung, hinaus die Glaubenden zu einem Leben in Frömmigkeit formen will«. 59 Dabei wird im Kolosserbrief die paulinische Antithese zu den »menschlichen Geboten und Lehren« aufgegriffen, die allenfalls »im Geruch stehen, Weisheit zu sein« (Kol 2,22f), wohingegen »Paulus« Christus verkündigt, indem er »jeden Menschen ermahnt und in aller Weisheit« belehrt (Kol 1,28: νουθετοῦντες πάντα ἄνθρωπον καὶ διδάσκοντες πάντα ἄνθρωπον ἐν πάσῃ σοφίᾳ). Der Briefschreiber stellt sich unter die Autorität des Paulus, der nicht nur mit seiner Lehre, sondern auch mit seinem Leiden (Kol 1,24) die Verkündigung beglaubigt. 60 Im Epheserbrief treten wiederum nebeneinander »Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer« auf (Eph 4,11). Auch wenn allen Christen »die Gnade gegeben« ist (Eph 4,7), sind in besonderer Weise die genannten Amts- oder Funktionsträger dafür zuständig, »die Heiligen zuzurüsten zum Werk des Dienstes, wodurch der Leib Christi erbaut werden soll« (Eph 4,12). Das Ziel besteht in »Einheit des Glaubens und Erkenntnis (ἐπίγνωσις) des Sohnes Gottes« (Eph 4,13). Das Bildungsbemühen 55 Schnelle, Christentum, 132. 56 Zum Folgenden vgl. Söding, Christentum, 186–199; ausführlich Schmeller, Schulen, 183–253. Smith, Pauline Communities, 27 betrachtet Paulus selbst als Verfasser der Pastoralbriefe. Zu ihrer auch in anderer Hinsicht problematischen Herangehensweise vgl. die Besprechung von T. Vegge, Claire S. Smith, Pauline Communities as ›Scholastic Communities‹. A Study of the Vocabulary of ›Teaching‹ in 1 Corinthians, 1 and 2 Timothy and Titus, ZAC 18 (2014), 509–512. 57 Zu den Schulen Justins und Origenes’ vgl. T. Georges, ». . . herrlichste Früchte echtester Philosophie . . . « – Schulen bei Justin und Origenes, im frühen Christentum sowie bei den zeitgenössischen Philosophen, Millennium 11 (2014), 23–38. 58 So zurecht Schmeller, Schulen, 190f. 59 Vollenweider, Bildungsfreunde, 294. 60 Vgl. Schmeller, Schulen, 199–201.

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kommt in einer stärker strukturierten (und hierarchisierten) Gestalt der Gemeinde zu stehen; so soll erreicht werden, dass deren Glieder nicht »unmündig« bleiben und sich von jeder (anderen) Lehre durcheinanderbringen lassen (Eph 4,14). Die beiden Briefe schreiben auf je ihre Art Paulus’ Ansätze zu einer religiösen Bildung fort, der Kolosserbrief in Anlehnung an philosophische Unterweisung und in einem weiten sachlichen Horizont, der Epheserbrief mit verstärktem Fokus auf den ekklesialen Binnenbereich und mit größerer Aufmerksamkeit für die Lehrerrolle(n) als bei Paulus. Ohne dass ein Bildungsbegriff ausdrücklich entfaltet würde, ist das didaktische Moment doch klar erkennbar. 61 Ein durchkomponiertes Projekt zur Gemeindebildung finden wir in den Pastoralbriefen. 62 Die Timotheusbriefe verstehen das gemeindliche Leitungsamt dezidiert als Lehramt. Der Ansatz liegt in der Schrift selbst, die »von Gott eingegeben, nütze ist zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit« (θεόπνευστος καὶ ὠφέλιµος πρὸς διδασκαλίαν, πρὸς ἐλεγµόν, πρὸς ἐπανόρθωσιν, πρὸς παιδείαν τὴν ἐν δικαιοσύνῃ, 2 Tim 3,16). 63 Dabei ist von παιδεία hier nicht mehr im Sinne von »Zucht« die Rede, 64 sondern von »Bildung« anhand des Maßstabs der δικαιοσύνη, der sich wiederum aus der Schrift ergibt, die ihre Autorisierung durch ihren göttlichen Ursprung in sich trägt. Solche Bildung soll von Kindesbeinen an erworben werden, da »die Schrift dich weise machen kann« (τὰ δυνάµενά σε σοφίσαι) durch Heil zum Glauben an Jesus Christus (3,15). 65 Dass man – so Eisele – schon für Kinder von einem »geistigen Lernprozess« ausgehen sollte, der in der »intellektuelle[n] Auseinandersetzung mit literarischen Texten« 66 besteht, scheint mir allerdings fraglich. Dem Verfasser der Timotheusbriefe steht die Herausforderung, die aus einer solchen Rolle der Schrift folgt, deutlich vor Augen: Der vielfältige Nutzen der Schrift hängt daran, dass sie kompetent zur Sprache gebracht wird, es bedarf fähiger Ausleger und Lehrer, die zugleich auch

61 Söding, Christentum, 191 spricht von einer »ekklesialen Didaktik« und charakterisiert den Epheserbrief wie folgt: »Seine Theologie hat zwar eine so große Weite, dass sie kulturelles Lernen braucht; aber der Brief ist so sehr auf die ekklesiale Konsolidierung konzentriert, dass er eine Ausweitung des Bildungsgedankens nicht reflektiert. Es wäre aber sachgerecht, wenn man mit dem Epheserbrief über ihn hinausdenkt.« 62 Grundlegend: Krumbiegel, Erziehung. 63 Vgl. A. Weiser, Der zweite Brief an Timotheus (EKK XVI /1), Zürich /NeukirchenVluyn 2003, 279–283. 64 Vgl. Vollenweider, Bildungsfreunde, 294, mit Verweis auf die »erziehende Gnade Gottes« in Tit 2,12 (s.u.). 65 Die Übersetzung folgt Weiser, Der zweite Brief an Timotheus, 278. 66 Eisele, »Zuchtmeister Gesetz«, 83.

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durch ihr Leben ein Vorbild geben. 67 »Zum Lehren befähigt zu sein« (διδακτικός, 1 Tim 3,2; 2 Tim 2,24) ist deshalb nur eines von vielen Merkmalen des ἐπίσκοπος. Dieser soll »den Gläubigen ein Vorbild im Wort, im Wandel, in der Liebe, im Glauben, in der Reinheit« sein und »mit Vorlesen, mit Ermahnen, mit Lehren« fortfahren, »bis ich komme« (1 Tim 4,12f). Ob solche Funktionen nur von Männern oder auch von Frauen übernommen werden können, ist für den Briefschreiber keine Frage (mehr)! 68 Der Verdacht, »gewisse Frauen« könnten empfänglich für »neue Lehren« sein (2 Tim 3,6f), folgt aus der Verweigerung jeder Debatte über »törichte und der Bildung widersprechende Fragen« (µωρὰς καὶ ἀπαιδεύτους ζητήσεις, 2 Tim 2,23). Aus der ironischen Berufung auf das als »töricht« erscheinende Kreuzesgeschehen bei Paulus ist hier das Gegenteil geworden: Die Botschaft von Kreuz und Auferstehung nicht zu akzeptieren, ist (in allgemeinem Sinne) töricht und entspricht nicht der (religiösen) Bildung, die zu vermitteln die Aufgabe der Lehrer und Gemeindeleiter ist. Darum müssen diese »zum Lehren befähigt« und in der Lage sein, falsch Denkende »mit Sanftmut zurechtzuweisen« (ἐν πραΰτητι παιδεύειν, 2 Tim 2,25); ansonsten sollen sie Gott überlassen, die Widerspenstigen auf den rechten Weg zu bringen. Pointiert gesagt: An die Stelle der Apologetik ist nunmehr die Religionsdidaktik getreten. In diesem Zusammenhang wird erstmals eine Art von Anforderungsprofil für die Vermittler solcher Bildung formuliert. In der griechisch-römischen Welt um das Jahr 100 n.Chr. hatten Kultpriester in aller Regel keine Lehraufgaben und mussten keine Ausbildung absolvieren. Erst nach und nach wurden philosophische Lehrer mit kultischen (»theurgischen«) Vollzügen betraut. 69 Allerdings blieb es im antiken Christentum beim Postulat, Lehrer, Prediger und Bischöfe müssten die für ihr Amt erforderlichen Kompetenzen besitzen; wie und wo sie diese erwerben sollten und worin sie genau bestanden, wurde nur selten erörtert. 70

67 Vgl. dazu M. Lang, Nützlich in den richtigen Händen. Schriftrezeption in den Pastoralbriefen, in: F. Wilk /M. Öhler (Hg.), Paulinische Schriftrezeption. Grundlagen – Ausprägungen – Wirkungen – Wertungen (FRLANT 268), Göttingen 2017, 235–247, hier: 240. 68 Vgl. Söding, Christentum, 192: »Der Ausschluss von Frauen aus kirchlichen Führungsaufgaben wird mit männlicher Ruppigkeit betrieben, die starke Argumentationsschwächen verdeckt.« 69 Zum Verhältnis von Priesterämtern und Lehrfunktionen und zu den in der Spätantike vermehrt auftretenden gelehrten paganen Priestern vgl. F. Graf, Priester und Lehre im Spannungsfeld von Antike und Christentum, in: C. Frateantonio/H. Krasser (Hg.), Religion und Bildung. Medien und Funktionen religiösen Wissens in der Kaiserzeit (PawB 30), Stuttgart 2010, 13–28. 70 Dazu vgl. P. Gemeinhardt, Men of Letters or Fishermen? The Education of Bishops and Clerics in Late Antiquity, in: ders./O. Lorgeoux /M. Munkholt Christensen (Hg.), Teachers in Late Antique Christianity (SERAPHIM 3), Tübingen 2018, 32–55.

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Wie es zu einer christlichen Bildung kommt, wird schließlich im Titusbrief erkennbar. Das »Sprechen, Ermahnen und Zurechtweisen« (λαλεῖν, παρακαλεῖν, ἐλέγχειν, Tit 2,15) verdankt seinen Grund und seine Zielbestimmung dem Handeln Gottes an den Menschen: Denn es ist erschienen die heilsame (σωτήριος) Gnade Gottes allen Menschen und erzieht (παιδεύουσα) uns, dass wir absagen dem gottlosen Wesen und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm (σωφρόνως καὶ δικαίως καὶ εὐσεβῶς) in dieser Welt leben und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilands, Jesus Christus, der sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das eifrig wäre zu guten Werken (Tit 2,11–14). 71

Bildung heißt nach diesen Worten: Gottes Gnade erzieht (παιδεύειν) die Menschen so, dass diese sich selbsttätig von dem abwenden, was sie von Gott trennt, den Zeitraum bis zu Jesu Wiederkunft in angemessener Haltung überbrücken und aus der Hoffnung auf sein bereits geschehenes, den Menschen erst noch zukommendes und dann erlösendes Handeln leben. 72 Παιδεία ist demnach nicht nur Einweisung in das einem Christen angemessene Tun und Lassen, sondern in erster Linie die Ermöglichung und Zumutung eines vertrauenden Lebens. Wiewohl alles das »Paulus« lehrt, ist doch nicht er selbst die entscheidende Instanz, sondern »die heilsame Gnade Gottes« (ἡ χάρις τοῦ θεοῦ σωτήριος, Tit 2,11), die im Menschen einen Bildungsprozess auslöst, der wiederum dazu führt, sich von der Gnade bilden zu lassen. 73 Im Unterschied zum »erziehenden«, als »Wächter« fungierenden Gesetz aus Gal 3,24 (s.o.) ist der Mensch hier aktiv beteiligt an seiner religiösen Bildung, die sich, solange die Christen noch »in dieser Welt« (ἐν τῷ νῦν αἰῶνι, Tit 2,12) leben, in klassischen Tugenden – Besonnenheit, Gerechtigkeit, Frömmigkeit – äußert. 74 Eschatologische Hoffnung und moralisch vertretbares Leben schließen sich also keineswegs aus, vielmehr vollzieht sich die Bildung der Christen in der Welt und nirgendwo sonst; diese sind nicht notgedrungen, sondern bewusst – wie es der Diognetbrief im späteren zweiten Jahrhundert beschreibt – Bürger zweier Welten. 75 71 Zur Analyse und Interpretation dieser Passage vgl. Eisele, »Zuchtmeister Gesetz«, 77–83. Pointiert urteilt Söding, Christentum, 195: »Tit 2,11–14 ist ein theologischer Schlüsseltext, der verstehen lässt, warum und in welchem Sinn das Christentum eine Bildungsreligion ist. Die wenigen Verse enthalten das ganze neutestamentliche Evangelium.« 72 Das Konzept einer »göttlichen Erziehung« wertet Krumbiegel, Erziehung, 271–275 als »originale Leistung« der Pastoralbriefe. 73 So – mit anderen Worten – auch Söding, Christentum, 197. Freilich ist gerade der »Paulus« der paulinischen Tradition der einzige autorisierte Interpret des Handelns Gottes. 74 Als »Lehrer der Gerechtigkeit« erscheint Paulus auch in 1 Clemens 5,7 (δικαιοσύνην διδάξας ὅλον τὸν κόσµον). 75 Ep. Diogn. 5,5 (FC 72, 216,16–18 Lona).

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Eisele fragt, »ob der Erziehungsgedanke, bezogen auf die Gnade, nicht zu einer permanenten Bevormundung des Gläubigen führt, anstatt ihn in die Freiheit eines Christenmenschen zu entlassen, der als Begnadeter sein Leben eigenverantwortlich führt«, 76 und erinnert daran, dass – wie schon gesagt – eine überscharfe Trennung von Erziehungs- und Bildungsprozessen der Realität in der Antike nicht entspricht. 77 Ansonsten würde die Pointe verdeckt, dass im frühen Christentum Gott selbst als der Herr (κύριος), als Erzieher erscheint – für Menschen, die sein Ebenbild sind und zur Realisierung dieser Ebenbildlichkeit zurückgeführt werden, sich also selbst bilden sollen. Man sollte allerdings nicht übersehen, dass »Paulus« im Titusbrief in der o.g. Passage die vorhergehenden direktiven Verhaltensvorschriften für das Zusammenleben in der Gemeinde (Tit 2,1– 10) heilsgeschichtlich plausibilisieren will und die »gesund machende Lehre« (ὑγιαίνουσα διδασκαλία, V. 1) in konkrete Ermahnungen an Alte und Junge, Männer und Frauen übersetzt. Solche Rollenanweisungen, die mit philosophischen Argumenten untermauert werden und auf ein Ziel jenseits des Alltagslebens hinführen, spiegeln präzise die typisch antike und eben auch im frühen Christentum rezipierte Verbindung von Erziehung und Bildung. Eiseles optimistischer Einschätzung der Nichtnotwendigkeit weiterer Erziehung nach erfolgter Bekehrung und Taufe – »Diese Bildung beginnt in der Kindheit, endet aber nicht zusammen mit der Erziehung, sondern begleitet auch den Erwachsenen noch sein Leben lang« 78 – wäre daher der Befund zur Seite zu stellen, dass mindestens de facto viele Christen weiterhin erziehungsbedürftig erscheinen konnten, was sich in der Mitte des zweiten Jahrhunderts im Votum des Hirten des Hermas für eine zweite Buße niederschlägt, also für die Reparatur lebensgeschichtlich fehlgeschlagener Erziehungsprozesse. 79 In den Deuteropaulinen sind die Lehrer als Garanten der rechten Lehre daher unverzichtbar: Mag die Schrift auch »von Gott eingegeben« (θεόπνευστος, 2 Tim 3,16) sein, die Gemeindeglieder sind nicht mehr – wie in 1 Thess 4,9 – »von Gott (unmittelbar) Belehrte« (θεοδίδακτοι)!

76 Eisele, »Zuchtmeister Gesetz«, 79. 77 Eisele, »Zuchtmeister Gesetz«, 81 verweist hier auf J. Christes, Art. Bildung, DNP 2 (1997), 663–673, hier: 663. 78 Eisele, »Zuchtmeister Gesetz«, 83. 79 Herm. vis. II 2,1–7; mand. IV 3,1–6 (A. Lindemann /H. Paulsen [Hg.], Die Apostolischen Väter, Tübingen 1992, 338,16–340,13; 384,21–386,19). An dieser Stelle (IV 3,1) wird auch beklagt, dass »einige [sc. andere] διδάσκαλοι« die Möglichkeit einer zweiten Buße kategorisch bestritten; es handelt sich also um eine Art »Schulstreit« im frühen römischen Christentum.

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4. Die Christen als Bildungsverächter? Kritik, Apologetik und der Versuch einer Synthese Nach diesen Einblicken in die paulinische Tradition, die ein vielschichtiges Bildungshandeln im frühesten Christentum belegen, verwundert es auf den ersten Blick, dass das Christentum, als es zu einer unterscheidbaren Größe herangewachsen war, von seinen Zeitgenossen teils als strikt bildungsfeindlich angesehen werden konnte. Der Platoniker Celsus, dessen Kritik durch ihre Widerlegung bei Origenes überliefert ist, schrieb im späten zweiten Jahrhundert: Folgendes wird von ihnen [sc. den Christen] verlangt: »Kein Gebildeter trete heran, kein Weiser, kein Verständiger. Denn solche Eigenschaften sind in unseren Augen ein Übel. Wenn aber einer unwissend ist, wenn einer unvernünftig ist, wenn einer ungebildet ist, wenn einer einfältig ist, soll er ruhig kommen.« 80

Origenes († 253) bemühte sich redlich, dieser Kritik zu begegnen, musste sich aber selbst wenige Jahrzehnte nach seinem Tod von dem Neuplatoniker Porphyrius beschuldigen lassen, er sei, »obwohl als Grieche mit griechischer Bildung erzogen, zur barbarischen Verwegenheit übergelaufen«. 81 Tatsächlich hatte Origenes in seiner Schule in Alexandrien und Caesarea eine Synthese von antiker Philosophie und christlicher Theologie angestrebt, und zwar unter regem Zustrom von »angesehenen Gebildeten und Gelehrten von den ungläubigen Heiden«, so Euseb von Caesarea. 82 Diese Formulierung macht deutlich, dass Bildung konfrontativ für die jeweils eigene Seite beansprucht werden konnte. Was bei Paulus als Auseinandersetzung innerhalb der korinthischen Gemeinde begonnen hatte, führte in den folgenden Jahrhunderten immer wieder zu Diskussionen zwischen Christen und Nichtchristen. 83 Allerdings blieb Bildung auch innerchristlich umstritten. Die christlichen Theologen bieten zu diesem Thema eine Polyphonie von Positionen, der cantus firmus grundsätzlicher Aussagen zur Rezipierbarkeit klassischer Bildung war aber weithin von Skepsis gegenüber der antiken 80 Origenes, Cels. III 44 (FC 50/2, 590,18–22 Fiedrowicz /Barthold): τοιαῦτα ὑπ᾿ αὐτῶν µηδεὶς προσίτω πεπαιδευµένος, µηδεὶς σοφός, µηδεὶς φρόνιµος· κακὰ γὰρ ταῦτα νοµίζεται παρ᾿ ἡµῖν ἀλλ᾿ εἴ τις ἀµαθής, εἴ τις ἀνόητος, [εἴ τις ἀπαίδευτος], εἴ τις νήπιος, θαρρῶν ἡκέτω. Übers. a.a.O. 591. 81 Porphyrius, Contra Christianos frg. 6F Becker = Euseb von Caesarea, h.e. VI 19,7 (GCS Eus. II /2, 560,6f Schwartz): ᾿Ωριγένης δὲ ῞Ελλην ἐν ῞Ελλησιν παιδευθεὶς λόγοις, πρὸς τὸ βάρβαρον ἐξώκειλεν τόλµηµα. Übers. M. Becker, Porphyrios, ›Contra Christianos‹. Neue Sammlung der Fragmente, Testimonien und Dubia mit Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen (TK 52), Berlin /Boston 2016, 135. 82 Euseb, h.e. VI 3,13 (528,16–18 Sch.): ὥστε ἤδη καὶ τῶν ἀπίστων ἔθνων τῶν τε ἀπὸ παιδείας καὶ φιλοσοφίας οὐ τοὺς τυχόντας ὑπάγεσθαι τῇ δι᾿ αὐτοῦ διδασκαλίᾳ. 83 Dazu ausführlich Gemeinhardt, Christentum.

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παιδεία geprägt. Dabei konnte solche Bildung selbst als »Propädeutik« nützlich erscheinen: Nach Origenes solle man von den Hellenen das lernen, was als Allgemeinbildung (ἐγκύκλια µαθήµατα) oder Propädeutik für die christliche Lehre und Lebenshaltung (προπαιδεύµατα εἰς χριστιανισµόν) dienen könne. 84 Euseb sekundierte, die »philosophischen Lehren« (φιλόσοφα µαθήµατα) seien als »Vor-Bildung« (προπαιδεύµατα) »eine nicht wenig nützliche Grundlage für das Verständnis der göttlichen Schriften«. 85 Als gefährlich galt jedoch ihr unbedachter Gebrauch. Wer sich der Bildung im Übermaß befleißigte, geriet in den Verdacht, mit dem falschen Bildungsideal auch den nichtchristlichen Göttern ins Netz gegangen zu sein. Gegen die »Gnostiker«, d.h. gegen innerchristliche Konkurrenten, richtete sich dann auch das scharfe Verdikt Tertullians: Was haben also Athen und Jerusalem gemeinsam, was die Akademie und die Kirche, was Häretiker und Christen? Unsere Unterweisung stammt aus der »Halle Salomos« (Joh 10,23), der dazu in eigener Person gelehrt hatte, daß man den Herrn »in der Einfalt des Herzens« (Sap 1,1) suchen müsse. Sollen die für sich zusehen, die ein stoisches, ein platonisches, ein »dialektisches« Christentum hervorgebracht haben! 86

Die Antithese ist deutlich – nur zielt sie nicht, wie oft unterstellt, auf die antike Philosophie als solche, sondern gegen ihren unsachgemäßen Einsatz. 87 Es ist daher wenig zielführend zu fragen, ob das Christentum eine Bildungsreligion war (oder nicht); vielmehr ist im Anschluss an Paulus zu überlegen: Was für eine Bildung galt für die christliche Religion als zuträglich? Gelehrt und gelernt werden musste offensichtlich – nur was, wie und von wem? Auch wer unter den Theologen bestritt, dass das Christentum nichts mit Bildung nach »heidnischem« Maßstab zu tun haben sollte, postulierte in aller Regel keine radikale Unbildung, sondern eine eigene, 84 Origenes, ep. Greg. 1 (FC 24, 214,11f Guyot /Klein). 85 Euseb, h.e. VI 18,4 (556,24f Sch.): οὐ µικρὰν αὐτοῖς ἐξ ἐκείνων ἐπιτηδειότητα εἰς τὴν τῶν θείων γραφῶν θεωρίαν καὶ παρασκευήν. 86 Tertullian, praescr. 7,9–11 (FC 42, 244,16–21 Schleyer): Quid ergo Athenis et Hierosolymis? quid academiae et ecclesiae? quid haereticis et christianis? Nostra institutio de porticu Salomonis est qui et ipse tradiderat Dominum in simplicitate cordis esse quaerendum. Viderint qui Stoicum et Platonicum et dialecticum christianismum protulerunt. Übers. a.a.O. 245. Tertullian bildet 2 Kor 6,14 nach: »Was hat Gerechtigkeit zu schaffen mit Gesetzlosigkeit? Was hat das Licht für Gemeinschaft mit der Finsternis?« 87 Diese Verzeichnung begegnet gleich in der ersten Fußnote bei W. Schröder, Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit (Quaestiones 16), Stuttgart /Bad Cannstatt 2011, 1 Anm. 1, und setzt ein polemisches Vorzeichen vor die gesamte Argumentation (vgl. meine Besprechung P. Gemeinhardt, Winfried Schröder, Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit (Quaestiones 16), Stuttgart /Bad Cannstatt 2011, ZAC 16 (2012), 390–391.). Von einer Bildungsferne des Christentums bis ins 2. Jh. hinein spricht mit Bezug auf Tertullian und Tatian auch Christes, Art. Bildung, 671. Eine Aufarbeitung der Wirkungsgeschichte Tertullians auf solche bewussten und unbewussten Vorannahmen der Forschung wäre lohnend.

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christliche Bildung. Dem oben beschriebenen Verständnis von Bildung folgend, sind dabei unterschiedliche Kontexte christlichen Bildungshandelns zu beachten, von familiärer Sozialisation über die Initiation in die religiöse Gemeinschaft bis zu Phänomenen christlicher Philosophenschulen, die einen Schnittpunkt zur intellektuellen Szene der Zeit bildeten. Dieses weite Feld kann hier nur mit wenigen Strichen skizziert werden. 88 Der institutionelle Ort christlicher Bildung war die Taufvorbereitung. Justin († 165 n.Chr.), Haupt einer christlich-philosophischen Schule in Rom, beschreibt in seiner ersten Apologie den Zugang zum Christentum. Er tut dies bewusst in ganz untechnischer Sprache, um seine nichtchristlichen Adressaten – mit Schleiermacher gesprochen: die Gebildeten unter den Verächtern des Christentums – von der Seriosität und staatsbürgerlichen Verlässlichkeit der Christen zu überzeugen: Alle, die sich von der Wahrheit unserer Lehren und Aussagen überzeugen lassen, die glauben und versprechen, dass sie es vermögen, ihr Leben danach einzurichten, werden angeleitet zu beten und unter Fasten Verzeihung ihrer früheren Vergehungen von Gott zu erflehen, auch beten und fasten wir mit ihnen. Dann werden sie von uns an einen Ort geführt, wo Wasser ist, und werden neu geboren in einer Art von Wiedergeburt, die wir auch selbst an uns erfahren haben. 89

Die Taufe setzte also voraus, dass erwachsene Menschen belehrt und so in die Lage versetzt werden, sich für ein christliches Leben zu entscheiden – und diese Wiedergeburt dann auch im Auftreten und Handeln sichtbar werden lassen. Analog zu der oben vorgetragenen Deutung des Tauf- und Missionsbefehls Jesu (Mt 28,19f) geht auch nach Justin dem Empfang der Taufe das Lernen des Glaubens voraus und führt über die Initiation hinaus zu einem lebenslangen Prozess der Selbst-Bildung, so dass man an Leben und Handeln ablesen kann, was die Taufe bewirkt hat. Deren Ernsthaftigkeit wird von Anfang an eingeschärft; sie kann nur einmal empfangen werden. Beim vorhergehenden Lernprozess, der die Täuflinge darüber aufklärt, worauf sie sich einlassen, sind diese nicht allein, sie werden vielmehr, wie Justin betont, von »uns« begleitet, ohne dass gesagt würde, wer hier damit gemeint ist.

88 Exemplarische Einblicke für das 2. und 3. Jh. bieten die Beiträge in F.R. Prostmeier (Hg.), Frühchristentum und Kultur (KfA.E 2), Freiburg u.a. 2007. 89 Justin, 1 apol. 61,2f (D. Minns/P. Parvis (ed.), Justin, Philosopher and Martyr. Apologies, Oxford 2009, 236,9–238,4): ὅσοι ἂν πεισθῶσι καὶ πιστεύωσιν ἀληθῆ ταῦτα τὰ ὑφ᾽ ἡµῶν διδασκόµενα καὶ λεγόµενα εἶναι, καὶ βιοῦν οὕτως δύνασθαι ὑπισχνῶνται, εὔχεσθαί τε καὶ αἰτεῖν νηστεύοντας παρὰ τοῦ θεοῦ τῶν προηµαρτηµένων ἄφεσιν διδάσκονται, ἡµῶν συνευχοµένων καὶ συννηστευόντων αὐτοῖς. ἔπειτα ἄγονται ὑφ᾽ ἡµῶν ἔνθα ὕδωρ ἐστί, καὶ τρόπον ἀναγεννήσεως ὃν καὶ ἡµεῖς αὐτοὶ ἀνεγεννήθηµεν ἀναγεννῶνται. Übers. Rauschen, BKV 12, 128f.

