Ausflüge: Einundzwanzig Essays, die Geschichte, die Literatur und die bildende Kunst betreffend 9783205790433, 9783205784753

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Ausflüge: Einundzwanzig Essays, die Geschichte, die Literatur und die bildende Kunst betreffend
 9783205790433, 9783205784753

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Richard Bletschacher

ausflüge einundzwanzig essays Geschichte, Literatur und bildende Künste betreffend

Böhlau Verlag Wien  Köln  Weimar

Gedruckt mit Unterstützung durch das Amt der Niederösterreichischen Landesregierung und das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78475-3

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

© 2010 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau.at http://www.boehlau.de Druck: General Druckerei, Szeged

inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.

Versuch über die Esel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

2.

Von der Kunst des Zeichnens . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

3.

Der Bau der Pyramiden des Alten Reiches . . . . . . . . . . 41

4.

Engel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

5.

Anaximandros und die milesische Philosophie . . . . . . . . 62

6.

Der Evangelist Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

7.

Dichtung, was ist das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

8.

Shakespeares Sonette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

9.

Von der Kunst der Darstellung auf dem Elisabethanischen Theater . . . . . . . . . . . . . . 140

10.

Putten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

11.

Carlo Goldoni, zur 300. Wiederkehr seines Geburtstages . . . 175

12.

Georg Forster, der Seefahrer, Weltbürger und Schriftsteller . . 195

13.

Schillers Fragment „Demetrius“ . . . . . . . . . . . . . . . . 203

14.

Die Farbe Schwarz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

15.

Georges Rouault, der Maler . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

16.

Über das Sammeln und Bewahren . . . . . . . . . . . . . . 232

17.

In memoriam Leopold Pötzlberger . . . . . . . . . . . . . . 242

18.

Von der Schönheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

19.

Das Theater des Albert Camus. . . . . . . . . . . . . . . . . 259

20.

Vom Träumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

21.

Die ewigen Fragen und die neuesten Nachrichten . . . . . .

290

vorwort

Man hat mich in all den Jahren, in denen ich Bücher schrieb und veröffentlichte, oft darauf verwiesen, dass Käufer und Leser sich mehr und mehr an die Lehrbücher halten, das frei Erfundene oder aus Fantasie Gewobene aber nur sehr zögernd erproben. Man will, so scheint es, doch etwas Gewisses nach Hause tragen und auf die Regale stellen. Man will mit dem Finger auf etwas deuten oder gar klopfen können. Man will sich zurechtfinden in der immer vielgestaltiger erscheinenden Welt. Und man bedenkt nicht, dass fast alles, was gestern noch in praktischen Handbüchern zu lesen und zu lernen stand, morgen schon von anderen Schriften widerlegt sein wird. Dass ein gut gesponnenes Fantasiegewebe hingegen manchem Stoß oder Schlag der sogenannten Realität widersteht und dass keine Wirklichkeit je entstanden ist, die vorher nicht als Ahnung oder Wunschtraum ins Blaue entworfen worden und nach und nach von Wind und Wetter verfestigt und gehärtet auf die Erde herabgefallen wäre. Da gibt es nun eine literarische Form, die beide Bereiche zusammenführt. Die habe ich eben darum als unrein in meiner Jugend gemieden und erst in späteren Jahren geübt. Und wie weit ich sie am Ende hin und wieder auch gemeistert habe, wird man an diesem Buch ersehen. Sie ist nicht eben alt, lässt sich zurückführen auf einige französische und dann auch englischsprachige Autoren. Und hat sich seither auch in den mittleren Ländern unseres Kontinents immer beliebter gemacht. Denn sie verbindet das Sachkundige mit dem Gefälligen, das Belehrende mit dem Unterhaltenden, die Wissenschaft mit der Literatur, und dies, ganz ohne Satz für Satz den Nachweis zu führen, woher das Wissen stammt, von dem sie sich nährt. Sie schleppt weder Fußnoten noch wissenschaftlichen Anhang mit sich, gibt sich auf solche Weise schlank und beweglich und macht, wenn sie gelungen ist, manches Wissenswerte hantierbar. Ich spreche, der Leser hat es erraten, vom Essay, zu Deutsch, vom Versuch. In dem Wort liegt unverborgen die Tätigkeit des Suchens. Darum bemüht sich auch solch ein Essay nicht um die Sicherung eines Wissensbesitzes, sondern will ein Hinweis sein, eine Ermunterung, wie man zu diesem 7

ausflüge vorwort

gelangen könnte. Er zeigt den Weg, aber verbürgt nicht das Erreichen des Ziels. Das Ziel allen Schreibens nämlich ist, auch wenn es weit hinausgeworfen scheint, immer die Erkenntnis der condition humaine oder, wenn man es genauer will, des eigenen Ich. Untersuchungen über disparate Themen sind, um mit Ernst Cassirer zu sprechen, meist nichts anderes als „verschiedene Straßen, die zu einem gemeinsamen Mittelpunkt führen“. Der hier nun vorgelegte Band ist der zweite und voraussichtlich auch der letzte meiner gesammelten Essays. Der erste hat Musik und Musiktheater zum Thema und damit das Wissens- und Tätigkeitsgebiet, auf dem ich mich zeitlebens beruflich getummelt habe. Da war die Rede von Musik und Theater der Antike, des Mittelalters, des Barock und der Gegenwart. Da wurde berichtet vom Instrumentenbau, vom Gesang, von der Geschichte des Orchesters und des Dirigierens, vor allem aber auch von meiner eigenen Zusammenarbeit mit Komponisten und Interpreten. Und es zeigte sich, dass die Lücken sehr viel weiter waren als dick die Fäden meines Netzes. Und dennoch, so glaube ich, hat dieses Netz einiges hervorheben können, das die Mühe des Auswerfens wert war, zumal wenn man Wien, den Raum, in dem ich lebe, als Zentrum meiner Betrachtungen gelten lässt. Um wie viel gewagter aber ist es nun, wenn ich in diesem zweiten Band die Versuche folgen lasse über Gegenstände, für die ich nicht beruflich ausgebildet bin. Ich stehe ihnen gegenüber wie jeder, der sich die Mühe macht, nachzudenken über die Welt, in der er lebt, und über das, was sie bestimmt und bewegt. Immerhin habe ich auch hier Grenzen eingezogen, die ich nicht überschreiten will. In diese Grenzen hat mich nicht so sehr meine Bescheidenheit gezwungen als vielmehr meine Unwissenheit. Wie man erkennen wird, habe ich die geografischen Bereiche Europas und die der nachbarlichen Mittelmeerländer nicht verlassen. Und habe auch hierin mich auf die Themen der Geistes- und Kulturwissenschaften beschränkt. Das Feld bleibt noch immer unüberschaubar groß, denn der zeitliche Rahmen meiner Betrachtungen reicht von vorgeschichtlichen über altägyptische, biblische, griechische und frühchristliche Epochen bis herauf in die Gegenwart. Die Auswahl scheint recht willkürlich und ist es wohl auch, da sie Allgemeines mit Persönlichem zusammenbindet. Ich bin kein Freund der geschlossenen Systeme, die alles aus einem einzigen Grund zu erklären suchen. Auch wenn man Raum und Zeit sowie Masse und Energie in ein berechenbares Verhältnis zueinander zu bringen vermag, so bleibt doch das unentschlüsselte 8

vorwort

Rätsel des Bewusstseins in uns: das umgrenzte Ich. Vieles mag man durch Messen und Zählen erforschen, vieles aber bleibt dem verschlossen. Und aus dieser Einsicht kommt in diesem Buch kein Beitrag zur Theorie und Geschichte der Kultur unseres Lebensraumes zustande. Wer sorgsam liest und zusammenzählt, wird jedoch hier und dort zumindest die Brüche erkennen, die Zeitenwenden, die hinter den ausgewählten Fragmenten aufscheinen. Er wird an den schmalen Einblicken, die vermittelt werden, erkennen, dass wir heute wieder vor Verwerfungen stehen wie kaum ein Zeitalter zuvor. Der Autor, der über solche Entfernungen einen Bogen spannen wollte, müsste eingestehen, dass er seine Kräfte überschätzt. Er kann ein Brennglas richten auf einige wenige oft nicht eben bedeutsame Momente. Von einem in einer Wölbung zusammenfassenden Spiegel hätte er nichts weiter als Splitter vorzuweisen. Aber es handelt sich ja, wie schon erwähnt, hier nur um einen Versuch, unterteilt in eine Anzahl von einundzwanzig Versuchen. Und was die Kenntnisse des Autors nicht vermögen, das mag die Fantasie des Lesers ergänzen. Den Titel „Ausflüge“ habe ich gewählt, um anzudeuten, dass ich meinen Gedanken gestattet habe, innerhalb des abgesteckten Kreises frei zu fliegen und sich niederzulassen, wo es ihnen beliebt. Nicht immer nur auf hohen Gipfeln. Und ich konnte darauf vertrauen, dass sie wieder zurückkehren würden dorthin, von wo sie ausgeflogen sind: zu mir selbst und meinen Wünschen und Sorgen, die am Ende vielleicht doch keine anderen als die aller denkenden Menschen sind. Man erwarte darum keine sorgsam ausgerüsteten Expeditionen. Man erwarte keine Forschungsergebnisse, Schaustücke und Beweise. Wer Versuche unternimmt, seien es Flugversuche oder Ausflüge ins Weite, der sucht sich selbst zu erproben. Und so wird man mir auch das gelegentliche Niederlassen meiner Gedanken in bescheidenen Tälern oder heiteren Gefilden nicht verargen, als welche die Essays über die Esel, über die Farbe Schwarz oder über die Putten gewertet werden sollen. Auch sie gehören zum Spektrum des Regenbogens, auch sie können uns Auskünfte geben über den, der schaut und sucht. Denn wie wir aus den neuesten Erkenntnissen der Naturwissenschaften gelernt haben, von denen hier weiter keine Rede mehr sein soll, verändern die Blicke des Betrachters die Gegenstände der Betrachtung. Die einzelnen Essays sind nach der Zeitenfolge geordnet und so steht eben die Zähmung der Esel vor der in frühen Höhlenzeichnungen erstmals 9

vorwort

dokumentierten Kunst der Zeichnung und die wiederum vor den Pyramiden der Ägypter und so fort bis zu den neuesten Nachrichten unserer Tage. Tagespolitischer Stellungnahmen habe ich mich enthalten, wenn auch nicht wohlweislich, so doch in begründeter Absicht. Wenn der eine oder andere Text in früheren Jahren schon einmal veröffentlicht wurde, so habe ich hier nicht mehr darauf verwiesen, da ich allesamt für ihre Eingliederung in dieses Buch noch einmal überdacht und überarbeitet habe. Sie sollen weiterhin auch nur in dieser Form Geltung behalten. Einzig, dass der Essay über Shakespeares Sonette die Vorrede bildete zu meinen 1995 im Wiener Deuticke Verlag publizierten Übersetzungen und dass der Text über Albert Camus einmal Teil meiner Dissertation über das Theater des Existenzialismus aus dem Jahre 1958 war, will ich nicht verschweigen. Aber auch diese beiden wurden, das versteht sich, durchgesehen und redigiert. Für den Buchumschlag habe ich ein Ölbild gewählt, das ich im Jahre 2006 gemalt habe. Es stellt den schneebedeckten Arlberg dar. Auf dessen Höhe entspringt der Lech, der Fluss, an dessen Ufern ich geboren wurde und aufgewachsen bin. Von dort bin ich einst ausgeflogen, fast um die ganze Welt, kehre aber immer wieder dorthin zurück. R. B.

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versuch über die esel

Ohne Esel keine Pyramiden

W

as werden Sie, geehrte Leser, von einem Autor halten, der anstatt, wie es sich gehört, über Gott und die Welt, über Tod und Teufel oder über Moraltheologie und Marxismus zu schreiben, einen Essay über die Esel verfasst und damit vorgibt, das Wissensfeld der Asinologie zu erweitern? Werden Sie ihn, um die Sache abzukürzen, für einen ebensolchen halten? Oder werden Sie – pädagogisch richtiger und ökonomisch einträglicher – den Rat erteilen, der Autor möge, wenn er schon keinen zweibeinigen, sondern einen vierbeinigen Gegenstand für seine Betrachtungen wählen müsse, doch besser das edle Pferd zum Vorwurf nehmen oder den geschmeidigen Leoparden? Nein, was immer Sie sagen werden, geneigter Leser: der Esel muss das Thema sein. Störrisch beharrt der Autor darauf. Er hat sich sein Leben lang oft und oft den Vergessenen oder Verachteten zugewendet und dabei wohl vorausgeahnt, dass er dereinst selbst zu diesen gerechnet wird. Das aber hat ihn wenig gekratzt, denn er hat längst gesehen, dass nach Ruhm und Ehren nur giert, wer sonst nichts hat, was ihm bedeuten kann, dass er nicht vergeblich gelebt und gearbeitet hat. Nun ja, werden Sie sagen, wenn es denn einer der vier Bremer Stadtmusikanten unbedingt sein soll, so wären auch der Hund oder die Katze einer Betrachtung wert, die dem Menschen weit näher stünden oder vertrauter bei ihm wohnten. Recht gut, ist die Antwort, aber wem verdanken sie mehr, diese Menschen: den Mitläufern und Mitfressern oder den von Tisch und Bett getrennten, genügsam auf Stroh schlafenden Fronarbeitern, den geduldigen und genügsamen Dienern des Menschen: den Eseln? Ein rechter Esel kennt keine Selbstsucht. Er hat seit Urzeiten, man rechnet hier mit vielen Jahrtausenden, alles, was die Menschen bewegt haben wollten, auf seinem Rücken getragen. Ohne seine unermüdliche Hilfe wären keine Mauern erbaut, keine Gewürze in unsere Suppen gerührt und keine Schätze gehortet worden. Ohne den Esel und seine nicht minder gutmütigen Abkömmlinge, den Maulesel und das Maultier, wären die Berge 11

ausflüge

nicht überwunden, wäre das Getreide nicht gedroschen und das Holz nicht in die Hütten geschleppt worden. Der Esel war das einzige Tier, das, wie man weiß, dem Menschen aus dem Paradies gefolgt ist. Um einen Sack mit Äpfeln heimlich davonzutragen, werden Sie vermuten. Und können den Verdacht nicht beweisen. Was man beweisen kann, ist hingegen, dass der Lohn für des Esels Treue war, dass man ihn zwang, den Pflug über den Acker zu ziehen und nach und nach die ganze Erde umgraben und umwälzen zu helfen. Und dass man ihn endlich, wie es heute noch geschieht, aus dem Stall treibt und dem Hungertod aussetzt oder dass man ihn in die Löwenkäfige wirft, wenn er zu keiner Plackerei mehr zu gebrauchen ist. Ich verstehe, dass diese Welt nicht jedem gefällt. Aber wenn sie geworden ist, wie sie nun ist, soll man den Esel darum tadeln? Hätte er nicht viel lieber, statt in der Kornmühle im Kreis zu trotten, über die freie Steppe geradeaus rennen wollen? Hätte er all den Plunder oder, wie wir es zu nennen belieben: all unser Hab und Gut, anstatt es zu unseren Zielen zu schleppen, nicht ebenso gern an den Rand eines Kraters getragen, um es dort von sich zu schütteln? Er selbst hat nichts von all dem begehrt, was man ihm aufgebunden hat. Er war von jeher nicht nur geduldig, er war auch genügsam. Was man ihm an Hafer, Heu oder Gras zu fressen gab, das war ihm genug. Ihm hat nicht wie seinem verwöhnten Vetter, dem Pferd, eine freundliche Hand den Hals geklopft oder die Mähne gekrault, wenn er getan hatte, was man verlangte. Er hat „Iah!“ zu allem gesagt und hat uns nie wissen lassen, was er wirklich gemeint hat. Soll man ihn also tadeln als willfähriges Werkzeug unserer Schandtaten auf dem Rücken der Erde? Kann man es dem Wind verübeln, dass er ein Piratenschiff ebenso leicht übers Wasser trägt wie einen friedlichen Kreuzer? Genug der Entschuldigungen: der Esel hat es längst schon verdient, zum Gegenstand einer investigativen Betrachtung zu werden. Da ich dies nun also entschieden habe, lasse ich die lange Vorrede hier enden und beginne, wie so viele Essayisten schon ihre Essays begonnen haben: ich zitiere aus einem Konversationslexikon, was man in den Schreibstuben und an den Computern über die Esel zu wissen glaubt. Da steht nun also zu lesen, die Esel seien Huftiere aus der Familie der Pferde, von diesen nicht nur durch die geringere Größe, sondern auch durch die längeren Ohren unterschieden. (Das mit den Ohren konnten sie sich wieder einmal nicht 12

versuch über den esel

verkneifen, die Redakteure und Redaktricen.) Zwei Arten von Eseln seien zu unterscheiden: der afrikanische Wildesel, dessen Nachkomme unser allseits bekannter Hausesel sei, und der asiatische Halb- oder Pferdeesel, der, von Wilderern schon stark dezimiert, sich noch hier und da in den Steppen des mittleren Asien tummle. Man verzeihe mir, wenn ich hier den Informationsfluss unterbreche und eine kleine Bemerkung einschalte, die den Esel als Beutetier und Nahrung fleischfressender Großsäuger betrifft. Während aber das Fleisch des Esels, als eines nicht nur nützlichen, sondern auch geheiligten Tieres für die alten Ägypter unantastbar und damit auch unauffressbar war, berichten die Lexikografen von asiatischen Wilderern, die sich nicht scheuen, Esel zu jagen, zu erlegen, zu zerteilen, zu braten und zu verzehren. Man weiß auch, wenn man seinen Xenophon wirklich gelesen hat, dass in Babylon seinerzeit das Wildeselfleisch als besondere Delikatesse geschätzt wurde. Und es wollen die Gerüchte nicht enden, dass selbst heutzutage das aus der tatarischen Tiefebene stammende Kulturvolk der Magyaren ... Nein, ich kann und will es nicht glauben! Kehren wir also zurück zum geraden Pfad unseres Berichtes, der sich allein an beglaubigte Tatsachen hält. Mit dem Pferd nun also sei der Esel, so heißt es in Meyers Konversationslexikon weiter, immerhin so weit noch verwandt, dass man das eine mit dem anderen kreuzen könne. Eine Kreuzung zwischen einem Hausesel und einer Pferdestute ergebe einen sogenannten Maulesel, eine Kreuzung zwischen einem Hengst und einer Eselin ergebe ein Maultier. Warum diesen beiden Eselssprossen so demonstrativ ein Maul angehängt wird, findet man nicht näher begründet. Es ist wohl eher der Dummheit als der Bosheit der Übersetzer zuzuschreiben. Die nämlich haben das Maul des schuldlosen Tieres irrtümlich von dem ähnlichen Laut seines lateinischen Namens „mulus“ hergeleitet. Aber die Dummheit, die so oft dem Esel zum Vorwurf gemacht wird, soll gerade von mir nicht weiter verfolgt werden, zumal sie offenbar einen gasförmigen Aggregatzustand hat, überall eindringt und auch vor den Türen von Essayisten nicht immer haltmacht. Wer für diese einst ein gutes Wort einlegen wird, steht dahin. Den Esel immerhin hat kein Geringerer als Leonardo da Vinci verteidigt mit der Bemerkung, dass er klug genug sei, um, wenn er eine Quelle aufgestört und getrübt finde, enthaltsam seinen Durst so lange zu zähmen, bis sich das Wasser von selbst wieder beruhigt und gereinigt habe. Kann man von der 13

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schreibenden Zunft immer das Gleiche behaupten, frage ich Sie? Oder von manchen Rezensenten gar, die sich auf die trübsten Quellen stürzen, um ja die Ersten zu sein, die ihren Rüssel dareintauchen? Doch weiter im Text. Maultier und Maulesel ihrerseits, steht zu lesen, seien nicht mehr fortpflanzungsfähig. Eine gewiss schmerzliche biologische Tatsache, die einem viel zu denken gäbe, wenn man geneigt wäre, sich in die Pläne der Schöpfung oder auch nur in das Gefühlsleben eines zur Kinderlosigkeit verurteilten Huftiers zu versenken. Das eine wie das andere ist uns ebenso unerforschlich wie der Inhalt einer magyarischen Salami. Wenn wir das lexikalische Wissen nun zur Kenntnis genommen haben, so können wir doch nicht umhin zu erspüren, dass wir damit dem durch Erfahrung und Belehrung gewonnenen Begriff, den wir uns gemeinhin vom Wesen eines Esels machen, kaum näher gekommen sind. Der Esel ist uns hierzulande so sehr vertraut, dass wir mit seiner afrikanischen oder asiatischen Herkunft oder gar mit seiner vom Menschen ersonnenen und betriebenen Verquickung und Vermischung mit dem Pferd uns nicht wirklich weiter bekannt machen wollen. Eine solche aberratio naturae als Familienplanung wäre dem Esel selbst wohl nie in den Sinn gekommen. Man sieht an den Ergebnissen dieser gewiss nur widerwillig eingegangenen Per vertierung, dass der Esel sich einem solchen Unter- oder Überfangen immer wieder entzieht und bleiben will, was er ist: ein Esel. Man lasse sich von diesem Beispiel belehren, dass es einem jeden, ob sizilianischem Esel oder andalusischen Warmbluthengst, überlassen sein soll, sich selbst zu verwirklichen und fortzupflanzen in der ihm vererbten Gestalt und mit den ihm bestimmten Talenten. Alle darüber hinaus zielenden Versuche entspringen der menschlichen Hybris. Unfruchtbarkeit ist die solcher Selbstüberhebung auferlegte Strafe. Nicht allein die Lexikografen, sondern auch die uns in vielem überlegenen Ägypter und Griechen haben in ihren göttlichen oder mythischen Wesen so manches erdacht an staunenswerten Verquickungen und Vermischungen unvereinbarer Lebensformen. Die jedoch sind allesamt, ob Sphingen, Tragelaphen, Sirenen oder Kentauren, wie man zu wissen meint, unfruchtbar und ohne Nachkommen geblieben. Nicht so der schlichte, störrisch auf seiner Eigenart beharrende Esel. Ihm wird eben darum auch eine beachtenswerte Zeugungskraft nachgerühmt, so dass nicht nur die Göttin Titania, wenn man dem nicht immer vertrauenswürdigen Autor des „Sommernachtstraum“ glauben darf, sich in einen Esel verliebt 14

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haben soll, sondern dass, wenn man dem weit sachkundigeren, weil selbst in einen Esel verwandelten, Apuleius glaubt, auch eine vornehme griechische Dame den durch seine Metamorphose in Kraft und Ausdauer gestärkten Dichter in ihr Bett gezogen hat, um sich seiner unermüdlichen Dienstbarkeit zu erfreuen. Leser und Autor wissen von ähnlichen Verquickungen etwa der Prinzessin Europa oder der kretischen Königin Pasiphae mit einem Stier. Wie also sollten sie sich wundern, dass einem Esel etwas Ähnliches widerfahren sein könnte? Und doch schildern die Autoren den einen Fall mit mythologischem Ernst, den anderen hinter vorgehaltener Hand. Achten sie denn den struppigen Esel geringer als das gehörnte Rindvieh mit dem glänzenden Fell? Gilt hier der Gleichheitsgrundsatz nicht mehr? Dekretiert hier ein Vorurteil quod licet bovi non licet asino? Und warum, so darf man fragen und damit ein weiteres Kapitel eröffnen, warum wird nur immer von der Länge der Ohren gesprochen oder geschrieben, wenn man die charakteristischen Merkmale eines Esels erwähnt? Eben auf diese Ohren sollte nicht verächtlich gedeutet werden. Dass gerade die Ohren des Esels den Menschen zum Gespött dienen mussten, kann einen nur verwundern. Hat denn einer jemals, wenn er ein Buch oder einen Klavierauszug beiseitegelegt hat, ein anderes als ein Eselsohr zwischen zwei Seiten getan, die er bald wiederfinden wollte? Wer oder was sonst hätte so treu gewacht darüber, dass kein Buchstabe verloren gehe, keine Seite überschlagen werde? Wer oder was sonst hätte den Leser darauf beharrlich verwiesen, das Erreichte zu überdenken, ehe er sich aufmachte weiterzuforschen? Wer als ein Esel? Und da ein Esel nicht stets bei der Hand ist in unseren motorisierten Zeiten, begnügt man sich in Gedanken an ihn mit einem Eselsohr. Eselsohren schmückten einst auch das Haupt eines der berühmtesten Herrscher der alten Welt, das Haupt des Königs von Phrygien. Midas war sein Name, und er verwandelte alles, was er berührte, in Gold. Mag sein, dass der alte Märchendichter an ihn dachte, als er den Dukaten scheißenden Esel-streck-dich, Esel-reck-dich erfand. Gut getroffen, kann man dazu nur sagen. Denn einen Lipizzanerhengst mag man in solch einer Rolle sich kaum vorstellen. Um nun nach solchen Deviationen einige Ordnung in die Geschichte der Esel zu bringen, soll noch einmal zu den alten Ägyptern zurückgekehrt werden. Diese scheinen ihre Esel als Lasttiere für den Bau ihrer gigantischen Monumente herangezogen zu haben. Einerseits. Andererseits aber hat man 15

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aus der prähistorischen Nagadazeit ein Schachtgrab mit rituell bestatteten Eseln gefunden. Und dritterseits muss festgestellt werden, dass die Hieroglyphe des Esels den oberägyptischen Gott Seth bezeichnete. Dem nämlich war der Esel heilig. Endlich weiß man auch, dass die weithin berühmten ägyptischen Ärzte den Kot des Esels als Heilmittel benutzten. Über die Form von dessen Anwendung ist Näheres nicht bekannt und wir enthalten uns aller abwegigen Spekulationen. So weit die alten Ägypter. Dass es mit den Eseln eine besondere Bewandtnis haben muss, das erfährt der fromme Leser auch aus dem vierten Buch Mosis, in welchem von Bileams Eselin die Rede ist, die den Engel des Herrn eher erkennt als ihr Reiter und zu ihm spricht in hebräischer Sprache. Nicht genug damit. Tacitus behauptet, dass eine Herde wilder Esel dem Mose den Felsen gezeigt habe, aus dem dieser das Leben spendende Wasser gewonnen hat. Woher dem Römer diese Nachricht gekommen ist, kann ich nicht einmal erahnen. Aber welch anderes Tier ist bekannt, von dem man Ähnliches sagen oder auch nur erfinden könnte? Und daher hat man auch seit jeher Ziegenböcke, Widder und Stiere geopfert oder geschlachtet, nicht aber sich an einem Esel versündigt. Wenn nun doch der gewaltige Simson auf seinem Weg einen Eselskinnbacken fand, mit dem er tausend Philister erschlug, so kann man vermuten, dass der einst dazugehörige Esel eines natürlichen Todes gestorben sein muss und die Vögel des Himmels sich sein Fleisch geteilt haben werden. Auch dass der biblische Saul sein Königreich der Suche nach den verirrten Eselinnen seines Vaters verdankte, wird im selben Buch berichtet. Hier sei nur angefügt, dass es sich bei solchen offenbar kostbaren Tieren wohl nicht um die allseits bekannten grauen Lasttiere gehandelt hat, sondern vermutlich um jene weißen oder falben Eselinnen, deren Nachkommen im Nahen Orient auch heute noch viel bewundert und hoch bezahlt werden. Dem Buche Hiob entnehmen wir den erstaunlichen Satz: „Die Wüste ist dem Wildesel zur Behausung gesetzt und die Salzsteppe zur Wohnstätte. Er lacht des Getümmels der Stadt, das Geschrei der Treiber hört er nicht.“ Wird hier der Esel gar als ein Vorbild genannt für eine ratsame Abkehr vom Lärm und Getriebe der Großstadt? Wird hier der Verzicht angemahnt auf schattige Gärten, Springbrunnen und Teppiche, auf Karawansereien und Bazars, auf Prediger, Tänzerinnen und Musikanten? Der Verzicht auf Luxus und Konsum aus freien Stücken, um Dem allein zu dienen, Der uns all dies zu geben und wiederum auch zu nehmen vermag? 16

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Die Annahme, dass der arme Hiob verwirrt war durch seinen Kummer, kann uns manches, wenn auch nicht alles an diesen Worten erklären. Wo bleiben die Freuden des Daseins? Nun also weiter im Text. Die Griechen, die Römer? Was haben die uns zu sagen von ihren Eseln? Ein Beispiel sei uns genug. Als der griechische Philosoph Chrysippos, ein Skeptiker, erfuhr, dass sein Esel einen ganzen Korb voll Feigen leer gefressen hatte, befahl er seiner Magd, dem gefräßigen Hausgenossen auch noch Wein zu trinken zu geben. Als er den Esel daraufhin im Hof herumtorkeln sah, lachte sich Chrysippos zu Tode. Wirft diese Begebenheit nun ein eigenartiges Licht auf die Esel, auf den griechischen Wein, auf die zu allem willfährige Magd oder auf die skeptische Philosophie? Nicht wenig verstört verlassen wir die abgelebten Zeiten und kommen über die Zeitenwende herauf in die Epoche des Christentums. Die begann, wie jeder weiß, mit der Geburt eines Kindes in einem Stall. Auch wer diesem Ereignis beiwohnte, ist allen Christenmenschen bekannt. Ein Ochs und ein Esel. Was der Ochs dabei sollte, das mag ein anderer erforschen. Den Esel hingegen zu vertreten, ist meine Sache. Und von dem behaupte ich: Er war zu Recht an der Stelle. Denn auf welchem der beiden Tiere die junge Familie nach Ägypten flüchtete, das ist uns oftmals geschildert und abgemalt worden. Auf dem Esel. Und ein weiteres Mal finden wir unseren demütigen Diener in der heiligen Legende. Wer reitet an einem Palmsonntag in jener Zeit auf einem Esel in Jerusalem ein? Der vermeintliche König der Juden. Kein zweites Tier wurde auserwählt aus allen Tieren, um auch ihm wieder und wieder in Demut zu dienen. Wenden wir uns aus dem Osten in unsere Breiten, so lesen wir von den wagemutigen Theorien einiger französischer Erforscher der Geschichte unserer gemeinsamen nordischen Vorfahren. Wir lesen, dass die Goten ihren Göttern, den Asen, eine seltsame Vertrautheit mit den – Sie werden’s nicht glauben – Eseln nachgerühmt haben. Ob es sich hier um einen ebenso galligen wie gallischen Scherz handelt oder ob nicht der Ase mit dem asinus verwechselt wurde, wollen wir nicht untersuchen. Erstaunlich immer bleibt die Tatsache, dass als Beweis dieser Behauptung die Zeichnung eines gekreuzigten Esels vorgebracht wurde, die aus den ersten Jahrhunderten der germanischen Geschichte stammen soll. Die Überlegung, ob es sich dazumal, lange vor der Gründung der Universitäten, auch schon um so etwas wie die 17

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heute so beliebten Studentenkritzeleien an den Wänden der eben erst neu installierten Aborthäuschen gehandelt haben könnte, diese Überlegung wurde von den gelehrten Franzosen nicht angestellt. Wenn man den Gedanken einer hintergründigen Verwandtschaft zwischen Asen und Eseln jedoch nicht ganz von der Hand weist, so könnte man versucht sein, die Brücke, auf der Wotan, Fricka und ihr Gefolge in das von Riesen erbaute Walhall emporschritten, als Eselsbrücke zu interpretieren. Um zu demonstrieren, wohin uns solche Theorien verleiten können, darf hier ein weiteres Beispiel akademischer Spitzfindigkeit aus dem Mittelalter nicht fehlen. Ein gewisser Johannes Buridan, der im 14. Jahrhundert in Paris zu philosophieren beliebte, hat sich mitsamt seinem Esel unserm Gedächtnis eingeprägt durch die neunmal kluge Behauptung, dass ein solches Tier, wenn man es genau zwischen zwei gleich großen Heuhaufen anpflocke, unweigerlich verhungern müsse. Denn der Esel sei allein durch seine Fressgier determiniert, stets das Größere, Schmackhaftere oder näher Liegende zu wählen, und könne sich darum zwischen Gleichem nicht entscheiden. Der Mensch hingegen, mit freiem Willen begabt, greife oft recht gehörig daneben, könne aber, um seines Seelenheils willen, sich sogar für Wasser und Brot statt für Bier und Salami entscheiden. Zurück zu unserem Esel. All der besonderen Liebe des göttlichen Reiters zu dem durch Demut geheiligten Tier eingedenk, wurden in eben demselben christlichen 14. Jahrhundert, und wiederum vornehmlich in Frankreich, die sogenannten Eselsfeste gefeiert. Auf einem bekränzten Esel ritt ein buntscheckig gekleideter Mann in die Kathedralen ein, durch das weit aufgeschlagene Tor, begleitet von Gauklern und Musikanten – nein, nicht bis zum Altar, sondern nur bis zum Eselsstein, der in der Mitte des Kirchenschiffs seinen Schritt hemmte. Der Eselsstein ist in vielen alten Kirchen noch heute zu besichtigen. Für einen Tag herrschte der Esel damals über die Stadt und es wurde ihm jeder Wunsch von den Lippen gelesen. Er aber ließ sich nicht verführen, sondern blieb der, der er war: grau oder braun, struppig und bescheiden. Nicht jedem unserer Faschingsprinzen, die heute als seine Nachfolger gelten, kann man nachsagen, dass ihm der Rausch der allgemeinen Verehrung niemals zu Kopf gestiegen und er keinen Schritt zu weit gegangen wäre. Von keinem Esel aber wurde je überliefert, dass er sich überhoben hätte über sein Eseltum, auch wenn man den einen oder anderen dargestellt hat mit Weinlaub bekränzt und auf der Trompete blasend. Er hat auch darin nur den Spöttern gedient, ohne selbst zu spotten. 18

versuch über den esel

Und dennoch dürfen wir einen Fall nicht unerwähnt lassen, dass ein Esel sich ahnungslos hat verführen lassen, in einen Wettstreit zu treten. Die Wette schloss er mit einem Kuckuck, und der Streit entspann sich um die Frage, wer wohl am besten sänge. Der Fall wird wieder und wieder aufgerollt und ist noch nicht entschieden. Und da dies meist musikalisch geschieht und zur Freude unserer Kinder, wollen wir uns nicht darein mischen, um ihn zu schlichten. Auf welcher Seite mein Herz ist, das wird dem Leser nicht schwer zu erraten sein. Da wir nun einiges erfragt und erfahren haben über die so viel beredeten Eigenschaften des Esels, seine Geduld nämlich, seine Ausdauer, seine Dienstfertigkeit, seine Genügsamkeit und seine oft behauptete, aber nie erwiesene Dummheit, so sind wir verführt, daraus zu schließen, dass immer die eine die anderen im Gefolge hat und sie gar nicht voneinander zu trennen sind. Eine Eigenschaft des Esels aber will uns dazu nicht passen: die Sturheit. Immer wieder liest oder hört man von Eseln, die unvermittelt auf einer Stelle stehen bleiben und sich weigern, auch nur einen weiteren Schritt zu tun, trotz guten Zuredens, trotz wilder Flüche oder sogar trotz heftiger Prügel. Man hat beobachtet, dass sich solch ein störrisches Tier lieber hat totschlagen lassen, als seinem Treiber weiterhin zu gehorchen. Es erscheint uns dies aber als die tugendhafteste aller Eseleien. Des Esels wenn auch seltenes, doch umso unüberwindlicheres Beharren auf dem eigenen Willen zeigt dem übermütigen Menschen, dass seine Herrschaft begrenzt ist, dass auch seine Einsicht nicht in alle Geheimnisse einzudringen vermag, auch wenn diese sich nur im Kopfe eines Esels verbergen. Man hat gelegentlich gemutmaßt, wenn ein Esel stehen bleibe, so geschehe dies, um zu denken. Es sei dem Esel aber nicht gegeben, beides zu gleicher Zeit zu leisten: sich zu bewegen und nachzudenken etwa über den Sinn oder Unsinn dieser Bewegung. Man solle, rät man, nicht versuchen, ihn in solch einem Falle zu treiben, sondern solle warten, bis er sein Problem gelöst habe, wie lang auch immer dies dauere. Wenn dies so wäre, meine ich, könnten auch wir davon ein wenig lernen. Denn ein ähnliches Verhalten wird uns auch von Sokrates berichtet, der oft stundenlang, ja einmal sogar eine Nacht lang bis zum Morgen, auf einem Platz stehen blieb, um nachzudenken. Wir sollten uns demnach, ganz so wie er, erst dann so recht in Bewegung setzen, wenn wir wüssten, wohin und warum und zu welchem Ende wir gehen.

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Die Tuareg, die ihre Esel unaufhörlich mit den gellenden Rufen „Ai, ai!“ antreiben, tun dies, um den Tieren keine Gelegenheit zu geben, einen Gedanken zu fassen, den sie dann nicht mehr loslassen können. Bleibt aber doch einer stehen, so sagen sie: Allah hat einem jeden Esel die Schritte gezählt. Wenn er den letzten getan hat, bleibt er stehen, dankt seinem Schöpfer, und legt sich nieder, um zu sterben. Denn es gibt offenbar Gedanken, die keiner zu Ende denken kann. Dann kommen die Geier. Wer durch die Wüste wandert, wozu ich keinem will geraten haben, der sieht immer wieder einmal ein Gerippe am Wegrand liegen. Es liegt dort, bis der Wind es unter dem Sand begräbt. Verachte mir keiner die Esel. Kränke sich keiner, wenn man ihn einen asinus nennt. Gleiches hat man schon manchem klugen Manne getan. Nehmt euch, liebe Leser, vielmehr ein Beispiel an den Tugenden dieses Tieres. Neigt das Haupt, geht eures Weges, denkt eure Gedanken zu Ende. Lasst euch nicht zu Völlerei und Unzucht verleiten. Dient in Demut dem Wohl der Allgemeinheit. Lasst euch auch von dem, was euch und nur euch allein gehört, wie euer Schatten, nicht trennen. Und wenn es einem von jenen, denen alles verhandelbar ist, jemals beikommen sollte, euch den Fleck, auf dem ihr steht, unterm Bauch zu verkaufen, so legt euch darauf und sagt: Wer den Schatten haben will, muss den Esel in Kauf nehmen. Basta.

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von der kunst des zeichnens

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on den vielen Plänen, die ich nie die Geduld hatte, zu ver wirklichen, ist einer der ältesten der, meine Gedanken über die Kunst des Zeichnens zu ordnen. Lang hab ich es aufgeschoben, da ich nicht darüber ins Reine kam. Man macht, wenn man sich im Zeichnen mit einiger Geschicklichkeit übt, wie in jeder Kunst Erfahrungen, die einen entweder in eine routinierte Geläufigkeit oder aber an die Grenzen des Mitteilbaren führen. Und so tritt man zuweilen einen Schritt zurück, um nachzudenken, ob man versucht hat, zeichnend die Welt darzustellen oder sich selbst, und was von beidem überhaupt darstellbar ist. Da nun aber das Denken ohne Worte nicht vorankommen will, versucht man endlich mit ihrer Hilfe festzuhalten, was man mit Augen und Händen meint erkannt zu haben, oder um hinzuweisen auf das, was unentschlüsselt hat bleiben müssen. Wenn ich es nun unternehme, eine solche Arbeit schreibend zu leisten, will ich es ohne Bedauern genug sein lassen an den Fragmenten, die von einem größeren Plan geblieben sind. Es wird am Ende kaum etwas geben, was sich zusammenfassen ließe. Vieles wird nur eben ausgestreut sein, aber das eine oder andere könnte doch vielleicht Wurzel fassen und wachsen. Und ich will nichts weiter mehr zeigen, als dass es mir einmal ernst war um die Sache. Das griechische Verbum graphein benennt sowohl die Tätigkeit des Schreibens wie auch die des Zeichnens. Zu erklären, wieweit die Bilder der Hieroglyphen hinübergeführt haben in die Zeichengestaltung der Silbenund Buchstabenschrift der Ägypter, Phönikier oder Hebräer, reichen meine Kenntnisse nicht aus. Man weiß, dass die Hethiter, die Germanen oder die Völker des Ostens auf andere Weise versucht haben, aus Bildern Symbole, aus Symbolen Buchstaben, Ziffern oder gar Noten zu machen. Es genügt mir, in diesem Zusammenhang festzustellen, dass das Zeichen der Schrift als Symbol auf das Gezeichnete verweist. Eine unserer ältesten Quellen, die Bibel, berichtet von einem Zeichen, sei es Buchstabe, Wort oder Symbol, das eine mächtige Hand auf die Stirn des ersten Mörders als Kainsmal schrieb. Sie wollte dadurch kundtun, dass der Mann einem höhern Gericht vorbehalten sein sollte. Mit dem Zeichen des Brandmals legen auch wir 21

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Hand auf unseren Besitz oder vielmehr auf das, was wir dafür halten. Und wir unterzeichnen, was wir für wahr und gültig erkennen, auf unsere unbestreitbare Weise durch eine Linie, die als Kennzeichen unserer Identität und nicht allein als ein Zusammenhang von Buchstaben zu lesen ist. Eine solche Unterschrift, die oft kaum entzifferbar ist, wird von anderen nicht als Buchstabenfolge, sondern als Zeichen gelesen. Aber wem solche Hinweise nicht genügen, dem ist dennoch die Verwandtschaft der grafischen Künste mit unvoreingenommenem Auge auf vielfache Weise erkennbar. Schreibend benennen wir Menschen, Dinge, Geschehnisse, an denen uns gelegen ist, schreibend heben wir sie heraus aus ihrem Umfeld, um uns ihnen ganz zuzuwenden. Dabei bewegen und lenken wir sie in einem von uns abgemessenen Feld von Raum und Zeit. Und auch zeichnend wählen wir die Motive, grenzen sie aus, lösen sie von den anderen, präparieren sie auf dem begrenzten Raum eines Blattes, eines Steins, einer Tafel und lassen sie dort allein und unbewegt stehen und gelten. Alle Bewegung, die in der Zeit geschieht, halten wir fern. Dem einen Augenblick, dem Blick des Auges, der erkennenden Begegnung verleihen wir Dauer. Es ist uns um das Wesen zu tun, das sich in dieser geformten Erkenntnis offenbart. Auch wenn es sich in anderen Gestalten zu zeigen vermöchte, suchen und wählen wir die eine Gestalt, die für die vielen spricht. Wir zeichnen nicht nur, was wir sehen, sondern auch, was wir meinen zu wissen. Aus all diesen Gründen und anderen mehr ist es in den Bezirken der Literatur wohl das Gedicht, das der Zeichnung am nächsten verwandt ist. Es lässt sich im Raum eines Blattes mit einem Blick umfassen und hat mit dem Gang der Zeit außerhalb seiner Ränder nicht viel im Sinn. Nur der eine, einzige Gegenstand soll vom Gedicht oder der Zeichnung benannt und umgrenzt werden, mit wenigen Worten, wenigen Strichen. Alles Überflüssige bleibt abseits. Das Sigel gilt für die Sendung, die Kennzeichnung bringt uns die Botschaft. Aber dergleichen ebenso schlichte wie subtile Künste wären nur für kurze Dauer von Nutzen und nicht lang überlebensfähig, wenn auf solche Art nicht eingefangen und festgehalten würde, was ihnen so etwas wie eine unzerstörbare Seele gibt: der Hauch der Poesie. So wie die Lyrik dort am sichersten bei sich selbst ist, wo sie auf alle Erzählung oder Beschreibung verzichtet und nur mit einer Metapher einen Zustand festhält, aus dessen 22

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Betrachtung die Gefühle oder Gedanken im Innern des Lesers entspringen, so ist auch die beste Zeichnung die, die nur bildet und nicht erzählt, sondern dem einmal sanfteren, einmal festeren Strich der wissenden Hand vertraut. Neben dieser Offenbarung eines individuellen Temperamentes ist alles informierende Beiwerk nicht von künstlerischem Belang. Die Zeichnung ist in ihrer Beschränkung auf das kargste aller Mittel nichts weiter als ein Bekenntnis zur geheimnisvollen Schönheit der Welt, eine Huldigung des sehenden Auges an den namenlosen Gegenstand. Fremdes verwandelt sie in Vertrautes. Und durch die Bild gewordene Intensität dieser Zuwendung gibt sich der Huldigende selbst zu erkennen. Er zeichnet sich mit. Die gezeichnete Linie ist ebenso oft – und mit ebensolchem Recht – verglichen worden mit der gesungenen Melodie. Sie steigt und sinkt nach kurzem Flug schon herab, ruht aus oder öffnet sich unversehens und verliert sich ins Weite. Beide sind nicht mehr als ein glücklicher Gedanke. Die Linie der Zeichnung, die Linie der Melodie, beide hüllen das Herauszuhebende ein, schließen es behutsam formend in sich, geben dem Erfassten eine Haut, dem Innenraum einen Umriss. Sie sind wie Grenzen, an denen sich alles dahinter Verborgene verrät. Vielfältig sind die bildenden Künste, aber unter ihnen, so meine ich, ist es gerade die Zeichnung, die uns den nächsten Einblick gewährt in die inneren Beweggründe eines Künstlers. Es ist unbestritten, dass die Architektur größere Bedeutung hat für unser persönliches Wohlbefinden, für die Darstellung unserer Lebensverhältnisse nach außen, die Form unseres Zusammenlebens mit anderen und als Bekundung unseres über alles Irdische hinausgreifenden Glaubens. Auch haben die skulpturalen Künste – Steinbildhauen, Holzschnitzen, Erzgießen und das Modellieren gefügiger Stoffe – uns aus frühesten Zeiten die eindrucksvolleren Darstellungen unseres Menschenbildes hinterlassen. Und dass die Malerei in der kreativsten Epoche abendländischer Geschichte mit Fresken und Tafelbildern an Glanz und Ansehen alle anderen schönen Künste übertroffen hat, das zeigen die Innenräume unserer Kirchen, Paläste, Galerien und Museen. Und doch hat alles einmal mit der Zeichnung, der unscheinbarsten unter den bildenden Künsten begonnen. Wir brauchen dabei nicht allein an die Kinderzeichnungen zu denken oder an die frühen uns hinterlassenen Kunstwerke, an die Höhlenzeichnungen etwa von Altamira. Die habe ich während meiner 23

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Studienzeit in Frankreich auf einem Ausflug nach Spanien erstmals mit großen Augen bestaunen können und seither nicht mehr vergessen. Damals waren sie recht einzigartig. Seither sind ähnliche Werke über die halbe Welt verstreut gefunden worden, von Frankreich bis Südafrika, von Libyen bis Australien. Felszeichnungen in der chilenischen Atacamawüste hat man auf ein Alter von 11.000 Jahren geschätzt. Wichtig ist hier allein die Erkenntnis, dass die zeichnende Hand es war, die vorantastete in das sich nach und nach erschließende Reich der Kunst. Was immer danach gebaut, gefügt oder gestaltet wurde, es wurde zuerst in irgendeiner Weise – und wenn auch nur durch ein paar Striche mit einem Finger oder einem Zweig im Sand, durch eine Kritzelei auf einer Rinde oder Tierhaut – zeichnend entworfen. Dabei ist es aufschlussreich zu wissen, dass schon in aller steinzeitlichen Frühe gleichberechtigt neben dem Zeichnen als dem Auftragen eines meist dunkleren Pigments auf eine meist hellere Fläche auch das Ritzen oder Gravieren mit einem Stichel, einem Messer, einem härteren Stein geübt wurde. Alle grafischen Künste sind gleichaltrige Geschwister. Der Abdruck einer geschwärzten Hand ist ebenso alt wie die Ritzzeichnung einer Pfeilspitze. Dass die Malerei sich aus der Zeichnung entwickelt hat, ist aus der Tatsache zu ersehen, dass die unterschiedlichen Farben erst nach und nach gewonnen wurden, von den Kohlen und Kreiden über die Erd- und Mineralfarben, die Tier- und Pflanzensäfte bis zu unseren, kaum mehr lebendigen, chemisch-synthetischen Pigmenten. Es hat auch lange, vielleicht Jahrhunderte oder Jahrtausende gedauert, ehe der Pinsel an die Stelle des Stiftes trat und die Farbe für sich allein und nicht stellvertretend für etwas anderes zu sprechen begann. Heute sind die beiden Künste oft nicht leicht voneinander zu trennen. Immer neue Übergänge werden gesucht und Unterschiedlichstes wird verbunden. Und doch kann man fast bei einem jeden Künstler erkennen, ob seine Hand die Grenze sucht oder die Fülle. Im abendländischen Kulturkreis hat die Zeichnung die Aufgabe auf sich genommen, die uns umgebende bunte Welt durch ihr Abbild handbar und mitteilbar zu machen. Man hat das Bild, das in den frühzeitlichen Wandzeichnungen oft erst mit dem Ende der Wand seinen Abschluss fand, allmählich begrenzt auf den Bauch eines Kruges, den Deckel einer Truhe oder den Buckel eines Schildes, um in dieser Abmessung Gesehenes und Ausgewähltes ordnend zu versammeln und herauszuheben aus seiner Umgebung. 24

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Dadurch wurde die Zeichnung zu einem Ding, das bewegt und besessen werden konnte. Was besessen werden konnte, konnte gehandelt, getauscht, verschenkt und vererbt werden. Es erhielt seinen Charakter als Besitz und als Ware. Der hat sich bis zum heutigen Tag immer mehr seiner bemächtigt, auch wenn die ursprüngliche Bestimmung des Gezeichneten die einer Bannung oder Beschwörung, einer vergleichenden Deutung, einer Botschaft oder einer Aufbewahrung von Erinnerung gewesen sein mag. Je deutlicher der Warencharakter hervortrat, umso mehr wurde die Zeichnung jedoch zum Schmuck, der den Wert eines Gebrauchsgegenstandes erhöhen sollte, und es verlor sich mehr und mehr, was als Versuch einer Weltdeutung oder Nachrichtenübermittlung verstanden werden wollte. Erst als sich die Zeichner entschlossen, ihre Bilder durch eine meist, aber nicht immer rechteckige Begrenzung gleichsam auf sich selbst zu stellen, wurde ihr Werk zum Kunstwerk erhoben. Das konnte sehr wohl auch auf einer Wand geschehen, zeigte sich aber entschiedener auf einer Tafel. Damit war ein Werk entstanden, das das Auge auf einen einzigen Blick erfassen, in dessen Einzelheiten es sich aber zugleich in stundenlanger Betrachtung versenken konnte. Ähnliches lässt sich weder von der Architektur noch von der Plastik sagen und schon gar nicht von den Künsten, die sich erst in der Dauer der Zeit entfalten, wie die Musik und die Dichtung. Die nämlich sind zwischen Erinnerung und Erahnung, aber auch zwischen Vergessen und Überraschung ausgespannt und können als Ganzes nie wirklich erfahren werden. Die Zeichnung aber ist der Versuch, einen ausgewählten Teil aus der Fülle der irdischen Erscheinungen – sei es, dass sie dem wachen, sei es, dass sie dem träumenden Auge sich darbieten – für einen einzigen Blick zu versammeln und wiedererkennbar darzustellen und dies mit dem einfachsten aller Mittel, mit dem durch die Bewegung der Hand geleiteten, das heißt vielfach gewundenen, unterbrochenen und neu aufgenommenen Strich. Darstellen sollte sie ihren Gegenstand, um seiner Herr zu werden oder um Mitteilung von ihm zu machen. Um das zu ermöglichen, erfand das prüfende Hirn den Umriss der gegenständlichen Formen, der so in der Wirklichkeit nirgends zu sehen ist – denn nicht einmal der Horizont der Meeres oder der Sonnenstrahl sind reine Linien –, und führte die drei Dimensionen des Raumes solcherart zurück nicht nur auf die zweite, flächige, sondern sogleich auf die erste und einzige, die schon keine reale mehr ist. So wie ein Punkt nur ein imaginärer Ort ist, der keine Ausdehnung hat, so ist auch 25

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eine Linie nichts anderes als eine Folge von körperlos wandernden Punkten. Sie kann so breit oder schmal wiedergegeben werden, wie das Werkzeug es fordert oder gestattet, ohne dadurch die ihr bestimmte Gestalt zu verlieren. Sie ist kein Ding, sie ist nur mehr ein Zeichen. Es bleibt dem Temperament des Künstlers überlassen, ihr durch den Druck der Hand so etwas wie einen Anflug von Körperhaftem zu geben. Man hat in den vergangenen Jahrzehnten wissenschaftlich bestätigt, was frühere Zeiten nur ahnten: dass nicht nur die Menschen, sondern auch Tiere und Pflanzen durch Laute, durch Düfte oder durch andere Botschaften sich untereinander verständigen, dass also alle Lebewesen ihre Musik, ihre Farben- oder Schattenspiele und ihre Sprache besitzen. Dass sie aber auch ihre Zeichen haben, hat man beim Beobachten der Bienen erkannt, die im Fluge in die Luft Markierungen setzen, aus denen ihre Artgenossen ersehen, wohin sie sich wenden müssen, um nach Honig zu suchen. Solche Zeichnungen freilich sind sehr vergänglich. Nach ein paar Stunden, wenn der Honig gesammelt ist, sind sie nicht nur aus der Luft, sondern auch aus dem Gedächtnis verschwunden. Und so haben wohl auch die Menschen lange nicht mehr als dies im Sinn gehabt mit ihren Winken oder Hinweisen. Wenn der Weg gefunden, die Hütte gebaut war, hat der Wind oder die Flut die Zeichen im Sand oder die Zweige auf der Erde verweht oder zerstört. Aber irgendwann einmal hat einer dennoch dem Wunsch nicht widerstanden, mehr als nur einem naheliegenden Zweck zu dienen, eine Botschaft weiter hinauszusenden, im Raum und in der Zeit, sei es an einen Nachkommen oder an einen Fremden, von dem er nicht einmal wusste, ob er sie verstehen würde, und hat ein Zeichen in eine Tierhaut, eine Baumrinde geschnitten oder an eine Höhlenwand gemalt. Vielleicht hat er ein Grab kenntlich machen wollen, einen vergrabenen Schatz oder eine Richtung, um zu gehen. Er hat ein paar Zweige gekreuzt oder den Abdruck seiner Hand, in feuchte Asche getaucht, hinterlassen. Und damit hat er, halb und halb nur bewusst, versucht darzustellen, wer er ist, wo er steht, was er weiß, was er vermag, und hat versucht, es anderen zu zeigen. Das kreatürliche Bedürfnis der Menschen, sich selbst und die Gegenstände ihres Gebrauchs zu kennzeichnen, zu schmücken und so ihr „Ansehen“ zu steigern, veranlasste sie, durch Zeichnungen oder Ritzungen, ihre Körper, ihre Tonkrüge oder Hauswände zu zieren. Erstaunlich ist für uns heute, dass sie neben gegenständlichen immer auch schon abstrakte, oft so26

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gar geometrische Motive dafür gebrauchten. Unklar ist, wo hier eine Trennungslinie zwischen Kunst und Dekor verläuft und ob sie überhaupt intendiert und gegeben war, ehe nicht der Zeichner daran erkannte, dass er mehr von seinem Eigenen dargestellt hatte, als der Zweck der Arbeit erforderte, und mit seinem Namen dafür bürgte. Dann erst wurde dieses verbürgte Eigene seine durch Kunst verschlüsselte persönliche Botschaft. Es gibt viele Formen der Übermittlung von Botschaften von einem Lebewesen zum anderen. Aber es gibt keine, in der sich Gedanken, Gefühle, Erkenntnisse und Urteile unverstellter und unmittelbarer zum Ausdruck bringen als in der Zeichnung. Allein schon der Druck der Hand auf den Griffel oder die Wahl der Feder lässt unterscheidbare Gefühle erkennen. Umso mehr aber Ecken und Kanten, Bögen und Schlingen, Windungen und Wendungen, Brüche und Ballungen, Wiederholungen und Korrekturen. Die Hand verrät den Zeichner. Und wenn es heißt, ein Maler male immer zuerst sich selbst in seinen Bildern, so gilt dies umso mehr für den Zeichner. Auch dann, wenn er ein Motiv wählt, das eigenes Leben hat. Die alten Griechen haben das sehr wohl verstanden und haben bald schon ihre Bildnisse mit ihren Namen signiert. Denn wenn der Erschaffende vergessen wird, verliert das Werk mehr als nur einen Namen. Es ist verwaist. Es deutet in eine Richtung, in der wir nur mehr wenig erkennen. Den Bildern ergeht es dabei nicht anders als den anonymen Schriften, die einer, auch wenn es ihm gelingt sie zu entziffern, oft achselzuckend wieder aus der Hand legt. In späteren, christlichen Zeiten haben die Künstler zwar ihre Namen verschwiegen, haben sich selbst ausgelöscht, um einem Höheren rühmend zu dienen. Die Zeichen ihrer Gemeinschaft, der Bauhütten, haben sie jedoch hinterlassen. Und auch wir, die Nachkommen, haben nicht ablassen können, immer wieder nach ihren Namen und ihren künstlerischen Handschriften zu forschen. Weshalb nur? Um die fehlende Hälfte des Bildnisses endlich doch zu erkennen. Wenn ich mich bei einem kurzen Gang durch die Geschichte der Zeichnung im Folgenden auf den europäischen Kulturraum beschränke, so lasse ich aus Mangel an verlässlichen Daten die hoch bedeutsame vorgeschichtliche Epoche der anonymen Künstler mit Bedauern beiseite und blicke auf den ersten Namen, der uns erhalten ist, den griechischen „Vasenmaler“ Euphronios, der um die Wende des 6. zum 5. Jahrhundert vor unserer Zeit27

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rechnung lebte und schuf. Er stellte als Erster auf schwarzem Grund rot ausgesparte menschliche Umrisse dar und zeichnete in diese Figuren mit feinen schwarzen Linien Glieder, Gesichtszüge und Kleider. Andererseits berichtet uns der ältere Plinius von Polygnot aus Thasos, der in den ersten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts mithilfe eines Pinsels die Farben in nuancenreichen Abstufungen verteilte und dadurch bereits malerische Wirkungen erzielte. Er soll den bisher gebräuchlichen Grundfarben Schwarz, Weiß und Rot das Gelb hinzugefügt, damit so etwas wie eine erste Farbskala gefunden und so die Grundlagen der Malkunst geschaffen haben. Die Trennung dieser beiden verschwisterten Künste wird mir in diesen Ausführungen noch manche Mühe bereiten und – dies sei vorhergesagt – nicht immer klaglos gelingen. Zeugnisse griechischer Maler sind uns nur wenige erhalten geblieben. Was wir kennen, will uns heute eher als kolorierte Zeichnung erscheinen. Auch die römische Malerei oder Mosaikkunst ist trotz vermehrter Farbenpracht immer noch vor allem der Linie verpflichtet und verzichtet auf eine Darstellung der dritten Dimension des Raumes. Die Buchmalerei des Mittelalters ist hervorgewachsen aus der Grafik des Schriftbildes. Sie hat meist zeichnerischen Charakter. Da sie aber der schwarzen Schrift lebhafte Farben und das Gold der heiligen Sphäre hinzufügt und da ihre dekorativen ebenso wie ihre figurativen Darstellungen meist mit dem Pinsel ausgeführt wurden, hat ihr Name auch seine Berechtigung. Glasfensterbilder sind trotz klarer Konturen vor allem auf farbbetonte, flächige Wirkung angelegt. Wandmalereien aller Art auf feuchtem oder trockenem Putz sind meist kolorierte Umrisszeichnungen. Graffiti mit erzählerischer Bestimmung, Ritzungen auf Decken, Mauern oder Böden, hat es zu allen Zeiten gegeben, auch in hellenischen und römischen Städten. Sie waren entweder einem nicht immer ernst gemeinten Besitzanspruch oder einem Bedürfnis nach Übermittlung von Nachrichten, Bekenntnissen oder Verspottungen entsprungen und beschränkten sich fast immer auf grafische Mittel. Durch sie drang erstmals der Humor in die ernste Kunstübung ein. Zeichnungen auf Ton, Wachs, Papyrus oder Pergament, die ohne vieles Berechnen auf dauernden Wert entstanden, hat man in unseren Ländern anders als im Fernen Osten lange gering geachtet. Darum ist uns davon wenig erhalten, wenn man etwa von Architektur- und Werkzeichnungen absieht. Zu Zeiten, in denen die Bildträger kostbar waren, wurden Zeichnungen, wenn sie einmal ihren Dienst getan hatten, gelöscht, will heißen abgewa28

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schen oder abgeschabt, um das Blatt oder die Tafel zu neuen Zwecken zu nutzen. Da lange niemand daran dachte, seine Entwürfe auch zu signieren, mit seinem Namen für sie zu bürgen, wurden sie unter den Werkstatttischen bewahrt und nur an die Wand geheftet, wenn sie als Anleitung dienen sollten für dauerhaftere Werke. Später dann hat man immerhin die Skizzen der großen florentinischen, umbrischen und römischen Meister gesammelt und zu Büchern gebündelt, als Studienvorlagen und Musterbücher für die Werkstätten. Sonst aber wurden Entwürfe auf Tischen, Steinen, Wachstafeln oder Papieren nur als Behelfsmittel geachtet und waren keine Gegenstände des Handels. Man fertigte sie an, um Pläne zu entwerfen, um Eindrücke oder Gedanken festzuhalten, man studierte zeichnend Gegenstände, die man in Stein oder Farbe auszuführen gedachte, man legte sich Beispielsammlungen an von verschiedenen Physiognomien, Körperteilen, Bewegungen, Haltungen von Figuren, von Tieren, Pflanzen, Gebäuden oder Faltungen von Gewändern. Dass auch psychische Affekte und körperliche Abnormitäten zeichnend studiert wurden, zeigen uns zahlreiche Blätter etwa Leonardo da Vincis. Als man aber begann, die in Auftrag gegebenen Gemälde zuerst als Zeichnungen in originaler Größe auszuführen und von dort durch Lochmarkierungen auf eine präparierte Wand zu übertragen, erkannte man allmählich den originalen Wert der Skizzen. Die großen Entwürfe für die Wandgemälde, die sogenannten Kartons, konnte man nicht vor der Zerstörung bewahren, denn sie wurden bei der Übertragung durchlöchert, verschmutzt und zerrissen. Doch sie sollten zuvor mehr als nur diesen Hilfsdienst getan haben. Die Maler stellten sie aus in einem Saal oder gar an der Stelle des zu schaffenden Gemäldes, um dem Auftraggeber und dann auch einem größeren Publikum einen Vorschein zu geben auf die zu erwartende Wirkung. Der Eindruck, den solche Kartons etwa von Leonardos oder Michelangelos Hand auf die Zeitgenossen bewirkten, muss dergestalt gewesen sein, dass man kaum zu hoffen wagte, er könne durch eine farbliche Transposition noch weiter gesteigert werden. Und in der Tat: Was an Zeichnungen dieser Meister erhalten blieb, gehört zum Bewunderungswürdigsten, was die bildende Kunst uns geschenkt hat. Giorgio Vasari, Maler und Biograf seiner berühmteren Zeitgenossen, war einer der Ersten, die solche Zeichnungen als eigenständige Werke betrachteten, die auch kleinformatige Entwürfe sammelten und aufbewahrten. Er nannte die Zeichnung gar „Vater und Mutter allen künstlerischen Schaffens“. Und so begann man schon 29

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vor der Wende zum 16. Jahrhundert, angeregt durch die Entwicklung der Drucktechnik und die Erfindung des Buchdrucks, vor allem in Deutschland, sie durch Kopien zu vervielfältigen und in Form von Kupferstichen und Holzschnitten zu verbreiten. Doch auch bevor die Zeichnung solche Wertschätzung erfuhr, wurde die Beherrschung des Zeichenstifts von den Meistern aller bildenden Künste als erste Voraussetzung weiterer Studien erachtet. Lehrlinge, die etwa im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren in die Werkstatt eines Bildhauers oder Malers eintraten, unterrichtete man vorerst allein im Umgang mit dem Zeichenstift. Von Leonardo da Vinci wissen wir, dass er sich dafür aussprach, einem Gehilfen erst nach dem Erreichen des zwanzigsten Lebensjahres einen Pinsel in die Hand zu geben. Von ihm selbst haben wir mit dem Engel, den er, eben zwanzigjährig, in Verocchios „Taufe“ hat einfügen dürfen, das erste Zeugnis auch seines malerischen Könnens. Ob er sich als Lehrer stets an seine Forderung hielt, davon haben seine Lieblingsschüler Boltraffio, Melzi und Salaì uns nichts berichtet. Wie wir jedoch aus seinen Tagebuchnotizen wissen, fiel es ihm nicht immer leicht, ihnen einen Wunsch abzuschlagen. Aber auch Michelangelo erinnerte sich im Alter, dass all sein Bemühen mit dem Zeichnen begonnen hatte und es vor allem anderen das Zeichnen gewesen war, das zu üben ihn sein Lehrmeister Domenico Ghirlandaio unaufhörlich angehalten hatte. In den zeitgenössischen „Römischen Gesprächen“ findet sich das folgende ihm zugeschriebene Zitat: „Das Zeichnen, das man mit anderen Worten auch Entwerfen nennt, ist Quelle und Inbegriff der Malerei, der Bildhauerei, der Baukunst und jeder anderen Art der bildenden Kunst. Es ist die Grundlage jeder Wissenschaft. Wer diese große Kunst beherrscht, der möge erkennen, dass ihm eine unvergleichliche Macht untertan ist. Er wird mit nicht mehr als Feder und Pergament Dinge schaffen, die größer sind als alle Türme der Welt.“ Das Wort eines stolzen Mannes. Es will nichts weniger besagen, als dass eben die Zeichnung der erste Schritt ist, durch welchen der Gedanke aus dem Kopf eines Menschen in die Hand tritt und ihm den Weg zur Wirklichkeit öffnet. Giorgio Vasari hat uns eine weitere Erinnerung an ein Gespräch übermittelt, das er mit dem hochbetagten Meister geführt hat. Michelangelo stellte darin die Behauptung auf, dass es nur der Hand eines italienischen Künstlers gegeben sei, die reine, vollkommene Linie zu entwerfen. Das geheime Wissen darum habe sich seit dem Altertum im Lande vererbt. Und er gestand diese Kunst 30