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Man kann diesen Befund verallgemeinern – zugespitzt gesagt: Ohne Bildung geht es nicht! Schon die Didache (um 100 n.Chr.) mahnt nach ihrer Darlegung des Doppelgebots der Liebe und der Goldenen Regel: »Nachdem ihr das alles mitgeteilt habt, tauft [. . . ]«. 90 Obwohl meist die praktische Ethik im Vordergrund stand, war die Unterweisung im rechten Glauben ein ebenso wichtiger Bestandteil, wie die seit dem zweiten Jahrhundert belegten Tauffragen zeigen. 91 Wer sich zur Taufe anmeldete, hatte also einen Bildungsweg in Sachen Ethik und Dogmatik hinter sich und weiterhin eine lebenslange »Fortbildung« vor sich. Und diese Bildungs-Zumutung galt – was die Polemik eines Celsus erklärt – für alle zu Taufenden und Getauften ohne Ansehen der Person! In der Sicht nichtchristlicher Kritiker entwertete dieser Anspruch auf Bildung für jedermann das Projekt christlicher Unterweisung. Celsus spottete, bei der selbsternannten »Philosophie« der Christen dürften alle mitreden, auch Frauen, Kinder und Sklaven, also soziale Gruppen, die ansonsten vom Diskurs der Gebildeten ausgeschlossen waren. 92 Im Christentum wurde – je nach Sichtweise der Kritiker – gar keine oder zu viel Bildung vermittelt, und dies an die falschen Leute, die nicht der gesellschaftlich satisfaktionsfähigen Elite angehörten, auf die sich eine zünftige »Philosophie« zu konzentrieren hatte. Christliche Lehrer wie z.B. Justin konterkarierten in dieser Sicht ihr Tun dadurch, dass sie sich nicht auf die Elitenbildung konzentrierten, die für eine Philosophenschule in der Kaiserzeit charakteristisch war. Das sahen die christlichen Apologeten mit guten Gründen anders. In Minucius Felix’ Dialog Octavius (verfasst im zweiten Viertel des dritten Jahrhunderts) kontert der gleichnamige Christ die Kritik seines »heidnischen« Gesprächspartners Caecilian: So darf es denn keine Entrüstung und keinen Schmerz geben, wenn ein gewöhnlicher Mensch nach dem Überirdischen fragt, es beurteilt und auch ausspricht; kommt es doch nicht auf das Ansehen des Disputierenden an, sondern auf die Wahrheit der Aussage. Und außerdem: Je einfacher die Rede ist, desto einleuchtender tritt ihr Sinn hervor. Denn ungeschminkt und ohne den Prunk prächtiger Phrasen wird er durch das Richtmaß der Wahrheit in seinem Wesen erhalten. 93 90 Did. 7,1 (118,2 Sch.): ταῦτα πάντα προειπόντες, βαπτίσατε [. . . ]. 91 Vgl. dazu W. Kinzig, Neue Texte und Studien zu den antiken und frühmittelalterlichen Glaubensbekenntnissen (AKG 132), Berlin /Boston 2017, bes. 237–267. 92 Zitiert bei Origenes, Cels. III 44 (590,22–592,2 F. /B.): Τούτους γὰρ ἀξίους εἶναι τοῦ σφετέρου θεοῦ αὐτόθεν ὁµολογοῦντες, δῆλοί εἰσιν ὅτι µόνους τοὺς ἠλιθίους καὶ ἀγεννεῖς καὶ ἀναισθήτους καὶ ἀνδράποδα καὶ γύναια καὶ παιδάρια πείθειν ἐθέλουσί τε καὶ δύνανται. 93 Minucius Felix, Oct. 16,6 (B. Kytzler [Hg.], M. Minucius Felix, Octavius, München 1965, 96): nihil itaque indignandum vel dolendum, si quicumque de divinis quaerat sentiat proferat, cum non disputantis auctoritas, sed disputationis ipsius veritas requiratur, atque etiam,

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Bei den Christen darf also tatsächlich jeder und jede mitreden – und das ist auch gut so. Der Autor nimmt mit dem Begriffspaar inperitior sermo – inlustrior ratio rhetorisch fachgerecht Stellung gegen den Geist der Zeit, die »Zweite Sophistik«. Rhetorische Kunstfertigkeit war hiernach die Bedingung der Teilhabe am öffentlicher Diskurs. 94 Aus christlicher Perspektive konnte Wahrheit dagegen von jedem und jeder ausgesprochen werden, nicht nur von einer kleinen, sich selbst reproduzierenden Elite. Wahrheit war auf anderem Wege zugänglich – durch die Offenbarung Gottes. Christliche Bildung folgte daher prinzipiell nicht menschlichen Maßstäben, sondern kam von Gott her und führte zu ihm hin, wie Clemens von Alexandrien († ca. 215) in seinem Protrepticus erklärte: Die übrigen Ratschläge und Lehren sind unwichtig und beziehen sich nur auf Einzelheiten, z.B. auf die Fragen, ob man heiraten, ob man sich am öffentlichen Leben beteiligen, ob man Kinder zeugen soll; dagegen ist die Gottesfurcht die einzige alles umfassende Lehre und bezieht sich offenbar auf das ganze Leben, indem sie zu jeder Zeit, in jeder Lage auf das oberste Ziel, das Leben, ihr Augenmerk richtet, dem entsprechend, daß es überhaupt nur deswegen notwendig ist zu leben, damit wir das ewige Leben gewinnen. 95

Entscheidend sind also Inhalt und Ziel der Unterweisung, der Anspruch, den sie erhebt, und der Gewinn, den sie in Aussicht stellt. Sich auf dieser Grundlage für den christlichen Glauben zu entscheiden – das trauten Apologeten und Katecheten ihren Zeitgenossen zu, obwohl sie sich damit gegen den herrschenden Bildungsdiskurs positionierten. Origenes hielt Celsus entgegen, das Erfolgsgeheimnis der Apostel sei eben nicht »Redefertigkeit und geordnete Darstellung entsprechend den dialektischen und rhetorischen Techniken der Griechen« gewesen, sondern dass sie »mit göttlicher Macht das Christentum lehrten«. 96 Damit erscheint bei quo inperitior sermo, hoc inlustrior ratio est, quoniam non fucatur pompa facundiae et gratiae, sed, ut est, recti regula sustinetur. Übers. a.a.O. 97. Zu Minucius’ Bildungskonzeption vgl. Gemeinhardt, Christentum, 81–89. 94 Vgl. T. Schmitz, Bildung und Macht. Zur sozialen und politischen Funktion der zweiten Sophistik in der griechischen Welt der Kaiserzeit (Zet. 97), München 1997; T. Whitmarsh, The Second Sophistic, Oxford 2005. 95 Clemens von Alexandrien, protr. 11,113,1 (GCS Clem. Al. I, 79,20–25 Stählin): Εἶθ᾽ αἱ µὲν ἄλλαι συµβουλαί τε καὶ ὑποθῆκαι λυπραὶ καὶ περὶ τῶν ἐπὶ µέρους εἰσίν, εἰ γαµητέον, εἰ πολιτευτέον, εἰ παιδοποιητέον·καθολικὴ δὲ ἄρα προτροπὴ µόνη καὶ πρὸς ὅλον δηλαδὴ τὸν βίον, ἐν παντὶ καιρῷ, ἐν πάσῃ περιστάσει πρὸς τὸ κυριώτατον τέλος, τὴν ζωήν, συντείνουσα ἡ θεοσέβεια· καθ᾽ ὃ καὶ µόνον ἐπάναγκές ἐστι ζῆν, ἵνα ζήσωµεν ἀεί. Übers. Stählin, BKV II 7, 187. 96 Origenes, Cels. I 62 (FC 50/1, 324,20–26 F. /B.): Φηµὶ οὖν καὶ πρὸς ταῦτα ὅτι τοῖς δυναµένοις φρονίµως καὶ εὐγνωµόνως ἐξετάζειν τὰ περὶ τοὺς ἀποστόλους τοῦ ᾿Ιησοῦ φαίνεται ὅτι δυνάµει θείᾳ ἐδίδασκον οὗτοι τὸν χριστιανισµὸν καὶ ἐπετύγχανον ὑπάγοντες ἀνθρώπους τῷ λόγῳ τοῦ θεοῦ. Οὐ γὰρ ἡ εἰς τὸ λέγειν δύναµις καὶ τάξις ἀπαγγελίας κατὰ τὰς ῾Ελλήνων διαλεκτικὰς ἢ ῥητορικὰς τέχνας ἦν ἐν αὐτοῖς ὑπαγοµένη τοὺς ἀκούοντας. Übers. a.a.O. 325.

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christlichen Apologeten und Katecheten Bildung als ein – anfänglicher und lebenslanger – Prozess, ohne den man nicht Christ werden und bleiben kann, der sich aber nicht an einem vorgegebenen Bildungskanon orientierte. Im Diskurs der Kaiserzeit zeichnete sich ein Gebildeter (πεπαιδευµένος, litteratus) hingegen dadurch aus, dass er nicht nur im kompetenten Umgang mit Texten geübt war, sondern auch über kulturelle Codes verfügte, die nur wenige beherrschten und die daher soziale Distinktion generierten. Einer solchen Bildungsidee widersprachen christliche Autoren mit Nachdruck. Christliche Bildung bedeutete nicht, den Habitus des Gebildeten zu übernehmen, sondern ihn zu transformieren. Das wird in Tertullians Schrift »Vom Philosophenmantel« deutlich: Ich halte es nun auch mit jener bekannten Philosophenschule Gottes und ihrer Sittenlehre. Freue dich, Pallium, und frohlocke! Eine bessere Philosophie hat dich nunmehr ihrer gewürdigt, seitdem du (mich als) einen Christen zu bekleiden angefangen hast. 97

Diese Überlegenheit konnte sogar mit einem unüberbietbaren Ursprung begründet werden, in Aufnahme der Motive der von Gott stammenden Gelehrsamkeit der Christen (1 Thess 4,9; vgl. Jes 54,13 LXX) und der »erziehenden Gnade« (Tit 2,11): Bildung wurde nicht nur als christlich, sondern als göttlich, d.h. als von Gott selbst vermittelt gedacht. 98 Die Vorstellung, dass der eigentliche Lehrer der Christen und der Kirche nicht menschlich, sondern göttlich ist, begegnet am prononciertesten bei Clemens von Alexandrien. Ihm zufolge ist der Lehrer des Evangeliums nicht nur zu ehren wie der Herr 99 – der Lehrer ist kein anderer als der Herr selbst! Clemens’ Paedagogus führt dies aus: Um alle Menschen zum Glauben zu erziehen, verwendet der in jeder Hinsicht liebreiche Logos die vortreffliche und für eine wirksame Ausbildung zweckmäßige Erziehungsweise, indem er zuerst ermahnt (προτρέπων), dann erzieht (παιδαγωγῶν) und zuletzt lehrt (διδάσκων). 100 97 Tertullian, pall. 6,2 (SC 513, 224,11–14 Turcan): At ego iam illi etiam diuinae sectae ac disciplinae commercium confero. Gaude, pallium, et exulta: melior iam te philosophia dignata est, ex quo Christianum uestire coepisti. Übers. Kellner, BKV 7, 33. 98 Zu dieser im frühen Christentum weit verbreiteten Vorstellung vgl. P. Gemeinhardt, Teaching the Faith in Early Christianity. Divine and Human Agency, VigChr 74 (2020) 129–164, hier: 150–161. Das Motiv ist stark vertreten, obwohl die Pastoralbriefe selbst nur spärlich rezipiert werden (Krumbiegel, Erziehung, 346). 99 So Did. 4,1 (108,8–10 Sch.). 100 Clemens von Alexandrien, paed. I 3,3 (GCS Clem. Al. I, 91,1–19 Stählin): καταλλήλῳ εἰς παίδευσιν ἐνεργῆ τῇ καλῇ συγχρῆται οἰκονοµίᾳ ὁ πάντα φιλάνθρωπος λόγος, προτρέπων ἄνωθεν, ἔπειτα παιδαγωγῶν, ἐπὶ πᾶσιν ἐκδιδάσκων. Übers. Stählin, BKV II 7, 206. Vgl. zum Folgenden U. Neymeyr, Die christlichen Lehrer im zweiten Jahrhundert. Ihre Lehrtätigkeit, ihr Selbstverständnis und ihre Geschichte (SVigChr 4), Leiden u.a. 1989, 51–58; Edsall, The Reception of Paul, 94–109.

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Diese Passage enthält ein ganzes Bildungsprogramm: Der göttliche Logos selbst vermittelt christliche Bildung; sein Ziel hat er erreicht, wenn die Menschen »seine Gebote durch Taten lieben«, denn nach Clemens zielt Tugend »ebenso auf das Handeln wie auf das Erkennen«. 101 Hier wird noch einmal die Verschränkung von Erziehung und Bildung deutlich: Der Logos, der zunächst »protreptisch« wirkt und Menschen zur Konversion zum christlichen Glauben motiviert, fungiert danach als Erzieher zu einem christlichen Lebensstil und wird schließlich zum Lehrer, d.h. zum Begleiter des selbsttätigen menschlichen Bildungsprozesses. Wer allerdings den ganzen Kurs durchlaufen wollte, musste Zeit, intellektuelle Kapazität und philosophische Vorbildung mitbringen. Zur Unterweisung für die wahren christlichen Gebildeten gelangten daher nur wenige – hier kehrt die Elitenbildung in christlichem Gewand wieder. Alle Gläubigen dagegen betraf die »Sittenbildung« (ἠθοποιία), 102 der sich Clemens im Paedagogus widmete: An Beispielen lernte man, wie man Gutes nachahmt und Schlechtes mied. 103 Der Logos wirkte hiernach tatsächlich wie ein antiker »Pädagoge«, der Kinder aus gutem Hause zur Schule brachte und für sie nicht selten zur Vertrauensperson wurde. 104 Ein solcher Vergleich mit einem unfreien Diener hatte für Clemens nichts Despektierliches; es war ja derselbe Logos, der Interessierte anlockte und Fortgeschrittene in die Glaubenslehre einführte. Daher galt: Es geziemt sich für uns, den wiederzulieben, der uns in liebevoller Weise Führer zum besten Leben ist, und so die Werke des Erziehers durch Ähnlichwerden zu vollenden, damit das Wort »nach Bild und nach Ähnlichkeit« (Gen 1,26) wirklich erfüllt werde. 105

Durch diese Erziehung auf Erden erlangen die Christen das Bürgerrecht im Himmel, weil sie – so Clemens – durch Gottes Heilsplan erzogen

101 Clemens, paed. I 9,4 (95,19–21 St.): Α ᾿ γαπῶµεν οὖν τὰς ἐντολὰς δι᾽ ἔργων τοῦ κυρίου, καὶ γὰρ ὁ λόγος αὐτὸς ἐναργῶς σὰρξ γενόµενος τὴν αὐτὴν ἀρετὴν πρακτικὴν ἅµα καὶ θεωρητικὴν ἐπιδεικνύς. 102 Clemens von Alexandrien, paed. I 2,1 (90,24f St.): πρακτικὸς δὲ ὢν ὁ παιδαγωγὸς πρότερον µὲν εἰς διάθεσιν ἠθοποιίας προὐτρέψατο. 103 Clemens von Alexandrien, paed. I 2,2 (90,28–91,2 St.): ῎Αµφω δὲ ὠφελιµώτατα, τὸ µὲν εἰς ὑπακοήν, τὸ παραινετικὸν εἶδος, τὸ δὲ ἐν εἰκόνος µέρει παραλαµβανόµενον διττὸν καὶ αὐτὸ παραπλησίως τῇ προτέρᾳ συζυγίᾳ, τὸ µὲν αὐτοῦ ἵνα µιµώµεθα αἱρούµενοι τὸ ἀγαθόν, τὸ δὲ ὅπως ἐκτρεπώµεθα παραιτούµενοι τὸ φαῦλον τῆς εἰκόνος. 104 Zur Rolle des »Pädagogen« in der antiken (Oberschicht-) Familie vgl. R. Cribiore, Gymnastics of the Mind. Greek Education in Hellenistic and Roman Egypt, Princeton 2001, 47–50. 105 Clemens, paed. I 9,1 (95,7f.12f St.): Καθήκει δ᾽ ἡµῖν ἀνταγαπᾶν µὲν τὸν καθηγούµενον ἀγαπητικῶς ἀρίστου βίου [. . . ] ἐπιτελεῖν καθ᾽ ὁµοίωσιν τὰ ἔργα τοῦ παιδαγωγοῦ, ἵνα δὴ τὸ »κατ᾽ εἰκόνα καὶ καθ᾽ ὁµοίωσιν« πληρωθῇ. Übers. Stählin, BKV II 7, 211f.

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und als seine Kinder geheiligt werden. 106 Dann werden »Bild und Ähnlichkeit« (εἰκὼν καὶ ὁµοίωσις) mit dem Schöpfer wiederhergestellt; der Bildungsprozess kommt damit letztlich zur Vollendung – der platonische Hintergrund dieser Zielbestimmung ist unverkennbar (s.o. Anm. 36). Aber nicht nur, wer umfassende »Gnosis« erlangt, also ein christlicher »Gnostiker« 107 wird, landet wieder da, wo er als Gottes Ebenbild angefangen hat – der göttliche Lehrer unterweist vielmehr alle, und so steht auch die Vollendung durch Verähnlichung allen Christen in Aussicht. Clemens von Alexandrien ordnet daher die Kirche als Lehrinstitution (διδασκαλεῖον) Christus als dem dort waltenden Lehrer (διδάσκαλος) zu: »Eine Lehranstalt ist nämlich die Kirche und ihr Bräutigam der einzige Lehrer.« 108 Clemens’ Paedagogus präsentiert demnach eine genuine Bildungstheorie: ein Geschehen, das sich zwischen Logos und Individuum abspielt (bei dem es aber nicht ohne menschliche Lehrer geht). Von hier aus gesehen erscheint das Christentum insgesamt als Bildungsreligion, und zwar – so jedenfalls der Anspruch – nicht nur für die intellektuelle Elite Alexandriens. 109 Christus der göttliche Logos und der Gekreuzigte wirkt als Lehrer für alle Gläubigen. Dass letzteres den »Heiden« als Torheit erscheinen würde, war nicht zu vermeiden, doch bemühten sich die christlichen Apologeten, Brücken zu schlagen – nicht immer unmittelbar erfolgreich, aber mittel- und langfristig mit großer Wirkung. 110

106 Clemens, paed. III 99,1 (290,5–8 St.): κἂν ἀκροαταὶ τοῦ λόγου γενώµεθα, τὴν µακαρίαν δοξάζωµεν οἰκονοµίαν, δι᾽ ἣν παιδαγωγεῖται µὲν ὁ ἄνθρωπος, ἁγιάζεται δὲ ὡς θεοῦ παιδίον, καὶ πολιτεύεται µὲν ἐν οὐρανοῖς ἐπὶ γῆς παιδαγωγούµενος, πατέρα δὲ ἐκεῖ λαµβάνει, ὃν ἐπὶ γῆς µανθάνει. 107 Zum Begriff des christlichen »Gnostikers« vgl. Clemens von Alexandrien, str. VII 55,1 (GCS Clem. Al. III, 40,21–24 Stählin /Früchtel /Treu): ῎Εστιν γάρ, ὡς ἔπος εἰπεῖν, ἡ γνῶσις τελείωσίς τις ἀνθρώπου ὡς ἀνθρώπου, διὰ τῆς τῶν θείων ἐπιστήµης συµπληρουµένη κατά τε τὸν τρόπον καὶ τὸν βίον καὶ τὸν λόγον, σύµφωνος καὶ ὁµόλογος ἑαυτῇ τε καὶ τῷ θείῳ λόγῳ. 108 Clemens, paed. III 98,1 (289,27f St.): διδασκαλεῖον δὲ ἡ ἐκκλησία ἥδε καὶ ὁ νυµφίος ὁ µόνος διδάσκαλος. 109 Hierzu A. Fürst, Christentum als Intellektuellen-Religion. Die Anfänge des Christentums in Alexandria (SBS 213), Stuttgart 2007. 110 Die Ausnahme ist Tatian, der in seiner Oratio ad Graecos eine radikale Depotenzierung der antiken Bildung als apologetische Strategie verfolgte, die aber nur deshalb überzeugend sein konnte, weil der Autor selbst bestens kannte, was er ostentativ ablehnte. Zur Eigentümlichkeit seiner Argumentation vgl. P. Gemeinhardt, Tatian und die antike Paideia. Ein Wanderer zwischen zwei (Bildungs-) Welten, in: H.-G. Nesselrath (Hg.), Gegen falsche Götter und falsche Bildung. Tatian, Rede an die Griechen (SAPERE XXVIII), Tübingen 2016, 247–266.

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5.

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»Den Heiden eine Torheit«? Abschließende Überlegungen

War das frühe Christentum eine »Bildungsreligion«? Samuel Vollenweider urteilt vorsichtig: Es fehle ein »Bildungsprogramm«, man könne lediglich von »bildungsaffinen Impulsen« sprechen. 111 Doch konzediert er, dass »eine begrenzte Zahl von bereits neutestamentlichen Texten [. . . ] über binnenchristliche und jüdische Kulturräume hinausweisen und ansatzweise mindestens indirekt auf den Gesamtkomplex griechisch-hellenistischer παιδεία fokussieren.« 112 Mir erscheinen diese Kontinuitäten wichtig, nicht um die oben eingeführte Unterscheidung von Sozialisation, Erziehung und Bildung zu nivellieren und damit letztlich eine idiosynkratische, mit modernen Diskursen nicht mehr kompatible Idee von Bildung zu postulieren, sondern um das Konstrukt eines kategorialen Sprungs im zweiten Jahrhundert zu vermeiden, den Adolf von Harnack suggestiv, aber sachlich unzutreffend als »Hellenisierung des Christentums« beschrieb. Was Paulus als »Torheit« präsentierte, aber mit dem Anspruch auf Plausibilisierbarkeit gegenüber den Trägern hellenistischer Bildung vortrug, wurde innerhalb des werdenden Christentums didaktisch entfaltet und zu anderen Deutungsangeboten der Kaiserzeit in Beziehung gesetzt. Und Paulus selbst erschien späteren Generationen als »bewundernswerter Lehrer des Erdkreises und guter Erzieher, der sich um unsere Seelen sorgt«, so Johannes Chrysostomus am Ende des vierten Jahrhunderts. 113 In diesem Sinne war das Christentum unzweifelhaft eine Bildungsreligion: Die Suche nach der angemessenen Religionsdidaktik, die vom »richtigen« Gott so zu sprechen erlaubte, dass Menschen an ihn glauben und sich von anderen religiösen Praktiken abwenden würden, war ein zentrales Thema im frühen Christentum, für seine Inkulturation in die griechisch-römische Gesellschaft sozusagen ein echtes »Megathema«. Ja, es wäre sogar schwierig gewesen, keine Bildungsreligion sein zu wollen in einer Welt, die von Bildung in zahlreichen Formen geprägt war. Da es für die Christen in aller Regel keine Option war, aus der Welt auszuwandern, galt es, sich in dieser Welt von ihr zu unterscheiden. Dazu diente die Argumentation des Paulus gegenüber den korinthischen Enthusiasten ebenso wie die Stellung des Bischofs als eines Lehrers in den Pastoralbriefen. Dass das Christentum sich in seiner Welt zurechtfand und dieser – mit bis in

111 Vollenweider, Bildungsfreunde, 297. Vgl. ebd. 285: »Die heutigen Anwälte eines bildungsfreundlichen Urchristentums [sc. Schnelle und Söding] arbeiten mit einem sehr großzügig entworfenen Bildungsverständnis.« 112 Vollenweider, Bildungsfreunde, 298. 113 Johannes Chrysostomus, catech. 3/6,16 (FC 6/2, 444,32–34 Kaczynski): τοῦ θαυµαστοῦ τῆς οἰκουµένης διδασκάλου, τοῦ καλοῦ παιδοτρίβου, τοῦ γεωργοῦ τῶν ἡµετέρων ψυχῶν. Übers. a.a.O. 445. Vgl. dazu Edsall, The Reception of Paul, 182–190, bes. 182 mit Anm. 60; 186.

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die Gegenwart reichenden Wirkungen – seinen Stempel aufdrücken sollte, hatte auch mit seiner Bildungsfähigkeit zu tun. Dabei ist noch einmal auf den Anspruch allgemeiner Bildung hinzuweisen, der die Christen von anderen Gruppen mit intellektuellem Profil unterschied. Das zog, wie gesehen, Kritik auf sich. Solche Kritik antiker Philosophen hindert natürlich die moderne Forschung nicht daran, das frühe Christentum als Philosophenschule zu beschreiben. Doch die sozialgeschichtlichen Unterschiede dürfen für eine präzise Erfassung der Phänomene nicht außer Acht gelassen werden. Die von Edwin Judge geprägte Bezeichnung »scholastic communities« für die frühen christlichen Gemeinden suggeriert eine Zentralität intellektueller Betätigung, die sich in den Texten nicht nachweisen lässt, und verengt so den hier zugrunde liegenden Bildungsbegriff. 114 Der noch den spätantiken Katechumenat prägende Anspruch, dass alle Gemeindemitglieder lernen und sich bilden sollten, ist daher von der Definition der Gemeinschaft durch Bildung an sich zu unterscheiden: Das lässt sich wohl für einige christliche Gruppierungen plausibel machen, nicht jedoch für alle. Das Christentum war – pointiert gesagt – eine Bildungsreligion, aber nie nur die Religion der Gebildeten. Anders ausgedrückt, es war die Religion derer, die sich auf einen lebenslangen Bildungsprozess einzulassen bereit waren, der sowohl kognitive als auch leibliche und emotionale Momente umfasste. Das Wort vom Kreuz gab den Korinthern zu lernen, war aber mehr als ein Lerngegenstand! Daher stellt die paulinische Rede von der »Torheit« – als Mahnung gegen menschliche Selbstüberhebung durch Bildungsbesitz – eine bleibend wichtige Pointe dar. Abstract Education was of utmost importance for nascent Christianity – and it was highly disputed among Christians from the very beginning. The present paper investigates the apostle Paul’s use, reflection, and critique of hellenistic education (Paideia). As is well known, in 1 Corinthians, Paul presented a juxtaposition of divine and secular wisdom and argued that the former, though a folly in the world’s eyes, was salvific for humankind. However, in order to communicate this Christian wisdom, he freely employed classical Paideia and, moreover, expected every male and female Christian to enter the process of self-reflection (‘Bildung’ in the proper German sense). The paper then researches how Paul’s followers, i.e. the authors of the pseudo-Pauline epistles, developed such learning processes as an integral part of Christian life, including the demand for teaching Offices. A third section focuses on second-century Christianity, where we find, on the one

114 E.A. Judge, The Early Christians as a Scholastic Community (1960), in ders., The First Christians in the Roman World. Augustan and New Testament Essays, hg. von J.R. Harrison (WUNT 229), Tübingen 2008, 526–552. Auch von »learning communities« zu sprechen (Smith, Pauline Communities, 388–391), führt nicht weiter.

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hand, severe criticism of hellenistic education as contaminated with misleading religious concepts, but, on the other Hand, energetic apologetics which refused the critique of the Christians as an uneducated and intellectually inferior group. Especially illuminating is the educational enterprise of Clement of Alexandria who tried to harmonize hellenistic and Christian education, thereby bridging the gap which Paul had depicted. All in all, early Christianity appears as a religious group for which education was of great importance, but it was not made up only of the happy educated few. This tension, the author argues, became crucial to Christian self-understanding until the present time. Prof. Dr. Peter Gemeinhardt, geb. 1970, ist Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen.

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Paulus, Ereignisse und die Bildung Eine Annäherung mit Badiou und Žižek

Bildung ist ein schillernder Begriff. Bildung steht für eine der wohl wirkmächtigsten funktionalen Bewältigungsstrategien von Kontingenz in der europäischen Moderne. 1 Das Wissen um theologische Spuren, spirituelle Versatzstücke und religiöse Gefühle geht spätestens mit dem wiederkehrenden Verweis auf die Grundlagen des Bildungsbegriffs in der Mystik einher. 2 Systematisch hat sich auch die aktuelle bildungsphilosophische Diskussion – und das pädagogische Feld – nicht von seiner Verwurzelung in der theologischen Diskussion des 18. Jahrhunderts gelöst, wie oft proklamiert wird. Stattdessen stoßen Forscherinnen und Forscher überall auf Motive, die auch theologische Deutungen zulassen, welche die Struktur von Erziehungs- und Bildungsprozessen durch ihre dominante Platzierung von Gnade, Liebe und Erlösung gar maßgeblich mitbestimmen. 3 So geht mit der Diskussion um die Vermittlung von Werten auch immer ein impliziter Bezug auf theologische Diskussionen einher, die spätestens im 18. Jahrhundert durch bspw. die Schriften des evangelischen Pfarrers Christian Gotthilf Salzmann popularisiert und im Zuge der Konstitution der wissenschaftlichen Disziplin der Pädagogik pädagogisiert wurden. 4 Es bleibt festzuhalten: Pädagogisches Denken und dementsprechend auch das Denken über Bildungsprozesse ist immer durchsetzt von Spuren theologischer Reflexion oder Strukturgleichheiten. Dasselbe gilt auch für die Philosophie, insbesondere die politische Philosophie. Gerade im Umfeld einer kulturkritischen, marxistisch geprägten Philosophie wird die Religion als expliziter – und nicht stereotyp negativer – Bezugspunkt aktueller Diskussionen gewählt. 5 Und interessanterweise ist es die Figur des Paulus, die auf erhöhtes Interesse stößt. Nicht

1 R. Koerrenz, Bildung als Kultur des Protestantismus, in: R. Koerrenz, (Hg.), Bildung als protestantisches Modell, Paderborn 2010, 15–39. 2 Vgl. M. Rieger-Ladich, Bildungstheorien zur Einführung, Hamburg 2019. 3 Vgl. A. Maier, Das eschatologische Motiv der ›Entfehlerung‹ im pädagogischen Kontext. Zur Einleitung, in: A. Conrad /A. Maier (Hg.), Erziehung als Entfehlerung. Weltanschauung, Bildung und Geschlecht in der Neuzeit, Bad Heilbrunn 2017, 9–14. 4 T. Fuchs /N. Köbel, Werte, in: G. Weiß/J. Zirfas (Hg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Wiesbaden 2019, 189–202. 5 J. Derrida /G. Vattimo, Die Religion, Frankfurt am Main 2001.

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nur Slavoj Žižek, sondern auch Giorgio Agamben hat Paulus seine Aufmerksamkeit gewidmet. Alain Badiou – öffentlicher Intellektueller, von Marx beeinflusst und kommunistisch orientiert und wohl der Theoretiker des Ereignisses – legte seine eigenen Überlegungen zu Paulus im Jahr 1997 in einem sprachgewaltigen Essay dar. In diesem expliziert er seine eigenen philosophischen Thesen anhand von Paulus. Badiou, Agamben und Žižek denken mit Paulus Philosophie. Damit stehen die drei keineswegs alleine da: Hegel, Comte, Nietzsche, Freud, Heidegger und auch Lyotard haben sich unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen mit Paulus auseinandergesetzt. Es ist nicht zu negieren, dass die von Paulus überlieferten Schriften nachhaltig Muster des Denkens in die europäische Kultur eingetragen haben. Paulus wird so für einige sicherlich überraschend zu der unhintergehbaren Wegmarke einer differenzierten Theorie des ereignishaften Subjekts. Und die Diskussion um die Bildung des Subjekts ist wiederum für die Pädagogik als Disziplin von Interesse. Dies weisen zahlreiche Publikationen und aktuelle Theorieentwürfe aus – Bildungstheorie, die kann (und man möchte meinen, konnte) nicht ohne das Subjekt gedacht werden. 6 Die Bildungsphilosophie interessiert sich aber heute nur wenig für die Religion. Und auch Badiou ist ein selten aufgerufener Autor. Žižek hingegen findet zumindest in der internationalen Diskussion langsam mehr Beachtung. Und um diese Markierung eines Desiderats noch weiter zu treiben, sind bildungsphilosophisch inspirierte Interpretationen einer linken französischen Philosophie mit Bezug auf Paulus komplett unkartiertes Terrain. Die Frage, was Paulus, Badiou und Žižek mit Bildung zu tun haben, wurde bis jetzt noch nicht gestellt. In meinem Beitrag werde ich die Frage beantworten, welche bildungstheoretisch relevanten Impulse sich im Anschluss an die Lektüre ausgewählter Überlegungen von Badiou und Žižek zu Paulus, dem Ereignis und dem Universellen ergeben. Die These ist, dass aus bildungstheoretischer Perspektive in den Überlegungen zu Paulus eine doppelte Form von Bildung ausgemacht werden kann. Um diese erziehungswissenschaftliche Perspektivierung zu ermöglichen, werde ich in einem ersten Schritt einige Verortungen der Diskussion um Paulus im von mir betrachteten Feld vornehmen und den Forschungsstand umreißen. Im Anschluss daran werde ich ein grundlegendes Verständnis von Bildung skizzieren, um so einen hermeneutischen Schlüssel für die folgende Lektüre bereitzustellen. Diesen nutzend, folgt in einem dritten Schritt die Auseinandersetzung mit Badious Paulus – freilich angereichert um die oben bereits erwähnten Überlegungen Žižeks. In einem letzten Schritt werde ich die bildungstheoretische Deutung der

6 Vgl. H.-C. Koller, Bildung anders Denken: Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart 22019.

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Ausführungen erneut hervortreten lassen. So wird ausgewiesen, dass zum einen die Deutung theologisch relevanter Texte weiterhin als Bildungsanlass für eine der Theologie oft entsagende Diskussion wirkt. Durch die Übertragung in andere Terminologien und Kontexte werden neue Bedeutungsdimensionen erschlossen, die oft genug mit den etablierten Lesarten brechen. Zum anderen wird deutlich, dass aus ebendiesen Übertragungen und Übersetzungen auch Anregungen für die bildungsphilosophische Diskussion gezogen werden können. Letztlich sind beide Schlüsse begründet und verwurzelt im Ereignis der Auferstehung und des Christentums selbst. Und dieses Ereignis wirft seine Schatten auch auf die Diskussion außerhalb der Theologie, was ich nun nachzeichnen werden. 1. Paulus in der Diskussion – Einige Anmerkungen zum Forschungsstand Zwei verschiedene Bewegungen werde ich in diesem Teilkapitel vollführen. Zum einen werde ich auf aktuelle Diskussionslinien von Paulus in der politischen Philosophie, insbesondere in der französischen Philosophie, noch spezifischer bei Alain Badiou und Slavoj Žižek hinweisen. Bereits hier wird deutlich werden, dass eine Aneignung des biblischen Stoffes zur Herleitung einer Philosophie eigener Art genutzt wird. Zum anderen werde ich darauf hinweisen, dass Badiou, Žižek und ihr gemeinsamer Bezugspunkt Paulus – wenn auch in nur begrenzt referenzierter Form – auch in der Erziehungswissenschaft langsam auf verhaltenes Interesse stoßen und in Grundzügen verhandelt werden. Im Gegensatz zur Erziehungswissenschaft des 21. Jahrhunderts scheinen die Politikwissenschaft und insbesondere die politische Philosophie keine Berührungsängste zu haben, wenn es um Aneignungen von biblischen Themen geht. Paulus ist – so Sebastian Lasch in einer Rezension – »in der politischen Theorie der Gegenwart angekommen«. 7 Lasch bespricht hier die für diesen Beitrag hochrelevante Publikation Politische Eschatologie nach Paulus von Dominik Finkelde. 8 Finkelde analysiert in seinem Beitrag Texte von Badiou, Agamben, Žižek und Santner, die sich allesamt – jedoch auf unterschiedliche Art – auf Paulus beziehen. Dabei ordnet Finkelde sowohl den Text Badious als auch den Žižeks einer identitätsphilosophischen Denklinie zu. Fortgeführt wird dieses Projekt einer philosophischen Erschließung der Paulusrezeption im Sammelband 7 S. Lasch, Rezension zu: Dominik Finkelde: Politische Eschatologie nach Paulus, Wien 2007, Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/28429-politische-eschatologie-nach-paulus_33492, zuletzt überprüft am 24.10.2019. 8 Vgl. D. Finkelde, Politische Eschatologie nach Paulus. Badiou – Agamben – Žižek – Santner, Wien 2007.

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Paulus und die Politik, in dem unterschiedliche Zugänge zu Paulus erprobt werden. 9 Eine ähnliche Rezeptionslinie findet sich im englischsprachigen Raum; eine Berücksichtigung der deutschsprachigen Arbeiten findet in der Arbeit von Christopher Watkin jedoch nicht statt, obgleich er sich auf einen ähnlichen, wenn auch ungleich umfangreicheren Textkorpus als Finkelde bezieht. 10 Dennoch ist Watkins Diagnose zuzustimmen; »Much has been been written on the apostle Paul by recent continental thinkers«. 11 Interessanterweise werden diese Publikationen nicht dem Bereich der Theologie zugeordnet, sondern bewegen sich, mit Watkin gesprochen, in einem »post-theological« 12 Bereich. Watkin versteht hierunter zunächst einen Containerbegriff, der das oft ambige oder gar ablehnende Verhältnis von Theologie und Philosophie, aber auch Theologie und Sozialwissenschaften markiert. The prefix ›post-‹ is merely an indication of chronology: to think in the West today is to think after God, with concepts and a tradition bequeathed by theology and theologically informed thinking, and even if the aim of such thinking is to be atheological it cannot avoid the task of disengaging itself from the theological legacy. 13

So wird deutlich, dass auch in den nur kurz angerissenen Ansätzen theologische Überlegungen eine Rolle spielen. Sie sind in die Tradition des Denkens selbst eingebrannt und lassen sich nicht einfach auslöschen. Dennoch ist es der Anspruch der angesprochenen Ansätze, ohne Gott zu denken, Paulus nicht zwingend als Apostel oder Heiligen zu lesen und Gott nicht mal als Parasiten in der Philosophie auftreten zu lassen. 14 Faktisch geht es in der Diskussion um die fundamentale Frage danach, wie Philosophie begründet werden kann, ohne sich auf Gott zu beziehen. Und das wiederum führt zu der Frage, wie Philosophie einen Begriff von Subjekt entwickeln kann, der nicht auf Göttlichkeit angewiesen ist. Finkelde orientiert die Analysen, wenn er die Stoßrichtungen von Badiou und Žižek vorwegnimmt: »Badiou wird am Beispiel von Paulus seine Theorie einer radikalen Subjektivität entfalten und Žižek in ihm einen ersten historischen Materialisten sehen, der seine Gemeinden um eine Leerstelle im Seins-Horizont der Zeit gruppiert«. 15 Beide integrieren Paulus in ihr philosophisches Denken, eignen ihn an und deuten ihn 9 Vgl. Internationale Rosenzweig-Gesellschaft (Hg.), Paulus und die Politik /Paul and Politics, Freiburg 2010. 10 Vgl. C. Watkin, Difficult Atheism. Post-Theological Thinking in Alain Badiou, JeanLuc Nancy and Quentin Meilassoux, Edinburgh 2011. 11 Watkin, Difficult Atheism, 12. 12 Watkin, Difficult Atheism, 12. 13 Watkin, Difficult Atheism, 12–13. 14 Der Begriff »Parasit« wird hier im Anschluss an Michael Serres gebraucht. 15 Finkelde, Politische Eschatologie, 11.

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anders. Finkelde macht dabei – wie Watkin – darauf aufmerksam, dass die Überlegungen von Badiou und Žižek keine vertikale Dimension mehr enthalten. Sie haben den Anspruch, radikal immanent und horizontal zu denken: Transzendenz ist höchstens noch Metapher für die Undurchschaubarkeit reiner Immanenz. Sie hat aber jeden Bezug zu einem Jenseits verloren. Sie verweist nicht mehr auf einen göttlichen Bereich als ›zureichenden Grund‹ unserer phänomenalen Welt, sondern auf die komplexe Unendlichkeit in den Relationen von Phänomenen selbst. 16

Dennoch fallen auch Badiou und Žižek immer wieder – zumindest auf grundlegender Ebene der Theoriearchitektur – auf transzendente Momente zurück. Neben dieser theoretischen Diskussion sind die Schriften von Badiou und Žižek, so Finkelde, aber auch von notwendigen politischen Überlegungen durchzogen, die sich auf die konkrete Praxis beziehen. Das politische Subjekt beider Autoren »versteht sich aus einem Potential zur katastrophischen Einzelhandlung als politischer Aktivist und als Verkünder einer einmaligen und nichtrelativierbaren Wahrheit. Paulus erscheint so als Promotor eines radikalen politischen Subjekts, das für Žižek und Badiou nötig ist«, 17 was in Anbetracht aktueller politischer Entwicklungen, die ebenfalls von beiden Autoren vehement kritisiert werden, nötiger denn je erscheint. 18 Wie Žižek, Badiou, Finkelde, Watkin und anderen geht es auch mir nicht um eine historische Rekonstruktion der Theologie des Paulus, die radikal in ihrem historisch-kulturellen Kontext verortet ist. Wie auch Finkelde möchte ich hier – aus bildungstheoretischer Perspektive – »Interesse wecken und zur weiteren Vertiefung der behandelten Themen animieren«. 19 Eine solche Vertiefung ergibt sich durch die Spurensuche in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion. Insbesondere im englischsprachigen Raum stoßen wir auf Bezugspunkte, die alle bis jetzt aufgeführten Elemente der Überlegungen Badious und Žižeks miteinander verbinden. So wird Badious Paulus von Thomas E. Peterson als ein »passionate and militant defender of universalism; struggling against the particular and sectarian distinctions that his contemporaries had associated with the Christ-event« 20 verstanden. Paulus, so Petersen, »refuses to engage

16 Finkelde, Politische Eschatologie, 12. 17 Finkelde, Politische Eschatologie, 13. 18 Vgl. S. Žižek, Wie ein Dieb bei Tageslicht. Macht im Zeitalter des posthumanen Kapitalismus, Frankfurt am Main 2019. 19 Finkelde, Politische Eschatologie, 14. 20 M.A. Petersen, Badiou, Pedagogy and the Arts, in: K. den Heyer (Hg.), Thinking Education through Alain Badiou, Malden /Oxford /West Sussex 2010, 17.

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in obscurantist defenses of the faith; he believes in miracles and says he has experienced them, but he does not invoke them to demonstrate the truth«. 21 Petersen unternimmt den Versuch, Badiou konsequent für die Erziehungswissenschaft zu lesen – eine Deutung der Schriften bleibt aber nominalistisch. Erziehung – nicht Bildung – finden Petersen und andere dort, wo Badiou von Erziehung (in ihrem Fall education) schreibt. Genauere begriffliche Ausführungen bleiben aus. Dennoch besteht die Möglichkeit, Badious Überlegungen als Kritik an Erziehungspraktiken zu lesen, was wohl der einfachste Weg ist, eine Verbindung zwischen zunächst unverbundenen Diskussionen herzustellen. So hält Anna Strhan fest: »Badiou’s use of Saint Paul provides an opening for an educational discourse that challenges the prevailing hegemony of managerialism and performativity within education«. 22 Und erst jüngst wurde auf die Relevanz des Ereignisses für die Subjektbildung hingewiesen, auf die ich weiter unten erneut eingehen werde. 23 Diese in Grundzügen vorliegende Verbindung von Paulus, der Erziehungswissenschaft und ihrer Frage nach den grundlegenden Koordinaten Bildung, Erziehung und Lernen lässt sich auch für Žižek ausweisen. Žižek wird im englischsprachigen Raum gar als key thinker of education bezeichnet, obwohl sein Werk dann wiederum nicht als systematisch erziehungswissenschaftlich markiert, sondern als irritierendes Bildungsgut verhandelt wird. 24 Dennoch erscheint auch hier klar, dass Žižeks Denken auch von erziehungswissenschaftlicher Bedeutung ist; Alan Cooley verortet ihn »as a revolutionary democrat and in his unrelenting desire to see progress in the human condition« 25 als richtungsweisend für die Erziehungswissenschaft. Diese These wird, die Normativität des beinahe ekstatischen Cooleys abschwächend, auch von Mayer und Schenk gestützt. Beide Erziehungswissenschaftler weisen darauf hin, dass »a Žižekian perspective can bring back a critical macro perspective of a changing order of global capitalism into the analysis of its broad effects on everyday life«. 26 Der Zugang Žižeks wird von

21 Petersen, Badiou, Pedagogy and the Arts, 17. 22 A. Strhan, The Obliteration of Truth by Management: Badiou, St. Paul and the question of economic managerialism in education, in: K. den Heyer (Hg.), Thinking Education through Alain Badiou, Malden /Oxford /West Sussex 2010, 78. 23 J. Vlieghe /P. Zamojski, Out of Love for Some-Thing: An Ontological Exploration of the Roots of Teaching with Arendt, Badiou and Scheler, Journal of Philosophy of Education 53 (3) 2019, 518–530. 24 T. Wall/D. Perrin, Slavoj Žižek. A Žižekian Gaze at Education (Springer Briefs in Education. Key Thinkers in Education), Cham /Heidelberg /New York /Dordrecht /London 2015. 25 A. Cooley, Is education a lost cause? Žižek, schooling, and universal emancipation, Discourse: Studies in the Cultural Politics of Education, 30 (4) 2009, 392. 26 R. Mayer /S. Schenk, Žižek, in: P.Smeyers (Hg.), International Handbook of Philosophy of Education, Cham /Heidelberg /New York /Dordrecht /London 2018, 458.

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ihnen affirmativ als kritisches Instrument gewertet, das »shakes clear-cut pedagogical attributions, especially in terms of autonomy, rationality and emancipation, which neglect the inconsistence and conditionality of every theoretical and practical access«. 27 Aus systematischer Perspektive ist hier noch nicht viel über die Passung von Badiou, Žižek und einem allgemeinpädagogischen Denken über Bildung und Erziehung gesagt; beide Philosophen ermöglichen eine andere Perspektive auf gesellschaftliche Verhältnisse, in die die Erziehungspraxis notwendigerweise eingewoben ist. Sie problematisieren Dinge neu und anders, ermöglichen so neue Anfragen an die Erziehungswissenschaft – beispielsweise dann, wenn herausgestellt wird, dass »terms like autonomy, individuality, learning, participation, competencies etc. are not at all immaculate or superior concepts which can easily be implemented in pedagogical settings or research«. 28 Dennoch steht eine genaue erziehungs- oder bildungstheoretische Lektüre sowohl der Schriften Badious als auch Žižeks weiterhin aus. Bereits dieser kurze Blick in zwei im Regelfall voneinander losgelöste Diskussionen zeigt, dass Paulus vermittelt über die Überlegungen von Badiou und Žižek in der sozialwissenschaftlichen und philosophischen Diskussion Fuß gefasst hat. Sowohl in der Politikwissenschaft als auch der Erziehungswissenschaft werden die beiden Denker – und damit auch ihre Überlegungen zu Paulus – als Bezugspunkte bearbeitet. Die PaulusRelektüren können so bereits an dieser Stelle als Praxis verstanden werden, die »tries to free their possible but unrealized options from readings that themselves have become ideological mainstream«. 29 Gerade die Frage nach dem Verhältnis dieser Diagnose und dem in diesem Jahrbuch verwendeten Verständnis von Bildung bleibt aber noch vage. Um dieses weiter zu präzisieren, werde ich in einem nächsten Schritt ein Bildungsverständnis explizieren, das die weitere Untersuchung anleiten wird. 2.

Bildung – Die Welt im Kopf

Eine solche Explikation ist notwendig, denn was genau unter Bildung und ihrer Theorie verstanden wird, ist keineswegs klar. Die inhaltliche Bestimmung von Bildung ist kontextabhängig. 30 Es fällt auf, »dass viele 27 Mayer /Schenk, Žižek, 458. 28 Mayer /Schenk, Žižek, 461. 29 Mayer /Schenk, Žižek, 467. 30 Jüngere Einführungen in die Bildungstheorien oder die Bildungsphilosophie unterscheiden sich in Aufbau und den Bezügen maßgeblich. Zurückzuführen ist dies auch auf die in wissenschaftlichen Feldern wirkenden Regeln, auf die ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen werde. Es sei aber angemerkt, dass auch mein Sprechen über Bildung und meine Auswahl an Referenzautorinnen und Referenzautoren letztlich meiner eigenen Verortung im Feld zuzuschreiben ist.

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derer, die sich an Bildungsdebatten beteiligen, keine größeren Anstrengungen erkennen lassen, möglichst präzise zu bezeichnen, was sie meinen, wenn sie die fragliche Vokabel verwenden«. 31 Ein beliebiges Sprachspiel könnten naive Beobachterinnen und Betrachter nun annehmen; aber weit gefehlt. Es lässt sich sehr wohl ein spezifisches Verständnis von Bildung ausweisen, wie ich unten ausführen werde. Generell jedoch wird Bildung zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten, beeinflusst durch die Ideologie, die wir oft Kultur nennen, formal und auch material unterschiedlich bestimmt. Das heißt, sowohl die Struktur von Bildung als auch die Inhalte von Bildung werden auf verschiedene Arten aktualisiert. Es steht fest: Die inhaltliche Bestimmung des Begriffs – und damit auch die sich hinter dem Begriff verbergenden Intentionen und Normativitäten – variiert in Abhängigkeit von zeitlichem und räumlichem Kontext. Zugleich ist Bildung aber auch eine eigentümlich gleichförmige menschliche Reaktion auf Wahrnehmungen von Krisen. Sie wird immer dann beschworen, wenn ein unlösbares Problem gelöst werden soll. Bildung ist dann – als menschliche Praxis – verbunden mit Vorstellungen von Selbstermächtigung, Wissenszuwachs, Veränderung und Emanzipation. Unklar bleibt, welchen Zugangspunkt Forscherinnen und Forscher wählen sollen, um sich dem Rhizom Bildung zu nähern: Sollte man sich zu diesem Zweck der griechischen Antike zuwenden und dem Bedeutungsgehalt von paideia nachspüren, den Einsatz bei dem Dominikanermönch Meister Eckhart suchen, dem wir die deutsche Wortprägung Bildung wohl verdanken, dem englischen Earl of Shaftesbury den Vorzug geben, der dem Begriff der Politeness eine neue Prägung gab, oder den Vertretern des Deutschen Idealismus, die programmatische Schriften zum Bildungsbegriff verfasst haben? 32

Eine allgemeingültige Setzung des notwendigen Bezugspunkts verkennt die Problematik: Wenn wir davon ausgehen, dass Bildung nicht nur ein historisch-kulturelles Phänomen ist, sondern den Menschen grundsätzlich betrifft, ist es nicht die Frage, wo wir anfangen, Texte zu lesen, Kontexte zu rekonstruieren und Biografien einzuordnen. Stattdessen ist zu fragen, welche grundlegenden Annahmen über den Menschen wir treffen, um dann doch Gemeinsamkeiten im Wirrwarr der Bestimmungen von Bildung auszumachen. Anders als einige andere verstehe ich hier Bildung nicht nur als »vielstimmigen Diskurs«, 33 sondern als ein grundlegendes anthropologisches Phänomen. 34 Dieses werde ich nun weiter bestimmen,

31 Rieger-Ladich, Bildungstheorien, 13. 32 Rieger-Ladich, Bildungstheorien, 19. 33 Rieger-Ladich, Bildungstheorien, 20. 34 Eine solche Position ruft zur Gegenrede auf. Aktuell werden insbesondere posthumanistische Überlegungen (im Anschluss an verschiedene französische Theorektiker) diskutiert

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um es dann auf die Paulus-Lektüren von Badiou und Žižek beziehen zu können. Dabei beginnt meine Bestimmung mit einer einfachen und zugleich richtungsweisenden Setzung: Alle Menschen lernen. Der These von Ralf Koerrenz ist zuzustimmen, »daß der Lernbegriff in der Tat den höchsten Grad an Abstraktion in sich birgt«. 35 Menschen lernen jedoch nicht als kollektive Assemblage wie die Borg aus Star Trek. Sie lernen individuell. Somit erlaubt es der Lernbegriff, sowohl das individuelle Lernen als auch das lernende Subjekt zu thematisieren. Die Fokussierung auf das Lernen als individuelle anthropologische Konstante ermöglicht es, Lernen mit einem Bildungsverständnis zu koppeln, das schlussendlich auf Lernprozessen rekurriert. Bildung selbst verstehe ich in diesem Text genau wie Lernen als anthropologische Konstante; Menschen bilden sich in jedem Fall. Letztlich können sie der Bildung gar nicht entkommen, sie aber wohl vermeiden, abstreiten oder ignorieren. Menschen sind immer in Geschichte verwoben: »Eine Flucht aus der Geschichte der Geschichten ist unmöglich, so verächtlich Vergangenes und Zukünftiges betrachtet werden und ganz pragmatisch der je einfallende Augenblick ›empirisch‹ verehrt werden mag«. 36 Dabei bricht sich ein Verständnis von Bildung bahn, das sowohl den Charakter des Widerfahrnisses hat als auch ein Moment individueller Reflexion beinhaltet. Ein solches Verständnis ist mit einer Verschiebung und Veränderung der hermeneutischen Vor-Urteile verbunden. Den Charakter des Widerfahrnisses hat Bildung immer dann, wenn über Phänomene gesprochen wird, die ein Subjekt zur Reaktion nötigen. Die Antwort auf die Frage nach dem transformatorischen Potenzial konkretisiert sich darin, »Instrumente zur Verfügung [zu] stellen, die es ermöglichen, individuelle Transformationsprozesse präzise fassen und analysieren zu können«. 37 Das empirische Gegenüber rückt hier in den Mittelpunkt der Betrachtung; Bildungsimpuls kann so ziemlich alles sein, was Welt ausmacht. Für eine Operationalisierung des Bildungsverständnisses interessiert in diesem Beitrag vornehmlich die Seite des Individuums, das sich den Gegenständen annähert und sich bildet. Wie kann Bildung als individueller Prozess der Veränderung gefasst werden? Ich folge in der Vielzahl der Bildungsbegriffe einem, der sound Michel Foucaults und Niklas Luhmanns Anti-Humanismus haben die Erziehungswissenschaft nachhaltig geprägt. Diese Denkwege mögen unvereinbar sein, da sie zu unterschiedlichen Zielen führen; möglicherweise kreuzen sie sich aber an einigen Stellen. 35 R. Koerrenz, Ökumenisches Lernen, Gütersloh 1994, 19. 36 R. Koerrenz, Bildung als Reflexion und Gestaltung von Vorurteilen. Globale Bildung und die Welt im Kopf, in: ders./A. Blichmann (Hg.), Pädagogische Reform im Horizont der Globalisierung. Paderborn 2014, 13–28, hier 13. 37 Rieger-Ladich, Bildungstheorien, 170.

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wohl das Phänomen als auch die verstehende Bearbeitung des Phänomens differenziert konzipiert. Dieses Verständnis wurde systematisch von Ralf Koerrenz entfaltet. Es bietet eine Möglichkeit, um Bildung zu operationalisieren. Andere Bildungsbegriffe werden nicht berücksichtigt, da sie a) den Aspekt des Verstehens nicht so nachdrücklich betonen, und b) weitere Theorieimporte notwendig machen würden. Seine Prämisse ausweisend – das heißt, die Bedingtheit der eigenen Erkenntnisposition reflektierend und damit selbst dem von ihm postulierten Verständnis von Bildung folgend – macht Koerrenz darauf aufmerksam, dass Bildung in letzter Konsequenz nichts Anderes als Hermeneutik sei. Bildung meint hier weniger den Aspekt des Handelns, da dies bereits Ergebnis einer Bildungsbewegung ist. Stattdessen ist Bildung bezogen auf das Denken selbst, ein individueller und von außen nicht zugänglicher Akt. Aktualisiert ist Bildung »die Ausbildung hermeneutischer Kompetenz und die (Selbst)Reflexion der Bindungen und Möglichkeiten des eigenen Verstehens«. 38 Bildung ist damit sowohl auf die Vorurteile im eigenen Denken als auch auf die Vorurteile der Welt gerichtet. Diese zunächst abstrakte Figur lässt sich an der Schlusspassage des Buchs Wie ein Dieb bei Tageslicht von Slavoj Žižek verdeutlichen. Hier geht Žižek auf die Veränderung der Ideologie im Kapitalismus ein: Um zu verstehen, wie Ideologie auf traditionelle Weise funktionierte, sollte man die bekannte Phrase ›Du musst schon blöd sein, um das nicht zu sehen!‹ umdrehen in: ›Du musst schon blöd sein, um zu sehen . . . ‹ Aber was zu sehen? Das zusätzliche ideologische Element, das einer verwirrenden Situation Bedeutung verleiht. Beim Antisemitismus zum Beispiel muss man blöd genug sein, um ›den Juden‹ als geheimen Akteur wahrzunehmen, der im Verborgenen die Strippen zieht und das soziale Leben kontrolliert. Heute jedoch behauptet das vorherrschende zynische Funktionieren der Ideologie selbst: ›Du musst schon blöd sein, um zu sehen‹ – was? Die Hoffnung auf radikalen Wandel. 39

Das Wirken der Ideologie wird in einem ersten Schritt als unreflektiertes Vorurteil markiert: Wer sein Vorurteil nicht reflektiert, der bleibt in der Ideologie verhaftet, bleibt im Sinne Žižeks »blöd«, denn er sieht das ideologische Element und kann sich nicht davon lösen. Das Vorurteil muss unreflektiert, der Mensch ungebildet bleiben, um die Ideologie aufrechtzuerhalten. Im Zuge der sich verschärfenden Kommodifizierung der Lebenswelt hat sich aber auch die Struktur der Ideologie verändert. Der radikale Wandel selbst ist ideologisch geworden und damit zum Teil der Maschinerie. Die Ideologie lockt so mit der Hoffnung auf Wandel,

38 39

Koerrenz, Globale Bildung, 15. Žižek, Wie ein Dieb bei Tageslicht, 274.