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nicht einmal Albrecht Dürer zu, dem, wie er zugeben musste, um diese Zeit weitum berühmtesten Meister des Kupferstichs und des Holzschnitts. Auch wenn man ihm nicht zustimmen will, glaubt man zu ahnen, was Michelangelo gemeint hat. Es ist mit dem Zeichnen einer Linie wie mit dem Erfinden einer Melodie. Keiner weiß so recht, wie es gemacht wird. Jeder weiß sofort, wenn es gelungen ist. Und in den meisten Fällen kann man ebenso wie eine Melodie auch eine italienische von einer deutschen Zeichnung unterscheiden. Dem in den Worten Michelangelos bekundeten neuen Selbstwertgefühl der Renaissance war es zu danken, dass man den zeitgenössischen Meistern bald den gleichen Rang zuerkannte wie den bislang übermächtigen Künstlern der Antike. Und so hat man zu Michelangelos Lebzeiten schon damit begonnen, Dokumente aus seiner Hand zu sammeln und zu kopieren. Wenn sich glücklicherweise zahlreiche Blätter von Leonardo erhalten haben, so ist dies darauf zurückzuführen, dass er sie selbst aufbewahrt hat zur Unterweisung seiner Schüler und Werkstattgehilfen. Er hat aber neben Physiognomie-, Figuren- und Gewandstudien auch Konstruktionszeichnungen für seine technischen Erfindungen oder theoretischen Studien angefertigt, die im Verbund seiner Schriften überliefert wurden. Im Übrigen wird es wohl der alles überstrahlende Ruhm dieses Mannes gewesen sein, der seinen Schüler Francesco Melzi bestimmte, jedes Blatt seines Meisters als kostbare Erbschaft zu hüten. Und so konnte Vasari berichten, dass er Gelegenheit gefunden hatte, bei dem nach des Meisters Tod ins lombardische Vaprio d’Adda übersiedelten Melzi den da Vinci-Nachlass einzusehen. Beide Künstler waren sich des unschätzbaren Wertes dieser Blätter sehr wohl bewusst. Mehr als einmal ist mir in den Sinn gekommen, dass die Zeichnungen italienischer Werkstätten eine gewisse Ähnlichkeit haben mit den musikalischen Werken etwa des frühen Barock, die uns nur im Particell erhalten sind. Auch in deren Noten, mit Tusche auf weißes Papier geschrieben, finden wir nur eben alles Wesentliche vermerkt: Singstimme und bezifferten Bass, und somit Melodie, Rhythmus und Harmonie, dazu einige Hinweise auf die nachzutragende Instrumentation und die Ausführung der wichtigsten Stimmen an den Stellen, an denen die Singstimme schweigt. Damit war die eigentliche Aufgabe des Komponisten schon geleistet und er konnte alles 31

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Weitere, so vor allem die Verteilung der Instrumente des Orchesters und die Wahl der Tempi und der Dynamik, dem Kapellmeister überlassen, der diese je nach den Möglichkeiten seines Konzertsaales oder Opernhauses variieren mochte. Und so auch wurden von den Meistern einer Maler- oder Bildhauerwerkstätte die Zeichnungen mit eigener Hand geschaffen, deren Vergrößerung und farbliche Ausgestaltung aber oftmals den Mitarbeitern oder Gesellen anvertraut. Die mussten die Konturen auf eine Leinwand oder eine Mauer übertragen und unter Aufsicht des Meisters die Farben bereiten. Im Hinblick auf diese Arbeitsteilung sind in Werkzeichnungen oft die Forderungen an die malerische Ausführung vermerkt. Es wird dann, sei es durch Schraffierung, sei es durch Lavierung und Verwischung oder durch schriftliche Anweisung, mehr angedeutet als nur der äußere Umriss des Sujets und die Verteilung der Gewichte in der umgrenzten Fläche. Und so findet man etwa in der Barockzeit Hinweise auf den Einfall des Lichts, gelegentlich verstärkt durch Höhungen mit weißer Kreide. Räume werden solcherart aufgeteilt in Licht- und Schattenzonen und erhalten außer der malerischen auch eine plastische Wirkung. Oft habe ich mich gefragt, warum sich, wenn ich eine gezeichnete Linie vor mir sehe, eine beglückende Wirkung nur dann einstellt, wenn sie auf etwas verweist, das ich zu kennen glaube, und nicht, wenn sie nichts weiter bedeuten will als sich selbst. Ich habe mich gefragt, warum eine solche Linie leer erscheint, wenn sie nichts darüber hinaus verdeutlichen, nichts abbilden, nichts definieren, das heißt: an seinen Begrenzungen erkennbar machen will. Warum in einer Epoche, in der gegenstandslose farbige Gemälde in allen Museen hängen und auf Versteigerungen höchste Preise erzielen, die gegenstandslose Grafik nur ein vergleichsweise geringes Interesse weckt. Und warum andererseits eine schlichte Linie, die nichts weiter erahnen lässt als ein Kinderprofil, einen Frauenrücken, einen Elefantenrüssel, eine Häuserzeile oder eine Gebirgssilhouette, keinen Wunsch offen lässt nach weiterer Erklärung. Eine gegenstandslose oder ornamentale Linie, die keine Erinnerung in mir weckt, hat kaum je etwas ähnlich Beglückendes in mir bewirkt, etwas, das mich empfinden lässt, dass ich im Einverständnis bin mit dem Künstler. Ist es, weil sich die Zeichnung, die von sich aus bereits auf so vieles, was die bunte Welt dem Auge bietet, verzichtet, am Unverzichtbaren festhält und sich weiter nicht mehr entfernen will vom sinnlichen Leben? 32

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Die Frage lässt sich wohl nur beantworten, indem man auf das Eigenleben der Farbe und die Plastik des Pinselstriches verweist, die einem Gemälde das Fleisch der Wirklichkeit geben. Davon hat die Zeichnung nichts mehr behalten. Ihre Botschaft ist allein die Windung und Wendung der Linie, die sich losmacht von allem, was zu entbehren ist, die Welt aber nicht gänzlich verlassen kann. Ein Freund, der seit Dezennien sich mit brauner Tusche bemüht, gegenstandslose Zeichnungen auf feines Büttenpapier zu zaubern, hat versucht, mich zu belehren. Er meint, die Zeichnung habe allzu lange in Diensten der Dokumentation von Wirklichkeit gestanden und könne sich nur schwer davon befreien. Man solle doch aber nun mit ungebundener Hand seiner Freude ihren Lauf lassen darüber, dass wir uns endlich gelöst hätten von der Bevormundung durch das Abbildungsgebot, das jedem Esel erlaube, an einer Zeichnung Kritik zu üben, weil ihm das Motiv nicht treulich genug getroffen erschiene. Recht hätte er, wenn die Suche nach Ähnlichkeit der eigentliche Anlass wäre zur Zeichnung. Ähnlichkeit mit dem abgebildeten Gegenstand ist nicht, wie Platon postuliert hat, der – obwohl selbst ein großer Künstler – den Künsten im Alter nur mehr mit Vorbehalten begegnete, das sicherste Kriterium eines gelungenen Werkes. Mehr ist gefragt: Ähnlichkeit der Zeichnung mit der eigenen Imagination, mit dem Zeichnenden selbst. Selbsterforschung soll die zeichnende Hand betreiben. Aber wozu wäre die gut, wenn sie einherginge mit der Loslösung des Forschenden von der ihn umgebenden Welt? Zeichnung ist Weltanschauung, im wörtlichsten Sinne, mit dem Ziel der Selbsterkenntnis. Und jede Selbsterkenntnis erkennt mit sich selbst auch das Menschenbild seiner Zeit in allen anderen. Wenn einer sagt: Dieses Porträt hat Charakter, so meint er nicht allein das porträtierte Gesicht, sondern meint vor allem den Zugriff des Künstlers, meint sein Auge, sein Hirn und seine Hand. Matisse, einer der bedeutendsten Zeichner unserer Zeit, hat gesagt: „Meine Strichzeichnung ist die unmittelbarste und reinste Übertragung meiner eigenen inneren Bewegung. Dies wird mir erlaubt durch die Einfachheit ihrer Mittel.“ Was nun aber die von manchen geforderte Reproduktion der Wirklichkeit durch die zeichnende Hand betrifft, so setzt diese sich ganz von selbst ihre Grenzen. Das Auge kann sich nicht sättigen am Überfluss der Welt. Dem Zeichner jedoch ist nicht alles, was er sieht, auch erwähnenswert. Zwar gibt 33

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es kaum einen Gegenstand, der nicht würdig wäre, gezeichnet zu werden, aber ehe das Blatt und der Stift bereitet werden, muss das Auge seine Entscheidungen treffen, muss aus dem schier Unüberschaubaren wählen. Danach beginnt der Künstler seine Arbeit stets mit dem Entschluss, sich auf das Wesentliche des gewählten Motivs zu beschränken und wegzulassen, was nicht ganz und gar unverzichtbar ist. Weglassen heißt hier, über zufällige Einzelheiten hinwegsehen und Zusammenhängen nachgehen, heißt denken in übergeordneten Maßstäben. Denn eine Zeichnung reproduziert nicht so sehr den rasch verfliegenden Augenblick in der Fülle der Erscheinungen, sondern vielmehr den bleibenden Charakter eines Gegenstandes oder eines singulären Geschehens. Sie hält nicht fest, was flüchtig erschaut wird, sondern was fortwährend lebt und wirkt, auch wenn es sich unter der Hand schon wieder verwandelt. Darum sind Zeichnungen sowohl von Menschen als auch von Pflanzen oder von Tieren um vieles eindringlicher und lehrreicher als deren Fotografien. Und darum findet man auch heute noch immer Zeichnungen und nicht Fotografien in allen auf Qualität bedachten naturkundlichen Werken. Kein Zeichner hat je die Absicht gehabt oder hätte es je vermocht, dem Fotografen vergleichbar, einen Baum mit all seinen Blättern oder einen Kopf mit all seinen Haaren abzubilden. Und es sind doch unvergessliche Bilder von Bäumen und von Gesichtern gezeichnet oder gemalt worden, in denen sich alles, was ihr Wesen ausmacht, deutlicher zeigt, als dies dem sekundenschnellen Zugriff einer Fotografie gelingen könnte. In der Zwiesprache, die die Hand mit dem Papier führt, kann jederzeit vom Auge der Befehl ergehen: Weiter, weiter! oder: Es ist genug. Und wenn es einmal heißen sollte: Es ist zu viel, dann kann mit wenigen Handbewegungen auch wieder radiert, gelöscht oder zerrissen werden. Man kann neu beginnen. So lange, bis man sicher ist, dass die Hand auf die Spur dessen gekommen ist, was da festgehalten werden soll. Dabei muss stets bedacht werden, dass der größte Teil einer Zeichnung aus der Leere des Blattes besteht. „Zeichnen heißt weglassen“, hat Max Liebermann gesagt. Und wollte damit bedeuten, dass die Aufgabe des Zeichners nicht so sehr darin zu sehen ist, das Blatt zu füllen, als vielmehr, so viel wie möglich von dessen Leere zu bewahren. Sie erst gibt den Strichen und Punkten, die nicht mehr verzichtbar sind, ihre Kraft und Bedeutung. Anders als das seinen Rahmen oft bis zum Bersten füllende Gemälde braucht die Zeichnung die Leere um sich, die es bezwungen, zerteilt und sich einverleibt hat. 34

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Nicht jeder Künstler, der sich für das Weglassen alles Nebensächlichen entschieden hat, will bei der Darstellung des ausgewählten Motivs die Gewandtheit und Leichtigkeit seiner Hand beweisen. Manche bestehen auf der sichtbar gewordenen Mühsal ihrer Annäherung an das Ziel. An dieser lassen sich die Leiden und Freuden des Schaffens nachfühlen. Die alten Italiener nannten die nicht gelöschten, sondern korrigierten Linien pentimenti, was man mit reuigen Wiedergutmachungen übersetzen könnte. Dem Strich, der bereut wird, folgt ein zweiter, ein dritter und folgen viele noch, die die gesuchte Form ertasten und umspielen, wie eine mehr und mehr Besitz ergreifende Hand. Und aus vielen solchen Strichen entsteht eine Aura, in die der gezeichnete Gegenstand eingebettet sich offenbart, oder es entsteht ein Geflecht, in dem er gefesselt wird. Alberto Giacometti, der Modellierer und Bronzegießer, hat zahllose Entwürfe für seine skulpturalen Werke und dann auch immer mehr originale Zeichnungen geschaffen, die aus nichts als solchen pentimenti bestehen, von denen er keinen mehr zu bereuen hatte. Sie sind dadurch seinen Skulpturen verwandt, die, nachdem sie aus dem Ton gegraben und geknetet wurden, nicht mehr geglättet wurden, die alle reinen Konturen verweigern, die den Prozess der Arbeit, der Mühe am Material dokumentieren und solcherart Spuren zeigen von der Hand des Meisters, die oft mehr Verletzungen als Heilungen gleichen. Solange er in seinem eigenen Gehege bleibt, beschränkt sich der Zeichner auf die einfachsten Mittel, den Silber-, den Blei- oder Grafitstift, den Griffel, den Stichel, die Kreide, die Kohle, den Tuschpinsel, das Rohr oder die Feder. Er verzichtet um der entschiedenen Klarheit willen meist auf die Farbe und begnügt sich mit Hell und Dunkel, mit Schwarz und mit Weiß. Dabei ist es von keiner nebensächlichen Bedeutung, ob ein feiner und harter Stift, eine schmale und spitze Feder als Werkzeug dienen oder weiche Kreide und brüchige Kohle; ob das Werkzeug unversehrt und unverändert bleibt oder sich abreibt und in der Hand sich auflöst in den gezeichneten Figuren. Der erste Schritt des Übergangs zur Malerei wäre mit einem solchen Opfer des Werkzeugs getan. Wenn einer nun aber etwa bei Entwürfen für architektonische oder bildhauerische Arbeiten einen ersten Eindruck der räumlichen Wirkung seines Gegenstandes geben will, so können Höhen und Tiefen, Rundungen und Kanten nicht mehr allein durch Konturen dargestellt werden. Schatten müssen gezeichnet werden. Schraffuren dienen vorerst diesem 35

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Zweck. Durch parallele Linien werden sie ausgeführt, einmal enger, einmal weiter nebeneinandergesetzt, einmal durch zarten und einmal durch kräftigen Handdruck. Gelegentlich auch folgen die Schraffuren den Wendungen und Windungen des gezeichneten Körpers. Wird energisches Dunkel gefordert, so überkreuzen sich die Striche des Stiftes oder der Feder und bilden endlich ein Netz. Die alten Italiener sind bald über den engen Kreis der Mittel hinausgegangen und haben den Rötel oder den weißen Kreidestift auf grundiertem Papier benutzt, um Kunstwerke eigener Prägung zu schaffen, die zu den bewundernswertesten in der Geschichte der bildenden Künste gerechnet werden müssen. Auf dem handkolorierten Papier zumal musste rasch und sicher gearbeitet werden, da ein Radieren nicht möglich war, wenn man die Untermalung nicht auflösen wollte. Kohle, Kreide, Pastellstifte und der lavierende Pinsel haben dem Zeichner weitergeholfen auf dem Weg zu malerischen Effekten. Manche dieser Versuche wurden gelegentlich auch mit dem Pinsel ausgeführt, um Schatten und Rundungen des Körperlichen zu umfassen. Mit Tusche, Sepiatinte und Bister, einem aus geröstetem Buchenholz gewonnenen Saft, wurde nicht nur gezeichnet, sondern immer mehr auch laviert. Pastellstifte mussten im 18. Jahrhundert ähnlichen Aufgaben dienen. Unsere Epoche hat für solche Wirkungen unter anderem die Wachskreiden und die Aquarellstifte erdacht. Die erlauben ein Vertreiben und Verwischen der gezeichneten Konturen im einen Fall mit der Hand oder einem Achatstein, im anderen mithilfe von Pinsel und Wasser. Sie mildern den Strich, erweichen die Grenzen und ermöglichen im wörtlichen Sinn einen fließenden Übergang zur Malerei. So kamen die verwandten Künste einander hilfreich entgegen. Es ist in der Epoche des Barock auch die Malerei einen Schritt herabgestiegen von ihrer herrschenden Höhe und hat malend hier und da auf die Farbe verzichtet. Grisaillen nennt man diese Versuche. Sie wurden in der Dekoration von Räumen dort angebracht, wo die Vorherrschaft der architektonischen Form oder des bunten Deckengemäldes nicht durch laute Nebentöne gestört werden sollte. Oft auch wurden in solcher Manier mit dem Pinsel und ein paar Erdfarben in der Werkstatt nur eben Skizzen geschaffen, die nicht für sich gelten sollten, sondern als Vorstudien für ein Gemälde oder als Anleitungen für einen Gesellen, dem der Meister die weitere Ausführung eines Bildes oder einer Figur innerhalb einer größeren Komposition überlassen wollte, ehe er selbst die letzte Hand anlegen würde. Der 36

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Verzicht auf die Palette der Farben macht jedoch noch keine Zeichnung. Es ist, wir haben es oft schon gesagt, allein die Linie, die deren Charakter bestimmt. Und während in den früheren Zeiten, in der Buchmalerei des Mittelalters etwa oder den anonymen Fresken an den Kirchenwänden, die mit reichen Farben bedachten Bilder oft als kolorierte Zeichnungen erschienen, wenn selbst die Florentiner Meister des Quattrocento die grundlegende Zeichnung nirgends verhehlten, so lösten die Maler der Renaissance und vor allem dann des Barock sich mehr und mehr von der Kontur. Sie überschwemmten die Körper mit Licht, hüllten Hintergründe in ein Sfumato, verwischten Gesichtszüge, modellierten mit breitem Pinsel und starkem Auftrag die Übergänge von einer Fläche, einer Farbe zur andern. Und nach und nach befreite sich so die Malerei von ihrer Grundlegung und Bestimmung durch die Zeichnung. Sie entdeckte das Licht, das von der Zeichnung nicht oder nur auf Umwegen zu erfassen war. Sie entdeckte die Ferne, den Himmel, die Wolken, das Ungefähre. Wenn der alte Michelangelo von Tizian gesagt haben soll, er habe eine gute Farbe, könne aber nicht zeichnen, so zeigt er nichts anderes als seine Verwunderung über die neue Entwicklung. Die Grafik versuchte bald schon vergeblich, der Malerei auf den neuen Wegen zu folgen. Während noch der Renaissancekünstler Dürer etwa alle Winkel eines radierten Blattes mit gleicher Sorgfalt bedacht hatte, deutete Rembrandt im Barockzeitalter die im Licht stehenden Figuren nur mehr mit haarfeinen Nadelspuren an. Auf seinen Radierungen und Federzeichnungen findet man nur noch selten den Versuch, die Luft des Himmels überhaupt zu gestalten. Diese Aufgabe überließ der Zeichner nun wohlweislich dem Maler. Es war jedoch die Aufgabenverteilung zwischen dem Stift und dem Pinsel nie eine endgültig und hierarchisch festgelegte. Der Künstler, der beides beherrschte, war in seinen Entscheidungen frei. Auch auf halbem Weg konnte er sich noch einmal besinnen, den ersten Plan der Zeichnung verwerfen und malend einen zweiten erproben. Manch einer begann gar schon den ersten Strich eines Gemäldes mit dem Pinsel in einem stark verdünnten Ton anzudeuten und konnte so leichter von Schritt zu Schritt vom Zeichnen ins Malen geraten. Van Gogh hingegen hat zumal in seinen späteren Werken, nachdem er die Perspektivschablone einmal beiseitegelegt hatte, ein Bild nicht mehr langsam von Stufe zu Stufe aufgebaut. Er hat die unbefleckte Leinwand nicht nach und nach erobert, sondern ist gleichsam über 37

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sie hergefallen und hat in einem oft gewaltsam anmutenden Akt mit dem Pinsel zugleich gezeichnet und gemalt. Und hat damit einen plastischen Farbauftrag verbunden, der den Betrachter teilhaben lässt am Kampf der Hand des Künstlers mit dem Material der Farbe. Van Gogh ist von der Zeichnung der Kontur zur Gestaltung der inneren Struktur der Gegenstände übergegangen, einmal mit kurzen fast gestoßenen Punktierungen, ein andermal mit aneinandergereihten, schwingenden Linien. Und nirgends erscheint dies als geplante Technik, sondern ist wie aus einem Zwang erwachsen, das Geschaute mit den Stricken der Linie zu fassen, zu binden und zu überwältigen. Dies ist einer der Gründe, warum sich die Gefühle des Malers van Gogh fast schmerzlich auf den Betrachter übertragen. Seither ist die bildende Kunst der Grafik nicht mehr die Gleiche. In den Künsten gelten keine kanonischen Gebote. Und darum sind auch die Übergänge von der einen zur anderen Kunstform nicht immer klar unterscheidbar. In der malerischsten aller bildenden Künste, der Aquarellmalerei, lassen die einen Künstler, wie etwa Emil Nolde, oft kaum mehr irgendwelche Konturen erkennen, andere aber, wie Rudolf von Alt oder Egon Schiele, haben mit ihren Aquarellen im Grunde doch wieder kolorierte Zeichnungen geschaffen. Es geschieht im Übrigen nicht eben selten, dass ein Aquarellist, nachdem er Nass-in-Nass seine Farbe gegeneinander oder ineinander verschoben hat, zum Abschluss noch einmal zu einem schmalen Pinsel oder zur Feder greift, um manche Stellen etwa eines Gesichts oder einer Pflanze zeichnend aus dem Verschwimmenden herauszuheben. Ganz und gar aufgelöst wurden die Grenzen der Zeichnung in den Gemälden der Impressionisten. Und unmittelbar darauf schon wurden sie durch Gauguin oder Matisse wiedergewonnen. Auch wenn die Malerei die Kunst der Übergänge ist, so will der alles lösende Rausch der Sinne doch wieder gebändigt werden. Er sehnt sich nach seinen Grenzen. Der Zeichenstift sagt „ja, ja“ und „nein, nein“. Der Pinsel sagt „vielleicht“, „noch nicht“ und „schon wieder“. Der Stift will erkennen. Der Pinsel will berühren, ertasten und erfühlen. Und da sich beide Künste oft in einer Hand sehr wohl befinden oder sich in ihr widerstreiten, kann man in allen Epochen die zeichnenden und die malenden Künstler ausmachen und die einen von den anderen unterscheiden, Botticelli etwa von Tizian, Toulouse-Lautrec von Monet oder Kirchner von Nolde, und im Werk eines jeden Künstlers den Kampf oder die Versöhnung der einen Kunst mit der anderen. 38

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Dass von dem großen Vermächtnis der Zeichenkunst und von einer diesem verpflichteten Ausbildung in heutigen Tagen so wenig mehr die Rede ist, erweist deutlicher als alles andere, auf welche Bahn wir in den immer noch sogenannten schönen Künsten geraten sind. Wie viele unserer zeitgenössischen Maler erwerben sich heute Anerkennung und alle Sorten von Preisen, ohne je den ersten Schritt vor dem zweiten getan und vor dem Malen das Zeichnen gelernt zu haben! In den Malklassen werden die Studierenden meist nur mehr zum sinnfälligen Verteilen der Farben angeleitet. Wenn die Unbeholfenheit des formenden Handwerks allzu offenkundig zu werden droht, flüchtet der Adept ins Ungefähre des Informel. Formen werden schließlich entgrenzt, gehen stufenlos ineinander über, Farben verschwimmen. Eine solche Kunst ohne Gerippe lässt sich leichter lehren und erlernen als die Meisterschaft eines Goya, eines Menzel, eines Callot. Es soll hier jedoch nicht das Wort geredet werden der Herrschaft der figurativen Kunst. Der Künstler darf sich von allem befreien, was ihn beengt. Aber nicht durch Vermeidung muss er dies tun, sondern durch Überwindung. Wer meint, die Aktzeichnung führe ihn geraden Wegs in die Konvention, sollte andere Motive wählen. Das Zeichnen kann auch an anorganischen oder vegetativen Objekten gelernt und geübt werden, in einem Steinbruch, einer Straßenschlucht, einem Gewächshaus. Und schließlich mag es, wenn eine erste Sicherheit gewonnen ist, sich austoben in frei fantasierenden Formen. Wer würde behaupten, dass im Nahen Orient etwa, nachdem alle figürliche Darstellung von der Religion verboten wurde, keine Kunst mehr entstanden wäre? Es ist uns eine fremde und wir können ihr gegenüber nur bis zum Staunen, nicht aber darüber hinaus zum Glück der übereinstimmenden Erkenntnis gelangen. Doch auch dem Zeichner von Arabesken muss ebenso wie dem Porträtisten vor allem anderen einmal die Hand gehorchen. An der Herrschaft der Hand über das Werkzeug und über das duldende Papier, an der geschmeidig hineilenden oder zögernden, an der tastenden, stolpernden oder gar strauchelnden Linie erweist sich dem Betrachter das Wollen, das Können und das Scheitern des Künstlers. Und das allein will er seit je an einem Kunstwerk erkennen. Das allein will er immer wieder und auch heute noch sehen im Zeitalter der Myriaden von Bildern, die uns Film, Fotografie und Reproduktion täglich aufdrängen oder aufzwingen.

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Man hat den ureigenen Wert der Zeichnung in den vergangenen Jahrhunderten zuerst zu erkennen und dann immer besser zu schätzen gelernt. Ihren Wert als Ware vor allem. Und heute wird man originale Zeichnungen oder Grafiken der großen Meister, eines Leonardo, eines Michelangelo, eines Raffael, Dürer, Rembrandt, Goya, Menzel, Toulouse-Lautrec, Degas, Klimt, Schiele, Manzù, Matisse und, um einen Zeitgenossen zu nennen, auch die des kürzlich verstorbenen Horst Jansen nur mehr mit Preisen angeboten finden, die nur noch von Händlern und Museen, aber kaum mehr von Liebhabern zu bezahlen sind. Von den Hütern der großen Sammlungen werden sie zum Schutz vor dem Licht sofort nach dem Erwerb in lichtlose Depots eingelagert. Im Zeitalter der Reproduktion ist ein Verschwinden des Originals nicht mehr ganz so fatal wie zuvor. Faksimiledrucke können vieles mustergültig im wahren Wortsinn ersetzen. Und was die Originale betrifft, so kann man versichert sein, dass sie dabei von ihrem Warenwert nichts verlieren. Doch der kümmert den echten Kunstliebhaber wenig. Bezahlen könnte er ihn ohnehin nicht. Aber es sollten doch auch die originalen grafischen Werke von Zeit zu Zeit in Expositionen wieder ans Licht gelangen, denn ohne Licht wären sie nie entstanden. Das Licht hat den Künstlern die Augen geöffnet. Und die Bestimmung ihrer Werke und vor allem auch der Zeichnung ist es und wird es bleiben, die Augen der Menschen wiederum durch ihre scheinbar so einfachen und doch so unnachahmlichen Linien zu der beglückenden Erkenntnis der Geheimnisse der menschlichen Seele und der sich in ihr spiegelnden Wunder des irdischen Daseins zu führen.

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he ich beginne, meine Überlegungen zu einem Thema darzulegen, das weit außerhalb meiner beruflichen Kompetenzen liegt, will ich bekennen, dass ich mich keineswegs unter die Ägyptologen oder Archäologen drängen möchte, auch wenn mich wie manchen anderen nachdenklichen Menschen diese beiden Gebiete der Forschung der Menschheitsgeschichte seit meiner Jugend stets angezogen und zuweilen sogar längerhin gefesselt haben. Und so habe ich mich nebenbei auch immer wieder einmal in die darauf sich beziehende Sach- und Fachliteratur versenkt, ohne darum den Anspruch auf akademisch gegründetes Wissen zu erheben. Beide Wissenschaften, die sich den ältesten historischen Gegenständen widmen, sind selbst nicht ebenso alt. Mit den ersten Ausgrabungen von Pompeji und mit Napoleons Feldzug nach Ägypten hat alles erst begonnen und man hat sich nach den ersten zeichnerischen Vermessungen bald auch darangemacht, die Schriften der Alten zu prüfen, um Nachrichten aus früherer Zeit über die alten Kulturen zu entdecken. Danach setzte man den Spaten an, nicht nur im Tale des Nil, sondern auch im Zwischenstromland und in anderen Ländern. Vieles überaus Staunenswerte hat man seither entdeckt. Manches ist uns ein Rätsel geblieben. Einige der Fragen, die in weiteren Kreisen immer wieder aufgeworfen wurden, haben auch mich beschäftigt. Und wenn ich hier nun meine Überlegungen zu einem dieser Themen vorstelle, so bin ich mir bewusst, dass besser Bewanderte andere Antworten wissen mögen, auch wenn sie damit unter sich bleiben und die Neugierigen außerhalb ihrer Kreise nicht einbeziehen in ihr Wissen. Und da viel Irrtümliches oder geradewegs Falsches in populärwissenschaftlicher Form seither unter die Leute gekommen ist, habe ich Mut gefasst zu den nachfolgenden Zeilen. Die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie die Pyramiden von Gizeh erbaut wurden, beschäftigt nicht nur die Wissenschaften, sondern auch eine breitere Öffentlichkeit seit Jahrhunderten. Die meisten bisher vorgebrachten Theorien haben sich als wenig überzeugend erwiesen und haben unter Experten ebenso viel Widerspruch wie Zustimmung gefunden. Und so habe ich mich denn entschlossen, den Stand der Dinge, soweit er be41

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kannt geworden ist, in einer kurzen Übersicht darzulegen und ihn durch einige Notizen aus meiner Schublade zu ergänzen, um eine Aussicht auf weitere Forschungen zu eröffnen. Im Vertrauen darauf, dass die Zeiten vorüber sind, in denen einem, der die Lösung eines Rätsels verfehlte, der Kopf vor die Füße gelegt wurde, soll im Folgenden der Versuch einer Antwort unternommen werden von einem, der nicht viel mehr als ein wenig Menschenverstand und ebenso viel Fantasie für sich in Anspruch nehmen kann. Bauingenieure, Statiker, Religionsforscher, Ethnologen, Historiker und Astronomen mögen es sich gefallen lassen, einer Stimme aus dem Abseits vorurteilsfrei so lange zuzuhören, bis sie Argumente zur Entkräftung auch dieser Hypothese formuliert haben. Im Vorhinein sei jedoch darauf verwiesen, dass religiöse Beweggründe für den gewaltigen Bau ebenso wie davon nicht immer abzugrenzende astrologische Ausrichtungen nicht Gegenstand der Untersuchung sein können. Es soll genug damit sein, das Augenscheinliche und Handgreifliche dieser ungeheuerlichen Unternehmung nachprüfbar darzulegen. Begonnen sei mit der Behauptung, dass bisher die meisten Versuche einer Erklärung von einer Kenntnis von Technologien ausgegangen sind, die aus späteren Epochen stammen, und dennoch – oder gerade deswegen – zu keinem befriedigenden Ergebnis führten. Man suchte vor allen anderen die Frage zu beantworten, wie die riesigen Steinblöcke, welche zum Bau der Jahrtausende überdauernden Werke dienten, in die Höhe gehievt und fugenlos an die ihnen zugedachten Stellen gestellt werden konnten. Einige gingen dabei von der Überzeugung aus, dass sie zuerst senkrecht von unten nach oben gehoben oder gestemmt und danach seitlich verschoben werden mussten. Und man machte sich in der Folge Gedanken über die technischen Hilfsmittel, mit welchen diese Steine bewegt werden konnten, von denen die leichteren auf ein Gewicht von etwa 2,5, die schwersten aber auf eines von 40 Tonnen geschätzt werden. Damit scheiterten solche Überlegungen schon im Ansatz, da dergleichen Gewichte nur von Hebekränen und Seilen aus einem gehärteten Metall, vergleichbar unserem Stahl, gehoben werden können, einem Metall, das in einer Epoche, die wir in Mitteleuropa noch zur Steinzeit rechnen, auch in dem weit gegen die Bronzezeit fortgeschrittenen Ägypten nicht zur Verfügung stand. Auf die untauglichen Versuche der jüngst vergangenen Jahre, die im besten Falle zeigten, dass mit Kränen oder Wippen aus Holz und Stricken nur Steinblöcke von weit ge42

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ringerem Gewicht und Umfang unversehrt auf eine Ebene von nur wenigen Metern befördert werden konnten, soll hier nicht eingegangen werden. Sie mögen für arrangierte Dokumentationen des Fernsehens recht unterhaltsam sein, können aber nichts weiter als die Hilflosigkeit der Televisionäre beweisen. Der zweite Versuch einer Antwort lautet, dass sie weder gehoben noch gestemmt wurden, sondern geschoben und gezogen. Aber einerseits konnte weder durch Schieben noch durch Ziehen eine Verfugung erreicht werden, die an manchen Stellen – nicht an allen – so eng ist, dass sie es keinem Grashalm erlaubt, sich zwischen die Ritzen zu drängen. Andererseits waren die Seitenwände der Quader nicht groß genug, um Zugriff für die vielen Hände, und die Standflächen auf den unteren Blöcken nicht breit genug, um Raum für die vielen Füße zu gewähren, die nötig gewesen wären, um menschliche Muskelkraft zur Verschiebung der Kuben einzusetzen. Die Steine konnten bestenfalls, wenn sie von allen Seiten frei zugänglich waren, mit Menschen- oder Tierkräften, mit Stricken und Rollen auf gleitender Fläche in sehr geringer Steigung aufwärts bewegt werden. Diese Be wegungsfreiheit aber war an dem ihnen bestimmten Standort in unmittelbarer Nachbarschaft anderer Quader nicht mehr gegeben. Die Steine wurden also am Ende ihres Weges nicht mehr geschoben oder gezogen. Was dann? Wenn von unten nicht und von der Seite nicht, wie sollten die Steine an ihre Stelle gebracht werden? Einige auf den ersten Blick vielleicht überraschende Überlegungen sollen hier nun zur Lösung der umstrittenen Frage vorgebracht werden. Die erste führt zu der Behauptung, dass die Blöcke weder von unten noch von der Seite, sondern allein von oben auf den Millimeter genau an den richtigen Platz gefügt werden konnten. Von oben, das will heißen: sie mussten von oben nach unten herabgesenkt und durften danach nicht weiter verschoben werden. Ein unwilliges Kopfschütteln ist hier zu erwarten. Und es klingt ja auch irritierend, wenn da einer in der Überzeugung auftritt, dass jedes Gewicht, um auf eine höhere Ebene gesenkt zu werden, erst noch um einiges höher gehoben werden muss, um danach zielgenau abgesenkt zu werden. Die Aufgabe scheint auf den ersten Blick durch eine solche Manipulation eher erschwert als erleichtert. Auf den zweiten Blick jedoch lässt sich erkennen, dass die fugenlose Einsetzung des Steinblockes auf diese – und nur auf diese Weise – ohne nachträgliche Rückungen erfolgen kann. Während ein auf dem Boden aufruhender Stein nur durch 43

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seitlich eingesetzte Riesenkräfte bewegt werden könnte, ist ein schwebender Stein mit dem kleinen Finger zu lenken. Es waren die in allen anderen Fällen erforderlichen Verschiebungen riesiger Steine auf schmalem Grund Manipulationen, die sich mit menschlicher Muskelkraft auf keine Weise hätten durchführen lassen. Die Schwerkraft war die stärkste der Kräfte, die beim Bau der Pyramiden eingesetzt werden konnten. Sie musste jedoch zuerst überwunden werden, um danach zur richtigen Platzierung der Steine wieder genutzt zu werden. Mit ihrer Hilfe konnten die Blöcke von oben herabgesenkt werden, nachdem ihr letzter Standort in Übereinstimmung mit ihren Abmessungen genau bestimmt worden war. Und dies so langsam, als nur irgend möglich, um sie genau und unverletzt an die richtige Stelle zu setzen. Wie aber wurden die Steine an den höher gelegenen Ort gebracht, um sie abzusenken? Man wird sich mit der Antwort darauf ein wenig gedulden und uns gestatten müssen, noch einmal zurückzutreten, um die Bedingungen des Landes und der Zeit darzulegen, unter welchen das Werk bewältigt wurde. Vorab ist dabei eine Überlegung anzustellen, die Werkzeuge, die Baumaterialien und die Bewegungskräfte betreffend, die den Menschen dieser Epoche vor etwa viertausendsiebenhundert Jahren zur Verfügung standen. (Dass die Erbauung der Pyramiden gar vor siebentausend Jahren oder mehr geschehen sein soll, wie einige fantasievolle Theoretiker neuerdings vermuten, die sich mehr an astronomischen Kombinationen als an historischen Erkenntnissen orientieren, wollen wir hier beiseite lassen.) Die Epoche, mit der wir uns hier zu befassen haben, ist das sogenannte Alte Reich der Ägypter, das von ungefähr 2880 bis 2220 währte und danach vermutlich durch einen Wandel des Klimas und nachfolgende Revolutionen in einer chaotischen Wirrnis und Zersplitterung endete, die man später als erste Zwischenzeit bezeichnet hat. Einzig in der Epoche des Alten Reiches wurden Pyramiden unterschiedlicher Form und Größe erbaut. Unser Augenmerk richtet sich jedoch nicht auf die älteren und wesentlich kleineren Stufenpyramiden und die Bauten des südlichen Sakkara, sondern allein auf die Werke der vierten Dynastie und hier vor allem auf die erste und größte der Pyramiden von Gizeh am Unterlauf des Nil, dem damaligen Zentrum des Reiches. Setzen wir nun aber einmal mit der klassischen Ägyptologie voraus, dass die älteste der drei Pyramiden von Gizeh, die des Cheops – auf Ägyptisch nannte er sich Chufu – während der Jahre 2700 bis 2675 vor unserer 44

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Zeitrechnung gebaut wurde, so befinden wir uns noch in einer vorbronzezeitlichen Epoche. Die einzig vorhandenen metallenen Werkzeuge, Hämmer, Beile, Winkelmaße und Meißel, waren aus dem weicheren Kupfer geschmiedet. Daneben dienten den Erbauern Pflöcke und Balken aus Zedernholz, aus Pflanzenfasern gewundene Stricke und Seile sowie geschärfte und geschliffene Feuersteine. Die gebräuchlichen Baumaterialien waren, wie auch heute noch jedermann selbst vor Ort überprüfen kann, Steine, Sand, Wasser, die in großen Mengen verfügbar waren, und das teure Holz, das meist aus dem Libanon eingeführt werden musste. Die Kräfte, die zur Bewegung dieser Materialien eingesetzt werden konnten, waren zunächst einmal die zahlloser durch Befehl gedrungener oder durch Versprechungen gedungener Arbeiter, die, um den Göttern oder dem Pharao zu dienen, sich mit ihren Familien in großen aus Nilschlammziegeln gemauerten Siedlungen – von denen man einige Überreste jüngst im Wüstensand ausgraben konnte – niederließen und oft ihr ganzes Leben am Bau verbrachten. Denn die durchschnittliche Lebenserwartung eines ägyptischen Handwerkers oder Bauern zu jener Zeit wird auf nicht mehr als dreißig bis fünfunddreißig Jahre geschätzt, auch wenn Pharaonen und Hofbeamte oft sehr viel älter wurden. Freie Ägypter waren die Erbauer der Pyramiden, nicht fremde Helfer oder unterworfene Kriegsgefangene. Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht von Interesse, die bereits in der Frühzeit dokumentierten Handwerksberufe anzuführen, da von ihnen die meisten in irgendeiner dienenden Form auch beim Pyramidenbau genutzt werden konnten. Neben den Töpfern, Webern und Korbflechtern waren dies vor allem die Werkzeugmacher, Schmiede und Steinmetze. Alles, was mit der Nahrungsbeschaffung und -zubereitung verbunden war, wurde vermutlich im Verband der Familien oder Sippen geleistet. Während der vier Monate, etwa von Mitte Juni bis Anfang Oktober, in welchen der Nil das Tal überschwemmte, konnten die Bauern auf den Feldern nicht arbeiten. Um zu pflügen, zu säen und zu pflanzen, mussten sie das Abfließen der Gewässer abwarten. Sie konnten also in dieser Zeit für die Arbeiten am Bau eingesetzt werden, zumal auch erst durch den hohen Wasserstand des Nil der Transport der Steine auf Booten oder Flößen ermöglicht wurde. Die angeworbenen Arbeiter, seien es nun Bauern, Flussschiffer oder Handwerker, wurden in Gruppen eingeteilt, die untereinander wetteiferten. Man schätzt, dass es sich dabei um fünf durch eigene Namen unterschiedene Gruppen zu 45

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jeweils etwa tausend Männern handelte. Offenbar scheint es gelungen zu sein, sie vom Sinn dessen, was sie taten, zu überzeugen. Die Sklaverei war während der Dynastien des Alten Reiches unbekannt. Erst etwa neunhundert Jahre später, in der 12. Dynastie unter Pharao Sesotris, begann man Kriegsgefangene als Arbeitskräfte beim Bau von Bewässerungskanälen einzusetzen. Aus den in den ausgegrabenen Siedlungen gefundenen Essensresten konnte man schließen, dass die Ernährung der Arbeiter keinesfalls mangelhaft war. Größere Kräfte aber und längere Ausdauer als von Menschen konnte man von Tieren erwarten, vornehmlich Ochsen, Eseln und Büffeln. Pferde und Maultiere wurden erst ab etwa 1700 in Ägypten von den östlichen Kriegsvölkern übernommen. Diese menschlichen und tierischen Kräfte jedoch waren nicht die entscheidenden. Als weitaus stärkste aller am Bau wirkenden Kräfte wurde – wir haben es schon gesagt – die Schwerkraft genutzt, die Anziehungskraft der Erde. Diese genannten und keine anderen Baumaterialien und Bewegungskräfte bestimmten die Dauer der Arbeit und die äußere Form des zu schaffenden Werkes. Die Gestalt der Pyramiden erscheint uns heute so ungewöhnlich, wie sie damals wohl selbstverständlich erschien. Etwas Vergleichbares zu schaffen wären wir heute mit den uns gebräuchlichen Werkstoffen und Bewegungskräften kaum mehr imstande. Damals aber, vor fast fünftausend Jahren, hätte kein anderes Gebäude von ähnlichen Ausmaßen entstehen können als ebendieses in vier Seitenflächen gleichförmig nach oben sich verjüngende wundersame Gebilde der Grabmäler der Pharaonen. Und hinzugefügt sei, dass auch ohne die Nachbarschaft des Nilstromes, als des Trägers der schwersten Gewichte, und ohne die erstaunliche frühzeitige Technik der Wasserkraftnutzung der Plan eines solch monumentalen Baus gar nicht hätte gefasst werden können. Der überwiegende Teil der zu verbauenden Steine wurde in unmittelbarer Nähe der Pyramiden am Westufer gewonnen, wie durch petrografische Untersuchungen festgestellt werden konnte. Die Tatsache aber, dass der feine Kalkstein für die äußere Verkleidung der Pyramiden in den etwa fünfzehn Kilometer weit entfernten Steinbrüchen auf dem Ostufer des Nil gebrochen werden musste, führt unabweisbar zu der Schlussfolgerung, dass deren Verladung allein auf dem Wasser geschehen konnte. Während das Brechen und Behauen der Steine das ganze Jahr über geschehen konnte, wurde eine Verschiffung vermutlich am besten zu den Zeiten der alljährlich 46

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wiederkehrenden Überschwemmungen bewerkstelligt, wobei möglicherweise durch Aushebung von später wieder zugeschütteten Kanälen eine größere Annäherung an die vorgesehenen Baustellen erreicht wurde. Dies mag auch für die Bausteine der westlichen Steinbrüche gelten, nachdem man einmal erkannt hatte, dass ihre Fortbewegung auf dem Wasser leichter zu bewältigen war als auf dem Lande. Dieser Gedanke ist keineswegs neu, zumal man auch an anderen Orten im Ägypten des Alten Reiches die verblüffenden Kenntnisse des Kanalbaus immer schon sehr wohl studieren konnte. Für den Transport auf dem Wasser benutzte man vermutlich Flöße aus starken, runden Holzstämmen, die man bei der späteren Beförderung der Blöcke recht gut als Rollen wiederverwenden konnte. Nach beträchtlichen Mühen war man nun also mit den ersten Bausteinen am Ort des Geschehens angelangt. Dort hatte man den Grundriss der geplanten Bauten auf den gewachsenen Felsboden geritzt oder gezeichnet und ihn nach den Sternbildern des Nachthimmels ausgerichtet, in einer Weise, die von den Archäoastronomen auch heute noch bestaunt wird. Im Messen und Peilen waren die alten Ägypter die unnachahmlichen Meister. Es war ihnen gelungen, die Ausrichtung der Seitenwände der Pyramiden nach den Zirkumpolarsternen des Nordhimmels und die Stellung der drei ältesten Pyramiden zueinander nach dem Sternbild des Orion mit einer Genauigkeit zu bestimmen, die uns auch heute noch in staunende Bewunderung versetzt. Auf diesen Aspekt, der für die Ägypter von höchster Bedeutung war, und in weiterer Folge auch die Ausrichtung der Grabkammern und Lichtschächte bestimmte, soll hier nicht weiter eingegangen werden. Die Theorien hierüber füllen zahlreiche Bücher. Festgehalten jedoch muss werden, dass die ägyptischen Gelehrten nicht nur was die Gestirne betrifft große Meister der Vermessung waren. Die alljährlichen Überschwemmungen des Nil hatten zur Folge, dass alle Grundstücke innerhalb des fruchtbaren Landes Jahr für Jahr neu zu vermessen waren und aller Besitz neu zugeteilt werden musste. Dies konnte nur durch Peilung von wenigen festen Bezugspunkten aus geschehen. Und wenn die Messungen und Rechnungen, die dem Bau der Pyramiden vorausgingen, großes Wissen, große Geduld und Sorgfalt erforderten, so gaben die Monumente nach ihrer Fertigstellung allem Messen und Rechnen ein neues Richtmaß für spätere Zeiten. Hatte man nun auf dem Plateau von Gizeh die Fundamente des felsigen Bodens für alles Weitere vorbereitet und sie durch die Anlegung einer Was47

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serrinne aufs Genaueste waagrecht ausgerichtet, so rückte man nun die erste Schicht der Grundsteine an ihren Platz: immer von innen nach außen bauend, die inneren Steine zuerst und die Ecksteine zuletzt. Bevor wir aber zu erklären versuchen, auf welche Weise die mehr als zwei Millionen gewaltigen Steine von Stufe zu Stufe immer höher gelangten, wollen wir noch einmal festhalten, dass nicht allein die Ausrichtung des Grundrisses und die Neigung der Seitenflächen der Pyramide im Vorhinein festgelegt, sondern dass auch das verwinkelte System der inneren Gänge und die Lage der Grabkammern genau bestimmt werden mussten. Es ist nicht auszudenken, welche Arbeit zu bewältigen gewesen wäre, wenn eine Aushöhlung dieser Räume bei steter Einsturzgefahr erst im Nachhinein mit Hämmern und Meißeln hätte geschehen müssen. Ein jeder Hohlraum musste durch einen tragenden Stein überdeckt werden, der seitlich so gut abgestützt sein musste, dass er weder verrücken noch einbrechen konnte unter der gewaltigen Last, die nach und nach auf ihn geschichtet würde. Die Wissenschaft der Statiker hat hieran gewiss auch heute noch einiges zu bestaunen. Zur Abdeckung der Grabkammer des Königs etwa wurden die gewaltigsten Blöcke mit einem geschätzten Gewicht von je weils 40 Tonnen eingefügt. Dass vor allem an dieser Stelle die viel bewunderte fugenlose Maßarbeit durch genaue Vorausberechnung der Position der von oben abzusenkenden Steine gewahrt wurde, erkennen wir noch heute, wenn wir die glatten, unverputzten Wände und Decken der Gänge und Kammern betrachten. Mit welcher Präzision dabei gearbeitet wurde, lässt uns ein Bericht des Herodot erahnen, der etwa 2300 Jahre nach Fertigstellung der Pyramiden Ägypten bereiste. Er will gesehen haben, dass die Grabkammer des Cheops im Innersten der Pyramide von einem Wasserteich umgeben war. Da nicht anzunehmen ist, dass abrinnendes Wasser über all die Jahrhunderte immer wieder ersetzt worden ist, muss die Verfugung der Steine nicht nur vollkommen lückenlos, sondern auch wasserdicht ausgeführt worden sein. Die Baumeister und ihre Helfer standen nach Errichtung des Fundaments nun also vor der entscheidenden Aufgabe, die zweite und alle folgenden Reihen der Steine an den ihr vorbestimmten Ort zu bewegen. Die einzige Kraft, die dazu imstande sein konnte, war die Schwerkraft. Und die Antwort, wir haben es schon gesagt, musste darum lauten: von oben. Wenn man diesen uns heute so schwer zu fassenden Gedanken, diesen Rös48

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selsprung der Fantasie, wie es die Schachspieler nennen würden, einmal gewagt hat, sind die danach folgenden Schritte schon etwas leichter zu erkennen. Und während die Experten weiterhin die Köpfe schütteln, wagen wir auch diese Schritte nun und behaupten: Die bereits gesetzten Steine wurden mit Sand zugeschüttet, bis sie vollkommen bedeckt waren. Sand war und ist auch heute noch in unübersehbarer Menge vorhanden. Und so wurden die zweite und alle weiteren Reihen der Steinquader sprichwörtlich und tatsächlich in den Sand gesetzt. Nicht anders als man das auch heute noch mit den um so Vieles kleineren Granitsteinen eines Kopfsteinpflasters zu machen pflegt. Diese Methode, Straßen zu bauen, ist so lange in Gebrauch, wie es gepflasterte Straßen gibt. Sie ist vielleicht ebenso alt wie die Pyramiden. Hände für eine solche Arbeit gab es genug, um den Sand in Körben oder Tüchern aus der Wüste dorthin zu tragen, wo er dienen sollte. Über das auf solche Weise aufgeschüttete Polster aus Sand aber wurden die Steinblöcke geschoben – und auf der ersten Wegstrecke auch wohl gezogen – vermutlich auf den Rollen der Baumstämme, die aus dem Verbund der Flöße gelöst worden waren. Dabei war darauf zu achten, dass die Steinquader am Bau jeweils von innen nach außen aufgereiht wurden, unter besonderer Berücksichtigung der auszusparenden Hohlräume für Gänge und Kammern. Der genaue Zielort der Bausteine wurde von oben vermessen, vermutlich von Holzgerüsten aus durch Lote und genormte Metallstäbe, die in den Sand gesteckt wurden. Und wenn die senkrechte Ausrichtung und Senkung fixiert war, wurde von vielen Händen der Sand neben dem Steinblock beiseitegekehrt. Er rinnt unter dem Gewicht der Blöcke hervor. Man braucht dazu nicht unter den Stein zu greifen. Es genügt, ihn seitlich zu entfernen. Er rinnt und rieselt durch das Gewicht, das ihn presst, bis auf das letzte Korn. Wo nicht, dort wurde mit Wasser nachgeholfen, um ihn auszuschwemmen. Das ist eine Arbeit auch für schwache Hände. Und es steht zu befürchten, dass die Bauaufseher dieser längst vergangenen Zeiten keine Skrupel kannten, auch Frauen und Kinder zu diesen Diensten einzusetzen. Ein jedes Kind hat das Spiel mit dem rieselnden Sand schon einmal mit leichteren Gewichten im Sandkasten erprobt. Der Stein senkt sich durch den schwindenden Sand an seinen vorbestimmten Platz und braucht nicht weiter verschoben zu werden, wenn zuvor genau gemessen wurde. Die Ausführung des gewaltigen Werkes erfolgte also, wenn wir diese Gedanken gelten lassen, nicht in der „Aufrichtung“ der sich nach oben 49

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zu verjüngenden Pyramiden durch senkrechte seitliche Bautürme, sondern gleichsam von innen heraus durch das Anschleppen und Anhäufen der Steinblöcke und durch deren Zuschütten mit Sand. Und die Arbeiten wurden fortgesetzt auf einer dadurch allmählich sich erhöhenden Ebene der Bautätigkeit. Aus der Ferne mochte man damals den Eindruck gewinnen, dass ein riesiger, weit ausgedehnter und flach ansteigender Sandhügel sich unter den Füßen der Bauleute erhob, einer mächtigen Düne der nahen Wüste vergleichbar. Und dazu bedurfte es keiner weiteren Hilfsmittel als der vielen tausend Hände, die den Sand in kleinen Gefäßen, seien es Weidenkörbe oder Tragtücher, über immer höher wachsende Rampen herbei trugen. Diese Rampen wurden vermutlich aus den zum Bau ungeeigneten Gesteinsbrocken aus den Steinbrüchen erbaut, aus Bruchstücken, die, von geringerem Ausmaß und Gewicht, auch von Ochsen und Eseln über die Kanäle herbeigeschafft und zu Stützmauern verwendet werden konnten, um das Abrutschen oder Auseinandersickern des aufgehäuften Sandes zu verhindern. Wenn man nun eine Höhe etwa der Cheopspyramide von 146,8 Metern (heute misst sie durch Abwitterung nur mehr etwa 137) auf einer Grundfläche von 230,4 Metern zu erreichen suchte, so musste eine in gerader Linie ausgelegte Rampe bei einer Steigung von keinesfalls mehr als 10  eine Länge von anderthalb Kilometern aufweisen. Aus dieser Erkenntnis wird man sofort zu dem Schluss geführt, dass eine solche Rampe nur in kreisender Form sich spiralengleich aufwärts winden konnte, um die Arbeitswege zu verringern. Sie wurde durch die bereits erstellten Bauteile in ihrer Stabilität gesichert. Andererseits musste jedoch darauf Bedacht genommen werden, dass an der Ostseite der Pyramide der Bau für den gleichzeitig entstehenden Pyramidentempel, der dem Kult des Herrschers zu dienen hatte, nicht durch die Rampe beeinträchtigt wurde. Und nun sei die Beantwortung der dritten sich stellenden Frage versucht, die mit den beiden vorangegangenen zusammen die Lösung des Rätsels ergeben könnte. Sie betrifft die Vorrichtung zum Transport der Steinquader auf ein immerfort sich erhöhendes Niveau des Baugeschehens. Die Antwort muss lauten: Die Bausteine der Pyramiden wurden mitsamt den Flößen durch ein kommunizierendes System von Wasseraufstauungen mithilfe von Schleusen und Deichen bis an den Fuß der Baurampen gehoben. Solche Anlagen zu errichten, waren die alten Ägypter geübt durch die alljährliche Bewässerung ihrer höher gelegenen Felder mit dem Flutwasser des Nil. Man kann sich vor50

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stellen, dass die Staustufen abwechselnd durch Pumpen mit Wasser gefüllt wurden, oder aber auch, dass Menschen und Tiere in Krügen und Schläuchen das Wasser aus den Kanälen herbeitrugen. War eine Schicht von Steinen auf solche Art auf die vorgegebene Höhe gelangt, so wurde über den bereits fertiggestellten Teil des Baues wiederum Sand und abermals Sand gehäuft, und auf dieser beweglichen Unterlage nun wurden auf rollenden Rundhölzern die Blöcke auf sanfter Steigung gleitend an ihren Bestimmungsort gezogen und geschoben. Die Höhe einer Pyramide und die Länge der sie umkreisenden Rampe waren also, um in mathematischer Terminologie zu sprechen, Funktionen der Anzahl der Sand schleppenden Köpfe oder Schultern. Zur Entspannung nach dieser mühsamen Arbeit – leider nur für den heutigen Leser, nicht für den damaligen Arbeiter – sei nun ein kleiner Seitenweg in das Gebiet der Ökonomie eingeschlagen, das heute gewiss von größerem allgemeinem Interesse ist als zu Zeiten des Cheops, des Chephren oder des Mykerinos. Weder die Hilfskräfte noch die ungeheuren Mengen von Sand und Steinen mussten mit Geld oder Geldeswert bezahlt werden. Man fand keine Münzen in den Siedlungen der Bauarbeiter. Das Wort des Herrschers bewegte die Hände. Die Hände bewegten den Sand und die Steine. Der Bauherr hatte allein für Ernährung, ärztliche Betreuung und Unterkunft von Mensch und Vieh zu sorgen und diese Aufgabe konnte er vermutlich wiederum von anderen Untertanen oder deren Frauen erledigen lassen, ohne dafür etwas anderes als seine Erlaubnis zu geben. Auch ließ sich in jenen Zeiten mit der gewaltigen Anstrengung eines wundersam begabten Volkes neben dem religiösen und machtpolitischen kein ökonomischer Zweck verbinden. Man scheut sich das Wort Zweck im Angesicht dieser Leistung überhaupt zu gebrauchen. Erst unserer Epoche war es vorbehalten, auch mit den Pyramiden, die wir weder hätten erdenken noch erbauen können, Geld zu verdienen. Der Sinn dieses Werkes hat wohl allein in dem Bemühen gelegen, das Göttliche mit dem Irdischen zu vereinen und in der Person des Pharao, als dem Sohn des Horus, dafür ein unvergängliches, machtvolles Zeichen zu setzen. Religio nannten die Lateiner dieses Bemühen, das hier und oftmals auch noch in späteren Epochen – man denke an unsere Kathedralen – nicht allein mit dem Geist oder Herzen, sondern auch mit den bloßen Händen geschah. Den vielleicht wichtigsten Teil der Bautätigkeit hatten trotz aller Mühen wohl nicht die Steinmetze, Flößer, Steinschlepper oder Sandträger, 51

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sondern die ägyptischen Mathematiker, Astronomen und Messtechniker zu bewältigen. Die hatten in der sogenannten Mastaba des Baumeisters Imhotep, einer etwa um ein Jahrhundert älteren steinernen Stufenpyramide im südlichen Sakkara, ein nur wenig dienliches und um vieles kleineres Vorbild. Und so hatten sie das visionäre Werk im Voraus zu planen, die Lage und Ausdehnung der Fundamente, die Anzahl und die Größe und Form der Steine, die Anlage der Hohlräume, die Neigung der Seitenflächen zu berechnen und während der Arbeiten jeden wichtigen Schritt messend zu begleiten. Von ihnen allen ist uns kein Name erhalten. Man könnte sich vorstellen, dass diese Männer als Beamte des königlichen Hofes auch für andere Bautätigkeiten zuständig waren. Aber, wenn dies so war, so haben sie uns auch davon keine Spur hinterlassen. Wir wollen sie dennoch über die Jahrtausende hinweg unserer Bewunderung versichern. Nicht zu beantworten ist die nunmehr längst müßige Frage, ob die Arbeiter und Bautechniker unter Zwang oder in vom guten Sinn ihres Tuns erregter Begeisterung die unvorstellbar opfervolle Leistung vollbrachten. Einige erschreckende Erfahrungen der Historie lassen uns ahnen, dass begeisterte oder fanatisierte Massen zu weit größeren Taten – und leider auch Untaten – fähig sind, als es gezwungene je sein könnten. Der Bau der Pyramiden und die uns bekannt gewordenen Grablegungsriten verweisen auf die unzerstörbare Gewissheit der Ägypter, dass der Tod, wenn schon nicht vermeidbar, so doch am Ende überwindbar sei. Nirgends in ihren Texten, die im Inneren der Grabstätten gefunden wurden, steht das Wort „Tod“ geschrieben. Ihr Glaube und die Gebäude ihrer Hände sind ein einziger Protest gegen den Tod. Daraus erwuchs ihnen die Kraft zu solchen Werken. In kurzen Worten sei die hiermit der Kritik überantwortete Hypothese vom Bau der Pyramiden noch einmal zusammengefasst: Die in den Steinbrüchen gebrochenen und sorgfältig behauenen Steine wurden auf rollenden Balken herbeigeschleppt oder auf Flößen über den Nil gebracht beziehungsweise auf Kanälen der Baustelle von Gizeh entgegengezogen, durch Wasserschleusen auf Rampen gehoben, dort mithilfe von rollenden Holzstämmen über gleitenden Sand oder über mit Nilschlamm geglättete steinerne Straßen nicht an, sondern über ihren Bestimmungsort geschoben und danach durch ein beiseite zu kehrendes oder auszuwaschendes Sandpolster 52

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zielgenau abgesenkt. Das Baugerüst der Pyramiden war der Wüstensand. Die Kraft, welche die Steine an ihr Ziel bewegte, war in entscheidendem Ausmaß die Schwerkraft, im Wasser sowohl wie auf dem Lande. Wenn es gelungen sein sollte, die obigen Gedanken glaubhaft darzustellen, dann hat das Kopfschütteln ein Ende. Es wurden hier sehr bewusst nur die historischen, sozialen und bautechnischen Aspekte des Pyramidenbaus angesprochen. Ausgespart blieben die religiösen und astronomischen. Ihre Beantwortung soll den Religionswissenschaftlern und den Archäoastronomen überlassen bleiben, wobei einbekannt werden muss, dass diese die größeren Rätsel zu lösen haben, da wenige menschliche Werke so sehr von spirituellen Vorgaben bestimmt wurden wie jene im alten Ägypten. Es ist hierzu ein Spezialwissen vonnöten, das mir nicht gegeben ist. Die Erkenntnis etwa, dass der gewählte Neigungswinkel von 27 Grad es dem Polarstern ermöglichte, durch den Schlitz eines freigelassenen Zugangs auf den Sarg des Pharao zu leuchten, kann ich staunend nachvollziehen. Dass aber die Ägypter die Höhe der Cheopspyramide bewusst mit 146,8 m gewählt haben sollen, weil sie genau den einmilliardsten Teil ihres Abstandes von der Sonne beträgt, übersteigt meine irdische Vorstellungskraft. Immerhin kann ich noch eine Antwort versuchen auf die häufig gestellte Frage: Wie viele Jahre währte die Arbeit an den drei Pyramiden? Wenn die Pharaonen der vierten Dynastie Snofru, Cheops, Djedefre, Chephren, Bicheris, Mykerinos, Schepseskaf und Tamphthis einander auf dem Throne nachfolgten und der zweite, der vierte und der sechste in der Reihenfolge je eine solche Grabstätte erbauen konnten, so kann die Dauer der Fertigstellung einer Pyramide zwei Regierungszeiten kaum überschritten haben. Die genannten Könige herrschten in der Zeit von etwa 2700 bis 2600 vor unserer Zeitrechnung, also insgesamt einhundert Jahre. Lässt man den ersten und die beiden letzten Pharaonen aus der Rechnung, so bleiben nicht mehr als höchstens fünfundzwanzig bis dreißig Jahre für die Erbauung einer jeden der drei Pyramiden. Es gibt nun auch neuere Theorien, die von einer Bauzeit etwa der Cheopspyramide von gerade einmal 16 Jahren ausgehen. Die Begründungen könnten sich auf die von mir angeführten Fakten stützen. Falls sie andere Fakten anführen sollten, sind mir diese bisher nicht bekannt. Richard Lepsius, der deutsche Begründer der Ägyptologie, hat die Theorie aufgestellt, ein jeder König habe, in der Ungewissheit der ihm zugemes53

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senen Jahre, damit begonnen, ein mäßig großes Grabmal für sich errichten zu lassen und habe erst mit den sich mehrenden Jahren dieses nach außen hin mehr und mehr vergrößert, sodass die größte Pyramide auf die längste Regierungszeit des darin begrabenen Herrschers schließen lasse. Diese Theorie bietet eine der möglichen Erklärungen für die äußere Form des Bauwerks und wurde nicht zuletzt darum lange Zeit für die wahrscheinlichste gehalten. Ihr muss jedoch – und nicht zum ersten Mal von mir und in dieser Schrift – entschieden widersprochen werden. Die Pyramiden hätten demnach erst in der Regierungszeit des jeweiligen Nachfolgers zu Ende gebaut werden können. Sie waren aber – anders als man sie heute in verwittertem Zustand vorfindet – mit einem schier unvorstellbaren Aufwand vollendet worden. Die vier Außenseiten waren mit glatt geschliffenen weißen Steinplatten verkleidet, auf denen die Taten des Verstorbenen in Hieroglyphenschrift eingegraben waren. Die Spitzen waren vergoldet und leuchteten – ebenso wie die pyramidenförmigen Spitzen der heute noch erhaltenen Obelisken – weithin übers Land und gegen den Himmel. Türschlösser, Angeln und Nägel waren sorgsam aus Kupfer gearbeitet. Überdies war eine jede Pyramide umgeben von gepflasterten – und vermutlich sogar überdeckten – Straßen, von Toren, Tempeln, Vorhallen, Magazinen und den Gräbern vornehmer Verwandter, Minister und Beamter des Hofes. Nicht zu vergessen die monumentale Sphinx vor der Pyramide des Cheops, deren Rätsel ich nicht auch noch zu lösen versuchen werde. Wäre die Arbeit an alldem dem nachfolgenden Herrscher zugefallen, so hätte der schwerlich mit der Errichtung seines eigenen, wenn auch bescheideneren Grabmals beginnen können. Seine Arbeit wäre verdoppelt worden. Im Übrigen ist jede dieser Pyramiden ein so perfekt geplantes und ausgeführtes Monument, dass es gerade in seiner äußeren Erscheinung keineswegs dem Zufall eines früheren oder späteren Todes überlassen worden sein konnte. Wenn es erlaubt ist, auch ein wenig über das Selbstvertrauen eines Pharao zu spekulieren, so möchte man annehmen, dass er – bestärkt durch weissagende Priester und wissende Ärzte – ein solch gewaltiges Unterfangen nur beginnen konnte in der sicheren Gewissheit eines gottgewollten langen Lebens. Und so wurden auch nur drei Pyramiden erbaut und vollendet. Von den fünf anderen Herrschern der 4. Dynastie sind uns weder Fundamente noch Ruinen unvollendeter Bauten bekannt geworden.

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Wenn die Pyramiden nun aber doch älteren Datums sein sollten als des bisher errechneten, was ich mit Überzeugung bestreite, so bliebe auch dann der mathematische Satz in Gültigkeit: Nicht nur die Höhe und der Umfang des Baus, sondern auch die zum Bau benötigte Zeit sind Funktionen der Anzahl der bauenden Hände. Da die Zahl der zu bewegenden Steine, bei feststehender Größe, jedoch durch die Abmessungen des quadratischen Grundrisses zwingend festgelegt wurde, konnten Arbeitsdauer und Anzahl der Hilfskräfte in gegenseitiger Relation nach den damaligen Erfahrungen der Arbeitsleistungen im Vorhinein errechnet werden. Nehmen wir nun an, um ans Ziel zu gelangen, die Arbeiten am Bau wären nach keinesfalls mehr als zwei Regierungszeiten oder etwa einem Menschenalter von 30 Jahren mit der Setzung des krönenden Schlusssteines beendet worden, so wäre doch noch einiges zu tun geblieben. Die Wasserschleusen mussten beseitigt, die Kanäle zugeschüttet, Menschen und Tiere, die an Erschöpfung oder durch Unfälle gestorben waren, würdig begraben werden und der zu den Rampen angehäufte und durch Mauern gestützte Sand mitsamt den restlichen Steinen beiseite, das heißt zur nächsten Baustelle geschafft werden. Die oben genannten Straßen, Hallen und Tempel mussten errichtet werden. Dann endlich konnte Ägyptens Leben spendende Sonne das vollendete Werk, dessen weiß leuchtende Außenwände und dessen vergoldete Spitze mit ihren Strahlen segnen. Es mag wohl sein, dass die letzte Sandhülle über der vollendeten Pyramide, einem schützenden Tuche gleich, erst entfernt wurde, wenn der Pharao, der Sonnenkönig, der das Werk befohlen hatte, gestorben und in lang währenden Zeremonien einbalsamiert worden war, um auf einer Barke über den Fluss zu seiner letzten Ruhestätte geleitet zu werden, in der er hoffte, aller zeitlichen Mühen enthoben, der Ewigkeit entgegenzuschlafen.