Paulus, Ereignisse und die Bildung

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der nicht erreicht wird. 40 Nun mag der von Koerrenz skizzierte Bildungsbegriff hier einen Ausweg aufzeigen, wenn das Vorurteil als Vorurteil sichtbar wird. Ideologie ist unser Normalzustand; um diesen zu sehen, bedarf es der Reflexion. Es wird erneut deutlich: »Bildung ist die Ausbildung hermeneutischer Kompetenz und die (Selbst)Reflexion der Bedingungen und Möglichkeiten des eigenen Verstehens«. 41 Das Subjekt des Bildungsprozesses wendet sich an sich selbst. Es befragt die Bedingungen des eigenen Verstehens. Dieser Prozess äußert sich in einer doppelten Kompetenz, die sich sowohl auf ein Außen als auch auf ein Innen bezieht. Bedingt durch Bildung kann der Mensch sowohl sein Außen als eine Möglichkeit unter vielen als Interpretation, und zugleich sein Inneres als ebenfalls vorurteilsbedingte Verfasstheit verstehen. Deutlich wird, dass Bildung auf »Gegen-Ständlichkeit verwiesen« 42 und angewiesen ist. Bildung ist der Prozess des Ins-Verhältnis-Setzens zur Gegen-Ständlichkeit, der prinzipiell nicht abschließbar ist. Trotzdem muss auch in diesem fluiden und stets zirkulierenden hermeneutischen Prozess ein Moment der Verhärtung eingezogen werden, das dann als Stelle des Subjekts ausgewiesen, nur punktuell ausgemacht und dann wieder verloren wird. 43 Für Koerrenz ergibt sich so ein bipolarer Bildungsbegriff. »Zum einen [Hervorhebung im Original] kann Bildung bestimmt werden als kritische Auseinandersetzung mit den Informationsgehalten der Mitwelt«. 44 Dies ist aber nur die eine Seite der Polarität, denn »zum anderen [Hervorhebung im Original] kann der offene zirkuläre Prozess von den Bedingungen und Bedingtheiten des Selbst in den Blick genommen werden, von denen aus dann ›Bildung‹ als Selbst-Referentialität zu thematisieren ist«. 45 Diese Annahmen bilden das als universell angenommene Grundmuster von Bildung. Vor-Urteile und die Möglichkeit der Referentialität auf Selbst und Welt sind die Bedingungen dafür, dass ebendiese Vor-Urteile in den Blick genommen werden können. Koerrenz unterscheidet hier weiter zwischen der bis jetzt diskutierten universellen anthropologischen Dimension und weiteren sozial- und individualanthropologisch materiell bestimmten Dimensionen des Bildungsbegriffs. Die sozialanthropologische Dimension ist bestimmt über »die konkreten Geschichten der Mit-

40 Für eine Erklärung von Žižek selbst s. https://www . youtube . com / watch ? v = Lsc1e3pYtRw ab Minute 8. 41 Koerrenz. Globale Bildung, 15. 42 Koerrenz, Globale Bildung, 15. 43 S. Engelmann, Fluidität und Viskosität. Zweifelnde Bildung bei Ernest Jouhy, in: M. Oberlechner /R. Schneider (Hg.), Fluidität bildet. Pädagogisches Fluid – Über Fluidität in Bildungsprozessen, Schwalbach 2019, 27–38. 44 Koerrenz, Globale Bildung, 16. 45 Koerrenz. Globale Bildung, 19.

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Welt, die den je eigenen Standpunkt und die in ihm mitgeführte VorUrteilsstruktur inhaltlich prägen«. 46 Sicherlich ist die Prägung durch die Umwelt, die hier als sozialanthropologisch beschrieben wird, von hoher Relevanz für die Bildung des Individuums. Diese Faktoren nehmen auch andere Bildungstheorien in den Blick, freilich ohne großen Bezug auf die Anthropologie. Neben der sozialanthropologischen Dimension thematisiert Koerrenz auch die individualanthropologische. Hier scheint erneut auf, was oben bereits erwähnt wurde: Der Mensch ist ein freies Wesen, das sich zwar zur Welt verhält, in der Ausgestaltung dieses Verhältnisses aber nur durch Geschichte und Kontext gebunden ist. Weiterführende Fragen, die an die prämissenhafte Formulierung von grundlegenden anthropologischen Koordinaten anschließen können, sind sowohl ethische Fragestellungen als auch pädagogisch-bildungstheoretische Überlegungen dazu, wie Bildungsprozesse gefördert werden können. All diese Elemente des von Koerrenz skizzierten Bildungsbegriffs münden in den Aufruf, dass Bildung letztlich die Schulung der hermeneutischen Kompetenz mit Blick auf das Eigene und das Fremde ist. Ein so operationalisiertes Verständnis von Bildung ermöglicht es auch, den Umgang mit Geschichten als Bildungsprozess auszuweisen. Die Reflexion auf die eigenen, gebundenen Vorstellungen führt zur Auseinandersetzung mit oft genug normalisierten Lesarten. Lesarten, die ausgetretene Pfade verlassen, nicht unbedingt intuitiv sind und auf anderen Voraussetzungen aufbauen, geraten so als Bildungsanlässe in den Blick. 3.

Paulus – Ein Ereignis

Sowohl Alain Badiou als auch Slavoj Žižek diskutieren in ihren Überlegungen die Figur des Ereignisses. 47 In diesem Abschnitt werde ich beide Denker als Philosophen des Ereignisses ausweisen. Die Parallelen ihres 46 Koerrenz, Globale Bildung, 5. 47 Auch die Theologie hat sich bereits mit der Figur des Ereignisses bei Žižek und Badiou auseinandergesetzt, was hier aufgrund der bildungsphilosophischen Fokussierung erwähnt, aber nur angeschnitten wird – weitere Überlegungen zur Verbindung der Denklinien sind notwendig. Michael Schüßler und Judith Gruber haben dem Ereignis in der Salzburger Theologischen Zeitschrift ein ganzes Themenheft samt einführendem Editorial gewidmet. Das hochreflektierte Editorial eröffnet die Diskussion des Ereignisses in der Theologie erneut und macht diese auch anschlussfähig für Denken über Bildung. Sie deuten die Überlegungen von Badiou als Materialismus ereignishafter Gnade. Der Unterschied liegt – freilich aufgrund einer anderen Fragestellung – darin, dass ich hier die hermeneutische Anknüpfung qua Bildung als notwendig für das Ereignis erachte, wie es beispielsweise MaiAnh Boger ebenfalls versucht. Kurz: Das Ereignis mag uninterpretierbar, die Treue aber interpretierbar sein. Schüßler und Gruber lassen Badiou in (theologische) Hermeneutik einmünden, lesen diese aber nicht als Bildung. Vgl. M. Schüßler /J. Gruber, Das Ereignis theologisch Denken. Eine einführende Spurensuche, SaThZ 21 (1) (2017), 1–24.

Paulus, Ereignisse und die Bildung

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Denkens werde ich anhand der Schrift Was ist ein Ereignis? von Žižek und der oben bereits erwähnten Schrift Paulus: Die Begründung des Universalismus von Badiou aufscheinen lassen. Eine gemeinsame Klammer wird der Text Philosophie und Aktualität: Ein Streitgespräch liefern, in dem sich Badiou und Žižek als »Parteigenossen« 48 zusammenfinden und ihr Denken trotz Unterschiede als miteinander verbunden ausweisen. Generell ist anzumerken, dass Žižek und Badiou das Christentum immer wieder thematisieren; Paulus ist eine wiederkehrende Figur, insbesondere bei Žižek. 49 Wie ich aber nun zeigen werde, geht es sowohl Žižek als auch Badiou nicht direkt um Paulus. Es geht den Philosophen um das, was durch Paulus sichtbar wird – nicht um den Apostel. Badiou ist hier sehr deutlich: »Tatsächlich ist Paulus für mich kein Apostel oder ein Heiliger. Mir geht es um die Botschaft, für die er steht oder die Verehrung, die man ihm widmete«. 50 Durch Bezugnahme auf Paulus, verstanden als »dichterischer Denker des Ereignisses«, 51 der zugleich kämpferisch und militant war, wird es für sie möglich, ihre abstrakten philosophischen Vorstellungen greifbar zu machen. So wird beinahe beiläufig auch die Aufgabe der Philosophie erfüllt, wie Žižek und Badiou sie imaginieren. Žižeks Was ist ein Ereignis? entwickelt für die Verhältnisse des enfant terrible der europäischen Philosophie systematisch ein klares Verständnis von Ereignis – und das mit direktem Bezug auf das Christentum. Ein Ereignis versteht Žižek als »einen Effekt, der seine Gründe übersteigt«. 52 Ein Ereignis zeichnet sich durch das »überraschende Auftreten von etwas Neuem, das jegliches stabile Schema unterläuft,« 53 aus. Ganz grundlegend sind Ereignisse – abseits von jeder inhaltlichen Bestimmung – Brüche mit einer gegebenen und als normal angenommenen Ordnung. Sie sind Verschiebungen und Öffnungen, durch die Neues eintreten kann: »In seiner grundlegendsten Definition ist ein Ereignis nicht etwas, das innerhalb der Welt geschieht, sondern es ist eine Veränderung des Rahmens, durch den wir die Welt wahrnehmen und uns in ihr bewegen«. 54 Obwohl der Mensch, der das Ereignis wahrnimmt, weiterhin derselbe ist, ist doch die Wahrnehmung nach dem Ereignis eine völlig andere. Der Rahmen der Wahrnehmung ist verschoben. Sowohl die Wahrnehmung selbst als 48 A. Badiou /S. Žižek, Philosophie und Aktualität. Ein Streitgespräch, Wien 2016, 97. 49 Zahlreiche Anmerkungen wären hier angebracht. Hingewiesen sei aber zumindest auch auf S. Žižek, Die Puppe und der Zwerg: Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt am Main 2015, und S. Žižek, Die gnadenlose Liebe, Frankfurt am Main 2001, in denen Žižek den Religionen und insbesondere dem Christentum seine Aufmerksamkeit widmet. 50 A. Badiou, Paulus: Die Begründung des Universalismus, Zürich 2002/2018, 11. 51 Badiou, Paulus, 11. 52 S. Žižek, Was ist ein Ereignis, Frankfurt am Main 2014, 11. 53 Žižek, Was ist ein Ereignis, 11. 54 Žižek, Was ist ein Ereignis, 16.

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auch das wahrnehmende Individuum erscheinen in einem neuen Licht. Ein solches Ereignis sieht Žižek im Sündenfall. Nach dem Ereignis ist die Welt eine vollkommen andere. Die enge Verbindung von Ereignis und Christentum wird auch von Kierkegaard aufgerufen, wenn er gerade das Christus-Ereignis als ausschlaggebend für die weitere Entwicklung der christlichen Religion ausmacht. Žižek geht hier noch einen Schritt weiter. Er postuliert, dass nur durch das Ereignis das Absolute zugänglich wird: »Der einzige Zugang zum Absoluten (Gott) verläuft über unsere Akzeptanz des einmaligen Ereignisses der Inkarnation als singuläres, historisches Geschehen«. 55 Aus diesem singulären Geschehen heraus entsteht aber noch etwas Anderes: die Subjektivität. Denn das »wahre Ereignis ist das Ereignis der Subjektivität selbst, so illusorisch es auch sein mag«. 56 Subjektivität ist somit immer ereignishaft und fragil; sie ist nie identisch zu etwas Anderem. Subjektivität »ermöglicht die Zivilgesellschaft als denjenigen Bereich, in dem autonome menschliche Individuen sich durch Institutionen der freien Marktwirtschaft zusammenschließen, um ihre privaten Bedürfnisse zu befriedigen«. 57 Eine solche eingefahrene und ideologische Überformung der Subjektivität stellt diese in ihrer politischen Potenzialität, ihrer potenziellen Kraft zur Veränderung, aktuell still. Die Chancen für ein neues Ereignis, das den Rahmen der Wahrnehmung erneut verschiebt, stehen aktuell nicht gut. Dennoch belegt die Realität vergangener Ereignisse die Möglichkeit von weiteren Ereignissen. Ein Beispiel hierfür findet Badiou in Paulus. Den systematischen Implikationen des Paulus-Ereignisses werde ich nun nachgehen. Paulus selbst wird von einem, wenn nicht sogar dem Ereignis erschüttert: der Kreuzigung und der Auferstehung von Jesus Christus. Die Intention Badious ist in seinem Text »weder historisch noch exegetisch. Sie ist von Anfang bis Ende subjektiv«. 58 Die Auseinandersetzung mit Paulus ist ebenfalls begründet: »Wenn ein Schritt nach vorn an der Tagesordnung ist, kann unter Umständen auch der größte Schritt zurück von Nutzen sein. Daher diese Reaktivierung des Paulus«. 59 Paulus wird auf diese Art zur Chiffre für ereignishafte Subjektivität, Widerstand und die Möglichkeit einer Verschiebung des Rahmens. Paulus ist für Badiou der Beweis dafür, dass »es immer möglich ist, dass in der Welt ein nichtkonformes Denken denkt. Das ist es, was ein Subjekt ist. Auf das Subjekt, nicht auf die Konformität, stützt sich das Universale.« 60 Badiou unternimmt den Versuch, anhand von Paulus zu erläutern, wie ein universales und ereignishaftes Subjekt in 55 56 57 58 59 60

Žižek, Was ist ein Ereignis, 42. Žižek, Was ist ein Ereignis, 79. Žižek, Was ist ein Ereignis, 171. Badiou, Paulus, 8. Badiou, Paulus, 8. Badiou, Paulus, 135.

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die Welt treten kann, eines, das nicht durch einen vorgegebenen Rahmen, die Ideologie oder den Diskurs gegründet ist. Und genau darum geht es laut Badiou auch Paulus: Es geht darum, dass Paulus ergründen will, welches Gesetz ein jeder Individualität beraubtes Subjekt strukturieren kann, ein Subjekt, das von einem Ereignis abhängt, dessen einziger ›Beweis‹ genau darin besteht, dass ein Subjekt sich zu ihm bekennt. 61

Um diese Frage zu klären, bedarf es eines Ereignisses sowie der Treue zu diesem Ereignis, damit das in die Existenz gerufene Subjekt Bestand haben kann. Das Ereignis, dem Paulus treu bleibt, ist der Tod und die Auferstehung von Jesus Christus. In Abhängigkeit von diesem Ereignis ist es ihm möglich, das Subjekt des Christentums als universales Subjekt zu begründen und so alle Kategorien aus dem Prozess zu entfernen. Badiou gibt das Vorgehen von Paulus dahingehend wieder, dass zunächst das Ereignis stattfindet. Die Wahrheit des Ereignisses besteht darin, »es zu bekennen und ihm dann treu zu bleiben«, 62 was zwei Konsequenzen zeitigt. Zum einen ist die Wahrheit als singulär zu verstehen. Die Wahrheit des Ereignisses ist an keine Vorbedingungen geknüpft: »Sie ist weder struktural noch axiomatisch noch legal. Keine vorhandene Allgemeinheit kann von ihr Rechenschaft geben oder das Subjekt, das sich auf sie beruft, strukturieren«. 63 Zum anderen ist die Wahrheit nicht auf eine bereits vorfindliche Menge, auf geteilte Werte oder einen historischen Prozess gestützt. Sie benötigt keine Identität. Sie konstituiert auch keine. Im vollen Sinne ist sie inklusiv: »Sie ist allen angeboten oder für jeden bestimmt, ohne dass irgendeine vorausgesetzte Zugehörigkeit dieses Angebot oder diese Bestimmung einschränken könnte«. 64 Somit ist die Wahrheit als singuläre Universalität über vier Dimensionen zu greifen. Erstens ist das christliche Subjekt nicht vor dem Ereignis, dem es die Treue hält. Es sind nicht die vorgelagerten Bedingungen, die das Subjekt erzeugen. Zweitens ist die Wahrheit vollends subjektiv, da sie sich nur in Form des Bekenntnisses zum Ereignis ausdrückt. Drittens ist die Wahrheit ein Prozess, der sich immer auf das Ereignis bezieht, und viertens ist die Wahrheit »von sich aus indifferent gegenüber der Beschaffenheit der Situation, zum Beispiel gegenüber dem römischen Staat«. 65 Auf diese Art kann mit Paulus ausgewiesen werden, dass die Wahrheit nicht an die Umstände, das Gesetz, partikulare Interessen oder Wertegemeinschaften zurückgebunden ist. Viel eher ist sie universell, da sie sich davon distanziert; in dieser

61 62 63 64 65

Badiou, Paulus, 12. Badiou, Paulus, 22. Badiou, Paulus, 22. Badiou, Paulus, 22. Badiou, Paulus, 23.

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Bewegung der Distanzierung durch die Bewegung hin zum Universellen liegt das anschlussfähige Motiv, dass Badiou bei Paulus ausmacht. Die Universalität ist es auch, der sich das Streitgespräch – das keines ist – von Badiou und Žižek widmet. Der Frage nachgehend, wie sich die Philosophie in aktuelle politische Gemengelagen einzubringen hat, offeriert Badiou als Antwort, das Ereignis zu denken. In diesem Entwurf finden wir eine vom Beispiel gelöste Abstraktion der Überlegungen, die bereits im Text zu Paulus entwickelt wurden. Die Philosophie mische sich immer dann ein, wenn »in einer Situation – sei diese historisch, politisch, künstlerisch, amourös, wissenschaftlich oder was auch immer – bestimmte Dinge als Signal dafür gelten, dass es ein neues Problem zu erfinden gilt«. 66 Wo der Rahmen zur Beurteilung einer Situation fehlt, ist die Philosophie gefragt. Dort wo sich eine Distanz zwischen der Macht und der Wahrheit einstellt, findet sich eine philosophische Situation. Ebenso findet sich in dieser Situation das Universelle. Dessen Grunddimension ist das Denken, »insofern es in einem Prozess entsteht, der die Gesamtheit des vorhandenen Wissens durchbricht«, 67 und das Universelle unberechenbar und nicht beschreibbar bleibt. Zudem ist das Universelle stets singulär. Es steht in keinem Bezug zu Identität oder zu einer Ordnung – und da es keinen Bezug zu etwas Seiendem hat, kann es nur im Ereignis entstehen. Das Ereignis wiederum »ist ohne Bezug auf die Besonderheiten der Situation«. 68 In Bezug auf das Ereignis entscheidet sich das Subjekt zur Treue, zur Erklärung des Ereignisses. Die Erklärung »folgt aus dem Erscheinen und Verschwinden des Ereignisses und besagt, das Unentscheidbare sei entschieden worden und das Wertlose habe einen Wert bekommen. An diese Erklärung bindet sich das entstandene Subjekt, und sie ist es auch, die Raum für das Universelle schafft«. 69 Das Universelle ist für Badiou dann sowohl implikativ als auch eindeutig – zum einen zeitigt es Nachwirkungen, zum anderen kann es nicht anders interpretiert werden als so, wie es bereits geschehen ist. Es ist der erneuten Entscheidung entzogen und bedeutet nur, dass es bereits entschieden wurde: Jede universelle Singularität kann so als der Akt definiert werden, der, indem er das Subjekt-Denken bindet, ein Verfahren der radikalen Veränderung der Logik hervorruft, und damit auch all dessen, was erscheint. Die universelle Singularität ist offen und unvollendet; an sie kann angeschlossen werden, da sie nicht exkludierend ist. Die Idee des Universellen wird schlussendlich wie folgt zusammengefasst: Das Universelle entsteht »aus einem zufälligen Ersatz und hinterlässt als Spur des verschwindenden Ereignisses, durch das es

66 67 68 69

Badiou/Žižek, Philosophie und Aktualität, 18. Badiou/Žižek, Philosophie und Aktualität, 36. Badiou/Žižek, Philosophie und Aktualität, 40. Badiou/Žižek, Philosophie und Aktualität, 45.

Paulus, Ereignisse und die Bildung

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begründet wird, eine einfache losgelöste Aussage; es beginnt in einem eindeutigen Akt, durch den der Wert dessen entschieden wird, das keinen Wert hat; es bindet an diesen Akt ein Subjekt-Denken, das die Folgen dazu erfindet; und es schafft treu eine unendliche generische Vielheit«. 70 An dieser Stelle möchte ich versuchen, meine Überlegungen zu Žižek und Badiou zu bündeln. Beide denken vom Ereignis aus. Beide postulieren, dass ein Ereignis die Begriffe der Debatte und die Konfiguration des Subjekts anders gestaltet. Das Ereignis ist für sie ein radikaler Bruch mit vorherigen Ordnungen, der einen Raum für Neues und insbesondere für eine Subjektivität abseits von aus verschiedenen Attributen zusammengesetzter Individualität erzeugt. Das Ereignis steht dem Gegebenen diametral gegenüber. Paulus liefert für Žižek – und noch mehr für Badiou – die Möglichkeit, eine solche universale Subjektivität zu denken, die sich den Beschreibungen der herrschenden Diskurse entzieht. Sowohl für Badiou als auch Žižek besteht generell die Möglichkeit, anders zu denken: Der Gedanke einer intellektuellen Debatte, welche die besondere Ordnung durchbricht, straft die konservative Lehre Lügen, der zufolge nur die vollständige Identifizierung mit den eigenen Wurzeln Menschsein im emphatischen Sinne dieses Wortes ermöglicht. 71

Dazu bedarf es eines Ereignisses und der unbedingten Treue zu diesem Ereignis. Auf diese Art entsteht nicht mit den Gegebenheiten konformes Denken, eine kurzzeitige Öffnung, die das Gesetz suspendiert, die dann wiederum in der Praxis weitergeführt werden muss: »Das alte Gesetz ist außer Kraft, die neuen Regeln werde aus dem Nichts durchgesetzt, noch bevor sie kodifiziert sind«. 72 Im Anschluss daran braucht es Bildung, Aufwand, Handlung, um dem Ereignis die Treue zu halten. Und hier laufen das oben skizzierte Verständnis von Bildung und die Überlegungen zu Ereignis und Subjektivität zusammen. 4.

Paulus und die Bildung – Eine Skizze

Meine bisherigen Überlegungen bilden die Grundlage, nun abschließend die Frage zu beantworten, welche bildungstheoretisch relevanten Impulse sich im Anschluss an die Lektüre ausgewählter Überlegungen von Badiou und Žižek zu Paulus, dem Ereignis und dem Universellen ergeben. Um diese Frage beantworten zu können, habe ich zunächst auf die Relevanz des Paulus in der politischen Theorie hingewiesen. Im Anschluss an die 70 Badiou/Žižek, Philosophie und Aktualität, 52. 71 Badiou/Žižek, Philosophie und Aktualität, 72. 72 M.-A. Boger, Theorien der Inklusion. Die Theorie der trilemmatischen Inklusion zum Mitdenken, Münster 2019, 59.

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Sebastian Engelmann

Diskussion relevanter Texte und erziehungswissenschaftlicher Vorüberlegungen habe ich ein eigenständiges, hermeneutisches und anthropologisches Bildungsverständnis skizziert. Dieses geht davon aus, dass Menschen sich lernend zu ihrer Welt verhalten und dass Bildung in der Form einer stetigen Reflexion von Vorurteilen gezeitigt wird. Vor dem Hintergrund des Bildungsverständnisses wurden dann zentrale Texte von Žižek und Badiou diskutiert, die darauf hinauslaufen, dass ein Ereignis geschieht, das ein universales Subjekt erzeugt. Dieses Subjekt wird durch die Treue zum Ereignis geformt und muss sich dann wiederum zu diesem Ereignis ins Verhältnis setzen. Eine doppelte Form von Bildung kann in dieser Lektüre von Texten der politischen Philosophie mit Bezug auf Paulus ausgewiesen werden. Zum einen wird ersichtlich, dass es sich bereits bei der philosophischen Aneignung des biblischen Stoffes um eine Form der Bildung im oben skizzierten Sinne handelt. Zum anderen kann aufseiten der Autoren selbst ein Bildungsprozess verortet werden. Wenn beispielsweise Badiou sich selbst als Atheist bezeichnet, dann aber doch mit dem biblischen Stoff in Berührung kommt und seine eigene Philosophie anhand von Paulus entwickeln kann, verändert sich auch seine Vorurteilsstruktur. Die Referenz auf biblische Texte ist also Anlass für Bildung. Die Interpretation des Textes ist folglich Ergebnis eines Bildungsprozesses. Zum anderen muss aber auch die Lektüre der philosophischen Deutungen von Paulus als Bildungsanlass und die individuelle Interpretation als Bildung verstanden werden. Ein zuvor vorhandenes und normalisiertes Bild von Paulus wird durch die philosophisch-politische Lesart möglicherweise erschüttert und es kommt zur Reflexion der eigenen Vorurteilsstruktur. Ein Beispiel: Auf der durchaus irritierenden, homophoben und rassistischen Homepage bibelpraxis.de wird im Jahr 2017 unter der Überschrift »Wie politisch waren eigentlich Paulus und Petrus?« auf einen Gastbeitrag von Heinrich Bedford-Strohm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Bezug genommen. 73 Bedford-Strohm habe – so die sinngemäße Paraphrase der Reaktion – nicht erkannt, dass Paulus eben nicht politisch gewesen sei und politisches, gar widerständiges Handeln nicht im Sinne der Botschaft der Bibel sei. Einen politischen Diskurs, so der Beitrag weiter, würde man bei Paulus nicht finden. An dieser Stelle wird ein Vorurteil explizit: Paulus war nicht politisch. Dass Badiou und Žižek nun eine explizit politische Lesart von Paulus liefern, könnte Bildungsanlass werden und bei Individuen zu Bildungsprozessen führen. Es wird deutlich, dass die Texte und ihre Rezeption genauso als Bildung aufgefasst werden können wie ihre Produktion – das ist die erste Dimension von Bildung im diskutierten Beispiel. Sie

73 Abrufbar unter: https://www.bibelpraxis.de/index.php?article.3129, zuletzt überprüft am 25.10.2019.

Paulus, Ereignisse und die Bildung

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weist auf die generelle Offenheit von Disziplinen und Kommunikationszusammenhängen hin. Bildung kann vermitteln zwischen verschiedenen Traditionen und Lesarten – sie muss es aber nicht. Sie ist möglich, aber nicht kausal bedingt. Offen bleibt aber auch noch eine zweite Dimension von Bildung in den Schriften von Žižek und Badiou. Denn beide imaginieren ein durch das Ereignis mitkonstituiertes universales Subjekt. Dieses Subjekt findet sich so nur selten in der bildungsphilosophischen Diskussion. Es kann als Ausgangspunkt genutzt werden, um mit Badiou und Žižek Bildung und Bildungsphilosophie weiterzudenken. Dies bleibt an dieser Stelle aber Desiderat. Es lässt sich festhalten, dass durch die Einschreibung von Paulus in eine sowohl philosophische als auch sozialwissenschaftliche Denkweise neue Interpretationen erzeugt werden. Paulus fungiert dabei als gemeinsamer Referenzrahmen; die Deutungen von Paulus bleiben freilich verschieden. Trotz oder gerade wegen ihrer Verschiedenheit ermöglichen sie es aber, die Diskussion um Paulus als das zu sehen, was sie ist: Eine Diskussion über Bildung – und damit immer auch über das, was den Menschen auszeichnet. Abstract This article answers the question whether and, if so, in what sense different interpretations of Paul in the current philosophical discussion can be understood as educational occasions in a modern sense. The assumption is that both the appropriation of Paul’s event by philosophy and the confrontations with Paul through mediated through philosophers – read in critical social sciences – may be understood as distinct dimensions of Bildung. In a first step, the discussion about post-theological ideas will be examined in order to make the thesis plausible. In a second step, a hermeneutic concept of Bildung will be introduced. In a third step, selected writings by Alain Badiou and Slavoj Žižek will be reconstructed and checked for their connection with the outlined concept of Bildung. The article closes with the conclusion that the texts can be understood on the one hand as a starting point for Bildung and on the other hand as the basis of an eventful theory of Bildung. Sebastian Engelmann, geb. 1990, Dr. phil, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Allgemeine Pädagogik an der Universität Tübingen.

Hanna Roose

Pseudepigraphe Briefe als Bildungschance Der 2. Thessalonicherbrief in bildungstheoretischer Perspektive 1.

Bildungstheoretische Leitfrage

Pseudepigraphie wird in den neutestamentlichen Wissenschaften unter den Gesichtspunkten von »Echtheit«, 1 von »fehlerhafter Rezeption« oder »bewusster Fälschung«, 2 von (umstrittener) Kanonizität 3 und »fiktiver Selbstauslegung« 4 diskutiert. Verstärkt tritt dabei in neuerer Zeit die Frage nach den spezifischen Kommunikationsbedingungen pseudepigrapher Literatur in den Fokus. 5 Was bedeutet es für die realen (Erst-)Adressatinnen und Adressaten pseudepigrapher Schriften, einen Brief zu lesen oder zu hören, der zwar andere Adressatinnen und Adressaten angibt, der sie aber gleichwohl in bestimmter Weise »angeht«? Was bedeutet es in kommunikativer Hinsicht für einen Autor, sich einer manifest unzutreffenden Verfasserangabe zu bedienen? Diese Fragen werden bisher überwiegend im Blick auf die dahinterliegenden Legitimationsstrategien des Autors befragt, die eine Anerkennung des pseudepigraphen Schreibens durch die Rezipientinnen und Rezipienten sicherstellen sollen. Der vorliegende Beitrag geht an dieser Stelle insofern einen anderen Weg, als er die Frage nach der Legitimation weitgehend ausklammert und stattdessen die Kommunikationsbedingungen eines pseudepigraphen Briefes – in diesem Fall des 2. Thessalonicherbriefes – in eine bildungstheoretische Perspektive rückt. Er begreift Pseudepigraphie als spezifische Bildungschance, und zwar sowohl für den realen

1 Vgl. den Sammelband von J. Frey (Hg.), Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen, Tübingen 2009. 2 M. Janßen, Art. »Pseudepigraphie«, Das wissenschaftliche Bibellexikon, 2011, 1.4. (https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/pseudepigraphie/ch/99063e74de964ee033c8d92c36772a0b/, Zugriffsdatum: 08.08.2020). 3 A.D. Baum, Literarische Echtheit als Kanonkriterium in der alten Kirche, ZNW 88 (1997), 97–110. 4 A. Merz, Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. Intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe (NTOA 52), Tübingen 2004. 5 Z.B. M. Crüsemann, Die pseudepigraphen Briefe an die Gemeinde in Thessaloniki. Studien zu ihrer Abfassung und zur jüdisch-christlichen Sozialgeschichte (BWANT 191), Stuttgart 2010; H. Roose, Der 2. Thessalonicherbrief im Verhältnis zum 1. Thessalonicherbrief. Ein Gedankenexperiment, in: J. Schröter /S. Butticaz /A. Dettwiler (Hg.), Receptions of Paul in Christianity. The Person of Paul and His Writings Through the Eyes of His Early Interpreters (BZNW 234), Berlin /Boston 2018, 443–459, hier: 445–450.

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Hanna Roose

Autor als auch für die realen Erst-Adressatinnen und Adressaten und für heutige Rezipientinnen und Rezipienten. Die Bildungschance besteht dabei in erster Linie nicht darin, durch den Brief etwas zu lernen, sondern es geht darum, inwiefern Autor und Adressatinnen und Adressaten etwas über sich und über ihre Wahrnehmung von Welt lernen. Dem Beitrag liegt ein Bildungsverständnis zugrunde, wie Ralf Koerrenz 6 es im Anschluss an Hans-Georg Gadamer, 7 an Moses Mendelssohn 8 und an Wilhelm von Humboldt 9 entfaltet hat. Drei Prämissen sind dabei für unseren Zusammenhang wesentlich: 1. »Verstehen ist immer eine Frage des Standpunktes. Die Positionalität des Individuums ist unhintergehbar und unüberwindbar.« 10 2. Dieser Standpunkt ist historisch, soziokulturell und individuell bedingt. Er lässt sich als »Vor-Urteil« beschreiben, das unsere Wahrnehmung von Welt prägt. 3. Menschen sind ihrem jeweiligen Standpunkt nicht hilflos ausgeliefert. Sie können ihn im Rahmen der ihnen gegebenen Freiheit selbstreferentiell reflektieren und bewusst verändern. Insofern tragen Menschen Verantwortung für ihre Welt-Wahrnehmung und ihre Selbstwahrnehmung. Bildung zielt auf dieser Grundlage darauf, die eigenen Vor-Urteile zu reflektieren und zu gestalten. 11 Menschen sollen lernen, nicht nur – fremdreferentiell – die Welt zu beobachten, sondern auch – selbstreferentiell – zu beobachten, wie sie die Welt beobachten. Sie sollen Verantwortung für diese Art der Wahrnehmung übernehmen, indem sie sie entweder bewusst beibehalten oder aber gezielt verändern. Bildungschancen ergeben sich nach diesem Verständnis immer dann, wenn Menschen dazu herausgefordert werden, die eigene Welt- und Selbstwahrnehmung reflektierend zu schärfen und Konsequenzen für die Gestaltung der eigenen Vor-Urteile daraus zu ziehen. Die These dieses Beitrags lautet, dass der 2. Thessalonicherbrief gerade aufgrund seines pseudepigraphen Charakters seinen ersten realen Adressatinnen und Adressaten eine derartige Bildungschance bot und seine 6 R. Koerrenz, Bildung als Reflexion und Gestaltung von Vorurteilen. Globale Bildung und die Welt im Kopf, in: ders./A. Blichmann (Hg.), Pädagogische Reform im Horizont der Globalisierung. Paderborn 2014, 13–28. 7 H.-G. Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens (1959), in: ders., Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register. Tübingen 1986, 57–65. 8 Vgl. W. Goetschel, Einstimmigkeit in Differenz. Der Begriff der Aufklärung bei Kant und Mendelssohn, in: H.-L. Arnold (Hg.), Moses Mendelssohn, München 2011, 79–98. 9 Zur Einführung: A. Dörpinghaus /A. Poenitsch /L. Wigger, Einführung in die Theorie der Bildung, Darmstadt 42012, 67–80. 10 Koerrenz, Globale Bildung, 18. 11 Ebd.

Pseudepigraphe Briefe als Bildungschance

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späteren Adressatinnen und Adressaten bis heute herausfordert, Aspekte ihrer Selbst- und Weltwahrnehmung zu überdenken.

2.

Der 2. Thessalonicherbrief als pseudepigraphes Schreiben

Der 2. Thessalonicherbrief nennt als Absender Paulus, Silvanus und Timotheus (2 Thess 1,1). Adressiert ist der Brief an die Gemeinde in Thessalonich (2 Thess 1,1). Absender und Adressatinnen und Adressaten stimmen mit den Angaben aus dem 1. Thessalonicherbrief überein (1 Thess 1,1). Wenn wir den 2. Thessalonicherbrief mit der Mehrheit der deutsch-sprachigen Exegese als pseudepigraphes Schreiben betrachten, 12 gehen wir davon aus, dass diese Übereinstimmungen auf literarischer Abhängigkeit beruhen: Der Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes hat die Angaben aus dem ihm vorliegenden 1. Thessalonicherbrief kopiert (oder: abgeschrieben). Der pseudepigraphe 2. Thessalonicherbrief macht an dieser Stelle also unzutreffende Angaben: Weder stammt der Brief »wirklich« von Paulus, Silvanus und Timotheus, noch richtet er sich »wirklich« an die Gemeinde in Thessalonich zur Zeit des Paulus. Sofern wir den 2. Thessalonicherbrief als pseudepigraphes Schreiben betrachten, nehmen wir also an, dass sich der reale Autor unter fremdem Namen an eine reale Gemeinde richtet, die mit der im Brief explizit adressierten nicht übereinstimmt. Die reale Abfassungszeit des pseudepigraphen Briefes setzen eine Reihe von Exegeten mehrere Jahrzehnte nach der Niederschrift des als »echt« angesehenen 1. Thessalonicherbriefes an. 13 Im Rahmen dieser Annahmen sind exegetisch folgende Fragen umstritten: Handelt es sich um eine Verfasserfiktion mit oder ohne Täuschungsabsicht? 14 Sollten die ersten realen Adressatinnen und Adressaten also gleich erkennen, dass der 2. Thessalonicherbrief gar nicht von den Personen stammt, die als Absender angegeben werden? Will die »falsche« Verfasserangabe nur – für alle erkennbar – deutlich machen, in wessen Tradition der Brief steht? 15 Oder will der reale Absender seine realen Adressatinnen und Adressaten bewusst täuschen? 16 Soll der Name »Paulus« dem Brief eine Autorität verleihen, die er sonst womöglich nicht

12 Zur exegetischen Diskussion vgl. H. Roose, Der erste und zweite Thessalonicherbrief, Die Botschaft des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2016, 121-123.193–198. 13 Z.B. U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 92017, 393–402. 14 Vgl. Janßen, Pseudepigraphie, 1.3.4. 15 Vgl. J. Zmijewski, Apostolische Paradosis und Pseudepigraphie im Neuen Testament, in: ders., Das Neue Testament – Quelle christlicher Theologie und Glaubenspraxis, Stuttgart 1986, 185–196. 16 Mit besonderer Schärfe G. Lüdemann, Die gröbste Fälschung des Neuen Testaments. Der 2. Thessalonicherbrief, Springe 2010.

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hätte? Steht er »tatsächlich« in paulinischer Tradition oder benutzt er (unter anderem) den Namen »Paulus«, um ganz »unpaulinische« Gedanken mit paulinischer Autorität vorzutragen? Haben wir es bei dem 2. Thessalonicherbrief mit einer literarischen Waffe zu tun, die eingesetzt wird, um die (vermeintlich) »wahre« paulinische Theologie durchzusetzen? 17 In der Exegese werden zu diesen Fragen sehr unterschiedliche Thesen diskutiert. Mit ihnen hängt die Frage zusammen, in welchem Verhältnis der 2. Thessalonicherbrief zum 1. Thessalonicherbrief steht bzw. stehen soll: Zielt er auf dessen Ergänzung 18 oder auf dessen Ersetzung 19? Der vorliegende Beitrag möchte diese Fragen nicht exegetisch erneut diskutieren, sondern sie in die oben skizzierte bildungstheoretische Perspektive einrücken. Inwiefern eröffnet der 2. Thessalonicherbrief gerade unter der Annahme seines pseudepigraphischen Charakters spezifische Bildungschancen?

3.

Der pseudepigraphe 2. Thessalonicherbrief als Bildungschance

Die besondere Bildungschance pseudepigrapher gegenüber orthographen Briefen besteht darin, dass die Verfasser durch die Wahl eines Pseudonyms und die Adressatinnen und Adressaten durch die indirekte Adressierung über eine andere Adressatenangabe in gesteigerter Weise dazu herausgefordert sind, ihre Selbst- und Weltwahrnehmung zu reflektieren. Sofern wir den 1. Thessalonicherbrief als orthographes Schreiben betrachten, entsprechen hier die Verfasser- und die Adressatenangaben (Paulus, Silvanus und Timotheus an die Gemeinde in Thessalonich) den tatsächlichen Gegebenheiten. Zwar ist auch hier damit zu rechnen, dass die Verfasser insofern ihre Selbstwahrnehmung reflektieren, als sie sich fragen, wie die Adressatinnen und Adressaten sie sehen, und dass die Adressatinnen und Adressaten ihre Selbstwahrnehmung reflektieren, indem sie gespiegelt bekommen, wie Paulus, Silvanus und Timotheus sie wahrnehmen. Aber zunächst einmal ergeben sich bei orthographen Briefen die Verfasser- und die Adressatenangaben aus den (faktischen) Gegebenheiten. Im pseudepigraphen 2. Thessalonicherbrief ist das nicht der Fall. Der Verfasser wählt bewusst eine Verfasser- und eine Adressatenangabe, die auch anders ausfallen könnte. Er stellt sich und die realen Menschen, die

17 Vgl. Merz, Selbstauslegung, 232. 18 So z.B. Schnelle, Einleitung, 401. 19 So z.B. A. Lindemann, Zum Abfassungszweck des zweiten Thessalonicherbriefs, ZNW 68 (1977), 35–47; P. Metzger, Eine apokalyptische Paulusschule? Zum Ort des Zweiten Thessalonicherbriefs, in: M. Becker /M. Öhler (Hg.), Apokalyptik als Herausforderung neutestamentlicher Theologie (WUNT 2/2014), Tübingen 2006, S. 145–166.

Pseudepigraphe Briefe als Bildungschance

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er adressiert, mit dieser Wahl in einen bestimmten, kontingent gesetzten Kontext der Selbst- und Weltwahrnehmung, zu dem sich die Adressierten im Rezeptionsvorgang verhalten können und müssen. Sofern es sich nicht um offene Pseudepigraphie handelt, sollen sie die Verfasserangabe als »echt« ansehen. In dem Maß, in dem sie das tun, können sie die Adressatenangabe aber nicht direkt auf sich beziehen. Sie müssen sich also fragen, inwiefern der Brief sie angeht – obwohl sie nicht direkt adressiert sind. Mit anderen Worten: Sie sind zu einem ständigen Abgleich zwischen ihrer Selbst- und Weltwahrnehmung und der im Brief dargestellten Selbstund Weltwahrnehmung der explizit Adressierten herausgefordert. Bezogen auf den pseudepigraphen 2. Thessalonicherbrief bedeutet das: Der pseudonyme Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes weiß, dass er nicht Paulus ist (und auch nicht Silvanus oder Timotheus). Er muss also bewusst entscheiden, in welches Verhältnis er sich zu diesen dreien – die er vielleicht nur aus dem 1. Thessalonicherbrief, 20 vielleicht auch aus anderen Paulusbriefen, kennt – setzen möchte. Das impliziert eine Reflektion der Selbstwahrnehmung. Indem er die Verfasser- und Adressatenangabe aus dem 1. Thessalonicherbrief übernimmt, setzt er seine Weltwahrnehmung zu derjenigen, die ihm im 1. Thessalonicherbrief begegnet, ins Verhältnis. Die realen Adressatinnen und Adressaten entsprechen nicht der Gemeinde in Thessalonich zur Zeit des Paulus. Sofern sie den pseudepigraphen Brief als orthographes Schreiben rezipieren, müssen sie also davon ausgehen, dass sie nicht direkt gemeint sind. Sie müssen also – ähnlich wie wir heute – entscheiden, wo sie sich adressiert fühlen und wo nicht, wo sie sich »wiederfinden« und wo nicht. Auf dieser Grundlage lässt sich der pseudepigraphe 2. Thessalonicherbrief in das oben skizzierte Bildungsverständnis einzeichnen. a) Der pseudepigraphe 2. Thessalonicherbrief als Herausforderung für die Selbstwahrnehmung Folgen wir den Prämissen des hier zugrunde gelegten, oben skizzierten Bildungsverständnisses, so ist zunächst von Bedeutung, dass wir den realen Autor mit seinem Standpunkt als kontextuell gebunden verstehen. Er verdankt sich einer konkreten historischen Situation. Diese konkrete Situation verbindet den pseudepigraphen Verfasser mit seinen realen Adres-

20 Einige Exegeten gehen davon aus, dass der Verfasser des pseudepigraphen 2. Thessalonicherbriefes keiner Paulusschule angehörte. Vgl. T. Schmeller, Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit (HBS 30), Freiburg u.a. 2001, 253; Metzger, Eine apkalyptische Paulusschule?, 166. Vorausgesetzt ist aber im Rahmen des hier vertretenen Modells, dass dem pseudonymen Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes der 1. Thessalonicherbrief vorlag.

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satinnen und Adressaten. Im Text begegnet sie nur indirekt, weil sie von der im Brief thematisierten Situation des fiktiven Verfassers überlagert ist. So wissen wir kaum etwas über die konkrete Situation des realen Verfassers vom 2. Thessalonicherbrief. Allerdings liegt die Annahme nahe, dass seine aktuelle Situation derjenigen der realen Adressatinnen und Adressaten weitgehend entspricht. Hier liegt ein gewisser Unterschied zu orthographen Briefen: Während als orthograph eingestufte Paulusbriefe dazu dienen können, die räumliche Distanz zwischen adressierter Gemeinde und den umherreisenden Missionaren zu überbrücken (vgl. z.B. 1 Thess 3,6), ist es durchaus denkbar, dass pseudepigraphe Verfasser ihre Briefe in der Gemeinde in Umlauf brachten, in der sie selbst (permanent?) lebten. Die situative Distanz, die es zu überbrücken gilt, wird hier durch die fiktiven Verfasser- und Adressatenangaben allererst geschaffen. Pseudepigraphe Briefe sind nicht von dem Anliegen getragen, mehr von der real adressierten Gemeinde in Erfahrung zu bringen, sondern davon, ihre Welt- und Selbstwahrnehmung gezielt zu verschieben. Der Standpunkt des realen Verfassers weist außerdem eine soziokulturelle Vorprägung auf. Wir stellen z.B. fest, dass der reale Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes mit apokalyptischer Tradition vertraut ist und sie heranzieht, um seine Gegenwart theologisch zu deuten (s.u.). Gleichzeitig trägt der Standpunkt des realen Verfassers individuelle Züge. Diese individuellen Züge zeichnen letztlich verantwortlich dafür, dass der Autor einen Brief verfasst: Er hat etwas zu sagen, was in seinem Umfeld seiner Wahrnehmung nach noch nicht (deutlich genug) gesagt worden ist. Diese Aspekte treffen zunächst auf jeden neutestamentlichen (Brief-)Autor zu. Die Besonderheit liegt bei pseudonymen Autoren in Folgendem: Der reale Autor teilt den realen Adressatinnen und Adressaten seines Schreibens das, was ihm wichtig ist, nicht »einfach« mit. Indem der Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes die Angaben zu Absender und Adressatengemeinde aus dem 1. Thessalonicherbrief übernimmt, setzt er seinen Standpunkt in Relation zu einem anderen Standpunkt: demjenigen von Paulus, Silvanus und Timotheus im 1. Thessalonicherbrief – so wie er ihn versteht. 21 Diese Relationierung beider Standpunkte ist dem Brief dauerhaft eingeschrieben. Sie lässt sich – unabhängig davon, wie sie inhaltlich im Einzelnen gefüllt wird – als Bildungsanstrengung lesen. Denn sie setzt im realen Autor eine Meta-Perspektive voraus, aus der heraus er sich selbst in seiner Weltwahrnehmung im Verhältnis zur Weltwahrnehmung anderer beobachtet. Diese »anderen« sind einerseits Paulus, Silvanus und Timotheus, andererseits die realen Adressatinnen und Adressaten.

21 H. Roose, Die Thessalonicherbriefe im Kontext urchristlicher Überlieferungsprozesse. Methodische Reflexionen, in: W. Kraus (Hg.), Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte (BZNW 163), Berlin /New York 2009, 343–364, hier: 349–352.

Pseudepigraphe Briefe als Bildungschance

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Es geht [in der einen Hinsicht materialer Bildung] um die Analyse der vorhandenen eigenen Bedingungen des Verstehens. In der anderen Hinsicht materialer Bildung geht es um die Erwägung von Alternativen und Erweiterungsbzw. Veränderungsmöglichkeiten eigener Vor-Urteile in der Zuwendung zur Mit-Welt. Dies sind gleichermaßen ethische und pragmatische Fragen. 22

In der Wahl fiktiver Absender und Adressatinnen und Adressaten reflektiert der reale Verfasser seine eigenen Bedingungen des Verstehens: Wo schließt er (sich) an – historisch, soziokulturell, theologisch? In der Abfassung eines eigenen Briefes erwägt und propagiert er (theologische) Alternativen und ethische Optionen, die auf eine bestimmte Weltwahrnehmung zielen. Auf sie werde ich unter Punkt 3.2 eingehen. Wie sieht es auf der Seite der realen Adressatinnen und Adressaten aus? Pseudepigraphe Briefe geben fiktive Adressatinnen und Adressaten an, die mit den realen Adressatinnen und Adressaten nicht identisch sind. Insofern sind die realen Adressatinnen und Adressaten herausgefordert, ihren Standpunkt zu demjenigen der im Brief genannten Adressatinnen und Adressaten ins Verhältnis zu setzen. Sie wissen um die Differenz zwischen der Adressatenangabe und ihnen als realen Adressatinnen und Adressaten. Die manifeste Adressatenangabe stimmt mit den realen Adressatinnen und Adressaten nicht überein. Das gilt selbst dann, wenn man damit rechnet, dass die adressierte Gemeinde in Thessalonich zu finden ist. Denn es bliebe der zeitliche Abstand von 40–50 Jahren: Die Gemeinde zu Lebzeiten des Paulus ist nicht die Gemeinde zu Lebzeiten des realen Verfassers. Für den Rezeptionsprozess ergibt sich daraus eine spannende Ambivalenz: Der Brief gilt (manifest) nicht den realen Adressatinnen und Adressaten und er gilt ihnen (latent) doch. Das heißt: Der Brief erfordert im Rezeptionsvorgang schon der Erstadressierten (!) einen ständigen Abgleich zwischen dem eigenen Standpunkt und dem Standpunkt, wie er im Brief auf Seiten der fiktiven Adressatinnen und Adressaten erkennbar wird. Mit anderen Worten: Der pseudepigraphe Charakter des Schreibens erzwingt die Kontingentsetzung des eigenen Standpunkts: Ich werde adressiert als jemand, der ich nicht bin – und in gewisser Hinsicht doch bin oder sein soll! Diese Ambivalenz macht es schwer, den Prozess des »Auftauchens« eines pseudepigraphen Briefes in der realen Adressatengemeinde zu rekonstruieren. Wie können wir uns diese Situation vorstellen? Der Brief müsste als ein Schreiben vorgestellt werden, das schon älter ist, nun aber aufgetaucht oder gefunden oder aus einer anderen Gemeinde geschickt worden sei. Damit wäre die Differenz zur realen Adressatengemeinde markiert.

22

Koerrenz, Globale Bildung, 27.

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Gleichzeitig müsste die Relevanz des Schreibens für die reale Adressatengemeinde trotz dieser Differenz markiert werden: Das Schreiben stamme (u.a.) von Paulus, die im Brief angesprochenen Aspekte beträfen (z.T.) auch die reale Adressatengemeinde. Wir wissen nicht, ob Briefe beim Vorlesen in der Gemeinde gleichzeitig mündlich erläutert wurden (vgl. 1 Thess 5,27). Falls das der Fall war, müssten die Erläuterungen genau diese Ambivalenz einfangen: Wo geht es »tatsächlich« um die realen Adressatinnen und Adressaten in ihrer konkreten gegenwärtigen Situation? Wo stehen Passagen im Dienst der pseudepigraphen Fiktion? Bezogen auf den 2. Thessalonicherbrief ist mein Eindruck, dass die Frage der eschatologischen Deutung der Gegenwart (s.u.) die reale Adressatengemeinde direkt betrifft, während das Problem der »Unordentlichen« eher der literarischen Fiktion dient. 23 2 Thess 3,6–12 bleibt in der Charakterisierung der »Unordentlichen« sehr pauschal. Von den »Unordentlichen« sollen sich die (fiktiven) Adressatinnen und Adressaten fernhalten (2 Thess 3,6b). Die »Unordentlichen« halten sich nicht an die Überlieferungen und – so kann man schließen – sie essen umsonst Brot, lassen sich also »durchfüttern« (2 Thess 3,8). Sehr plakativ heißt es dann: »Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.« (2 Thess 3,10). Wahrscheinlich könnte man in jeder Gemeinde – und in jeder Gesellschaft – zu jeder Zeit Menschen finden, denen »Unordentlichkeit« zugeschrieben würde. Die Passage 2 Thess 3,6–12 erlaubt aber eine engere intertextuelle Verknüpfung mit dem 1. Thessalonicherbrief. Er spricht in 1 Thess 5,14 von »Unordentlichen«, ohne genauer auszuführen, worin diese »Unordentlichkeit« besteht. Das Thema der Erwerbsarbeit, das 2 Thess in 3,8 mit den »Unordentlichen« verbindet, taucht gesondert in 1 Thess 2,9 im Zusammenhang mit den Missionaren auf. 2 Thess 3,6–12 greift also unterschiedliche Fäden aus dem 1. Thessalonicherbrief auf und führt sie in den »Unordentlichen« zusammen. In bildungstheoretischer Perspektive ist hier interessant, dass pseudepigraphe Briefe die aktuelle Situation der realen Erstadressierten unterschiedlich konkret und unterschiedlich direkt ansprechen. Zu dieser Adressierung können sich die Adressierten eigenständig verhalten. Sie müssen dabei der vorgelegten Spur nicht folgen. Natürlich ist denkbar, dass sich ein realer Adressat des 2. Thessalonicherbriefes von der Thematik der Unordentlichkeit stärker angesprochen fühlt als von der Thematik der Eschatologie. Bildungschancen erwachsen genau aus diesem eigenständigen Abgleich zwischen eigener Welt- und Selbstwahrnehmung einerseits und der in der Adressierung wahrgenommenen Weltwahrnehmung andererseits.

23 Anders votiert hier u.a. T. Nicklas, Der zweite Thessalonicherbrief (KEK 10/2), Göttingen 2019, 57.

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Pseudepigraphe Briefe spuren damit im Blick auf die realen Erstadressierten einen Rezeptionsmodus vor, wie er für spätere Rezipientinnen und Rezipienten neutestamentlicher Briefe typisch ist. Sie zielen von Beginn an nicht auf vollständige Identifikation der realen mit den fiktiven Adressatinnen und Adressaten und eröffnen gerade dadurch die Chance einer reflektierenden Selbstbeobachtung. Diese Bildungschance wird nur dort verpasst, wo Rezipierende sich von dem Brief überhaupt nicht (mehr) adressiert fühlen. Die entscheidende bildungstheoretische Differenz bei pseudepigraphen Briefen besteht also darin, ob ich mich als durch das Schreiben indirekt adressiert beobachte oder nicht.

b) Der pseudepigraphe 2. Thessalonicherbrief als Herausforderung für die Weltwahrnehmung »Lasst euch nicht verführen, auf keinerlei Weise!« (2 Thess 2,3a) Diese Aufforderung bindet im Kontext des 2. Thessalonicherbriefes die Selbstund die Weltwahrnehmung eng zusammen. Die Adressierten sollen eine kritische Haltung gegenüber ihrer eigenen Wahrnehmung einnehmen. Sie sollen – bildungstheoretisch formuliert – ihre eigenen Vor-Urteile reflektieren: Lassen sie sich verführen? Wodurch? Ob sie sich verführen lassen, zeigt sich nach Auffassung des 2. Thessalonicherbriefes in der Art ihrer Weltwahrnehmung. Denn in dem Kontext, in dem die Aufforderung steht, geht es darum, wie die Gegenwart (eschatologisch) zu deuten ist. Wir bitten euch aber, Brüder (und Schwestern), hinsichtlich der Parusie unseres Herrn Jesus Christus und unserer Vereinigung mit ihm: Lasst euch nicht so schnell aus der Fassung bringen noch erschrecken – weder durch eine(n) Geist(offenbarung) noch durch ein Wort noch durch einen Brief, wie er von uns geschrieben wurde, wonach der Tag des Herrn schon da sei. (2 Thess 2,1–2)

In Anklang an 1 Thess 4,13–17 benennt 2 Thess 2,1 die Parusie als strittiges Thema, das zu unterschiedlichen Weltwahrnehmungen führt. Weltwahrnehmung wird beeinflusst durch Worte und Briefe, auch durch Geistoffenbarung, sie ist damit soziokulturell geprägt. Zu dieser Prägung sollen sich die Adressierten kritisch verhalten. Weltwahrnehmung ist nicht nur eine kognitive Angelegenheit, sondern sie betrifft auch die Emotionen: Die Adressierten sollen sich »nicht so schnell aus der Fassung bringen lassen« und sich nicht »erschrecken«. Weltwahrnehmung ist damit keine objektiv-analytische Tätigkeit, sie wird beeinflusst durch Interessen und Befürchtungen, sie kann so oder anders ausfallen. Nach Mk 13,7 / Mt 24,6 sollen sich die Christustreuen auch nicht durch Kriege erschrecken lassen. Worum es in dem Streit um die Eschatologie ging, ist in der Exegese umstritten. Aus 2 Thess 2,2c ergibt sich unmittelbar, dass es um den

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Hanna Roose

Zeitpunkt geht, zu dem der Tag des Herrn zu erwarten sei. Wie aber lässt sich diese Frage präzisieren und kontextualisieren? Welche Relevanz hat diese Frage für die (theologische) Deutung der (jeweiligen) Gegenwart? Welche Vor-Urteile werden hier erkennbar? Die Gegenwart ist geprägt durch »Bedrängnisse«. Darin scheinen sich im 2. Thessalonicherbrief alle – Autor und Adressatinnen und Adressaten – einig zu sein. Die Art, wie diese Erfahrung in die Welt- und Selbstwahrnehmung eingebunden wird, fällt aber unterschiedlich aus – sie ergibt sich also nicht zwangsläufig, sondern wird kommunikativ ausgehandelt. Der »Slogan« aus 2 Thess 2,2c – nach dem der Tag des Herrn »schon da« ist – relativiert die Gegenwart radikal. Er reduziert sie »beinahe auf null«, 24 und lässt »alles Jetzt bereits im ›Tag des Herrn‹ aufgehen«. 25 Die Gegenwart hat hier keinen eigenständigen Wert, sie stellt keinen eigenen Raum dar. Die »Bedrängnisse« stehen ganz im Zeichen dieses Tages – entweder, indem sie dessen Nähe anzeigen (vgl. Mt 24,9), oder – noch schärfer – indem sie »als Hinweis auf die Verurteilung im Endgericht verstanden« 26 werden. Welche Deutung der Gegenwart stellt der Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes dagegen? Ein Teil der Exegese konstruiert Gegenwart und Zukunft bei ihm im Rahmen eines Kontrastmodells: Die heilvolle Zukunft kontrastiert mit einer heilsarmen – oder sogar heilsleeren – Gegenwart. Die erfahrenen »Bedrängnisse« lassen die zu erwartende Herrlichkeit umso heller erstrahlen. »Gegenwart« wird in diesem Modell zu einer Zeit des Wartens, des Ausharrens im Leid in der Hoffnung auf eine heilserfüllte Zukunft. 27 Der kommunikative Appell des Briefes fordert zum Durchhalten auf, nicht aber zum Suchen nach Spuren göttlichen Heils in der Gegenwart. Die Theologie des 2. Thessalonicherbriefes lässt sich bezüglich der Deutung der Gegenwart – und damit der erfahrenen »Bedrängnisse« – jedoch auch anders rekonstruieren. Sie können – kontra-intuitiv – positiv gedeutet werden. Im Kontext einer auch andernorts bezeugten »Leidenstheologie« 28 fungieren die »Bedrängnisse«, unter denen die Gemeinde leidet, »als Sühne für die kleinen Vergehen, die dann im Endgericht nicht mehr ins Gewicht fallen«. 29 Sie dürfen also nicht als Vorboten des nahen Endes gedeutet werden. »Gegenwart« ist nicht maßgeblich durch die Frage

24 Nicklas, Thessalonicherbrief, 64. 25 Ebd. 26 Nicklas, Thessalonicherbrief, 58. 27 So etwa Metzger, Eine apkalyptische Paulusschule?, 155. 28 Vgl. v.a. J.M. Bassler, The Enigmatic Sign. 2 Thessalonians 1:5, CBQ 46 (1984), 496– 510. 29 Roose, Thessalonicherbriefe, 199.