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or einigen Jahren wurde von einer österreichischen Tageszeitung ein Wettbewerb ausgeschrieben unter Geübten und Ungeübten, Politikern und Handwerkern, Prominenten und Waisenkindern, der die Aufgabe stellte, auf einem schlichten Blatt Papier einen Engel zu zeichnen oder zu malen. Eingesandt wurden zahllose Blätter, von denen kaum eines dem anderen glich. Wahre Meisterwerke der gestaltenden Fantasie waren darunter. Und Kinder hatten nicht den geringsten Anteil daran. Kein anderes Thema hätte wohl eine vergleichbare Zustimmung und eine solche Vielfalt der Erfindung in Farbe und Form hervorgebracht. Unter einem Engel konnte sich ein jeder etwas vorstellen, auch wenn noch keiner einen gesehen hatte. Es steht mir nicht zu, von der Herkunft der Engel zu berichten oder gar Mutmaßungen darüber anzustellen, wie sie gezeugt und geboren wurden. Dass es eine Zwiesprache gab zwischen Himmel und Erde, dass Gestirne die irdischen Wege beleuchteten, dass Donner grollten, Blitze niederfuhren, Regengüsse und Hagel Fruchtbarkeit und Zerstörung brachten, dass Schnee fiel und Frieden stiftete zwischen den Menschen, dass die Nacht von oben sich senkte und Ruhe schuf, das haben die Menschen früh schon erfahren. Das alles waren Zeichen von oben, die man deuten mochte. Doch da man nur wirklich verstehen, was man in Worte oder Bilder fassen konnte, musste man Gestalten erfinden, die Botschaften trugen von oben herab und Bitten von unten hinauf, Wesen, die Raum und Zeit über wanden. Wer immer die ersten Engel erdacht hat – er hat versucht, dem Übersinnlichen einen Namen und eine Form zu geben, die seinen eigenen Verstand überstiegen. Wenn wir den Verstand als letzte Instanz unseres Fassungsvermögens setzen, können wir die von ihm ertasteten Grenzen nicht verlassen. Da wir uns kein Bild machen sollten von Dem, der da ist und waltet, gaben wir unserer Sehnsucht die menschenähnliche Gestalt eines Dämons oder eines Engels. Die Bibel weiß von solchen Wesen von allem Anfang und wohl auch schon vor Erschaffung der Welt. Einer stand an der Pforte des Paradieses. Einer lauerte in den Abgründen der Hölle. Andere stiegen auf und nieder auf einer Leiter, die von der Erde zum Himmel führte. Es verbietet 56

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sich geradezu, sie einzuordnen in unsere lust- und qualvolle irdische Geschichte. Irgendwann einmal waren sie da. Lange vor unserer geschriebenen Geschichte. Und was wir wissen von ihnen haben unsere Vorväter ihren Botschaften entnommen, wenn sie glaubten, sie verstanden zu haben. Erkannt haben sie sie an ihrer Fähigkeit, die Anziehungskraft der Erde nach Belieben zu nutzen oder zu missachten, zu erscheinen und zu verschwinden. Manchmal sah sie einer aus Wolken herabschweben, manchmal blieben sie unsichtbar den Augen der einen, sichtbar den Augen der anderen. Einmal auch ist von einem Engel die Rede, der im Rauch eines Feuers sich zeigte und danach darin himmelauf fuhr. Nicht immer, aber doch meistens und im Verlauf der Jahrhunderte immer mehr, bedienten sie sich dabei ihrer Flügel. Neben der Überwindung der Schwerkraft und der Fähigkeit sich unversehens zu zeigen und zu verbergen, wurde den Engeln eine dritte Macht zugeschrieben, die den Menschen verwehrt war: das Vorhersehen der Zukunft. Immerhin war auf Erden zu erkennen, dass es Tiere gab, die zu fliegen vermochten, Tiere, die sich durch Tarnung oder Farbenwechsel unsichtbar machen konnten, und Tiere sogar, die kommendes Unheil vorherahnen konnten. In manchem schienen diese Kreaturen den Menschen überlegen. Unterschiedlich waren für sie die Beschränkungen des Raumes und der Zeit. Die Menschen aber haben sehr früh erkannt, wo ihre Grenzen sind und haben versucht, sie zu übersteigen. Und wenn dies ihrem Körper verwehrt war, so war es nicht verwehrt ihrem Geist. Davon sind die Engel ein Bildnis, ein Zeichen. Rätselhafte, geflügelte Wesen hat es nicht allein in der jüdischen Überlieferung, sondern in allen Mythologien gegeben. Ich erinnere nur an den ägyptischen Horusfalken, an die Sphinx, die Greife, die fliegenden Drachen und an die griechischen Götterboten in Menschengestalt, an Nike, die Siegesgöttin, an Hermes oder an Iris, die Göttin des Regenbogens, an Pandora, die allzu freigiebig Schenkende, und vor allen anderen an den alles besiegenden Eros. Ein Engel, wie wir ihn heute verstehen, ist mit ihnen allen nicht zu vergleichen. Zwar ist auch er ein Bote, wie es das griechische Wort aggelos (das angelos ausgesprochen wird) verrät. Aber als Engel, als Boten des Himmels, können wir ihn wohl erst verstehen, seit uns berichtet wurde, wer sie ausgesandt hat. Und seit uns verkündet wurde, was der eifersüchtige Herr über den Wolken, der keine anderen Götter neben sich duldet, zu seinem Volk gesprochen hat. Als dessen Boten, dessen Engel, 57

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können wir seither wohl nur mehr jene Heerscharen und allen voran deren Generäle, die archaggeloi oder Erzengel, bezeichnen, von denen das Alte und das Neue Testament uns berichten. Das Alte Testament, das die Christen gemeinsam haben mit den Juden, wurde aus älteren Berichten um das Jahr 700 vor unserer Zeitrechnung zusammengefügt. Vieles darin ist uns heute nur mehr schwer begreiflich, die Engel einzig sind uns vertraut geblieben, auch wenn sie sich seither nicht wenig gewandelt haben. Die anderen, heidnischen Himmelsboten, seien es Götter, Halbgötter oder Dämonen, sind alle verblasst oder haben sich in Erze und Steine verwandelt. Von einigen wenigen der biblischen Engel sind uns die Namen überliefert. Der älteste, wenn man von Alter bei ihnen sprechen darf, jedenfalls aber der mächtigste unter ihnen scheint Lucifer gewesen zu sein. Wobei einen der lateinische Name verwundert, der nichts anderes bedeutet als Lichtbringer und einst dem schönsten der Sterne, dem Morgenstern, zugeordnet war. Offenbar hat ihn erst der Evangelist Lukas dem rebellischen Erzengel zugeschrieben. Lukas, ein Gefolgsmann des Apostels Paulus, hatte in den Prophezeiungen des Jesaias gelesen, dass der König von Babylon einst wie ein flammender Morgenstern vom Himmel in den Abgrund gestürzt sei. Und so wie dieser König habe auch Lucifer sich aufgelehnt gegen die göttliche Ordnung. Man kennt ihn seither als Fackel tragenden geflügelten Drachen. Dass man ihn in unseren Ländern auch als gehörnten, neunmal geschwänzten Ziegenbock darstellt, ist eine andere, barbarische Geschichte, von der die Bibel nichts weiß. Zu dieser Schreckensgestalt des diabolos haben die frommen Kirchenväter in späterer Zeit die versammelten Bösewichte der griechischen und germanischen Mythologie mit hebräischem Feuer und Schwefel zusammengeknetet. Man erkennt schon an seinem schwarzen, zottigen Fell, dass er verdammt war, sein Feuer in finsteren Höhlen zu schüren, fernab von den sonnigen Ländern des Südens. Schieben wir also den Höllenfürsten vor unsere Tür, solang wir von seinen jüngeren und friedvolleren Geschwistern, den Engeln des Himmels, reden und schreiben. Aber da müssen wir nun gestehen: auch die anderen Erzengel, Michael etwa, der unsere Vorfahren mit dem feurigen Schwert aus dem Garten Eden vertrieben hat, oder Asrael, der Todesverkünder, oder Uriel, der als Leibwächter Jahwes zur Linken des Thrones steht, sind uns nicht alle geheuer. Man hat ihnen mehrere Paar Flügel zugeschrieben, um sie von den einfachen Boten zu unterscheiden. Aber sie alle sind überdies gerüstet und 58

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bewaffnet, weil man sich offenbar nicht vorstellen konnte, dass sie sich allein durch den Glanz ihrer Erscheinung und die Gewalt ihrer Stimme unterscheiden könnten von anderen himmlischen Wesen. Es trugen in jenen Zeiten alle Personen von Ansehen und Gewicht stets Waffen bei sich, um sich Gehör und Geltung zu verschaffen. Einzig Raphael, der Begleiter Hagars und Ismaels in der Wüste und aller Reisenden seither, und Gabriel, der Verkünder von Christi Geburt, sind uns vertrauter geworden. Ihnen war es aufgetragen, um Frauen und Kinder Sorge zu tragen. Und darum waren sie nicht mehr mit Waffen versehen. Den einen hat der Volksglaube seither zum Schutzengel, den anderen zum Glücksbringer bestimmt. Um die Zeit von Christi Geburt haben die vormals gewalttätigen himmlischen Heere jedoch ihre Waffen niedergelegt und sich im Gesang unterrichten lassen. Was die danach gebildeten Engelschöre betrifft, die nicht mehr dröhnend in Posaunen stoßen oder gegen ihre Schilder schlagen, vielmehr das Lob des Herrn singen, so wird ihre Zahl vermutlich darum mit neun angegeben, weil einige immer wieder einmal ein tacet in ihren Noten stehen haben, um sich auszuruhen und neue Kräfte zu sammeln oder auch um neue Gesänge zu komponieren und einzustudieren. In der Musikstadt Wien hat man den neun Chören der Engel auf dem zentralen Platz am Hof eine prächtige Kirche erbaut. Leider aber hat man sie niemals dort singen gehört, auch nicht, als im Laufe der Jahre drei Päpste zu Besuch dorthin kamen. Uns sind von diesen neun heute nur mehr der Chor der sechsflügeligen Seraphim und der Chor der, wenn wir dem Propheten Hezekiel glauben wollen, vierflügeligen Cherubim bekannt. Immer scheint sich die jüdische Tradition darin nicht einig gewesen zu sein und so wurde nicht allein über die Rangordnung der Engel unter den Gelehrten von Thora und Bibel gestritten, sondern auch über deren Existenz. Während nämlich die Pharisäer an die Engel glaubten, leugneten die Saduzäer schlichtweg, dass Gott Jahwe ihrer bedürfe. Das Christentum hat diesen Zweifel nicht gelten lassen, hat aber versucht, die Engel im freundlicheren Licht einer Botschaft der Liebe zu zeigen. Uns scheint, dass die Engel des Alten Testamentes als Ausgeburten der chaldäischen, ägyptischen und hebräischen Fantasie nicht viel mehr gemeinsam haben mit den weiß gekleideten, lichtumstrahlten Schlafwandlern der christkatholischen Gutgläubigkeit. Die alttestamentarischen Geheimnisträger sind mit unseren Maßstäben von Gut und Böse nicht zu messen. Der Engel, der Abraham in den Arm fiel, als der seinen Sohn schlachten 59

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wollte, hat das grausame Spiel seines Herrn allzu lange mit angesehen. Und der Engel, der eine Nacht hindurch mit Jakob gerungen hat, hat sich allzu lange geweigert, seinen Gegner zu segnen. Nicht zu reden von den beiden Engeln, die Lot und seine Familie aus der Stadt führten, ehe sie den Brand in die Mauern von Sodom warfen, oder von den Rache- und Würgeengeln, die bei Nacht in die Hütten der Ägypter traten, um deren Erstgeborene zu töten. Viel Unheil haben sie angerichtet, die Engel, auf höchsten Befehl. Viel Vergeltung haben sie geübt und viele Schalen des Zorns ausgegossen über unsere Brüder, die Menschen. Und darum sind auch ihre christlichen Nachkommen uns noch immer nicht so recht geheuer, zumal wenn sie Posaunen blasen oder den Herodes mit der Geißel des Todes schlagen. Nicht jeder Engel ist schrecklich, wie dies gelegentlich einer behauptet hat, aber jeder Engel ist uns ein Fremder, dem wir nicht zu trauen wagen, auch wenn er seine Botschaft mit einer Lilie überbringt. Kein Wunder, dass selbst die arglose Jungfrau in Nazareth erschrak, als der Freudenbringer Gabriel auf sanften Füßen ihre Stube betrat. Sie ahnte: Furchtbares würde geschehen. Dass ein Bote, wenn er von einem Gebirge oder von einer Donnerwolke herabgesandt wurde, Flügel benötigte, um zu den Menschen zu gelangen, verstand sich viele Jahrhunderte über von selbst. Heute, im technischen Zeitalter, sieht man das anders. Aber wir wollen dankbar sein dafür, dass es in jenen Zeiten außer dem Feuerwagen des Elias keine Flugbehelfe gab als die Flügel und keine anderen Waffen als die Schwerter, die um so vieles schöner sich darstellen lassen auf Tafelbildern oder auf Grabdenkmälern als die Schusswaffen ihrer Amtsnachfolger, die seither in höherem Auftrag unterwegs sind mit der Lizenz zu töten. Es mag wohl seine Berechtigung haben, dass die Engel unserer Tage die Flügel abgelegt haben, um kein Aufsehen zu erregen im Gedränge der irdischen Straßen. Wir erkennen sie meist erst, wenn sie uns verlassen haben. Hin und wieder überschleicht uns dann das Gefühl, dass einer, den wir so recht nicht verstanden haben, der Bote einer fremden Macht gewesen sein könnte. Einer vielleicht, der etwas Weltveränderndes im Sinn gehabt hat, auch wenn es gründlich misslungen ist. Zwar ist in den alten Papieren immer nur von männlichen Repräsentanten der himmlischen Heerscharen die Rede; es muss daneben aber auch weibliche Engel gegeben haben. Schon allein aus musikalischen Gründen. Kein Komponist von Lobeshymnen würde auf Alte und Soprane verzichten. Sie geben diesen Gesängen erst den überirdischen Glanz. Die himmlischen 60

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Chorregenten werden doch nicht, wie früher in den Kirchen des Vatikans, Kastraten haben singen lassen. Dass man sich während der vergangenen Jahrtausende einen Engel nicht anders als in einem männlichen Körper hat vorstellen können, will heute kein Mensch mehr verstehen. Man hat sich in aufgeklärten Zeiten vielfach bemüht, diese Unausgewogenheit zu korrigieren. Das aber ging nun wieder so weit, dass man heutigentags jede wohlgeformte jüngere Dame als Engel bezeichnet. Der Grund liegt nicht zuletzt darin, dass sich die Mode geändert hat und die Männer sich heute nicht mehr gründlich rasieren. Doch auch als Supermänner, Adepten der Magie oder Virtuosen verkleidet hat man schon manche Engel zu erkennen geglaubt. Wir werden auch heute die Engel nicht los, weil wir nicht davon lassen können, auf Antwort auf unser Rufen zu hoffen. Aber was die Botschaften betrifft, die die himmlischen Emissäre uns einst hätten übermitteln sollen, so kann sich keiner mehr derer entsinnen. Man meint sie nur mehr zu erkennen an der wohlklingenden Stimme oder der gefälligen Erscheinung. Einen Engel etwa, der älter ist als fünfunddreißig Jahre, würde heute kaum einer akzeptieren. Am liebsten sähe man ihn vergleichbar mit den einst sogenannten Jünglingen und Jungfrauen: gerade eben erwachsen, aber noch nicht deutlich voneinander zu unterscheiden. Sagen wir also: siebzehn oder achtzehn Jahre alt, blauäugig, bartlos und ungeschminkt. Bei Jungfrauen würde man allenfalls einen eben knospenden Busen und bei Jungmännern einen Anflug von Flaum unter der Nase konzedieren. Man sieht an diesem Beispiel und könnte es an vielen anderen sehen, wohin wir geraten sind mit den neuronalen Schaltzentralen in unseren Köpfen, wohin seit Abrahams und Jakobs Zeiten. Was ist aus unseren Engeln geworden! Die einen retten blonde Damen aus den Armen von Riesenaffen oder kämpfen in Diensten der Spionageabwehr gegen die Achse des Bösen. Die anderen balancieren im Katzenschritt auf den Laufstegen oder üben an den Stangen der Ballettprobesäle. Briefe bringen sie nicht, Fragen beantworten sie keine. Und wenn sie je etwas zu verkünden hatten, so haben sie es vergessen unterwegs auf unseren Bürgersteigen, Kreuzfahrtschiffen und Achterbahnen. Die Zeiten haben sich geändert und die Engel mit ihnen. Aber es macht uns immer noch glücklich, ihre einst geflügelten Vorfahren zu sehen auf Gemälden, Gräbern oder verblassten Fotografien. Glücklich macht es uns und wehmütig zugleich. An irgendetwas erinnern sie uns. An irgendetwas, das wir nicht wissen, das wir aber einst von ihnen hätten erfahren sollen. 61

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s gibt in der Geschichte des abendländischen Denkens einen benennbaren Zeitpunkt, in dem sich die Nebel des mythischen Träumens nach und nach heben und ein Bereich hellen Lichtes erkennbar wird, den zu betreten einige Männer sich getrauten. So wie ihre Gestalten jedoch sich aus dem Schatten der Vergangenheit lösten, so sanken sie bald für lange Jahrhunderte wieder zurück in das Vergessen. Ihre Gedanken, soweit sie sie ihren Zeitgenossen deutlich zu machen vermochten, wurden entweder nicht schriftlich festgehalten oder haben sich nur mehr in Bruchstücken erhalten. Denn wenige von ihnen wurden von den nachfolgenden Generationen in ihrer Bedeutung erkannt und für wert erachtet, zitiert zu werden. Die Samen des neuen Denkens aber waren ausgesät. Und manche fassten Wurzeln auf fremden Äckern. Und dort, wo etwa Platon, Aristoteles, Theophrast, Herodot oder Plutarch, die Vielbelesenen und vieles Schreibenden, in der Gewissheit, dass ihre eigenen Werke sorgsamer gehütet würden, ihrer Vorfahren im Geiste gedachten, hat sich die Erinnerung fortgeerbt. Dem wunderlichen Sammler Diogenes Laertios, der im 3. nachchristlichen Jahrhundert unterschiedslos alles zusammenhäufte, was ihm die ernste Forschung oder der Klatsch in die Schreibstube trug, haben wir, ungeachtet vieler Ungereimtheiten, zu danken, dass neben den im Volke umlaufenden Anekdoten auch mancher kundige Hinweis überliefert wurde. Hat er doch vermutlich in den äolischen Kolonien gelebt und war dem Ort unserer Handlung nahe gewesen. Noch einmal im 6. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung hat der Byzantiner Simplikios in einem Kommentar zu Aristoteles’ „Physik“ auf die vorsokratischen Denker Bezug genommen und uns unter anderem jenes Fragment des Anaximandros überliefert, das er in seinen Exemplaren der Theophrast’schen Bücher über die späterhin sogenannten „Hylozoiker“ gefunden hatte. Seither nennt man, nach dem Titel des Theophrast’schen Werkes „Physikon doxai“, diese Nachrichten die doxografischen. Nach Jahrhunderten des Schweigens war Friedrich Nietzsche, der damals noch junge Professor der Altphilologie, einer der ersten, die ihr Augenmerk 62

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richteten auf die lange Vergessenen. In seiner Entdeckerfreude bekundete er die Absicht, das Erhaltene neu zu übersetzen und zu edieren. Den Plan hat er bedauerlicherweise nicht verwirklicht. Immerhin hat die zornglühende Verachtung, die er in seinem offenbar nicht recht zum Ende geführten Essay über „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“ den Zeiten aussprach, die achtlos an den verstreuten Schätzen vorübergegangen waren, diesen eine weithin vernehmbare Stimme verliehen. Nietzsches Vorlesungstexte aus dem Jahre 1873 wurden jedoch erst in seinem Nachlass publiziert. Und so handelten die deutschen Philologen wohl aus eigenem Antrieb, als sie sich etwa um dieselbe Zeit daran machten zu sichten, was noch zu erkennen war. Hermann Diels erwarb sich das seither oft bedankte Verdienst, die Fragmente der vorsokratischen Philosophen zusammengetragen, verglichen, geordnet, übersetzt und herausgegeben zu haben. Seine mehrfach aufgelegte Publikation, die durch seinen Schüler Walter Kranz später ergänzt und erweitert wurde, bildet auch heute noch die allgemein anerkannte Grundlage jeder weiteren Forschung. Martin Heidegger hat in einem Essay über den Spruch des Anaximander in seinen „Holzwegen“ zu neuer Beachtung beigetragen. Und so ist heute an keinen Philosophieunterricht mehr zu denken, der nicht mit einer Erörterung der Zeit der Morgenröte des abendländischen Denkens begänne. Wenn hier nun allein über die ersten Philosophen der milesischen Schule gehandelt werden soll, so liegt der Anlass dazu in der Faszination, die ebendieser Beginn, wie aller Anfang einer großen Bewegung, verbreitet. Es lässt sich hierin wie an wenigen anderen Beispielen erkennen, was Philosophieren bedeutet und warum sich unsere abendländische Welt auf diesem Felde so deutlich von allen anderen Kulturen getrennt hat. Es war die erste Absicht meines Versuchs, allein die Figur des Anaximandros in ihren noch erkennbaren Umrissen herauszuheben. Dabei jedoch hat sich bald schon erwiesen, dass er ohne seinen Vorgänger Thales kaum zu erfassen ist und dass auch sein Schüler und Nachfolger Anaximenes Erwähnung am Rande verdient. So mögen denn auch einige Anmerkungen zu ihnen mit einfließen, damit sie auf diesen Papieren nebeneinanderstehen, wie sie einst im Leben nebeneinander gelehrt und gewirkt haben. Man weiß nicht recht, ob sie als Söhne einer Stadt einander gesucht oder gemieden haben, begegnet sind sie einander und gekannt hat einer den andern. Das ist gewiss.

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Die gemeinsame Heimat der ersten Philosophen war die größte der ionischen Städte an der östlichen Küste Kleinasiens, Milet, die reich war durch die fruchtbare Landschaft und durch die Schifffahrt, die ihr den Handel mit den entlegenen Küstenstädten des Schwarzen Meeres, des östlichen und des westlichen Mittelmeeres eröffnete. Gehandelt wurde mit Papyrus aus Ägypten, mit Zedernholz aus Phönikien, mit Erzen und Metallen vom Taurusgebirge, mit Wein, Früchten, Olivenöl und Getreide aus eigenem Anbau. Die kleinasiatische Küste, und hier vor allem die ionischen Städte und die ihnen vorgelagerten Inseln der großen Sporaden, waren zu jener Epoche die bedeutendsten Stätten hellenischen Geistes und hellenischer Kunst. Schon seit älterer Zeit nannte sich die Insel Chios die Heimat des großen Homer, der wie kein Zweiter von großen Meerfahrten, von fernen Inseln und Ländern erzählt hatte. Ihr Anspruch wurde von der um diesen Ruhm wetteifernden Küstenstadt Smyrna mit guten Gründen bestritten. Unter den sogenannten sieben Weisen, deren Kreis aus etwa zehn Namen bestand, die gelegentlich ausgetauscht wurden, finden wir nicht weniger als fünf, die von der ionischen oder nachbarlichen äolischen Küste stammten. Neben Thales aus Milet sind dies: Bias aus Priene, Pherekydes aus Syros, Pythagoras aus Samos und Pittakos aus Lesbos. Der mythische Sänger Arion soll um 620 auf Lesbos gelebt und dort seine dithyrambischen Chorlieder ersonnen haben, aus denen die Bakchoschöre der Böcke entstanden. In Lesbos lebten zudem die Dichterin Sappho und der Dichter Alkaios, in Ephesos der Lyriker Kallinos, in Kolophon Mimneros und auf Paros Archilochos. In Ephesos wurde auch der weithin berühmte Tempel der Artemis, eines der sieben Weltwunder, erbaut, in den sich der alternde Heraklit schweigend zurückzog. In Didyma, unweit Milet, sprach das Orakel Apollons und im südlich angrenzenden Halikarnassos, später der Heimat des Herodot, der uns all diese Nachrichten überliefert hat, ließ Mausolos sein viel bestauntes Grabmal errichten. Über die Insel Samos herrschte der glückverwöhnte Tyrann Polykrates und über das nordöstlich an Ionien grenzende Lydien der sagenhaft reiche Kroisos als König. Verwandt waren die Ionier mit den Bewohnern Attikas und Euböas, die Äolier mit den Bewohnern Böotiens, von denen sie sich beide etwa um das Jahr 1000 vor unserer Zeitrechnung getrennt hatten, um auf der östlich gegenüberliegenden Küste zu siedeln. Manches in der Betrachtung des Lebens und Schaffens in den nachfolgenden Jahrhunderten griechischer Ge64

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schichte lässt sich heute besser verstehen, wenn wir nicht das stark zergliederte und durch hohe Gebirge oft unwegsame Festland hüben und drüben, sondern das von dicht besiedelten Küsten umschlossene Meer als den Mittelpunkt des alten Hellas betrachten. Es war in jener Zeit nicht viel mühevoller, die Küsten Spaniens, Siziliens, Thrakiens oder Ägyptens zu erreichen, als über die Gebirgspfade des steinigen Epeiros oder auch nur über den mächtigen Riegel des Taygetos in der Peloponnes zu gelangen. Die unvorstellbare Zahl von über tausend Pflanzstädten oder Kolonien haben die Griechen an fernen Küsten errichtet. Milet allein hat etwa achtzig davon gegründet. Nicht nur auf ägäischen und illyrischen Inseln siedelten sie bereits im achten Jahrhundert, sondern auch in Sardinien, Korsika, an der westwärts gewandten Küste Italiens, ringsum im Pontos und auf der Halbinsel Krim. Gegen das Innere des kleinasiatischen Festlandes jedoch scheuten sie sich vorzudringen, nicht nur aus Furcht vor der gewaltigen Kriegsmacht der Meder und bald danach auch der Perser. Das Meer, nicht das Land, war ihre geebnete Straße. Die wir heute gewöhnt sind, bei den Griechen fast nur mehr auf die sogenannte klassische Zeit des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts zu blicken, müssen uns vor Augen führen, dass bereits seit dem Jahre 776, als mit den ersten olympischen Spielen die griechische Zeitrechnung begann, und deutlicher noch seit dem um wenig später anzusetzenden Auftreten von Homer und Hesiod die alte Hellas in den Rang einer Hochkultur aufzusteigen begann. Das Spiel, der Wettstreit und die mythische Dichtung gingen wie in allen Kulturen den Wissenschaften voraus. Sie legten den Grund für die ersten Schritte der Forscher und Entdecker. Und die weckten die Fragen der Denker und Zweifler. Der erste der Männer, von denen hier zu handeln sein wird, Thales, der Sohn des Hexamyes, lebte in Milet um die Wende des siebten zum sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, der zweite, Anaximandros, war nur wenige Jahre jünger, der dritte, Anaximenes, der sich als des Zweiten Schüler bekannte, folgte ein Menschenalter darauf. In der blühenden, weltoffenen Stadt war der Saat der neuen Gedanken der Boden bereitet. Thales, geboren um 624, vielleicht von karischen, vielleicht von phönikischen Vorfahren stammend, wurde noch zweieinhalb Jahrhunderte später von Aristoteles – und nicht nur von ihm – als der „Ahnherr der Philosophie“ bezeichnet. Sein Ruhm unter den Griechen, der nicht zuletzt auf seinen wissenschaft65

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lichen Erkenntnissen und technischen Leistungen beruhte, hat lange Zeit den Blick auf seinen uns heute bedeutender erscheinenden Landsmann und Kollegen Anaximandros verstellt. Und dies nicht zuletzt aus dem Grunde, weil seine Gestalt, um im eingangs gewählten Bilde zu bleiben, noch halb im Nebel befangen steht und sich als einer der sogenannten sieben Weisen aus dem Bereich des Sagenhaften noch nicht ganz gelöst hat. Mit den historisch belegten Zeugnissen seines Erscheinens jedoch beginnt sich zu lichten, was vorher in mythischem Zwielicht lag. Thales soll der Überlieferung nach unter anderen Ländern Phönikien und Ägypten bereist haben. Um 600 v. Chr. etwa wurde im Delta des Nil von Griechen die Pflanzstadt Nikopolis gegründet. Die hat er vermutlich besucht und wird dort – und weiter nilaufwärts – geometrische und mathematische Studien betrieben haben, durch die es ihm möglich wurde, die Höhe der Pyramiden zu berechnen. Wahrscheinlich geschah dies, indem er deren Schatten maß, diesen mit der Länge eines Stabes und dessen Schatten verglich und so die unbekannte Größe aus drei bekannten erschloss. Andere meinen, er habe den Schatten beim Stand der Sonne in einem Winkel von 45 Grad gemessen. Auch soll er – nützlicher vielleicht für seine Landsleute – die Entfernung eines Schiffes auf der See, dadurch festgestellt haben, dass er zwei Punkte an der Küste bestimmte, die mit dem entfernten Schiff ein gleichschenkliges Dreieck bildeten. Ihm verdanken wir die Erkenntnis – oder deren Überlieferung –, dass in einem Dreieck die Summe der Winkel stets 180 Grad beträgt und dass in einem rechtwinkligen Dreieck die Summe der Quadrate über den Katheten dem Quadrat der Hypotenuse entspricht. Für uns sind diese Sätze des Thales sehr bedeutsam geworden. Seine Zeitgenossen aber werden möglicherweise mehr gestaunt haben über die vorausschauenden Wahrsagungen ihres Gelehrten. Der ist vermutlich auch mit den weit östlich beheimateten Chaldäern, den Lehrmeistern der Astronomie, in Berührung gekommen. Von deren Berechnungen belehrt soll er für das Jahr 585 eine Sonnenfinsternis vorhergesagt haben. Diese sei mitten in einer Schlacht zwischen Lydern und Medern tatsächlich eingetroffen und habe solches Entsetzen bewirkt, dass die streitenden Heere sich trennten. Von Thales’ eigener Hand haben wir kein überliefertes Wort. Auch Platon und Aristoteles haben in ihren ansehnlichen Bibliotheken keine Schriften von Thales besessen. Es mag gut sein, dass er Geschriebenes nicht hinterlassen hat. Uns sind jedoch eine Fülle doxografischer Nachrichten über 66

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ihn erhalten aus nicht immer lauteren Quellen. Es handelt sich bei diesen, wie schon erwähnt, um Überlieferungen durch spätere Autoren, die sich jedoch im Falle des Thales aufs Hörensagen verlassen mussten und oft nur mehr anekdotischen Charakter haben. Von solchen Anekdoten wissen wir, dass sie oft unterschiedlichen Personen zugeschrieben werden und sich meist um die Namen der bekanntesten sammeln. Eine davon will von einer Wundertat des Thales wissen. Er habe, so heißt es, den Fluss Halys im Osten Kleinasiens umgeleitet, um dem König Kroisos auf seinem Feldzug gegen die Perser den Übergang zu ermöglichen. Diese Nachricht wird uns verständlicher, wenn wir annehmen, dass die Umleitung darin bestand, dass auf seine Anweisung hin der Flusslauf geteilt und so die Wassertiefe der Abzweigungen soweit gemindert wurde, dass Heer und Tross durch seichte Furten passieren konnten. Es handelte sich im übrigen bei diesem Kriegszug um jenen, der dem übermütigen Lyder den Untergang brachte. Diesen hatte ihm das Orakel von Didyma vorausgesagt mit dem berühmten Spruch, er werde, wenn er den Fluss überschreite, ein großes Reich zerstören. Dass es sein eigenes sein würde, war ihm nicht in den Sinn gekommen. Das Geschehnis hatte jedoch schlimme Bedeutung nicht nur für ihn, sondern auch für die anderen Kolonien der asiatischen Küste. Und hätte Thales diese geahnt, wer weiß, ob er den Kroisos am Überschreiten des Halys nicht eher gehindert hätte. Mit einer anderen Behauptung hat er nicht ebenso ins Schwarze getroffen. Dass nämlich die alljährlich zur Sommersonnenwende eintreffende Überschwemmung des Nil durch die nördlichen Winde verursacht würde, die seine Fluten zurückstauten und hinderten ins Meer abzufließen, das haben ihm wohl damals schon die Ägypter nicht geglaubt, die allein dem Pharao die Macht zuschrieben, solche Wunder zu wirken. Eine weitere bekannte Erzählung berichtet, dass Thales, als er aus dem Haus trat, um den nächtlichen Sternenhimmel zu betrachten, in einen Abgrund, wie Diogenes Laertius schreibt, oder, wie Platon behauptet, in einen Brunnen fiel, worüber seine thrakische Magd in Gelächter ausbrach. Dieses Gelächter der Frau aus dem Volke über den weltfremden Gelehrten ist bis in unsere Zeit hinein zu hören geblieben und hat manchem klugen Mann – einer der klügsten war wohl Hans Blumenberg, der dieser Anekdote ein eigenes Buch gewidmet hat – Anlass geboten zu kritischer Betrachtung eigenen Denkens und Forschens. 67

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Es sind auch etwa zwei Dutzend wohlmeinender Sprüche überliefert, die von Späteren dem Thales als einem der legendären sieben Weisen zugeteilt wurden und die meist moralisierenden Charakter haben. Drei davon seien stellvertretend zitiert. Unverbürgt sind sie alle. Der erste lautet: „Sei nicht untätig, auch nicht, wenn du reich bist.“ Den hat der König Kroisos befolgt. Der zweite lautet: „Trau nicht einem jeden.“ Den hat er nicht befolgt. Der dritte aber hätte ihn vor dem Untergang bewahren können, doch er wurde erst den nachfolgenden Generationen der Griechen zum Leitsatz wie kein anderer. Er lautet: „Halte Maß!“ An den meisten Sprüchen der Weisen lässt sich, wie zu erwarten, nicht viel kritisieren. Manche hätte wohl auch die thrakische Magd aussprechen können, nur hätte sie dann keiner aufgezeichnet. Derlei Einsichten sind so zahlreich und so vielfach nutzbar wie die Binsen. Über die Gedankenwelt eines Weisen geben sie wenig neue Erkenntnis. Uns soll vielmehr die Frage bewegen, was diesen Mann Thales im Gedächtnis der Griechen hervorhob als einen, der es gewagt hatte, die überlieferten Mythen und Sagen beiseitezuschieben, um durch eigenes Denken die Rätsel der Welt zu erschließen. Und so blicken wir zuerst nach dem, was Aristoteles noch von ihm wusste, wenn er im ersten Buch seiner Metaphysik auf die ältesten Theorien vom Entstehen und Vergehen der Dinge zu sprechen kommt. Wir lesen darin: „Es muß eine gewisse Substanz vorhanden sein, entweder die einzige oder mehrere, aus denen alles übrige entsteht, während sie selbst erhalten bleibt. Über die Anzahl und die Art eines solchen Urgrundes haben freilich nicht alle dieselbe Meinung, Thales aber, der Begründer einer solchen Art von Philosophie, erklärt als den Urgrund das Wasser – daher glaubt er auch, daß die Erde auf dem Wasser ruhe.“ Warum unser Mann von den damals – und noch lange danach – allgemein festgesetzten vier Elementen ausgerechnet das Wasser als das ursprüngliche bestimmte, darüber lassen sich viele Vermutungen anstellen, etwa die, dass dem Bewohner einer Hafenstadt nichts näher lag als das Meer; dass er auf dem asiatischen Festland Versteinerungen von Seetieren fand; dass er sah, wie das Wasser sich einerseits in Eis, andererseits in Dampf verwandeln konnte; oder endlich, dass er den Berichten der Seefahrer glaubte, nach denen der Ring des Okeanos allen Grund und Boden umschloss. Aristoteles selbst vermutete, Thales habe das Wasser zum Urstoff gewählt, weil alle Tiere und Pflanzen aus dem Feuchten entstünden und von Feuchtem sich nährten. Dies allerdings böte nur eine Erklärung für das Entstehen des Le68

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bens, wie sie später Anaxyimandros aussprechen sollte, und für alle anderen Dinge nur dann, wenn man auch ihnen verborgenes Leben zuschreiben wollte. Dieser Bestimmung der Herkunft des Lebens aus der Materie jedoch verdanken die milesischen Denker die Bezeichnung „Hylozoiker“, die ihnen Aristoteles gab, für den he hyle den Stoff bedeutete, der die Welt der Erscheinungen bildet. Thales selbst gab keine nähere Deutung, oder wenn er sie gab, so hat sie keiner weitergereicht. Uns muss es genügen, dass hier erstmals einer es wagte, die Erschaffung der Welt nicht dem Wirken der Götter, Titanen oder Demiurgen zuzuschreiben, vielmehr aus Anschauung, Erfahrung und eigenem Denken einen Schluss zu ziehen, der sich keiner tradierten Autorität unterwarf. Wenn Thales nach einem doxografischen Fragment einen Spruch getan haben soll, demzufolge alles ringsum „voll von Dämonen“ sei, so hat er womöglich auf diese Weise versucht, die Bewegung des Wassers, der Luft und der Vulkane und zugleich auch die Beseelung des Lebendigen seinen Zeitgenossen verständlich zu machen. Um dies zu demonstrieren, habe er, so heißt es, auf die Kraft eines Magnetsteins verwiesen oder habe Wollfasern durch zerriebenen Bernstein (auf Griechisch elektron) bewegt. Wir erklären dies heute durch Magnetismus und Elektrizität. Er aber hat, ebenso klug wie weise, damals eine Form der Aussage für seine Behauptung gewählt, die seinen mythengläubigen Zuhörern fassbar erschien und ihn überdies vor dem Vorwurf der Asebie – der Gottesleugnung – bewahrte, der noch etwa zweihundert Jahre danach einem Sokrates zum Verhängnis wurde. Den Steinmetzen Sokrates hat es in Athen, wie wir wissen, nicht vor dem Tode bewahrt, dass er sich auf die Warnungen seines Dämons verließ. Thales aber war ein angesehener, wohlhabender Mann aus einem aristokratischen Geschlecht, das sich auf eine Abstammung vom Urvater der Hellenen, Kadmon, berief. Und er lebte in einer liberalen, weltoffenen Hafenstadt, in der die Reeder und Kaufleute, die mit den Dienern vieler fremder Götter Handel trieben, das Sagen hatten. Dass Thales selbst, zumindest gelegentlich, sein Vermögen auf kaufmännische Weise vermehrte, lässt sich aus der Anekdote schließen, nach welcher er in einem von ihm vorhergesehenen fruchtbaren Jahr alle Olivenpressen von Milet bis Chios aufgekauft und um hohen Gewinn zur Erntezeit weiterverpachtet habe. Hat er hierbei vermutlich nur an seinen eigenen Vorteil gedacht oder ein Exempel statuieren wollen, dass auch ein Philosoph sich recht wohl ernähren könne, 69

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so diente er doch als Mitglied des Rates auch den öffentlichen Interessen der Stadt. Und er hat selbst, wie berichtet wird, den Tyrannen der Stadt, Thrasybulos, in vielfacher Weise beraten. Manche nennen ihn gar dessen Freund. Und so lebte und lehrte er nicht nur unbehelligt, sondern allseits geehrt bis in sein hohes Alter. Der Tod erreichte ihn um das Jahr 544. Die Sage will, dass der Achtzigjährige ein Sportfest besucht habe, und als die Zuschauer die Ränge der Arena verließen, sei er tot auf den Stufen gesessen. Dieses und nur so viel den Kaffeehausdiskutanten, die meinen, es schicke sich nicht für kluge Leute, Spiele und Sportfeste zu besuchen. Die Heimatstadt des Thales dachte nicht so und ließ zu seinem Gedächtnis ein Standbild errichten. Wenn ich nun aber – im Einverständnis mit Nietzsche – diesen Mann Thales nur als Vorläufer ansehen kann für einen, der ihn überragen sollte, so kann man ermessen, wie gewaltig dieser Nachkommende mir erscheinen muss. Anaximandros, der Sohn des Praxiades, dem ich mich als dem eigentlichen Ziel meines Interesses nun zuwenden will, wurde etwa im Jahre 611 ebenfalls in Milet geboren. Dass die Historiker die Jahreszahlen der Epoche nicht immer mit letzter Genauigkeit angeben können, liegt zum einen daran, dass die Griechen die Daten der Vergangenheit meist nur nach Olympiaden, das heißt nach Zeitspannen von jeweils vier Jahren zwischen Olympischen Spielen, zählten, zum andern daran, dass damals der Beginn des Jahres mit dem des Frühlings festgesetzt war. Das Geburtsjahr haben wir von Apollodoros von Athen erfahren, der in der zweiten Hälfte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts in einer Bibliothek ein Exemplar der Schriften des Anaximandros entdeckte, dem er entnehmen konnte, dass der Verfasser zur Zeit des Falles von Sardes 64 Jahre alt gewesen und bald darauf gestorben sei. Sardes, die Hauptstadt der Lyder, das wissen wir, wurde um 546/47 vom persischen König Kyros eingenommen und zerstört, nachdem er den übermütigen Kroisos besiegt und ans Kreuz geschlagen hatte. Dieses Ereignis hatte auch die ionischen Städte in Schrecken versetzt und ihren Untergang angekündigt. Ob der Tod des Anaximandros damit in ursächlichem Zusammenhang stand, kann man der Meldung nicht entnehmen. Da unser Gewährsmann Apollodoros nicht nur in Athen, sondern auch in Alexandria gelebt und gewirkt hat, lässt sich vorstellen, dass die Schrift des Anaximandros, deren Titel von Theophrast mit Peri physeos (Über die Natur) angegeben wird, auch späteren Gelehrten zugänglich geworden ist und erst bei 70

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dem desaströsen Brand der alexandrinischen Bibliothek im Jahre 47 v. Chr. vernichtet wurde. Anaximandros war, nicht anders als Thales, im Verständnis seiner Landsleute vermutlich vor allem anderen ein Mann, der sich Gedanken machte um die Untersuchung und Handhabung der sichtbaren Dinge: ein Techniker, Wissenschaftler ante litteram. Er diente den Interessen der Seefahrt, indem er als Erster eine Karte zeichnete und in Erz abbilden ließ, die den Verlauf der Küste der bekannten Meere beschrieb. Gewiss ist er bei dieser Arbeit in vielem den Berichten der Seeleute gefolgt. Dennoch wissen wir, dass auch er weitum unterwegs war. So soll er über Vermittlung der Meder aus dem alten Babylonien die Kenntnis von der Messung der Zeit durch die Sonnenuhr erlangt haben. Und in Sparta habe er dann auf dem Hauptplatz, der agorá, eine solche Sonnenuhr erstmals aufgestellt und erklärt. Doch weit über die Vermessung der irdischen Räume und Zeiten ging seine Forschung hinaus. Er wagte als erster Mensch den Gedanken, dass die Gestirne die Erde umkreisten und dass Sonne und Mond nicht täglich neu geboren würden oder sich hinter Gebirgen versteckten, sondern hinabsänken im Westen, um nach einer Reise rund um die Erde im Osten wieder heraufzusteigen. Ein solcher Gedanke war den Alten unvorstellbar gewesen, solange sie die Erde als eine Scheibe verstanden, die auf dem Wasser des Ozeans unter dem Gewölbe des Himmels ruhte. Anaximandros aber, nachdem er, aus eigener Anschauung oder von Seefahrern belehrt, die Wölbung des Erdrückens erkannt hatte, deutete die Erde als ein rundes Gebilde, einer Säulentrommel vergleichbar, dreimal so breit als dick, gewölbt an der Oberfläche, abfallend an den Rändern, und kam damit so nahe als es ihm denkmöglich war heran an die Kugelgestalt. Was ihm, der von der Schwerkraft als der Anziehungskraft der Erde nichts wusste, nicht eingehen konnte, war, dass auf deren unterer Seite auch Menschen und Tiere zu leben oder Bäume zu wachsen vermochten. Und eben aus diesem Grunde erschien seinen Zeitgenossen und Nachfolgern lange noch die Vorstellung des Kreislaufs der Sonne nicht fassbar. Schon sein Schüler Anaximenes hat sich davon wieder abgewandt. Anaximandros aber behauptete überdies, wie Aristoteles wissen lässt, die Erde verharre im Mittelpunkt eines Kosmos unbewegt in der Schwebe. Als Abbild dieses Kosmos, so berichtet Diogenes Laertios, „konstruierte er auch eine sphaira“, das heißt vermutlich: einen Globus des nördlichen Nachthimmels, an dessen Innenseite die Sterne eingezeichnet waren. 71

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Den Umlaufkreis der Sonne vermutete er 27-mal so groß, den des Mondes 19-mal so groß wie die Breite der Erde und hat sich damit doch gewaltig verschätzt. Feuerräder seien beide, meinte er, durch deren Nabe die Lichtflamme dringe, hervor aus dem Feuerkreis, der den Kosmos umhülle wie den Baum seine Rinde. Und so weit vermochte er sich über die allgemeine Selbstgewissheit seiner Landsleute zu erheben, dass er wagte zu behaupten, es gäbe nicht nur diesen einen sichtbaren Kosmos, sondern ungezählte weitere jenseits allen irdischen Ermessens. Alles Leben auf Erden aber entstünde im Wasser und auch die Menschen seien nicht auf dem Lande, sondern im Wasser geboren, im Feuchten des Schlammes. Und hätten Gestalt gehabt von Wassertieren, die sie erst abgelegt hätten, nachdem sie, durch Stacheln geschützt, auf das Land gekrochen wären. Dies alles zu wissen, genügt uns, um Anaximandros als einen der ersten wissenschaftlichen Denker zu erkennen, auch wenn vieles, was er sich imaginierte, uns heute nicht nur erstaunt, sondern oft auch verwundert. Beeindruckend sind seine Visionen allesamt. Die sogenannten sieben Weisen der älteren Generation hatten sich vornehmlich mit der Frage: „Wie soll ich leben?“ beschäftigt. Nun aber stellten die milesischen Denker die Fragen: „Wo komm ich her? Wo geh ich hin?“ Und nicht Ratschläge oder Lebenshilfen boten sie an, sondern Erklärungen. Wissenschaft, Technik, Philosophie waren im Denken ihrer Zeitgenossen noch nicht voneinander getrennt. Uns aber, so wichtig einst die Theorien und technischen Leistungen des Anaximandros für die Erforschung der Erde und des Himmels gewesen sein mögen, uns interessiert an dieser Stelle vor allem anderen der Philosoph. Der dachte über die Epochen hinaus. Der Schüler und Nachfolger des Aristoteles im Peripatos, Theophrast, wurde von seinem Lehrer veranlasst, die erhaltenen Materialien über die frühen Denker zu sammeln und zu edieren. Lehrer und Schüler waren über die milesischen Philosophen sehr genau unterrichtet. Zu unserem Bedauern sind diese Bücher des Theophrast heute verloren und nur einige Zitate daraus – immerhin wertvoll genug – auf uns gekommen. Durch sie werden wir nun zurückgeführt zu den beiden Begriffen, die vermutlich Anaximandros in den Diskurs um die Entstehung der Welt eingeführt hat. Als erster davon wäre ein Begriff zu nennen, den wir im Deutschen mit „das Uralte“ oder „der Ursprung“ übersetzen würden und den die Griechen arché nannten. Das Wort selbst ist möglicherweise erst von den Nachfolgern der Milesier 72

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geprägt worden für das, wonach sie alle suchten: für den Gegenstand ihrer letzten Fragen, für den Urgrund, aus dem alles geworden ist, was da ist. Von Thales wissen wir, dass er das Wasser als diesen Urgrund bezeichnet hat. Dem weiblichen Substantiv arché entspricht das Adjektiv archaios, das mit „anfänglich“ oder mit „uralt“ übersetzt werden kann, und beide sind nahe verwandt mit dem Verbum archein, das so viel bedeutet wie „anführen“ oder „geleiten“. Von dem her leitet sich die Bezeichnung des Herrschers als des Archonten oder des Alleinherrschers als des Monarchen. Es scheint demnach so etwas wie ein Anspruch auf Führung aus der ersten Entstehung aus dem Ursprung zu folgen. Anaximandros gibt diesem Begriff der arché, der zuerst einmal als Ursprung der Zeit bezeichnet und somit dennoch zeitlich gefasst erschien, eine neue Bestimmung, um zu erläutern, wie er ihn deutet. Er nennt das umfassende erste Prinzip das apeiron. Und er bezeichnet damit den Stoff, aus dem alles entsteht. Dieses apeiron nun ist ein Begriff, dessen Übersetzung seither oft unterschiedlich gefasst wurde. Nietzsche übersetzt ihn mit „das Unbestimmte“, Diels, Capelle und mit ihnen viele andere mit „das Unendliche“. Ich entscheide mich, und nicht als Erster, für „das Unbegrenzte“. Das Wort hat seine Wurzel aus dem griechischen to peras, das, ähnlich dem lateinischen finis, mit „Grenze“ oder „Ende“, aber auch, seltener, mit „Bestimmung“ übersetzt werden kann. Wir denken dabei etwa an die „Definition“ als an einen Akt, durch den ein Begriff abgegrenzt und dadurch bestimmt werden kann gegenüber anderen Begriffen. Die Unterscheidung der Übersetzungen ist nicht ganz ohne Bedeutung. Mit der perasis kann schließlich auch „das Hinscheiden“, „der Tod“ als eine Grenzüberschreitung gemeint sein. Das Präfix a bezeichnet in jedem Fall eine Verneinung. Das apeiron wäre demnach das, was ist ohne Grenzen oder, wenn man die Grenzen nicht ans Äußere, sondern ins Innere verlegt, das Ungeschiedene, das Unbestimmte. Denkbar wäre demnach auch, dass Anaximandros das eine und auch das andere damit gemeint hat, um den Begriff so umfänglich wie möglich zu fassen, da er doch, wenn alles aus ihm entspringen sollte, auch alles enthalten musste. Wichtig scheint, dass der gewählte Ausdruck eine Verneinung darstellt, obwohl alles Seiende nur in Grenzen oder in einem kausalen Zusammenhang, in einer Bestimmung, einer Bejahung gedacht werden kann. Darum nun hat das anaximandrische apeiron seine rätselhafte Unfassbarkeit, es gewinnt jenseits aller Physik eine metaphysische Bedeutung. Man hat es „göttlich“ genannt, hat es mit dem aristotelischen „Stoff“ 73

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verglichen, dem kantischen „Ding an sich“ oder dem Heidegger’schen „Sein“. Und hat es doch damit nicht wirklich umschrieben. Was man nicht fassen kann, kann man auch nicht ertappen. Anders als das Element des Wassers ist das apeiron offenbar nicht von dieser Welt der Erscheinungen. Und alles Seiende wird erst, indem es aus dem apeiron hervortritt, erkennbar. Hervorzutreten aber vermag es nur durch die dem apeiron immanente, nie begonnene und nie enden wollende Bewegung. Man sieht mit Staunen, dass Anaximandros auf solche Weise offenbar die Bewegung vor der Geburt der Zeit angesetzt hat. Und man erinnert sich, dass auch die Mythologie des Hesiod hundert Jahre zuvor den Gott Kronos erst als Sohn des Uranos hat erscheinen lassen, den alles verschlingenden Gott der Zeit erst nach dem alles umfassenden Gott des Himmels. Und Hesiod wiederum hat vielleicht einst von jenem Schrei des dem Chaos entflohenen Phönix erfahren, mit dem nach dem Glauben der Ägypter die Zeit begann. Mit den Gedanken des Anaximandros stehen wir am Beginn allen abendländischen Philosophierens. Hier wird die Frage erhoben: woher die Dinge – und wir mit ihnen – kommen und wohin sie gehen. Keine Götter mehr geben die Antwort. Aus dieser Frage entstehen die weiteren alle: aus welcher Ursache und zu welchem Ziele dies geschieht. Und ob es ein Ende damit haben muss oder nicht. Und was die Bestimmung alles Erscheinenden ist. Und wie man dieser gerecht wird. Und ob man frei ist, selbst darüber zu entscheiden. Und ob und wodurch man Schuld auf sich lädt und dafür sühnen muss und so weiter und so weiter ... Dies alles vorausgeschickt wollen wir nun zurückkehren zu dem, was, vermittelt durch Theophrast, uns von Anaximandros überliefert wurde. Es hat sich nämlich, zitiert von Simplikios, einem byzantinischen Kommentator der aristotelischen Werke aus dem 6. nachchristlichen Jahrhundert, ein Text erhalten, der als ein wortgetreues Zitat aus des Theophrast verlorenen Schriften kenntlich gemacht ist, die ihrerseits wiederum den Anaximandros zitieren. Dieser Text, bestehend aus zwei auf einander bezogenen Sätzen, ist als der Spruch des Anaximandros bekannt geworden. Der Spruch wird grundsätzlich als authentisch anerkannt, aber es werden gelegentlich Zweifel angemeldet, ob Authentizität auch für alle Teile seines Gefüges angenommen werden darf. Das heißt, ob es sich hierbei um ein wörtlich oder nur sinngemäß überliefertes Zitat handelt. Diese philologische Fragestellung will ich hier übergehen, da in jedem Fall alles Erhal74

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tene in einem schlüssigen gedanklichen Zusammenhang steht, den zu zerbrechen kein Anlass ist. Den Spruch des Anaximandros gilt es von Nahem zu betrachten. Dieser Doppelsatz nämlich, als der einzige Text, der von einem der drei milesischen Philosophen auf uns gekommen ist, hat Bedeutung nicht nur wegen seines Inhalts, sondern auch wegen seiner äußeren Form. Haben wir doch in ihm das erste Beispiel griechischer Prosa vor uns. Alle vorhergehenden Texte des Homer, des Hesiod und der frühen Lyriker sind in Verse gefasst. Verse allein waren dem mythischen Denken der Dichter, dem Vortrag der Rhapsoden und den Liedern der Sänger gemäß. Durch den Rhythmus der Verse wurden sie gegen willkürliche Eingriffe gefestigt, durch den Rhythmus auch wurden sie memorierbar. Nun aber wählte einer der Milesier die Sprache der Kaufleute, der Schulen und der Gerichte: die Umgangssprache der Leute zur Trägerin seiner Gedanken. Offenbar wollte er nicht vor allem bewundert, geglaubt und repetiert, sondern wollte verstanden werden. Und siehe da: Mit diesem ersten Versuch hat sich die Prosa allein schon durch ihre äußere Form abgegrenzt gegen Dichtung und Theologie und hat sich als Sprache der Wissenschaft und der Philosophie etabliert. Das in griechischer Sprache tradierte Fragment wurde seither mehrfach übersetzt und kommentiert. Ich habe mich dafür entschieden, die Übersetzung Nietzsches als Erste zu zitieren und ihr dann die von Wilhelm Capelle gegenüberzustellen. Die erste nun also lautet: „Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zugrunde gehen, nach der Notwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeiten gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit.“ Die zweite, etwa ein halbes Jahrhundert später verfasst, lautet: „Woraus aber die Dinge ihre Entstehung haben, darein findet auch ihr Untergang statt, gemäß der Schuldigkeit. Denn sie leisten einander Sühne und Buße für ihre Ungerechtigkeit, gemäß der Verordnung der Zeit.“ Der Satz erscheint in seiner archaischen Strenge und gedrängten Kürze wahrhaft beeindruckend. Und ist es wohl wert, bedacht zu werden. Dazu sind allerdings vor allem einmal die Philologen zu fragen. Es genügt nämlich nicht, die einzelnen Vokabeln nach den lexikalischen Äquivalenten in unserer Sprache zu untersuchen. Denn die Lexika wurden nach dem Sprachgebrauch der klassischen Autoren erstellt. Die haben sich zwar vor allem der verschiedenen attischen und ionischen Dialekte bedient – und 75

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um einen ionischen Dialekt handelt es sich auch bei dem Text des Anaximandros –, aber die früheste Prosa dieses Milesiers ist nicht so ohne Weiteres mit der eines Platon oder Xenophon zu vergleichen. Man muss die Wörter auf eine Waage legen, die nach den alten Gewichten geeicht ist, muss die Beziehungen und Verschränkungen der Satzglieder überdenken. Dies alles, möchte man meinen, wäre nur möglich, wenn man den originalen Wortlaut in seiner griechischen Form analysiert. Der wurde von Theophrast etwa um 300 vor unserer Zeitrechnung niedergeschrieben und von Simplikios fast tausend Jahre später überliefert. Aber selbst wenn man dies alles bedenkt, kann man, wie Heideggers Versuch erweist, bei der Spurensuche auf „Holzwege“ geraten. Der nämlich hat, nach weit ausgreifenden etymologischen Verrenkungen und Abirrungen in eigene ontologische Gehege, zuerst einmal den ersten Teil des überlieferten Satzes als angeblich ungesichert beiseitegeschoben und den verbliebenen Rest dann auf folgende Weise neu übersetzt: „... entlang dem Brauch; gehören nämlich lassen sie Fug somit auch Ruch eines dem andern (im Verwinden) des Unfugs.“ Ob wir damit um vieles klüger geworden sind, kann man bezweifeln. In dem 1950 publizierten Heidegger’schen Text repetiert man dankbar einiges Griechisch, weniger dankbar erfährt man das eine und andere auch aus altdeutschem Sprachschatz, am meisten aber über Heideggers mühvolles Sprachgebären und wenig nur über das Denken des Anaximandros. Auf dem Prokrustesbett seines Katheders zerfällt dem Interpreten unter der Hand der malträtierte Text. Wie leicht man bei solch einer gewaltsamen Suche in die Irre geraten kann, erweist der Freiburger Meister bereits in dem Satz, den er seiner Publikation als Motto vorangestellt hat. „Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen ja im Unbegangenen aufhören. Sie heißen Holzwege.“ Nun weiß ein jeder, der einen Wald mit den Füßen betreten hat, dass die Wege, die darin scheinbar in die Irre führen, nichts weiter sind als die Zugänge zu den Orten, an denen Holz geschlagen und gestapelt und aus denen es dann hervorgeholt und geborgen wird. Sie enden nicht im Nirgendwo, sondern in einer Kehre. Und sie verwachsen nur, wenn auf ihnen nichts mehr zu holen ist. Der Sog der Tiefe hat schon manchen in seinen Denkbemühungen bis an den Abgrund geführt und mancher ist auch in einen Brunnen gefallen. Anders erscheint uns heute schon der junge Nietzsche, der unbekümmert 76

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in seiner Bewunderung den alten Anaximandros als einen „Hauptkerl“ bezeichnet und seinen Spruch in klaren Worten in unser Deutsch überträgt. Dabei fällt uns allerdings auf, dass er – ebenso wie Heidegger – die beiden Sätze nicht wie im griechischen Original durch einen Punkt, sondern nur durch ein Semikolon voneinander trennt. Vermutlich wollte er damit klarstellen, dass der erste Satz ohne den zweiten nicht sein kann. Durch das kleine Wörtlein „denn“ – griechisch: gar –, das Heidegger ebenso korrekt durch „nämlich“ wiedergibt, bezieht sich der zweite Satz deutlich auf den ersten. Und hierin genauer noch auf den Begriff, den der eine Übersetzer mit „Notwendigkeit“, der andere mit „Schuldigkeit“ und der dritte mit „Brauch“ übersetzt. Man sieht daran, wie schwer es den dreien geworden ist, genau wiederzugeben, was Anaximandros gemeint haben dürfte. Hinzu kommt der Konjunktiv des ersten Teils, der eine indirekte Rede, vielleicht des referierenden Theophrast, vermuten lässt und den nur Capelle getreu übersetzt, während ihn Nietzsche nicht beachtet und Heidegger ihn zum Vorwand nimmt, den ersten Satzteil gar nicht erst in Betracht zu ziehen. Aus der Mythologie der Griechen wissen wir, dass sie von einer Macht zu wissen glaubten, der sich auch die Götter beugen mussten. Diese Macht wurde personifiziert als Ananke und von den Klassikern der Deutschen als „eherne Notwendigkeit“ bezeichnet. Anaximandros hat hier jedoch, vermutlich um eine Begegnung mit der uralten Göttin zu vermeiden, das Wort chreon gewählt. Und Heidegger hat uns belehrt, dass dieses sich von cheír (die Hand) herleitet. Es waltet demnach eine Hand unbeugsam über allem. Und wir lernen begreifen, dass es weder dem Anaximandros gegeben war, noch uns jemals gegeben sein wird, unser über alles Gegenständliche hinausgreifendes Denken in verständliche, das heißt kommunizierbare Sprache zu fassen, die ohne ebendieses Gegenständliche sein kann. Und so folgt am Ende aller Antworten auf unsere Fragen immer wieder die eine Frage nach der letzten Ursache, nach der Hand, die alles anstößt, was sich bewegt, die auch noch die stete Bewegung anstößt, in der nach Anaximandros das apeiron ohne ein Innen oder ein Außen sich abmüht. Wir stellen weiterlesend im Text fest, dass die Übersetzung von Nietzsche davon spricht, dass die Dinge, die hervorgegangen sind, Buße zahlen müssen und gerichtet werden nach der Ordnung der Zeit. Von einem Richtenden, das zur Buße verpflichten könnte, ist aber in Anaximandros’ Original nirgends die Rede. Wir sind vielmehr geneigt, genauer zu übersetzen und 77

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zu sagen, dass sie einander Rechenschaft und Wiedergutmachung geben für das begangene Unrecht gemäß der Ordnung der Zeit. Hierin ist vor allem das Wort „einander“ – allélois im Original – zu beachten, das die Übersetzer Diels und Capelle getreu wiedergeben. Die Dinge – oder sagen wir, um auch belebte Wesen einzubeziehen: die Erscheinungen – drängen, bedrängen und verdrängen einander, indem sie hervorgehen aus dem Schoße des apeiron. Das ist das Unrecht, das sie aneinander begehen. Ungerechtigkeit, wie die adikia des Anaximandros für gewöhnlich übersetzt wird, sollte ihnen jedoch als Gleichen unter Gleichen nicht zugeschrieben werden. Ungerechtigkeit, das heißt Missbrauch der Gerechtigkeit, kann nur ein richtendes Übergeordnetes begehen, und ein solches kann es nicht geben jenseits des ersten Entstehens. Wodurch nun wird das Hervorgehen und dem fol gend auch wieder das Zurückkehren zum Urgrund, das Zugrundegehen der Erscheinungen bewirkt? Von Anaximandros wissen wir, und haben es schon erwähnt, er habe sich das apeiron in steter Bewegung gedacht. Von einer Ursache dieser Bewegung ist allerdings nirgends die Rede. Diese Bewegung aber habe die Gegensätze, einander umfangend und umdrängend, geboren. Das Heiße und das Kalte habe Anaximandros als erste genannt und damit wohl auch das Helle und das Dunkle, das Feuer und das Wasser gemeint. Die Elemente also, hier nur mit ihren Eigenschaften bezeichnet, die einander fortan bekämpfen. Die begehen das Unrecht aneinander, von dem hier die Rede ist. Die büßen es einer am andern. Die gestalten, indem sie sich so verschulden und versöhnen, die erfahrbare Welt. Sie büßen durch ihren Untergang, und bewirken dadurch die Schuld alles dessen, was weiter besteht. Das ist das Gesetz der ordnenden Zeit. Mit einigem Schrecken werden wir hier an die Theologie der Erbsünde gemahnt. Anaximandros, der Mann, der solches gedacht und damit in die Welt gesetzt hat, hat es auf sich genommen, den Kreislauf unseres Denkens in Gang zu setzen. Aus diesem unaufhörlichen Kreisen wurde vieles hervorgetrieben. Vieles ist seither gedacht und geschrieben worden. Das eine hat das andere verdrängt. Und doch bleibt alles in allem bewahrt. Und darin erinnert uns das Denken des Anaximandros an seinen Vorgänger Thales, der gesagt haben soll: Alles sei eins. Wenn es wahr ist, was die Anekdotenerzähler berichten, so soll Anaximandros ein würdevoller Mann aus vornehmem Hause gewesen sein, der 78

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sich prunkvoll zu kleiden wusste. Und der doch auch nicht ganz ohne Humor den Knaben antwortete, die es wagten, ihn wegen seines Gesanges zu verspotten. Er werde sich Mühe geben sich zu bessern und sie zufriedenzustellen, sagte er ihnen. Rhythmisch gefesselte, sangbare Verse waren wohl nicht ganz seine Sache. Die seine war die nachdenkliche, frei schaltende Prosa. Wie er gestorben ist, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass er das Jahr 547 nicht lang überlebt hat. Im Jahre 540 vor unserer Zeitrechnung haben die Perser nach Sardes auch die ionischen Städte besiegt und erobert. Alle, nur nicht Milet. Dort hat sich um diese Zeit einer hervorgetan: Anaximenes, ein Schüler des Anaximandros, geboren um 584 als Sohn eines weiter nicht bekannt gewordenen Euristratos. Er erwies sich schon durch seinen Namen als der „kleinere Anaximandros“ und scheint über die Gedankengewalt seines Lehrers erschrocken zu sein. Er hat das Grenzenlose mit seiner Vorstellungskraft offenbar nicht zu fassen gewusst, ist zurückgekehrt zu den vier Elementen, die einem jeden vor Augen waren, und hat an den Anfang der Dinge das Element der Luft gesetzt. Mag sein, dass er versucht hat, die Vorstellungen seines Lehrers zurückzuholen in die Erfahrbarkeit. Unbegrenzt schien ihm unter allen Elementen nur die Luft, die alles Irdische durchdringt. In steter Bewegung ist sie auch. Das Heiße, das Feuer der Blitze, gebiert sie und das Kalte, das Wasser des Regens und auch den Schnee. So dachte er oder denken wir heut, dass er dachte. Auf welche Weise die Luft die Erde erzeugt, das sagte er nicht so genau. Durch Verdichtung und durch Verdünnung, meinte er immerhin, ginge ein Element aus dem andern hervor. Bedeutsam ist an seiner Theorie jedoch, dass er die Luft nicht mehr nur als einen Baustoff der Welt ansah, sondern als Leben spendende Macht. Alles Leben verdankt sich nach ihm der Luft, dem pneuma, und der psyche, ihrem beseelenden Hauch. Man kann ihn damit wohl nicht mehr als reinen Hylozoiker ansehen, wie Aristoteles meinte. Aber Cicero hat ihn andererseits wohl auch nicht mehr recht verstanden oder ihn in seinem Sinn umgedeutet, wenn er später behauptete, Anaximenes habe die Luft an die Stelle der Gottheit gesetzt. Mit Anaximenes verfestigt sich so recht der Eindruck, als taumelten die ersten Philosophen in einem Raum, dessen Kraftfelder sie noch nicht erspürten. Sie betraten ein Gebiet, auf dem noch kein Abdruck eines menschlichen 79

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Fußes erkennbar war. Ihre Nachfolger zögerten, wandten sich um. Und so wurde auch die Erde für den letzten der Milesier wieder zur Scheibe, die auf den Wassern schwamm. Und Sonne und Mond verbargen sich wieder hinter den Bergen. Er suchte offenbar nach festem Boden und hat auf einem Unten und Oben bestanden. Die zwölf ionischen Städte schlossen sich um 525 zu einem Bund gegen die persische Herrschaft zusammen. Anaximenes starb bald nach Ausbruch der Kämpfe im Jahr 524 im Alter von 60 Jahren. Ob sein Tod ein gewaltsamer war, wissen wir nicht. Der Aufruhr wurde niedergeworfen. Die Städte wurden zerstört und geplündert, als letzte Milet um 495. Die Bewohner, soweit sie nicht geflohen waren, wurden getötet, vertrieben oder in die Sklaverei nach Osten getrieben. Danach war Ruhe für einige Jahrzehnte, auch in den Köpfen. Aus der Ferne aber erhob sich doch Xenophanes, auch er ein Ionier, aus Kolophon um 544 nach Italien vertrieben, und er sprach sich für die Erde als ältestes der Elemente aus, das im Unergründlichen wurzelt. Er leugnete als erster mit deutlichen Worten nicht die Gottheit, wohl aber die Götter. Es sei nur „ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen am größten, weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken“, sagte er. Und weiter: „Gott ist ganz Auge, ganz Geist und ganz Ohr.“ Die Bewegung, die Anaximandros nicht weiter zu erklären wusste, die hatte nach Xenophanes wieder in dieser Gottheit ihren Ursprung. Denn „ohne Mühe erschüttert er alles mit der Denkkraft des Geistes“. Und im bedrohten Ephesos war es nur wenig später Heraklit, der seinerseits nun das Feuer als Urgrund alles Seienden bezeichnete. Er erinnerte sich vielleicht auch des alten Anaximandros, wenn er erklärte, der Streit sei der Vater aller Dinge und alles erfolge nach dem Weltgesetz des Logos vermittels des Streits und der Notwendigkeit. Da war sie nun wieder, die stete, nie begonnene Bewegung im Lodern des Feuers, da war das Drängen und das Verdrängen im Widerstreit der Gegensätze, da war das Zeugen und das Zerstören und die eherne Hand der Notwendigkeit, die Schicksalsbestimmung, die Ordnung der Zeit: die chreón. Die Nachfolger der griechischen „Physiker“ setzten, nachdem der Kreis der vier Elemente durchschritten war, den unermesslichen, unfassbaren Äther an die Stelle der Luft oder besser gesagt: über sie. Wir heute, wir wagten, auf ihren Spuren, sogar das alles verschlingende Nichts zu erden80

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ken, und auch die unsichtbare Materie, das schwarze Loch. Die stete Bewegung des Anaximandros aber haben wir im Mikrokosmos der Atome wiedergefunden, in der Gleichung, die Masse und Energie verbindet. Und in der Theorie des Urknalls kehrt auch das Feuer wieder mit einer Hitze und Gewalt, die alles irdische Maß übersteigt. In Zahlen versuchen wir immer noch, alles zu erfassen und zu beweisen. Doch schon die Pythagoreer haben erfahren müssen, dass in ihr mathematisch vermessenes Weltgebäude die irrationalen Zahlen klammheimlich sich eingeschlichen hatten, um es zu zerstören. Wir haben vieles seither gelernt, sehr vieles im Kreislauf der Kausalitäten. Eine Antwort folgt auf die andere und gebiert neue Fragen. Und die Antwort auf die letzte unserer Fragen wissen wir nicht. Dem Anaximandros aber, der uns das Denken gelehrt hat, wollen wir danken.