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nach dem »Wann« des Endes bestimmt. Gott ist auch in der Gegenwart, nicht erst in der Zukunft, präsent. Er ist und bleibt Herr über die Zeit. Das heißt: Der 2. Thessalonicherbrief qualifiziert die Gegenwart derart, dass die Frage nach dem ›Termin‹ des Endgerichts in den Hintergrund tritt. Die Bedrängnisse werden theologisch positiv besetzt und damit umgedeutet. Die Gottestreuen können gelassen auf das Ende warten. 30

Noch einen Schritt weiter geht hier Tobias Nicklas. Er rekonstruiert den grundlegenden Impuls des 2. Thessalonicherbriefes im Sinne einer »Neubestimmung der Gegenwart«. 31 »Gegenwart« stellt demnach einen eigenen Zeit-Raum dar, den Gott (über den Katechon, vgl. 2 Thess 2,6–7) bereitstellt. Sie ist eine Zeit, »in der Gott dem Bösen Raum lässt«. 32 Bedrängnisse gehören dazu, und trotzdem ist die Gegenwart nicht heilsleer. Der 2. Thessalonicherbrief fordert in diesem Sinne auch uns heute dazu auf, die Selbst- und Weltwahrnehmung neu zu justieren: [. . . ] der 2. Thessalonicherbrief [kann] die Augen dafür öffnen, dass diese Welt, in der für viele das Sicht- und Greifbare, das Zähl- und Messbare allein zu zählen scheint, schon jetzt mehr ist, als oberflächlich, d.h. an ihrer sichtund greifbaren Oberfläche erkennbar scheint, dass in ihr schon jetzt Christus, der einst allen Offenbare, präsent und wirksam ist. Trotzdem ist der 2 Thess nicht so naiv, Gegenwart und Zukunft einfach in eins zu setzen: Die Gegenwart ist Teil eines ›Zeitraums‹, in dem trotz guter Hoffnung (2 Thess 2,16) Geduld notwendig ist, dieser ›Zeitraum‹ ist durch das bzw. den Katechon bestimmt, ja überhaupt erst geschaffen. 33

Dieser »Zeitraum« hat grundlegende Bedeutung für die Justierung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch, zwischen göttlichem Heilshandeln und menschlicher Handlungssouveränität: Gerechtes Heilshandeln Gottes, Handlungssouveränität und Geschichte des menschlichen Gegenüber ist nur da überhaupt zusammenzudenken, wo Gott einen solchen ›Zeitraum‹ schafft und ermöglicht, indem er sich damit selbst zurücknimmt bzw. zurückzunehmen scheint, sich ›aufhalten‹ lässt. 34

Es ist hier nicht der Ort, die eine gegen die andere Deutung argumentativ stark zu machen. In bildungstheoretischer Perspektive ist vielmehr interessant, dass der 2. Thessalonicherbrief zentral mit der Frage der Weltwahrnehmung und -deutung beschäftigt ist. Erlebnisse wie z.B. Bedrängnisse

30 31 32 33 34

Roose, Thessalonicherbriefe, 200. Nicklas, Thessalonicherbrief, 65. Nicklas, Thessalonicherbrief, 64. Nicklas, Thessalonicherbrief, 65. Ebd.

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können eschatologisch unterschiedlich gedeutet werden. Der 2. Thessalonicherbrief macht sich in der Kommunikation mit seinen Adressatinnen und Adressaten für eine bestimmte Deutung gegen andere stark – auch wenn wir die einzelnen Positionen heute nicht mehr mit Sicherheit rekonstruieren können. Wichtiger ist: Der 2. Thessalonicherbrief nimmt seine Adressatinnen und Adressaten damit in die Pflicht, ihre Weltwahrnehmung kritisch zu überdenken. Die Aufforderungen in 2 Thess 2,1.3 implizieren, dass die Adressierten ihre Weltwahrnehmung bewusst reflektieren und ggf. umgestalten können, dass sie handlungssouverän sind. Es ist ihnen offenbar möglich, der Verführung nicht zu erliegen. Damit tragen die Christustreuen Verantwortung für ihre Weltwahrnehmung.

3. Der pseudepigraphe 2. Thessalonicherbrief und die Grenzen von Bildung Die Vorstellung, nach der die Christustreuen Verantwortung für ihre Weltwahrnehmung tragen und auch tragen sollen, kommt in 2 Thess 2,11–12 allerdings an ihre Grenze: Darum schickt ihnen Gott die Macht der Verführung, sodass sie der Lüge glauben, damit alle gerichtet werden, die der Wahrheit nicht geglaubt haben, sondern an der Ungerechtigkeit Gefallen fanden.

Menschen stehen nach diesen Versen im Spannungsfeld zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Glauben und Nicht-Glauben. Die Macht der Verführung sorgt für eine Verwechslung zwischen beiden. Diese Macht geht hier auf Gott zurück. In bildungstheoretischer Perspektive wird damit eine anthropologische Grundannahme unterlaufen, die Bildung allererst ermöglicht: Bildung setzt die Möglichkeit voraus, in Freiheit VorUrteile zu reflektieren und zu gestalten. Gegen Gottes Macht kommt jedoch kein Mensch an. Wenn also die Macht der Verführung von Gott kommt, kann sich der Mensch der Verführung nicht widersetzen. Letztlich unterläuft der biblische Text hier seine eigenen Prämissen. Denn die Aufforderung, sich nicht verführen zu lassen (2 Thess 2,3a), setzt eben auch die Möglichkeit voraus, sich nicht verführen zu lassen. Es lohnt, diese Spannung bildungstheoretisch zu reflektieren. Sie betrifft letztlich die Frage nach den Grenzen von Bildung. An dieser Stelle ist ein Vergleich des hier zugrunde gelegten Bildungsverständnisses mit einigen konstruktivistisch geprägten Lerntheorien interessant. Entscheidendes Kriterium für die Verhältnisbestimmung zwischen dem hier zugrunde gelegten Bildungsverständnis und konstruktivistisch geprägten Lerntheorien soll die Frage sein, in welchem Maß wir die Aneignungsmuster (oder: Vor-Urteile) als intentional steuerbar ansehen. Eine Richtung konstruktivistisch geprägter Lerntheorien (in der Religionspädagogik) geht von

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einem hohen Grad an Steuerbarkeit aus und misst daher im Rahmen konstruktivistischer Religionsdidaktik der Norm der Subjektorientierung 35 und der Kompetenz der Urteilsfähigkeit 36 hohes Gewicht bei. Eine weitere Richtung konstruktivistischer Religionsdidaktik betont stärker, dass wir über die Art, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen (Aneignung), weitestgehend gar nicht rational oder intentional verfügen können. Die entsprechenden kognitiven Strukturen unterliegen demnach nicht unserer Urteilskompetenz, wir können sie nicht gezielt verändern. Wahrnehmungen müssen sich vielmehr als »gangbarer Weg« (Kriterium der Viabilität) erweisen. Aufgrund dieser unterschiedlichen Gewichtungen kann sich konstruktivistische (Religions-)Didaktik zwar einerseits programmatisch die Subjektorientierung auf die Fahnen schreiben, in der Beobachterperspektive kann sie sich aber andererseits mit Modellen verbinden, die Subjekt, Intentionalität und Rationalität entweder ganz aussparen oder bewusst abschatten (Systemtheorie, Praxistheorie). 37 Das in diesem Beitrag zugrunde gelegte Bildungsverständnis lässt sich dann so beschreiben, dass es darauf zielt, den intentional steuerbaren Bereich der Welt- und Selbstwahrnehmung zu vergrößern. 2 Thess 2,11–12 fängt diese Frage nach den Grenzen der Steuerbarkeit unserer Selbst- und Weltwahrnehmung – und damit die Frage nach den Grenzen von Bildung – in eigener Sprache ein. Genau aus dieser Widersprüchlichkeit innerhalb des 2. Thessalonicherbriefes zwischen der Aufforderung, Vor-Urteile zu reflektieren und (neu) zu gestalten, und der begrenzten Möglichkeit, Vor-Urteile zu reflektieren und bewusst zu gestalten, ergibt sich für uns heute eine Bildungschance, die eine Metaperspektive auf die biblischen Texte einnimmt: Wo liegen die Grenzen unserer Bildsamkeit, also unseres Potenzials, Vor-Urteile zu reflektieren und (neu) zu gestalten? Wie sieht es mit Menschen aus, die – z.B. aufgrund geistiger Behinderung – nicht dazu in der Lage sind, ihre Vor-Urteile zu reflektieren und (neu) zu gestalten? Müssen wir bei ihnen Bildsamkeit anders fassen? Theologisch gesprochen: Wo stiftet Gott Bildsamkeit und (wie) begrenzt er sie?

35 Vgl. H. Mendl, Art. Konstruktivistischer Religionsunterricht, in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet [WiReLex] 2015, Abschn. 1. (https://www . bibelwissenschaft . de / wirelex / das - wissenschaftlich - religionspaedagogische-lexikon/wirelex/sachwort/anzeigen/details/konstruktivistischer-religionsunterricht/ ch/3871d0b0cf8bab51e06ff9704e391edd/, Zugriffsdatum: 08.08.2020). 36 Vgl. F. Schweitzer, Elementarisierung und Kompetenz. Wie Schülerinnen und Schüler von »gutem Religionsunterricht« profitieren, Göttingen 42018, 31. 37 Vgl. G. Büttner /H. Mendl /O. Reis /H. Roose, Vom radikalen Konstruktivismus zur Praxistheorie. Zur Frage des Umgangs mit Kontingenz im Religionsunterricht, in: dies. (Hg.), Praxis des Religionsunterrichts, Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik Bd. 10, Babenhausen 2019, 7–18.

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Abstract The present contribution places the communication conditions of a pseudepigraphic letter – in this case the Second Letter to the Thessalonians – into an education theory perspective. It understands pseudepigraphy as a specific educational opportunity, both for the real author as well as for the real first addressees and for today’s recipients. The article is based on an understanding of education according to which educational opportunities arise when people are challenged to sharpen their own perception of the world and of themselves in a reflective manner and to draw consequences for shaping their own prejudices. The thesis of the article is that, precisely because of its pseudepigraphic character, the Second Letter to the Thessalonians offered its first real addressees such an educational opportunity and still challenges its later addressees today to rethink aspects of their perception of themselves and the world. Prof. Dr. Hanna Roose, geb. 1967, ist Lehrstuhlinhaberin für Praktische Theologie /Religionspädagogik an der Ruhr-Universität Bochum.

Stefan Alkier

Gebildete Zeugenschaft Wie man mit der Johannesapokalypse lernen kann Einleitung: Die fehlgeschlagene Verdrängung der Johannesapokalypse aus dem christlichen Kanon Mit der idyllischen Zeichnung der Gemeinschaft der Glaubenden in Jerusalem in Apg 4,32 schuf die Apostelgeschichte ein nachhaltiges Ideal: »Die Menge der Glaubenden war ein Herz und eine Seele, und nicht einer nannte etwas von dem, was er besaß, sein Eigentum, sondern es war ihnen alles gemeinsam.« (Τοῦ δὲ πλήθους τῶν πιστευσάντων ἦν καρδία καὶ ψυχὴ µία, καὶ οὐδὲ εἷς τι τῶν ὑπαρχόντων αὐτῷ ἔλεγεν ἴδιον εἶναι ἀλλ᾽ ἦν αὐτοῖς ἅπαντα κοινά.) Dieses zum Sprichwort – »ein Herz und eine Seele« – gewordene, starke Bild einfacher und harmonischer Gemeinschaft wurde im Laufe der Geschichte immer wieder auch als kritisches Korrektiv herangezogen, wenn Missstände christlicher Kirchen und Gemeinschaften beklagt oder sogar angeprangert wurden. Dabei wird zumeist einerseits das einigende Band des Heiligen Geistes als Ermöglichungsgrund der Gemeinschaft benannt und die schlichte Genügsamkeit der gemeinschaftlich Glaubenden als Vorbilder christlicher Gesinnung und Lebenspraxis hervorgehoben. Kennzeichen wahrer Christinnen und Christen sind Sanftmut, Demut, Eintracht und Einheit, »Einfalt und Lauterkeit«, 1 wie es 1696 Gottfried Arnold (1666–1714) in seiner Schrift »Die erste Liebe« formuliert. So unterschiedlich die Verfallstheorien im Laufe der Kirchen- und Theologiegeschichte auch ausfielen, gingen sie stets von einem durch Einfachheit, Harmonie und Reinheit geprägten Anfang christlicher Gemeinschaftsbildung aus, was allerdings im krassen Widerspruch nicht nur zu den Konflikten in 1 Kor, sondern gerade auch zu den innerchristlichen Konflikten in den Sendschreiben Apk 2f steht. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wurde diese Denkweise zu einem Ursprungsdenken verallgemeinert, das Anfang und Wesen weitgehend identifizierte: Je näher am Ursprung, desto einfacher und wahrer, je weiter entfernt, desto

1 G. Arnold, Die erste Liebe. Das ist: Wahre Abbildung der ersten Christen, nach ihrem lebendigen Glauben und heiligen Leben, aus der ältesten und bewährtesten Kirchen-Scribenten eigenen Zeugnissen, Exempeln und Reden, nach der Wahrheit der ersten einiegen Christlichen Religion, allen Liebhabern der historischen Wahrheit, und sonderlich der Antiquität, als in einer nützlichen Kirchen-Historie treulich und unpartheyisch entworfen, Frankfurt 1696, 828.

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Stefan Alkier

gekünstelter und unnötig komplizierter – so könnte man das Credo der Ideologie des Ursprungsdenkens auf ein idealtypisches Motto bringen. 2 Johann Gottfried Herder (1744–1803), einer der Konstrukteure genieästhetischen Ursprungsdenkens, übertrug seine geschichtsphilosophische Idee, 3 dass alle Verschiedenheit aus einem gemeinsamen Ursprung erwächst, auch auf die strittige Frage, wie sich die Evangelien literaturgeschichtlich zueinander verhalten und wird damit zu einem der Begründer der Markuspriorität: Ist dies nicht die natürlichere Ansicht? Ist nicht das Kürzere, das Schmucklose, gewöhnlich das Frühere, dem sodann andre Veranlassungen nachher Erläuterung, Fülle, Rundheit hinzufügen? Daß dies bei Markus gegen Matthäus und Lukas der Fall ist, ist augenscheinlich, wenn wir auch vom Verfasser nichts wüßten. 4

Da für Herder zudem Mündlichkeit ursprünglicher und deshalb wahrer ist als Schriftlichkeit, verdoppelt er die Ursprünglichkeit des Markusevangeliums mittels seiner Diegesentheorie. 5 Am Anfang der Evangelientradition stehen einfache Erzählungen. Das mündliche Markusevangelium stamme bereits aus der Zeit unmittelbar nach Jesu Tod, aber erst in den 60er-Jahren habe Markus es verschriftlicht. Er ist ihm aufgrund seiner Originalität der »Archetyp der Erzählung«. 6 Im Zusammenhang von Ursprungsideologien entstehen aber nicht nur die Idee der Markuspriorität, der Begriff und das Konzept eines normativen »Urchristentums« 7 und die literarkritischen Modelle eines »Urevangeliums«. 8 Vielmehr erhält hier auch die Abwertung der Johannesapokalypse als eine gekünstelte und unverständliche Kopfgeburt mit sieben Siegeln neue Nahrung. Die sich schon in der wohltuenden Kürze zum Ausdruck bringende, Wahrheit garantierende Ursprünglichkeit des Markusevangeliums und die Schwindel erzeugende, von der Ursprungsnähe des kurzen

2 Vgl. dazu S. Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, BHTh 83, Tübingen 1993, 5–21; 113–173. 3 Vgl. J.G. Herder, Ideen zu Geschichte der Philosophie der Menschheit, in: ders., Sämtliche Werke XIIIf, hg. v. B. Suphan, repr. Nachdr. d. Ausg., Berlin 1887/1909, Hildesheim 1967. 4 J.G. Herder, Christliche Schriften. Dritte Sammlung, 1797, 391; vgl. auch J.B. Koppe, Marcus non Epitomator Matthaei; Gottlob Christian Storr, De fonte evangeliorum Matthaei et Lucae, 1794. 5 Vgl. Herder, Christliche Schriften, 390. 6 Herder, Christliche Schriften, 394. 7 Vgl. Alkier, Urchristentum, 161–170. 8 Vgl. S. Alkier, Mehr oder weniger plausible Hypothesen. Theologiegeschichtliche Anmerkungen zur Genese und Konstruktion des »synoptischen Problems«, ZNT 43/44 (2019), Themenheft: Synoptische Hypothesen, 7–38; vgl. M. Müller /H. Omerzu (Hg.), Gospel Interpretation and the Q-Hypothesis, LNTS 573, London /New York 2018.

Gebildete Zeugenschaft

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reinen Urevangeliums wegführende Bilderflut der Johannesapokalypse bilden für die meisten Ursprungsdenker starke Kontraste. Mit der Etablierung literarkritischer Ursprungssuche erwuchsen der Exegese neue Optionen, die ungeliebte Johannesapokalypse aus dem ursprünglich Christlichen zu entfernen und sie in das noch weniger geliebte Judentum zu verbannen. Schon Johann Salomo Semler (1725–1791) hatte sie in den Kontext jüdischer Schriftproduktion – und das heißt für die Exegese des 18., 19. und 20. Jahrhunderts weitgehend nichtchristlichen Denkens – gestellt. Jüdisch und judenchristlich sind von Semler bis Rudolf Bultmann (1884–1976) kaum nur deskriptive, sondern wertende Begriffe. Das Jüdische gilt als das Enge, Partikularistische, Gesetzliche, Selbstbezogene, während das Christliche für Universalismus und Freiheit steht. 9 Das bereits von Carsten Colpe 10 klarsichtig dekonstruierte Begriffsmonstrum Judenchristentum, das dann von Hella Lemke 11 forschungsgeschichtlich aufgearbeitet wurde, steht dann für ein überholtes Christentum, das sich nicht mit dem Urchristlichen messen konnte. Die Literarkritik zerlegte den noch von Eduard Reuss 12 (1804–1891) gesehenen poetischen Zusammenhang der Johannesoffenbarung solange in ihre Einzelteile, bis sie als christliche Schrift nicht mehr erkennbar war. So prangert Eberhard Vischer in seinem in der ersten Auflage der RGG erschienenen Artikel »Offenbarung des Johannes« an: [. . . ] unser Buch zeigt mit großer Deutlichkeit, wie unter dem Einflusse der jüdisch-apokalyptischen Vorstellungen das Bild Jesu, das uns noch aus den synoptischen Evangelien entgegenblickt, mit Zügen aus der Wunderwelt des Mythus ausgestattet worden ist und die einfachen, großen Worte Jesu hinter phantastischen Erwartungen zweifelhaften Wertes zurückgetreten sind. 13

Auf dieser Linie verunglimpfte Rudolf Bultmann die Apokalypse auch noch 1968, in der sechsten, von ihm selbst besorgten Auflage seiner

9 Im Extrem zeigen sich derartige Auswüchse in der Deutung der Johannesapokalypse bei einigen nationalsozialistisch beeinflussten Auslegern. Hierzu T. Nicklas, Apokalypse und Antisemitismus. Die Offenbarung des Johannes bei Auslegern im Umfeld des Nationalsozialismus, in: M. Labahn /M. Karrer (Hg.), Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung, Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 38, Leipzig 2012, 347–370. 10 C. Colpe, Das Siegel der Propheten. Historische Beziehungen zwischen Judentum, Judenchristentum, Heidentum und frühem Islam (ANTZ 3), Berlin 1989; vgl. S. Alkier /H. Leppin (Hg.), Juden – Heiden – Christen? Religiöse Inklusionen und Exklusionen im Römischen Kleinasien bis Decius, WUNT 400, Tübingen 2018. 11 H. Lemke, Judenchristentum. Zwischen Ausgrenzung und Integration. Zur Geschichte eines exegetischen Begriffes, Hamburger Theologische Studien 25, Münster 2001. 12 E. Reuss, Art. Johannes (der Apostel. D. Johanneische Apokalypse), in: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, hg. v. J.S. Ersch und J.G. Gruber, Zweite Section, 22. Theil, hg. v. A.G. Hoffmann, Leipzig 1843, 79–94. 13 E. Vischer, Art. Offenbarung des Johannes, in: RGG 1, Tübingen 1913, 922–938.

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Stefan Alkier

Theologie des Neuen Testaments »als ein schwach christianisiertes Judentum [. . . ] Die Bedeutung Christi beschränkt sich doch im Wesentlichen darauf, daß er der leidenschaftlichen Hoffnung die Sicherheit gibt, die den jüdischen Apokalyptikern fehlt.« 14 Es ist sicherlich zumindest für den deutschsprachigen Raum kein Zufall, dass es erst in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts gleichermaßen zu einem Umdenken bezüglich des Verhältnisses von Judentum und Christentum in kirchlichen Verlautbarungen 15 kommt und zur selben Zeit die Bewertung der theologischen Leistung der Johannesapokalypse einen Umbruch erfährt. 16 Man wird forschungsgeschichtlich nach dem Zusammenhang des romantischen Bildes von der Bildungsferne der frühen Christen und sogar auch noch ihrer Schriftsteller, der philologischen Hypothese einer Häufung von Hebraismen in der Apk und der Behauptung ihres schlechten Griechisch, der fiktiven Erzählung der ursprünglichen Herkunft des Verfassers der Apk aus Palästina und der literarkritisch begründeten Verbannung der Apk in ein pejorativ bewertetes jüdischapokalyptisches Denken zu fragen haben und diesen Themenkomplex in den Zusammenhang einer angestrebten Verabschiedung der Johannesapokalypse aus dem christlichen Kanon stellen müssen. Dass Einleitungsfragen keine wertneutralen Ergebnisse zeitigen, sollte heutigen Exegetinnen und Exegeten klar geworden sein. Sie sind abhängig von philologischen, historischen, theologischen und wohl auch politischen Grundeinstellungen. Eine ideologiekritische forschungsgeschichtliche Aufarbeitung der Einleitungswissenschaft stellt nicht nur für die Johannesapokalypse ein dringendes Desiderat der Forschung dar, das sicher Stoff für mehrere Monographien bieten wird. Im Folgenden soll aber lediglich gefragt werden, ob man für christliches Leben und Denken wirklich nichts aus der Johannesapokalypse lernen kann? Ich gebe zu, das ist hinsichtlich vieler wegweisender Arbeiten zur Neubewertung der Apk 17 und auch bezüglich

14 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, durchges. u. erg. v. Otto Merk, Tübingen 91984, 525f. 15 Vgl. Rheinischer Synodalbeschluss »Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden« (1980). 16 Vgl. u.a. H. Kraft, Die Offenbarung des Johannes, HNT 16a, Tübingen 1974; A.Y. Collins, The Apocalypse, NTM 22, Wilmington 1979; M. Karrer, Die Johannesoffenbarung als Brief. Studien zu ihrem literarischen, historischen und theologischen Ort, Göttingen 1986. 17 Vgl. u.a. D.E. Aune, Revelation 1–5, WBC 52A, Waco 1997; ders., Revelation 6– 16, WBC 52B, Dallas 1998; ders., Revelation 17–22, WBC 52C, Dallas 1998; D.L. Barr, Tales of the end. A narrative commentary on the book of Revelation, Salem 2012; G.K. Beale, John’s Use of the Old Testament in Revelation, Library of the NTS 166, Sheffield 1998; ders., The Book of Revelation. A Commentary on the Greek Text, Grand Rapids 1999; T. Holtz, Die Offenbarung des Johannes, übers. und erkl., hg. v. K.-W. Niebuhr, neubearb. Aufl., Göttingen 2008; D.A. de Silva, Seeing Things John’s Way. The Rhetoric

Gebildete Zeugenschaft

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meiner eigenen 18 und meiner gemeinsamen Publikationen mit Richard Hays, 19 Tobias Nicklas 20 und Thomas Paulsen 21 zur Apk eine rhetorische Frage. Ich stelle zunächst die Frage nach der Bildung des realen Autors und frage dann, ob seine Schrift auch auf ein dafür gebildetes Publikum zählen konnte. 1.

Die Bildung des realen Autors

a)

Kompetenzanalyse als Methode der Einleitungswissenschaft

Um die Bildung des realen Verfassers der Apk beurteilen zu können, macht es wenig Sinn, auf die spärlichen Spuren der antiken Überlieferung zu setzen, die vor allem zeigen, dass die Verfasser – mit Ausnahme des Apostels Paulus – der später kanonisierten neutestamentlichen Schriften schon im zweiten Jahrhundert nicht mehr bekannt waren. 22 Sichereren Boden betritt eine textologisch informierte, philologisch-kritische Kompetenzanalyse, die eine schlichte Leitfrage stellt: Was muss man können, um einen Text zu schreiben? Schreiben ist weit mehr als die Aneinanderreihung abstrakter Zeichen. Diese hoch komplexe Kulturtechnik verlangt Kreativität, schlussfolgerndes Denken und kulturelles Wissen und erzeugt auf diese Weise ein Diskursuniversum, die Welt des Textes, so wie er sie setzt und voraussetzt. 23 of the Book of Revelation, Louisville 2009; L.F. Mot, Morphological and Syntactical Irregularities in the Book of Revelation. A Greek Hypothesis, LBSt 11, Leiden 2015; M. Karrer, Johannesoffenbarung (1,1–5,14), EKK XXIV /1, Ostfildern u.a. 2017. 18 Vgl. u.a. S. Alkier: Die Johannesapokalypse als »ein zusammenhängendes und vollständiges Ganzes«, in: M. Labahn /M. Karrer (Hg.), Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung, Leipzig 2012, 147–171; S. Alkier, Schwerwiegende Differenzen – Vernachlässigte Antagonismen in der Johannesapokalypse, in: S. Alkier /M. Schneider /C. Wiese (Hg.), Diversität – Differenz – Dialogizität. Religion in pluralen Kontexten, Berlin 2017, 247–289. 19 S. Alkier /R.B. Hays (Hg.), Revelation and the Politics of Apocalyptic Interpretation, BUP, Waco 2012. 20 S. Alkier /T. Hieke /T. Nicklas (Hg.) Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, WUNT 346, Tübingen 2015. 21 S. Alkier /T. Paulsen (Hg.), Apollon, Artemis, Asteria und die Apokalypse des Johannes. Eine Spurensuche zur Intertextualität und Intermedialität im Rahmen griechisch-römischer Kultur, Kleine Schriften des FB Ev Theol. der Goethe-Univ. Frankfurt 9, Leipzig 2018; dies., Die Apokalypse des Johannes neu übersetzt, Frankfurter Neues Testament 1, Paderborn 2020. 22 Vgl. dazu S. Alkier, Die fantastischen Vier. Was kann man über die Evangelisten wissen?, WuB 72/2 (2014), 7–11. 23 Vgl. U. Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1987; S. Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung, WUNT 134, Tübingen 2001, 74–79.

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Stefan Alkier

Der Verfasser benötigt Urteilskraft darüber, was seine Leserinnen und Leser verstehen können und verstehen sollen. Stets muss enzyklopädisches Wissen eingebracht werden, um die Zeichen Sinn erzeugend zusammenzustellen, denn ein Zeichen allein macht noch keinen Text: »Die Zeichen stehen immer in Bezug zu anderen Zeichen, sie existieren nie allein, außer unter einem rein theoretischen Gesichtspunkt«. 24 Auch ein bloßes Nebeneinander von Zeichen ergibt noch keinen Text. Eine Ansammlung von Zeichen erzeugt erst den Eindruck eines zusammenhängenden Ganzen, wenn diese Zeichen syntagmatisch, semantisch und pragmatisch Sinn generierend organisiert wurden bzw. organisiert werden können. Für uns ist Textualität keine inhärente Eigenschaft verbaler Objekte. Ein Produzent oder ein Rezipient betrachtet ein verbales Objekt als Text, wenn er glaubt, dass dieses verbale Objekt ein zusammenhängendes und vollständiges Ganzes ist, das einer tatsächlichen oder angenommenen kommunikativen Intention in einer tatsächlichen oder angenommenen Kommunikationssituation entspricht. Ein Text ist – gemäß der semiotischen Terminologie – ein komplexes verbales Zeichen (oder ein verbaler Zeichenkomplex), das / der einer gegebenen Erwartung der Textualität entspricht. 25

Diese Textdefinition des Texttheoretikers János Petöfi erlaubt es, Texte sowohl bezüglich ihrer systemimmanenten Konstruktion als auch hinsichtlich ihrer Funktion in ihren jeweiligen Produktions- bzw. Rezeptionskontexten auf der Basis semiotischer Grundlagen zu untersuchen. Die Textabfassung produziert Sinn, wenn sie den Aufbau der Zeichen als stimmig konstruieren kann (Syntagmatik), die Bedeutungsfunktion der einzelnen Zeichen diesem Aufbau zuordnen kann (Semantik) und ein Bezug zwischen Text und Leser oder Leserin entstehen kann (Pragmatik). Texte ermöglichen jeweils unterschiedliche Interpretationen, weil die Sinnprozeduren des Schreibakts nicht unmittelbar den verwendeten Zeichen eingeschrieben werden können. Textproduzenten haben aber die Möglichkeit, Aufmerksamkeitssignale durch Wiederholungen, Vor- und Rückverweise, direkte Ansprache der Rezipienten und eben auch durch Regelbrüche zu erzeugen, die aufmerken lassen. Dass der Verfasser der Apk davon reichlich Gebrauch gemacht hat, steht außer Frage. Schreiben wie Lesen bildet in vielfacher Hinsicht: Textproduzenten und auch ihre mitdenkenden Textrezipienten sind Regisseure, Bühnenbildner und Schauspieler in einer Person. Schreiben /Lesen ist eine hochkomplexe Kulturtechnik, die erlernt und trainiert werden muss. Schreiben

24 U. Volli, Semiotik. Eine Einführung in ihre Grundbegriffe, UTB 2318, Tübingen /Basel 2002, 79, Hervorhebung im Original. 25 J. Petöfi, Explikative Interpretation. Explikatives Wissen, in: ders./T. Olivi (Hg.), Von der verbalen Konstitution zur symbolischen Bedeutung – From verbal constitution to symbolic meaning (Papiere zur Textlinguistik 62), Hamburg 1988, 184–195, hier 184.

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ist das Sinn erzeugende Zusammenfügen abstrakter Zeichen mittels ihrer Verknüpfung zu einem homogenen Ganzen, das mehr und anderes ist als die Summe seiner Zeichen. Lesen ist das Sinn erzeugende Sammeln und Zusammenfügen dieser abstrakten Zeichen zu einem homogenen Ganzen, das mehr und anderes ist als die Summe der Zeichen. Schreiben wie Lesen sind selbst Operationen abstrakten Denkens und kreativen Konstruierens. Wer Texte wie die Apk erzeugen kann, verfügt über eine hochkomplexe Bildung. Benötigt werden dazu sprachliche, poetische und intertextuelle Kompetenzen. Das soll nun in der gebotenen Kürze konkretisiert werden. b)

Zur sprachlichen Kompetenz des Verfassers der Apk

Der Text der Johannesapokalypse irritiert. Schon in der Kirchengeschichte Eusebs (263–339) findet sich heftige Kritik daran. Ausführlich lässt Euseb Dionysios von Alexandrien († 265), den wohl wichtigsten Schüler des Origenes, zu Wort kommen: Einige unserer Vorfahren haben das Buch verworfen und ganz und gar abgelehnt. Sie beanstandeten Kapitel für Kapitel und erklärten, daß der Schrift Sinn und Zusammenhang fehle und daß der Titel falsch sei. Sie behaupten nämlich, dieselbe stamme nicht von Johannes und sei überhaupt keine Offenbarung, da sie in den so dichten Schleier der Unverständlichkeit gehüllt sei. 26

Dionysios unterstützt diese Kritik mit einem vergifteten Lob: »Und ich verwerfe nicht, was ich nicht erfaßt, bewundere es im Gegenteil um so mehr, eben weil ich es nicht begriffen habe.« 27 Er grenzt mit bis heute wiederholten philologischen und stilistischen Argumenten das Johannesevangelium und die drei Johannesbriefe von der Apk ab und kritisiert deren Sprache: »Doch ich sehe, daß seine Rede und Sprache nicht rein griechisch sind und daß er barbarische Wendungen und gelegentliche Verstöße gegen die Sprache hat.« 28 Auf der anderen Seite finden sich produktivere Bewertungen der ungewöhnlichen Sprache der Apk etwa in dem bedeutenden Kommentar von Andreas von Cäsarea (563–637), der ihre Eigentümlichkeiten und Regelbrüche als intendiertes und effektvolles Stilmittel würdigt. 29 Eine systematische Untersuchung der Sprache der Apk aber bietet auch er nicht. Die nicht gerade geringe Anzahl an Interpreten der Apk kommentierte bis zur Reformationszeit mehrheitlich den lateinischen Text der Vulgata

26 27 28 29

Eusebius von Cäsarea, Historia Ecclesiastica VII 25,1f. Eusebius von Cäsarea, Historia Ecclesiastica VII 25,5b. Eusebius von Cäsarea, Historia Ecclesiastica VII 25,26. Vgl. Karrer, Johannesoffenbarung (1,1–5,14), 91.

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des Hieronymus (c. 347–419), der aber die meisten Solözismen des griechischen Textes nicht als solche ins Lateinische übertrug. Als griechischer Text wurde bis Erasmus von Rotterdam (1466–1536) vornehmlich der byzantinische Textus receptus verwendet, der sich ebenfalls in der Regel um grammatische Glättung der problematischen Stellen bemühte. Erasmus lag auf einer Linie mit der Kritik des Dionysios und bewertete etwa den Solözismus in Apk 1,4 als Unsinn. 30 »1627 gelangte der Codex Alexandrinus (A) nach England. Er erwies sich rasch als beste Apk-Handschrift und behielt diesen Rang auch nach der Veröffentlichung des Codex Sinaiticus im 19. Jh.« 31 Johann Albrecht Bengel (1687–1752) erklärte 1734 mit nachhaltiger Wirkung die Grammatikbrüche mit der Annahme, Johannes habe als hebräischer Muttersprachler während der Abfassung seines griechischen Textes eben auf Hebräisch gedacht. 32 Diese Hypothese wirkt bis heute nach. Mit der Differenzierung von Hebraismen und Septuagintismen brachte Daryl D. Schmidt 33 1991 eine überzeugende neue Perspektive ein, die erheblich dazu beiträgt, die in die Irre führende Hypothese Bengels zu überwinden. Martin Karrer kommt in seinem 2017 erschienen Kommentar zur Apk zu dem Schluss: »Auch die die Forschung besonders beschäftigenden Semitismen sind in der ostmittelmeerischen Sprachentwicklung seit der hellenistischen Zeit verankert. Unser Autor empfing sie in der Regel über die Vermittlung des griechischen Judentums und der 30 Ebd., 73. 31 Ebd., 73. 32 Vgl. J.A. Bengel, Novum Testamentum Graecum, mit einem ausführlichen Apparatus criticus, 1734; ders., Erklärte Offenbarung Johannis oder vielmehr Jesu Christi, Stuttgart 1740. Die ungebrochene Wertschätzung der Eschatologie der Apk ist noch bis in die Lexikonartikel der großen Enzyklopädien des 18. und 19. Jh. zu finden. Allerdings wurde die Kritik am Griechisch der Apk so stark, dass sie beschwichtigt werden musste. So findet sich im Artikel »Offenbarung Johannis« in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universallexikon, Bd. 25, Sp. 878–890, folgende Argumentation: »Daß aber Cave meynet, die Schreib-Art sey in der Offenbarung lange nicht so rein und deutlich, als in den andern Schrifften, sondern hin und wieder mit vielen unrichtigen und unebenen Redens-Arten vermischet, ist so wichtig nicht, daß der vermeynte Mangel einer reinen Schreib-Art nicht durch die Hoheit der Materie solte überflüssig ersetzet werden, oder man nicht solchen Einwurff zur Genüge begegnen könnte; zumal, wenn man bedencket, daß dieser Ebräer aus den Ebräern den Propheten auf dem Fusse nachgehen müssen.« 33 Vgl. D.D. Schmidt, Semitisms and Septuagintalisms in the Book of Revelation, NTS 37 (1991), 592–603; A.D. Callahan, The Language of the Apocalypse, HAT 88 (1995), 453–470, bestätigte die besondere Prägung der Sprache der Apk durch die Septuaginta, während G.K. Beale, John’s Use of the Old Testament in Revelation, Library of the NTS 166, Sheffield 1998, Hebraismen und Septuagintismen zugleich am Werk sah; vgl. ders. The Book of Revelation. A Commentary on the Greek Text, Grand Rapids 1999. O. Böcher, Art. Johannes-Apokalypse, RAC 18 (1998), 595–646, vertrat die Auffassung, Johannes habe theo-poetisch bewusst eine griechische Kunstsprache auf hebräisch-aramäischer Basis entwickeln wollen, was nur denkbar ist, wenn er über gleichermaßen hohe Kompetenzen in beiden Sprachsystemen verfügte.

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Septuaginta.« 34 »Die Mehrzahl der Schriftanspielungen folgt SeptuagintaÜberlieferungen [. . . ] Gelegentlich gibt es aber zusätzlich Bezüge zum Hebräischen.« 35 Auch dafür gibt Karrer allerdings zu bedenken: »Unser Autor kann auch ›Hebraismen‹ seiner Schriftanspielungen griechischen Vorlagen entnommen haben.« 36 Eine Kehrtwende in der Bewertung der griechischen Sprachkompetenz des Verfassers der Apk hatte 2005 in einem kurzen, aber einsichtsreichen Aufsatz schon Traugott Holtz unternommen. 37 Eindrucksvoll führte er am Beispiel des vielfach in der Apk verwendeten Syntagmas »der auf dem Thron Sitzende« vor, wie Johannes mit der griechischen Koine-Sprache spielen konnte. Die erste und m.a.W. bisher einzige systematische Analyse der Solözismen der Apk legte 2015 Lauren¸tiu Florentin Mot, 38 vor, der dem Verfasser der Apk bescheinigt, die griechische Sprache so ausgezeichnet beherrscht zu haben, dass er sie auf beeindruckende Weise in den Dienst seines theo-poetischen Gestaltungswillen stellen konnte. Der Frankfurter Gräzist Thomas Paulsen schließlich geht noch einen Schritt weiter. Er vertritt die Auffassung, dass das Griechisch der Apk keinen Rückschluss auf die Muttersprache des Verfassers erlaubt. Die Apk sei mit ihren kalkulierten syntaktischen und morphologischen Effekten aus der Perspektive der Altphilologie eines der interessantesten griechischen Werke der Antike! Einen solchen Text konnte nur eine hoch gebildete Persönlichkeit verfassen. Paulsen resümiert: Zu den Hauptmerkmalen von Johannes’ Sprache und Stil gehört im Bereich der Syntax die additive Parataxe, in der nur selten kausale, modale, adversative oder konzessive Verknüpfungen zwischen aufeinander folgenden Sätzen hergestellt werden. Die signifikante Dominanz der Konjunktion καί unterstützt den Eindruck einer unaufhaltsamen Aneinanderreihung von Ereignissen, durch welche der göttliche Plan verwirklicht wird. Gerade wenn von Gott die Rede ist, verzichtet der Autor gern auf finite Verben und gerade im Kontext göttlichen Wirkens finden sich die häufigsten und massivsten Verstöße gegen grammatische Regeln. Diese Verstöße sind fast immer als beabsichtigt zu erweisen und erscheinen meist im Zusammenhang mit Gott oder Christus, um deren über alle Regeln der Grammatik und Syntax erhobenen Majestät Ausdruck zu verleihen. Daneben können Solözismen und Inkonzinnitäten auch sonst wie im Falle der Apokalyptischen Reiter oder des schrecklichen Engels Abbadon eingesetzt werden, um das Schockierende von deren Auftritten zu unterstreichen. So bestätigt sich eindrucksvoll die Erkenntnis, dass

34 Karrer, Johannesoffenbarung (1,1–5,14), 92. 35 Ebd., 93. 36 Ebd., 93. 37 T. Holtz, Sprache als Metapher. Erwägungen zur Sprache der Johannesapokalypse, in: F.W. Horn /M. Wolter (Hg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung, FS O. Böcher zum 70. Geb., Neukirchen-Vluyn 2005, 10–19. 38 Mot, Morphological and Syntactical Irregularities.

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wir es bei Johannes unabhängig von Herkunft und Muttersprache mit einem souveränen Kenner der griechischen Sprache und einem Könner zu tun haben, der mit ihr virtuos zu spielen und sie für die Präsentation seiner Inhalte zu nutzen versteht: Sprache und Stil, insbesondere die Signaleffekte der grammatischen Inkongruenzen sollen den Adressaten helfen, sein Anliegen besser zu verstehen, ihnen Gottes und Christi Macht und Größe, aber auch das nach seiner Überzeugung unmittelbar drohende Jüngste Gericht nahezubringen. 39

Die unabhängig voneinander entstandenen philologischen Analysen der Regelverletzungen in der Apk kommen zu einem gemeinsamen Ergebnis: Es finden sich zwar zahlreiche Solözismen, aber keine Barbarismen. In der Antike wurde das unterschieden: Barbarismen sind Fehlgriffe auf der Wortebene, Solözismen hingegen grammatische Verstöße der Syntax. 40 Dieser Sachverhalt unterstützt die These des intentionalen Gebrauchs von Solözismen, denn jemand, der aus Inkompetenz ungewollte Grammatikfehler begeht, wird sich auch in der Wortwahl hier und da vergreifen. Alles in allem bleibt nur der folgende abduktive Schluss plausibel: »John’s grammar is always intentional.« 41 Mit der 2020 erschienenen Neuübersetzung der Apk haben Thomas Paulsen und ich versucht, dieser philologischen Erkenntnis Rechnung zu tragen und die Apk als ein theo-poetisches Werk im Deutschen wiederzugeben und auch, soweit möglich, seine sprachlichen Irritationen nachzuahmen. Jenseits konfessioneller Übersetzungstraditionen haben wir uns ganz an der Philologie eines Koinetextes orientiert. 42 Insbesondere die Beiträge von Traugott Holtz, Martin Karrer, Lauren¸tiu Florentin Mot, und Thomas Paulsen zwingen dazu, sich von der Hebraismus-Hypothese endgültig zu verabschieden. Die Apk ist ganz als ein theo-poetisches, koine-griechisches 43 Werk zu interpretieren, das wohl zur Regierungszeit 44 Domitians, Nervas oder Trajans entstanden ist. Der Verfasser der Apk verfügte über so herausragende Griechischkenntnisse, dass er mit der Grammatik spielen konnte. Semantische Fehler (Barbarismen) finden sich in der Apk nicht. Die morphologischen und syntaktischen Irregularitäten verweisen gerade nicht auf eine vermeintliche griechische Inkompetenz. Sie sind vielmehr ein theo-poetisches Mittel 39 T. Paulsen, Zur Sprache und Stil der Johannes-Apokalypse, in: S. Alkier /T. Hieke /T. Nicklas (Hg.), Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, WUNT 346, Tübingen 2015, 3–25, hier: 24f. 40 Vgl. Mot, Morphological and Syntactical Irregularities, 244. 41 Ebd., 246. 42 Vgl. S. Alkier/T. Paulsen, Die Apokalypse des Johannes neu übersetzt. Frankfurter Neues Testament I, Leiden u.a. 2020. 43 Vgl. dazu T. Paulsen, Art. Koine, wibilex.de (im Erscheinen). Ich danke Thomas Paulsen, dass ich sein Manuskript noch vor der Veröffentlichung einsehen durfte. 44 Zu den Einleitungsfragen vgl. M. Karrer, Johannesoffenbarung, a.a.O., 43–64. Ich teile weitgehend seine Positionen.

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sprachtheologisch reflektierter Rede von Gott. Eine systematische philologische Analyse des Gesamtwerks der Apk, die sich nicht nur mit den Solözismen, sondern mit den theologischen Effekten der griechischen Sprache dieses herausragenden Dichters befasst, bleibt zwar vorerst ein Desiderat der Forschung, aber mit den oben genannten Forschungsbeiträgen zur Sprache der Apk sind die Grundlagen dafür bereits gelegt.

c)

Zur poetischen Kompetenz des Verfassers der Apk

Der Verfasser der Apk verfügte aber nicht nur über bestechende Sprachkenntnisse, sondern auch über textgenerierende poetische Kompetenzen. Schon in der Spätantike haben Interpreten wie Tyconius, Augustin und Hieronymus die poetische Kraft der Apk erkannt und ihre Bilder nicht als quasihistorische Vorabbildung von Ereignissen verstanden, sondern nach ihrer spirituellen Bedeutung gefragt. 45 Johann Gottfried Herder stellte seine poetische Auslegung der Apk zwar vorschnell in den Dienst der bereits von Johann Salomo Semler und anderen angeregten zeitgeschichtlichen Interpretation der Apk. 46 Allerdings zeigt sein Manuskript Johannes Offenbarung. Ein heiliges Gesicht, ohn’ einzelne Zeichendeutung verständlich, dass er sich zunächst für die poetische Kraft dieser Schrift interessierte und ihr nachzuspüren gedachte. 47 In vielfacher Weise wurden »Elemente einer Poetik der JohannesApokalypse« 48 in der neueren Forschung zur Apk untersucht. Der Verfasser der Apk kann insbesondere als ein Meister der Ekphrasis, 49 der

45 Vgl. Karrer, Johannesoffenbarung (1,1–5,14), 127–129. 46 Vgl. dazu G. Arnold, Von den letzten Dingen – eschatologische Elemente in Herders Werk und ihre Quellen, in: M. Keßler/V. Leppin (Hg.), Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerks, Arbeiten zur Kirchengeschichte 92, Berlin /New York 2005, 283–410, insbes.: 399–401. 47 J.G. Herder, Johannes Offenbarung. Ein heiliges Gesicht, ohn´ einzelne Zeichendeutung verständlich, in: ders., Sämtliche Werke IX, hg. v. B. Suphan, repr. Nachdr. d. Ausg., Berlin 1887/1909, Hildesheim 1967, 1–99. 48 P. von Möllendorff, »Nimm und verschling es!« Elemente einer Poetik der JohannesApokalypse, in: S. Alkier /T. Hieke /T. Nicklas (Hg.), Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, WUNT 346, Tübingen 2015, 155–176. 49 Vgl. u.a. R.J. Whitaker, The Poetics of Ekphrasis. Vivid Description and Rhetoric in the Apocalypse, in: S. Alkier /T. Hieke /T. Nicklas (Hg.), Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, WUNT 346, Tübingen 2015, 227–240; A. Weissenrieder, Bilder zum Sehen – Bilder zum Hören? Über die Grenzen von visuellem Bild und Sprache als Ekphrasis in Apk 17, in: S. Alkier /T. Hieke /T. Nicklas (Hg.), Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, WUNT 346, Tübingen 2015, 241–268; N. Neumann, Hören und Sehen. Die Rhetorik der Anschaulichkeit in den Gottesthron-Szenen der Johannesoffenbarung, Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 49, Leipzig 2015; vgl. auch de Silva, Seeing Things John’s Way.

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Zeit /Raumgestaltung 50 und der Verdichtung des Textes durch Pro- und Analepsen gelten. Hinsichtlich darauf kritisierte schon 1843 Eduard Reuss die literarkritische Sezierung der Apk mit seiner poetologischen Grundthese: Die Johanneische Apokalypse ist ein poetisches Ganzes, welches die allmälige Herannäherung und glorreiche Vollendung des Gottesreiches (die Parusie und deren Vorzeichen) schildert. [. . . ] Ist’s aber schon ein Vorzug des Verfassers, in der unendlichen Mannichfaltigkeit eschatologischer Ideen seiner Zeit eine Grundeinheit entdeckt und festgehalten zu haben, so wird ihm ein ebenso großes, wo nicht größeres Lob gebühren, wenn wir nun sehen, wie er diese Ideen in ein kunstvoll symmetrisches Gewebe zerlegt hat. 51

Aber selbst so scharfsinnige Literarkritiker wie Franz Tóth 52 nötigt der kunstvoll verwobene Text der Apk dazu, die vielfältigen intratextuellen Verweise wahrzunehmen. Thomas Paulsen und ich haben demgegenüber in unserem Beitrag Der kommende Gott. Philologische, literaturwissenschaftliche und theologische Beobachtungen zur Komposition der Johannesapokalypse die Johannesapokalypse im Zeichen einer generativen Poetik analysiert. 53 Der Anfang der Apk etabliert eine doppelte Kommunikationssituation. Der Abschnitt 1,1–3 verbindet Gott mit allen Rezipienten, unabhängig von

50 Vgl. S. Alkier/T. Nicklas, Wenn sich Welten berühren. Beobachtungen zu zeitlichen und räumlichen Strukturen in der Apokalypse des Johannes, in: S. Alkier /T. Hieke /T. Nicklas (Hg.), Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, WUNT 346, Tübingen 2015, 205–226; M. Sommer, Der Tag der Plagen. Studien zur Verbindung der Rezeption von Ex 7–11 in den Posaunen- und Schalenvisionen der Johannesoffenbarung und der Tag des Herrn-Tradition, WUNT II 387, Tübingen 2015. 51 Reuss, Art. Johannes, 87. 52 F. Tóth, Von der Vision zur Redaktion, in: J. Frey/J.A. Kelhoffer/F. Tóth (Hg.), Johannesapokalypse. Kontexte – Konzepte – Rezeptionen, WUNT I 287, Tübingen 2012, 319–411, hier v.a. 328, 339–356, 384–405, 411. Für ihn enthalten Apk 1,1–3.10–20 und 4,1–22,10 das ursprüngliche, schon etwa um das Jahr 70 anzusetzende apokalyptische Corpus, das in einer ersten Redaktionsstufe durch die Kultszenen 4/5; 8,1–6; 11,15–19; 14,14–20; 15,1–8; 16,17–21; 19,1–10 und 21,1–8 zu einer »oktaedrischen Ordnung« in acht Visionsabschnitten (Tóth, Von der Vision zur Redaktion, 328) zusammengefügt wurde, während in einer zweiten Redaktionsstufe ab etwa 112 die Sendschreiben mit ihrer Einleitung (Apk 1,4–9; 2/3) hinzukamen. So scharfsinnig diese Analysen von Tóth und anderen auch sind, kranken sie unseres Erachtens an dem methodischen Grundproblem, dass nicht ernsthaft untersucht wird, ob die Apk als ein zusammengehöriges Ganzes erklärt werden kann. Die Beweislast liegt doch grundsätzlich bei denen, die postulieren, dass ein überlieferter Text kein Ganzes bilde. 53 Vgl. S. Alkier/T. Paulsen, Der kommende Gott. Philologische, literaturwissenschaftliche und theologische Beobachtungen zur Komposition der Johannesapokalypse, ThLZ 141 (2017), 453–472. Weiterentwickelt haben wir sie in unserem Beitrag, Der kommende Gott und die Götter der Anderen, in: S. Alkier/T. Paulsen (Hg), Apollon, Artemis, Asteria und die Apokalypse des Johannes. Eine Spurensuche zur Intertextualität und Intermedialität im Rahmen griechisch-römischer Kultur, Leipzig 2018, 13–147.

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ihren jeweiligen räumlichen oder zeitlichen Bestimmungen. Die zweite, in 1,4 einsetzende Kommunikationssituation ist die eines Briefes des Johannes an Versammlungen (ἐκκλησίαι) von Christusanhängerinnen und Christusanhängern in sieben Städten der römischen Provinz Asia. Der Abschnitt 1,4–8 setzt die grundlegenden Realitätsannahmen, auf denen die Logik der Handlungsstruktur beruht. Sie geht aus von einer Mangelsituation (vgl. 1,9), die sich in verschiedenen Problemkonstellationen auf situationsabhängige Weise auswirkt (Kap. 2–3) und durch eine Reihe von konflikthaften Ereignissen schließlich gelöst wird: θλῖψις (1–3) – Vorbereitung des Kampfes gegen θλῖψις durch die Darstellung der Befähigung der Protagonisten (4 und 5) – Beseitigung der θλῖψις durch Ankündigung und Durchführung des Gerichts (6–20) – Darstellung des Lebensraumes der überwundenen θλῖψις (21,1–22,5). Gerahmt wird diese generative Grundstruktur von Leseinstruktionen in 1,1–3 und 22,6–20. 54 In dieser Transformationsgeschichte vom Mangel der θλῖψις hin zu ihrer Überwindung, die alle Kapitel der Apk miteinander verknüpft, spielt die Transformation des Gottesmotivs eine tragende Rolle. In 1,4 und 1,8 hat das Syntagma die Funktion einer Präsupposition. Gott ist als ὁ ὤν und ὁ ἦν der Pantokrator, der alle Zeiten und Räume umspannt. Als Kommender aber ist er gegenwärtig derjenige, der seine ihm zustehende und allein von ihm auszufüllende Herrschaft noch nicht vollständig ergriffen hat. Das dritte Glied des Syntagmas in 1,4 und 1,8, ὁ ἐρχόµενος, ist der erzähllogische und theologische Sachgrund, der verstehen lässt, warum es überhaupt noch θλῖψις geben kann. Mit diesem ὁ ἐρχόµενος wird also das Theodizee-Problem 55 damit gelöst, dass es eine doppelte Funktion erhält: Gott ist jetzt der Kommende, er ist in Bewegung auf seine Zeugen zu. In diesem gegenwärtigen Kommen ist das Ziel des Kommens, nämlich das ungestörte Zusammensein von Gott, Jesus Christus und ihren Zeugen, schon jetzt wirksam. Es verhindert aber nicht die θλῖψις der Zeugen, weil die Bewegung des Kommens das gänzliche Zusammensein noch ausspart, oder anders gesagt: auch der jetzt kommende Gott ist der Pantokrator, er hat aber seine ihm zustehende Herrschaft noch nicht vollständig ergriffen, sondern lässt seinen Widersachern immer noch Raum, und zwar den irdischen Raum mitsamt den Meeren. Weil das Kommen Gottes aber jetzt schon im Gange ist, ist seine vollständige Ankunft gewiss. Weil Gottes vollständige Machtnahme im Himmel nach dem Satanssturz bereits vollzogen ist, und dieser deswegen nur noch einen kurzen καιρός von Gott erhält (vgl. 12,12), ist Gott mit dem Anbrechen des Gerichts schon nicht mehr der Kommende, auch 54 Vgl. das Schaubild unserer Gliederung in Alkier/Paulsen, Der kommende Gott und die Götter der Anderen, 65–68. 55 Vgl. S. Alkier, Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments, Tübingen /Basel 2009, 170–188, insbes. 186–188.

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wenn das Gericht noch nicht vollständig durchgeführt und der Umzug Gottes vom Himmel auf die Erde noch nicht vollzogen wurde. Gott ist der Kommende, solange sein Gericht als vollständige Verwirklichung seiner Macht mittels Entsiegelung und Posaunen noch im Modus der Ankündigung vorgestellt wird. Mit dem Beginn seiner allumgreifenden Machtverwirklichung durch sein Gericht beginnt auch sein endgültiges Da-Sein. Er bleibt der Seiende, der Immer-War, aber mit der Darstellung der Verwirklichung seiner Macht ist er nicht länger als Kommender vorzustellen. Im Licht durchfluteten Lebensraum des auf die Erde herabgekommenen himmlischen Jerusalem bleibt Gott der Seiende, der Immer-War, er wird aber nicht mehr der Kommende sein, weil sein Kommen sein Ziel erreicht hat. Die theo-poetische Makrosyntax der Johannesapokalypse löst das Problem der Theodizee mittels der Transformation der Gottesvorstellung von einem dreigliedrigen zu einem zweigliedrigen Syntagma der Zeitlichkeit Gottes. Die Kraft der Gestaltung wirkt im Text der Johannesapokalypse eben nicht nur auf der Wort- und Satzebene, sondern nicht zuletzt – und vielleicht sogar vor allem – auf der makrosyntaktischen Ebene ihrer Komposition.

d)

Die intertextuelle Kompetenz des Verfassers der Apk

Allen Kommentatoren sind die vielfältigen intertextuellen Bezüge der Apk zu den Heiligen Schriften Israels in die Augen gesprungen. Ein Nachweis dieser intertextuellen Kompetenz erübrigt sich hier eigentlich. 56 Zu Recht aber kritisierte Martin Karrer: Die Apk speist ihre Motive und ihre Darstellung in hohem Maße aus den Schriften Israels (Jes, Ez, Dan u.a.). Das nimmt die Forschung seit langem wahr. E. Lohmeyer, einer der großen Kommentatoren aus dem frühen 20. Jh. schloss daraus, der Seher, der die Apk niederschrieb, lebe und schreibe in der ›Atmosphäre‹ der Schrift; er gewinne ›die Freiheit des eignen Wortes‹ allein ›wenn er sich mit der heiligen Schrift des AT erfüllt‹. Heute müssen wir den Vorgang differenzierter formulieren, weil uns die Selbstverständlichkeit verloren ging, mit der Lohmeyer Israels Schriften um die Zeitenwende in die eine heilige Schrift des Alten Testaments zusammenfasste. Unser späteres Altes Testament formte sich im 1. Jh. erst abschließend, wie inzwischen bewusst wurde. Israels Hauptschriften waren, so gewiss sich ein Konsens über

56 Vgl. u.a. Beale, John’s Use of the Old Testament; S. Moyise, The Old Testament in the Book of Revelation, JSNT Sup. 115, Sheffield 1995, T. Hieke, Die literarische und theologische Funktion des Alten Testaments in der Johannesoffenbarung, in: S. Alkier /T. Hieke /T. Nicklas (Hg.), Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, WUNT 346, Tübingen 2015, 271–290.