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ieles wurde über diesen Mann geschrieben und doch ist er eine der rätselhaftesten Figuren unserer Geschichte geblieben. Auf Dokumenten der Historiker ist er nicht fassbar. Das Jahr seiner Geburt, das Jahr seines Todes sind nirgends verzeichnet. Wir müssen ganz den Berichten des Neuen Testamentes und darin vor allem seinen eigenen Zeugnissen vertrauen. Daneben können wir mit nicht immer sicherem Gewissen Einblick nehmen in die apokryphen Schriften der Zeit und mit noch größeren Zweifeln die mündlichen Überlieferungen zu Rate ziehen, die lange später auch hier und da schriftlich, etwa in der „Legenda aurea“ des Jacobus de Voragine von 1293, tradiert wurden. In letzterer wird von einem Lebensbericht des Evangelisten Johannes durch einen Bischof Miletus von Laodicea geschrieben. Weder den Bericht noch den Autor vermag man heute mehr auszumachen. Hat man aber einmal die hagiografischen Legenden gelesen, die nicht in den Kanon der evangelikalen Tradition aufgenommen wurden, so dankt man bewundernd der nüchternen Sicherheit, in welcher die ältesten Kirchenväter urteilten über die rechten Worte einer großen Botschaft. Und wie wohl sie in einer wundergläubigen Zeit das Wahre – oder doch zumindest das Glaubwürdige – zu unterscheiden wussten vom Fabulösen. Trotz all der erschwerten Fassbarkeit seiner irdischen Gestalt ist die Verehrung, die diesem Johannes zuteil geworden ist, allein durch die Tatsache erwiesen, dass als Tag seines Gedenkens, als Johannistag, der Zenith des Jahres – die Sommersonnenwende am 26. Juni – gewählt wurde, der Gegenpol gleichsam zum Tag der Wintersonnenwende, als welcher in jenen Zeiten der 25. Dezember angesehen wurde. Auch erscheint diese Verehrung durch die alle messbaren Größen überschreitende Zahl der Taufen auf seinen Namen weitum offenkundig. Von Johann bis zu Juan, Ivo, Ivan und Ive, von Giovanni über Zanni zu Hannes und Hans, von Sean, Jean und John bis zu Jan, Janne, Janis und Ioan erscheint der Name vielfach abgewandelt. Kein Name ist häufiger in unseren Taufregistern zu lesen, von den davon abgeleiteten Familiennamen und den ins Weibliche transponierten Vornamen nicht zu reden. Die größten Künstler haben aus der gewaltigen Bilderwelt der apo82

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kalyptischen Visionen des Johannes die Motive für ihre bildnerischen oder musikalischen Werke gewonnen. Die Logen der Freimaurer arbeiten nur, wenn das Evangelium des Johannes auf dem Tische aufgeschlagen liegt. Der freigeistige Doktor Faust selbst macht sich mit Goethes Hilfe daran, die berühmten ersten Verse dieses Buches „in sein geliebtes Deutsch zu übertragen“. Und scheitert daran wie viele vor ihm. Wer war dieser Mann, der vermutlich so alt geworden ist wie kein anderer der Zeugen der Zeitenwende und der uns doch so viele Gesichter weist, dass uns keines erscheinen will als das eine, unverwechselbar johanneische? Weil fast alles, was von ihm und über ihn überliefert wurde, sich zu widersprechen scheint, hat man immer wieder vermutet, es handle sich bei dem Jünger Christi, dem Evangelisten, dem Presbyter, dem Verfasser der Apokalypse und dem Schreiber der Johannesbriefe um mehr als nur einen Mann. Die Verwirrung in dieser Frage hat der Text eines frühen Christen namens Pappias von Hieropolis bewirkt, der nicht original erhalten ist, sondern überliefert wird in der Kirchengeschichte des Eusebius von Caesarea, die vor dem Jahre 340 veröffentlicht wurde. Darin wird ein Jünger Johannes im Präteritum neben einem Presbyter Johannes im Präsens genannt. Da dieser Pappias, der um 85 bis 130 n. Chr. gelebt haben soll, in seiner Kenntnis der Umstände und Glaubwürdigkeit der Aussage nicht bewertet werden kann, ist der Widerspruch nicht aufzulösen. Er kann aus persönlichem Wissen ebenso wie aus einem Missverständnis oder einer Unbedachtsamkeit entstanden sein. Seine Aussage kann genau oder ungenau wiedergeben worden sein. Die alten theologischen Texte wechseln oft sehr unvermittelt vom Imperfekt ins Präsens, wovon sich jeder Bibelleser überzeugen kann. Und der gute Bischof Eusebius war sich gewiss der Folgen dieser Textübermittlung nicht im ganzen Umfang bewusst. Gestützt durch sie allein jedenfalls darf man eine Existenz verschiedener Autoren gleichen Namens nicht für bewiesen erklären, zumal alle Hinweise in den Texten selbst auf eine Identität des Jüngers, des Evangelisten, des Verkünders der Offenbarung und des Briefeschreibers deuten. Augustinus, der Bischof von Hippo Regius, war der erste Exeget der Schriften des Evangelisten Johannes. Wollte man sich jedoch auf eine Disputation seiner Deutungen einlassen, so würde man sich in endlose theologische Verstrickungen begeben. Die aber sind alles andere als meine Sache. Und überdies sind auch die Werke des Augustinus mehr als hun83

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dertfach und oft auch kontrovers kommentiert worden. Augustinus selbst jedoch meint, dass die Wahrheit nur eine gemeinsame sein könne, die alle denkenden Menschen einzuschließen habe, und dass, wer immer sich im Besitz der alleinigen Wahrheit wähne, schon der Lüge verfallen sei. Ich jedenfalls überhebe mich nicht und vertraue einer zweitausendjährigen Tradition, die nur den einen Autor Johannes kennt. Dem Augustinus schließe ich mich in dieser Frage gerne an, auch wenn es seine Berechtigung hat, dass jede Epoche ihren Beitrag liefert zur Deutung der Werke, in welchen der Autor sich zu erkennen gibt. Ein solcher Versuch soll in den nachfolgenden Zeilen geschehen. Er will den Blick auf einen Mann lenken, dessen Gestalt eine der überdimensionalen Figuren in der Eingangshalle zu einer neuen Zeit ist und will ihre ebenso umstrittene wie unleugbare Bedeutung vermitteln einer Epoche, die sich, verwirrt durch dogmatischen Starrsinn einerseits und durch Zersplitterung der Exegesen andererseits, ihres gemeinsamen Erbes oft nicht mehr bewusst ist. Der hebräische Name Johannes kann als Bezeichnung dessen gedeutet werden, der die Gnade des Herrn empfangen hat. Er war um die Zeitenwende in Galiläa, in Judäa und auch später in der Diaspora alles andere als selten. Um den einen Johannes mit dem andern nicht zu verwechseln, fügte man damals dem Eigennamen den Namen des Vaters oder einen charakterisierenden Beinamen hinzu. Und so lernen wir den Evangelisten Johannes als den Sohn des Fischers Zebedäus vom Täufer Johannes, dem Sohn des Zacharias, zu unterscheiden. Dieser ältere der beiden biblischen Johannes war den Zeitgenossen Christi offenbar die bekanntere Gestalt. Mehr als über den Jünger und vierten der Evangelisten steht noch bei Matthäus, Markus und Lukas über Johannes den Täufer zu lesen. Der war ein leiblicher Vetter Jesu, erscheint uns aber, als gehörte er noch in die Reihe der alttestamentarischen Propheten, als letzter unter den Verkündern Christi, als Rufer in der Wüste, der von Heuschrecken und wildem Honig sich nährte. Die Ikonografie kleidet ihn in ein Kamelfell, gibt ihm einen Kreuzstab in die Hand, legt ihm ein Lamm zu Füßen und lässt seine rechte Hand auf den weisen, der da kommen soll. Von dieser rauen Büßergestalt hebt sich die jugendliche Figur des Lieblingsjüngers Christi durch eine Aura von Helle und Freundlichkeit ab. Nirgends in den Evangelien fällt auch nur ein Staubkorn von Argwohn auf 84

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ihn, den wir vorerst nur als einfachen Fischer auf dem galiläischen Meer, das will heißen: dem See Genezareth, kennenlernen, wovon uns Matthäus in seinem 5. Kapitel erzählt. Ich zitiere hier wie auch im Folgenden aus der deutschen Übersetzung des Martin Luther: Da er von dannen fürbaß ging, sah er zwei andere Brüder, Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, seinen Bruder, im Schiff mit ihrem Vater Zebedäus, daß sie ihre Netze flickten; und er rief sie. Alsbald verließen sie das Schiff und ihren Vater und folgten ihm nach. Markus, der von dieser Berufung fast gleichlautend berichtet, weiß daneben noch etwas mehr, denn er schreibt, dass Jesus dem Johannes und seinem älteren Bruder den Beinamen Bnehargem gab, das heißt Söhne des Donners. Was jedoch damit wirklich gesagt sein sollte, bleibt verschwiegen. Denn auch der leibliche Vater der beiden war, wie wir erfahren, nichts weiter als ein Fischer, der ein paar Tagelöhner beschäftigte. Dieser Zebedäus also kann als Donner wohl kaum gemeint sein. Vielleicht aber könnte Jesus die beiden unzertrennlichen Brüder mit den Zwillingssöhnen des Donnerers Zeus, mit Kastor und Pollux, verglichen haben. Oder er hat den Namen Zebedäus zu Zeus verkürzt, indem er dessen erste beiden mit den letzten beiden Buchstaben verband. In jedem Fall aber hätten wir einen einzigen und darum umso kostbareren Hinweis auf so etwas wie einen Scherz im gesamten Kompendium des Neuen Testaments vor uns und wollen es so schier nicht glauben. Weiter lesen wir bei Johannes, dass Jesus drei aus der Schar der Apostel wählte, denen er sich mehr als allen anderen verbunden fühlte und die er in den entscheidenden Stunden stets um sich wissen wollte. Dies bestätigen übereinstimmend die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas, die von der Theologie als Synoptiker bezeichnet werden, da sie die Ereignisse im Leben Jesu mit nur geringen Abweichungen, gleichsam in einer Zusammenschau, erzählen, so dass man vermuten kann, es hätte der eine vom anderen gewusst oder doch zumindest Mündliches erfahren. Sie alle lassen erkennen, dass der Meister unter seinen zwölf Weggefährten allein den Petrus, den Jakobus und den Johannes in sein engstes Vertrauen zog, dass er sich ihnen in verklärter Lichtgestalt zeigte und dass er nur diese drei bat, bei ihm zu wachen, als er im Garten Gethsemane in angstvollen Gebeten seiner Gefangennahme entgegensah. Die drei aber ahnten nicht, was ihn erwarten 85

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sollte, und wurden vom Schlaf übermannt. Der solcherart Verlassene wusste sehr wohl, dass er, auch wenn sie ihn liebten, es mit Menschen und ihren Schwächen zu tun hatte. Und so hat er sie nicht nur an sich gezogen, sondern sie dann und wann auch zurückgewiesen, wenn sie ihre Kreise überschritten hatten. Keinem war es gegeben, ihm in allem zu folgen. Nicht Petrus, der ihn dreimal verleugnen sollte, und nicht den Brüdern Jakobus und Johannes. Eine eigenartige Begebenheit, die dies bezeugt, schildert uns Matthäus in seinem 20. Kapitel, wenn er schreibt: Da trat zu ihm die Mutter der Kinder des Zebedäus mit ihren Söhnen, fiel vor ihm nieder und bat etwas von ihm. Und er sprach zu ihr: Was willst du? Sie sprach zu ihm: Laß diese meine zwei Söhne sitzen in deinem Reich, einen zu deiner Rechten und den anderen zu deiner Linken. Aber Jesus antwortete und sprach: Ihr wisset nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde, und euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? Sie sprachen zu ihm: Jawohl. Und er sprach zu ihnen: Meinen Kelch sollt ihr zwar trinken, und mit der Taufe, mit der ich getauft werde, sollt ihr getauft werden; aber das Sitzen zu meiner Rechten und Linken zu geben steht mir nicht zu, sondern denen es bereitet ist von meinem Vater. Da das die zehn hörten, wurden sie unwillig über die zwei Brüder. Ähnliches lesen wir mit fast denselben Worten im 10. Kapitel des Markus. Dieser Vorfall zeigt uns die Mutter des Jakobus und des Johannes als eine einfältige Frau und die beiden Brüder als in blindes Vertrauen Verirrte und lässt uns einen der Gründe erahnen, warum sich Jesus am Ende seines irdischen Daseins unter den drei ihm nächststehenden Jüngern für den demütigen Petrus als seinen Stellvertreter auf Erden entschied. Dass der Name der Mutter Salome lautete, wird hier von Matthäus nicht gesagt. Dieselbe Salome aber wird andernorts als eine der engsten Vertrauten des Menschensohnes und Zeugin seines Todes genannt. Das meiste, was wir wissen von der Person des Apostels Johannes, wissen wir nicht von ihm selbst, sondern durch die oben angeführten Zeugnisse der drei anderen Evangelisten. Aus der Apostelgeschichte des Lukas erfahren wir darüber hinaus, dass er, nachdem der Meister sie verlassen hatte, mit 86

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Petrus gemeinsam am Sabbat einen Lahmen heilte, dass er dafür vor den Hohen Rat geführt und gestäupt wurde, und lesen in einem nachfolgenden Nebensatz, dass beide ungelehrte Leute und Laien waren. Einmal noch später wird berichtet, dass Johannes wiederum zusammen mit Petrus nach Samaria gerufen wurde, um auf die dort von Philippus Getauften die Stärkung durch den Heiligen Geist herabzurufen. Und weiter steht dort geschrieben: „Sie aber, da sie bezeugt und geredet hatten das Wort des Herrn, wandten sich wiederum gen Jerusalem und predigten das Evangelium vielen samaritischen Flecken.“ Wir können also annehmen, dass Johannes seinen Wohnort in Jerusalem für die nächste Zeit beibehalten hat. Wenn in den restlichen zwanzig Kapiteln von ihm nicht mehr die Rede ist, erklärt sich dies daraus, dass Lukas, der Autor, sich ganz der Missionstätigkeit des Paulus zuwandte und in dessen Gefolge selbst von Judäa entfernt umherreiste. In dem Evangelium, das seinen Namen trägt, wird eben der Name Johannes nicht ein einziges Mal genannt. Wir lesen darin von einem Jünger, den der Herr lieb hatte, wovon bei den anderen Evangelisten nirgends die Rede war. Aber auch von diesem Lieblingsjünger wird im Johannes-Evangelium nur ganze vier Mal Erwähnung getan. Nichts erfahren wir von seiner Berufung am See Genezareth; nichts von seinem Vater Zebedäus oder seiner Gemeinschaft mit seinem Bruder Jakobus; nichts von der Verklärung Jesu vor den Augen seiner liebsten Jünger. Während alle anderen den Johannes sehr früh schon erwähnen, wird in seiner eigenen Schrift lange über ihn geschwiegen. Zum ersten Mal begegnen wir ihm hier bei der Versammlung der Jünger zum Abendmahl in Jerusalem anlässlich des bevorstehenden Osterfestes. Dort wird im dreizehnten Kapitel nach dem Verräter gefragt und steht geschrieben: Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische saß an der Brust Jesu, welchen Jesus lieb hatte. Dem winkte Simon Petrus, daß er forschen sollte, wer es wäre, von dem er sagte, denn derselbe lag an der Brust Jesu, und er sprach zu ihm: Herr, wer ist’s? Jesus antwortete: der ist’s, dem ich den Bissen Brot eintauche und gebe. Die zweite Erwähnung dieses Jüngers im Johannesevangelium ist dort zu lesen, wo die Personen aufgezählt werden, die unter dem Kreuz ausharrten in der letzten Stunde der Passion, nachdem alle anderen Jünger geflohen waren. Die Stelle lautet: 87

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Da nun Jesus seine Mutter sah und den Jünger dabeistehen, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Weib, siehe, das ist dein Sohn! Darnach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. Maria aber hatte, wie die Bibel nicht verschweigt, nach Jesus vier weitere Söhne und eine ungenannte Zahl von Töchtern. Warum folgte sie keinem von denen, sondern folgte dem Jünger? Und tat sie dies wirklich? Zum dritten Mal begegnen wir im Johannesevangelium diesem Jünger, nachdem am Ostermorgen Maria Magdalena den Stein vom Grab fortgewälzt gefunden hat. Darüber lesen wir im 20. Kapitel: Da läuft sie und kommt zu Simon Petrus und zu dem andern Jünger, welchen Jesus lieb hatte, und spricht zu ihnen: Sie haben den Herrn weggenommen aus dem Grabe, und wir wissen nicht, wo sie ihn hin gelegt haben. Da gingen Petrus und der andere Jünger hinaus und kamen zum Grabe. Es liefen aber die zwei miteinander, und der andere Jünger lief zuvor, schneller denn Petrus, und kam am ersten zum Grabe, guckt hinein und sieht die Leinen gelegt, und das Schweißtuch, das Jesus um das Haupt gebunden war, nicht zu den Leinen gelegt, sondern beiseits, zusammengewickelt, an einem besonderen Ort. Da ging auch der andere Jünger hinein, der am ersten zum Grabe kam, und sah und glaubte es. Die vierte Erwähnung ist zugleich die bedeutsamste, sie folgt unmittelbar nach der Berufung des Petrus und beschließt das Evangelium des Johannes mit den folgenden Versen: Petrus aber wandte sich um und sah den Jünger folgen, welchen Jesus lieb hatte, der auch an seiner Brust beim Abendessen gelegen war und gesagt hatte: Herr, wer ist’s, der dich verrät? Da Petrus diesen sah, spricht er zu Jesu: Herr, was soll aber dieser? Jesus spricht zu ihm: So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an? Folge du mir nach! Da ging eine Rede aus unter den Brüdern: Dieser Jünger stirbt nicht. Und Jesus sprach nicht: Er stirbt nicht, sondern: So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an? Dies ist der Jünger, der von diesen Dingen zeugt und dies geschrieben hat; und wir wissen, daß sein Zeugnis wahrhaftig ist. 88

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Es ist darüber hinaus vermutet worden, dass es sich auch bei dem namenlosen Jünger, der als Einziger die Erlaubnis erhielt, dem gefangenen Jesus in den Palast des Hohepriesters Kaiphas zu folgen, um Johannes gehandelt haben könnte. Dies geschieht nicht ohne Berechtigung. Denn manches über das Verhör und die Verurteilung Jesu lesen wir bei Johannes, wovon die anderen schweigen und wovon nur der eine beim Prozess zugelassene Jünger und später dann auch die Frauen um Jesus aus eigenem Anschauen wissen konnten. Diesem Jünger gab der Sterbende als höchsten Beweis seines Vertrauens seine Mutter in Obhut. Ihm sagte er vorher, dass er nicht wie die anderen das Martyrium werde erdulden müssen, wenn wir die zuletzt zitierte Aussage so verstehen dürfen. Dieser Jünger weiß so wunderlich genaue Details, wie dass Jesus die Augen übergingen, als er vom Tode des Lazarus hörte, dass dessen Leichnam, nachdem er vier Tage gelegen hatte, schon zu stinken begonnen hatte, dass Jesus seine Kleider ablegte und sich einen Schurz umband, ehe er den Zwölfen vor dem Abendmahl die Füße wusch, dass das Schweißtuch im Grab zusammengewickelt und beiseitegelegt worden war und vieles mehr. Das Evangelium des Johannes erscheint uns eben wegen dieser großen Nähe des Autors zu den Geschehnissen als das Einzige, das nicht allein von einem Augenzeugen – denn Augenzeuge war auch Matthäus –, sondern auch von einem Eingeweihten der wundersamen Begebenheiten niedergeschrieben wurde. Und dennoch will man nicht so ohne weiteres einsehen, warum man diesen in vielem Sinn seltsamen Heiligen mit einem Nimbus umgibt, der ihn dem Kreis der Gefährten entrückt und ihn nicht auch als einstmals lebendigen Menschen betrachten sollte, der seine Geschichte und sein Werk hat. Denn wir müssten ihn längst zu den Großen seiner literarischen Profession rechnen, wenn er nicht von den Flügeln seines prophetischen Adlers beschattet unserer genaueren Wahrnehmung allzu lange entzogen worden wäre. Wer war dieser Mann? Wer war er, als er sah und glaubte, und wer ist er geworden, als er davon zu sprechen begann? Wohin ging er, um seinen Auftrag zu erfüllen? Blieb er all die Jahrzehnte, in denen wir keine Nachrichten von ihm haben, in Jerusalem oder kehrte er zurück in seine Heimat Galiläa? Warum wurde er nicht wie sein Bruder im Jahre 62 gefangen gesetzt und enthauptet? Warum schwieg er so lange und ließ andere schreiben von etwas, was sie selbst weder gehört noch gesehen hatten? Warum ergriff er so spät 89

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dann doch endlich das Wort? Und warum hören wir aus seinem ehemals so freundlichen Mund im Exil die furchterregenden Donnerworte der Apokalypse? Um einer Antwort auf diese Fragen näher zu kommen, werden wir die Werke des Johannes zu beachten haben. Vorerst aber sei es gestattet, dass wir außer seinen schon erwähnten Selbstzeugnissen auch noch einige andere Überlieferungen zu Rate ziehen, wenngleich wir bei diesen auf keine Beweise hoffen dürfen, sondern sie nur prüfen dürfen mit kritischen Brauen. In welchem Maße dabei an unsere Gutgläubigkeit appelliert wird, sollen uns einige Beispiele zeigen. Das älteste der Evangelien, das des Matthäus, hat uns – und davon haben wir bereits berichtet – mit wenigen, aber umso klareren Worten die Szene vor Augen geführt, wie Jesus unter den Fischern am See Genezareth zwei Brüderpaare in sein Gefolge aufnimmt. Dieser Vorgang wird uns in den apokryphen Johannesakten – von denen wir keineswegs glauben können, dass sie tatsächlich unseren Jünger zum Autor oder zum Inspirator haben – noch einmal aus großer Nähe geschildert. Es ist da wie folgt zu lesen: Als er nämlich die Brüder Petrus und Andreas erwählt hatte, kam er zu mir und meinem Bruder Jakobus und sprach: Ich bedarf euer, kommt zu mir! Und mein Bruder sagte folgendes: Johannes, dieses Knäblein, das am Ufer uns rief, was will es? Und ich antwortete: Welches Knäblein? Er aber erwiderte: Das uns winkt. Und ich antwortete: Wegen unserer vielen Nachtwachen auf dem Meere siehst du nicht recht, mein Bruder Jakobus. Siehst du denn nicht, daß, der da steht, ein wohlgestalteter, schöner, heiter blickender Mann ist? Er aber sagte mir: Den sehe ich nicht, Bruder. Aber laß uns aussteigen, so werden wir erkennen, was das zu bedeuten hat. Und als wir dann unser Boot gerudert hatten, sahen wir, wie auch er uns behilflich war, den Kahn festzumachen. Als wir uns aber von dem Orte entfernen, um ihm zu folgen, da erscheint er mir wieder ziemlich kahlköpfig, aber mit dicht herabwallendem Kinnbarte, dem Jakobus aber wie ein flaumbärtiger Jüngling. Wir waren darum beide verlegen, was das von uns Geschaute bedeute.

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Man erkennt an diesen wenigen Zeilen bereits, was die Kirchenväter bewogen haben mochte, diese Texte nicht aufzunehmen unter die biblischen Schriften. Diese sogenannten apokryphen Johannes-Akten sind uns nur in Bruchstücken erhalten, und auch wenn Johannes in ihnen immer wieder selbst zu Wort kommt, so sind diese ihm zugeschriebenen Worte gewiss nicht oder nicht in allen Teilen von ihm selbst geschrieben oder von ihm diktiert, sondern sind, wenn nicht überhaupt, fromme Fantastereien, getrübte Erinnerungszitate seiner Anhänger in Kleinasien. Von denen waren Daemonicus, Aristodemus, der Feldherr Andronicus und seine Gattin Drusiana, die Frau des Marcellus, der Stadthauptmann Lykomedes und dessen Gattin Kleopatra, der reiche Kleobius, der spätere Selbstmörder Zeuxis und der Diener Verus die Meistgenannten und es wäre unter diesen vielleicht auch der Protokollator der Akten zu suchen. Man ist sich bei der Lektüre nie so recht sicher, wo hier Geschehenes und Erlebtes im Keim enthalten ist, wo eine im Nachhinein alles Geschehene mystifizierende Absicht oder wo einfach nur eine dem hohen Alter oder der Verzückung geschuldete Fantasterei am Werke war. Es stehen da Texte, die an die Offenbarung oder das Evangelium des Johannes gemahnen, neben solchen, die einen in Versuchung bringen, an der Vernunft des Autors zu zweifeln. So etwa der folgende, der unmittelbar anschließt an das oben Zitierte: Niemals sah ich seine Augen sich schließen, sondern immer nur geöffnet. Oft aber erschien er mir wie ein kleiner, ungestalter Mensch und dann wieder gen Himmel ragend. Er hatte aber noch etwas Wunderbares an sich. Wenn ich zu Tische lag, nahm er mich an seine Brust und ich drückte ihn fest an mich. Und bald fühlte sich seine Brust glatt und weich an, bald hart wie Stein, so daß ich mir’s nicht zu erklären wußte. Hier erscheint uns der Erzähler als ein junger, lebensunkundiger Mensch, der wie verstört oder verzaubert an dem um nur weniges älteren Manne hängt, und manches Mal gar so, als spräche er unter dem Einfluss einer bewusstseinsverändernden Droge. Dies will immerhin noch zu dem Bild des schwärmerischen, jungen Bruders des Jakobus passen und auch zu dem Bild des Johannes, den uns seit allen Zeiten die Maler an die Brust des Meisters geschmiegt vor Augen geführt haben. Interessant ist hier nebenbei die Erinnerung, in der er sich zu Tische liegend sieht, was den Gebräuchen der 91

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Zeit entspricht. Um das oben Gesagte zu verdeutlichen, seien aus derselben Quelle der apokryphen Johannesakten die Zitate noch ergänzt durch eine wahrhaft absonderliche Passage, in der die Verklärung Christi geschildert wird, von der auch in den Evangelien mehrfach berichtet wird. Wiederum führt er uns drei in gleicher Weise auf den Berg und sagt: Kommet mit mir! Wir aber machten uns wieder auf den Weg. Und wir sahen ihn in einiger Entfernung beten. Ich aber gehe alsbald, da er mich lieb hatte, leise, daß er’s nicht bemerke, nahe an ihn heran und betrachte stehen bleibend seine Rückseite. Und ich seh ihn ganz und gar unbekleidet, ohne die Kleider, die wir sonst an ihm sahen, sehe, daß er überhaupt kein Mensch ist. Und seine Füße sind weißer als Schnee, so daß sie auch den Erdboden dort erleuchten. Sein Haupt aber lehnt sich an den Himmel. Da schrie ich auf vor Angst, er aber wandte sich um und sah aus wie ein gewöhnlicher Mensch, faßte mich ans Kinn, zog es empor und sprach zu mir: Johannes, werde nicht ungläubig, sondern gläubig und nicht vorwitzig! Und ich sagte zu ihm: Was habe ich denn getan, Herr? Ich versichere euch aber, Brüder: solchen Schmerz habe ich an jener Stelle, wo er mich am Kinn faßte, dreißig Tage lang gespürt, daß ich zu ihm sagte: Herr, wenn dein Zupfen im Scherz solchen Schmerz bereitet, was wäre gewesen, wenn du mich mit dem Stock geschlagen hättest? Und er sprach zu mir: Laß es hinfort deine Sorge sein, den nicht zu versuchen, für den es keine Versuchung gibt. Neben der bereits angemerkten Tendenz des apokryphen Autors, den Wundergläubigen in den ionischen Provinzen zu geben, was ihnen gefallen konnte, finden wir hier wiederum so etwas wie die so seltene Spur eines Scherzes. Vor allem aber auch außerhalb des Johannesevangeliums die Kennzeichnung des Johannes als den, den der Herr lieb hatte. Wer immer diese Akten geschrieben haben mag, er hat den Namen des Jüngers missbraucht, auch dann, wenn er meinte in guter Absicht zu handeln. Dass das Evangelium des Johannes in Ephesos „veröffentlicht“ wurde, wissen wir von Irenäus, dem Bischof von Lyon, der als einer unserer zuverlässigsten Zeitzeugen gelten darf. Ganz sicher kann man daraus nicht entnehmen, dass es in Ephesos auch geschrieben wurde, wenngleich die Vermutung naheliegt. Irenäus hat seine glaubhafte Nachricht vom Bischof 92

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Polykarp von Smyrna, der in seiner Jugend ein Schüler des Apostels war. Wenn wir noch eine Bestätigung benötigten, dass Johannes in Ephesos lebte und wirkte, so könnten wir einen Brief anführen des Polykrates, der im 2. Jahrhundert in Ephesos Bischof war. Er schreibt an seinen Amtsbruder Victor in Rom, dass er sich auf die Autorität berufe des „Johannes, der an der Brust des Herrn lag, den Stirnschild trug, Presbyter, Glaubenszeuge und Lehrer war und in Ephesos zur Ruhe eingegangen ist“. Was man unter einem Stirnschild zu verstehen hat, kann ich nicht sagen. Alles andere aber ist unmissverständlich und daran zu deuteln, sehe ich keinen Grund. Warum aber war der Apostel eben nach Ephesos gezogen, wo Jahre zuvor schon Paulus, einmal im Jahre 52 für kurze Zeit, das zweite Mal von 54 bis zum Pfingstfest 57 für längere Zeit gepredigt und eine Gemeinde von Heidenchristen gegründet hatte? Unbezweifelbar lebte Johannes um die Jahreswende 44/45 noch in Jerusalem, wo er als eine der „drei Säulen“ der Christengemeinde genannt wird. Auch kann man davon ausgehen, dass er beim so bedeutsamen Apostelkonzil, das der Herrenbruder Jakobus für das Jahr 49 in Jerusalem einberufen hatte, ebenfalls anwesend war. Dass er sich dort im Sinne des Petrus und des Paulus für die Missionierung der Heiden und deren den Juden gleichgestellte Aufnahme in die christliche Gemeinde ausgesprochen hat, lässt sich aus einem Hinweis aus dem 7. Kapitel der Offenbarung erweisen. Nach diesem Ereignis finden wir für lange Zeit keine Spur mehr von ihm. Paulus war unterdessen um das Jahr 53 aufgebrochen, zu Fuß wandernd nach Ephesos zurückgekehrt und hatte dort über drei Jahre gepredigt. In Ephesos war in dieser Zeit eine große Bücherverbrennung geschehen, die Paulus, wenn schon nicht angeordnet, so doch nicht verhindert hatte. In der Apostelgeschichte wird der Wert der heidnischen Bücher auf fünfzigtausend Groschen geschätzt, ein Betrag, der offenbar so gewaltig war, dass man ihn staunend erwähnen musste. Unsereins denkt eher mit Schrecken an den Verlust antiken Kulturguts und empfindet Abscheu vor dieser Tat religiösen Eifers. Wie es scheint, war die Gemeinde in Ephesos bereits im Widerstreit der drei Religionen leidenschaftlich fanatisiert, denn bald darauf entstand ein Aufruhr unter den Silberschmieden, die kleine Nachbildungen des berühmten Tempels der Artemis an die Reisenden verkauften und um ihre Geschäfte fürchteten. Als der Streit geschlichtet war, verließ Paulus um das Jahr 58 die Stadt und wandte sich mit seinen Gefolgsleuten nach Mazedonien. Es ist kaum anzunehmen, dass die beiden 93

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Apostel einander in Ephesos noch begegnet sind und dass im späteren Brief des Paulus an die Epheser oder in der Apostelgeschichte des Lukas davon nichts erwähnt worden wäre. Von Johannes lässt sich am ehesten vermuten, dass er nach dem Märtyrertod seines Bruders, der von einem jüdischen Gericht im Jahre 62 widerrechtlich, weil ohne Zustimmung der Römer, verurteilt und hingerichtet worden war, die Stadt Jerusalem verlassen hat, gemeinsam mit Maria, wenn sie noch lebte. Eine ungesicherte Überlieferung will, dass er sich unterwegs einige Zeit in Antiochia aufhielt, damals eine der bedeutendsten Städte des Nahen Ostens, in der sich durch das Wirken des Paulus bereits eine ansehnliche Christengemeinde gebildet hatte. Spätestens ab dem Jahre 68 der neuen Zeitrechnung dürfen wir Johannes mit einiger Sicherheit in Ephesos vermuten. Diese Stadt und die umliegenden Gemeinden blieben fortan der Mittelpunkt seines Wirkens. Ephesos war damals die Hauptstadt der römischen Provinz Asia und eine volkreiche Handelsmetropole, in der nicht nur die griechischen und römischen Götter, unter ihnen vor allem die Artemis, sondern auch die ägyptische Isis und manche der asiatischen Gottheiten verehrt wurden. Nirgends sonst, wenn man von Rom absieht, war ein Erfolg der christlichen Mission von ähnlich beispielgebender Bedeutung zu erhoffen. Der genaue Zeitpunkt seiner Ankunft oder das Alter des Apostels werden nirgends genannt, auch die Dauer seines Aufenthalts ist nicht zu ermitteln. Wenn die Legende vom Tod der Christusmutter Maria in Ephesos einen wahren Kern enthält, so muss er sich um diese Zeit ereignet haben. Um das Jahr 69 wurde Johannes, wie später noch näher untersucht werden soll, für einige Zeit auf die nahe gelegene Insel Patmos verbannt. Im Jahre 71 soll er zurückgekehrt sein. Danach wird nur mehr in dem Brief des Polykrates glaubhaft die Tatsache seines Todes und werden in den Johannesakten zweifelhaft die Umstände dieses Todes in Ephesos dargelegt. Von einer eigentümlichen Selbstbeerdigung wird da fabuliert, wobei der Apostel sich vor den Toren der Stadt von zwei jungen Männern das Grab habe schaufeln lassen, und es wird geendet mit den folgenden Sätzen: Und als er sich stehend ganz bekreuzigt und gesagt hatte: Sei du mit mir, Herr Jesu Christe, legte er sich ins Grab nieder, in dem er seine Kleider ausgebreitet hatte. Dann sagte er zu uns: Friede sei mit euch, Brüder! Und gab freudig seinen Geist auf. Auffällig ist an den kanonischen Texten des Johannes ebenso wie an den apokryphen Akten, welch geringen Anteil die Geschehnisse im Leben 94

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Christi oder die Mission der Apostel, und welch großen Anteil die Zitate gesprochener Worte haben. Jeder, der über eine Zahl von Jahren versucht zurückzudenken, erkennt, dass er sich an nur weniges des einstmals Gesagten oder Gehörten im Wortlaut erinnern kann, dass aber vieles, was er getan oder erlitten hat, sich unvergesslich eingeprägt hat. Wie kommt es nun, dass wir bei diesem Jünger und Augenzeugen Johannes von den Geschehnissen in Galiläa und Jerusalem zwar manches genau im Detail, aber insgesamt weniger vom irdischen Weg seines Meisters als bei den anderen Evangelisten erfahren? Die Botschaft des gesprochenen Wortes scheint ihm allein von Bedeutung gewesen zu sein. Wo für die Geschichtsschreiber der Griechen und Römer die Taten gelten, pragmai oder gesta genannt, da verkündet dieser Evangelist vor allem die ihm aufgetragene mündliche Botschaft. Er war es, der geschrieben hat: Im Anfang war das Wort. Das Wort, der Geist, der Sinn, der logos, und nicht, wie es der Doktor Faust haben wollte, die Tat. Den Begriff des logos aber hat als erster Heraklit, der Dunkle, der Weise von Ephesos in den Sprachgebrauch der Philosophie und Welterforschung eingeführt. Er meint nichts anderes, als dass der Wille, der Plan, der Gedanke aller Gestaltwerdung des Seienden vorangeht, dass ein Gesetz waltet hinter allem, was da geschieht und die Welt nicht eine Wucherung ist, die sich aus sich selbst speist und sich selbst wieder verzehrt. Hat Johannes im Lande der ersten Philosophen, in Ionien, aus den Quellen der großen Überlieferung geschöpft? Oder hat er nichts weiter getan als das Wort der Schöpfungsgeschichte weiter zu denken, das da heißt: Gott sprach: es werde Licht. Und es ward Licht. Wir wissen nichts weiter davon. Seit vielen Jahrhunderten wurde unzählige Male über die Worte des Evangelisten gepredigt und geschrieben. Dem hier Neues hinzuzufügen liegt mir fern. Meine Absicht ist es vielmehr, den Lebensspuren des Johannes nachzugehen und ihn als Menschen und als Mann des Wortes, um nicht zu sagen als Schriftsteller, ins Licht zu heben. Wenn wir sein Evangelium oder seine Briefe nach weiteren als den bereits zitierten Hinweisen auf sein eigenes Leben durchforschen, finden wir dabei nur wenig Hilfe. Nichts erzählt er von seinen Verwandten, nichts von Freunden oder von Frauen, nichts vom Tod seines Bruders Jakobus, nichts von der Zerstörung Jerusalems und der Austreibung der Juden durch den Kaiser Titus, nichts von seinen Reisen, nichts von seiner Gemeinschaft mit der ihm anvertrauten Mutter Maria, nichts von deren Tod. Nirgends auch ist in seinen Schriften der Hinweis auf 95

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eine seiner anderen Schriften zu finden. Ist es Bescheidenheit, die ihn veranlasst hat, von sich selbst zu schweigen? Ist es Sanftmut oder Demut? Wie aber erfasst ihn dann dieser prophetische Zorn, durch seine Offenbarung die Botschaft von der drohenden Strafe Gottes an die sieben Gemeinden in Asien zu senden und seinen Namen und seine Sendung den Empfängern dabei gleichsam einzuhämmern? Wie ist dies alles zusammenzufügen zu einem Bild, das wir uns von diesem Manne zu machen wünschen, der wie nur wenige andere die Überlieferung des Christentums geprägt hat und als einer der bedeutendsten Autoren nicht nur der religiösen, sondern auch der literarischen Geschichte gelten muss? Wenn ich mich nun, da im Evangelium und der Apostelgeschichte nichts über das Genannte zu finden ist, den anderen Schriften des Johannes zuwende, so geschieht dies, um außer seinen irdischen Wegen auch den Werdegang seines Geistes zu erforschen. Es leitet mich nicht die Absicht und läge es auch weit außerhalb meiner Kenntnisse und Einsichten, die Botschaft der johanneischen Schriften theologisch zu kommentieren. Mir soll es hier genug sein, die historischen Fakten zu klären. Das andere ist selbst Martin Luther, der sie aus dem originalen Griechisch ins Deutsche übertragen hat, nach eigenem Geständnis nicht in allem gelungen. Während er die eine mit den Worten preist: Das Johannes-Evangelium ist das einzige, zarte, rechte Hauptevangelium und den anderen dreien weit, weit vorzuziehen und höher zu heben, gesteht er angesichts der Offenbarung: Mein Geist will sich in dieses Buch nicht schicken. Ich muss es zu meinem Bedauern in Anbetracht der Offenbarung ganz mit ihm halten. Keine seiner Schriften gemahnt mich so sehr wie diese an die Drohungen und Verwünschungen der Propheten des Alten Testaments. In seiner visionären Kraft übertrifft sie diese sogar noch bei weitem. Man kann dieses Buch, das nicht viele Seiten hat, kaum in einem Zug durchlesen, ohne zu stöhnen. Immer wieder muss man es beiseite legen vor Staunen, Bewunderung, aber auch vor Schrecken. Es scheint als schöpfe es aus uralten Quellen, in denen die großen Katastrophen der Vorgeschichte und endlich gar der Weltuntergang geschildert werden. Die Offenbarung des Johannes stellt sich dar als ein von einer himmlischen Stimme diktiertes Sendschreiben an die sieben Gemeinden in Kleinasien, die mit Namen ge96

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nannt werden: Ephesos, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodicea. Zwei davon, Thyatira und Laodicea, hatten noch während der Regierungszeit des Augustus unter einem Erdbeben gelitten, sie hatten den Schreck noch in den Gliedern und waren für prophetische Warnungen empfänglich. Damit auch kein Zweifel über den Autor, der in diesen Gemeinden wohl bekannt war, und über die Autorität seiner Sendung bestehe, wird die Schrift eröffnet mit den folgenden Worten: Dies ist die Offenbarung Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, seinen Knechten zu zeigen, was in der Kürze geschehen soll; und er hat sie gedeutet und gesandt durch seinen Engel zu seinem Knecht Johannes. Und einige Verse danach erfahren wir darüber hinaus eine bedeutsame biografische Nachricht, wenn wir lesen: Ich, Johannes, der euer Bruder und Mitgenosse an der Trübsal ist und am Reich und in der Geduld Christi, war auf der Insel, die da heißt Patmos, um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses Jesu Christi. Aus dieser Nachricht ist geschlossen worden, und ich meine zu Recht, dass Johannes zuerst in einer dieser Gemeinden, vermutlich in Ephesos, gelebt hat, dort von der römischen Herrschaft gefangen gesetzt und auf die der kleinasiatischen Küste vorgelagerte Insel Patmos verbannt worden war. Dies offenbar wegen des Ärgernisses, das er unter den ihren griechisch-römischen Göttern anhängenden, in seinem Verständnis also heidnischen Gemeinden durch seine Missionstätigkeit erregt hatte. Ob die Vergangenheitsform „ich ... war“, bedeutet, dass das Schreiben erst nach der Rückkehr von der Insel geschrieben oder versandt wurde oder dass es sich um eine später vorangestellte Adresse handelt, vermag ich nicht zu sagen. Die Begründung der Bestrafung und Verbannung wird überliefert durch die mündliche Sage, die aufgezeichnet wurde von Jacobus de Voragine, Erzbischof von Genua, in seiner „Legenda aurea“. Dort steht zu lesen: Da aber der Kaiser sah, daß Johannes auch jetzt von seiner Predigt nicht wollte lassen, so verbannte er ihn auf eine Insel im Meere, die war geheißen Patmos. 97

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Der Kaiser, von dem hier die Rede ist, war nicht, wie oft vermutet wurde, Domitian. Der herrschte von 81 bis 96 n. Chr. Die Offenbarung wurde aber bereits, so meine ich nicht allein, um das Jahr 69 geschrieben, in welchem Nero vom Thron gejagt und zum Selbstmord gezwungen, das römische Reich in einen furchtbaren Bürgerkrieg gestürzt und nahe an seine völlige Vernichtung gebracht wurde. Ganz offenbar entstand sie unter dem Eindruck des allgemeinen Aufruhrs, den die in ihrem alten Ansehen gedemütigten Senatoren und Tribunen Roms nicht befrieden konnten. Nero selbst hatte noch zahlreiche Truppen aus den Provinzen, als Britannien, Gallien, Germanien und Illyrien zu seiner Hilfe herbeigerufen. Die verbündeten sich nach seinem Tod mit den Thronaspiranten Galba und Otho, verschafften sich durch Plünderungen Fourage und Beute und waren in ihrer Mordlust und Zerstörungswut auch durch die Ausrufung zum Kaiser des aus Spanien heranziehenden Galba nicht mehr zu bändigen. Galba wurde ermordet, Otho folgte ihm nach auf dem Thron und im Tod. Vitellius griff nach der Macht. Wer Geld und Gut besaß, wurde gewaltsam enteignet, um die Truppen zu bezahlen. Im Sommer 69 bereits hatten die Heere in Ägypten, Judäa, Syrien, Pontus, Kleinasen und Achaja dem Vespasian den Eid geleistet. Der brach nun ebenfalls auf, um gegen Rom zu ziehen. Und so war es gewiss auch auf der von römischen Truppen besetzten Insel Patmos erkennbar, dass dem vom Krieg der Parteien zerrissenen Reich der Untergang drohte. Und tatsächlich herrschte, noch ehe Vespasian siegreich den Schauplatz betrat, ein großes Morden und Rauben in fast allen Provinzen, in Gallien, Helvetien, Pannonien, Illyrien nicht weniger als in Italien selbst. Wie Tacitus in seinen Annalen berichtet, blieb auch Rom nicht verschont, das in großen Teilen verwüstet und dessen innerstes Zentrum der Macht, das Kapitol, durch die Anhänger des herannahenden Vitellius gebrandschatzt wurde. Dieses Feuer gab das Fanal an alle Provinzen. In Gallien wurden allein in Metz viertausend Menschen ermordet. In der Schweiz wurde der Aargau verwüstet und Tausende Helvetier erschlagen, ebenso viele in die Sklaverei verkauft. Cremona wurde erstürmt und vier Tage lang geplündert und gebrandschatzt. Die von früheren Kaisern Verbannten kehrten zurück, um sich zu rächen. Sklavenkrieg drohte in Pontus. Aufständische Sklaven wurden gekreuzigt, aufbegehrende Bürger mit dem Schwert hingerichtet und ehemals mächtige Männer durch den Dolch heimlich getötet. Die Erbitterung war auf allen Seiten so groß, dass nach der Schlacht bei Bedriacum 98

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am Po die vielen Tausend von Gefallenen liegen blieben ohne Bestattung. Die Opfer waren nicht mehr zu zählen. Genug von den Gräueln. Die Nachricht von all dem war jedenfalls bald schon nach Asien gedrungen und hatte die Hoffnung der Christen auf eine Strafe des Himmels für die erlittenen Verfolgungen geweckt. Es ist kein Zweifel: unter der in der Offenbarung mehrfach zitierten Hure Babylon und unter der siebenköpfigen Schlange muss die auf sieben Hügeln erbaute Stadt Rom verstanden werden. Mit den sieben Königen darin waren Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius, Nero, Galba und Otho gemeint. Die hatten bis zum Schicksalsjahr 69 das Reich in ihrer Gewalt gehabt und hatten es, so mussten Johannes und viele der Geknechteten der römischen Herrschaft glauben, an den Rand des Untergangs geführt. Von der Belagerung Jerusalems hingegen oder gar von dessen Zerstörung im Jahre 70 durch den Sohn des Vitellius, Titus, ist weder in der Offenbarung noch im Evangelium oder in den Briefen des Johannes etwas zu lesen. Bei der Bedeutung, die dieses Ereignis für den Apostel haben musste, hätte er darüber keinesfalls zu schweigen vermocht. Laut Clemens von Alexandria soll er im Jahre 71 aus der Verbannung entlassen worden sein. Ob dies nicht schon ein Jahr früher geschah, weil er doch sonst einen Hinweis über den Kampf um Jerusalem enthalten müsste, sei dahingestellt. Jedenfalls war das Sendschreiben an die sieben Gemeinden schon abgesandt. Dann spätestens wird Johannes erfahren haben, dass nicht wie vorhergesagt das von ihm prophetisch verfluchte „babylonische“ Rom, sondern das „heilige“ Jerusalem, die Stätte des Glaubens und der Frohen Botschaft, untergegangen war. Wie furchtbar muss ihn das betroffen haben. Es ist nicht zu verwundern, wenn er sich in seinen letzten Lebensjahren von aller Politik und Wahrsagerei abgewandt und sich allein dem Bekenntnis zu seiner Berufung zum Zeugen der christlichen Botschaft gewidmet hat. Dass der sanftmütige Apostel und Evangelist und der unheildrohende Presbyter Johannes ein und dieselbe Person sind, haben manche nicht glauben wollen. Die Gewissheit darüber geht jedoch daraus hervor, dass er sich im zweiten und dritten seiner im hohen Alter verfassten Briefe selbst als Ältesten bezeichnet, was damals nichts anderes heißen sollte als Presbyter oder Priester. Auch hätte ein anderer als er selbst sich zu seinen Lebzeiten keinesfalls unter dem allseits bekannten Namen an die sieben asiatischen Gemeinden und schon gar nicht an die Stadt Ephesos wenden können. Ein solcher hätte zumindest ein anderes Epitheton als eben nur Knecht Gottes 99

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wählen müssen, um unterschieden zu werden vom Apostel und Evangelisten. Sprachforscher, zu denen ich mich nicht rechnen darf, haben ermittelt, dass der Gebrauch der griechischen Sprache in der Offenbarung deutlicher als der im Johannesevangelium dem Hebräischen verhaftet ist. Dies war einer der Gründe, die Abfassung der Offenbarung früher anzusetzen als die des Evangeliums, oder gar an der Autorschaft ein und derselben Person zu zweifeln. Zwingend erscheint auch diese Folgerung nicht, wenn man bedenkt, dass die gestellte Aufgabe im einen Fall die Vorhersage des göttlichen Gerichts war, die sich an der Sprache der biblischen Propheten orientierte, im anderen Fall aber ein Bericht vom irdischen Leben und Wirken des guten Hirten, der gekommen war, um die Welt von ihren Sünden zu erlösen. Wenn man auf den Unterschied der apokalyptischen Sprache zur evangelikalen, auf ihre Barbarismen und offenkundigen Fehlschreibungen, verweist, so muss man bedenken, dass ein Gefangener unter anderen seelischen und physischen Bedingungen schreibt als ein Prediger und ein Fluchender unter anderen als ein Verkünder des Heils. Patmos an der ionischen Küste war eine Gefängnisinsel. Der Aufenthalt des Johannes wird dort noch heute auf der Höhe des die Insel überblickenden Berges vermutet. Eine Höhle wird gezeigt, in der Johannes sich verborgen haben soll. Ein Kloster steht seither nahe der Stelle. Dass diese Verbannung erst nach dem Tod der ihm anvertrauten Mutter Maria geschah, lässt sich vermuten. Sie hätte um diese Zeit wohl schon über neunzig Jahre alt sein müssen. Es ist allein darum kaum anzunehmen, dass sie ihn auf die Insel begleitet haben könnte. Einmal jedoch gedenkt Johannes dieser Frau, seiner zweiten Mutter, als der in den Himmel aufgefahrenen Gottesgebärerin, wenn er sie in einer verzückten Vision beschreibt: Am Himmel erschien ein großes Zeichen, eine Frau mit der Sonne umkleidet, den Mond unter ihren Füßen und eine Krone von zwölf Sternen auf ihrem Haupte. Sie war gesegneten Leibes und schrie in ihren Wehen und Geburtsnöten. (Offb 12, 1–2) Dieses Bild hat sich unserem Gedächtnis erhalten und alle späteren Bildnisse der heiligen Frau im Sternenkranz seither geprägt. 100

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Warum die apokalyptischen Visionen den Jünger eben auf Patmos übermannten, darüber kann man nur Vermutungen hegen. Er war durch die Gefangenschaft und Verbannung ebenso wie durch die Nachrichten aus Rom von den Hinrichtungen des Petrus und des Paulus und den grausamen Christenverfolgungen unter Nero gewiss in eine seelische Ausnahmesituation geraten. Mag sein, dass er selbst misshandelt, gefoltert worden war, um seinen Glauben zu verleugnen. Mag sein, dass er von uralten Sagen erfuhr, die sich in der Erinnerung der Bevölkerung dieser kargen Insel erhalten hatten an den furchtbaren Vulkanausbruch auf der ägäischen Insel Thera, der einst der minoischen Kultur als das Weltende erschienen sein musste. Mag sein, dass er des Berichts von den ägyptischen Plagen des Alten Testamentes gedachte oder dass er sich verpflichtet fühlte, seinem eigenen Namen als Donnersohn gerecht zu werden. Wir werden nichts davon erfahren. Was immer in seinem Inneren geschah, es bricht aus ihm furchtbar hervor und erschreckt uns noch heute. Denn was den bereits zitierten einleitenden Versen der Offenbarung folgt, ist einer der gewaltigsten visionären und poetischen Texte, die die Geschichte des Schrifttums kennt. Die Schrecken, welche unsere Erde seit Menschengedenken überfallen haben, wurden in keinem anderen Buch in gleichem Maße bildhaft gemacht. Wenn man dem Zeugnis des Matthäus (16, 28) glauben will, so hat auch Jesus selbst das himmlische Strafgericht für die nahe Zeit erwartet und hat es seinen Jüngern mit den Worten verkündet: Es sind einige unter euch, die hier stehen, welche den Tod nicht kosten werden, bis sie den Sohn des Menschen kommen sehen in seinem Reiche. Oder an anderer Stelle (Mark. 13, 30): Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis daß dies alles geschehe. Und nun war Johannes als jüngster unter ihnen, wie er mit Recht vermuten durfte, der letzte der Zeugen dieser Prophezeiung. Wie konnte er, wenn er den Worten seines Meisters glaubte, anderes als das Strafgericht erwarten in den wenigen Jahren, die ihm noch zu leben blieben? Und so verkündigte er in visionärer Bedrängnis vor dem Abgrund des eigenen Todes den Tag des Zorns, der dies irae, und den Richter, der erscheinen würde mit den apokalyptischen Worten: Siehe, er kommt mit den Wolken, und es werden ihn sehen alle Augen und die ihn zerstochen haben; und werden heulen alle Geschlechter der Erde. 101

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Und er hat dieses furchtbare Gericht über die Herrschaft des Nero oder des Galba und über die von diesen beherrschte Welt nicht für eine ferne Zukunft, sondern für die nächstfolgenden Jahre verkündet, wenn er schrieb (Offb 6,1), er habe die Offenbarung Jesu Christi empfangen: … damit er seinen Knechten zeige, was bald geschehen wird. Oder an anderer Stelle (Offb 22,20): Er, der dies bezeugt, spricht: Ja, ich komme bald! Zwei Jahrtausende und viele furchtbare Kriege, Morde, Vertreibungen und Seuchen später kann dennoch kaum einer sagen, dass sich diese Prophezeiungen seither erfüllt hätten, wenn man sie nicht auf die Gräuel des 20. Jahrhunderts beziehen will, sondern in der Kürze der Zeit auf die angesprochenen ionischen Gemeinden. Und warum auch gerade die sieben Städte? Ephesos, die Stadt des Herodot, und das umliegende ionische Land waren von alters her der Nährboden der antiken Wissenschaft und Philosophie. Wenn diese nun dem alten Götterglauben, der jüdischen Diaspora und der neuen christlichen Botschaft begegneten, so müssen sie sich gegenseitig bedrängt und durchdrungen haben und dem Jünger als ein Gemisch von sündigen Gräueln erschienen sein. Duldsamkeit war ihm fremd. Erträumt und erdichtet waren für sein Verständnis die griechischen wie auch die römischen Mythen, von keiner Priesterkaste behütet. Der Glaube der Juden jedoch, aus dem er kam, und der Glaube der Anhänger Christi, den er verkündete, waren geoffenbarte Religionen. Anders als gegenüber den Erkenntnissen der ionischen Philosophen, die ihre Zweifel und widersprüchlichen Entwürfe offen zur Schau stellen konnten, war eine Kritik am Gesetz des Mose und an der Verkündung des Neuen Bundes den Hohepriestern in Israel ebenso wie den Aposteln im Exil nicht tolerierbar. Wenn dort auf Patmos des Johannes lange verschlossener Mund sich endlich auftat, um die furchtbarsten Drohungen auszustoßen, so war die gewaltsame Verbannung vielleicht der letzte Anlass. Der Zorn gegen die Unterdrücker seiner Botschaft musste lange in ihm gekocht haben. Sein Hass auf die Stadt Rom ist wahrhaft biblisch zu nennen, apokalyptisch. Man wird auch in Rom Nachricht bekommen haben von den Verwünschungen der neuen Sekte der Christen und wird sie vielleicht bald als Bedrohungen einzuschätzen gelernt haben. Vieles lässt sich durch die zeitgeschichtlichen Ursachen erklären, vieles entsprang vielleicht der Not der Selbstbehauptung gegen 102

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einen übermächtigen Gegner. Und doch ist die wie aus glühender Lava geformte Apokalypse nicht ganz ohne Einschlüsse aus uraltem oder fremdem Gestein. Da ist zuerst die Erscheinung der seltsamen Krieger, die wie Heuschrecken das Land überziehen und einen Strahlenkranz auf ihrem Haupt wie Kronen dem Golde gleich tragen. Die gemahnen uns an die Abbildungen, die wir aus ägyptischen Quellen von den Kriegern der sogenannten nordischen Seevölker kennen und auch daran, wie uns im Buch der Richter etwa die ebenfalls aus dem Norden zugewanderten Hethiter geschildert werden. Dass deren Anführer Apollyon genannt wird, ist vielleicht ein allzu gewaltsamer Versuch, den Namen des griechischen Gottes vom Verbum apollymi (verderben, vernichten) abzuleiten. Auch wenn man die über den gesamten Text der Offenbarung verstreuten Hinweise auf eine geheime Zahlensymbolik betrachtet, kann man Einflüsse der jüdischen Kabala ebenso wie der Pythagoräer nicht leugnen. So ist etwa die Zahl 666 als Symbol für den Namen des Christenmörders Nero entschlüsselt worden. Auch sind manche der Visionen den Bildnissen etwa der Chaldäer nicht unähnlich. Man denkt eher an mesopotamische Anregungen und weniger an griechische oder jüdische, wenn man die vier bei Ezechiel als Erzengel erstmals genannten Symbole hier nun als die der Evangelisten wieder beschrieben findet (4,6 u.7): Und in der Mitte, rings um den Thron, sind vier Wesen voller Augen, vorn und hinten. Das erste Wesen gleicht einem Löwen, das zweite einem Jungstier, das dritte hat ein Gesicht, das einem Menschen gleicht, das vierte gleicht einem Adler im Flug. Die himmlische Stadt aber, die Johannes in seinen Visionen schildert und die als himmlisches Jerusalem seither gedeutet wurde, gemahnte den Tiefenpsychologen C.G. Jung gar an ein indisches Mandala. Wie dem auch sei, sein Wort immerhin lassen wir gelten, wenn er von den Visionen des Johannes schreibt: Diese Bilder sind von der Vernunft nicht zu entschlüsseln. Der bloße Versuch jedoch allein schon nimmt ihnen ihre Kraft. Wie viele Bedenken auch immer gegen diese Schrift ausgesprochen worden sein mögen, undenkbar wäre ein Neues Testament, das auf die Offenbarung verzichtete. Und so wurde sie auch von allem Anfang an von den Kirchenvätern unter die kanonischen Schriften gereiht. Zahlreiche wörtliche Zitate von Christusworten, die sich sonst in den Evangelien nicht fin103

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den, sind hier überliefert, so etwa das oft zitierte: Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende. Oder die große Rüge: Wärst du doch kalt oder warm! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, so will ich dich ausspeien aus meinem Munde! In der Offenbarung wird gesprochen von den Völkern an den vier Enden der Erde, von Gog und Magog, die zum Kampf versammelt werden und auch von Armageddon, dem Ort der letzten aller entscheidenden Schlachten. Und dem himmlischen Jerusalem werden zugeordnet als seine zwölf Grundsteine die zwölf Apostel. Man gestatte mir, auch wenn noch vieles zu sagen wäre, es dabei zu belassen. Schriften wie die der Offenbarung sind der historischen oder literarischen Kritik weitgehend entzogen durch ihre leidenschaftlich religiöse Emphase, die den Kritiker ohne viele Umstände dem Gefolge des diabolos, des Widersachers, zurechnen würde. Das hat Johannes seither allen Eiferern zuvor getan. Etwa in den Zeilen, mit denen er die Offenbarung beschließt: Ich bezeuge allen, die da hören die Worte der Weissagung in diesem Buch: So jemand dazusetzt, so wird Gott dazusetzen auf ihn die Plagen, die in diesem Buch geschrieben stehen. Und so jemand davontut von den Worten des Buchs dieser Weissagung, so wird Gott abtun sein Teil vom Holz des Lebens und von der heiligen Stadt, davon in diesem Buch geschrieben ist. Hier hat der einst so sanftmütige Jünger gewiss selbst die Sprachgewalt seines rauen Namensvetters, des Rufers in der Wüste, übertroffen. Keiner vor dem Jünger Johannes spricht so zornerfüllt vom Antichrist, der sich der Welt zu bemächtigen sucht. Keiner wie er warnt so sehr vor der Vergeltung des zürnenden Gottes. Wie ein Traumatisierter ruft er nach Rache. Er hat wahrhaft das Schwert erhoben, unter das so viele Tausende von Zweiflern und Feinden seines Glaubens in den kommenden Jahrhunderten und Jahrtausenden gestellt werden sollten. Eifernde Prediger und Inquisitoren haben sich noch lange danach berufen können auf Worte wie etwa die, die da lauten: Schrecklich ist’s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen. Wir sind nun bei der dritten Werkgruppe angelangt, den Briefen des Johannes. Zwei der drei Briefe sind an Mitglieder einer der kleinasiatischen 104

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Gemeinden gerichtet, und diese Gemeinden sind vermutlich die, in denen Johannes gewirkt hat und die in der Offenbarung genannt werden. Aus den zuvor schon erwähnten, wenn auch sonst nicht zuverlässigen Johannes-Akten können wir entnehmen, ohne es als gewiss gelten zu lassen, dass der Jünger Christi außer Ephesos auch Milet und Laodicea, das letztere sogar für eine Dauer von zwei Jahren, besucht hat. Von den anderen Gemeinden kann man wohl annehmen, dass er sie gekannt hat. Sie liegen nicht weit auseinander und wurden ebenso von einer überwiegend griechischen Bevölkerung bewohnt und von einer römischen Besatzung beherrscht. Zudem hatten sich dort spätestens nach dem Jahre 70 zahlreiche aus Judäa vertriebene Juden und Judenchristen niedergelassen. Ein Hinweis, aus welcher Zeit diese Briefe stammen, liegt uns nicht vor, aber es besteht kein Grund, an der Übereinkunft der Theologen zu zweifeln, dass sie in den letzten Lebensjahren des Autors geschrieben wurden. Er nennt sich selbst in zweien von ihnen den Ältesten. Der erste Brief gibt uns ein Beispiel für die Sprache des nun hochbetagten Johannes, der seine Gefährten und Schüler seine Kindlein nennt. Dies gemahnt uns an die Überlieferung aus der Legenda aurea, die will, dass der einst so gestrenge und nunmehr so altersmilde Mann, der zur Kirche getragen werden musste, nichts weiter mehr sagen wollte als: Kindlein, liebet einander. Diese letzte und wichtigste Aussage der christlichen Botschaft hat zuvor der Briefschreiber noch vielfach abgewandelt, etwa mit den Worten: Meine Kindlein, lasset uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit. Oder: Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Licht, und ist kein Ärgernis bei ihm. Und vieles Ähnliches in ähnlichen Worten. Dennoch kann er sich noch immer nicht gänzlich enthalten, vor dem drohenden Untergang und der Verderbnis zu warnen und schreibt: Kinder, es ist die letzte Stunde! Und wie ihr gehört habt, daß der Widerchrist kommt, so sind nun viele Widerchristen geworden; daher erkennen wir, daß es die letzte Stunde ist. Vor diesem Widerchristen oder in anderen Übersetzungen diesem Antichrist hat er mit größerer Dringlichkeit auch schon in der Offenbarung gewarnt. Er scheint nicht loszukommen von dieser Schreckensgestalt. Von ihr wird auch in allen späteren Untergangsszenarien der christlichen Welt bis zu 105

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Ghelderodes Grand Macabre immer wieder die Rede sein. Aber auch wenn wir die Gräueltaten jener Zeit vor Augen haben, die Christenverfolgung des Nero, die Brandschatzung Roms, die Zerstörung Jerusalems und die Vertreibung der Juden, so kann man doch nicht umhin zu fragen, was der Apostel wohl unserem Zeitalter angekündigt haben würde, das alle bisherigen an unheilvollen Taten übertrifft. Der zweite Johannes-Brief ist an eine gläubige Frau und ihre Kinder gerichtet, der dritte an einen sonst nicht weiter bekannten Gaius, dem Namen nach ein Römer, der Tätigkeit nach der Vorsteher einer bedrängten Gemeinde. Beide enthalten nur wenige Zeilen und in diesen Ermunterungen zu geschwisterlicher Liebe und zum Einstehen für die einmal erkannte Wahrheit sowie den Wunsch eines baldigen Wiedersehens. Es scheint demnach, dass der Apostel noch immer die Mühen auf sich nahm, die umliegenden Gemeinden zu bereisen. Was nun die Beziehungen des Johannes zu den entfernteren Gemeinden anlangt, so sollen hier, da wir uns dem Ende unserer Betrachtungen nähern, doch noch die Überlieferungen erwähnt werden, die in der Legenda aurea festgehalten wurden und in Rom sich in mündlichem Umlauf erhalten haben, auch wenn wir sie für hagiografische Fabulierungen halten. Sie wollen wissen, dass Johannes als Gefangener auch nach Rom gelangt sei. Dass er, ehe er nach Patmos verbannt wurde, vor ein Gericht in Rom gestellt wurde, wäre nicht außer aller Wahrscheinlichkeit. Dort habe man ihn aber, so will die Legende, um die Wahrheit seiner Reden auf die Probe zu stellen, in einen Kessel mit siedendem Öl getaucht. Er sei unbeschadet daraus hervorgegangen. Eine kleine Kapelle mit dem Namen Giovanni in Olio gemahnt an diese nicht eben gottgefällige Legende. Will man sich aus theologischem Streit heraushalten, so kann man nichts weiter versuchen, als die überlieferten Fakten zu nennen. Dennoch wird man auch, wenn man diese untereinander vergleicht, oftmals auf Widersprüche stoßen. Diesem Umstand hat es unter anderem Johannes zu danken – oder besser gesagt: vorzuwerfen –, dass er, der seinem Meister Jesus am nächsten stand und so bestaunenswürdige Werke hinterlassen hat, uns immer noch so seltsam fremd geblieben ist. Die katholische Lehrmeinung will, dass die Evangelisten nach göttlichem Diktat und nicht nach eigenem Gutdünken geschrieben haben sollen. Und zwar in griechischer Sprache. 106

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Das Griechische war im gesamten römischen Weltreich zu jener Zeit die Sprache der Gelehrten und wurde von jedem gebildeten Bürger beherrscht. Nicht jedoch von den Fischern und Handwerkern in Galiläa. Die sprachen aramäisch, eine Sprache, die auch von den hebräisch sprechenden Juden in Jerusalem wohl verstanden wurde, so dass sie sagen konnten: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus Galiläa. Man darf jedoch annehmen, dass wenn schon nicht Jesus selbst, so doch der eine oder andere in seinem Gefolge des Griechischen mächtig war. Philippus etwa trug einen griechischen Namen und sprach nach dem Einzug in Jerusalem mit etlichen Griechen, die hinaufgekommen waren, daß sie anbeteten auf dem Fest. Die Evangelisten selbst haben ihr eigenes Leben vor dem Auge der Geschichte weitgehend verborgen. Stellvertretend für sie sind uns ihre Symbole bekannt geworden: Bei dem Symbol des von Jesus so genannten Donnersohnes Johannes kommt uns wieder in den Sinn, dass der Adler auch als der Vogel des entthronten Donnerers Zeus galt. Und dass dieser Gott nicht nur für seine Liebesabenteuer bewundert, sondern auch für seinen strafenden Zorn gefürchtet war. Weiteres daraus zu interpretieren, würde uns vermutlich auf Abwege führen. Das wenige, das wir sonst noch wissen von den älteren Evangelisten sei kurz zusammengefasst. – Matthäus. Er ist gewiss identisch mit dem Zöllner aus Kapharnaon, den Jesus zum Apostel berufen hat. Man sagt, er habe zwischen 50 und 60 n. Chr. sein Evangelium in aramäischer Sprache geschrieben, ehe es übersetzt wurde ins Griechische. Vielleicht hat er das selbst überwacht, denn als Zöllner musste er aber doch Griechisch, die lingua franca des östlichen Reiches, in Wort und Schrift beherrscht haben. – Markus? Dessen Evangelium wird als das älteste angesehen und ist vermutlich um das Jahr 44 nach Berichten des Augenzeugen Petrus in Rom entstanden. War Markus Römer und Dolmetscher des Petrus? War er später dann Bischof in Alexandrien? Ist er identisch mit dem Johannes Markus, von dem in der Apostelgeschichte mehrfach die Rede ist? Wenn ja, so hat er ohne Zweifel griechisch geschrieben wie alle gebildeten Leute der Zeit. – Von Lukas, dem Gefolgsmann des Paulus, wissen wir aus dessen Brief an die Kolosser, dass er Arzt war von Beruf. Dies war damals um nichts angesehener als es der Beruf des Teppichknüpfers war, den Paulus erlernt und ausgeübt hat. Unter protestantischen Theologen gibt es einige, die bezweifeln, dass Lukas der Verfasser der Apostelgeschichte sei, was ich für befremdlich halte, zumal diese 107

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an denselben Theophilus gerichtet ist wie das Evangelium und sich vor allem mit den Reisen des Paulus befasst. Die Apostelgeschichte ist wohl nach dem Evangelium geschrieben worden und stammt aus einer Zeit, als Paulus in Rom gefangen war, also kurz vor dessen Hinrichtung im Jahre 65. Eine Legende will wissen, dass Lukas ein Bild der Mutter Maria gemalt habe. Dieses Bild hat keiner gesehen, es wurde aber zum Anlass genommen, ihn zum Schutzheiligen der Künstler zu befördern. Da wurden wir nun immerhin, wie wir gesehen haben, was den Evangelisten Johannes betrifft, mit weit besseren Nachrichten versorgt. Die Texte des Neuen Testamentes sind, wie wir in all dem Dargelegten gesehen haben, in großen Teilen Niederschriften von Zeugen großer Geschehnisse. Einiges auch stammt aus der Feder von Autoren, die sich auf Berichte dieser Zeugen berufen mussten. Die ersten Kirchenväter haben diese Schriften zur Heiligen Schrift der christlichen Religion erhoben. Wenn man nun, was heutzutage allseits geschieht, das Christentum als Buchreligion bezeichnet und damit den Buchstaben heiligt, so hat man vergessen, dass das wahre Ereignis der Zeitenwende nicht die Niederschrift des Testamentes war. Und dies auch dann nicht, wenn es von Engeln diktiert wurde. Das wahre weltumstürzende Ereignis war die Erscheinung Christi im Lande Galiläa. Der aber hat nicht geschrieben. Er hat gesprochen. Die Jünger Jesu waren vom Geist erfüllt, der ihnen geoffenbart wurde. Sie redeten in Zungen. Lange danach erst besann man sich und dachte an die Lehren, die man den Nachgeborenen hinterlassen wollte. Lange danach erst entschloss man sich niederzuschreiben, was man gesehen und vernommen hatte. Am längsten zögerte der, der am meisten wusste: Johannes. Es gibt, spätestens seit den Zeiten der Aufklärung, immer wieder gutgemeinte Versuche, die von den Kirchenvätern zum unantastbaren Kanon erhobenen Texte der Bibel mit den Erkenntnissen der Geschichte und der Wissenschaft, wenn schon nicht zu vereinen, so doch zu versöhnen. Einen der bewundernswertesten unternahm Gotthold Ephraim Lessing in seiner Polemik gegen den schriftgläubigen Hamburger Pastor Goeze, in der er unwidersprechlich darauf verwies, dass es ein Christentum auch schon vor der ersten Niederschrift der Evangelien, ante litteram, vor dem Jahre 44 also, gegeben haben muss und darum der alleinige Verweis auf den Buchstaben sich notwendig gegen die Autorität der Apostel, der Jünger, der ersten 108

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Märtyrer und der Geschwister Jesu richten müsse. Er geht dabei nicht so weit, und hätte es vielleicht dennoch tun sollen, zu behaupten, dass noch vieles aus der alten Überlieferung, wenn man den damals überall waltenden Wunderglauben abrechnet, durchaus in seiner bildhaften Sprache verständlich gewesen wäre und dass erst die durch die Auslegung der Schriften entstandenen wortwörtlichen Dogmen der später begründeten Kirche das Wundersame zum Absurden gesteigert haben. Credo quia absurdum, sagte im 3. Jahrhundert nach Christus der darob heiliggesprochene afrikanische Bischof Augustinus. Irrtümer wollte man den Evangelisten nicht zugestehen, auch nicht, wenn sie so offenkundig waren wie der gleich zu Beginn des ersten Evangeliums, nämlich die Begründung einer Abstammung Jesu vom König David, dessen Stammbaum herab bis – nein, nicht bis Maria – bis zu Joseph verfolgt wird, obwohl nur einige Verse später behauptet wird: Und er erkannte sie nicht, bis sie ihren ersten Sohn gebar. Was doch wiederum heißt, dass Jesus nicht der Sohn des Zimmermanns war. Lieber wollte man damals – und auch heute noch – die Vernunft verleugnen, als einer Frau die Ehre geben, von David abzustammen und dessen königliches Blut an ihren Sohn weiterzuvererben. Seither sind viele Bücher gefüllt worden, um die Widersprüche aufzuzeigen, die in den schriftlichen Vermächtnissen sich finden. Man setzt die Wahrheit mit der logischen Folgerichtigkeit, der Beweisbarkeit gleich. Jesus aber sprach nicht in Gesetzestexten, er sprach in Bildern und Gleichnissen. Und eben darum haben die Menschen ihn verstanden. Ich habe mich bemüht, vor allem aus den kanonischen und nur mit behutsamem Vorbehalt aus den apokryphen oder legendenhaft tradierten Quellen zu zitieren und mich nicht in vage Vermutungen zu ergehen. Dies ist jedoch zumal im vergangenen Jahrhundert durch andere Autoren oftmals geschehen. So hat sich etwa der vormalige Theosoph und nachmalige Anthroposoph Rudolf Steiner in seinem Buch „Das Christentum als mystische Tatsache“ zu der Vermutung verstiegen, der Evangelist Johannes sei mit dem von den Toten erweckten Lazarus von Bethanien identisch. Man könnte darüber achselzuckend hinweggehen, wenn es nicht auch heute noch nachgeplaudert würde. Kein Zweifel: Lazarus war einer der Freunde Jesu. Auch wenn Johannes etwas distanziert zuerst von ihm berichtet mit den Worten: Es war einer krank mit Namen Lazarus. Wenig später jedoch heißt es schon, 109

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dass sich dessen Schwestern Martha und Maria Magdalena um Hilfe bittend an Jesus wandten und sprachen: Siehe, den du lieb hast, ist krank. Aber obwohl nach einer Erweckung von den Toten dieser Lazarus weiterhin seinen bisherigen Namen trägt, setzt ihn nun Steiner wegen des Hinweises auf die Liebe Jesu, die ihm zuteilgeworden, und weil er vermutlich besser gebildet gewesen sei als dessen andere Freunde, an die Stelle des Lieblingsjüngers Johannes. Und als sei dies nicht schon verwegen genug, identifiziert er ihn auch noch mit dem reichen Jüngling, den Jesus mit dem Bescheid abgewiesen hat, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gelangen könne als ein Reicher in den Himmel. Das nenne ich die Besserwisserei allzu weit getrieben. Aber sie endet hiermit nicht, sondern es wird dieser neue Johannes auch noch mit seiner Schwester Martha und den drei Marien – eine davon ist die Maria Salome, die Mutter des Johannes – an die Küste der Provence versetzt. Dort und später in ganz Frankreich erlangte, wie wir aus der Sage wissen, der Name Lazarus, ebenso wie der der Magdalena, eine solche Verehrung, dass nach ihm Kirchen und Klöster benannt werden. Als Johannes aber lässt ihn Steiner wiederum nach Rom zurückkehren und von dort in die Verbannung auf die Insel Patmos und schließlich heim nach Ephesos gelangen. Zu solchen Spekulationen und ähnlichen, die noch immer im Umlauf sind, verweigere ich den Kommentar. Ich hoffe, die obigen Untersuchungen haben erwiesen, dass eine vita des Johannes recht gut auch ohne Fantastereien auskommen kann. Es sei darum zum Abschluss eine kurze Zusammenstellung der ermittelten glaubhaften Fakten und Daten vom Leben und Wirken unseres Jüngers angefügt. Etwa seit dem Jahre 32 begleitete Johannes gemeinsam mit seinem Bruder Jakobus den predigenden Zimmermannssohn Jesus auf dessen Wanderungen. Er war um einiges jünger als sein Meister und wird etwa kurz vor dem Jahr 10 unserer Zeitrechnung in einem der Fischerdörfer am See Genezareth im Lande Galiläa geboren worden sein. In Jerusalem wurde er Zeuge der Gefangennahme, der Leiden und des Todes Jesu. Als Augenzeuge wird er sich später bekennen zu dessen Auferstehung und Himmelfahrt. In den Jahren nach Christi Tod, dessen Datierung auf das Jahr 33 nirgends bezweifelt wird, wurden die ersten Christengemeinden von der Autorität der Jesusbrüder und der Apostel geleitet. Unter diesen war Johannes eine der Stützen der Gemeinde. Nachdem er gemeinsam mit Petrus wegen einer Blindenheilung am Sabbat vor den Hohen Rat gezogen und dort gestäupt 110

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wurde, predigte er in Samaria, kehrte zurück und blieb zumindest bis 44/45 in Jerusalem. Dort nahm er am Apostelkonzil des Jahres 49 teil. Wann er Jerusalem verlassen hat, ist nicht bekannt, spätestens aber nach dem Märtyrertod seines Bruders Jakobus im Jahre 62. Denn zu der Zeit hatte sich ein erster Aufstand gegen die römische Herrschaft ereignet, nach dessen Niederwerfung die kleine Christengemeinde zur Abwanderung gezwungen wurde. Johannes wandte sich vermutlich zuerst nach Antiochia und von dort nach Kleinasien. Über Milet gelangte er nach dem Ort, der ihm bestimmt war: nach Ephesos. Er bewegte sich hier auf den Spuren des Paulus und man kann durchaus annehmen, dass er von diesem briefliche oder mündliche Wegweisung erhielt. Auch wenn wir kein schriftliches Zeugnis haben, so wollen wir doch mit der weit verbreiteten und in Ephesos bis heute lebendig erhaltenen Überlieferung annehmen, dass er die inzwischen hochbetagte Mutter seines Herrn, Maria, mit sich führte. In Ephesos aber konnte nur wirken, wer der griechischen Sprache mächtig war. Der ehemals als ungelehrter Laie bezeichnete Sohn eines Fischers muss sich demnach in den vorausgegangenen Jahren auf sein Amt vorbereitet und das Lesen und Schreiben des Griechischen erlernt haben. Die Kirchenväter des zweiten und dritten Jahrhunderts, und allen voran Origines und Irenäus, die aus den überlieferten Schriften die Spreu vom Weizen zu scheiden hatten, waren sich früh schon einig, dass das Evangelium des Johannes um das Jahr 70 in Ephesos veröffentlicht wurde. Was genau darunter zu verstehen war in einer Zeit, die keinen Buchdruck kannte, sondern nur die handschriftliche Kopierung von Papyrusrollen, ist schwer zu sagen. Vielleicht eben nur, dass der Autor ein bereits früher verfasstes Manuskript zur Abschrift in die Hände seiner Gemeinde gab. Alle vier Frohen Botschaften wurden in griechischer Sprache verfasst. Über die Epoche zwischen dem Jahre 49 und dem Jahre 69 wissen wir wenig Gesichertes von Johannes. Er wird die Zeit wohl genutzt haben, um das Wort Christi zu predigen. In jedem Fall lässt sich an seinem Text erweisen, dass er die drei synoptischen Evangelien gekannt hat, ehe er das seine verfasste. Demnach muss dieses zwischen 65 und 70 n. Chr. entstanden sein. 69 war das Jahr der Niederschrift der Offenbarung. Wenn er im Jahre 71 von Patmos nach Ephesos zurückgekehrt ist, werden ihm noch einige Jahre der Verkündigung und Seelsorge verblieben sein. In Erfüllung dieser Aufgabe hat er seine Briefe geschrieben. Dass Johannes fast hundert Jahre alt war, als er starb, ist eine fromme Überliefe111

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rung. Auch ist die damit genannte Jahreszahl 104 seines Todes nicht gesichert. Sie fügt sich jedoch ohne großen Zwang zu den mit einiger Gewissheit ermittelten Daten. Und darum wollen wir daran nicht weiter zweifeln und lassen es hierbei bewenden.

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dichtung, was ist das?

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chwer zu fassen ist, woran wir denken, wenn wir von Dichtung sprechen. Und doch scheint es jeder zu wissen. Nur der Begriff, der das Gedachte ergreift und hält, will uns nicht recht gelingen. Die Einbildungskraft, durch die sie geschaffen wird, nennt Kant „eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt jemals vor Augen legen werden.“ Eine erschöpfende Antwort auf die gestellte Frage, das sei zu Beginn unserer Untersuchung eingestanden, darf niemand erwarten. Manche meinen, es wäre besser, das Geheimnis auf sich beruhen zu lassen, da selbst die, die von chemischen Prozessen des denkenden Gehirns sprechen, bekennen müssen, dass dessen schöpferische Impulse mehr sind als „neuronale Illusionen“ oder nur Reaktionen auf empfangene Impulse der Außenwelt. Andere wenden ein, eine jede Kunst er wachse aus einer Fertigkeit, einem Handwerk, von dem sich einiges doch lehren und erlernen ließe. Denn auch die Kunst der Dichtung schaffe aus einem Werkstoff, der allen gemein ist, der Sprache und ihren Wörtern, ihrer Syntax, ihrer Grammatik. Und an der Art und Weise, wie einer seine Wörter wähle und mit ihnen verfahre, um sie der Wirklichkeit hinterherlaufen zu lassen oder um sie ihr vorauszuschicken, zeige sich seine Meisterschaft. Und in der Tat scheint die Dichtung etwas zu sein, was mithilfe der Sprache die Welt erkennbar macht, indem sie die Erinnerung festhält, die Gegenwart erleuchtet und die Zukunft vorhersagt. Oder zumindest behauptet, dies alles zu können. Wir haben Beispiele von all diesen Versuchen aus den frühesten Zeugnissen. Eingeleitet werden soll hier mit der Feststellung, dass Dichtung sehr wohl mit der Wortfindung beginnt, keineswegs jedoch erst mit der Verschriftlichung. Sprache wurde eben darum in Formen der Dichtung gegossen, um ihre Inhalte durch die Spielgesetze der Bewegung und des Klanges memorierbar und vermittelbar zu machen. Mitteilungen in der nur auf Bedeutung und nicht auf Spiel gerichteten Alltagssprache wären rasch vergessen worden. Rhythmisch geprägte Verse jedoch hämmern sich ein. Man weiß von den Kelten, die unsere mitteleuropäische Landschaft so viele Jahrhunderte lang 113

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besiedelten, dass sie keine eigene Schrift besaßen, ihr Wissen von Mund zu Mund überlieferten und erst in späteren Jahren sich der römischen Schriftsprache bedienten. Was uns in dieser erhalten blieb, lässt uns wenig erraten von dem, was sie dachten und fühlten und schon gar nichts von dem, was sie glaubten. Da sie aber als große Redner und Erzähler bekannt waren, können wir annehmen, dass vieles von dem, was bei uns immer noch als Sage oder Märchen umläuft, aus keltischen Quellen stammt, von Mund zu Mund überliefert. Leider ist uns kaum etwas von der keltischen Sprache und den Formen, in denen die keltische Dichtung tradiert wurde, bekannt. Nicht zu bezweifeln ist jedoch, dass die Dichtung nicht nur der keltischen Völker außer ihrer semantischen Botschaft auch eine musikalische, fast bin ich verführt zu sagen, eine tänzerische hat. Und etwas von dieser mündlichen, energetischen Bestimmung der Poesie hatte wohl der argentinische Dichter Jorge Luis Borges im Sinn, wenn er postulierte, dass Verse laut und verständlich gesprochen sein wollen, und schreibt: „Ein guter Vers läßt nicht zu, daß man ihn leise oder stumm liest.“ Man kann ergänzen und sagen: Ein guter Vers setzt in Bewegung. Mit dieser Erkenntnis sind wir schon sehr nahe an eines der Geheimnisse der Dichtung gerückt. Wahre Dichtung will vernommen werden. Sie ruft nach Anteilnahme auf. Wahre Dichtung ist kein Selbstgespräch. Mit dem, was an ihr Zauber ist, Beschwörung, will sie den Hörenden bannen, will ihn zwingen sich ihrer anzunehmen, sich ihrer zu erinnern und sie weiterzutragen. Und dazu bedarf es der Form. Erst wenn die Form geschlossen und dem selbst gebotenen Gesetz Genüge geschehen ist, stellt sich die Gewissheit ein, die uns Halt gibt „in den Erscheinungen Flucht“. Und dies ist die dritte, die existenzielle Botschaft der Dichtung: dass es so etwas gibt wie den rechten Weg, des Rätsels Lösung und das erfüllte Dasein. Da von dieser schriftlosen Dichtung kaum etwas an uns überkommen ist, so haben wir uns, wenn wir nach frühen Zeugnissen in der Geschichte forschen wollen, wie so oft an die Quellen der alten Griechen zu halten. Aristoteles, der nüchterne Denker, hat sich nicht gescheut, hineinzuleuchten in das Verborgene des Schaffensprozesses, und hat uns manches vor Augen geführt, was sich verstehen und nachempfinden lässt. Er hat die wissenschaftliche Geschichtsschreibung geschieden von den Dichtungsformen der Tragödie und der Epopöe und hat gezeigt, dass deren Verschiedenheit nicht allein in der Wahl der Mittel ihrer Darstellung liegt, Prosa im einen Fall oder Verse im anderen, sondern dass sie grundsätzlicherer Art ist. Aufgabe 114

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der Geschichtsschreibung sei es darzustellen, wie die Welt tatsächlich sei, Aufgabe der Dichtung jedoch zu sagen, wie sie sein sollte. Er hat gewusst vom Zwiespalt zwischen Sprache und Wirklichkeit. Und in diesem Wissen hat er die Stoffe bezeichnet, die sich eignen, vom Dichter dargestellt zu werden. Es sind dies nach seinem Urteil nicht die Geschehnisse des Alltags. Aristoteles hat sogar, und dies auf bewundernswürdige Weise, auf die Skylla der Banalität und die Charybdis der Hermetik gewiesen. Offenbar hat er von dem gewusst, was Sartre später das Niemandsland zwischen Wirklichkeit und Sprache genannt hat. Als „das bei weitem Wichtigste“ für einen Dichter hat er jedoch die Fähigkeit gepriesen, „Metaphern zu finden“. Und er erläutert dies mit den Worten: „Denn dies ist das Einzige, was man nicht von einem andern erlernen kann, und ein Zeichen von Begabung. Gute Metaphern zu bilden bedeutet, daß man Ähnlichkeiten erkennen kann.“ Man sieht: Er, der alles mit dem Licht des Verstandes Ergründende, ist zurückgewichen vor dem Rätsel der kreativen Inspiration. Zwar nennt er deren Quelle nicht göttlichen oder rauschhaften Ursprungs, wie viele vor ihm, doch unternimmt er es erst dann sie zu prüfen, wenn sie sich in Worte gekleidet, in geregelte Bahnen gefügt hat. Wir aber wollen, ausgehend von seinen Erkenntnissen, den Versuch unternehmen, uns der Frage nach ihrem Ursprung auf verschiedenen Wegen zu nähern, sie zu umkreisen, sie zu umschreiben, so dass dieser eingesponnen von Wörtern zumindest erahnbar wird, auch wenn sich eine letzte Antwort nicht eröffnet. Nichts Neues wird uns gesagt, wenn wir hören, dass die Dichtung eine Schwester der Religion sei und dass es wohl kaum ein Volk zu entdecken gebe, in dem die beiden unbekannt wären. „Dichtung ist unter den Künsten die erstgeborene; Dichtung, Sprache und mythisches Denken wuchsen gemeinsam auf“, schreibt Ezra Pound. Und wir können hinzufügen: Dichtung war auch, ehe Geschichtsschreibung, Philosophie und Wissenschaft waren. „Der Dichter“, so sagt Sigmund Freud, „war jederzeit der Vorläufer der Wissenschaft und so auch der wissenschaftlichen Psychologie.“ Dichtung ist wie das alles gebärende Meer, das Fruchtwasser, aus dem sich alles Gesagte und Geschriebene einst hervorhob. Dichtung hat allem, was da kreucht und fleucht, zuerst seinen Namen gegeben. Und so ist ohne Dichtung keine Religion zu denken. Ein jeder Gott ist zugleich mit seinem Namen entstanden. Dichtung hat alle Götter geschaffen und hat ihnen zugewiesen, was sie als ihre Macht über uns üben durften. 115

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Sobald der Geist des Menschen sich nach außen gewandt, die ersten Namen gefunden, die naheliegenden Dinge benannt hatte, erfolgten seine Fragen nach dem Woher, dem Warum und dem Wohin. Alle Religionen beginnen mit der Frage nach dem Ursprung der Welt. Und da die Jungen die Alten fragen und die Alten die Vorvordern fragten, die wiederum ihre Ahnen befragt hatten, verliert sich das Fragen in eine ferne Vergangenheit, aus der keine lebendige Stimme uns mehr erreicht. Alles, was bleibt, ist ein Gespinst von Erzählungen, das sich auf nichts anderes berufen kann als auf das Hörensagen. Die Griechen nannten diese Erzählungen Mythen. Und es gab keine Generation in ihrer langen Geschichte, die nicht weiter gesponnen hätte an diesem Gespinst. Zu allen Zeiten, aus denen uns Nachricht kommt, haben sie sich neue Götter erdacht oder fremde Götter in ihren Olymp aufgenommen, Götter aus Phönikien kommend, aus Thrakien, aus Ägypten oder aus dem Land der Hyperboreer. Zu allen Zeiten auch sind Menschen, sei es um ihrer Staunen erregenden Taten, um ihrer Schönheit oder um ihrer Weisheit willen an die Tische der Götter geladen oder zu den Sternen erhoben worden. Und zu allen Zeiten sind alternde Götter auch wieder ihrer Macht entkleidet worden, besiegt durch andere Götter oder vernachlässigt von den Opfergaben der Menschen. Wie all dies geschah und warum, davon erzählen die Mythen. Der Mythos ist die Erzählung von Göttern, Heroen, Dämonen und Titanen. In den Ländern des Nordens weiß das Garn der Nornen, die Saga, von Geistern, von Riesen und Zwergen, von Elfen und Feen und von dem, was die sterblichen Menschen von ihnen erhoffen oder durch sie erleiden. Mythos und Saga, Theogonie und Ragnarök sind Werke der Dichtung. Wenn Aristoteles in seiner Poetik postuliert, die Erzählung des Mythos sei der bedeutsamste, weil Sinn tragende und Ordnung konstituierende Teil des Dramas und alles andere, Darstellung, Rezitation, Musik, Tanz, Bühnengestaltung und Kostümierung, müsse sich dem fügen, so tut er nichts anderes als zu verweisen auf die alles begründenden Fragen nach dem Woher, dem Wohin und dem Wofür des irdischen Geschehens. Die Lust am Erzählen dessen, was geschehen ist und einst geschehen wird, ist allen Menschen gemein. Der eine berichtet von seinen Vorfahren, von seiner Heimat, der andere von seinen Reisen, den Sitten der Völker, der Dritte von seinen Träumen und seinen Hoffnungen und der Letzte von der Erschaffung oder 116

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vom Untergang der Welt. Uralt ist die Neugier zu hören, wie es anderen Menschen ergangen ist, wie andere lebten und starben und warum dies alles so sein musste. Und sie findet kein Ende in den Fragen nach dem, was nach uns kommen wird. Neugier und Lust sind so unstillbar groß, dass sie sich mit dem, was leicht fasslich, verifizierbar und vergleichbar ist, nicht begnügen. So sehr sie nach Gewissheit verlangen, sie wollen mehr, sie wollen die ganze Welt erkunden, sie wollen alles erfahren, auch das, was jenseits der dem Menschen zugewiesenen Bereiche ist, sie wollen das Wunderbare vernehmen, das Unvermeidliche, das Schreckliche, wenn es sein muss. Die Griechen haben es in diesem Tausch von Fragen und Antworten, von Antworten und daraus erwachsenden neuen Fragen, allen anderen zuvor getan. Ihren Olymp haben sie so dicht mit Göttern bevölkert, dass er von Zeit zu Zeit gestürmt werden musste, um alte Herrscher herabzuholen und in ein Niemandsland zu verbannen. Ihren Sternenhimmel haben sie mit unsterblichen Heroen und viel geliebten Frauen so unwiderruflich besetzt, dass auch heute noch alle bekannten Sternbilder und Planeten und selbst noch manche neu entdeckte Gestirne mit griechischen Namen bezeichnet werden. Und ihre Mythen, die all die staunenden Fragen mit neuen Rätseln beantworten, sind ohne Zahl. Der Großteil dessen, was erzählt und geschrieben wurde, ist uns seither verloren gegangen oder nur mehr durch Berichte Späterer im Ungefähren erfahrbar geworden. Aber das Erhaltene noch ist von einer Fülle und visionären Gewalt, die alles Vergleichbare übertrifft. Nicht Homer und Hesiod sind es allein, die uns die alten Mythen überliefern. Die Sagenkreise um Orpheus, Kadmos, Herakles, Minos, Phaeton, Theseus, Perseus, Ödipus, Prometheus, Daidalos, um die Titanen, die Atriden, die Tantaliden, die Danaiden, die Musen, die Sirenen, die Chariten, die Erinnyen, die Gorgonen, die Amazonen, die Argonauten, die irdischen Liebschaften des Zeus, des Apoll, der Aphrodite, der Nymphen, Driaden, Silene und Faune ... Es nimmt kein Ende damit. Noch ein später Nachkomme aus der römischen Kaiserzeit, Pausanias, beschreibt uns ein Griechenland, dessen entlegenste Städte und Dörfer so überfüllt sind mit Tempeln, Altären, Grabmälern, Quellbrunnen, Gedenksteinen und Statuen, dass daneben die Dinge, die dem täglichen Leben dienen, wie Stadtwälle, Paläste, Häuser, Werkstätten, Marktplätze, Läden oder Badehäuser, kaum mehr Erwähnung finden. Die Griechen lebten in einer Welt der Fantasie. Und die griechischen Dichter entwarfen und belebten diese ihre Welt 117

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mit dem schwächsten, dem biegsamsten und zugleich dem schärfsten aller Werkzeuge, mit dem Wort. Man weiß nicht recht, ob die Poetik des Aristoteles, dieses Buch, das so großen Einfluss auf die europäische Geistesgeschichte geübt hat, nicht das Fragment eines größeren Planes ist. Erhalten sind nur die Teile, in denen der Meister aller Theorie die Tragödie und die Epopöe abhandelte. Es sind ganz offensichtlich diejenigen, an denen ihm am meisten gelegen war. Die Geschichtsschreibung scheidet er aus und stellt sie, wie schon erwähnt, auf einen niedrigeren Rang. Er weist der darstellenden oder erzählenden Dichtung eine ethische, eine erzieherische Aufgabe zu. Sie solle uns nicht nur Aufklärung geben über unser irdisches Dasein, sondern uns auch durch Hoffnungen beleben und uns zu Zielen führen. Dies, so meinte er, vermöge allein die Dichtung zu leisten, die Dichtung, die aus der Quelle des Mythos schöpfe. Es gibt jedoch Hinweise, die vermuten lassen, dass Aristoteles neben der Tragödie und dem Epos die Komödie und die Lyrik nicht gänzlich unbeachtet lassen wollte. Und dies, obwohl in ihnen der Mythos notwendig zu einer weit geringeren Bedeutung gelangen musste. Die Komödie definiert Aristoteles als „Nachahmung – mimesis – von schlechteren Menschen, aber nicht im Hinblick auf ihre Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche am Häßlichen teilhat“. Er hat sich von ihr abgewandt, weil wir von ihr keine Antworten auf unsere Fragen erwarten können, sondern nur einen Verweis darauf, warum wir, zur Schadenfreude unserer Mitmenschen, so früh schon und so kläglich scheitern bei unseren Versuchen, so etwas wie ein Ziel und einen Sinn unseres Lebens zu finden. Der ernste Mann hat sich geweigert einzugestehen, dass eben durch das Mittel der Ironie unsere Not offenbar wird in der Bewältigung der sogenannten Wirklichkeit durch das gleichsam aus der Luft gegriffene Wort und dass wir selbst uns auf diese Weise – und ihn mit uns – einbeziehen in den Spott der Komödie. Auch über die Kunst der lyrischen Dichtung erfahren wir nur sehr wenig von Aristoteles. Sie fügt sich nicht in sein System. In ihr vermisst er den Bezug auf den erzählbaren Mythos. Immerhin gibt es da eine Stelle, die es wert ist, zitiert zu werden. Sie lautet: „Um die Sprache muß man sich vor allem in den Abschnitten bemühen, die ohne Handlung sind und weder Charaktere noch Gedankliches enthalten. Andererseits verdunkelt eine allzu blendende Sprache die Charaktere und die Gedankenführung.“ Er weist der 118

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Sprache also einen Rang als Dienerin zu, als Dienerin der Darstellung, der Erzählung und der sinntragenden Botschaft. Aber er hat durch das Postulat, dass alle Dichtung mimesis, Nachahmung oder – freier und vielleicht besser übersetzt – Darstellung sei, seine Betrachtungen solcherart begrenzt, dass es ihm nicht mehr gelungen ist, auch das zu erfassen, was uns eine Dichtung zu sagen hat, die aus sich selbst spricht und nichts und niemanden nachzuahmen versucht. Wenn wir heute von Dichtung sprechen, so denken wir, anders als Aristoteles, vor allem an die Lyrik. Einen Schriftsteller mag jeder sich nennen, der schreibt und das Geschriebene publiziert. Ein Dichter aber ist für uns vor allem anderen ein Meister der Sprache, nicht nur ein Erzähler von Begebenheiten oder ein Vermittler von Meinungen. Und die Sprache meistert, wer sie formt und sie bindet und wer sie auf solche Weise fähig macht, von einem Menschen zum anderen unverfälscht weiterzudringen. In einer Zeit, da noch wenige die Schrift beherrschten, wurden die frühen Gedichte und Merksprüche in gebundener Form überliefert. Die Sprache wird mit den Fesseln des Rhythmus gebunden. Diese Bindung waltet bis ins kleinste Glied des Sprachkörpers. Durch den Rhythmus wird sie begrenzt und geordnet. Durch Ordnung und Begrenzung wird sie merkwürdig, das heißt: würdig, memoriert zu werden. Schiller bekannte, dass die fast körperliche Empfindung eines bestimmten Rhythmus all seinem Dichten vorausging. Der Rhythmus zwang gewissermaßen die aufgestaute Sprache hervor. Wenn der Rhythmus das eine Gerüst des lyrischen Gedichtes ist, das in der antiken Lyrik die Form bestimmt, so ist der Reim das andere, der Gleichklang, sei es der Stabreim, der Binnenreim oder der Endreim. Der Reim wurde vermutlich zuerst eingebracht von den nordischen Völkern, deren Sprache ungebundener floss in Hebungen und Senkungen oder Längen und Kürzen der Betonung. Im einen Fall werden Konsonanten wiederholt, im anderen Vokale oder gar gleichlautende Silben. Alliterationen sind früh schon zu finden. Der Endreim wird erstmals durch das Muspililied überliefert, das im 9. Jahrhundert im Bayerischen Sprachraum entstand. Bald darauf und mit größerer Gewandtheit wurde es auch im mittelalterlichen Latein und in den romanischen Sprachen verwendet. Durch solche Formen wurde und wird die Gewissheit übermittelt, dass nichts übersehen oder übersprungen wurde, dass alles seine Reihung und Richtigkeit hatte und 119

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dass das Gedächtnis nicht trügt. Ohne Form zerrinnt das Gedicht. Dem Vagen kann man nicht trauen. Dies muss auch noch heute gelten, da ein jeder meint, er könne schreiben und lesen, heute, da sich alle Bindungen ins Beliebige lösen. Das wahre Gedicht muss auch heute noch immer etwas Überindividuelles bewahren, wenn es von vielen gelesen, gesungen, gehört, wiederholt und weitergetragen werden soll. Sonst gebührt ihm der Name nicht, den es in unserer Sprache trägt. Nicht nur die lyrischen, auch die tragischen und epischen Dichter, die uns Aristoteles nennt, haben in gebundener Sprache geschrieben, gesprochen oder gesungen. Fragen wir nach den Quellen, aus denen sie schöpfen, so antworten sie, wie alle Griechen vor ihnen, wiederum mit uralten Mythen. Die Dichtung sei ein Geschenk des Gottes Apollon, heißt es da. Der habe sie seinen Sohn Orpheus gelehrt. Der aber lebte in einer Zeit vor aller Rechnung, lange noch vor Hesiod und Homer. Dass er die Tiere mit seinem Gesang bezaubert, dass er seine Gattin aus dem Hades befreit habe, dass er gestorben sei von Mänaden zerrissen, dass sein Haupt auf der Insel Lesbos begraben sei im Tempel seines Vaters Apollon, all dies sind Zweige in einem Kranz von Mythen, der um ihn geflochten wurde. Von seinen Versen, seinen Gesängen ist uns keine Zeile, ist uns keine Note überliefert. Wenn die Orpheus-Mythen aber von Lesbos berichten, so tun sie dies nicht ohne Bedacht. Lesbos nämlich ist die Heimat einiger der ersten von der Geschichte erfassbaren ionischen Dichter. Arion lebte dort, nach ihm Alkaios und die unvergessene Sappho. Aus ihrer Zeit, dem 7. Jahrhundert v. Chr., haben wir sonst nur Nachricht von den beiden Dorern Alkman und Tyrtaios, den Dichtern der Chorgesänge, der Kampf- und Siegeslieder. Singend zogen die Lakodämonier in den Krieg, angeführt vom Klang der kithara. Aus den Chorgesängen, den festlichen mehr als den kriegerischen, entstand die dramatische Dichtung. Deren Vorrang vor aller anderen Kunst hat Aristoteles postuliert und Hegel ist ihm später darin gefolgt. Nicht aber der dramatischen Kunst, sondern der Kunst des Orpheus, der Lyrik, wollen wir mit unserer Frage uns zuwenden, weil in ihr, durch den Verzicht auf alle Darstellung oder Berichterstattung, die Sprache zu sich selbst kommt. Die Kunst der Lyrik verdankt ihren Namen dem Instrument, auf dem Apollon seine Gesänge begleitete, das die Griechen lyra nannten und das wir Leier nennen. Die Muse der Lyrik, Erato, ist auch zugleich die Muse des Saitenspiels. Wer könnte da zweifeln, dass sie das liebste Kind des 120

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Apollon war. Da die Antwort des Gottes auf die Fragen der Menschen nicht in Erzählungen bestand, ist uns auch kein Mythos, kein Bericht von Geschehnissen, bekannt, die er singend verkündet hätte. Apollon ist nicht den Rhapsoden vergleichbar, die mit ihrem Instrument, der kithara, erzählend von Stadt zu Stadt, von Insel zu Insel zogen. Seine Kunst diente nicht, sie war sich selbst genug. Nun fragt man sich aber, warum die Griechen sich, wenn sie vor einer Entscheidung standen, an ein Heiligtum des Apollon wandten. Was erhielten sie dort, in Delphi, in Abai, in Delos, in Didyma, wenn nicht Antworten auf ihre Fragen? Rätsel erhielten sie, Rätsel in Versen gebunden, die sie selbst zu lösen und zu deuten hatten. Rätsel, die sie, nicht anders als ihre eigenen Träume, zurückverwiesen auf ihr eigenes Gewissen. Bei deren Entschlüsselung konnte ihnen ein anderer nicht helfen. Sie selbst wurden wiederum zurückgefragt. Und eben wegen dieser ihrer Rätselhaftigkeit hat sich die Kunst des Apollon auch der Deutung und Wertung durch den großen Ordner Aristoteles entzogen. Ganz undenkbar wäre es darum nicht, wenn er mit seiner Poetik doch kein Fragment hinterlassen, sondern wenn er aus freiem Willen verzichtet hätte, die Kunst der Lyrik, die Weissagekunst, zum Thema seiner Untersuchungen zu machen. Mag sein, dass er erkannt hatte, dass die lyrische Kunst sich dem theoretischen Zugriff nicht fügte. Mag sein, dass der kluge Mann, was er nicht fassen konnte, auch weiterhin den Mythologen überließ, die alle Antworten in Erzählungen hüllten. Und eine dieser Mythen berichtet, dass Apollon aus dem Lande der Hyperboreer stammte und dorthin zu den Völkern des Nordens, in die Heimat der Dorer, alljährlich zurückkehrte, um neue Kraft zu gewinnen. Wenn wir auf einer anderen Spur uns von Bildern und Beispielen zu belehren suchen, begegnen wir einer Gestalt, die wir, nach der Macht der Dichtkunst forschend, nicht übersehen können. Bellerophon war der Sohn des korinthischen Königs Glaukos in mythischer Zeit. Wenn man versuchen wollte, die Namen ins Deutsche zu übersetzen, müsste man Glaukos den Leuchtenden nennen und Bellerophon den tötenden Pfeil, ohne damit sicher zu treffen. Denn schon Aristoteles hat in seiner Poetik geschrieben, dass man über dem Klang eines Namens oft den Sinn des Wortes vergisst. Ein Satz, der uns noch zu denken geben wird. Dieser Königssohn nun, ein Nachfahre auch des Sisyphos, der aus Mitleid mit den Menschen den Todesgott Thanatos in seine Gewalt gebracht hatte und dafür furchtbar bestraft worden war, dieser Königssohn Bellerophon besaß ein geflügeltes Pferd 121

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mit Namen Pegasos, dem es gegeben war, sich in die Luft zu erheben, und unter dessen Hufschlägen, wo sie die Erde berührten, Quellen entsprangen. Das wundersame Tier trug seinen Reiter, so heißt es, zu unzähligen Abenteuern, von denen wir nur den Kampf gegen die Chimaira erwähnen wollen, gegen ein Ungeheuer, das das Maul eines Löwen, die Hörner eines Ziegenbocks und den Schweif eines Drachens besaß. Obwohl Bellerophon als Sieger aus diesem Kampf hervorging, ist die Chimaira, als Chimäre, als Wahnvorstellung, als Hirngespinst uns in Erinnerung geblieben und wird immer wieder gegen einen allzu weit versprengten Fantasten ins Treffen geführt. Dass Bellerophon nach seinen siegreichen Kämpfen zuerst in Lykien und dann in Tiryns, der mykenischen Stadt mit den Zyklopenmauern, König wurde, war ihm nicht genug. Er wollte den Olymp mit seinem Pegasos stürmen, scheiterte und stürzte ins Meer. Bellerophon wurde ertränkt und zerschmettert, sein Pferd jedoch wurde zu den Sternen erhoben und gilt seither als das Tier, auf dessen Rücken die Fantasie zu immer neuen Eroberungen auszieht. Lange haben wir uns, selbst erzählend, mit der Dichtung befasst, die erzählt. Wir haben durch sie erfahren, dass es die Begeisterung ist, die uns über die irdische Mühsal erhebt, und dass die Fantasie uns hinwegführt, über Länder und Meere und zu Zielen leitet, hoch wie der Olymp. Wir haben am Beispiel des Bellerophon, des Orpheus gesehen, dass die griechischen Dichter es sich nicht genug damit sein ließen, dem Euripides vergleichbar, die Welt zu zeigen, wie sie ist, oder, dem Sophokles vergleichbar, wie sie sein sollte. Sie haben die Mächte der Welt dargestellt auch in ihrer irrealen, erträumten Gestalt, als Ungeheuer, als Erinnye, als Chimäre. Sie haben auch die von der Angst gezeugten Mächte der Unterwelt noch erforscht. Und sie haben uns wissen lassen, dass es eine von der Fantasie geleitete Macht gibt, die diesen Mächten siegreich entgegentritt. Die Macht heißt Poesie. Spricht einer von der Dichtung der Griechen, so spricht er auch heute noch zuerst von ihren epischen und dramatischen Dichtern. Homer, Hesiod und Aischylos überwältigen uns noch immer durch ihre visionäre Gewalt. Sie öffnen uns Tore in eine große Vergangenheit. Von der aber will die lyrische Dichtung nichts wissen. Sie ahmt nicht nach, sie erzählt nicht und sie stellt nicht dar. An die Stelle der mimesis tritt bei ihr die Metapher, die Übertragung eines Bildes auf einen Gedanken. Die lyrische Dichtung schiebt die Kette von Ursachen und Wirkungen nicht in die Ferne der Fa122

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bel. Sie spricht, indem sie bildet und tönt. Und darum formt sie nicht die Welt, sondern formt die Sprache und führt die Musik im Geleit, die Kunst, die nur im Augenblick lebt und weder Vergangenheit hat noch Zukunft. Die lyrische Dichtung erzählt nicht, begründet nicht, entschuldigt und beweist nicht. Sie leiht ihre Stimme nicht den Gestaltern oder Zerstörern der Welt, den Göttern, Helden oder finsteren Mächten. Die lyrische Dichtung rühmt die Sieger, beklagt die Toten, leidet mit den Leidenden, liebt mit den Liebenden und jubelt mit den Glückverwöhnten. Sie ist die Stimme der Liebenden, der Staunenden, der Trauernden, der Bittenden und der Hoffenden. Sie hebt uns heraus aus dem Gefängnis der Zeit. Wenn die epische und die dramatische Dichtung zu allen spricht von den Mächten, denen unser Leben gehorcht, so spricht die Lyrik nur zu denen, die Ohren haben zu hören. Sie spricht nicht von Fremdem, sie spricht von der Erfahrung unserer Sinne und von der Weisheit unseres Herzens. Sie stellt nichts dar, sie ahmt nichts nach, sie lehrt uns nichts, was wir nicht wüssten. Sie spricht in Bildern und in Rhythmen. So sprach sie in alten Zeiten und bei alten Völkern und so spricht sie noch heute. Da wir das geflügelte Ross des Bellerophon nun einmal aus seinem Stall geführt haben, so wollen wir es nun auch spornen, um auf seinem Rücken die Länder der Alten Welt zu verlassen und in einem mächtigen Satz über Jahrtausende zu springen. Große Epochen der Dichtkunst werden wir dabei unter uns lassen, größere vielleicht als die unsere. Über Rom, Florenz, die Provence, über London, Paris, St. Petersburg und Weimar fliegen wir hin. Aber wenn, was wir suchen, ein ewiges Anliegen der Menschen ist, werden Spuren davon in allen Ländern und Zeiten zu finden sein. Überall, auch „in dürftiger Zeit“, und auch bei uns. Wenn Jean-Paul Sartre versucht zu erklären, was er unter Literatur versteht, so schließt er, nicht anders als vor ihm der alte Stagirit, die lyrische Dichtung ausdrücklich aus. Sie ist für ihn offenbar etwas anderes als Literatur, etwas, das sich nicht in den Dienst einer Sache, einer moralischen Verpflichtung und schon gar nicht einer politischen Ideologie stellen lässt. Für Poesie erklärt sich der Verfechter der engagierten Literatur nicht zuständig. Es ist wohl auch gut so, dass Sartre das ihm fremde Gebiet behutsam meidet, denn in seiner Vorstellung handelt es sich bei der Poesie um nichts Besseres als um eine Art Glasperlenspiel, dessen Wirkung auf der wohl eher 123

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irrationalen Verquickung von Wörtern beruht, die sich von ihren Begriffen gelöst haben und in die Auslagen der Goldschmiedekunst hinübergeraten sind. Man möge sich aber von Sartres Urteil nicht bestimmen lassen, die Bezirke von engagierter Literatur und von Dichtung so weit zu trennen, dass sie, zumal in der dramatischen Kunst, einander nicht mehr durchdringen und befruchten könnten. In einem berühmt gewordenen Streitgespräch mit Gottfried Benn stellte Johannes R. Becher seine Dichtung in den Dienst der Befreiung und Machtergreifung des Proletariats. Doch nur mit einem gesellschaftstheoretischen Programm allein hat noch keiner, auch Sartre nicht, ein brauchbares Theaterstück geschrieben. Und auch von den Gedichten Bechers haben sich nur die in unserem Gedächtnis erhalten, die er zuvor noch als freier Geist geschrieben hat. Benn setzte dagegen den Satz vom einsamen Schaffen des Dichters: „Er wütet in sich herum – wer sollte ihm das danken?“ Der Dichter, wie Benn ihn haben will, steht in keinem Sold, er fordert keinen Dank. Er dient „dem Gegenglück, dem Geist“. Der Geist aber, den er meint, ist nicht die griechische nous, nicht die lateinische ratio, eher vielleicht ließe er sich dem vergleichen, was Schiller die Begeisterung nennt, die wundersame Erhebung aller Kräfte der Sinne und des Gemüts. Die gleicht oft mehr der Wahrsagekunst als der richtenden Gerechtigkeit des Gedankens und ist mit Maßen und Gewichten nicht zu erfassen. Es ist demnach, wie der Schuster Hans Sachs halb resignierend, halb staunend erkannt hat, „ohn’ ein’gen Wahn“ kein rechtes Werk je gelungen. Mag sein, dass Wagner diesen Spruch nicht allein auf die Dichtkunst, sondern auch auf die Künste des Gesanges, des lyrischen Theaters, der Oper bezog, die nicht allein aus dem gesprochenen Wort bestehen. Sie bestehen auch aus Bildern und Gesten, aus Licht und Dunkel und vor allem aus Musik. „Hier ist nichts rein, hier kommt alles zu allem“, klagt Hofmannsthals todessüchtige Ariadne, die gerne wüsste, was nicht zu wissen ist. Das „Unreine“ aber macht den lebendigen Zauber aller Dichtkunst aus. Und insbesondere den der Oper, die von allen dramatischen Gebilden ihre Macht über die Seelen nicht aus der mimesis bezieht, sondern aus dem von der Fantasie regierten Reich der sprachlichen und musikalischen Poesie, in dem alle Quellen menschlichen „Wähnens“ zusammenströmen. Was Sartre Literatur und was er davon unterscheidend Dichtung nennt, beides wird aus Wörtern gemacht. Wer nun aber, und sei es Sartre selbst, meint, die Bestimmung der Wörter sei es, Gedanken zu erfassen und zu 124

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begreifen, um sie danach in den Dienst einer Sache oder einer Idee zu zwingen, der hat sie nur halb vernommen. Es ist nämlich keineswegs so, dass der Gedanke geflogen käme und man, sobald man ihn fliegen sehe oder höre, nur die Krallen der Sprache ausfahren müsse, um ihn zu fassen. Es verhält sich ganz und gar anders: Das Wort gebiert den Gedanken. Ohne Zahlen keine Mathematik, ohne Töne keine Musik; denn auch Zahlen und Töne sind Sprachen. Und ohne Wörter keine Gedanken. Die Gedanken folgen der Sprache, oft sogar entstehen sie, wie der geniale Kleist erkannt hat, während des Sprechens. Ein Denken ohne Sprache ist nicht einmal imaginierbar. Die Sprache ist das Gehäuse des menschlichen Geistes. Sie wurde nicht geschaffen als Waffe und Werkzeug. Wer sie dazu gebraucht, missbraucht sie. Das tun wir alle. Das ist unser Sündenfall. Aber wer mit Wörtern nichts darüber hinaus, nichts anderes zu beginnen weiß, als zu belehren, zu streiten, zu unterscheiden oder eine Gebrauchsanweisung für die Wirklichkeit zu verfassen, der tut nur ein Werk für kurz bemessene Zeit. Er mag sich einen Lehrer nennen, einen Prediger, einen Politiker, einen Schriftsteller, einen Literaten, einen Philosophen. Das sind recht nützliche oder auch nur reputierliche Leute, zumal wenn sie mehr als nur den eigenen Vorteil oder den ihrer Gemeinde im Sinn haben. Aber die Aufgabe eines Dichters ist eine andere. Er schert sich nicht um Nutzen und Vorteil. Er hat nicht im Sinn, etwas, was ist, zu verändern, zu verbessern oder auch nur zu erklären. Er spricht allein von dem, was alle betrifft, vom Unabänderlichen: von Sein und Nichtsein, von Werden und Vergehen, von Liebe und Tod, von Schönheit und Glück, von Unglück und Verderben. Der Dichter spricht. In alten Zeiten sagte man: Er singt. Im einen wie im andern Fall: er antwortet nicht. Aber unser Leben ist eine einzige Frage. Und während wir von den Philosophen von einer Antwort, die neue Fragen gebiert, zur anderen Antwort und immer weiter geführt werden, bis wir erschöpft resignieren, hoffen wir dennoch mehr von den Dichtern. Wir alle leben seit jeher in der Erwartung, durch ein Wort, ein Gefüge von Wörtern könnten wir Antwort finden. Auch wenn die einzige Antwort, bei der wir uns beruhigen, die ist, dass wir nicht allein sind auf Erden, dass auch ein anderer mit uns fragt und fühlt und wartet. Das wäre uns Trost. Und das widerfährt uns – im glücklichen Fall – im Gedicht. Hin und wieder finden wir, blätternd, ein Wort, einen Vers, ein Gedicht, das uns dieses Stillschweigen lehrt. Wir haben es oft und oft gelesen. Und kehren wieder und 125

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wieder zu ihm zurück. Denn es verliert nichts von seinem Gewicht. Und dieses Gewicht macht unsere Fragen verstummen. Manch einer hat sich und andere gefragt, wie die menschlichen Sprachen entstanden sein mögen. Man hat darauf oft durch einen Mythos geantwortet, der die Antwort hinausschiebt in eine Zeit, für die wir keine Verantwortung tragen. Wir begnügen uns mit der Vorstellung, dass die ersten menschlichen Laute, die man als Sprache bezeichnen kann, zwischen Liebenden, das heißt zwischen Männern und Frauen und zwischen Müttern und Kindern gesprochen wurden. Nicht ohne Grund sinken wir in der Umarmung zurück in ein Liebesgestammel, nicht ohne Grund nennen wir die aus dem Zwiegespräch zwischen Mutter und Kind sich erhebenden, vertrauten Laute unsere Muttersprache. Das Gestammelte, Gesungene, Geraunte und endlich Gesprochene soll verbinden, das Ich mit dem Du, soll reizen und locken, soll beruhigen, danken, loben und warnen. Und soll Naheliegendes in Vertrautes verwandeln, indem es ihm einen Namen verleiht. Da ist von der weiten Welt ringsum noch keine Rede. Die ersten Mitteilungen, die auch heute noch unsere Kinder empfangen und bald schon erwidern, sind nicht vor allem zielgeleitet oder zweckgebunden. Sie rufen nicht auf, lehren nicht, richten und werten nicht, sondern wollen nichts anderes als Leben bekunden, Selbstgefühl offenbaren und Mitgefühl mit anderem Leben. Und eben weil von solchen Mitteilungen keine verheimlichte Absicht, keine List und Überredung zu fürchten ist, öffnet sich ihnen arglos unser Gemüt. Aus dieser ungetrübten Quelle schöpft alle Dichtung. Und alle unsere Sprachen haben sich diesen Ursprung im Gedächtnis bewahrt, in den unsere guten oder bösen Absichten nicht einzudringen vermögen. Alle Lüge ist ihr fremd. Absichtslos ist die Dichtung, aber nicht sinnlos. Sie hat ihre eigenen Gesetze, die nicht von den vielen für jeden Einzelnen bestimmt, sondern von einem Einzelnen für die vielen ersonnen werden. Ersonnenes schreiben die Dichter und nicht Erdachtes. Wörter haben eine Gestalt, einen Klang einen Körper, der zu unseren Sinnen spricht. Darin sind sie verwandt mit der Musik. Nur durch diese körperliche Gestalt, die wir ihnen dichtend gegeben haben, vermochten sie einst die Gedanken ins Leben zu rufen. Und darum heißt dichten, den Worten den Pulsschlag des Lebens, aus dem sie entstanden sind, ihre magische Kraft, mit der sie die Dinge be126

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schworen haben, wiedergeben. Da die Wörter nicht nur Buchstaben sind und Klang, sondern Sinn und Empfindung tragende Gebilde, erwecken sie zu Sätzen verbundene Metaphern, will heißen Bilder, Gleichnisse und Erinnerungen, die uns zu Erkenntnissen führen, die ihm auf allen anderen Wegen verschlossen sind. Und so geschieht es, dass die Sprache den Dichter gleichsam bei der Hand nimmt und ihn führt zu dem, was er kaum ahnte, aber doch wiedererkennt, wenn er es findet. Wenn wir nach all dem Gesagten noch einmal zurückkehren, um die Worte an der Wurzel zu fassen, die den Akt der Dichtung bezeichnet haben im Umkreis unserer abendländischen Kultur, so finden wir mehr als nur einen Begriff für das Gleiche. Schaffen, erfinden, hervorbringen aus dem Nichts bedeutet das griechische Verbum poiein. Das Substantiv poiesis haben die Griechen für das Hervorbringen von bisher Unvorhandenem, Unerhörtem gebraucht. Aristoteles setzte der poiesis die techné entgegen, der Dichtung das Handwerk, die Kunstfertigkeit im Umgang mit bereits Vorgefundenem. Er unterschied die kreative Kunst, die Poesie, von ihrer Vermittlung und Interpretation, wenngleich er wohl wusste, dass die eine der anderen immer wieder die Hand reichen musste. Dass diese Unterscheidung zwischen dem schaffenden und dem reflektierenden Wort schon immer wohl bekannt war, zeigt uns ein Wort des Diogenes Laertios, das wir in seiner Lebensbeschreibung des Xenokrates lesen: „Dichter, die sich zur Prosa wenden, haben Erfolg, Prosa-Autoren hingegen, die sich in der Poesie versuchen, straucheln; die einleuchtende Ursache ist die, daß das eine auf natürlicher Begabung, das andere aber auf Kunstfertigkeit (techné) beruht.“ Wir dürfen ihm glauben, denn vieles lässt sich erlernen, in allen Künsten, aber manches und vielleicht das Wichtigste wird uns geschenkt. Und wir durchschauen sehr schnell einen Täuschenden, der das Echte, das Eigene mit dem Gefälschten vertauscht, der mit „Aufgelesenem“ handelt. Die provenzalischen Troubadours und die französischen Trouvères haben ihr Tun anders definiert als die Griechen, aber doch wohl dasselbe gemeint. Der Name, den sie sich gegeben haben, ist abgeleitet vom Verbum trouver, das das Finden neuer Wege bezeichnet, das Finden und auch das Erfinden des Unbekannten und das Überbringen unerhörter Botschaft. „Le mot juste“ war das, was sie und ihre Nachkommen suchten. Und wenn sie es fanden, so war kein Zweifel mehr und das Glück des Fundes wurde offenbar. Sie 127

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mögen dabei geleitet worden sein von der Überzeugung, die auch bei Platon zu lesen ist, dass alles Wissen nur ein Erinnern ist, das es aufzusuchen und wieder zu erkennen gilt. Anders haben wir in unserer deutschen Sprache über die Poesie zu sprechen gelernt. Wir nennen sie Dichtung und meinen damit die Zusammenfügung und Aneinanderschmiegung von Wörtern zu Worten. Solche Worte sagen uns mehr als die Wörter, aus denen sie gefügt sind. Diese gleichen den Urstoffen, den Elementen, die sich zur erfahrbaren Welt verbinden. Worte aber sind mehr als die Summe ihrer Wörter. Sie sind wie chemische Prozesse, in denen Neues, Unerhörtes entsteht. Worte pulsieren. Der Rhythmus verdichtet sie und stärkt sie zugleich. Der Klang macht sie leuchten. Sie meinen nicht nur anderes als all ihre Silben und Wörter, sie meinen mehr. Sie meinen das Wesen. Sie verdichten die Welt auf der Suche nach ihrer Essenz. Davon wollen sie Nachricht geben. Nachricht über große Entfernung, Entfernung in Raum und in Zeit. Pietro Metastasio hat den Begriff der Poesie im Zeitalter der Aufklärung noch einmal neu gefasst, neu, das will heißen: weiter und enger zugleich. Dichtung, so meinte er, sei Traum in Gegenwart der Vernunft: Poesia è sogno in presenza della ragione. Und das erscheint nach zweieinhalb Jahrhunderten immer noch als eine ihrer erhellendsten Definitionen. Für Metastasio ist Dichtung ein einsames Geschäft. Der Traum ist die Zwiesprache der Seele mit sich selbst. Er kennt weder Zukunft noch Vergangenheit. Er unterscheidet nicht zwischen Erinnerung und Erwartung. Er reicht zurück bis an den Beginn unseres Daseins und hinaus bis über den Tod. Der Traum gestaltet seine Visionen aus den Bedrängnissen und Sehnsüchten des Träumenden, er spielt mit den Requisiten des alltäglichen Lebens, aber er ordnet sie anders und neu. Er lässt alle Möglichkeiten gelten, er wählt nicht nur die eine und verwirft alle anderen, wie es das Leben tut. Der Traum müht sich, das vielfältig Lockende oder Drohende zu bewältigen. Er ist der Kampf mit dem Drachen der Realität. Er verwandelt die eroberten Bezirke der Fantasie in überschaubare Gelände. Er ist, dem Pegasos vergleichbar, nicht den Gesetzen der Schwerkraft, der Kausalität, nicht den Ordnungen des wachen Verstandes unterworfen. Er macht Unmögliches möglich. Und er gibt uns darum die Hoffnung, den Zwängen der ananke, der strengen Notwendigkeit, zu entkommen. Im Traum ist Wahn und Weitblick, ist Ahnung und Furcht. Und damit dergleichen Träumerei nicht aus allen Fugen 128

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gerät, damit sie mitteilbar wird für die anderen, damit wir erwachend und Herr unserer Sinne sie in Worte kleiden können, wacht über die Dichtung die Vernunft, formt und gliedert, vergleicht, urteilt, verwirft und widerspricht. Und um dies zu leisten, muss auch sie sich der techné bedienen, des literarischen Handwerks. Denn nur durch die gezwungene und endlich gelungene Form wirkt gerade die lyrische Dichtung. Rhythmus, Silbenmaß und Zeilenlänge, Strophenform und Refrain, Alliteration und Reim fügen die Wörter erst zu einem Gedicht. Allein durch seine fürs Auge und fürs Ohr klar erkennbare und memorierbare Gestalt, durch Fug und Maß, durch Rückbezug und Wiederholung entsteht die unauflösbare Prägung des Werks. Und so wie ein jeder rechte Maler weiß, dass sich seine Hand auch zuweilen von seinem Pinsel verführen lassen muss, so lässt auch der Dichter seinen Wörtern immer wieder einmal die Zügel fahren, gewährt ihnen freien Auslauf, dass sie sich paaren und beißen, ehe er sie einfängt und bändigt. Dieser Widerstreit von frei schwärmender Fantasie und verantwortungsbewusster Gerechtigkeit macht die Spannung aus, unter der das poetische Werk steht, macht seine Bedeutung aus als Nachbild und als Vorbild unseres Daseins. Er gibt uns Mut, vom Traum genährt und von der Vernunft geleitet, zu schaffen und sinngeleitet zu leben. „Zwischen Rausch und Kunst muß Apollon treten, die große züchtende Kraft“, so hat Gottfried Benn es gesagt. Dichtung also ist Traum, dem die Vernunft hellwach über die Schulter sieht. Und dessen sie sich doch nach dem Erwachen nie ganz mehr zu erinnern vermag. Und so wie sich unsere Träume nie ganz erfassen lassen, so spottet auch die gegenständliche Welt jeder Beschreibung. Darum versucht echte Dichtung nicht die Welt zu analysieren – will sagen: in ihre Teile aufzulösen – oder zu definieren – will sagen: an ihren Grenzen zu messen –, sondern versucht sie uns durch Gleichnisse, durch Metaphern zu deuten, durch Bilder erfahrbar zu machen. Wir verändern alles, was wir zu halten versuchen. Wenn alles, was wir betrachten, durch diese Anschauung allein schon verändert wird, wie uns die neuesten Erkenntnisse der Physik lehren, wie verändert sich dann erst durch ihre Vermessung und Benennung die Welt? Es ist nicht nötig, die Quantenphysik zu dieser Erkenntnis zu bemühen, was vermutlich nicht jedem von uns gelingen würde; aber tröstlich ist es zu wissen, dass auch die Messenden und Wägenden mit ihrer Hilfe erkannt haben, dass sie mit ihren Zirkeln und Maßstäben auf ungesicher129

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tem Boden stehen. Denn im Innersten alles Seienden ist eine nicht enden wollende Bewegung. Das hat schon Anaximandros gewusst, der kein Mikroskop besessen hat. Darum lässt Dichtung viele Wirklichkeiten gelten, von denen uns manche erst durch ihre Vermittlung erahnbar werden. Eines aber gilt es nach all dem Gesagten noch zu bedenken: Die lyrische Dichtung wendet sich nicht an alle, wie die Dramatik es tut, die Epik oder auch die Rhetorik. Sie wendet sich aber an jeden, an jeden einzelnen, an jeden Einsamen, der hören will auf die Stimme des Menschen aus der Tiefe der Zeit. Die Sprache ist nicht gemacht zum Selbstgespräch, auch nicht zum Zwiegespräch unserer Seele mit einem projizierten Jenseits. Die Sprache ist gemacht als Brücke von einem Menschen zum andern, vom Ich zum Du. Und diese Brücke steht nur mit einem Fuß auf der Zunge in unserem Mund, mit dem anderen aber im Ohr unseres Gegenübers. Allein die Erfindung und Vervollkommnung der Sprache ist der unwiderlegbare Beweis für die Existenz des anderen Menschen. Um des anderen willen sprechen, singen und deuten wir. Der andere erlöst uns aus der Einsamkeit unserer Empfindung. Ohne ihn gäbe es keine Poesie. Das lyrische Ich singt nicht vor sich hin. Es verkündet, was es erfunden und zusammengefügt hat, dem, der Ohren hat zu hören und Augen zu sehen. Und es weiß sich geborgen im Einverständnis der Liebe und schließlich auch im Einverständnis des Todes. Weil nun die Dichtung so vieles vermag, nämlich – in seltenen und nie lange währenden Glücksaugenblicken – die Erkenntnis seiner selbst, ist dem Dichter die größte Bedachtsamkeit geboten mit dem Gebrauch des Schatzes, den er verwaltet. Ein gelungenes Gedicht ist wie ein Telegramm in ein weit entferntes Land, bei welchem jedes Wort eine Unsumme kostet und darum nur gesendet werden darf, wenn es ganz und gar unverzichtbar ist. Von Mal zu Mal aber ist auch ein reinigendes Schweigen geboten. Es ist ohnehin zu viel Schall und Rauch in der Luft. Kaum jemals in der Geschichte des Abendlandes hat weniger wahre Poesie unter den Menschen gewaltet als heute. Wenn Schiller mit einigem Recht sein „tintenklecksendes Säculum“ verhöhnt, so kann man mit größerem Recht vom unseren als dem Jahrhundert des international vernetzten Geschwätzes sprechen. Dieses „unsägliche“ Geschwätz tritt über alle Ufer. Es wälzt all das Verworfene in seinem Strom dahin, schwemmt es uns vor die Füße und bedeckt den Boden rings mit seinem Schlamm. Wohl aufgehoben dagegen war lange die Sprache beim Volk, das sie erfand. Davon künden die vielen Tausenden von Volksliedern, die sich dem 130

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Gedächtnis erhalten haben. Und es gibt, wunderbarerweise, immer noch Völker, die die Meisterwerke ihrer Sprache lieben. Das russische Volk ist uns ein Beispiel. Wahre Dichtung hat sich immer nur den wenigen Weisen und den vielen Unbefangenen erschlossen. Die Geschäftigen wollen sich von ihr nicht anhalten lassen. So kann es uns nicht allzu sehr Wunder nehmen, wenn wir bei Cicero lesen, dass er keine Zeit erübrigen wollte, um Gedichte zu lesen. Nüchtern war der römische Geist. Dem griechischen nicht vergleichbar. Cicero war Orator, Politiker, Anwalt. Was er zu sagen hatte in wohl geordneten Sätzen war von Absichten geleitet, die nicht mehr die unseren sind. Anders ergeht es uns beim Horaz, beim Ovid, beim Properz, beim Catull. Deren Gedichte sind leichter auswendig zu lernen als zu entschlüsseln. Wenn es uns aber gelingt, so öffnen sie uns noch immer das Herz. „Mittelmäßig zu sein, ist Dichtern nicht erlaubt, nicht von den Göttern, nicht von den Menschen, nicht von den Säulen“, schreibt Horaz in seiner ars poetica. Wenn aber einer dennoch Dichter zu sein sich anmaßt – denn keiner kann ihn dazu ernennen als nur er selbst –, dann muss er vor allem anderen lernen zu schweigen, um sich zu sammeln, und muss sich vor nichts so sehr hüten als davor, in Sold zu geraten der marktbeherrschenden Mächte. Was die Einsamen gefunden, gefügt und geschliffen haben, erweist sich oft als unverkäuflich im Handel. Vieles dagegen, das leicht von Hand zu Hand geht, ist nicht des Aufhebens wert. Und es ist wohl wahr: Auf zehntausend gedruckte Bücher kommt kaum ein gelungenes Gedicht. Dennoch bleibt der „aufrechte Buchstab“ die einzig verlässliche Währung. Sie stellt all unser zielloses Streben unter ein vergleichendes Maß. Sie schützt uns vor dem, „was auf den Marktplatz taugt“, vor dem Zeitgeist, der im Grunde doch nur ein Zeitungsgeist ist, eine inflationäre Sammlung von Vorurteilen und rasch verfallenden Wechseln. Hölderlin wusste davon, als er schrieb: „Das Bleibende aber stiften die Dichter.“ Inmitten all des verderblichen Geschwätzes, was ist nun also die Dichtung, wenn nicht ein Versuch des Menschen, sich selbst zu erforschen, der Versuch, einander zu trösten und zu behüten, Wort für Wort, Ton für Ton, ein Versuch, hinauszugelangen über den Rand unseres hinfälligen Daseins: ein Protest gegen den Skandal des Vergessens, das der wahre, endliche Triumph wäre des Todes über das Leben. Dichtung ist Zeugnis unserer Liebe zur geschauten Schönheit des Daseins, wenn Schönheit der Glanz des Seienden ist. Dichtung ist ein nie ans Ziel gelangender Aufbruch ins un131

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erforschte Land der Hoffnung, wenn Hoffnung die Verheißung der Fülle des Glückes ist. Dichtung ist der immer wieder scheiternde Versuch der Seinsbestimmung, ist aber auch Erschließung des Sesamschatzes, Zauberformel, Offenbarung, ist Verrat des Unaussprechlichen und ist vor allem anderen die Taufe der Welt.