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ihre hohe Bewertung herausgebildet hatte, noch als selbständige Rollen mit beträchtlichen Varianten im Umlauf. 57

In seiner Analyse der Ezechielrezeption in der Apk kommt Karrer zu folgenden Ergebnissen: 1. Der Apk-Autor kannte das Ezechielbuch auf griechisch und mutmaßlich zusätzlich hebräisch. Die Kenntnis Ezechiels bei seinen Leserinnen und Lesern setzt er nur in geringem Umfang voraus. 2. Die von der Apk benützte EzechielFassung unterschied sich in wichtigen Zügen [. . . ] vom Ezechieltext unserer kritischen Textausgaben. [. . . ] 3. Eine wesentliche Grenze aller Rückschlüsse aus der Apk liegt darin, dass der Apk-Autor nicht zitiert, sondern jede Schrift, auch die Ezechiels, in aktuelle Prophetie einschmilzt. 58

Was Karrer mit Blick auf die Rezeption des Ezechielbuches in der Johannesapokalypse schreibt, hat grundsätzliche Bedeutung für die Erforschung der intertextuellen Schreibweise der Johannesapokalypse. Es finden sich zwar kaum wörtliche Zitate, aber deutlich wird dennoch, dass es weit plausibler ist, für die intertextuellen Bezüge zu den Heiligen Schriften Israels vornehmlich die griechischen Fassungen heranzuziehen. 59 Die intertextuelle Schreibweise des Apokalyptikers ist nicht durch das wörtliche Zitat gekennzeichnet, sondern durch die kreative Transformation der Schriften, die der Verfasser der Apk rezipiert und zu seinem Text werden lässt. Nahezu als Desiderat intertextueller Forschung sind auch die vielfältigen Bezüge der Apk zu paulinischer Literatur, zu den Evangelien, der lukanischen Apostelgeschichte und zum Hebräerbrief zu bezeichnen. Die Menge 60 der Bezüge ist frappierend und zeigt den Verfasser der Apk als literarisch verbunden mit den bedeutendsten Textproduktionen von Christusanhängern im ersten Jahrhundert n.Chr. Mehr als einige interessante Teiluntersuchungen insbesondere zur Einflussforschung 61 wurden bisher aber nicht erarbeitet. Intertextuelle Analysen sind eher die Ausnahme. 62 Es scheint fast so, als wolle man den Apokalyptiker nach wie vor eher nicht 57 M. Karrer, Von der Apokalypse zu Ezechiel. Der Ezechieltext der Apokalypse, in: D. Sänger (Hg.), Das Ezechielbuch in der Johannesoffenbarung, BThS 76, Neukirchen-Vluyn 2004, 84–120, hier: 84. 58 Karrer, Von der Apokalypse zu Ezechiel, 118f. 59 Vgl. dazu M. Labahn, Die Septuaginta und die Johannesapokalypse: Möglichkeiten und Grenzen einer Verhältnisbestimmung im Spiegel von kreativer Intertextualität und Textentwicklungen, in: J. Frey/J.A. Kelhoffer/F. Tóth (Hg.), Johannesapokalypse. Kontexte – Konzepte – Rezeptionen, WUNT I 287, Tübingen 2012, 149–190. 60 Vgl. Karrer, Johannesoffenbarung (1,1–5,14), 65–70. 61 Vgl. hier etwa die detaillierte Untersuchung von J. Frey, Erwägungen zum Verhältnis der Johannesapokalypse zu den übrigen Schriften im Corpus Johanneum, in: M. Hengel (Hg.), Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch, mit einem Beitrag von J. Frey, WUNT 67, Tübingen 1993, 326–429. 62 Vgl. aber T. Hieke /T. Nicklas, »Die Worte der Prophetie dieses Buches«. Offenbarung 22,6–21 als Schlussstein der christlichen Bibel Alten und Neuen Testaments gelesen, BThS

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in den Chor der schriftlichen Zeugen des Evangeliums von Jesus Christus integriert wissen, sondern seinen Beitrag lieber »als randständige Schrift« 63 abtun. Die Hebraismus-Hypothese Bengels führte in der intertextuellen Forschung aber nicht nur zur Vernachlässigung der griechisch-jüdischen Texttraditionen, sondern mehr noch zur Ausblendung griechischer Literatur, die zur Zeit der Abfassung der Johannesapokalypse zum Bildungskanon auch in den Städten Kleinasiens zählte – wie etwa Homer, Herodot und Euripides, um nur drei gewichtige Beispiele zu benennen. Das Argument, es fänden sich keine Zitate aus diesen Schriften, verfängt aufgrund der bisherigen Beobachtungen zur Intertextualität der Johannesapokalypse nicht. Martin Karrer hat auf intertextuelle Bezüge der Apk u.a. zu den Troerinnen des Euripides hingewiesen, 64 Thomas Paulsen hat am Beispiel der Schilderungen Babylons Bezüge u.a. zu Herodot untersucht, 65 Dominic Blauth verwies auf Hesiod, Kallimachos und Apollodor. 66 Fazit: Die sprachlichen, poetischen und intertextuellen Kompetenzen des Verfassers der Apk zeugen von seinem hohen Bildungsstand, seinen kreativen Fähigkeiten und seinem ausgeprägten Reflexionsvermögen. Er verfügte nicht nur über jüdische und christliche Bildung, sondern partizipierte am literarischen, religiösen und politischen Wissen griechisch-römischer Kultur insbesondere Kleinasiens und schuf auf dieser Basis seine eigene intertextuelle Schreibweise. 67

62, Neukirchen-Vluyn 2003; S. Alkier, Hoffnung hören und sehen! Beobachtungen zur Dialogizität des Hebräerbriefes und der Johannesapokalypse, ZNT 15 (29/2012), 14–24. 63 P. Pilhofer, Das Neue Testament und seine Welt, Tübingen 2010, 430. 64 Vgl. M. Karrer, Das Gottesbild der Offenbarung vor hellenistisch-kaiserzeitlichem Hintergrund, in: M. Stowasser (Hg.), Das Gottesbild in der Offenbarung des Johannes, WUNT II 397, Tübingen 2015, 53–81, hier: 63, Anm. 50. 65 T. Paulsen, Apollon, Babylon und die Insel der Seeligen, ZNT 42 (2018), Themenheft Johannesoffenbarung, 23–40. 66 D. Blauth, Der herabfallende Stern in Apk 8 und 9. Zum Asteria-Mythos bei Hesiod, Kallimachos und Apollodor, in: S. Alkier/T. Paulsen (Hg.), Apollon, Artemis, Asteria und die Apokalypse des Johannes. Eine Spurensuche zur Intertextualität und Intermedialität im Rahmen griechisch-römischer Kultur, Kleine Schriften des FB Ev Theol. der GoetheUniv. Frankfurt 9, Leipzig 2018, 181–190. Auch die anderen Beiträge in diesem Band von S. Alkier, T. Paulsen, S. Dittmann, N. Haas, B. Böhm, J. Waller, T. R. B. Gottschalk, Y. Schnitzspahn und K. Pellini gehen möglichen intertextuellen Bezugnahmen der Apk insbesondere zu griechischer Literatur und Mythologie nach. Davon springt manches ins Auge, anderes bleibt eher eine vage Möglichkeit. Insgesamt aber zeigt der Band, dass hier noch ein ganzes Forschungsfeld zu bearbeiten ist. Hilfreich dafür ist bereits G. Strecker u.a., Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus 2.2., Berlin 1996; vgl. auch die methodischen Überlegungen von J.W. v. Henten, The intertextual Nexus of Revelation and Graeco-Roman Literature, in: S. Alkier/T. Hieke/T. Nicklas, Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse, WUNT 346, Tübingen 2015, 395–422. 67 T. Nicklas, Crazy Guy or Intellectual Leader? The Seer of Revelation and his Role for the Communities in Asia Minor, in: L. Ayres/C. Ward (Hg.), The Emergence of the

Gebildete Zeugenschaft

2.

Wie die Johannesapokalypse ihre Leser bildet

a)

Bildungsfragen

291

Konnte ein so gebildeter Autor mit seinem auch intellektuell anspruchsvollen Vorlesetext (vgl. Apk 1,3) auf verständige Leserinnen und Leser bzw. Hörerinnen und Hörer hoffen? Diese historische Frage ist nicht aus dem Text heraus zu beantworten, da dieser zwar Aufschluss über die erwünschten Verstehenskompetenzen der Rezipienten, also über den impliziten Leser, geben kann, aber nicht über seine realen Leserinnen und Leser aus Fleisch und Blut. Anders nämlich als bei der Kompetenzanalyse der Autorenfrage haben wir mit diesem Text keine Datenbasis der Rezeption, sondern nur eine der Textproduktion vor uns liegen. Wir können nicht wissen, wie der Text gelesen bzw. gehört und verstanden wurde. Wir haben auch keine Möglichkeit zu erschließen, wer sich diesen Text tatsächlich angehört hat, ob es eher eine kleine Runde in einer häuslichen Versammlung war, oder ob schon größere Versammlungen von ChristusAnhängerinnen und -Anhängern oder daran Interessierte und Neugierige teilnahmen. Auch die Sendschreiben geben keinen Aufschluss über die Anzahl und die Bildungskompetenzen der realen Rezipienten. Wir haben uns aber mit der neuesten kritischen historischen Forschung von dem Vorurteil zu verabschieden, das mit großer Wirkung Adolf Deissmann (1866–1937) formuliert hat: »Dass es im Wesentlichen die Menschen der unliterarischen, der unteren und mittleren Schicht waren«. 68 Mit diesem Vorurteil einher geht die Verfallstheorie eines gegenüber dem attischen Griechisch der Klassiker minderwertigen Koine-Griechisch der Kaiserzeit und mangelhaften Neutestamentlichen Griechisch, um die Bildungsferne der frühen Christen zu behaupten. Demgegenüber schreibt Thomas Paulsen: »Beispielhaft sei hier das aus heutiger Sicht absurde Verdikt des einflussreichen Altphilologen Eduard Norden (Kunstprosa II, 479f.) genannt, dass die Schriften des NT und ›der sog. apostolischen Väter nicht zur Literaturgeschichte gerechnet werden dürfen‹.« Paulsen betont, dass von einem eigenständigen sprachlichen Idiom der biblischen Texte im Verhältnis zu den paganen Texten der frühen Kaiserzeit nicht die Rede sein kann: Alle Autoren der Septuaginta und des Neuen Testaments schreiben in natürlich unterschiedlichen stilistischen Ausprägungen K[oine], ohne dass der

Christian Intellectual (Arbeiten zur Kirchengeschichte), Berlin /Boston 2020 [im Druck], geht mit vergleichbaren Argumenten so weit, den Verfasser der Apokalypse als einen der wichtigsten Intellektuellen des frühen Christentums zu beschreiben. 68 A. Deissmann, zitiert nach A. Weiß, Soziale Elite und Christentum. Studien zur OrdoAngehörigen unter den frühen Christen (Millennium-Studien 52), Berlin /Boston 2015, 8, Anm. 7.

292

Stefan Alkier

Attizismus nennenswerte Spuren in den neutestamentlichen Texten hinterlassen hätte. Alle genannten Texte zeichnen sich durch relative Schlichtheit der Sprache und Grammatik und einen überwiegend parataktischen Satzbau aus. Aus dieser Schlichtheit auf mangelnde literarische und sprachliche Fähigkeiten der Verfasser zu schließen, wäre aber verfehlt: zum einen ist zu bedenken, dass sicherlich leichte Verständlichkeit mit Blick auf Aussageintention und Zielpublikum angestrebt wurde: Auch und gerade literarisch Ungebildete sollten die Texte verstehen und daraus Nutzen ziehen können. Zum anderen zeigen Detailanalysen, dass selbst als besonders unbedarft geltende Autoren wie Markus durchaus zu stilistisch ansprechender Gestaltung in der Lage sind. Auch der rhetorisch durchgeformte Anfang des Lukas-Evangeliums zeigt, dass der Autor syntaktisch anspruchsvoll schreiben konnte, wenn er wollte. Und die berühmt-berüchtigten Grammatikverstöße des Apokalyptikers Johannes lassen sich fast ausnahmslos als Ausdruck eines Gestaltungswillens erklären, der eine möglichst große Übereinstimmung zwischen sprachlicher Form und Inhalt anstrebt. 69

Mittlerweile setzt sich als Ergebnis vieler Einzelstudien die Auffassung durch, dass wir uns die Christus-Anhängerinnen und -Anhänger und damit auch die potentiellen Rezipienten der Apk als Spiegelbild der Gesellschaft denken sollten: Die Diversität der kleinasiatischen Gesellschaft wie die des Imperium Romanum im Ganzen verbindet sich mit der Diversität christlicher Gemeinschaften und Individuen, die ein Teil dieser Gesellschaft waren. Die Rede von der ›Umwelt‹ des Christentums führt in jeder Hinsicht in die Irre und sollte daher vermieden werden. 70

Der Diognet-Brief dürfte näher an der historischen Wirklichkeit sein als die romantische Hypothese einer ungebildeten Unterschichtsreligion: Die Christen nämlich sind weder durch ein Land noch durch eine Sprache noch durch Sitten von den übrigen Menschen verschieden. Denn weder bewohnen sie irgendwo eigene Städte, noch bedienen sie sich irgendeiner abweichenden Sprache, noch führen sie ein auffälliges Leben. 71

Die Neubewertung des Koine-Griechisch und damit auch des Sprachniveaus neutestamentlicher Texte und ebenso die soziologische Forschung seit den 1970er-Jahren tragen erheblich dazu bei, die Bildung der ChristusAnhängerinnen und -Anhänger in einem anderen Licht zu sehen. So schreibt etwa Udo Schnelle: 69 Thomas Paulsen, Art. Koine, wibilex.de, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/ 200473/ (Zugriff: 01.07.2020). 70 S. Alkier/H. Leppin, Einleitung – Juden, Christen, Heiden?, in: S. Alkier/H. Leppin (Hg.), Juden – Heiden – Christen? Religiöse Inklusionen und Exklusionen im Römischen Kleinasien bis Decius, WUNT 400, Tübingen 2018, 1–17, hier: 7, Hervorhebung im Original. 71 Diogn. 5,1–4.

Gebildete Zeugenschaft

293

Kann man eine Bewegung als unliterarisch und indirekt bildungsfern klassifizieren, die bereits in den ersten 50 Jahren ihres Bestehens so viele Schriften und neue Gattungen geschaffen hat wie keine andere Religion in ihrer Anfangsphase? 72

Freilich partizipieren alle Hypothesen über den Bildungsstand der frühen Christen an den schon quellenbedingten Unwägbarkeiten und allgemeinen Problemen historischer Bildungsforschung im Imperium Romanum. 73 Eines aber lässt sich mit historischer Sicherheit sagen: Hätte dieser Text keine oder nur sehr wenige Leserinnen und Leser gefunden, wäre er nicht überliefert worden und hätte es erst Recht nicht zu einem Kandidaten normativer Kanonisierung geschafft. Aus seiner Erfolgsgeschichte lässt sich das Faktum schließen, dass er eine Leserschaft gefunden hat, die von diesem Text angesprochen wurde. Aus der dann greifbaren Rezeptionsgeschichte erfahren wir, dass sein Erfolg vor allem auf seiner pragmatischen Wirkung bezeugter Hoffnung basierte, alles Leid zu überwinden: Zum Buch der Katastrophen wurde die Apk erst in der späteren Wirkungsgeschichte. So kann die Auslegung bei aller heutigen Distanz zur Antike darauf verweisen, dass der kanonische Rang der Apk und damit ihre kirchliche Relevanz auf ihren Heilsszenen beruht. 74

Oder wie ich es in meinem Hörbuch »Die Nacht der Bibel« formuliert habe: Das letzte Buch der Bibel – die Johannesoffenbarung – ermutigt im Alltag der Welt, die so viel Angst und Schrecken erzeugt, zu träumen vom gemeinsamen Leben Gottes und seines Heilands mit allen Völkern. Johannes sieht ›Bäume des Lebens, die tragen zwölfmal Früchte, jeden Monat bringen sie ihre Frucht, und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker.‹ Mit den Augen des Johannes lässt sich zuversichtlich sehen, was war und was ist und was sein wird. 75

72 U. Schnelle, Die ersten 100 Jahre des Christentums 30–130 n.Chr., Wien u.a. 2015, 491f; vgl. P. Müller, Lesen, Schreiben, Schulwesen, in: K. Erlemann u.a. (Hg.), NTAK 2. Familie, Gesellschaft, Wirtschaft, Neukirchen-Vluyn 2005, 234–237, hier: 237: »Gleichwohl werden in den ntl. Schriften häufig die Verben lehren und lernen verwendet. Sie deuten an, dass sich das formierende Christentum von Anfang an als eine Lerngemeinschaft versteht.«; vgl. auch ZNT 21 (2008), Themenheft Lernen und Lehren. 73 Vgl. u.a. H.-I. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, Freiburg /München 1957; J. Christes/R. Klein /C. Lüth (Hg.), Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike, Darmstadt 2006; W.V. Harris, Ancient Literacy, Cambridge 1989; T. Vegge, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus (BZNW 134), Berlin /New York 2006. 74 Karrer, Johannesoffenbarung (1,1–5,14), 161. 75 Hörbuch Nacht der Bibel, gelesen von P. Schröder, B. Auer, P. Lohmeyer, Track 58. Das Bibelzitat ist Apk 22,2b, Lutherübersetzung 2017.

294

Stefan Alkier

Der Text der Enthüllungen des Johannes 76 verleiht Augen, Ohren und Verstand und hat daher das Potenzial, tragfähige, lebbare, durchdachte Zeugenschaft auszubilden. Das möchte ich nun abschließend mit wenigen Pinselstrichen skizzieren.

b)

Hören, Sehen, Umdenken, Bezeugen

Die Apk verlangt ihren Rezipienten eine aufmerksame kreative Mitarbeit ab, zu der sie nicht nur eingangs ausdrücklich aufgefordert werden, sondern immer wieder. Das Erste, was die Apk lehrt, ist zu hören: »Reich beschenkt der Lesende und die die Worte der Prophetie Hörenden und die das in ihr Geschriebene Beachtenden: der Augenblick nämlich – nahe.« 77 (1,3) Die Sendschreiben in Kap. 2 und 3 schärfen ein: »Wer ein Ohr hat, soll hören, was der Geist den Versammlungen sagt.« (2,7.11.17.29; 3,6.13.22; vgl. 13,9) Dieses Einschärfen des rechten Hörens erfolgt in jedem der sieben Sendschreiben und verlangt eine konzentrierte und erwartungsvolle Rezeptionshaltung. Diese wird mit dem Geschenk des »Wassers des Lebens« belohnt werden, wie es am Ende der Apk in Aussicht gestellt wird: »Und der Geist und die Braut sagen: ›Komm!‹ Und der Hörende soll sagen: ›Komm!‹ Und der Dürstende soll kommen, der Wollende soll nehmen Wasser des Lebens als Geschenk.« (22,17) Johannes selbst wird als Exempel des rechten Hörens inszeniert. Immer wieder sagt er: »ich hörte« (1,10; 4,1; 5,11.13; 6,1.3.5ff; 7,4; 8,13; 9,13.16; 10,8; 12,10; 14,2; 14,13; 16,1.5.7; 18,4; 19,1.6; 21,3). Johannes ist in der Apk eben nicht nur der Seher, sondern auch der ideale Hörer und als Hörer-Seher das Vorbild der angestrebten Rezeption des Textes. In dieser textpragmatischen Hinsicht werden die Grammatikverstöße der Apk zu einer Schule des aufmerksamen Hörens. Sie werden nämlich überwiegend in den Dienst einer theologischen Erkenntniskritik gestellt, die, wie bereits oben ausgeführt, die Unzulänglichkeit menschlicher Sprache für die Beschreibung Gottes und seiner himmlischen Welt in Rechnung stellt. Die aufmerksam Hörenden werden daher gleichermaßen zum rechten Sehen angeleitet: »Sieh« (1,17f.; 2,10.22; 3,8f.20; 4,1f.; 5,5; 6,2.5.8; 7,9; 9,12; 11,14; 12,3; 14,1.14; 16,15; 19,11; 21,3.5; 22,7.12). Auch sie sollen zu Hörern und Sehern werden, was den extensiven Gebrauch der Ekphrasis pragmatisch erklärt. Es ist vielfach bemerkt worden, dass die Bilder, die

76 So die Übersetzung von S. Alkier und T. Paulsen, vgl. dies., Die Apokalypse des Johannes neu übersetzt. 77 Alle Zitate der Apk stammen aus der Neuübersetzung von Alkier /Paulsen, Die Apokalypse des Johannes neu übersetzt.

Gebildete Zeugenschaft

295

die Apk malt, kaum zu zeichnen sind. Sie gleichen eher Traumbildern, die sich immer wieder verschieben und sich der Feststellung entziehen. Sehen und Hören sollen kombiniert werden wie in 3,20: »Sieh: Ich stehe an deiner Tür und klopfe. Wenn einer meine Stimme hört und öffnet die Tür, werde ich hineingehen zu ihm und Mahl halten mit ihm und er mit mir.« Und auch hier ist es wieder Johannes selbst, der als Vorbild des Sehen-Hörens inszeniert wird: »Und ich sah und ich hörte« (5,11; vgl. 22,8). Die Rezipienten des Textes sollen den Seher-Hörer Johannes nachahmen und auf diese Weise wie er selbst zu Zeugen werden, mit ihrem eigenen Leben Zeugnis von der Wahrheit der »Worte der Prophetie« (1,2) ablegen. Das können Sie aber nur, wenn das Sehen-Hören verständig (vgl. 13,18; 17,9) ist, seine Grenzen wahrnimmt und dennoch zum Umdenken führt. Allen und sogar auch solchen, die sich wie »Isebel« auf Irrwegen befinden, eröffnen die Enthüllungen des Johannes die Chance zum Umdenken (vgl. 2,21f). Das ist das große Heilsversprechen der Apk: Allen »aus jeder Bevölkerung und Stamm und Sprache und Volk« (14,6) gilt diese Möglichkeit, an den Enthüllungen des Johannes zu partizipieren, sehen und hören zu lernen, selbstkritisch und reflektiert umzudenken und zum Zeugen zu werden. Umdenken (µετανοὲω, 2,5.16.21f.; 3,3.19) bildet zusammen mit Sehen und Hören das pragmatische Leitmotiv der Leserlenkung der Apk. Alles aber zielt darauf, Johannes in seiner Funktion als Zeuge des Zeugen gleich zu werden, »der bezeugte das Wort Gottes und die Zeugenschaft Jesu Christi, wieviel er gesehen hatte.« (1,2) Damit wird das Modell der Zeugenschaft letztlich christologisch fundiert. Jesus Christus ist der Zeuge Gottes schlechthin. Seine Zeugenschaft war konsequent und kannte keine Grenzen. Seine wahrhaftige und wirksame Zeugenschaft, die das Leiden bis hin zum Tod am Kreuz auf sich nahm (vgl. 1,7b; 11,8b), wird durch die Enthüllung des Johannes vor Augen und Ohren geführt als Vorbild für alle, die wie Johannes sich als Diener des auferweckten Gekreuzigten in seinen Herrschaftsbereich hineinstellen lassen und damit selbst zu Zeugen werden (vgl. 1,2). Diese Zeugenschaft bewahrt keineswegs vor Leiden und Tod. Jesus Christus, »der Zeuge, der treue und wahre« (3,14b), wurde grausam getötet (vgl. 1,7b). Aber die Macht der gegen ihn gerichteten Gewalt behielt nicht das letzte Wort. Der hingerichtete Zeuge (vgl. 1,7b), das geschlachtete Böcklein (vgl. 5,6), bekam von Gott, durch dessen kreativen Geist, neues Leben geschenkt und Macht, die alle irdischen Herrscher übertrifft. Der von den irdischen Königreichen Getötete wird als Auferweckter zum »Herrscher der Könige der Erde« (1,5) eingesetzt. Weil der getötete Zeuge Jesus Christus der »Erstgeborene der Toten« (1,5) ist, ist er zugleich selbst das Zeugnis von Gottes unbegrenzter Schöpfungskraft, das allen nachfolgenden Zeugen die Zuversicht gibt, dass ihr Zeugnis, selbst wenn es wie bei seinem Zeugen Antipas in den

296

Stefan Alkier

Tod mündet (vgl. 2,13), wahr ist und die Zeugen selbst nicht einmal von der Macht des Todes ausgelöscht werden können, sondern neues Leben durch den Geist Gottes erhalten (vgl. 11,11). Jesus Christus, der getötete, auferweckte und erhöhte Zeuge Gottes, dient als unüberbietbares Vorbild aller ihm folgenden Zeugen und stiftet durch diesen Zusammenhang von Tod, Auferweckung und Macht den wirksamen Trost sowie den hermeneutischen Schlüssel für die Interpretation der Leiden derer an, die sich auf den Weg der Zeugenschaft begeben, aber dabei auch Unheil erfahren. Der Zusammenhang von Zeugenschaft, Leid, Auferweckung und Anteilhabe an der Macht Gottes wird zum Modell des je eigenen Welt- und Selbstverständnisses in der durch die Enthüllungen des Zeugen Johannes vermittelten Mimesis der Zeugenschaft Jesu Christi. Abstract The essay demonstrates the educational hypothesis that in the Apocalypse the poetically artistically created connection between testimony, suffering, resurrection and participation in the power of God becomes the model of the individual’s understanding of the world and himself in the mimesis of the testimony of Jesus Christ conveyed by the revelations of the witness John. First, the attempt to disavow Apk, which is based on ideological and anti-Judaistic arguments, is traced. In contrast, competence analysis is presented as a textrelated method of New Testament Introduction and the latest research reveals the linguistic, poetic, intertextual and theological competence of the author of the Apk. In text-pragmatic terms, the Apk’s grammar violations become a school of attentive listening. The recipients of the text should imitate the visionary hearer John and in this way, like him, bear witness with their own lives to the truth of the “words of this prophecy” (1:3). Apk’s great promise of salvation offers all recipients to participate in the revelations of John, to learn to see and hear, to rethink self-critically and reflectively and to become witnesses of the witness Jesus Christ. Rethinking (µετανοὲω, 2:5.16.21f.; 3:3.19) together with seeing and hearing forms the pragmatic leitmotif of the reader guidance of the Apk. Prof. Dr. Stefan Alkier, geb. 1961, ist Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität zu Frankfurt am Main.

JBTh 1 (1986)–35 (2020)

JBTh 1 (1986) Einheit und Vielfalt Biblischer Theologie 252 Seiten, 3. Auflage 1991, Paperback ISBN 3-7887-1229-5

JBTh 2 (1987) Der eine Gott der beiden Testamente 267 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-1266-X

JBTh 3 (1988) Zum Problem des biblischen Kanons 294 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-1288-0

JBTh 4 (1989) »Gesetz« als Thema Biblischer Theologie

JBTh 9 (1994) Sünde und Gericht 396 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-1500-6

JBTh 10 (1995) Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments 272 Seiten, 2. Auflage 2001, Paperback ISBN 3-7887-1544-8

JBTh 11 (1996) Glaube und Öffentlichkeit 272 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-1605-3

JBTh 12 (1997) Biblische Hermeneutik

360 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-1321-6

432 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-1642-8

JBTh 5 (1990) Schöpfung und Neuschöpfung

JBTh 13 (1998) Die Macht der Bilder

297 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-1363-1

349 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-1685-1

JBTh 6 (1991) Altes Testament und christlicher Glaube

JBTh 14 (1999) Prophetie und Charisma

382 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-1385-2

303 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-1749-1

JBTh 7 (1992) Volk Gottes, Gemeinde und Gesellschaft

JBTh 15 (2000) Menschenwürde

446 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-1433-6

397 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-1800-5

JBTh 8 (1993) Der Messias

JBTh 16 (2002) Klage

396 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-1465-4

429 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-1863-3

298

JBTh 1 (1986)–35 (2020)

JBTh 17 (2002) Gottes Kinder

JBTh 27 (2012) Geben und Nehmen

439 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-1920-6

461 Seiten, Paperback ISBN 978-3-7887-2575-4

JBTh 18 (2003) Das Fest: Jenseits des Alltags

JBTh 28 (2013) Zeit

487 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-1997-4

384 Seiten, Paperback ISBN 978-3-7887-2711-6

JBTh 19 (2004) Leben trotz Tod

JBTh 29 (2014) Liebe

477 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-2063-8

399 Seiten, Paperback ISBN 978-3-7887-2869-4

JBTh 20 (2005) Der Himmel

JBTh 30 (2015) Mitleid und Mitleiden

484 Seiten, Paperback ISBN 3-7887-2103-0

400 Seiten, Paperback ISBN 978-3-7887-2936-3

JBTh 21 (2006) Gott und Geld

JBTh 31 (2016) Der Streit um die Schrift

348 Seiten, Paperback ISBN 978-3-7887-2165-7

410 Seiten, Paperback ISBN 978-3-7887-3051-2

JBTh 22 (2007) Die Macht der Erinnerung

JBTh 32 (2017) Beten

494 Seiten, Paperback ISBN 978-3-7887-2229-6

383 Seiten, Paperback ISBN 978-3-7887-3256-1

JBTh 23 (2008) Heiliges Land

JBTh 33 (2018) Sexualität

320 Seiten, Paperback ISBN 978-3-7887-2301-9

320 Seiten, Paperback ISBN 3-978-7887-3447-3

JBTh 24 (2009) Heiliger Geist

JBTh 34 (2019) Natur und Schöpfung

456 Seiten, 2. Auflage 2015, Paperback ISBN 978-3-7887-2376-7

368 Seiten, Paperback ISBN 978-3-7887-3497-8

JBTh 25 (2010) Wie biblisch ist die Theologie?

JBTh 35 (2020) Bildung

340 Seiten, Paperback ISBN 978-3-7887-2453-5

305 Seiten, Paperback ISBN 978-3-7887-3500-5

JBTh 26 (2011) Das Böse 440 Seiten, Paperback ISBN 978-3-7887-2538-9

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