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ie Sammlung von Shakespeares Sonetten ist ein Rätselbuch. Dies Wort mag für alle Bücher gelten, die anspruchsvolle Gedichte enthalten. Doch über diesen Versen des größten aller Dramatiker scheint ein besonderes Geheimnis zu walten. Man hat schon beim Lesen weniger Zeilen das unabweisbare Gefühl, dass hier eine Stimme, die man sonst nur aus dem Munde erfundener Theaterfiguren gehört hat, aus dem ureigensten und innersten Lebensraum des Dichters spricht, eines Mannes, den man weniger zu kennen meint als sonst einen der großen Künstler des Abendlandes. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass hier der Lyriker in der Ich-Form zu Wort kommt, dass er seine Beglückungen und Leidenschaften bekennt, dass er sich selbst beim Namen nennt und von den Menschen redet, die ihm nahestehen und sein Wohl und Wehe bestimmen. Er nennt sich Will, nicht William, geschweige denn so, wie alle Welt ihn kennt, Shakespeare. Er gibt sich den Namen, den seine Freunde und Liebsten für ihn gebrauchten. Und schon mit diesem Namen beginnen die Rätsel. Will heißt der Autor. Will heißt auch, ins Deutsche übertragen, so viel wie der Wille, und noch etwas anderes, das man bei uns zulande schon einmal mit „der freie Wille“ übersetzt hat: das Symbol seiner Männlichkeit. Man vergleiche hierzu die kaum mehr zweideutigen Anspielungen des Sonetts Nr. 136. Will nennt sich aber offenbar auch sein bedrohlicher Nebenbuhler. Und nicht zuletzt wohl auch der Adressat eines Großteils seiner Gedichte und Widmungsträger der ganzen Sammlung, dessen Initialen vom Herausgeber mit W. H. angegeben werden. Einmal wird dieses vieldeutige Wort im Ernst, ein anderes Mal wird es im Scherz genannt. Sicher kann man sich nie bei seiner Zuweisung sein. Was gäbe es denn auch für eine Sicherheit im Reich der Gefühle? Wer ist dieser andere Will, dieser siegreiche Wille, dieser geliebte und bewunderte zweite William der Sonette? Darüber ist viel gerätselt worden, ohne dass eine überwiegende Meinung sich hätte behaupten können. Drei historische Personen wurden mehr als alle anderen genannt: Willliam Herbert, Earl of Pembroke, Lord Chamberlain und, gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder, einer der beiden Widmungsträger der ersten folio-Ausgabe 133

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von Shakespeares Theaterstücken; dann William Hall, ein Beamter der Registratur für neue Druckwerke, dessen Namen man – unter Weglassung der Interpunktion – aus der ersten Zeile der Widmung des Herausgebers der Sonette ablesen könnte: Mr. W. H. ALL; und dann auch noch William Harvey, der zweite Gatte der Lady Southampton und damit Stiefvater von Shakespeares Förderer, dem jungen Grafen von Southampton. Der allerdings könnte bestenfalls als Auftraggeber für die ersten siebzehn Sonette gelten, in welchen der eigentliche Adressat der Sonette zu Heirat und Kinderzeugung ermuntert wird. Glaubt man jedoch, in dem zweiten Will oder William etwa des Sonetts Nr. 135 eine andere Person ausmachen zu müssen als in der des Widmungsträgers W. H., so kann man für den Letzteren auch noch auf den Grafen von Southampton selbst raten, dessen Name Henry Wriotesley lautet, und dem die beiden ersten Publikationen Shakespeares, die Versepen „Venus and Adonis“ und „The Rape of Lucrece“ zugeeignet sind. In diesem Fall muss man die doch etwas seltsame Umkehrung der Initialen W. H. in H. W. in Kauf nehmen. Da hier nicht der Raum ist, um all diese Theorien und auch noch einige andere, weniger überzeugende zu begründen oder zu widerlegen, sei es gestattet, das Ergebnis meiner eigenen Schlussfolgerungen zu nennen. Ich zweifle nicht, dass Willliam Herbert, der 1580 geborene, jugendliche Graf von Pembroke, zugleich der zweite Will des Dichters als auch der W. H. des Herausgebers ist. Für meine Annahme spricht, dass dieser Kunst liebende, viel bewunderte Aristokrat ein großer Förderer des Theaters und ein besonderer Freund des Dichters war; dass er überdies zur Zeit der Veröffentlichung der Sonette in unbestrittenem öffentlichem Ansehen stand, was man von dem nach der Verschwörung des Grafen Essex über mehrere Monate inhaftiert gewesenen Henry Wriotesley nicht sagen kann. Die anderen beiden Kandidaten sollten schon aufgrund ihres höheren Alters allenfalls für den Widmungsträger W. H., nicht aber für den gentle youth der Sonette in Betracht gezogen werden. Als weiteres Indiz für eine Widmung der Sonette an den jungen Grafen Pembroke mag gelten, dass im Sonett Nr. 3 von der Mutter des jungen Mannes gesprochen wird, die in ihrem Sohn eine Erinnerung an die verwelkte Blüte ihrer eigenen Schönheit findet. Die verwitwete Gräfin Pembroke war um 1600 eine der angesehensten Damen des englischen Hofes. Es fällt in diesem Zusammenhang auf, dass von einem Vater des Adressaten W. H. nirgends die Rede ist, wohl aber von seiner 134

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schönen Mutter. Erklärbar wird dies mit dem frühen Tod des älteren Grafen von Pembroke und mit der damit auf den minderjährigen Sohn gefallenen Erbschaft von Titel und Vermögen des Vaters, die ihn instand setzte als Mäzen von Burbages Truppe zu wirken, aber auch die Verpflichtung brachte zu jener baldigen standesgemäßen Heirat, von der in den ersten siebzehn Gedichten des Zyklus die Rede ist. Dass der junge Aristokrat diesen frommen Wunsch nicht so bald zu erfüllen gewillt war, beweist ein überlieferter Brief seiner Mutter aus dem Jahre 1612, in welchem er – er war nun bereits zweiunddreißig Jahre alt – noch einmal aufgefordert wird, doch endlich sich zu vermählen. Für wen auch immer sich unsere Vorliebe entscheidet, sein Name würde uns wohl einige Fragen zu Shakespeares Biografie beantworten helfen, für das Verständnis oder gar die Bewertung der vorliegenden Gedichte wäre er nicht von essenzieller Bedeutung. Es muss uns genügen, dass der Dichter ihm auf eine schicksalhafte Weise verbunden war, die in sein Leben und Wirken tiefere Spuren prägte, als dies gemeinhin Männerfreundschaften tun. Wenn es sich bei diesem jüngeren, einmal gepriesenen, einmal beschuldigten Mann stets um ein und dieselbe Person handelt, hat sein zu Glück und Unglück fatal bestimmender Einfluss gewiss nicht allein die Sonette, sondern auch manche andere Dichtung Shakespeares berührt. Und es darf uns nicht wundern, wenn einige Verse Töne anstimmen, die uns aus den lyrischen Passagen der frühen Komödien oder den sarkastischen Monologen der späteren Jahre bekannt sind. Es ist oft behauptet worden, die ersten 126 der insgesamt 154 Sonette seien allesamt dem einen, an Jahren jüngeren, an Ansehen und Besitz aber höher gestellten Adressaten zuzuordnen. Ich wage diese These zu bezweifeln. Von vielen Sonetten dieser Gruppe ist keineswegs mit Gewissheit zu sagen, ob sie sich an einen Mann oder an eine Frau wenden. Das englische Original ist in diesem Betreff nicht ebenso eindeutig, wie manche voreilige Übersetzung dies haben möchte. Wenn man zu der wohl begründeten Ansicht gelangt, dass keinesfalls der Dichter selbst die Herausgabe besorgt haben kann, so ist auch keine Gewähr gegeben für eine Reihung, die seinen Intentionen entspräche. Ist dem aber so, dann hindert den Leser nichts, eine große Anzahl der leidenschaftlichsten Liebesgedichte ebenso gut einem weiblichen wie einem männlichen Adressaten zuzuordnen. Ich nenne als stellvertretende Beispiele nur die Sonette mit den Nummern 18, 25, 29, 135

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49 und 71. Bei deren Übersetzung habe ich versucht, die Unentschiedenheit des Originals weitgehend zu wahren. Dies vor allem aus dem Grund, weil ich die Reihung der Gedichte nicht für authentisch halte. Hier scheint vielmehr, ebenso wie bei den Raubdrucken von Schauspieltexten der frühen quartos, eine sorglos eilige Willkür am Werk gewesen zu sein. Gewiss gehören die ersten siebzehn Sonette in einen thematischen Zusammenhang. Sicherlich sind auch die Nummern 78 bis 95 mit einigen Einschränkungen, mit ein und derselben Tinte geschrieben. Aber wie gerieten die konventionellen Reimereien rund um die Ziffer 100 in diese an lyrischen Wundern so reiche Gesellschaft? Und wie wäre es möglich, dass nach den bittersten Verwünschungen die harmlosesten Liebenswürdigkeiten sich geben, als wäre nichts geschehen? Für gewöhnlich retten sich vor solchen Fragen die Interpreten in die Postulierung eines geschlechtslosen „lyrischen Ich“, das über den Wassern schwebt. Damit sind die erschütternden Bekenntnisse einer immer aufs Neue verwundeten und versöhnten Seele nicht zu entschlüsseln. Der Mitfühlende, Mitleidende allein wird von ihrem Geheimnis betroffen. Kein Zweifel dürfte walten über der Tatsache, dass die letzte Gruppe der Sonette, etwa ab der Ziffer 127 sich an eine weibliche Geliebte wendet, die in der Shakespeare-Literatur den geheimnisvollen Namen black lady trägt. Von ihr ist gewiss auch schon in den Nummern 41 und 42 die Rede. Zum ersten Mal wird sie angesprochen in den beiden ersten Sonetten der im Jahre 1599 erschienenen Gedichtsammlung „The Passionate Pilgrim“. Diese Verse sind mit geringen Abänderungen als die Nummern 138 und 144 auch in die Sonett-Edition von 1609 aufgenommen worden. Manche Interpreten glauben aus den wenigen Zeilen, die ihr äußeres Erscheinungsbild beschreiben, entnehmen zu können, dass die Frau, die in unserem Dichter ebenso viel Liebesleidenschaft wie Verzweiflung auszulösen imstande war, nicht allein schwarzhaarig und schwarzäugig, sondern auch von dunkler Hautfarbe gewesen sein müsse. So könnte man, wenn man es so will, die Verse 10 bis 12 im Sonett Nr. 131 deuten und so liest man es auch unter ande rem in einem fantasievollen Roman von Anthony Burgess. Andere wollen eine Hofdame der Königin mit Namen Mary Fitton in ihr wiedererkennen. Ich entschlage mich hierin jeder eigenen Meinung, gebe nur zu bedenken, dass die gelegentlich angemeldete Kandidatur einer Wirtin Davenant aus Oxford – Mutter des Dichters William Davenant, der sich als illegitimen Sohn 136

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Shakespeares bezeichnete – wohl kaum akzeptiert werden kann. Dies schon allein wegen ihrer ehelichen Bindung in einem doch eine Tagesreise zu Pferd entfernten Wohnort vom Schauplatz der Handlung. Denn dass sich Shakespeares Leben, Lieben und Leiden in den Jahren, die für die Entstehung der Sonette in Betracht kommen, also von etwa 1595 bis 1609, in London abgespielt hat, darüber kann es doch keine geteilten Meinungen geben. Auch sträubt man sich wohl mit Recht, diese grandiosen Sonette als das Ergebnis einiger amouröser Exkursionen oder gelegentlicher Nächtigungen auf dem gewiss nur sehr sporadischen Hin- oder Herweg von London nach Stratford anzusehen. In zumindest vier Gedichten der Sammlung ist die recht schmerzliche Rede davon, dass sich Freund und Freundin des Dichters zu einem Liebespaar vereinigen. An anderer Stelle kommt ein zweiter Dichter ins Spiel, dessen hohes Talent von Shakespeare neidvoll anerkannt wird, dessen Identität aber den Lesern und Forschern wiederum Anlass zu neuen Spekulationen gibt. Der hoch renommierte Homerübersetzer George Chapman ist hier der Favorit der Rätselrater. Ich selbst wage keinen Namen zu nennen. Wer immer es gewesen sein mag, wenn jedoch Shakespeare den Rivalen als einen „besseren Geist“ bezeichnet, muss man ihm widersprechen. Denn bessere Dichtungen, als die, die er uns mit den schönsten seiner Sonette geschenkt hat, hat vor ihm und nach ihm kaum je ein anderer geschrieben. Dennoch sei es an dieser Stelle nicht verschwiegen, dass keines der kleinsten Rätsel, das uns diese Sammlung von 154 Kostbarkeiten bietet, darin besteht, dass sie neben Kronjuwelen des Genies auch einige Handwerksarbeiten geringeren Wertes enthält. Da sind zum Beispiel drei Gedichte zu nennen, die man nur mit gutem Willen überhaupt als Sonette bezeichnen kann. Wenn das Shakespeare’sche Sonett – im Gegensatz zur von Petrarca begründeten italienischen Tradition, die zwei Vierzeiler gefolgt von zwei Dreizeilern fordert – durch drei kreuzweise gereimte Vierzeiler und einen paarweise gereimten Zweizeiler gebildet wird, so findet man in den Gedichten Nr. 99 und 126 statt der orthodoxen vierzehn einmal fünfzehn und einmal dreizehn Zeilen. Auch sind die Verse von Nr. 126 allesamt paarweise und nicht über Kreuz gereimt. Es ergibt sich dadurch nicht nur eine veränderte Form, sondern auch ein anderer Fluss der Gedanken, und auch die kraftvoll zusammenfassende Wirkung der beiden abschließenden Zeilen, des sogenannten heroic couple, wird dadurch gemindert. Auch wenn im 137

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Sonett Nr. 145 aus den traditionellen fünffüßigen Jamben mit einem Mal vierfüßige werden, stellt sich Verwunderung ein. Mögen dies nur formelle Kriterien bleiben, so fallen die qualitativen doch stärker ins Gewicht. Durch die allzu häufige Wiederholung ein und desselben Themas in den ersten Gedichten und die überraschend konventionelle Sprache und Imagination ausgerechnet der beiden letzten Gedichte wird noch einmal die Vermutung bestätigt, dass der Autor an der Edition seiner Verse nicht beteiligt gewesen sein konnte. Dies ist umso wahrscheinlicher, als auch die vorangestellte Widmung des Buches nicht wie bei früheren Publikationen von seiner, sondern eingestandenermaßen von der Hand des Verlegers stammt. Damit kommen wir zu den Zeilen, deren Entzifferung nicht allein den fremdsprachigen Übersetzern, sondern auch den englischen Forschern seit jeher die größten Probleme bereitet hat. Man wird mir verzeihen, wenn ich nicht alle Deutungsversuche dieser dem Band vorangesetzten Widmung kommentiere, zumal ich glaube, dass die angerichteten Verwirrungen um Shakespeares Leben und Werk ohnehin größer sind, als dies die so zahlreich bekannten Fakten rechtfertigen. Ich habe hier wie in allen anderen Belangen einer wort- und sinngetreuen Übersetzung der überlieferten Texte für linguistische Spitzfindigkeiten keinen Raum gelassen und eine deutsche Version der ominösen Zeilen angeboten, die keine neuen Fragen aufwirft, sondern die vorgefundenen nach bestem Wissen zu beantworten sucht. Dass der Unterzeichner T.T. der Londoner Buchhändler und Verleger Thomas Thorpe war, wurde inzwischen mehrfach beglaubigt. Ich sehe keinen Anlass, daran zu zweifeln. Dass er mit der Bezeichnung only begetter den Inspirator der nachfolgenden Verse – und nicht, wie etwa der verehrte W. H. Auden annimmt, den Übergeber oder Besorger des Manuskripts – meint, wage ich zu behaupten; denn wie sonst käme der Empfänger und Herausgeber Thorpe dazu, diesem Manne den kostbaren Band mit den persönlichsten Bekenntnissen unseres unsterblichen Dichters (by our ever-living poet) zu widmen? Warum Thorpe den Herrn Grafen nicht mit My Lord anredet, sondern mit Mr. W. H., das fragt nur einer, der nicht anerkennen will, dass der vom Inhalt des Werkes so persönlich betroffene Anreger und Widmungsträger dieser Sonette ungenannt bleiben wollte. Eingeweihten war zu Lebzeiten des Dichters das, was uns heute in Verwirrung bringt, ohnehin kein Geheimnis. Lassen wir nun aber, nachdem hiervon das Nötigste gesagt wurde, die historischen Betrachtungen beiseite und öffnen wir die Sinne dem nie en138

shakespeares sonette

den wollenden Zauber unseres Dichters. Er hat, wie selten einer vor ihm, zu Lebzeiten schon für unsterblich gegolten und hat die Aureole und die Bürde seines Ruhms mit Stolz und auch mit Demut getragen. Davon und von den Himmel- und Höllenfahrten seiner Liebe künden diese Gedichte. Die besten unter ihnen stehen seinen dramatischen Meisterwerken nicht nach an Tiefe der Empfindung und Gewalt der Sprache. In manchen Versen fühlt man sich von derselben herz- und geistbezwingenden Kraft angerührt, die auch im „Sommernachtstraum“, in „Was Ihr wollt“, im „Hamlet“ oder im „König Lear“ waltet. Wenn es mir gelungen sein sollte, auch nur einen Abglanz davon in „mein geliebtes Deutsch zu übertragen“, so ist die Mühe einer Arbeit, die mich über mehrere Jahrzehnte begleitet hat, reichlich belohnt.

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von der kunst der darstellung auf dem elisabethani schen theater

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ut erforscht und beschrieben wurde die architektonische Gestalt der sogenannten Shakespearebühne, oft diskutiert auch wurden die Möglichkeiten einer szenischen Realisation der oft doch sehr unterschiedlichen Theaterstücke der Autoren, unter denen Shakespeare und Marlowe nur die berühmtesten waren, innerhalb dieses unveränderlich festgelegten äußeren Rahmens, der sein Auslangen findet mit den Gegebenheiten der Architektur des Bühnenaufbaus. Erstaunlich weniges aber, das über Lob oder Tadel hinausgeht, findet sich an Berichten über die Kunst der Schauspieler. Dies ist umso verwunderlicher, als doch der größte aller Bühnenerschütterer – „Shakescene“ wurde er spöttisch genannt von seinem verbitterten Konkurrenten Robert Greene – nicht nur als Dichter sich hervortat, sondern dass er vor allem als Schauspieler der höchst angesehenen Truppe des Lord Chamberlain sein Brot verdiente und so vieles dazu, dass er sich am Ende als Teilhaber des „Globe-Theatre“ einkaufen und wohlhabend zur Ruhe setzen konnte. Die folgenden Zeilen werden sich deshalb um einen kleinen Einblick bemühen in die Anforderungen, die die Inszenierung der Stücke und die Darstellung der Rollen an die Dichter und Schauspieler des Elisabethanischen Theaters gestellt haben. Und sie werden einige Anmerkungen zur Bühnenmusik, zu den Kostümen, Requisiten und Masken machen, soweit diese den Akteuren bei ihren Aufgaben hilfreich und dienlich waren. Wenn hier summarisch vom Elisabethanischen Theater gesprochen wird, so wird man darunter – mehr einer allgemein gewordenen Usance als der Logik folgend – auch noch die ersten Jahre des Theaters während der Herrschaft Jakobs I. verstehen, hinreichend bis etwa 1613, dem Jahre, in dem Shakespeare sich nach Stratford upon Avon zurückzog. Dennoch muss darauf verwiesen werden, dass gerade nach dem Wechsel auf dem Thron im Jahre 1603 von einer protestantisch-anglikanischen Königin zu einem katholischen König viele der großen Tragödien Shakespeares entstanden, von „Othello“ und „Macbeth“ bis zum „König Lear“, von „Troilus und Cressida“ und „Antonius und Cleopatra“ bis zu „Coriolan“. 140

elisabethanisches theater

Die Londoner Theater und ihr Publikum Begonnen sei nun die Untersuchung mit dem Verweis auf die allseits bekannte Tatsache, dass es um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert elf öffentliche Theater in London gab, die bekanntesten und größten waren das „Theatre“, das „Curtain“, das „Swan-“, das „Blackfriars-“, das „Hope-“, das „Globe-“ und das „Rose-Theatre“, die beiden letzteren auf der südlichen Seite der Themse. Auf deren Architektur soll hier nur kurz eingegangen werden. Darüber ist anderswo viel zu lesen. Überdies hat man seit der Rekonstruktion des „GlobeTheatre“ davon auch ein anschauliches Beispiel. Die Gebäude waren allesamt aus Holz gezimmert, offenbar damit man sie rasch wieder abreißen und andernorts wieder aufrichten konnte. Die senkrecht übereinander befindlichen Zuschauerränge schlossen in meist kreisförmigem Rund auf der dem Eingang gegenüberliegenden Seite eine erhöhte und offene Bühne ein. Der ebene Boden des Parterres war als Stehplatz vorgesehen und enthielt keine Bänke oder andere Sitzgelegenheiten. Man weiß, dass dieser Boden rasch geräumt werden musste, um an manchen Abenden Tierhatzen abhalten zu können. Bei denen wurden gefesselte Stiere und Bären durch Hundebisse und Peitschenhiebe zu Tode geschunden. Das Publikum zu solchen Anlässen dürfte in der Mehrzahl nicht sehr verschieden gewesen sein von dem der Schauspielaufführungen. Von solch drastischen Vergnügungen konnte das gemeine Volk ebenso wie die mittlere und niedere Aristokratie nur abgelenkt werden durch eine der zahlreichen Hinrichtungen, bei denen auf öffentlichen Plätzen die Verurteilten enthauptet und ihre Köpfe auf Stangen gespießt und zur Schau gestellt wurden. Daraus lässt sich schließen, dass man auch nicht gerade zimperlich reagierte, wenn es galt, auf der Bühne Blut oder andere kostbare Säfte zu vergießen. Bekannt ist weiterhin, dass alle Vorstellungen unter offenem Himmel am hellen Nachmittag stattfanden und dass dieser Umstand kein zusätzliches Licht auf der Bühne ermöglichte oder auch nur wünschenswert machte. Dies wäre, da es nur durch brennende Kerzen oder Fackeln hätte erbracht werden können, wegen der ganz aus Holz gefügten Bauten und des dichten Gedränges der Zuschauer, von denen die Vornehmsten sogar das Recht hatten, seitlich auf der Bühne Platz zu nehmen, auch keineswegs ratsam gewesen. Dennoch ist mit dem Titelblatt der gedruckten Ausgabe von Thomas Kyds bekanntestem Werk, „Spanish Tragedy“, die Illustration einer Szene erhalten, auf welcher man den Darsteller des Vaters Hieronymo mit einer Fackel in der Hand bei der Entdeckung seines erhängten 141

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Sohnes sieht. Dieses Requisit diente offenbar dazu, die Illusion von nächtlichem Dunkel zu erzeugen. Die Kyd’sche Tragödie wurde jedoch kaum wegen Effekten wie brennenden oder doch zumindest rauchenden Fackeln immer wieder gefordert und gegeben, sondern vielmehr weil darin eine Enthauptung auf offener Bühne gezeigt werden konnte. Auch sonst hat unter anderem das Gedränge auf den billigen Stehplätzen im Parterre und die Abwesenheit von Frauen auf der Bühne die genaue Beachtung von Sitte und Anstand nicht eben begünstigt. Und so liegt die Vermutung nicht weit, dass bei manchen der derberen Szenen vor allem in den Komödien zum Gaudium des Publikums auch einmal kräftig auf den Tisch oder den Bretterboden der Bühne gehauen wurde. Zweifellos hat Shakespeares Truppe nicht allein im „Theatre“ und „Globe“ vor zahlendem Publikum aller Bevölkerungsschichten gespielt, sondern nicht selten auch auf besonderen Wunsch der Königin oder des Königs in einem der Säle des Königspalastes. So etwa ist von einer Aufführung des „Othello“ in der Banketting-Hall in Westminster vor König Jakob I. im Jahre 1604 Nachricht geblieben. Und man berichtet jedenfalls, dass Elisabeth I., die das öffentliche Theater wohl niemals besucht hat, sich nach einer Aufführung am Hofe über die Figur des Falstaff in „Heinrich IV.“ so sehr amüsiert habe, dass sie den Wunsch geäußert haben soll, ein eigenes Werk um die Abenteuer des großmäuligen Ritters zu sehen. Dass Shakespeare die Handlung des erbetenen und in nur drei Wochen vollendeten Werkes dann nach Windsor und seinen letzten Akt sogar in den königlichen Park verlegte, ist wohl als Verneigung eines galanten Hofmannes vor der Auftraggeberin zu verstehen. Und da die Schauspieler gelegentlich auch nach Windsor gebeten wurden, lässt sich vermuten, dass gerade dieses Werk auch dort im Schloss aufgeführt wurde. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Scherze des Falstaff bereits in „Heinrich IV.“ nicht eben zu den vornehmsten gehörten und dass die Königin und mit ihr der Hofstaat an solch derber Volkstümlichkeit offenbar keinen Anstoß nahm. Aus dem Umstand, dass an so verschiedenen Schauplätzen und für so verschiedenes Publikum dieselben Stücke von denselben Schauspielern gespielt wurden, lässt sich erkennen, dass die Autoren sich bemühen mussten, sehr unterschiedlichen Möglichkeiten und Wünschen gerecht zu werden. Das hat sie letztlich dazu gezwungen ein universales, allgemein menschliches Theater zu schaffen. Offenbar taten sie dies mit solchem Erfolg, dass die vornehmsten Adeligen des Landes und endlich auch der König Jakob persönlich die besten Schauspieltruppen unter ihren persönlichen Schutz nahmen und sie unter ih142

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rem Namen auftreten ließen. Diese dankten ihnen durch die Darstellung von historischen Dramen, in denen die Könige Englands und Schottlands und mit ihnen die Träger der vornehmsten Namen die Bühne betraten. Andererseits wurde auch dem Volk der städtischen Händler und Handwerker vor Augen geführt, dass diese Herren und Damen Menschen waren wie alle anderen auch. Die Tatsache, dass ausgerechnet in der Truppe des Lord Chamberlain William Herbert der Chamberlain des dänischen Hofes, Polonius, von Hamlet als Fischhändler verspottet und als Vertrauter des Thronräubers und heimlicher Lauscher durch einen Vorhang hindurch erstochen wird, zeigt ebenso wenig Rücksichtnahme in der Darstellung hoher Herrschaften wie die körperliche und moralische Charakterisierung eines Königs wie Richard III., um nur wenige von vielen Beispielen zu nennen. Schonung wurde weder der Niedertracht eines Handlangers noch eines hochmögenden Anstifters gewährt. So lässt auch Marlowe seinen König Bajazeth im Käfig über die Bühne schleppen. Indessen wird man sich im öffentlichen Theater wie im königlichen Palast bemüht haben, die gesitteten Personen zumindest in Kleidung, Haltung und Gestikulation so darzustellen, wie es den höfischen Umgangsformen der Epoche entsprach. Andernfalls hätten die ersten Aristokraten des Königreichs und der König Jakob selbst es sich kaum gefallen lassen, dass die Schauspieltruppen sich mit ihren Titeln schmückten. Für eine Beschneidung der derbsten Auswüchse sorgte im Übrigen auch die Zensurbehörde, bei der die Manuskripte vor der ersten Aufführung eingereicht werden mussten, und die, bei aller Liberalität, auch einmal, wie etwa in dem von mehreren Autoren – darunter auch Shakespeare – verfassten „Sir Thomas More“ Änderungen anzuordnen befugt war. Es gab während des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts am englischen Hofe und in den Adelspalästen jedoch eine andere, weit noblere Unterhaltung als die gesprochenen Schauspiele, nämlich die sogenannten masques für professionelle Sänger, die durch Elisabeths Vater, Heinrich VIII., nach dem Vorbild der italienischen mascherate eingeführt worden waren. Es waren dies reich ausgestattete, szenische Darstellungen mit Musik und Gesang, die ohne dramatische Handlung meist nur in kurzer Dauer mythologische oder märchenhafte Bilder darboten. Diese wurden gelegentlich als Höhepunkt eines Festes in einem Ballsaal gezeigt oder auch in die gesprochene Handlung eines Schauspiels eingefügt, um eine darin dargestellte Feier zu krönen. Die bekanntesten Musiker der Epoche wie Byrd, Lawes, Cooper, Locke und Gibbons haben solche masques vertont, und auch die angesehensten Dichter wie John 143

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Milton und Ben Jonson haben die vermutlich lukrative Gelegenheit genutzt und dafür Verse geschrieben. Wichtiger aber als Dichtung und Musik waren bei den Aufführungen der masques die meist sehr kostbaren Kostüme und die reiche Dekoration der Szene. Der berühmte, in Italien ausgebildete Architekt Inigo Jones etwa hat dafür einige seiner prunkvollsten Ausstattungen geschaffen. Man kann in der Hochzeitsszene von Shakespeares „Sturm“ den Text zu einer solchen masque eingefügt finden. Dass der Dichter diese Darbietung jedoch durch den Auftritt des Zauberers Prospero unterbrechen lässt, zeigt uns, was wir ohnehin wissen: dass ihm mehr an dramatischer Wirkung als an höfischer Repräsentation gelegen war. Wenn nun die Tierhatzen und Hinrichtungen in den Theatern auf der einen Seite das Spektrum öffentlicher Darbietungen begrenzten, so begrenzten die masques in den Ballsälen dieses auf der anderen. Und man kann sich denken, dass Autoren und Schauspieler sehr genau wussten, dass sie um ihrer Kunst willen von beiden nur nehmen durften, was dringend gefordert oder gnädig geduldet wurde, im Übrigen aber eine würdige und selbstbewusste Distanz für die Vollendung ihrer eignen Kunst zu wahren hatten.

Die Bühne Da nicht nur die Akteure, sondern auch die Zuschauer im Rund des Theaters im hellen Tageslicht saßen, war der ästhetische Abstand zur Bühne nur durch eine gewisse stilisierte Übertreibung zu sichern, wenn man nicht befürchten wollte, dass, zumal in der Komödie, einige der nächststehenden Besucher oder der adeligen Herrschaften auf den seitlichen Bühnensitzen ungebeten in das Geschehen eingriffen. Dass solches dennoch mehr als einmal, meist durch betrunkene Gründlinge, geschah, ließ sich nicht immer verhindern. Die dramatische Stimmung wurde auf der antiillusionistischen Bühne allein vom gesprochenen Wort, von der Musik, der Bewegung, der Mimik und der Gebärde der Akteure getragen. Von dem, was wir heute Beleuchtung und Bühnenbild nennen, war dort und damals nicht die Rede. Dies hat sich sowohl auf die Sprache der Dichter als auch auf die Rolle der Musik und endlich auch auf die Diktion und Gestik der Interpreten ausgewirkt. Denn nur durch diese beschränkten Mittel konnte die Fantasie der Zuschauer erregt und geleitet werden.

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Auftritte zur Spielfläche wurden, wenn man von den oberen Stockwerken absieht, nur durch das große Tor in der Mitte und die kleineren Türen an beiden Seiten eröffnet. Wenn man auf einer Abbildung des „Swan-Theatre“ zwei Tore unter der Empore erkennen kann, so bildete dies wohl eine architektonische Ausnahme. Größere Versatzstücke oder gar Treppen und Mauern konnten nicht auf die Bühne gestellt werden. Von wo auch hätte man sie bei den gegebenen Raumverhältnissen herbeibringen oder wohin fortschaffen sollen? Und so fanden außer Tischen, Stühlen, Betten, Bahren, Strohlagern, Masten, Fahnen oder Thronen, außer Paravants, Truhen, Körben oder Fässern kaum andere Dinge als die unentbehrlichsten Handrequisiten wie Tafelgeschirr, Flaschen, Lauten, Giftphiolen, Waffen, Geldbeutel, Briefe, Ringe, Schmuckkästchen oder Taschentücher Verwendung. Die Diener, die etwa Tische und Stühle herbeitrugen, mussten auch die Schrifttafeln anbringen, auf denen zu lesen war, was man sich als Schauplatz eben vorzustellen hatte, oder sie mussten Straßen und Tore durch Spaliere versinnbildlichen. In den Königsdramen wurden die Mauerzinnen belagerter Städte auf die Empore verlegt. Schiffe, die vorüberfuhren, wurden dargestellt durch Bewegungen der Darsteller auf der unteren oder oberen Bühnenebene. Im „Sommernachtstraum“ zeigen uns die Rüpel recht drastisch, welche Schwierigkeit bei der Darstellung einer Mauer zu meistern war. Und so konnten Personen, die sich verbergen wollten, nur entweder hinter Thronsesseln, Paravents oder hinter einer der beiden schmalen Säulen, welche die zentrale Empore trugen, eine mehr angedeutete als tatsächliche Deckung suchen. Dies setzte bei den in lebhaften Farben gehaltenen und oft sehr weit ausladenden Kostümen gewiss ein grundsätzliches Einverständnis mit dem Publikum über die Spielregeln voraus. Auch wurde, wie man auf Abbildungen sieht und wie im Text des „Hamlet“ zu lesen steht, gelegentlich ein Vorhang oder Teppich zwischen den Säulen angebracht, etwa um Othello und Jago vor Cassius und Desdemona oder vor Hamlet und Ophelia den König Claudius und seinen Chamberlain Polonius zu verbergen. Wo man sich die Themse zu denken hatte, in die der Ritter Falstaff in den „Lustigen Weibern von Windsor“ aus seinem Weidenkorb gekippt wurde, kann man nur vermuten. Man möchte hoffen, dass er in einer Versenkung verschwand und nicht einfach in den Zuschauerraum geworfen wurde und sich unter dem Grölen der Stehplatzbesucher, der sogenannten groundlings, davonstehlen musste. Dass auch sonst hin und wieder eine Versenkung geöffnet wurde, erfahren wir in der Szene an Ophelias Grab. Ein unter solchen Bedingungen mit geringsten Mitteln und 145

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ohne jeden Aufenthalt zu bewerkstelligender Schauplatzwechsel ermöglichte erst die Form der kurzen, rasch aufeinanderfolgenden und wohl auch in einander übergehenden Szenen, die die Dramaturgie Shakespeares im Gegensatz zu den klassischen aristotelischen Regeln charakterisiert. Da hierdurch die Zeit gerafft und die Bewegung gesteigert erschien, wurden dramatische Wirkungen erzielt, die in der Folge von Autoren und Regisseuren auf den unterschiedlichsten Bühnen nachgeahmt wurden.

Die Dichter und ihre Theaterstücke An die sechshundert Stücke aus den Regierungszeiten Elisabeths I. und Jakobs I. sind uns erhalten. Der glückliche Umstand verdankt sich der Tatsache, dass die erfolgreicheren oft im Druck erschienen, manche davon ohne Zutun des Autors und darum nicht immer in korrekter Gestalt. Man rechnet jedoch, dass es insgesamt gegen 1600 Komödien und Tragödien waren, die in dieser Epoche von etwas mehr als dreißig Jahren geschrieben wurden und zur Aufführung kamen. Offenbar wurden auch erfolgreiche Werke immer wieder von Neugier weckenden neuen Stücken verdrängt. Umso mehr wundert man sich, wenn man heute noch der Meinung begegnet, als wäre Shakespeare eine monolithische Erscheinung in einem Feld von unerheblichen Komparsen gewesen. Wahr ist vielmehr, dass um die Wende zum 17. Jahrhundert die Konkurrenz um die Gunst des Londoner Publikums groß und heftig war, dass auch Christopher Marlowe und Ben Jonson hervorragende Autoren waren und einige der anderen wie Thomas Kyd, Robert Greene, John Heminges, Henry Chettle, Thomas Dekker, Francis Beaumont und John Fletcher viel Talent und Routine zeigten, sich jedoch oftmals im Wettstreit dazu verführen ließen, mit fraglichen Mitteln, groben Späßen, Clownerien, Grausamkeiten und Unflätigkeiten Sensation zu machen. Dass selbst Shakespeare davon nicht ganz frei war, zeigen uns manche seiner frühen Stücke, unter anderen „Titus Andronicus“. Neben den Werken der englischen Autoren wurden auch Theaterstücke aus anderen Ländern meist in recht hemdsärmeligen Bearbeitungen ins Treffen geführt. Auch Vorbilder aus der römischen Antike, wie etwa im Fall der „Komödie der Irrungen“, die den „Menaechmi“ des Plautus folgt, wurden für freie Neubearbeitungen genutzt. Unübersehbar ist in vielen der elisabethanischen Komödien der Einfluss der italienischen commedia dell’arte. Am deutlichsten zeigt 146

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er sich in Ben Jonsons „Volpone“, wenn dort alle Personen italienische Tiernamen tragen und ihre Charaktere auf eine alle anderen Regungen verdrängende Eigenschaft reduziert sind. Aber auch vielen Komödien Shakespeares, etwa „Der Widerspenstigen Zähmung“, „Viel Lärm um nichts“ oder den „beiden Veronesern“ ist die italienische Herkunft des Sujets noch klar abzulesen. Italienische Schauspieltruppen wanderten durch ganz Europa und gelangten um 1570 auch bis nach England. Da bei solchen Reisen nur Kostüme und kleinere Requisiten mitgenommen werden konnten, wurde auch überall, wo man sie nachzuahmen suchte, auf alles größere Beiwerk verzichtet. Dass trotz solcher Beschränkung gerade in dieser Epoche nicht nur in England, sondern auch in Spanien die besten Lustspiele entstanden, lässt wieder einmal erkennen, was an diesen das Wesentliche ist: das Stück, der Schauspieler im Kostüm und am Rande, aber nie zu vergessen, immer auch die Musik.

Die Musik Die Musik im elisabethanischen Schauspiel hatte nicht allein künstlerische Funktion, sondern erfüllte oftmals Aufgaben, die erst ein Jahrhundert später auf den Guckkastenbühnen durch neu erfundene Mittel geleistet wurden. Da auf der Shakespeare-Bühne weder ein Hauptvorhang vorhanden noch das Licht zu verändern war, mussten die einzelnen Akte durch kurze Musikeinlagen voneinander getrennt werden. Auch bei besonderen oder gar übernatürlichen Ereignissen oder Erscheinungen musste die Musik den eigentlichen Zauber bewirken. Als Beispiel sei die Verwandlung des Marmorbildes in die leibhaftige Hermione im letzten Bild des „Wintermärchens“ genannt. „Music awake her, strike!“ ruft Paulina aus, und die Musik vollendet das Wunder, das die Liebe erzwungen hat. Man kann vermuten, dass gerade in den späten Romanzen Shakespeares, wie etwa in der Hochzeitsszene des „Sturm“, die Musik eine immer bedeutsamere Rolle spielte. Und auch wenn die Königsdramen meist durch ein gemeinsames Gebet für die Monarchin oder den Monarchen geendigt wurden, so wurde kaum eine Komödie anders beschlossen als durch das Tanzen und Singen einer Jig, die oft von einer der lustigen Personen, öfter aber noch von allen Mitwirkenden gemeinsam ausgeführt wurde. Die Jig ist vermutlich keltischen Ursprungs und wird auch heute in Schottland noch getanzt. Man muss sie sich als sehr lebhaften Gruppentanz vorstellen, bei dem in 147

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schnellen Schritten im Dreiviertel- oder Sechsachteltakt abwechselnd auf den Boden gestampft oder in die Hände geklatscht wird. Gelegentlich konnte sich dabei auch einmal ein einzelner Tänzer solistisch hervortun. Die uns heute besser bekannte französische Gigue stammt von der englischen oder schottischen Jig und hat sich seither durch ihre Aufnahme in die Lautenmusik sehr gewandelt – so ist von ihrer ursprünglichen Derbheit kaum mehr etwas zu erkennen. Dass auch eine Aufführung am 21. September 1599 von Shakespeares Tragödie „Julius Caesar“ durch einen Tanz abgeschlossen wurde, will uns heute seltsam erscheinen; wenn aber der Schweizer Thomas Platter, der diese Vorstellung besucht hat, schreibt, dass sich die Tänzer außerordentlich graziös in Paaren bewegten, so werden wir doch eher geneigt ihm zu glauben. Dass mehr noch als solche Tänze die zahlreich eingestreuten Lieder der Musik zu großer Bedeutung verhalfen, lässt sich unter anderem aus den Texten von Shakespeares Dramen erweisen. Wir finden darin die erstaunliche Zahl von zweiundneunzig Liedern, die offenbar alle von den Schauspielern und nicht von ausgebildeten Sängern gesungen wurden, immer wieder unterbrochen durch Kommentare oder handlungsbezogene Anmerkungen, wovon uns Desdemonas Weidenlied ein sehr berührendes Beispiel gibt. Den professionellen Instrumentalisten war auf der Bühne von Shakespeares „Globe-Theatre“ meist die balkonartige Empore über dem mittleren Haupteingang zugewiesen. Von dort aus eröffneten sie durch einen dreimaligen Tusch (flourish genannt) die Aufführung des Nachmittags. In den Königsdramen konnten Trompeten und Trommeln bemüht werden, um Auftritte hoher Persönlichkeiten anzukündigen oder Kämpfe im Hintergrund akustisch zu schildern. In lyrischen Szenen durften die Musiker auch einmal herab auf die Bühne kommen, um etwa mit einer Laute oder Theorbe die singenden Schauspieler zu begleiten. Auch trat die Truppe der Schauspieler im „Hamlet“ gemeinsam mit Musikern auf, die auf einer Art von Oboen oder Schalmeien (auf Englisch shawm genannt) spielten. Die hatten die zu Beginn ihrer Darbietung vorgeschriebene kleine Pantomime, in der die Mordtat vorgeführt wird, mit ihrem Spiel zu untermalen. Solche sogenannten „dumb shows“ unterbrachen übrigens in zahlreichen, ernsten wie heiteren, Stücken die Dialoge und boten vor allem den Clowns Gelegenheit zu wortlosen Scherzen. Clowns oder Narren traten nicht selten in Begleitung eines Trommlers auf, wenn sie nicht selbst versuchten, auf einem solchen am Gürtel hängenden Instrumente zu spielen. Es gibt sogar eine Darstellung, die Richard Tarleton, einen der ersten Komö148

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dianten in Shakespeares Truppe, sowohl mit einer Trommel als auch mit einer Blockflöte zeigt. Tabor wurde das eine, pipe das andere Instrument genannt. Gelegentlich vernahm man ein Horn hinter der Szene, um einen Boten anzukünden. Bei den Schlusstänzen dann durften gewiss die bagpipe, der Dudelsack, und die fiddle, die Fiedel, nicht fehlen.

Kostüme und Masken Was nun die Ausdrucksmöglichkeiten der Gänge und Gebärden anlangt, sollte man sich diese nicht viel anders als die Kleidung der Zeit vom Übergang der Mode der Renaissance zu der des Barock vorstellen. Wenn man die zeitgenössischen Darstellungen betrachtet, so kann man die Grazie und Eleganz der höfischen Londoner Gesellschaft nur bewundern. Die vornehmen englischen Herren trugen ab der Mitte des 16. Jahrhunderts ein wesentlich prunkhafteres Kostüm als in den vorhergehenden Zeiten. Sie trugen „lange Strümpfe, kurz gepuffte Hosen“ wie es in Heinrich VIII. heißt, eng anliegende kurze Jacken mit gestickten Ärmeln mit kleinen Puffen und darin eingelegten farbigen Stoffstreifen. Außer Haus unerlässlich war ein meist federgeschmückter Hut und ein an der Schulter befestigter Umhang in Armlänge, der keinen wärmenden oder schützenden, sondern nur einen dekorativen Wert besaß. Wenn nicht, wie etwa im Falle des um seinen Vater trauernden Dänenprinzen, zeremonielles Schwarz getragen werden musste, scheute man sonst, zumal in den Komödien, nicht zurück vor lebhaften Farben. Die Damen trugen eng anliegende, tief dekolletierte Korsagen und weit abstehende Reifröcke. Auch deren Ärmel wurden betont durch eine Ausschmückung durch Puffen und Schlitze. Als Halsschmuck dienten weite flämische oder hohe spanische Krausen, aber auch der riesige Stuartkragen. Aus der Renaissancezeit blieb eine kleine, flache Mütze im Gebrauch erhalten. Eben dieselben Alltags- und Festkostüme wie auch die in den Kämpfen der königlichen Truppen gebräuchlichen Helme und Brustpanzer wurden auf dem Theater getragen. In den Stücken mit antiken Sujets bemühte man sich, auch wenn man sich sonst um historische Treue wenig bekümmerte, zumindest bei den Herren um römische Waffenröcke und Togen oder um etwas dem griechischen Peplos oder der Chlamys Vergleichbares. Dies zeigt uns unter anderem die Zeichnung einer Szene aus dem „Titus Andronicus“, auf der jedoch die 149

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beiden links am Rande abgebildeten Soldaten wiederum in Waffen und Harnischen aus der Tudorzeit erscheinen. Die betonten Ärmel der Frauengewänder veranlassten gewiss eine größere, auftrumpfendere Armbewegung, als sie in unseren heutigen Kleidern üblich ist. Und Shakespeare selbst ist es, der dies bestätigt, indem er seinen Hamlet hierin Mäßigung fordern lässt. Die Reifröcke wiederum zwangen die Knaben oder Männer, die sich in ihnen verbargen, zu zierlichen Schritten und anmutiger Haltung zumal beim Umwenden und Niedersetzen, wobei stets die Hand die Fülle des Rockes zu führen hatte. Dass auch fliegende Rockschöße einen Spaßmacher wie Robert Armin nicht am Tanzen behindern konnten, zeigt uns ein schlichter Holzschnitt, auf dem der bärtige Schauspieler mit Barrett, Wams und knöchellangem Rock dargestellt ist, die Arme in die Seiten gestemmt, in einer Pose, die man als einen übertrieben zierlichen Tanzschritt deuten kann. Welch großer Wert allgemein auf das Kostüm gelegt wurde, ersehen wir aus einem Eintrag des Prinzipals des „Hope-Theatre“, Philipp Henslowe, der eine Bezahlung von 16 Pfund und 13 Shilling für ein schwarzes Frauenkostüm ausweist. Ein beachtlicher Teil der Kostüme wurde jedoch nicht eigens genäht, sondern von Dienern hoher Herrschaften für ein geringes Entgelt erworben. Die Diener nämlich erhielten, wie unser schon erwähnter Zeuge Thomas Platter berichtet, des Öfteren die wertvollsten Kostüme von ihrer Herrschaft testamentarisch vermacht und verkauften sie dann, da sie diese selbst nicht tragen konnten, an die Theatergruppen. Durch ein solches Kostüm konnte in jener Zeit, wenn schon nicht die Epoche der Handlung, so doch der gesellschaftliche Stand der Personen am augenscheinlichsten verdeutlicht werden. Eine ähnliche Funktion erfüllten Schmuck und Kronen, die wohl kaum aus dem Nachlass adeliger Herrschaften erworben werden konnten. Shakespeare schreibt in einem seiner Sonette, dass die Trägerin für den Wert eines Ringes zu bürgen habe und nicht die Echtheit eines Ringes für den Rang seiner Trägerin. Wenn ein König im Spiel stets mit einer Krone auf dem Haupt erschien, so wird er sie demnach wohl eher der Requisitentruhe entnommen haben als der Versteigerung eines adligen Hausstands oder dem Laden eines Goldschmieds. Dennoch war für einen Bühnenherrscher, wenn ihm die Krone abgefordert oder geraubt wurde, wie in „Richard II.“ oder in „Heinrich IV.“, seine Herrschaft sinnbildlich verloren. Das wenigste lässt sich sagen von Perücken und Masken, da hiervon weder in den kargen Regieanweisungen noch in den gesprochenen Dialogen viel zu 150

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lesen ist. Immerhin kann man vermuten, dass die Darsteller etwa des Othello oder des Caliban nicht ganz ohne Schminke an Gesicht und Händen oder aber in einer Maske aufgetreten sein müssen, dass der Junker Bleichenwang seine fahlen Züge der Kreide und Bardolf seine rote Nase dem Rotstift verdankte und dass vermutlich die Narren außer der mehrfach erwähnten Kappe auch das Gesicht bunt zu schminken hatten, wenn sie nicht gar wie in der commedia dell’arte Halbmasken trugen. Sicherlich eine Maske trugen die Juden sowohl bei Marlowe als auch bei Shakespeare. Man berichtet von einer daran ausgebildeten großen Nase und einem roten Bart. Auch dem jungen Darsteller der Thisbe, Flaut, dem Bälgeflicker, wird angeraten, seinen sprossenden Bart mit einer Frauenmaske zu bedecken. Die künstlichsten Mittel aber wurden gewiss für die Verwandlung der jungen Männer in Frauen verwendet. Man kann da außer an Perücken und Schleier auch an Lippenstifte, Puder und Wangenrot denken. Die Hexen trugen Kapuzen, wie man einem alten Kostümverzeichnis entnehmen kann. Manches wissen wir, aber es bleibt uns doch vieles zu raten.

Die Frauen im Theater Eine der bemerkenswertesten Eigentümlichkeiten des Elisabethanischen Theaters war die Tatsache, dass nicht nur die komischen, sondern auch die anmutigen, die ernsten oder gar die tragischen Frauenrollen von Knaben oder jungen Männern gestaltet wurden. Dies war wohl auch im antiken Theater der Fall gewesen. Dort aber waren die Frauen auch auf den Rängen der Amphitheater nicht zugelassen worden. Im elisabethanisch-protestantischen und im jakobinisch-katholischen England aber hatten die Frauen sich den Zutritt zu den Theatern und anderen öffentlichen Veranstaltungen nicht länger verwehren lassen, voran die „geschminkten Damen“ und nach ihnen immer mehr auch die ungeschminkten, aber meist maskierten Bürgerinnen. Die Königin selbst betrat, wie schon erwähnt, zwar niemals eines der öffentlichen Theater, ließ aber oft und oft die Truppe des Chamberlains oder ihre eigene auf eines ihrer Schlösser befehlen, im Winter in London, im Sommer auf dem Lande. Eine Mitwirkung auf der Bühne jedoch wurde hier wie dort den Frauen verweigert. Man hat nicht nur Briefe darüber und Reiseberichte, man findet auch nicht einen einzigen Frauennamen in den erhaltenen Listen der Schauspielertruppen. Und so konnte ein reisender Engländer 151

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nicht genug darüber staunen, dass in Venedig die dort auftretenden Frauen ihre weiblichen Rollen um nichts schlechter darzustellen vermochten als ihre männlichen Kollegen in London. Dennoch fragt man sich auch heute noch, da man einiges an Travestitentheater gesehen hat, wie es gerade einem Shakespeare, dem bedeutendsten aller Gestalter von Frauenrollen, möglich gewesen sein konnte, so tief in die weibliche Seele zu blicken, ohne von Kunst und Gunst erfahrener Schauspielerinnen belehrt und begeistert zu werden. Es sind Vermutungen darüber angestellt worden, dass der junge Shakespeare, als er sich zum ersten Male einer Londoner Truppe anschloss, selbst die eine oder andere weibliche Rolle zu spielen hatte, ohne dass Beweise dafür genannt werden konnten. Die Theaterdichter halfen sich wohl ein wenig aus der Not, indem sie die Frauenrollen auf die unentbehrliche Anzahl reduzierten und etwa in den Nebenrollen fast nur männliche Diener, Landleute, Handwerker oder Soldaten auftreten ließen. Überdies nutzte man jede sich bietende Gelegenheit, den als Frau verkleideten jungen Mann in einer Hosenrolle wieder zurück in einen Mann zu verwandeln, wie dies etwa im „Kaufmann von Venedig“, in „Was Ihr wollt“ oder in „Wie es euch gefällt“ mit großer erotischer Raffinesse geschah. Auch war unter den Hexen im „Macbeth“ die eine oder andere kräftigere Tenor- oder gar Bassstimme sicher nicht ohne charakteristische Wirkung. Aber um eine Julia, eine Ophelia, Lady Macbeth, Desdemona oder Titania vorzustellen, waren doch andere, subtilere Mittel vonnöten. Hier war eine lange und einfühlsame Schulung und Übung gefordert, wie sie heute vielleicht nur noch das japanische No-Theater zu bieten vermag. Und von solcher Schulung finden wir auch Berichte, wenn wir ab etwa 1600 von Knabenschauspielertruppen hören, denen sogar die Auszeichnung gewährt wurde, vor der Königin aufzutreten. In dem Dialog Hamlets mit der wandernden Schauspielertruppe wird von der Konkurrenz gesprochen, die solche Knaben den Erwachsenen machten. Man weiß von einer Verpflichtung der Children of St. Paul’s, welche unter anderem von den Chamberlain’s men übernommen wurden, um bei den Schauspielen am Königshof mitzuwirken. Die geschulten halbwüchsigen Knaben wurden als sogenannte Lehrlinge jeweils von einem älteren Schauspieler als Tutor weitergebildet. Solche heranwachsenden jungen Männer gab es etwa ein halbes Dutzend an jedem Theater, und sie spezialisierten sich je nach Gestalt und Temperament für Liebhaberinnen, würdige Damen oder komische Rollen. Daneben aber kennt man etwa 152

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in Shakespeares Truppe den Namen eines Richard Robinson, der offenbar auch über das Jünglingsalter hinaus in Frauenrollen solche Glaubwürdigkeit erreichte, dass er in Berichten immer wieder lobend hervorgehoben wurde.

Die Spielleitung Die oberste Autorität im Verbund einer Theatertruppe wurde gewiss vom Patron ausgeübt, der meist auch identisch war mit dem Besitzer, wenn nicht des Hauses, so doch zumindest der meisten Kostüme, Spielutensilien und des Fundus an spielbaren Stücken. Dass er aber über die Auswahl der Stücke, der Besetzung und der Vorstellungstermine auch Einfluss auf die künstlerische Darbietung eines Werkes genommen hätte, davon ist nirgends etwas zu lesen. Bei den Aufführungen, vor allem der Tragödien, waren, wie etwa im „Hamlet“, oft bis zu fünfzig Personen am Bühnengeschehen beteiligt. Auch wenn nicht alle Darsteller gleichzeitig auftraten und manche Akteure mehr als nur eine Rolle zu übernehmen hatten, musste gewiss eine ordnende Hand eingreifen, um Kollisionen zu verhindern. Die Funktion eines Spielleiters jedoch wird auf keinem der überlieferten Personenverzeichnisse oder anderen Dokument ausgewiesen. Alles Nötige wird wohl stillschweigend vom Dichter, vom Theaterpatron oder von einem von Bühnenauftritten freigestellten Akteur veranlasst worden sein. Der jedoch blieb immer ungenannt und hat sich gewiss auch weiter kein großes Verdienst zugeschrieben. Die Spielfläche blieb immer die gleiche. Eine Beleuchtung war nicht vorgesehen. Die Wahl der Kostüme wurde in Absprache mit dem Autor weitgehend den Darstellern anheimgestellt. Was die sonstige szenische Realisation anlangt, so muss darauf verwiesen werden, dass von Shakespeares Stücken oder denen seiner Zeitgenossen kein einziges Manuskript oder Regiebuch erhalten ist, in welchem zu den Bewegungen und Gesten auf der Bühne genauere Angaben gemacht würden. Ein Soufflierbuch hat es vermutlich nie gegeben, da bei den baulichen Verhältnissen und den geringen Abständen zu den Zuschauern ohnehin kein Text hätte zugeflüstert werden können. Wir besitzen einzig ein Stück von Philipp Massinger, das aus der Zeit um 1640 stammt, in welchem den Beiträgen der Musik und anderer akustischer Effekte eine eigene Spalte neben dem Text angewiesen 153

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wird. Man könnte es heute am ehesten mit dem Arbeitsbuch eines Inspizienten oder Tonmeisters vergleichen. Gelegentlich wird auch in einzelnen gedruckten Theatertexten auf die Betätigung von Maschinen, vor allem von Hebevorrichtungen und Versenkungen, hingewiesen. So etwa erscheint der beschworene Mephistophilis (sic!) in Christopher Marlowes „Dr. Faustus“, wie uns eine Illustration der Szene zeigt, aus dem Boden hervor. Auch Ariel oder Puck werden sich nicht ganz ohne Hilfsmittel durch die Lüfte bewegt haben. Abgesehen von solchen Abhängigkeiten dürften den Schauspielern große Freiheiten in der Bewegung zugestanden worden sein. Und insgesamt verfestigt sich der Eindruck, als wäre der Improvisation nicht allein von Gesten und Minenspiel, sondern auch von Gängen ein größerer Spielraum überlassen worden, als es uns heute angebracht erscheint. Eine solche Improvisation war jedoch kaum je, und wenn, dann nur in den ClownSzenen, auch beim Wortlaut des Textes erlaubt. Am englischen Blankvers hatte die Narrenfreiheit ihr Ende. Darüber hinaus gibt es wenig von einer Anleitung und Führung der Schauspieler zu sagen. Von einer Kunst der Regie ist auf dem Elisabethanischen Theater nirgends die Rede. Erschreckt durch einige der heutigen Interpretationen, kann man den Gedanken nicht ganz abweisen, dass dies nicht unbedingt einen Mangel bedeutet haben muss. Im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit stand in jenen fernen Zeiten der Schauspieler und neben ihm einzig der Dichter. Dass die playwrites genannten Autoren Leseproben oft in Gasthäusern abhielten, ist uns bekannt, nicht aber welchen Einfluss sie auf die Bewegungen auf der Bühne nahmen. So wie wir erfahren haben, dass manche ältere Künstler die heranwachsenden Knaben in der Darstellung der Frauenrollen unterwiesen, so haben wir auch Zeugnis von zweien der berühmtesten Interpreten großer Rollen, Richard Taylor und John Lowin. Sie berichten, dass Shakespeare selbst mit ihnen die Partien des Hamlet beziehungsweise des Königs Heinrich VIII. einstudiert habe. Und auch sein Kollege Ben Jonson wird in einer Quelle als instructor bezeichnet. Jeder Schauspieler war aber am Ende doch allein für sein Kostüm und weitgehend auch für die Gestaltung seiner Szenen verantwortlich, wobei er sicherlich Rat und Hilfe angenommen haben wird, schon allein um seinen Erfolg und damit seine Anerkennung im Verband der Truppe nicht zu gefährden. Beim Arrangement größerer Gruppen und vornehmlich auch bei den oft sehr drastischen Schlachtszenen wird sich vermutlich einer der 154

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älteren Mitwirkenden oder auch der Autor zu Wort gemeldet haben, falls er, wie etwa Shakespeare, Mitglied der Truppe oder wie Marlowe als Gast zu den Proben gebeten war. Die eingangs genannten Autoren waren alle in London wohnhaft und vermutlich rasch zur Hand, wenn eines ihrer Werke auf eine Bühne gelangen sollte. Stücke ausländischer oder verstorbener Autoren wurden ohnehin nur in Bearbeitungen eines dem Haus verbundenen Dichters gespielt. Dies ist bei manchen der Shakespeare zugeschriebenen Schauspiele der Fall, deren Vorbilder oder Mitverfasser heute nur mehr in wenigen Fällen bekannt sind. Als Beispiele seien „Perikles“ und „Titus Andronicus“ angeführt. Im Übrigen ist anzunehmen, dass sich zumindest bei den einzelnen Truppen, welche die wichtigsten Theater bespielten, im Einverständnis mit dem kundigen Publikum ein gewisser Kodex der Spielordnung herausgebildet hatte, auf den man sich berufen konnte. Da etwa der Heldendarsteller Richard Burbage oder Shakespeare als Autor und Schauspieler zeitweise auch Miteigentümer des Theaters waren, stellte sich wohl eine Rangordnung unter den Schauspielern ohne viele Diskussionen her, was gelegentliche Auseinandersetzungen oder Eifersüchteleien nicht ausschließen musste. Wer sich mit diesen Auskünften nicht bescheiden will, sei auf die Rüpelszenen des „Sommernachtstraums“ verwiesen. Dort wird auf die Rollenverteilung und die Disposition der Szenen eines neuen Stückes sehr humorvoll Anspielung gemacht.

Die Schauspieler Die Namen der wichtigsten Schauspieler, die an Shakespeares Stücken mitwirkten, finden wir in der folio-Ausgabe seiner Werke von 1623 vermerkt. Die nächsten Freunde des Dichters waren unter seinen Kollegen ohne Zweifel Augustine Philipps, der in seinem Testament seinen Kollegen (fellows) Shakespeare und Condell, je 30 Shilling in Gold vermachte, dann auch die drei, die Shakespeare wiederum selbst in seinem Testament mit je 26 Shilling 8 Pence, um sich Ringe zu kaufen, bedacht hat: Richard Burbage, John Heminges und Henry Condell. Burbage starb viel betrauert im Jahre 1619, den beiden anderen Erben verdanken wir die Herausgabe der folio-Ausgabe von 1623. Von Burbage weiß man aus vielen Zeugnissen, dass er alle großen Hauptrollen kreierte: Caesar, Hamlet, Macbeth, Othello, Lear und Corio155

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lan. Man wird nicht zweifeln, dass auch die beiden anderen fellows zu den wichtigsten Akteuren ihrer Truppe gehörten. Ganz ohne Zweifel wurden von den Schauspielern gelegentlich auch sogenannte insider jokes eingestreut, die vielleicht sogar auf den Proben entstanden sind und von den Dichtern dann in den Text übernommen wurden. Beim vertrauten Publikum haben diese wohl ein Schmunzeln oder gar Lachen ausgelöst, heute aber sind sie uns nicht mehr immer zu entschlüsseln. Dass dies in den Tragödien ebenso geschehen konnte wie in den Historien oder Komödien, kann man am besten am Beispiel des „Hamlet“ erkennen. Shakespeare etwa bezeichnet die beiden Totengräber als Clowns. Als solche traten sie oftmals zuvor auch in anderen Stücken auf und es ist nicht ohne Anzüglichkeit, dass sie ausgerechnet den Schädelknochen eines Narren in der Grube finden, die sie ausheben. Denn Narren und Clowns waren zwei durchaus verschiedene Fächer und wurden von vermutlich rivalisierenden Akteuren gespielt. Dass Richard Burbage als Hamlet oftmals selbst in dieses Grab gesprungen war, bezeugte ein anonymes Gedicht, das nach seinem Tode 1619 erschien. Makaber scherzend wurde darin beklagt, dass der berühmte Mann nun endlich zum letzten Mal diesen Sprung habe tun müssen. Ein drittes Beispiel findet sich im selben Stück, wenn Polonius bekennt, dass er, als er noch jung war, auch gerne Theater gespielt habe. Darauf fragt ihn Hamlet nach einer seiner Rollen und Polonius antwortet: Julius Caesar. Das war nun das Stück, das als letztes zuvor geschrieben und gespielt worden war, und in welchem Richard Burbage, der nun den Hamlet gab, den Brutus dargestellt hatte. Und das eine wie das andere Mal hatte er seinen Gegenspieler auf der Bühne zu erstechen. Aus den oben aufgezeigten äußeren Bedingtheiten kann man recht gut auf die Anforderungen schließen, die von den Theaterautoren ebenso wie vom Publikum an die Akteure gestellt wurden. Die sind von dem, was man in empfindsameren Epochen als dezenten Kammerton bezeichnet hat, doch recht weit entfernt. Das ist unter anderem sehr deutlich an den geschilderten Tischsitten zu erkennen. Die werden unter anderem in Falstaffs Stammlokal, dem Wirtshaus „Zum Hosenbande“, in aller Drastik geschildert. Nirgends jedoch werden sie so deutlich wie in der Komödie von „Der Widerspenstigen Zähmung“. Von der aber soll stellvertretend für viele andere am Ende dieser Betrachtungen in allen rekonstruierbaren Einzelheiten noch einmal die Rede sein, um ein anschauliches Beispiel zu geben von dem, was hier im Überblick nur angedeutet werden konnte. 156

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Welche Rollen Shakespeare als Darsteller selbst übernommen haben mochte, ist uns heute nur bruchstückweise bekannt. Es gibt eine Überlieferung, die davon wissen will, dass er seine höchste Leistung in der Darstellung des Geistes in „Hamlet“ geboten habe, eine andere lässt vermuten, dass er den alten Diener Adam in „Wie es euch gefällt“ gespielt habe. Die Erscheinung des ermordeten Königs in „Hamlet“ ist alles andere als leicht glaubhaft zu machen in einem Theater, das ganz ohne Beleuchtungseffekte auskommen muss, denn es muss gerade diese Szene von solcher Wirkung sein, dass sie alle nachfolgenden Ereignisse zwingend herbeiführt. Auch die Darstellung des alten, weißbärtigen, zahnlosen und gehbehinderten Adam forderte von einem damals etwa 35 Jahre alten Schauspieler kein geringes Talent der Verwandlung. Dennoch sind dies zwei Rollen, die nicht zu den dankbarsten gehören. Andererseits weiß man aus einem Haushaltsbuch des königlichen Hofes, dass drei Schauspieler für ihre Leistungen besonders belohnt und ausgezeichnet wurden: Richard Burbage, der erste Darsteller der großen Heldenrollen, William Kempe, der äußerst volkstümliche Spaßmacher, und William Shakespeare. Dies wird nicht ohne Grund geschehen sein. Denn als nur wenige Wochen nach seiner Thronbesteigung König Jakob die Truppe unter seinen persönlichen Schutz nahm, wurden in diesem Zusammenhang noch einmal all die uns bekannten Namen genannt und Shakespeares unter diesen an zweiter Stelle. Das kann nicht überraschen, wenn man weiß, dass bereits im frühen Jahr 1592 der Dramatiker Henry Chettle Shakespeare beschreibt als ebenso höflich in seinen Manieren wie „excellent in his profession“ und damit doch wohl eher die schauspielerischen Fähigkeiten des eben erst 28-Jährigen hervorhebt. Aus einem an Shakespeare gerichteten Lobgedicht des John Davis of Hereford aus dem Jahre 1610 erfahren wir dann noch einmal Näheres, nämlich dass der Gepriesene vor allem die Rollen der Könige übernommen hat, und wir lesen die Verse: „Had’st thou not played some Kingly parts in sports, / Thou had’st been a companion for a King,/ And been a King among the meaner sort.“ Und wir können sie dahin deuten, dass er „königliche Rollen“ wahrhaft königlich dargestellt habe. Dem folgen spätere Vermutungen, die unter diesen Rollen die Könige Duncan, Heinrich IV., Heinrich VI. und Richard II. anführen. Mit welchem Grund ebendiese und andere nicht, kann ich nicht sagen. Dass man den Dichter auch in Stücken anderer Autoren auf der Bühne sehen konnte, zeigt uns die Nennung seines Namens an führender Stelle auf der 157

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Besetzungsliste von Ben Jonsons „Every man in his Humour“ von 1598, ohne genauere Angabe der Rolle. Bedenkt man, dass ein Großteil des Repertoires des „Globe-Theatre“ aus den 36 Stücken bestand, die Shakespeare in etwa 25 Jahren geschrieben hat, so wird man leicht einsehen, dass ihm dadurch auch im Hintergrund der Bühne soviel Arbeit entstand, dass er unmöglich auch noch zahlreiche oder umfangreiche Rollen einstudieren und Abend für Abend darstellen konnte. Wenn man trotz all dieser Tatsachen noch immer der Meinung begegnet, Shakespeare sei ein schlechterer Schauspieler als Poet gewesen, so kann man dem nur zustimmen in dem Sinne, dass er als Schauspieler gewiss seinesgleichen gehabt haben wird, als Theaterdichter aber keinen, der ihm auch nur nahe käme, bis auf den heutigen Tag. Und so hat wohl schon zu Lebzeiten der vor allen Konkurrenten berühmte Autor Shakespeare den Schauspieler gleichen Namens in seinen übermächtigen Schatten gestellt. Da nun aber selbst der beste Dichter nicht mehr als 20 Pfund als Abgeltung für ein Stück erhalten konnte und ihm erst in späteren Jahren die Einnahmen der zweiten Aufführung zugestanden wurden, so konnte er sich am Theater vorerst nur als viel beschäftigter Schauspieler ein größeres Vermögen erwerben. Und dies ist Shakespeare, wie wir wissen, von Jahr zu Jahr besser gelungen. Er hat noch einmal im Jahre 1613, offenbar nur als Geldanlage, ein Haus in London erworben und sich danach dorthin zurückgezogen, wo er bereits einen Großteil seines Vermögens in neue Liegenschaften investiert hatte: nach Stratford, wo seine Frau und seine beiden Töchter lebten. Hier sei nun aber, wenn mir eine kleine Abweichung von meinem Thema gestattet wird, darauf verwiesen, dass sich unversehens bei meinen Recherchen neue Hinweise dafür ergaben, dass Shakespeare der Autor kein anderer sein konnte als Shakespeare der Schauspieler. Man hat allzu oft aus geringer Kenntnis der reichlich vorhandenen Quellen die abwegige Vermutung geäußert, Shakespeares Dramen müssten von einem Adeligen verfasst worden sein, und hat dies unter anderem damit begründet, dass in diesen Werken die genauesten Kenntnisse der aristokratischen Sitten und Denkungsart zu finden sind. Ich habe in meinem Essay über die Sonette bereits das meiste zu diesem leidigen Thema gesagt, möchte aber hier noch ein paar weitere Punkte benennen. Der erste erklärt, dass es auch dem Sohn eines Handwerkers in jener Zeit möglich war, ein großes Wissen um Geschichte, Sitten und Gebräuche aller Bevölkerungsschichten zu erwerben. Shakespeares 158

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Vorgänger Christopher Marlowe nämlich hatte als Sohn eines Schuhflickers am College von Cambridge die Titel eines Baccalaureus und eines Magisters erlangt und hätte, wäre er nicht bereits mit 29 Jahren ermordet worden, gewiss noch über seine sechs Tragödien hinaus weitere und bessere Beweise seines vielseitigen Wissens und genialen Könnens gegeben. Warum also soll man dem Sohn eines Schusters aus Coventry zugestehen, was man dem eines Handschuhmachers aus Stratford nicht zutraut? Und um den lächerlichen Vermutungen entgegenzutreten, Shakespeares Dramen könnten nur aus der Feder eines weitgereisten Aristokraten stammen, sei erwähnt, dass der hierbei gelegentlich ins Spiel gebrachte Earl of Oxford ebenso wie der Earl of Derby und der adelige Francis Beaumont ihren Zeitgenossen durchaus als dilettierende Stückeschreiber bekannt und als solche auch öffentlich namhaft gemacht waren, so dass das Argument, ein Aristokrat hätte sich nicht dazu bekennen dürfen, für das Theater zu schreiben, in sich zusammenfällt. Zum Schluss und um der törichten Debatte den Garaus zu machen, sei von einem in Cambridge aufgeführten Stück mit dem Titel „The Return from Parnassus“ berichtet, in welchem Burbage und Kempe auftraten und sich – ob improvisiert oder in Worten des unbekannten Verfassers, wüsste man gern – über die allzu gebildeten Autoren, die sogenannten „university pens“, mokierten, die ihr Schauspieler-Kollege Shakespeare trotz all ihrer Gelehrsamkeit spielend aus dem Sattel gehoben habe. Wenn überhaupt irgendwer, so hätten doch gerade diese beiden wissen müssen, wer ihnen die wichtigsten Rollen auf den Leib geschrieben hatte. Wenn wir nun zusammenfassend die überlieferten Nachrichten überblicken, so muss man bedauern, dass nur so wenige Berichte von Zeitzeugen erhalten sind. Ein Zugang zu kritischen Quellen für eine nachträgliche Erfassung des Bühnengeschehens eröffnet sich uns daher heute nur selten. Auch enthalten die Dramentexte nur sehr karge Regieanweisungen. Und diese wenigen gehen, was Gänge und Handhabungen betrifft, über das Allernötigste nicht hinaus, indem sie etwa nur festhalten, wenn eine Person auftritt oder abgeht, wenn sie Gift träufelt, Augen aussticht, einen Brief überreicht, einen Schädel aufnimmt oder beiseitewirft, wenn sie einschläft, erwacht, trinkt, kämpft, flieht, tötet oder stirbt. Noch weitaus geringer sind die Hinweise auf Geschehnisse hinter der Szene. Da wird etwa eine Glocke geläutet, ein Schuss abgegeben, um Hilfe gerufen, ein 159

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Horn geblasen, ein Hahnenschrei nachgeahmt oder an ein Tor gepocht. Die Funktion eines Inspizienten, wie sie heute so wichtig geworden ist für den Ablauf eines Theaterabends, wird wohl fallweise von den gerade eben hinter der Szene pausierenden Darstellern übernommen worden sein. Über Kostüme, Perücken, Masken schweigen die Texte fast vollkommen, wenn man von dem Blumenschmuck der wahnsinnigen Ophelia, den gekreuzten Hosenbändern des Malvolio oder dem Eselskopf Zettels einmal absehen will. Und auch wer über Gestik und Mimik Aufschluss haben will, findet nur selten einen Hinweis des Autors. Eine der wenigen Ausnahmen bildet eine Anweisung im 1. Akt von „Heinrich VIII.“, in der es heißt: „Wolsey heftet im Vorbeigehen seinen Blick auf Buckingham und dieser auf ihn. Beide sehen einander voll Verachtung an.“ Sonst aber muss man die Hinweise, die der gesprochene Text gibt, zu Hilfe nehmen, um das Mosaik eines Gesamtbildes zusammenzufügen. Was die Gedanken oder Hintergedanken, die inneren Gefühlsregungen oder die körperlichen Bedingtheiten anlangt, so findet sich alles Sagbare darüber in den gesprochenen Dialogen, alles, was darin verschwiegen wird, wird der Kunst des Darstellers und der Fantasie des Zuschauers überlassen. Dies habe ich immer für einen besonderen Vorzug des Shakespeare-Theaters gehalten, da es deutlich wie nichts anderes auf den Primat des dichterischen Wortes verweist und damit in diametralem Gegensatz steht zu den akrobatischen Turnübungen, Lichtspielereien und Verwandlungsmaschinerien späterer Epochen. Stets zu bedenken ist bei der Lektüre und mehr noch bei der Aufführung der Werke des Elisabethanischen Theaters die Tatsache, dass die Epoche von einem sogenannten Lesedrama noch nichts wusste. Jedes geschriebene oder späterhin dann auch gedruckte Wort sollte nur in Verbindung mit seiner Rezitation auf dem Theater gelten. Auch wenn manche Monologe als Zwiegespräche einer handelnden Person mit ihrem Ich, mit Gott oder mit der weiten Welt erscheinen, so wurde doch durch Prologe, kräftige Flüche, vulgäre Ferkeleien, Hilfeschreie oder kurze Epiloge, seltener durch zur Seite hin gesprochene Aparts, das gegenwärtige Publikum immer wieder einbezogen oder gar zum Richter oder Helfer aufgerufen. Auch hier galt es wie in jeder lebendigen Kunst, hin und wieder die selbst aufgerichteten Grenzen zu überspringen und in besonderen Fällen die Regeln des Spiels zum allgemeinen Gaudium oder Entsetzen zu brechen. So wie etwa Shakespeare die gebundene 160

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Sprache selbst in seinen Königsdramen für kurze Einschübe in Prosa verlässt, so duldet er auch nur selten längere zeremoniöse Handlungen, ohne sie unversehens durch volkstümliche, ironische oder gar rüpelhafte Kommentare zu konterkarieren. Wenn Goethe meinte, dass Shakespeare „lauter natürliche Menschen gestalte“, so wollte er gewiss damit sagen, dass er seine Bühnenfiguren nicht wie etwa Ben Jonson die seinen allein durch eine alles beherrschende Eigenschaft charakterisiere, sondern dass er ihnen alle menschlichen Gedanken, Hintergedanken und Empfindungen zuteile und diese dann je nach der dramatischen Situation, in die sie gestellt sind, wechseln, hervorbrechen oder zurücktreten lasse; dass er somit nicht durch Übertreibungen und Verzerrungen nach Wirkung strebe, sondern durch die Konfrontation eines Charakters mit seinem Schicksal. Erst dadurch werden die Figuren unter seiner Hand zu lebendigen Menschen und dem Nachempfinden des Schauspielers und des Zuschauers erfassbar. Überblickt man nun aber die erstaunliche Fülle von überlieferten dramatischen Meisterwerken, die bewunderungswürdige und damals in Europa durchaus neuartige Theatralarchitektur und die Nachrichten von den Erfolgen, Ehrungen, der gehobenen sozialen Stellung und den Verdienstmöglichkeiten der englischen Schauspieler, so erkennt man auch die Gründe, warum die Vervollkommnung der theatralischen Künste in jener Zeit so weit vorangekommen ist. Und dies in einem Maß, dass sie bis auf den heutigen Tag auf uns wirkt und dass auch die englischen Truppen davon noch viele Jahrzehnte ihren Nutzen ziehen konnten, indem sie das kontinentale Europa bereisten und überall ebenso große Bewunderung fanden wie ihre italienischen Kollegen und späterhin auch noch mehr. Um all das, was über die Kunst der Darstellung am Elisabethanischen Theater an historischen Nachrichten hier zusammengetragen werden konnte, so recht anschaulich zu machen, sei nun aber eine genauere Untersuchung der szenischen Gestaltung eines Werkes versucht. Wenn ich dafür die Komödie „Der Widerspenstigen Zähmung“ gewählt habe, so geschieht dies, weil hier der männliche Hauptdarsteller in der Rolle des Petruchio seinerseits wieder gegenüber seiner Braut Katharina eine Rolle spielt und dies in so drastischer Weise, dass seine Mitspieler sich nicht enthalten können, sein Spiel zu kommentieren. Diese Kommentare des Spiels im Spiel wollen wir uns zunutze machen. Und 161

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ich will anhand dieses exemplarischen Stückes einiges aufzählen, was sich an dargestellten Aktionen mehr aus Dialogen als aus Regieanweisungen ermitteln lässt. Vorausgeschickt soll dabei werden, dass sich die Shakespeare-Forschung bis heute nicht recht im Klaren ist, welchen Anteil dem großen Engländer an dieser ebenso drastischen wie erotischen Komödie zugeschrieben werden kann. Denn dass gerade dieses nach einem inzwischen verlorenen italienischen Vorbild gestaltet wurde, ist kaum zu übersehen. Man hat sogar auf mehrere Hände geschlossen, die bei vorausgehenden Versuchen am Werke waren, bis es durch das Genie des jungen Shakespeare seine endgültige und überaus bühnenwirksame Gestalt gewonnen hat. In diesem Werk, das man sich heute wegen wütender Proteste von feministischer Seite leider nur noch selten aufzuführen getraut, wird ein Frauenbild gezeigt, wie es in südlichen Ländern nicht ungewöhnlich, in England jedoch oder in anderen nördlichen Ländern damals keineswegs allgemein war. Der Umgang der Geschlechter miteinander ist in diesem Stück von beiden Seiten durch große Leidenschaftlichkeit geprägt und ganz und gar unzeremoniös. Dass ein Kavalier wie einst Sir Walter Raleigh vor dem Fuß einer Dame seinen Mantel über eine Pfütze breiten würde, daran ist in Petruchios Heimat Verona nicht zu denken. Dafür aber wird er sie mit einer Sinnlichkeit begehren und umwerben, die sie für manches entschädigt. In kaum einem anderen Werke Shakespeares ist dies so derb und hautnah zu spüren wie in „Der Widerspenstigen Zähmung“. Um dies zu dokumentieren, sei nun begonnen mit der Aufzählung der Handlungen und Tätigkeiten auf der Bühne, die sich aus der Interpretation des gesprochenen Dialogs erschließen lassen. Was die reine Konvention anlangt, so werden Begrüßungsküsse, abgestuft nach dem Grade des Wohlwollens, getauscht, sodann wird der Liebeshandkuss gesendet, bei dem man drei Finger der eigenen Hand küsst; als erste Liebesbezeigung werden Hände berührt und gepresst und Füße durch Füße berührt. Freudentränen werden vergossen, der Bauch wird gehalten, um sinnliche Lust zu bezeugen. Man zittert, fällt zu Boden, man ringt die Hände, deutet pantomimisch ein Erröten oder Erbleichen an, kratzt sich verlegen hinter dem Ohr oder im Barte. Schließlich macht man sogar einen Kniefall. Bei den immer wilder und handgreiflicher werdenden Szenen stampft man zuerst mit dem Fuß, schlägt und prügelt man Geschwister, Verehrer und Dienerschaft. Petruchio dreht seinem Diener Grumio die Ohren um. Die ungebärdige Katharina gar rauft vor Zorn die eigenen Haare und schlägt endlich ihrem Lehrer 162

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die Laute über den Kopf, so dass er melden muss: „Wie durch ein Halseisen schaut’ ich durch die Laute.“ Auch wenn etwa Petruchio am Ende von „Der Widerspenstigen Zähmung“ sich mit seinen Gästen zur Tafel setzt, um sich von der gezähmten Katharina bedienen zu lassen, so wird er vielleicht mit dem erst vor kurzem in England eingeführten Löffel, nicht aber mit der Gabel essen, da diese um 1600 noch nicht im Gebrauch war. Man muss ihn sich vorstellen, wie er sein Messer aus dem Gürtel zieht, um sich ein Stück Fleisch vom Braten zu schneiden, wie er dieses dann mit den Händen in eine Sauce taucht, ehe er es zum Mund führt. Man kann ihn sich aber auch vorstellen, wie er, in abenteuerliche Lumpen gekleidet, seine Diener mit Ohrfeigen und Fußtritten traktiert, wenn sie seiner hungernden Braut zu essen geben wollen. Ihren Höhepunkt erreicht die Darstellung aber erst in dem wüsten Benehmen Petruchios, wenn er die durch einen Sturz vom Pferd in eine Pfütze mit Schmutz bedeckte Braut in sein Haus schleppt und die Hungernde dadurch quält, dass er vor ihr Speisen und Getränke samt Tellern und Krügen auf die Erde wirft. Zwar muss man nicht fürchten, dass er wertvolles Geschirr zerbricht. Seine Teller sind aus Zinn oder aus Holz. Porzellan kam um diese Zeit noch keines auf die vornehmen Tische. Aber Petruchio scheut keine gespielte Grobheit, um die einst unzähmbar erscheinende Katharina zu übertrumpfen, so dass er ihr endlich auch noch das Kostüm vom Leibe reißt. Dem Umstand, dass nicht alle diese Vorfälle allein auf der Bühne stattfinden, sondern oft auch von Dienern erzählt werden, verdanken wir ihre genauere Schilderung in Shakespeares eigenen Worten. So etwa berichtet der entsetzte Grumio von Petruchios und Katharinas Hochzeit: „Der Priester fragt ihn,/ ob Kathrinen er zur Frau begehre: /‚Beim Donnerwetter, ja!‘ schrie er und fluchte./ Vor Schrecken ließ das Buch der Priester fallen./ Und als er sich gebückt, es aufzunehmen,/ gab ihm der tolle Bräut’gam solchen Stoß,/ daß Buch und Pfaff und Pfaff und Buch hinstürzten/... Sie war ganz Furcht; denn seht, er stampft’ und fluchte,/ als hätte ihn der Priester thören wollen/... Prost schreit er, wie auf dem Verdeck,/ als tränk’ er nach dem Sturm mit den Kam’raden. /Stürzt den Muskat hinab und wirft die Tunke/ dem Küster ins Gesicht, aus keinem Grund,/ als weil sein Bart ihm, dünn und hungrig, schien/ um einen Trunk zu betteln, da er trank .../ Und nun faßt er die Braut um ihren Hals/ und gibt ihr einen Schmatz, so gellend laut,/ daß rings die ganze Kirche widerhallte./ Ich lief aus Scham hinaus ...“ In solchen Szenen unterschied sich gewiss die Darstellung der Komödien von der der Königsdramen, Romanzen oder Tragödien, wenn man einmal 163

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von dem wahrhaft in allen Gräueln sich wälzenden und in seiner Autorschaft nicht gesicherten „Titus Andronicus“ absehen will. Auch muss man bei der Beurteilung wissen, dass „Der Widerspenstigen Zähmung“ mit großer Wahrscheinlichkeit aus den Jahren um 1590 stammt und also eines der früheren Werke des Dichters ist. Wenn andere Autoren wie Marlowe und Kyd einander überboten an drastischen Szenen, so hat doch Shakespeare später auch in Komödien sich sublimerer Mittel bedient, wie etwa in seinem Meisterwerk „Twelfth Night“, das unerklärlicherweise mit „Was Ihr wollt“ ins Deutsche übersetzt wurde. Und auch wenn im „Macbeth“ noch der Rächer Macduff am Ende mit dem blutigen Haupt des erschlagenen Königs auftritt, so wurden doch später die ärgsten Krassheiten mehr und mehr von ihm gemieden und die Appelle an die enthemmten Instinkte von Schauspielern und Publikum wurden maßvoller mit zunehmenden Jahren. Wir besitzen zwei Texte von Shakespeares eigener Hand, aus denen ich abschließend zitieren will, um zur Bestätigung unserer Überlegungen vorzubringen und vom Autor selbst berichten zu lassen, wie er sich die Darstellung seiner Werke auf der Bühne vorstellte. Im einen Fall aus dem Jahre 1594 die komischen Dialoge bei der Probe der Handwerker im „Sommernachtstraum“, die das mythologische Stück von Pyramus und Thisbe aufzuführen sich vorgenommen haben und dabei ihre Erinnerungen bemühen an das, was sie vermutlich in einem Vorstadt- oder Bauerntheater gesehen und kaum recht verstanden haben. Im anderen Fall, um 1602, die Anweisungen, die Hamlet den Schauspielern gibt, die eine von ihm verfasste Szene vor seinem Onkel Claudius und seiner Mutter Gertrude aufführen sollen. Beim ersten Text ist zu bedenken, dass die Handwerker in Überschätzung ihrer Kräfte ein ihrem Alltag gänzlich fernstehendes Sujet wählen, um sich vor der Hofgesellschaft hervorzutun, die kundigen Schauspieler hingegen eine Szene zu spielen haben, die nicht nur dem Milieu des dänischen Königshofes, sondern auch den dort vorgefallenen Begebenheiten absichtsvoll gleichen. Man wird also im „Sommernachtstraum“ nichts anderes als eine belustigende Parodie der eigenen Theatergruppe und im „Hamlet“ eine dramatische Verdichtung der Handlung des Stückes erwarten dürfen. Die Parodie im „Sommernachtstraum“ besteht darin, dass einige der tatsächlichen Probleme der Darstellung poetischer Szenen nicht nur im imaginierten Wald vor den Toren Athens, sondern auch in den architektonischen Gegebenheiten des Elisabethanischen Theaters angesprochen werden. So etwa, 164

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wenn Squenz, der Zimmermann, gleich zu Beginn auf die hölzernen Bretter der Bühne weist und feststellt: „Hier ist ein prächtig bequemer Platz zu unsrer Probe. Dieser grüne Fleck soll unser Theater sein, diese Weißdornhecke unsere Kammer zum Umziehen, und wir wollen’s in Aktion vorstellen.“ Alles, was nicht gezeigt werden kann oder soll, so beschließen darauf die kunstbegeisterten Freunde, soll durch einen Prolog erklärt und allzu Grausames durch den laut verkündeten Hinweis auf die Täuschung des Spiels gemildert werden. Schließlich soll das Licht des Mondes, auf dessen tatsächliches Mitwirken man sich auch nach Befragung des Kalenders nicht verlassen könne, auf folgende Weise dargestellt werden: „Es könnte auch einer mit einem Dornbusch und einer Laterne herauskommen und sagen, er komme die Person des Mondscheins zu traktieren oder zu präsentieren.“ Und was schließlich die zum Spiel benötigte Wand angehe, die man auf keine Weise herbeischaffen könne, so müsse auch die von einem der Männer dargestellt werden. Und so schlägt Zettel, der Weber, also Folgendes vor: „Einer oder der andere muss eine Wand vorstellen, und lasst ihn ein bisschen Kalk oder ein bisschen Lehm oder ein bisschen Mörtel an sich haben, um Wand zu bedeuten, und lasst ihn seine Finger so halten, und durch die Klinze sollen Pyramus und Thisbe wispern.“ Damit soll genug gesagt sein, um erkennen zu lassen, dass hier das Theater sich selbst verspottet in seinem Bemühen, die Tat durch das Wort und das Sein durch den Schein zu ersetzen, auch wenn ebendies im Grunde das Wesen aller dramatischen Poesie ist. Wie viel Wahres wir auch immer dieser Parodie entnehmen können, so finden wir doch die bessere Auskunft in den ersten beiden Akten des „Hamlet“, der so recht ein Lehrstück ist über die Kunst der Verstellung in all ihren Formen. Als Rosencrantz und Guildenstern das Eintreffen der Schauspieler ankündigen, zeigt sich Hamlet erfreut und erweist sich in der Folge überaus kundig in allen theatralischen Belangen. Und so gibt er uns gleich zu Beginn einen Einblick in die Rollenfächer, die nicht nur in Dänemark, sondern vor allem im elisabethanischen England gebräuchlich waren. Da nennt er zuerst, den „der die Könige spielt“, dann den aventurous knight, den fahrenden Ritter, will sagen, den Helden des Stückes, danach den Liebhaber und den humorous man, das heißt den Spaßmacher oder Narren, und schließlich den Clown. Diese Unterscheidung ist beachtlich und wird nicht in jeder Übersetzung richtig erkannt. Über den Narren bei Shakespeare ließe sich ein eigenes Kapitel schreiben, das ebenso viel schwarze wie bunte Farbe enthalten müsste. Er spielt 165

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eine Hauptrolle, er höhnt und philosophiert, er prophezeit und resümiert und muss nicht wie die Clowns für die Lacher der Gründlinge sorgen. Dass die lady unter den Schauspielern als letzte genannt wird, ist kein Mangel an Galanterie bei dem wohlerzogenen Prinzen. Als sie eintrifft, die lady, erweist sie sich als Knabe, der „um eine Schuhbreit dem Himmel näher gewachsen“ ist als bei der letzten Begegnung. Abschließend aber seien nun Hamlets Unterweisungen an die Schauspieler zitiert, die uns nicht nur authentische Anweisungen zur Darstellung von Shakespeares späteren Tragödien bieten und damals schon auftretende Missbräuche kritisieren, sondern auch heute noch manchem Adepten dieser Kunst nützliche Lehren zu geben vermöchten, wenn er sie sich an seinen Schminkspiegel stecken wollte. Dies mag gerade hierzulande umso mehr anzuraten sein, als sich das Stück, das Hamlet aufführen lässt, „die Vorstellung eines in Vienna geschehenen Mordes“ vorgenommen hat. Nun also wollen wir, um zum Ende zu kommen, dem klugen Dänenprinzen in August Wilhelm Schlegels altbewährter Übersetzung das Wort überlassen: „Seid so gut“, spricht Hamlet, „und haltet die Rede wie ich sie euch vorsagte, leicht von der Zunge weg. Aber wenn ihr den Mund so voll nehmt wie viele unsrer Schauspieler, so möchte ich meine Verse ebenso gern von dem Ausrufer hören. Sägt auch nicht zuviel mit den Händen durch die Luft, so – sondern behandelt alles gelinde. Denn mitten in dem Strom, Sturm und, wie ich sagen mag, Wirbelwind eurer Leidenschaft müßt ihr euch eine Mäßigung zu eigen machen, die ihr Geschmeidigkeit gibt. Oh, es ärgert mich in der Seele, wenn solch ein handfester, haarbuschiger Geselle eine Leidenschaft in Fetzen, in rechte Lumpen zerreißt, um den Gründlingen im Parterre in die Ohren zu donnern, die meistens für nichts empfänglicher sind als unverständliches Gebärdenspiel und Lärm. Ich möchte solch einen Kerl für sein Bramarbasieren prügeln lassen: er übertyrannt die Tyrannen. Ich bitte euch, vermeidet das ... Seid auch nicht allzu zahm, sondern laßt euer eigenes Urteil euren Meister sein: paßt die Handlung dem Wort, das Wort der Handlung an … wobei ihr sonderlich darauf achten müßt, niemals die Bescheidenheit der Natur zu überschreiten. Denn alles, was so übertrieben wird, ist dem Vorhaben des Schauspiels entgegen, dessen Zweck sowohl anfangs als auch jetzt war und ist, der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten: der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen. Wird dies nun übertrieben oder zu schwach 166

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vorgestellt, so kann es zwar den Unwissenden zum Lachen bringen, aber den Einsichtsvollen muß es verdrießen, und der Tadel von einem solchen muß in eurer Schätzung einen ganzen Zuschauerraum von andern überwiegen … Und die bei euch die Narren spielen, laß sie nicht mehr sagen als in ihrer Rolle steht: denn es gibt ihrer, die selbst lachen, um einen Haufen alberner Zuschauer zum Lachen zu bringen, wenn auch zu derselben Zeit irgendein notwendiger Punkt des Stückes zu erwägen ist. Das ist schändlich und beweist einen jämmerlichen Ehrgeiz an dem Narren, der es tut. Geht, macht euch fertig.“

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em spekulativen Denken wenig geneigt, habe ich mich früh schon der Sprache der Bilder und Gleichnisse zugewandt und mich für die an das irdische Treiben gebundene Kunst entschieden. Und so war mir auch das „englische Leben“, wie es in den Wunderhornliedern geschildert wird, vertrauter als das Wirken der Boten des Jenseits, die noch keiner jemals hat lächeln oder gar lachen gesehen. Denn das Lachen ist das Eingeständnis der menschlichen Unvollkommenheit. Und darum sei es mir gestattet, bei aller Achtung vor der ins Große, ja ins Unendliche ausgreifenden Imagination, mich an dieser Stelle nun auch einmal jenen Milchkindern der frommen Fantasie zuzuwenden, die den barocken Wolkenhimmel meiner Heimat bevölkern: den Putten. Von Wolken spreche ich, denn bei offenem Himmel hat sie noch keiner gesehen. Es ist als fürchteten sie sich vor dem unendlichen Blau. Engel gibt es oder gibt es nicht. Nicht jeder mag sich mit ihnen befreunden. Sie sind Inkarnationen unserer Bindung an überirdische Mächte. Sie leben und vergehen mit unserem Glauben. An Putten zu zweifeln käme niemandem in den Sinn. Putten sind eine Erfindung der Künste. Sie sind einfach vorhanden, wurden von kundigen Händen in irdischen Werkstätten geschaffen. Sie sind Erzeugnisse, keine Wesen, auch wenn sie nur so strotzen vor prallem Leben. Verlange niemand von mir, nachzuweisen, auf wessen Mist sie gewachsen sind, will heißen, wessen Erfindungen diese, heiteren, goldgeflügelten Gestalten und von woher sie zu uns gelangt sind. Die keuschen Heiligen, Blutzeugen und Märtyrer, die sie so oft umschwirren, haben sie gewiss nicht gezeugt und empfangen. Vielmehr erscheinen sie uns elternlos, frei und ungebunden, ganz als hätte ihnen nie ein Finger oder gar eine Zuchtrute gedroht, obwohl sie doch ständig über alle Stränge schlagen. Und auch wenn alle Kirchen voll sind von ihnen, ist es sehr fraglich, ob sie dem christlichkatholischen Wolkenhimmel entstammen. In der Bibel jedenfalls findet man von ihnen keine Spur. Weder im Alten Testament noch im Neuen. Dazu sind sie nicht ernsthaft genug. Bei den Griechen und Römern aber 168

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wird man nicht lange suchen müssen, um ihre Spuren in der Luft der dort blühenden Fantasie zu finden. Nicht bei Hesiod oder Homer, versteht sich. Auch bei den großen Tragikern, Naturforschern und Philosophen nicht. Nein. Aber bei den sinnenfrohen Bildhauern, Malern und Dichtern des Hellenismus, da beginnt es mit einem Mal zu wimmeln hinter den Rücken und um die Knie der ernsten Heroengestalten. Lessing hat in einem geistvollen Essay nachgewiesen, dass die Alten nicht nur den Schlaf und die Liebe, sondern auch den Tod in Gestalt eines kleinen Knaben dargestellt haben, eines Knaben, der die Fackel des Lebenslichts, die Amor so hoch überm Kopf schwingt, zu Boden kehrt, um sie zu löschen. Und so entdeckt, wer sucht, schon frühe Darstellungen solcher Kinder auf Sarkophagen oder Epitaphen gemeißelt. Flügel tragen diese mächtigen Kleinen an ihren Schultern nicht anders als Götter und Göttinnen wie Merkur und Nike, die von Amtes wegen viel zu reisen gezwungen sind. Während aber die kleinen Brüder Hypnos, der Schlaf, und Thanatos, der Tod, gemeinsam nur einen einzigen Nachkommen zu zeugen vermochten, Morpheus, den Traum, hat ihr Vetter Eros sich auf wundersame Wei se vermehrt. Eroten nannte man seine Spielgefährten oder, nachdem sie mit den hellenischen Künstlern nach Italien übersiedelt waren, Amoretten. Gelegentlich, wenn auch nicht oft, sieht man sie darum mit Pfeil und Bogen oder mit einer Fackel gerüstet. Von den kindlichen Göttern haben die lebensfrohen Italiener nur den kleinen Amor adoptiert. Von Schlaf und Tod wollten sie im Grunde nichts wissen. In christlichen Zeiten hat man den Tod fortan als Sensenmann dargestellt, der die Sterbenden mitleidlos vors Gericht führt. Man hat in ihm kein fühlendes Wesen mehr sehen wollen. Um die beliebten Amoretten nun aber in den ernsteren Zeiten vor den Anfeindungen der alles Heidnische scheuenden Christen zu bewahren, hat man sie zu unmündigen Engeln erklärt. Man hat ihnen die Erbsünde gewissermaßen erlassen und damit auch die ihr auferlegte menschliche Scham. So ganz kanonisch legal war das nicht. Denn was die Putten mit biblischen oder gar katholischen Engeln gemein haben sollen, das lässt sich so leicht nicht erweisen. Wenn man sie genauer betrachtet, bleibt da sehr wenig. Engel sind Ambassadeure zwischen Himmel und Erde. Engel sind ernste Wesen, ihrer hohen Verantwortung wohl bewusst und ihrer Würde entsprechend gekleidet. Engel sind wohl frisiert, gegürtet und beschuht. Manche von ihnen tragen gar Waffen oder Spruchbänder mit allerhöchsten 169

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Befehlen. Amoretten aber sind nacktärschig und barfüßig und sie haben uns nichts auszurichten, außer vielleicht, dass wir uns des Lebens freuen sollen ganz so wie sie selbst. Von Ernst und Würde wissen sie nichts. Als sich die Engel vom Himmel um die Krippe in Bethlehem drängten, um einem Kindlein zu huldigen, das ganz so aussah wie eines von diesen Amoretten, da kamen auch zugleich diese kleinen Heiden herbei, neugierig wie sie waren. Während jedoch ihre großen geflügelten Vettern Wacht hielten auf dem Feld und auf den Irrwegen der Menschen, kümmerten sich die arglosen Kleinen nicht weiter um Gut oder Böse. Sie waren bald schon bei allen möglichen weltlichen Festen zu finden. Putten nannte man sie, als man sich nach den ernsteren mittelalterlichen Zeiten wieder der alten heidnischen Freuden zu entsinnen begann. Die Italiener sagten putti zu ihren Kindern. Und da schon der Herr der himmlischen Heerscharen gesagt hatte: „Lasset die Kleinen zu mir kommen“, konnten die erwachsenen Engel sich nicht länger weigern, fortan gemeinsam mit ihnen die Wolken zu bevölkern. Dass es sich bei diesen Putten immer nur um Buben handelte, war vielleicht dem Umstand zu danken, dass den Mädchen der Ernst des Lebens früher bewusst war und dass eine natürliche Scham sie abhielt, mit nacktem Hintern am wilden Treiben Anteil zu nehmen. Denn nicht nur dass Buben sich ungenierter miteinander balgten, sie scheuten sich auch nicht, Trauben zu keltern, bei Bacchanalen aus Pokalen zu trinken, über Liebeslagern Lichter zu halten und Schleier zu lüften. Das ging endlich so weit, dass man sie an Brunnen nicht nur mit Delfinen spielen oder auf Schildkröten reiten sehen konnte, sondern dass sie dort auch in hohem Bogen ins Trinkwasser pinkelten. Mönche, Ritter und Theologen des Mittelalters wussten nicht viel anzufangen mit den kaum den Windeln entwachsenen Kindern. Auf Kreuzzügen und in Schreibstuben waren sie nicht zu gebrauchen. Erst die Künstler der Frührenaissance haben sich wieder der heidnischen Freuden entsonnen und sie wieder zum Leben erweckt. Niemand hat seither die kleinen Wildfänge lieblicher geformt als Luca della Robbia, übermütiger als Donatello oder engelhafter als Filippo Lippi, der geistliche Bruder. Bei Raffaello Santi schon scheinen sie einige listige Hintergedanken zu hegen in ihren nachdenklichen Köpfen. Und da sie nun einmal Kinder der Liebe waren, durfte man sich auch nicht allzu sehr wundern, wenn man unter ihren zerstrubbelten Locken hier und da ein kleines Hörnlein hervorstechen sah. Heutigentags 170

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ist das Wort putto in seiner weiblichen Form putta oder gar puttana despektierlich geworden. Man verwendet es nur mehr für die liederlichsten unter den älteren Mädchen. Und darum sagt man nun in Italien, wie jeder Urlauber weiß, bambini zu den kleinen und ragazzi zu den größeren Kindern. Aber für die barocken Amoretten, die den florentinischen, venezianischen oder römischen Lausbuben doch ursprünglich nachgebildet worden waren, hat sich der Name putto erhalten und wurde mit dem Export der gemalten, geschnitzten oder gemeißelten Bildnisse in viele Sprachen und so auch in die unsere übernommen. Von der Zeit an haben sich die putti vermehrt und verbreitet über alle katholischen Länder. In alle Winkel Europas kamen sie geflogen. Doch nicht überall waren sie auf gleiche Weise willkommen. Die Protestanten haben sie eine Zeit lang im Flug abgefangen und mit einem Klaps auf den Hintern nach Süden retourniert. Aber das hinderte nicht ihren endlichen Sieg. Überall drangen sie ein. Der kleine Liebesgott Amor bekam in den ersten Opern sogar eine Stimme in den Partituren der berühmtesten Komponisten wie Monteverdi oder Cavalli. In England ließ John Blow während der kurzfristigen Wiederkehr des Katholizismus unter den Stuarts einen ganzen Chor von Amoretten bei ihrer Gönnerin Venus in die Schule gehen. Und auch sein Schüler Henry Purcell tat es ihm nach. Selbst das ernste Spanien und das stets um klassische Form bemühte Frankreich hat sich der Invasion nicht verschließen können. Watteau noch hat sie in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts als kleine Komödianten in seinen Gemälden auftreten lassen. Gern gelitten waren sie überall. Jedoch ist den putti nirgends ebenso wohl geworden wie in den süddeutschen Ländern. Auf barocken, goldumrandeten Wolken unter weißblauem Himmel fühlen sie sich offenbar ganz wie zu Hause. Und seit die großen Baumeister des österreichischen Barock und des bayerischen Rokoko, Fischer von Erlach, Hildebrandt, Prandtauer, Neumann, Herkomer, Asam und Zimmermann, erkannt haben, wie sehr ihnen gerade die leicht beflügelten Putten behilflich sein konnten, alles Lastende leicht zu machen, alle Vorhänge beiseitezuheben und alles himmlische Licht durch die Wände ins Innere ihrer Kirchen und Schlösser zu locken, will keiner mehr auf die Hilfe der Putten verzichten, in Wien, in Melk, in Berg am Laim und in Würzburg nicht, in Ottobeuren, in Füssen, in Diessen nicht und erst recht nicht in Andechs oder gar in der Wies. 171

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Wir wollen ihnen, die so frei und ungebunden uns allenthalben begegnen, nicht den Tort antun und sie nach einer legitimen ehelichen Geburt fragen. Es sei genug damit gesagt, dass sie nichts Böses tun, getauft oder ungetauft. Meist sind sie nicht jünger als zwei und nicht älter als fünf Jahre. Es ist dies die Lebenszeit, in der die kleinen Burschen ringsum das größte Wohlgefallen verbreiten. Man muss sich manchmal geradezu beherrschen, um sie nicht in den Hintern zu beißen. Wenn sie auch als Kinder des Volks adoptiert wurden von allen, die sich des Lebens freuen, so hat doch niemand sie mit so viel Liebe gestaltet wie die Bildhauer und Schnitzer Ignaz Günther, Thomas Schwanthaler, Franz Xaver Schmädl, Johann Baptist Straub und Anton Sturm. Aus Marmor oder aus Lindenholz haben sie sie geformt, in die blühenden Farben des Fleisches gefasst, golden färbten sie ihre Flügel oder die Windeln, die ihnen ein mutwilliger Wind immer gerade so unter den Bauch bläst, dass nicht ein jeder sehen kann, dass sie Buben sind. Hosen tragen die Putten keine, das versteht sich, so weit darf die Prüderie der Pfarrer nicht gehen. Was hätten sie auch groß zu verbergen? Gesund und gut genährt sind sie allenthalben. Pausbacken und Fettpölsterchen zeugen davon ebenso wie die kleinen Grübchen am Kinn, auf den Wangen und auf den Rücken der Händchen. Die Haare sind meist gelockt, blond oder braun. Einen rothaarigen oder sommersprossigen hat man noch selten gesehen. Das ist zu bedauern. Putten sind Geschöpfe des Volkes. Sie sind keine Pagen oder städtische Edelknaben und können Namen und Titel entbehren. Die haben sie mit den Kleidern abgestreift und ergehen sich nun überall, wo sie keine erzieherische Strenge fürchten müssen, in einem Treiben, dem alles gestattet scheint, was nicht ausdrücklich untersagt ist. Sie purzeln aus Wolken, turnen auf Stiegengeländern, umtanzen die Köpfe von Kirchenvätern, schlüpfen den vornehmsten Damen unter den Röcken hervor. Sie äffen spielerisch nach, womit es den Erwachsenen ernst zu sein scheint. Auf der Balustrade einer Klosterbibliothek zum Beispiel kann man sie in den wunderlichsten Stellungen balancieren sehen, sitzend, hockend, kniend oder stehend. Und sie weisen dabei pflichtschuldigst die Attribute der verschiedenen Wissenschaften und Künste vor, von denen sie so wenig verstehen wie die Besucher, die kommen, um die Rücken der alten schweinsledernen Prachtbände zu bestaunen. In einem Festsaal sieht man eine Schar Putten Trauben mampfen und Girlanden schleppen rund um einen breiten Fries 172

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unter der Decke, immer im Kreis. Auf Logenbrüstungen lauschen sie Konzerten. Manchmal auch trompeten sie selbst oder posaunen oder schlagen die Zimbeln und Pauken, als hätten sie das Notenlesen gelernt. Doch man kann froh sein, dass nichts von all dem Lärmen zu hören ist. Es wären durchaus keine himmlischen Klänge, wie sie des Knaben Wunderhorn glauben machen will. Man hat noch keinen christlichen Herrscher oder Heiligen gesehen, der mit ihnen die Geduld verloren und einen von ihnen gepackt und übers Knie gelegt hätte. Wer aber zuerst auf den Gedanken gekommen sein mag, einigen von ihnen die prallen Bäuche samt Armen und Beinen abzutrennen und sie nur mehr als geflügelte Köpfe umherfliegen zu lassen, das wüsste man gerne. Seither nämlich haben sie sich mehr als bisher in ganzen Schwärmen verbreitet. Sie sind nicht mehr allein in Kirchen und Schlössern, in Rathäusern und an öffentlichen Brunnen zu finden. Bis in die Wohn- und Schlafzimmer sind sie vorgedrungen. Und wenn man sie einst aus Stein gemeißelt oder aus Holz geschnitzt hat, so wurden sie bald schon in Porzellan oder Ton und endlich gar in Pappmaschee modelliert. Es war nun aber schon zu viel des Guten. Irgendwann, als die Zeiten ernster wurden, nahm man ihnen ihre Flügel ab und setzte sie auf den irdischen Boden, um mit Hunden und Katzen zu spielen oder gar auf einen Topf, um sich zu erleichtern, oder stellte sie als Männeken Piss auf einen Brunnenrand. In Flandern und in den Niederlanden tat man das zuerst, dort war man bodenständig und protestantisch und hatte wenig Sinn für das Flatterhafte. Und es war gut so, denn hätten sie sich dortzulande weiter vermehrt, man hätte diese Kinder des Südens bald nicht besser geachtet als die nordischen Trolle, Wichtel und Gartenzwerge. Während diese jedoch warm angezogen immer noch schuften und rackern im Schweiße ihrer steinalten, zerknitterten Angesichter, ging den blankärschigen katholischen Lausbuben alles spielerisch von der Hand. Putten kennen keine Schwielen, keine Habgier und kein schlechtes Gewissen. Sie könnten’s auch lassen, was sie da eben tun, denn niemand belehrte sie oder zwang sie jemals zu etwas. Seit einiger Zeit sitzen sie nun auf den Wolken und schütteln die Köpfe. Offenbar freut es sie nicht mehr recht, sich überall einzudrängen und uns auch dort, wo wir gern allein gewesen wären, zu beobachten und zu belauschen. Einst hat es geschienen, als wären sie mit allem stillschweigend ein173

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verstanden, was Menschen tun oder lassen, und man genierte sich kaum vor ihren Augen. Man wusste, dass sie im Grund Heidenkinder waren und in Kirchen und Klöster kamen, weil sie dort so recht nach Herzenslust Purzelbaum schlagend sich vermehren konnten. Heut aber, heut schämt man sich, so denk ich, vor ihren Augen. Man sähe nicht gern, dass sie nachahmten, was wir heute so treiben, was wir machen aus unserer Erde. Es ist nicht viel mehr über, worüber sie lachen könnten.

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carlo goldoni zur 300. Wiederkehr seines Geburtstages am 25. Februar 1707

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ieder einmal habe ich in meinen beiden Ausgaben von Goldonis Komödien geblättert. Und wieder einmal habe ich es nicht dabei belassen können, eines der Stücke zu lesen, sondern habe weiter gelesen und gelesen und geblättert und wieder gelesen. Und habe dann auch den dicken blauen Band seiner Memoiren zur Hand genommen und habe geblättert und gelesen. Und da stand auf einmal das Geburtsdatum des Autors vor meinen Augen. Es war der Tag, an dem ich las, nur eben das Jahr war nicht dasselbe. Goldoni wurde 1707, also vor 300 Jahren geboren. Und wie ich so weiterlas und staunte und lächelte, wuchs in mir mehr und mehr das Bedürfnis, dem wunderbaren Mann meinen Dank auszusprechen, post mortem. Denn bei Lebzeiten hat er zwar viel, aber doch nicht genug davon bekommen. Wenn ich nun mit den nachfolgenden Zeilen einen kleinen Teil dessen, was wir alle ihm schulden, abzustatten versuche, wird es mir damit nicht gelingen, von den Lebensumständen des Carlo Goldoni und der Zahl seiner Werke mehr als nur Bruchstücke anzuführen. Die einen hat er selbst in seinen Memoiren besser geschildert, als es ein anderer könnte, die anderen zu beschreiben ist wegen der unüberschaubaren Menge auch einer fleißigeren Hand als der meinen unmöglich. Die Arbeit muss auf viele verteilt und darum den akademischen Seminaren, Symposien und Dissertationen überlassen werden. Der Neugierige wird, das sag’ ich vorher, sich angesichts der Überfülle sehr bald mit einigem Ausgewähltem begnügen. Meine Aufgabe kann es nur sein, aus meinen Augen auf einen Mann zu blicken und zu sagen, was er mir als einem Mann des Theaters bedeutet hat und weiter bedeuten wird. Und ich kann vorweg bekennen, dass von Jahr zu Jahr mehr wächst, was ich ihm entgegenbringe an Sympathie und Bewunderung. Die Memoiren habe ich von Anfang bis Ende und mit großem Vergnügen vor langen Jahren einmal und nun ein zweites Mal in Teilen gelesen. Von den Stücken habe ich zu meinem Bedauern keines selbst insze175

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niert, manche aber auf der Bühne gesehen, von anderen nur die gelesen, die mir ohne viel Mühe zu greifen waren, weil ich mich nicht im Stande sah, die ganze kostbare, aus dem sonnigen Süden eingeführte Fracht aufzuschnüren und zu prüfen. Ich habe mich dabei, berufsbedingt, zunächst einmal an die auch heute noch gelegentlich gespielten Opern gehalten, zu denen Meister wie Haydn, Galuppi, Gaßmann, Piccinni und Cimarosa die Musik komponiert haben. Dann habe ich die Komödien für das Sprechtheater, die ich in deutschen Übersetzungen von Lola Lorme oder Heinz Riedt schon seit vielen Jahren im Besitz habe, noch einmal durchgesehen. Es ist wohl so, dass vieles bei solchen Übersetzungsversuchen verloren gehen muss, etwa die Leichtigkeit, mit der Goldoni von einem Idiom zum andern, von dem der Bürgerlichen oder der Aristokraten in das der Gondolieri oder Fischhändler überzugehen vermag; die ortsbezogenen Späße, Sprachspielereien und absichtsvoll verdrehten Redewendungen, die überall nur von einem eingeweihten Publikum verstanden werden; die Eleganz und Sangbarkeit der Verse; der Hintersinn bei der Wahl der Namen und vieles mehr. Aber bei solch kritischen Gedanken habe ich mir doch stets vor Augen gehalten, dass viele von Goldonis Dialogen nicht in der toskanischen Hochsprache, sondern im venezianischen Dialekt geschrieben und darum auch von diesen beiden tüchtigen Übersetzern nur unzureichend in einem allgemein verständlichen Deutsch des 20. Jahrhunderts wiedergegeben und dass schon gar nicht die italienischen Dialekte durch deutsche ersetzt werden konnten. Und so habe ich denn auch meine nachhaltigsten Eindrücke von Goldonis Kunst nicht aus der Lektüre, sondern aus einigen Aufführungen italienischer Truppen gewonnen, die mir erlauben, alle anderen im Nachhinein etwas zu relativieren, ohne dem Hochmut des Besserwissens zu verfallen. Im Ganzen aber habe ich nur eben den Überblick über etwas mehr als zwei Dutzend Stücke gewonnen und müsste mir von jedem Bibliothekar den Vorwurf gefallen lassen, dass ich von einer Sache mich zu schreiben anschicke, von der ich doch nur einen Bruchteil kenne. Aber was diese berechtigte Einwendung angeht, so wüsste ich nicht, wie anders und besser man sich diesem Genie der Leichtfertigkeit namens Goldoni nähern sollte. Ich will nun also eben nur mit rascher Hand einen Versuch unternehmen, einem Mann meine Reverenz zu erweisen, der mir und Tausenden anderen so viele vergnügte Stunden bereitet hat. 176

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Wer das Nähere und Nächste über Goldonis Lebenslauf erfahren will, dem kann nur geraten werden, seine Memoiren zu lesen. Sie gehören mit denen seiner Landsleute und jüngeren Zeitgenossen Giacomo Casanova und Lorenzo da Ponte zu den besten und amüsantesten, die die Epoche hervorgebracht hat, und alle drei geben uns genaueste Einblicke sowohl in das gesellschaftliche Leben als auch in die Theaterlandschaften der kunstbeflissenen Städte Italiens und der großen europäischen Metropolen. Da ich aber wohl lange warten müsste, bis diese Lektüre von meinen Lesern nachgeholt würde, soll hier einstweilen gesagt sein, dass unser Mann in Venedig, im Palazzo Cent’ anni, im Sternbild der Fische und im Jahre 1707 als älterer von zwei Söhnen des Arztes Giulio Goldoni geboren und, ebenfalls zur Karnevalszeit, im Jahre 1793 in Paris verstorben ist. Sein ereignisreiches Leben erstreckte sich somit fast über das gesamte 18. Jahrhundert. Und dessen Geist, der Geist der Aufklärung, erfüllte und leitete Carlo Goldonis Leben und bestimmte sein Werk. Dass er am Ende hochbetagt, weitum berühmt und doch in Armut gestorben ist, soll uns ein Beweis mehr dafür sein, wie gering zu allen Zeiten auch die vormals beliebtesten Künstler geachtet werden, wenn sie einmal aus dem Licht zurückgetreten sind, in dem sie uns unterhalten und erfreut haben. Immerhin hat die Französische Nationalversammlung auf Antrag des Joseph Chénier dem alten Mann eine Pension zugesprochen. Er ist jedoch, dezent und rücksichtsvoll, wie er war, gestorben, eh’ ihn die Botschaft erreichte. Nun soll man daraus nicht schließen, dass der berühmte Mann nicht auch zuweilen recht achtbar, wenn auch nie ganz nach Verdienst, entlohnt worden wäre. Er hat gute wie bittere Tage gekannt. Die Bezahlung eines Theaterdichters erfolgte zu jener Zeit einzig bei der ersten Aufführung eines neuen Stückes, wenn nicht etwa noch im Falle eines außerordentlichen Erfolges eine eigene Benefizvorstellung zu seinen Gunsten gegeben wurde. Und so musste er zusehen, wie sich bald danach schon die Theater oder Buchverleger an die Plünderung seiner Rechte machten. Man spielte andernorts unbezahlt seine Stücke, druckte sie, ohne ihm ein Honorar anzuweisen, bearbeitete sie und vergaß oft sogar, seinen Namen zu erwähnen. Von so etwas wie einem Urheberrecht war noch lange Zeit keine Rede. Was einmal verkauft worden war, war endgültig frei zur Verfügung aller weiteren Benützer. Das ging so weit, dass sein ehemaliger Theaterdirektor Medebach die Rechte an Goldonis Komödien für 177

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sich reklamierte und als dieser dagegen Protest einlegte, der Hohe Rat der Republik dem Autor untersagte, dieselben Stücke noch einmal drucken zu lassen oder sie auch nur, falls sie andernorts gedruckt würden, auf venezianischem Herrschaftsgebiet zu verkaufen. Nun war aber unser Mann als studierter Jurist nicht willlens, sich mit amtlicher Beihilfe so leicht um die Früchte seiner Arbeit bringen zu lassen. Er ließ die Komödien in Turin nachdrucken und sie an der Zollgrenze der Serenissima zum Kauf anbieten. Unter Mithilfe freundlicher Verehrer seiner Kunst gelang dieser Streich über Erwarten und der Doge sah sich gezwungen, die Verordnung aufzuheben und den Autor wieder in seine Rechte einzusetzen. Man kann dies als einen ersten, wenngleich nur flüchtigen Erfolg im Kampf um die Rechte der Urheber betrachten und muss dem avvocato Goldoni auch dafür besten Dank im Namen seiner literarischen Nachfolger aussprechen, was ich hiermit gerne tun wollte, wenn ich hoffen dürfte, dass er mich für einen solchen gelten ließe. Ähnliche Kämpfe, um sich auf seinem Wege durchzusetzen, hatte Goldoni mehr als nur dies eine Mal zu bestehen. Es soll hier nur noch erwähnt werden, dass er sich schon als Knabe der Zucht des Internats in Rimini dadurch entzog, dass er Reißaus nahm und sich einer venezianischen Schauspieltruppe anschloss. Offenbar konnte man dem Schlingel schon damals nie so recht böse sein, denn seine Eltern vergaben ihm den Streich ebenso wie der Leiter der Knabenschule. Ein andermal endete die Sache nicht ebenso glimpflich. Der Student der Rechte Carlo Goldoni wurde wegen eines Spottgedichts auf einige angesehene Bürger der Stadt Pavia von der dortigen Universität relegiert und musste seine Studien für einige Jahre unterbrechen. Nachdem er zunächst seinen Vater auf dessen unruhigen Wanderschaften durch halb Oberitalien begleitet hatte, suchte er sich durch untergeordnete Tätigkeiten als Sekretär von Diplomaten und Adjunkt bei Ämtern und Gerichten über Wasser zu halten. Dass ihm das zum Schaden gereicht hätte, lässt sich nicht sagen; denn eben dadurch gewann er Einblicke in Lebensbereiche, die ihm später bei der Schilderung des venezianischen Alltags zustatten kamen. Nach dem frühen Tod seines Vaters war er, und mit ihm seine Mutter und sein jüngerer Bruder, auf die schmalen Einkünfte angewiesen, die er auf solche Weise erwerben konnte. Schließlich aber konnte er durch die Unterstützung eines entfernten adeligen Verwandten gleichen Namens sein Studium nunmehr in Padua be178

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enden und sich den Doktorhut der Rechte auf einen Kopf setzen lassen, in dem sich längst ganz andere Fantasien tummelten. Lange hielt es ihn nicht in Kanzleien, Kammern und Kontoren. Das Theater gewann erneute Macht über ihn. Dabei verzichtete er bald schon auf eine schauspielerische Karriere und widmete sich ganz dem Verfassen, Bearbeiten und Einstudieren von Stücken meist heiteren Inhalts. Wir wollen ihm auf seinen Wegen durch die Städte des nördlichen Italien nicht weiter folgen. Es genüge hier die Stationen Rom, Florenz, Pisa, Livorno und Genua zu erwähnen. In Genua fand er mit Nicoletta Connio die Frau, die, obwohl einer angesehenen bürgerlichen Familie entstammend, ihm durch alle Höhen und Tiefen seines rastlosen Künstlerlebens geduldig und liebevoll folgte. Wir lassen die beiden respektvoll eine Weile allein und erwähnen nur, dass es Goldoni im Jahre 1748 endlich gelang, in seine Heimatstadt zurückzukehren, und zwar diesmal als Autor des Impresario Medebach, der das Teatro Sant’ Angelo für seine Truppe gemietet hatte. Er hatte bei diesem noblen Herrn einen Vertrag unterschrieben, der ihn zwang, nicht weniger als sechzehn Komödien innerhalb eines Jahres zu verfassen und aufführen zu lassen. Wenn auch eine solche Fülle neuer Werke vor Augen führt, wie groß das Interesse des venezianischen Publikums an der Entwicklung seines Sprechtheaters war, so musste doch die überstürzte Eile der Produktion zu Nachlässigkeiten in der Ausarbeitung der Dialoge und zu Wiederholungen in den dramaturgischen Handlungsstrategien führen. Und so kann man nicht leugnen, dass neben einigen originellen und geistreichen auch ein paar Werke dem Autor aus der Feder geflossen sind, die er besser in seinem Tintenfass hätte belassen sollen. Dennoch sollte man bei einem solchen Urteil bedenken, dass Goldoni vorerst nicht beabsichtigte, für die kritische Nachwelt zu schreiben, sondern um sich und seine Familie zu ernähren, indem er die Wünsche seines Publikums befriedigte. Er suchte seinem Theater Erfolg und gute Einkünfte und den Darstellern dankbare Rollen zu verschaffen. Die leichte Hand, die er, einem Aquarellisten vergleichbar, durch solche Übung gewann, war wiederum dienlich für die sichere Skizzierung neuer Ideen, für die rasche Umsetzung aus dem Leben gegriffener Situationen in theatralische Szenen. Und die scheinbare Mühelosigkeit ihrer Gestaltung verleiht auch den besten Werken Goldonis erst ihre schwebende Grazie. Das Metier des Komödienschreibens ist eben darum so schwierig, weil die erforderliche Leichtigkeit der Hand durch 179

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kein Studium und keine Sorgfalt, sondern nur durch Versuch und Irrtum zu erlangen ist. Wer das oben Geschriebene aufmerksam gelesen hat, wird sich erinnern, dass dort behauptet wurde, dass Carlo Goldoni, obwohl in vielen Kutschen und auf vielen Flussbarken unterwegs, bis ins hohe Alter mit seiner Frau Nicoletta eine liebevolle Ehe geführt habe. Wir ergänzen diese Mitteilung durch den Hinweis, dass er in jüngeren Jahren, nach dem frühen Tod des Vaters, im Hause seiner Mutter und seiner Tante gewohnt und von der Zeit an die Sorge auch für seinen weniger hoffnungsvollen Bruder und, nach dessen Tod, für dessen Tochter sich aufgebürdet hatte. Das Bemühen um so vieler Personen leibliches Wohl hat ihn früh schon zu einer verantwortungsvollen Haushaltung und ein Leben lang zu unermüdlicher Arbeit getrieben. Die Achtung vor der Würde und Selbstbestimmung der Frauen war ihm zur Pflicht geworden. Die nachdrücklichsten Spuren davon sind in seinen Komödien zu finden. Dass diese von nichts anderem handeln als von Liebes- und Heiratssachen, liegt nun einmal in der Natur der menschlichen und zumal der italienischen Empfindungen. Mit diesen Themen aber wurden gerade Schicksal, Nöte und Freuden der Frauen ins Zentrum seiner Bühnenhandlungen gerückt. Und dass es der Beifall der Frauen ist, der über Erfolg oder Misserfolg einer Theateraufführung entscheidet, das wusste Goldoni so gut, wie es schon Shakespeare vor ihm gewusst hatte. Goldonis venezianische Truppe übersiedelte nach einigen Jahren vom Teatro Sant’ Angelo in das Teatro San Luca. Man frage mich nicht nach dem Grund. Nach einem Zerwürfnis mit dem Impresario Medebach und dessen mit zunehmendem Alter und abnehmendem Erfolg immer eigenwilliger werdenden Schauspielergattin verließ er endlich die Truppe, nicht aber den Schreibtisch. Vermehrt war er nun auch den öffentlichen Anfeindungen seines Konkurrenten, des Grafen Carlo Gozzi, ausgesetzt, der nicht nur die Abwendung von der Tradition der commedia dell’arte verurteilte, sondern auch den neuen Realismus der meist aus dem gegenwärtigen Alltagsleben gewonnenen Sujets von Goldonis Stücken, und der seinerseits nicht ohne Geschick Märchenmotive und Zauberkünste in die Maskenkomödien zu integrieren suchte. So recht können jedoch all diese Umstände nicht erklären, warum Goldoni auf dem Höhepunkt seines Erfolges sich entschloss, eine aus Frankreich ihm zugekommene Einladung 180

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anzunehmen und den Nährboden seiner Kunst, seine Heimstadt Venedig, zu verlassen. Es mögen private Gründe mitgespielt haben, es mag auch die alte Wanderlust wieder aufgebrochen sein; es mag der Wunsch gewesen sein, neben der nationalen auch die internationale Anerkennung zu finden; es mag die Hoffnung auf neue Inspiration durch die neue Umgebung gewesen sein. Genug, man muss nicht wirklich Erklärungen suchen, warum ein Künstler in Versuchung gerät, wenn eine Stadt wie Paris nach ihm ruft. Die Direktion des Théâtre des Italiens wurde ihm angeboten, er akzeptierte und reiste. Er reiste und reiste und konnte von den Vergnügungen des gemächlichen Reisens offenbar nicht genug bekommen. Überall, wo man ihn anhielt, machte er Station, traf alte Bekannte und neue Verehrer und ließ sich nicht drängen durch die Nachricht, dass die Bühne, die er übernehmen sollte, in Bedrängnis gekommen war. Wie es scheint, war die Aussicht auf die Übernahme der Pflichten eines Theaterleiters nicht der wichtigste Grund für seine Übersiedlung gewesen. Fast zwei Jahre vergingen auf solche Weise, bis er in Paris eintraf. Und auch nicht mehr als zwei Jahre vergingen, bis das Théâtre des Italiens trotz der Autorität und Kompetenz seines neuen Leiters seine Pforten endgültig schließen musste. Goldoni war nun 57 Jahre alt geworden. Und er war nach dem Misserfolg mit der Theaterleitung nicht mehr der Alte. Er hat in seinen späteren Jahren in Frankreich nur noch vergleichsweise wenige Lustspiele geschrieben, anfänglich noch in italienischer, bald auch schon in französischer Sprache. Er hat daneben den Damen der königlichen Familie italienischen Sprachunterricht gegeben und seinen Wohnsitz sogar für einige Jahre nach Versailles verlegt. Er hat seine früheren Werke drucken lassen und hat, wie schon erwähnt, seine umfangreichen Memoiren geschrieben. Vermutlich hat er nun auch die Komödien eines Molière oder eines Marivaux gelesen. Sicher ist, dass er sich mit Voltaire angefreundet hat. Im Wettstreit um die Reform der Oper hat er sich wohl eher auf die Seite des heiteren Piccinni geschlagen. In jedem Fall aber hat er sich nicht mehr abbringen lassen von seinem ureigenen Weg. Er wollte das Glück, das er zu verschenken gelernt hatte, nicht trüben lassen. Über das große öffentliche Interesse und den Erfolg der Subskription, die die Drucklegung seiner Werke ermöglichten, wird er sich ehrlich gefreut haben. Die Königin Marie Antoinette allein soll fünfundzwanzig Exemplare davon bestellt haben. Die erfrischende 181

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Bosheit eines Beaumarchais hat den alten Herrn wohl nur mehr befremdet. Die Freudentänze der Erstürmung der Bastille waren ihm ein Gräuel, der ihn erschaudern ließ bei der Erkenntnis, welche Dämonen die einst so wohl gesonnene Aufklärung entfesselt hatte. Die Revolution endlich beraubte ihn nicht nur seiner adligen Gönner, sondern auch seiner Ersparnisse, vielleicht sogar mancher seiner Illusionen von der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts. Nachdem wir das Leben unseres Helden nur sehr kursorisch durchlaufen haben, wollen wir nun doch einige Blicke auf das von ihm hinterlassene literarische und theatralische Erbe werfen, das unser Interesse an seinen privaten Lebensverhältnissen erst eigentlich rechtfertigen kann. Goldoni, das weiß heute ein jeder, der den Namen jemals gehört hat, Goldoni hat vor allem Lustspiele geschrieben. Um diese seine Vorliebe zu bestätigen, wollen wir ihn selbst aus seinen Memoiren zitieren: „Das Lustspiel“, so schreibt er, „das von jeher das Lieblingsschauspiel aller Kulturvölker gewesen ist, hat das Schicksal der Künste und Wissenschaften geteilt und war bei dem Verfall der Gelehrsamkeit unter die Trümmer des Römischen Reiches geraten. Der Keim des Lustspiels aber war im fruchtbaren Schoße Italiens noch nicht ganz erstorben. Die ersten, die um seine Wiedergeburt bemüht waren, konnten in einem Jahrhundert tiefster Unwissenheit keinen tauglichen Schriftsteller ausmachen und unterfingen sich Entwürfe zu versuchen, sie in Akte und Szenen zu teilen und die Einfälle, Gedanken und Scherze, die sie untereinander verabredet hatten, aus dem Stegreif herzusagen.“ Diese drei Behauptungen genauer zu prüfen, würde sich lohnen. Lassen wir es bei drei Fragen bewenden. Welches meinte er wohl mit dem „Jahrhundert der tiefsten Unwissenheit“, in dem die Wurzeln der commedia dell’arte zu suchen seien? Kein Zweifel: es kann nur das 16. gewesen sein, das Jahrhundert Leonardo da Vincis. Und apropos „Wurzel“: Wollte er wirklich, wenn, wie er meinte, sich keine tauglichen Schriftsteller hätten finden lassen, seinen Kollegen Macchiavelli nicht gelten lassen, der die Liebeswurzel „Mandragora“ zur Ehre eines Komödientitels erhoben hat, und auch nicht seinen Dramatikerkollegen Ariosto und die etwas jüngeren Guarini und Tasso? Und drittens: Hat er wirklich nicht erfahren, dass es doch das eine oder andere Kulturvolk gegeben hat, dessen Lieb182

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lingsschauspiel nicht die Komödie, sondern die Tragödie war? Man kann dem verehrten Goldoni nur zugutehalten, dass der Stolz über die Errungenschaften der eigenen Epoche den aufgeklärtesten Blick auf alle anderen vernebelt hatte. Er hat diese Geringschätzung vergangener Epochen übrigens mit anderen und manchen sehr berühmten Aufklärern geteilt. Das Anarchische, Irrationale der Maskenkomödien musste einen Mann, der an Verbesserung des Menschen durch die Aufdeckung seiner Schwächen und die Belehrung zum Guten glaubte, verschrecken. Der Memoirenschreiber Goldoni, avvocato veneziano, konnte später allerdings nicht leugnen, dass er zu Beginn seiner theatralischen Laufbahn sich auch an einigen ernsten Stücken versucht hatte, an Tragödien in Versen sogar. Die zu beurteilen sehe ich mich außerstande, denn ich muss bekennen, dass ich weder die „Amalasuntha“ noch den „Belisario“ noch sonst eines dieser nirgends mehr gespielten und vermutlich auch nicht in eine andere Sprache übersetzten Werke gelesen habe. Ganz sicher bin ich nicht einmal, ob sie überhaupt noch existieren. Goldoni verheimlicht nämlich nicht, dass er von seinen Jugendwerken mehr als nur eines zerrissen oder verbrannt hat, ein Beispiel damit gebend, das vielen, wenn nicht allen seiner Nachfolger im theatralischen Beruf mehr Nutzen als Schaden eingebracht haben würde. Ich selber exkludier’ mich nicht. Ich will nicht untersuchen, wie viele von Goldonis schätzungsweise 140 Komödien originale Werke und wie viele Bearbeitungen fremder Vorlagen waren. Von letzteren sind vielleicht „Pamela“ nach dem Roman von Richardson, „Der Lügner“ nach dem Stück von Corneille und der auch sonst vielfach neu bearbeitete „Steinerne Gast“ nach dem spanischen Sujet des Tirso de Molina die bekanntesten. Sie scheinen mir dennoch nicht zu den besten zu gehören. Es ist auch nicht zu verwundern, dass es ihm nicht gelingen konnte, einen Stoff wie den „Don Giovanni“ nach juristischen Maximen in den ordnenden Griff zu bekommen und zu einem guten Ende zu führen. Die neueste Ausgabe sämtlicher Werke unseres Dichters umfasst immerhin sechsunddreißig Bände. Dass die Mühe einer geduldigeren Lektüre sich lohnen würde, das haben hierzulande die Übersetzungen von Lola Lorme und Heinz Riedt gezeigt, nach denen ich im Folgenden zitieren werde. Ich selbst habe das unvergessliche Vergnügen gehabt, in Inszenierungen von Giorgio Strehler drei von Goldonis besten Komödien, den „Servitore di due padroni“, die „Baruffe chiozzotte“ und, aus dreien in eine 183

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zusammengerafft, die „Trilogia delle villegiature“ in originaler Sprache auf der Bühne zu erleben. Die sind mir zum Maßstab geworden. Seither habe ich manches Goldoni-Stück, manche Oper nach Goldoni-Texten gesehen und gehört, aber die Erinnerungen an sie alle sind verblasst gegenüber den meisterhaften Interpretationen des Mailänder piccolo teatro. Neben Strehlers Regiearbeit seien dabei die Bühnenbilder und Kostüme von Damiano Damiani und Ezio Frigerio nicht vergessen. In ihnen hat sich wieder einmal erwiesen, dass die Beschränkung der Mittel, will sagen der Dekorationen, Requisiten und Kostüme, die Beschränkung auch in Materialien, in Formen und Farben weit größere Wirkung zu tun vermag als jeder noch so opulent aufgetischte Augenschmaus. Goldonis Kunst zeigt sich vor allem in der Erfindung der dramatischen Fabel, in der natürlichen Grazie der Dialoge und in den dankbaren Aufgaben für die Schauspieler, die in seinem Theater stets die Herren und Herrinnen auf der Bühne bleiben. Und je mehr Spielraum Regisseur und Ausstatter diesen gewähren, je mehr sie das Licht unserer Aufmerksamkeit auf sie lenken, umso besser dienen sie ihrer eigenen Kunst. Wer in Venedig und anderswo zu Goldonis Zeiten ins Theater ging, erwartete von einem Lustspiel nichts anderes als Liebeslust und Liebesleid, und zwar vom Ersteren soviel wie möglich und nur eben so viel als unbedingt nötig vom andern. Dieses jedoch nur um wiederum der höchsten Lust, der Lust an der Versöhnung, willen. Man hat in nördlichen Ländern seither viel nach anderen Quellen der reinsten Freude gesucht, hat geschürft und gegraben, hat aber keine ergiebiger sprudelnde jemals gefunden. Goldoni war in der Dramaturgie der Irrungen und Wirrungen der Liebe, wie er in seinen Memoiren gesteht, schon von den ersten Schauspieltruppen, denen er sich angeschlossen hatte, unterwiesen worden. Und ist seither nie von diesem sicheren Pfad zum Erfolg abgewichen. Die Liebe zwischen Mann und Frau war und blieb sein alleiniges Thema. Und am Ende eines jeden seiner Stücke wurde geheiratet. Seine Aufgabe als dramatischer Autor war es, die Richtigen nach überwundenen Widerständen in der richtigen Weise zusammenzufügen. Die Widerstände gegen diese Fügung aber ergaben sich aus folgenden Umständen: erstens aus dem längst obsoleten, aber immer noch starrsinnig verteidigten Recht der Väter, Vormünder, Tanten oder älteren Brüder, die Hand der Töchter des Hauses zu vergeben oder zu verweigern. Zweitens aus den Standesunter184

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schieden, die es in Italien, anders als in England oder Frankreich, noch immer nicht gestatten wollten, dass ein Adeliger eine Bürgerliche zur Ehefrau nahm. – Von der Verbindung einer adeligen Dame mit einem bürgerlichen Manne konnte ohnehin noch lang keine Rede sein. – Drittens wurde einem glücklichen Ende Widerstand geleistet durch den Wettstreit meist männlicher, gelegentlich aber auch weiblicher Nebenbuhler. Um all diese Widerstände gegen das Glück der treuen Liebe ins Werk zu setzen und so die Handlung zu verwirren und die Lösung zu verzögern, diente dem Autor nun eine Dramaturgie der Missverständnisse, der versehentlichen Irrtümer, der fehlgeleiteten Botschaften, der unbedachten Klatschereien und der tölpelhaften Dummheiten der Bedienten. Goldoni glaubte an das Gute im italienischen Menschen. Kaum jemals unterstellte er einer seiner Figuren absichtsvolle Bosheit, kaum jemals gestattete er vom puren Hass geleitete Intrigen oder gar lang schwelende Rachegelüste. Letztlich konnte man sich, mit seltenen Ausnahmen, am Ende eines jeden seiner Stücke zu einer heiteren Feier der allgemeinen Versöhnung zusammenfinden. Fröhliche Mahlzeiten, Musik und Tanz beendeten auch die turbulentesten Szenen. Es war dem gutmütigen Mann nicht gegeben, die oft sehr finsteren Tiefen der menschlichen Seele zu erforschen. Mag sein auch, er wollte seine Zuschauer damit verschonen, wollte sie nichts davon wissen lassen und ihnen nur gereinigten Wein einschenken, ohne einen Tropfen Wermut dareinzugießen. Die Werke der großen spanischen und englischen Dramatiker hat er nicht gekannt. Wer weiß, ob sie ihm gefallen hätten. Man hat sich angewöhnt, vom jungen Goldoni als dem Überwinder einer abgelebten Tradition und dem Erneuerer des italienischen Theaters zu sprechen und ihn dafür über den grünen Klee zu loben. Dabei vergisst man im trügerischen Glauben, aller Fortschritt müsse immer nur zum Besseren führen, dass manches hintanbleiben musste, was keineswegs das Schlechtere war. In Goldonis Fall war dies die commedia dell’arte, deren hohen künstlerischen und ästhetischen Wert man seit einigen Jahrzehnten wieder zu schätzen gelernt hat. Es lohnt sich, zu diesem Thema ein paar Worte zu sagen; denn Goldonis Theater steht unleugbar am Ende einer langen italienischen Theaterepoche und am Beginn der Hinwendung zu einer neuen. Am Ende der commedia dell’arte und am Beginn der Charakterkomödie. Und man muss ihm mit einem venezianischen Sprichwort kontestieren, 185

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dass er die Feige gegessen und den Apfel darum nicht weggeworfen hat. Er hat beiden Künsten gedient und, so wie sein hin und her gerissener Diener Truffaldino, lange beiden zu gleicher Zeit. Denn er hat die beim einfachen Volk so beliebten Masken der commedia erst in seinen letzten Jahren allmählich und dann für immer beiseitegeschoben. Wenn wir heute, im 300. Jahr nach seiner Geburt, an Goldoni denken, so kommen uns unweigerlich auch die trotz aller Grabgesänge offenbar unsterblichen Masken der commedia in den Sinn. Und das berühmteste und meistgespielte seiner Werke bleibt eben doch „Der Diener zweier Herren“, und das nicht trotz, sondern auch gerade wegen der noch einmal zugestandenen Beteiligung der Masken. Mit ihrer endgültigen Verbannung hat Goldoni, auch wenn seine reife Kunst ihm großen Ruhm über Italiens Bühnen hinaus gewann, sich in seiner Heimat Venedig am Ende nicht nur Freunde gemacht. Die commedia dell’arte hat sich im 16. Jahrhundert aus dem Volkstheater des italienischen Nordens entwickelt und hat über die Jahre und Jahrzehnte hin ihre Interpreten zu komödiantischen Typen herangebildet, deren wichtigste die beiden jungen bergamasker Diener Truffaldino und Arlecchino, der eine schlau, der andere tölpelhaft, und die beiden Alten, der venezianische Kaufmann Pantalone de’ Bisognosi, und der bologneser Dottore Lombardi, verkörperten. Alle vier trugen Masken aus Leder und stets gleich bleibende Kostüme. Zu ihnen gesellten sich je nach den Erfordernissen der Handlung weitere Typen aus dem einfachen Volk mit unterschiedlichen Funktionen: ein tollpatschiger Pagliaccio, ein tückischer Brighella, ein Gitarre spielender Mezzetin und, aus dem Neapolitanischen übernommen, ein Pulcinella sowie ein stotternder Tartaglia, dazu eine schnippische Colombina, die als Kammerzofe ebenso oft den Namen wie die Herrinnen wechselte, ein auftrumpfender Capitano, ein verwegener Scaramozzo und, das versteht sich von selbst, ein junges, meist recht hilflos schwärmerisches und darum oft nicht minder komisches Liebespaar. Dieses wurde im Verlauf der Handlung durch die charakteristischen Intrigen und Schrullen der beiden Alten erst getrennt, dann mit einmal geschickter, einmal tölpelhafter Hilfe der Diener endlich doch wieder vereinigt. Goldoni selbst hat eine sehr genaue Beschreibung dieser Masken und ihrer ein für alle Mal festgelegten Funktionen gegeben, auf vielen Bildern des barocken Zeitalters findet man sie dargestellt, nicht immer im Vordergrund, manchmal auch eben nur, um die Heiterkeit des gemalten Sujets 186

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zu signalisieren. Maurice Sand, der Sohn einer berühmten Mutter, hat sie und alle ihre theatralischen Verwandten mit wissenschaftlicher Genauigkeit gezeichnet und koloriert. Man kennt sie auch in unseren Landen. Und darum mag es bei diesen Andeutungen bleiben. Nötig waren sie insoweit, als zu verdeutlichen war, vor welche Aufgabe sich der Sohn eines Arztes, Doktor der Rechte Carlo Goldoni, gestellt sah, als er sich in klarer Absicht an die Aufgabe machte, das in seinen Konventionen verhaftete Theater Venedigs und damit ganz Italiens durch eine Reform zu erneuern. Es war dies ein Unterfangen, das sich in ähnlicher Weise die Aufklärung auf allen Gebieten der europäischen Kulturen und Wissenschaften zur Pflicht gemacht hatte und über dessen Berechtigung ein Zweifel unter Intellektuellen dazumal gar nicht denkbar erschien. Man war sich an allen Tischen, über Tee-, Kaffee- oder Schokoladetassen darüber einig geworden, dass Reformen nottaten, dass Reformen mit fast allen Mitteln zu befördern waren, um dem Geist der Zeit Schneisen zu schaffen, durch die er wehen sollte, um den Staub verschlafener Epochen zu vertreiben. Die Diskutanten waren zur gemeinsamen Überzeugung gelangt, dass der Geschichte Europas, wenn nicht der Menschheit im Allgemeinen, eine Richtung zu geben sei, die zu höheren Zielen, zu größerer Effizienz der Mittel und endlich zu vermehrtem Glück für alle jene führen musste, die sich nicht widersetzten. Was lange gestanden hatte, musste endlich fallen. Was feste Formen gewonnen hatte, musste vom Fluss der allgemeinen Bewegung aufgelöst und davongetragen werden. Dem Licht entgegen, wenn das Auge sich an die Blendung gewöhnt haben würde, würde das Ziel sich schon finden. Nun war aber der Kopf des jungen Carlo Goldoni nicht nur auf den Bänken der Schulen und Universitäten und auch nicht nur an den Salonund Kaffeehaustischen gebildet worden. Er hatte auch als Sekretär von Diplomaten und als Gerichtsadjunkt, vor allem aber als Komparse und Kleindarsteller wechselnder Theatertruppen die Stimmen der einfachen Leute vernommen. Er wusste, wie Fischern, wie Dienern, Kürbishändlern, Wirten und Kramladenbesitzern und vor allem wie deren Frauen der Mund gewachsen war. Und darüber hinaus wusste er die Sympathie der venezianischen Gondolieri zu gewinnen, indem er sie und ihresgleichen unter anderem in einer vielbelachten Komödie mit dem Titel „La putta onorata“ in den Mittelpunkt seiner Handlung stellte. Goldoni beging nicht den Fehler, die neuen Ideen vom Katheder der Bühne herab zu ver187

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künden. Er ließ vielmehr nach und nach neue Gesichter erscheinen, ließ arme Leute neben Grafen und Baronen zu Wort kommen, ließ vor allem die Frauen nicht nur mehr ihr Schicksal als rechtlose Mündel der Männer beklagen, sondern ihren Willen bekunden, und ließ sie durchsetzen, was sie nach dem neu ins Bewusstsein gerückten Naturrecht fordern durften. Dass sich gegen solche Bestrebungen Widerstände erhoben, lässt sich leicht denken. Auch wenn sich Goldonis Kollegen und Konkurrenten Chiari und Gozzi besonders deutlich und gehässig vernehmen ließen, wundert man sich doch, dass sie damit nicht erfolgreicher waren. Denn Verbündete fanden sie gerade in den privilegierten traditionsverhafteten Kreisen. Zumal, was die Rolle des Adels anlangt, hatte sich Goldoni in seiner Kritik keine Hemmungen auferlegt. Man sehe sich nur einmal die vier Bewerber um die Gunst der „Vedova astuta“, der „schalkhaften Witwe“, an. Da streiten sich vier Aristokraten um eine Bürgerliche und drei von ihnen müssen sich am Ende nicht nur düpieren und verhöhnen, sondern auch noch belehren lassen. Man beachte, welche Schurkenrolle dem Marchese von Ripaverde in der „Putta onorata“ zugewiesen wird, und welch eine schrullige und lächerliche Figur der bettelarme Conte di Rocca Marina im „Ventaglio“, zu Deutsch „Der Fächer“, abgeben muss. Es gibt nur sehr selten einen adeligen Herrn oder eine adelige Dame in Goldonis Stücken, denen es gelingen könnte, unsere Sympathie zu gewinnen. In manchen Fällen übertrifft Goldoni hierin sogar den jüngeren Caron de Beaumarchais, dessen verspottetem Grafen Almaviva man wohl den Respekt, doch nicht die Sympathie ganz versagen kann. Nur hat es Goldoni eben bei der Zurschaustellung aristokratischer Selbstüberhebung und bürgerlicher Widersetzlichkeit belassen und hat weder Anklagen noch gar Aufrufe zum Umsturz der Verhältnisse daraus formuliert. Seine sich selbst gestellte Aufgabe war die des Reformers, nicht die des Revolutionärs. Die commedia dell’arte, haben wir gesagt, zeigte nur Bürger und kleine Leute auf ihrer Bühne. Die Hauptrollen spielten Diener und Zofen. Und auch die bürgerlichen Kaufleute und Ärzte waren ihr alles andere eher als Respektspersonen. Adelige traten in diesem Lustspiel, das sich das Volk selbst bereitete, nicht in Erscheinung. Goldoni musste, um nun aber Personen aller Stände und Klassen auf seine Bühne zu bringen, die traditionellen Masken mehr und mehr aus der Mitte der Handlung rücken. Dies tat er mit der größten Behutsamkeit und einmal mehr, einmal 188

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weniger, so als wollte er das Publikum an seinen Entscheidungen teilhaben lassen, als wollte er ausreizen, wie weit er wann gehen konnte, ohne einen allgemeinen Protest zu riskieren, der die Unternehmung des Impresarios Medebach hätte gefährden können. Es wird wohl auch mit dem Padrone oder der Padrona, die ihre Rechte als erste Schauspielerin der Truppe eifersüchtig hütete, und mit dem Mann oder der Frau an der Abendkasse immer wieder zu Diskussionen gekommen sein. Auch dürfte die von ihm durchgesetzte schriftliche Fixierung nicht nur der Dialoge, sondern auch der Regieanweisungen keine kleinen Probleme bei der Einstudierung verursacht haben. Denn zumindest die älteren Schauspieler waren alle noch eine größere improvisatorische Freiheit gewöhnt. Diese Schauspieler nun aber waren vertraut mit dem Umgangston des einfachen Volkes, ja auch fähig und bereit, in dem einen oder anderen Dialekt zu sprechen. Und wenn man heute dem Autor Goldoni das Verdienst zuschreibt, die Dialoge und damit die italienische Alltagssprache im teatro di prosa – so nämlich wird in Italien das Sprechtheater genannt im Gegensatz zur Oper, dem teatro lirico – zwar nicht eingeführt, aber doch schriftlich festgelegt zu haben, so sollte man dabei seine Helfer, die Akteure, nicht vergessen. Der Erfolg bei seinem Publikum gab dem Advokaten des Neuen recht bei seinen Reformen. Und am Ende seiner venezianischen Jahre hatte Goldoni die italienische Charakterkomödie geschaffen, die seinen Ruhm in Italien und zu seinen Lebzeiten auch in allen Theaterstädten Europas begründete. Nicht wenig zu seinem internationalen Renommee beigetragen haben die zahlreichen und schon fast zahllosen Vertonungen seiner Bühnenwerke durch die berühmtesten Komponisten der Epoche. Es seien hier nur seine Zeitgenossen Haydn, Galuppi, Gaßmann, Piccinni und Cimarosa und lange nach ihnen auch noch Wolf-Ferrari genannt. Heute ist man sich nicht mehr so ganz sicher, ob die Entwicklung des menschlichen Geistes und der menschlichen Künste, auch wenn der Fortschritt seiner Erkenntnisse und Fähigkeiten nicht zu leugnen ist, stets auf dem richtigen Weg war und ob dieser Weg einst an seinem Ende zu größerem Wohlergehen für immer mehr Menschen führen wird. Vieles vom Theater der Empfindsamkeit, dem Theater der sogenannten Wirklichkeitsnähe, der Alltagssprache, der Seelenerforschung hat man später auch wieder zurückgenommen. Was mich betrifft, so möchte ich, zurückblickend, meine lebhaften Zweifel daran anmelden, die Kunst des 16. oder 189

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17. Jahrhunderts geringer zu schätzen als die der Aufklärung, und schon gar nicht denke ich daran, die Kunst unserer eigenen Epoche der des 18. Jahrhunderts für überlegen zu halten. Doch darüber mehr ein andermal und an anderer Stelle. Wir wollen uns wegen der bitteren Erfahrungen unserer Zeit die Freude an dem schier immerzu wolkenlos blauen Himmel, den Goldoni über seinen Werken ausgebreitet hat, nicht nehmen lassen. Wir hoffen noch immer, dass das Lachen uns heilen kann. Er hat uns aus vollen Händen damit beschenkt. Es würde den Rahmen dieser kurzen Würdigung eines langen Lebens und unermüdlichen Schaffens weit überschreiten, wollte ich auch nur die wichtigsten von Goldonis Komödien und Opernlibretti näher betrachten. Mit der Nennung und kurzen Beschreibung einer Handvoll meiner Lieblingsstücke will ich mich darum zufriedengeben. Da ist nun gleich zu Beginn von Goldonis schriftstellerischer Karriere, noch unterwegs in Pisa geschrieben, „Il servitore di due padroni“, „Der Diener zweier Herren“, ein Stück, das auch heute immer wieder auf den Spielplänen zu finden ist. Max Reinhardt in Salzburg und Giorgio Strehler in Mailand haben lange nachhaltende Eindrücke mit ihren Inszenierungen dieses Werkes hinterlassen und ihre Darsteller des Truffaldino verdankten eben dieser Partie einen Höhepunkt ihrer Bühnenkarriere. Schon der erste Truffaldino, der beliebte Komiker Scacchi, hat bei der Uraufführung in Venedig einen solchen Erfolg gefeiert, dass er, wie Goldoni berichtet, dem Autor ein Geschenk ins ferne Pisa sandte, das diesen freudig überraschte. Scacchi, dessen Vornamen uns Goldoni nicht überliefert hat, war aber nicht nur der Interpret der Titelrolle, er war auch der Initiator des berühmten Stückes, denn er selbst war es, der durch einen Brief aus Venedig Goldoni dazu aufgefordert hatte, für ihn eine Komödie zu schreiben, die das altbekannte Sujet variieren sollte vom Diener, der sich aus Geldgier dazu verleiten lässt, zwei Herren gleichzeitig zu dienen. Dass es sich am Ende herausstellt, dass einer der beiden Herren eben kein Herr, sondern eine Dame ist, die sich auf der Suche nach ihrem Liebsten verkleidet hat, und dass der andere Herr eben dieser Liebhaber ist, bewirkt die glückliche Entwirrung des vielfach verzwirbelten Knotens. Die Masken in diesem Stück eine so bedeutsame Rolle spielen zu lassen, halten wir heute für eine glückliche Entscheidung des Autors. Denn was einst als veraltet erscheinen 190

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mochte, ist heute längst zeitlos geworden. Die Formalisierung des Spiels durch die Masken, die kein beseeltes Mienenspiel gestatten, ist uns heute durchaus wieder verständlich. Wir haben dergleichen in anderen Zeitaltern und anderen Kulturkreisen kennengelernt. Nach einer Theaterepoche der Seelenschürfungen haben wir wieder einmal die befreiende Wirkung durch das reine, anonymisierende Spiel entdeckt. Wir haben selbst wieder Bühnenwerke geschrieben oder inszeniert, in denen wir uns der entpersönlichenden Masken bedienten. Während andere mehr den Einflüssen der Zeit der Empfindsamkeit verpflichtete Stücke Goldonis nun schon Falten und Runzeln zeigen, ist Truffaldinos Maske ganz unversehrt geblieben. Die durch die Darstellung der großen Eleonora Duse wieder ins allgemeine Interesse gerückte „Locandiera“ muss auch hier genannt werden. Sie ist, ebenso wie „Der Diener zweier Herren“, in Bearbeitungen mehr als nur einmal vertont worden. Wenn ich mich nicht irre, so hat sie sogar für einen Film die Vorlage abgegeben. Am bekanntesten ist wohl Bohuslav Martinus Oper, die den Namen der Protagonistin „Mirandolina“ zum Titel bekommen hat. Dass die Produktion von nicht weniger als sechzehn Komödien im Spieljahr 1749/50 durchaus kein Grund war, die Qualität der Werke zu mindern, beweist „Der Impresario von Smyrna“, „L’impresario delle Smirne“, in dem der Autor aus dem reichen Schatz seiner persönlichen Erfahrungen schöpft. Diesmal nimmt er sich die eigenwilligen Sänger einer opera buffaTruppe vor, welche in Venedig von einem reichen türkischen Kaufmann für ein in der Hafenstadt Smyrna neu zu begründendes Opernhaus zusammengestellt werden soll. Der Streit um die Wahl der Primadonna veranlasst den von derlei Konflikten überforderten Türken schließlich fluchtartig davonzusegeln unter Hinterlassung einer großmütigen Spende für die edle Kunst. Das Stück wurde aus Anlass der 250-Jahr-Feier von Goldonis Geburt von Luchino Visconti im Teatro Fenice glanzvoll inszeniert. Es wurde auch vor einigen Jahren am Wiener Burgtheater gegeben, allerdings in einer Aufführung, die mich nicht wirklich zufriedengestellt hat. Es ist offenbar nicht leicht für die Schauspieler des Sprechtheaters, ihre Kollegen von der musikalischen Sparte glaubwürdig nachzuahmen. Das Thema der streitenden Sänger hat bald nach der ersten Präsentation mehrere Komponisten veranlasst, es in immer neuen Variationen auf die Opernbühne 191

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zu bringen. Dort unter professionellen Sängern sollte es auch am besten angesiedelt bleiben. Unter anderen hat der Regisseur und Autor des Wiener Burgtheaters Gottlieb Stefanie der Jüngere nach dem Erfolg der „Entführung aus dem Serail“ seinen Freund Mozart dazu überreden können, es gemeinsam und in gekürzter Form zu adaptieren. Daraus ist dann die einaktige opera buffa „Der Schauspieldirektor“ entstanden. Man hätte damals besser daran getan, sich weniger an Stefanies Adaptation und mehr an Goldonis Original zu halten, denn der Erfolg des Stückes entsprach nicht den Hoffnungen des Komponisten. Neuerdings hat man, so höre ich, den Versuch gemacht, Mozart wieder mit Goldoni zu versöhnen. Dafür nun aber ist doch zu wenig Musik vorhanden und zumal die kraftvoll komische Gestalt des Türken an Mozarts Partitur gänzlich unbeteiligt. Und so ist es vorerst bei dem Versuch geblieben. Ich habe an dem heiter-parodistischen Goldoni-Stück besonderes Vergnügen gefunden, weil ich selbst einmal bei einer Expedition nach Marrakesch als Regisseur einer ähnlichen Situation ausgesetzt war, die für mich glimpflich, für die Sänger jedoch recht enttäuschend zu Ende gegangen ist. Der Regisseur nämlich erhält üblicherweise nach der Generalprobe seine Gage, die Sänger aber erst nach der Premiere. Und die Premiere musste der ägyptische Impresario notgedrungen abwarten, ehe er sich heimlich bei Nacht mitsamt der Kasse aus dem Staub der marokkanischen Wüste machen konnte. Nicht fehlen soll in dieser Aufzählung Goldonis „Putta onorata“, zu Deutsch „Das ehrbare Mädchen“. In dieser Komödie würde man nach dem biederen Titel keinesfalls eine Auseinandersetzung um die Entführung und Verführung einer ebenso sinnlichen wie auf ihr einziges Kapital, den guten Ruf, bedachten Wäscherin und um die wortreichen und tatkräftigen Streitereien unter Venedigs Gondolieri vermuten. Dass dieses Stück eines der wenigen ist, in denen Goldini es wagt, auch einige recht widerwärtige Typen auf die Bühne zu stellen, erhöht seinen Reiz für unsere an stärkere Kontraste gewöhnten Augen und Ohren. Da nun aber vor allem im dritten Akt sich die Handlungsstränge der Intrigen so sehr verfilzen, dass es dem Autor nur mit Mühe gelingt, zu einem glücklichen Ende zu finden, wird man wohl bei einer Aufführung einigen Wildwuchs beschneiden oder auskämmen müssen. Es bleibt jedoch der besondere Reiz dieses Stückes, dass sich hier ein Großteil der Szenen auf dem Wasser, an Bord der so malerischen Gondeln oder doch jedenfalls am Ufer der Kanäle abspielt. 192

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Von den späteren Komödien Goldonis ist mir „Der Fächer“, im Original „Il ventaglio“, besonders lieb. Darin wird gezeigt, wie ein harmloser, kleiner, aus schöner Hand vom Balkon gefallener Fächer eine Kette von Turbulenzen, Verdächtigungen und Missverständnissen bewirkt, ehe er am Ende wieder mitsamt seinem glücklichen Überbringer in die Hände seiner Besitzerin zurückkehrt. All dies in einem einzigen Bühnenbild, das einen der kleinen, von fremden Reisenden unerforschten Plätze eines Dorfes im Veneto darstellt. Mein Lieblingsstück von Goldoni heißt mit italienischem Titel „Le baruffe chiozzotte“, was auf Deutsch etwa zu übersetzen wäre mit „Raufereien in Chioggia“. Goethe hat auf seiner italienischen Reise diese Komödie, ich glaube in Venedig, gesehen, hat gewiss von dem Dialekt der chiozottischen Fischer, in dem es geschrieben ist, nicht alles verstanden, hat sich aber dennoch so sehr amüsiert, dass er nach seiner Rückkehr das kleine Werk hat übersetzen und in Weimar auf die Bühne bringen lassen. Giorgio Strehler hat es am Teatro piccolo bewundernswert inszeniert. Es ist eines der wenigen Stücke, in denen sich Goldoni selbst auf die Bühne bringt, in der Rolle des jungen, unerfahrenen Gerichtsadjunkten Isidoro, der sich den heftigsten Liebes- und Raufhändeln der Insulaner gegenübersieht und dem es schließlich dennoch gelingt, Frieden zu schaffen und Hochzeiten zu stiften. Wenn sich am Ende alle Nachbarn bei einer furlana tanzend versöhnen, möchte man am liebsten seinen Stuhl nehmen und ihn mitten hinein auf die glückliche Insel stellen. Unter den Opern seien außer der bereits erwähnten „Mirandolina“ Joseph Haydns „Lo speziale“, „Le pescatrici“ und „Il mondo della luna“ genannt, die man in kleinerem Rahmen auch heute noch gelegentlich spielt, und natürlich Ermanno Wolf-Ferraris „I quattro rustegghi“ und „Il campiello“, beide ursprünglich für das Sprechtheater geschrieben und vom Komponisten nachträglich für seine musikalischen Zwecke selbst eingerichtet. Man hat diese beiden Stücke zuletzt an der Wiener Volksoper gegeben und wird sie gewiss auch bald einmal anderswo wiedersehen und -hören. Das ist auch für Wolf-Ferraris dritte Goldoni-Oper „La vedova scaltra“ zu hoffen. Es gibt auch auf der Opernbühne viel zu wenige heitere Stücke zu sehen. Zum Schluss soll nicht verschwiegen werden, dass Carlo Goldoni, nachdem er, wie schon erwähnt, im Jahre 1762 einem Ruf nach Paris ge193

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folgt war, sich auch in Frankreich wenn schon nicht als Theaterdirektor, so doch als Bühnenautor zurechtzufinden wusste, auch wenn er die ehemals so sorglose Sicherheit der leichten Hand verloren zu haben scheint. Er verfasste in französischer Sprache unter anderem jenen bekannten „Bourru bienfaisant“, in welchem er einige Charakteristika des empfindsam-sentimentalen Theaters zu übernehmen versuchte. Es geht dabei um einen scheinbar griesgrämigen Alten, der durch seine Launen die jungen Leute tyrannisiert, sie aber dennoch letztlich eben auf solche Weise zu ihrem Glück führt. Lorenzo da Ponte, ein großer Bewunderer seines venezianischen Landsmannes, der heimlich zahlreiche kleinere und größere Anleihen bei Goldonis Lustspielen genommen hat, hat dieses Stück ins Italienische übertragen und zu einem Opernlibretto für den spanischen Komponisten Vicente Martin y Soler umgestaltet. Es wurde im Jahre 1786 als „Il burbero di buon cuore“ erstmals am Kaiserlichen Hoftheater in Wien zur Aufführung gebracht und soll recht wohl gefallen haben. Das alles geschah noch „in der guten alten Zeit“, dem ancien régime. Von dem, was in seinen letzten Lebensjahren um ihn her in Paris und bald schon in ganz Frankreich geschah, wollte der alte Goldoni nichts mehr wissen. So gewaltsam, wie es nun geschah, hatte er den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen sich nicht erwartet. Er schloss nicht nur bildlich gesprochen die Augen vor den Schrecknissen der Revolution, er legte nicht nur die Feder beiseite, er erblindete in der Tat. Seine geliebte Nicoletta, die den wortreichen Mann so lange schweigend begleitet hatte, legte ihm am Abend des 6. Februar 1793 die Hand auf die längst geschlossenen Lider. Ich bin nicht sicher, ob seine Zeitgenossen wussten, was sie verloren hatten mit Carlo Goldoni. Und auch uns fehlt lange schon ein Mann seinesgleichen.

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georg forster, seefahrer, weltbürger und deutscher übersetzer der „sakontala“

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m 26. November 1754 wurde in dem kleinen Dorf Nassenhuben südöstlich von Danzig, im damaligen Westpreußen und heutigen Polen, Georg Forster geboren. Johann Reinhold Forster, der Vater, ein Pastor der reformierten Kirche, übersiedelte im Frühjahr 1765 nach Saratow ins russische Wolgagebiet, um im Auftrag des Zarenhofs einen – tunlichst positiven – Bericht über die Lebensbedingungen der von der Zarin Katharina dort angesiedelten Deutschen zu verfassen. In seiner neuen Umgebung ging der gelehrte Mann jedoch vor allem seiner privaten Leidenschaft, dem Botanisieren, nach und unterwies seinen Sohn in dieser Wissenschaft ebenso gründlich wie in der russischen Sprache. Nach der Überreichung des schriftlichen Abschlussberichts seiner Mission in St. Petersburg ging die Reise jedoch nicht mehr zurück nach Danzig, sondern weiter nach London, wo der Pastor, unterstützt durch Empfehlungen von Petersburger Aristokraten und Gelehrten und auch durch die Dokumentation seiner naturwissenschaftlichen Arbeiten, Aufnahme fand in die angesehene Royal Society of Antiquaries. Sein damals eben erst dreizehnjähriger Sohn hatte sich unterdessen als sprachbegabtes, frühreifes Wunderkind erwiesen und die kurze „Russische Geschichte“ von Lomonossow ins Englische übersetzt. Der Vater Forster erlangte bald eine Berufung als Professor der Naturwissenschaften an die Universität von Warrington im Nordwesten Englands. Auch dort scheint er sich einen respektierten Namen gemacht zu haben, denn als im Sommer 1771 die beiden Schiffe für eine zweite Weltumsegelung des James Cook bemannt werden sollten, wurde Johann Reinhold Forster von der britischen Admiralität als wissenschaftlicher Naturforscher zur Mitreise eingeladen. Georg Forster, damals noch nicht einmal siebzehn Jahre alt, begleitete seinen Vater auf dieser berühmtesten aller Seefahrten, auf der vor allem der bis dahin irrtümlich vermutete Südkontinent ins Reich der Legende 195

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verwiesen und zahlreiche Inselgruppen des Pazifik erstmals kartografiert wurden. Nach drei Jahren und 18 Tagen ging die über alle Erwartungen erfolgreiche Expedition an der Reede von Spithead zu Ende. Georg Forster, der unterwegs nicht nur zahlreiche ebenso detailgenaue wie kunstvolle Aquarelle der exotischen Fauna und Flora angefertigt hatte und dadurch seinem oft recht tyrannischen Vater bei dessen botanischen und zoologischen Entdeckungen behilflich gewesen war, hatte auch von den polynesischen Sprachen einige Kenntnisse erlangt und widmete sich nach seiner Rückkunft, ohne lange zu zögern, der Aufgabe, aus seinen privaten Tagebüchern einen Reisebericht zu verfassen. Dieser Bericht erschien in England, noch bevor der sprachlich nicht eben geschulte Kapitän Cook den seinigen hatte veröffentlichen können und wurde mit höchstem allgemeinen Interesse aufgenommen. Daraufhin sah sich der junge Autor veranlasst, auch eine Übersetzung in seine deutsche Muttersprache folgen zu lassen. Durch die Publikation dieser Fassung erlangte Georg Forster in seinem Heimatland eine solche Berühmtheit, dass ihn sein Hamburger Verleger dringend zu einer Rückkehr einlud. Bis zu diesem Zeitpunkt war Georg Forster, als gehorsamer Sohn den Launen seines selbstsüchtigen Vaters unterworfen, nie so recht auf die eigenen Füße gekommen. Der bestand nach hergebrachtem Recht darauf, dass der zu Wohlstand gekommene Sohn die Pflicht übernahm, für seine Familie zu sorgen, und das umso mehr, als dieser selbst noch keine Ehe eingegangen und keinen eigenen Haushalt gegründet hatte. Der junge Forster unterwarf sich einige Jahre dieser Forderung. Endlich aber trennte er sich nach langem Zögern von Eltern und Geschwistern und übersiedelte im Oktober 1778 nach Deutschland. Dabei musste er zu seinem Erstaunen erfahren, dass ihm nicht nur ein wissenschaftlicher, sondern auch ein literarischer Ruf in alle Städte, die er besuchte, vorausgeeilt war und dass er bei seinem Eintreffen von Fürsten und Gelehrten mit Ehren und Titeln geradezu überhäuft wurde. So traf der Vierundzwanzigjährige in Berlin mit Johann Georg Jacobi und in Düsseldorf mit Georg Christoph Lichtenberg zusammen. Lichtenberg berichtete von dieser Begegnung, dass Forster ihm erzählt habe, er sei auf seiner ganzen Weltumsegelung bei unterschiedlichsten Völkern nirgends und niemals bestohlen worden, zurückgekehrt nach England aber habe er erleben müssen, dass bei ihm eingebrochen und wichtige Erinnerungsstücke ge196

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stohlen, seine Schriften und Aufzeichnungen aber achtlos beiseitegeworfen worden waren. Forster wurde in Deutschland schon bald Mitglied mehrerer Akademien und ließ sich schließlich vom Landgrafen von Hessen als Professor an die Universität von Kassel verpflichten. Dort besuchte ihn unter anderen Goethe in Begleitung des Großherzogs von Weimar. Goethe selbst war einer der Ersten gewesen, der den stubenhockenden deutschen Dichtern und Denkern zumindest im europäischen Rahmen die Lust des Reisens eröffnet hatte. Und er traf in Georg Forster wahrlich einen, der die Reise aller Reisen getan hatte und Erstaunliches davon zu erzählen vermochte. Es ist nicht ganz undenkbar, dass die persischen, arabischen und indischen Themen, die mehr und mehr in Goethes späteren Werken dichterische Gestalt annahmen, durch die neue Bekanntschaft gefördert wurden. Auch Johann Gottfried Herder suchte Forsters Bekanntschaft, fand viele seiner völkerverbindenden Ideen in dessen Berichten bestätigt und trat danach mit ihm in freundschaftliche Korrespondenz. Mag sein, dass durch Herders Anregungen Forster sich zur Publikation einer Schrift zu der neu ins Blickfeld geratenen Frage der menschlichen Rassen veranlasst sah. Er hat hierin als aufgeklärter Idealist die gleichen Rechte und Würden auch der entlegensten „eingeborenen“ Individuen verteidigt und Stellung genommen gegen jede Form der Erniedrigung und Versklavung menschlicher Wesen. Aber nach all diesen Reisen von Stadt zu Stadt der angestammten Heimat, all den Begegnungen und unverhofften Ehren geschah es, dass Forster sich nun seinerseits nach dem, was ihm bisher verwehrt geblieben war, zu sehnen begann: nach Liebe, Geborgenheit und Ruhe. Er heiratete die Tochter des Göttinger Hofrats Heyne und folgte einem Ruf an die neu errichtete polnische Universität von Wilna. Dort aber wurde er alsbald von einem Gesandten des Zarenhofs zu einer weiteren Weltreise ermuntert, konnte der Lockung nicht widerstehen, unterzeichnete einen vielversprechenden Vertrag und kehrte zu Vorbereitungen nach Deutschland zurück. Kaum dort angekommen musste er erfahren, dass die projektierte Expedition aus ungenannten Gründen vom Zaren nicht genehmigt worden sei. Enttäuscht und ernüchtert übersiedelte er darauf mit Gattin und Tochter nach Mainz, um dort als Bibliothekar des Bischofs und Kurfürsten die lang vermisste Besinnung in einem friedlichen Familienleben zu suchen. 197

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Es war jedoch um den Frieden in der Familie nicht eben gut bestellt. Auseinandersetzungen über eine allzu liberale Interpretation der ehelichen Treue führten zu zeitweiser Trennung. Und zudem drangen die ersten Nachrichten über die nahe Grenze von der eben ausgebrochenen Revolution in Frankreich. Georg Forster, davon aufs Höchste erregt und begeistert, unternahm im Frühjahr 1790 mit seinem jüngeren Freund und Forscherkollegen Alexander von Humboldt eine Reise durch Brabant, Flandern, Holland nach England und umkreiste so das eigentliche Ziel seiner Hoffnungen in halb neugieriger, halb scheuer Distanz. Als er dann endlich doch nach Frankreich gelangte, geriet er dort, anders als sein wohlhabender und bedachtsamer Reisegefährte, sofort in den Taumel der neuen republikanischen Ideen. Zu deren Verbreitung auch in seinem Heimatland entschlossen, kehrte er zurück an den Rhein. Und bald schon betätigte er sich in Mainz als jakobinischer Revolutionär und Demokrat und forderte die Vertreibung des regierenden Bischofs, die Sezession der linksrheinischen Gebiete und deren Anschluss an Frankreich. Es wäre aufschlussreich in mehr als einer Hinsicht zu erfahren, welche Gespräche Georg Forster mit seinem um so vieles nachdenklicheren Schriftstellerkollegen Johann Wolfgang Goethe führte, als ihn dieser noch einmal an zwei Abenden am 20. und 21. August 1792 in Mainz besuchte, welche Meinungen sie zu den politischen Ereignissen vertraten und welche Vorhersagen sie einander für den künftigen Gang der Dinge machten. Der Großherzogliche Minister und Geheime Rat war in diesen stürmischen Tagen unterwegs zu seinem Fürsten, um einen Feldzug gegen die Truppen der Revolution zu führen. Ob er nach der Kanonade von Valmy auf dem nicht eben ruhmreichen Rückzug noch einmal durch Mainz kam und ob er in diesem Falle Lust gehabt hätte, noch einmal bei dem notorischen Feuerkopf und Unruhestifter Forster vorzusprechen, ist uns nicht mehr bekannt. Bald darauf jedoch verschaffte sich die Allianz der etablierten Mächte durch eine Rückeroberung der aufrührerischen Bischofsstadt wiederum Macht und Geltung auf altem Reichsgebiet. Georg Forster wurde als Rädelsführer und Landesverräter in Acht und Bann getan und musste, nachdem er sich, schmerzlich genug, auch noch von seiner Familie getrennt hatte, über der Grenze zuerst in der Schweiz, dann in Frankreich Zuflucht suchen. Wieder zog es ihn nach Paris. Dort aber hatte unterdessen die große blutige Welle der Verfolgungen und Hinrichtungen sich über alle 198

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Vernunft erhoben. Als am 17. Juli 1793 die todesmutige Mörderin des Schlächters Marat, Charlotte Corday, auf der Place de la Concorde unter der Guillotine starb, war Forster vermutlich mit seinem Mainzer Freund, dem bislang überzeugten Anhänger der Jakobiner Adam Lux, unter den Zusehern. Und er stimmte wohl ebenso wie die versammelte Menge in den Entrüstungsschrei ein, der dem Scharfrichter Einhalt gebot, als dieser den abgeschlagenen Kopf der Corday ohrfeigte. Zwei Tage danach verbreitete Lux ein Flugblatt, in welchem er die Corday als eine Heldin, „größer als Brutus“, bezeichnete. Das hat auch ihm bald darauf das Leben gekostet. Unter demselben Datum aber schrieb Forster, entsetzt von den Gräueln der Jakobiner, an seine Frau: „Ihr (Cordays) Andenken lebt bei Hunderttausenden, die noch Sinn für Größe haben, selbst unter denen, die Marats Rechtschaffenheit behaupten.“ In den folgenden Monaten der grausamsten Exzesse gelang es dem Exilanten jedoch nicht wieder, festen Halt zu gewinnen. Er geriet in Gefahr, den Mächten, die er einst beschworen hatte, selbst zum Opfer zu fallen, verkroch und versteckte sich und starb endlich, von Krankheit und Armut geschwächt, von seinen Lieben getrennt, von seinem Vaterland verstoßen, noch nicht einmal vierzig Jahre alt, am 10. Januar 1794 in einer Pariser Dachkammer. Man hat beim Blick auf dieses Leben eines groß begabten Mannes den Eindruck, als wäre es ihm trotz einer unbändigen Sehnsucht nach Freiheit nie so ganz gelungen, sich aus familiären, gesellschaftlichen und politischen Verstrickungen zu lösen. Und als er dann mehr gezwungen als aus freien Stücken sein Land und seine Familie verließ, auf eine berufliche Stellung und akademische Ehren verzichtete, konnte er, auf sich allein und seine idealen Hoffnungen gestellt, in den gewalttätigen Wirrnissen des Aufbruchs in eine neue Zeit nicht mehr behaupten. Freiheit aber war die Parole von Georg Forsters Zeit gewesen, Freiheit von althergebrachten ständischen Gesetzen, Freiheit von Willkür der Herrschenden, Freiheit von moralischen und religiösen Zwängen, Freiheit vom Diktat der Moden, Freiheit der Forschung, Freiheit der künstlerischen Gestaltung, Freiheit der Presse und Freiheit der Gedanken. Am sichtbarsten war die Sehnsucht nach ihr verwirklicht worden in der Freiheit der Meere. Und es gab in jenen Jahren, da die alten Grenzen in den Köpfen und auf den Landkarten Europas niedergerissen wurden, kaum 199

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eine zweite Gestalt, an der sich die Hoffnungen und Gefährdungen dieser eruptiven Bestrebung sinnbildhafter exemplifizieren ließen als eben die des heimatlos Reisenden, des forschenden Weltumseglers und Schreibers vieler Sprachen, des viel begabten und viel bewanderten Georg Forster. Es wäre wohl der Mühe wert, am Beispiel seines Lebens den begeisterten Aufbruch in eine neue Zeit und die Schrecken in dessen Gefolge zu zeigen. Und auch zu zeigen, dass das Niederreißen der Hürden zugleich die Freiheit der Wölfe bedeuten würde, die sich im nachfolgenden bürgerlichen Jahrhundert über die zerstreuten Herden hermachen sollten. Davon freilich hat Georg Forster wohl erst in seinen letzten Lebenstagen eine erste grauenerregende Ahnung verspürt. Letztlich muss man gestehen, dass dieser mehrfach Ausgewurzelte, dieser erzwungene Kosmopolit, dieser Forscher auf allen sieben Meeren sich nirgends mehr hat niederlassen können. Verfolgt von väterlichen Ermahnungen, Vorwürfen und Geldforderungen sah er sich oft kaum in der Lage, seine kleine Familie vor den Bedrängnissen des Alltags zu schützen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als habe sein Scheitern begonnen, als es ihm nicht gelungen war, sich zum rechten Zeitpunkt von seinem dominanten Vater zu lösen, um selbstverantwortlich seinen Weg zu gehen, und dass er, zuerst verwöhnt und dann verachtet in neuer Umgebung, das einmal Versäumte nie mehr hat einholen können. Unbekannt war er in Frankreich gestorben und als einer der vielen Namenlosen mehr verscharrt als begraben worden. Vergessen war er darum in Deutschland noch nicht. Lange Jahre war Georg Forster nicht nur ein weithin bekannter und viel zitierter Name, sondern auch ein gern gelesener Autor. Friedrich Schlegel, der kritische Geist unter den frühen Romantikern, schrieb über den Mann, der so viel Wind der weiten Welt ins Land gebracht hatte: „Man legt fast keine seiner Schriften aus der Hand, ohne sich nicht bloß zum Selbstdenken belebt und bereichert, sondern auch erweitert zu fühlen.“ Dann aber, allmählich, verblasste das Bild Georg Forsters. Und er kam dem Gedächtnis der Welt unversehens abhanden. Als die großen Gewitter sich verzogen hatten, begann man sich einzurichten in neuer Gemütlichkeit. Überlebt haben Georg Forster sein immer noch viel gelesener Bericht von Kapitän Cooks zweiter und bedeutsamster Weltumsegelung, eine Beschreibung seiner Reise durch den Westen Europas mit Alexander von 200

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Humboldt – der ihm vielleicht die später so großartig ausgelebte Sehnsucht ins Weite verdankt –, die bewundernswerten naturwissenschaftlichen Zeichnungen, die in eine Publikation seines Vaters eingegangen sind, und die Benennung eines nur in den südlichsten Breiten des Pazifik und auf der Antarktis anzutreffenden Vogels mit dem wissenschaftlichen lateinischen Namen Aptenodytes forsteri. Dieser mächtigste aller bekannten Pelikane wird bis zu 1,20 Metern groß. Forster hat ihn als erster gezeichnet und damit Nachricht von ihm gebracht. Überdauert hat ihn aber vor allem die erste deutsche Übersetzung der „Sakontala“ des in seinem Lande hochberühmten indischen Dichters Kalidasa, den man in unseren Breiten bald danach „den indischen Shakespeare“ genannt hat. Diese Übersetzung hat er, da es keinen Hinweis darauf gibt, dass er des Sanskrit mächtig gewesen wäre, vermutlich noch vor 1778 in London nach einer Vermittlung über das Englische verfasst. Sie hat im Jahre 1791 bei ihrem Erscheinen in Deutschland nicht weniger Aufsehen erregt als ihr im steten Wechsel von Glück und Unglück verfolgter Autor. Schiller erwähnt sie lobpreisend in seinem Essay zur „Ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts“. Goethe widmet ihr ein Epigramm, das hier zitiert werden soll: Will ich die Blumen des frühen, die Früchte des späteren Jahres, Will ich, was reizt und entzückt, will ich, was sättigt und nährt, Will ich den Himmel, die Erde mit Einem Namen begreifen, Nenn ich, Sakontala, dich, und so ist alles gesagt. Und so ist es kein Wunder, sondern nur eben der Vermittlung Forsters zu danken, wenn sich die Kunde von diesem wiederentdeckten Meisterwerk einer fernen Kultur um die Jahrhundertwende bis nach Wien verbreitete und dort schließlich die Aufmerksamkeit der Literaten des Schubertkreises weckte. Johann Philipp Neumann, der Dichter des Textes zu Schuberts „Deutscher Messe“, suchte das vielfarbige dramatische Geschehen in eine seinen Vorstellungen vom Musiktheater gemäße Form und in deutsche Verse zu fassen. Schubert vertonte vieles davon im Particell, ließ aber wie so oft mitten in der Arbeit von dem theatralischen Vorhaben ab, das offenbar mehr seinen Mut als seine Kräfte überfordert hatte, und wandte sich anderen Plänen zu. Die umfangreichen Fragmente seiner Komposition wurden nicht weiter beachtet und bald gänzlich vergessen. Wenn heute 201

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wieder ein Versuch gemacht werden soll, das bruchstückhafte Werk zu ergänzen, so geschieht dies nicht allein zu Ehren des Komponisten, sondern auch zu Ehren des großen Kalidasa und seines genialischen, allzu früh gescheiterten Vermittlers Georg Forster.

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chiller starb am Abend des 9. Mai 1805 in Weimar. Er war eben 46 Jahre alt geworden, und wenn auch sein Körper durch zahllose Krankheiten gezeichnet und schließlich zerstört worden war, so waren doch sein Geist und seine künstlerische Inspiration ungebrochen geblieben bis zum letzten Tag seines Lebens. Auf seinem Schreibtisch fand man den Monolog der Marfa aus dem unvollendet hinterlassenen Drama „Demetrius“. Das Fragment, das uns erhalten ist, spricht dafür, dass dieses Theaterstück, vollendet, eines seiner grandiosesten Werke hätte werden können. Der Plan war bis in zahllose Einzelheiten hinein ausgearbeitet. Und wenn es auch vergebne Liebesmüh sein mag, die Scherben eines zerbrochenen Gefäßes zur Schau zu stellen, so lassen doch ebendiese Bruchstücke des „Demetrius“ die gewaltige szenische Imagination ihres Autors erkennen und fordern darum mehr von uns als ein bedauerndes Achselzucken. Nirgends auf den überlieferten Seiten ist ein Hinweis darauf zu entdecken, dass Schiller aus einem anderen Grund als eben durch seine Krankheit und endgültig dann durch seinen Tod an der Vollendung gescheitert war. Wohl hatte er die Arbeit mehrere Male unterbrochen, um sich anderen Plänen zuzuwenden, die sich vordrängten oder ihm leichter von der Hand gingen. Doch gerade in seinen letzten Lebenswochen beschäftigte er sich allein mit der Ausarbeitung dieses Dramas. Und wann immer er sich an diese Arbeit machte, wurde er von neuen Ideen geleitet. Die hinterlassenen Entwürfe waren so genau durchdacht und psychologisch begründet, dass es in späteren Jahren eine Reihe von Dramaturgen und Literaten wagen konnten, das Drama in seinem Sinne, wie sie meinten, zu vollenden. An der ganz und gar unnachahmlichen Schiller’schen Sprache aber mussten sie scheitern. Deren hochgestimmten, emphatischen Ton, den idealistischen Elan seiner Rhetorik, denke ich, wollte man keinem als ihm allein zugestehen. Wir müssen uns hier damit bescheiden nichts anderes zum Gegenstand unserer Betrachtung zu machen, als was Schiller selbst erdacht, zusammengefügt und als Bruchstück uns hinterlassen hat. Und auch wenn das Sujet von den Kabalen und Kämpfen um die Nachfolge Iwans des Schrecklichen 203

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als bekannt vorausgesetzt werden kann, so soll doch auf einige Wegweisungen des Schillerschen Planes eingegangen werden, um an ihnen zu erläutern, warum diese unvollendete Tragödie alle Voraussetzungen besessen hätte, sich als ein würdiger Schlussstein in den großen Bogen der Bühnenwerke ihres Autors einzufügen. Das Fragment beginnt mit der Reichstagsszene in Krakau. In Schillers Entwürfen ist jedoch auch noch eine andere, intimere Szene ausgearbeitet, die dieser eventuell hätte vorausgehen und dazu hätte dienen sollen, dem Helden des Stückes, Demetrius, sei er nun ein echter Zarensohn oder nicht, die Sympathien des Lesers oder Zuschauers auf kurzem Wege zu verschaffen und damit dessen Bereitwilligkeit, dem Abenteuer der Thronprätention zu folgen. Der Held des Stückes sollte in einer Szene gezeigt werden, in der er Abschied nimmt von seiner Geliebten Lodoiska. Schiller legte, wie zuvor auch bei anderen Stücken, auch bei diesem Werk Tabellen und Listen an, wenn es um wichtige Klarstellungen ging. Er notierte sich jeden Gedanken, der für oder gegen eine Entscheidung sprach. So auch hier, gleich zu Beginn: „Soll die Szene zu Sambor der Reichstagszene vorangehen oder soll mit dem Reichstag begonnen werden? Vorteile des letzteren Falles: 1. Das Stück wird einfacher und kürzer. 2. Personen werden erspart. 3. Eine glänzende Exposition wird gewonnen. Nachteile: 1. Die bonne foi des Demetrius läßt sich schwerer erweisen, aber doch erweisen. 2. Die Beweise lassen sich weniger führen. 3. Marina verliert von ihrem Einfluß. 2. Lodoiska und ihr Bruder fallen ganz weg, die doch sehr interessieren. 5. Demetrius’ Katastrophe interessiert weniger, wenn er nicht vorher im Privatstand gesehen worden.“ Das sind fünf Gründe gegen drei. Wenn man jedoch bedenkt, dass Schiller sich sehr genau bewusst war, dass auf der Bühne Personen und deren Taten und Leiden gezeigt und nicht Absichten verkündet und Berichte verlautbart werden sollen, glaubt man zu erkennen, warum er schließlich doch auf die Szene in Sambor verzichtet hat: Er wollte das Stück mit einer turbulenten Massenszene beginnen, die ihre Wirkung vor allem auf die Augen des Publikums tun und ohne Umwege mitten hinein in die Handlung führen sollte. Hätte er jedoch in der ersten Szene wie geplant die Person der Lodoiska eingeführt, hätte er deren Liebe zu Demetrius und die Treue ihres Bruders, den sie ihm zur Begleitung mit auf den Weg gegeben hätte, gezeigt, wäre zur äußeren, politischen Handlung jener Gegenpol gewonnen worden, nach dem Schiller gesucht hat. Die Rolle der Zarentochter Axinia, die ohne204

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hin nicht recht überzeugend erst für einen späteren Auftritt geplant war und nicht mehr ausgeführt wurde, wäre erspart und damit das Handlungsgeflecht vereinfacht worden. Auch wäre die Reichstagsszene in diesem Falle nicht so umfangreich geworden, da die große Erzählung des Demetrius zumindest teilweise weggefallen wäre. Auch einige andere Auftritte, in denen wichtige Informationen nachgereicht werden mussten, wären überflüssig geworden, wenn die Exposition in Sambor szenisch abgehandelt worden wäre. Diese Argumente sprechen gegen Schillers Befürchtung, dass diese Szene das Stück zu lang gemacht hätte. Dennoch kann man seine Entscheidung für den Beginn mit der Reichstagszene nur begrüßen. Sie wirkt wie ein großes Tor, das aufgestoßen wird und uns den Blick eröffnet auf eine gewalttätige Zeit. In der Gestaltung von Massenszenen ist Schillers Meisterschaft nicht zu übertreffen. Und die großartigste von allen ist der Reichstag in Krakau geworden, wenn man ihn, da man seine Gewichtung im gesamten Plan nun nicht mehr werten kann, als losgelöste, einzelne Szene betrachtet. Schillers Vorliebe für das Theatralische der Haupt- und Staatsaktionen hat wohl auch den letzten Ausschlag für seine Entscheidung gegeben. Der König von Polen, Sigismund III., hat in der Auseinandersetzung der Parteien nur sein Richteramt darzustellen, nichts jedoch zu argumentieren. Erst wenn sie vorüber ist, wird er sich mit Demetrius über dessen Pläne besprechen. Solange die öffentliche Versammlung währt, sagt er kein Wort. Er leiht nur sein Ohr. Umso mehr spricht die hohe katholische Geistlichkeit. Die Bischöfe von Krakau, von Wermeland und, allen voran, der Erzbischof von Gnesen, als der Primas des Königreichs, die führen das große Wort. Die Priester nehmen in Schillers Dramen seit je eine zweideutige Stellung ein. Wenn man weiß, dass er einst in früher Jugend den lebhaften Wunsch geäußert hat, protestantischer Prediger zu werden, ahnt man die Quelle seiner Kritik an den katholischen Gottesmännern. Sie werden bei ihm repräsentiert durch den Kapuziner in „Wallensteins Lager“, durch den spanischen Priester Domingo oder gar durch den Großinquisitor im „Don Carlos“. Auch dass er die katholische Maria Stuart auf ihrem letzten Weg nur durch einen Arzt und eine Kammerfrau begleiten lässt und ihr den Trost eines Priesters vorenthält, lässt sich nicht leicht anders erklären. Schiller überlegte offenbar lange, ob er nicht auch im „Demetrius“ die dem Papst ergebenen Jesuiten ins Spiel bringen sollte. Damit wäre Marina in unterwürfiger Bigotterie als deren Werkzeug und 205

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nicht als die ehrgeizig berechnende Frau erschienen, die im eigenen Namen und in dem ihres Vaters Mnischek handelt. Auch wenn er schließlich auf die Jesuiten verzichtete, so hat Schiller es sich doch nicht verkneifen wollen, zumindest den orthodoxen Archimandriten Hiob als „verschmitzten Pfaffen“ darzustellen, der gerade der rechte Mann war, einen schurkischen Plan des Thronräubers Boris Godunow ins Werk zu setzen. Hiob, als Gesandter des Zaren, lässt denn auch kein Mittel unversucht, um Marfa, die Witwe Iwans des Schrecklichen, dazu zu verleiten, den Demetrius nicht als ihren Sohn zu legitimieren, sondern ihn vielmehr als Schänder ihres Andenkens an das gemordete Kind zu verfluchen. Marfa dagegen zeigt in einem leidenschaftlichen Ausbruch ihre jahrelang zurückgedämmten Rachegefühle und ist entschlossen, den Prätendenten als ihren Sohn anzuerkennen, auch wenn er es in Wahrheit nicht ist. Doch wir sind vorausgeeilt bis ans Ende des Fragments und kehren zurück nach Krakau, zum polnischen Reichstag. Dort scheint nicht recht begründet der Aufruhr, den Leo Sapieha inszeniert. Offenbar ist dieser polnische Fürst ein Handlanger Godunows, des Usurpators auf dem russischen Zarenthron, der die Unternehmung des Prätendenten im Keim zu ersticken versucht. Und ihm gelingt es auch, als er die Parteinahme für Demetrius nicht verhindern kann, den Reichstag im Tumult zu beenden, und so eine ihm missliebige Entscheidung zumindest vorerst zu verhindern. In den hinterlassenen Plänen findet man keinen näheren Aufschluss über die Absichten des Sapieha. Die nächstliegende Begründung scheint darum allein die dramatische Wirkung, die der energische Widerspruch auf der Bühne tun musste und der Zwiespalt, in dem die Aufklärung über die Herkunft des Prätendenten verbleiben sollte. So oft sich Schiller in seinen Notizen selbst vor Weitläufigkeit warnt, manchmal kann er sich nicht entschließen, nur um der prägnanten Kürze willen auf einen Einfall zu verzichten. Der „Demetrius“, wäre er vollendet worden, hätte gewaltige Ausmaße erreicht, wäre an Umfang vielleicht einzig vom „Don Karlos“ übertroffen worden, wenn man von der Trilogie des „Wallenstein“ absieht. Zwei Dutzend gedruckte Seiten in der mir vorliegenden Ausgabe sind in Versen erhalten. Und dabei ist eben nur die erste Szene des zweiten Aufzugs erreicht, die Szene, in der die Zarenwitwe Marfa im Kloster vom Erscheinen des Kronprätendenten erfährt. Eine gewisse Ähnlichkeit im Charakterbild des Demetrius mit dem Wal206

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lensteins ist trotz des unterschiedlichen Lebensalters nicht von der Hand zu weisen. Der Held, der zu Beginn in gutem Glauben handelt, verstrickt sich mehr und mehr in eigene Schuld. Seine immer leidenschaftlicher um sich greifende Herrschsucht wird, befördert durch die Intrigen von Freunden und Feinden, zur treibenden Kraft seines Handelns und endlich auch zur Ursache seines Untergangs. Fast alle Figuren Schillers, und nicht nur die für dieses Stück geschaffenen, werden durch eine dominierende Leidenschaft geleitet. Sie werden daran vom Autor wie in einem dramaturgischen Mechanismus bewegt. Er lässt ihnen kaum eigenen Spielraum, kaum lebendige Widersprüche. Und so ist auch sein Drama vom Kronprätendenten Demetrius, wie es ein ihm befreundeter Zeitgenosse vielleicht genannt hätte, ein „ausgeklügelt Buch“. Darin verkörpert die polnische Fürstentochter die Intrige im Dienste eigener Ambitionen und des machtbesessenen Katholizismus, die Zarenwitwe Marfa die durch die Trauer um ihren ermordeten Sohn genährte Begierde nach Rache. Wie sie, als die interessanteste Frauenfigur des Stückes, sich im späteren Verlauf in der Auseinandersetzung mit dem Rächer erweisen sollte, ist aus den Entwürfen nur undeutlich ersichtlich. Doch weist alles darauf hin, dass sie sich am Ende entschließen würde, auch gegen den falschen Demetrius Stellung zu nehmen und ihn zu entlarven. Axinia, die Tochter des unrechtmäßigen Zaren Godunow, wird von ihrem verletzten Stolz beherrscht und von nichts sonst. Lodoiska, deren Gestalt nur in Umrissen aus den unausgeführten Skizzen zu erkennen ist, liebt und spricht von nichts anderem als ihrer Liebe. All diese Frauen sind Schiller’sche Geschöpfe, wie man sie auch zuvor schon gekannt hat. Sie gewinnen kein weibliches Eigenleben gegen die Pläne des Autors, legen dessen wohl gegründete Argumente dar und entschlüpfen nie seiner ordnenden Hand. Lebensvoller ist der Charakter des Demetrius gezeichnet. Sein Streben nach dem russischen Thron, das zuerst das Schwert der strafenden Gerechtigkeit führt, erweist sich nach und nach als Ehrgeiz, Machtgier und Tyrannei. Sein politisches Scheitern und endlich sein Untergang aber werden durch seinen moralischen Zusammenbruch bedingt, der ihm mehr und mehr die Kraft nimmt, andere zu überzeugen und an sich zu binden. Einmal aber hat der Dichter dem Strategen Schiller die Feder aus der Hand genommen, einmal in einer kleinen, leider nur skizzierten Szene des zweiten Aufzugs und hätte es bei weiterem Fortschritt der Arbeit wohl noch 207

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öfter getan. Demetrius steht mit dem polnischen Heer auf einem Hügel an Russlands Grenze und blickt weit hinaus auf den Frieden über den Flüssen und Städten. Er sinnt und zaudert hinabzusteigen, um das Land, das ihm zu Füßen liegt, zu überfallen und zu verwüsten. Er liebt Russland, er liebt seine Heimat. So sehr fühlt er sich bereits in seine Rolle als Zar hinein, dass er Verantwortung empfindet für seine Länder und Menschen. Die Feldherren lachen. Demetrius steigt hinab. Es ist dies zugleich die letzte zumindest in Entwürfen halbwegs ausgearbeitete Szene. Nur noch einige Verse sind uns erhalten von einem Zusammenlauf des Volkes in einem russischen Dorf, in dem Demetrius die Aufforderung verlesen lässt, zu ihm als dem rechtmäßigen Erben des Zarenthrones, bewaffnet überzugehen. Dann bricht das Werk, das auch zuvor schon hier und dort Lücken zeigt, gänzlich ab. Um jedoch zumindest einen Überblick zu vermitteln über den Entwurf zu der immer großartiger sich steigernden Handlung, soll in einigen Worten der geplante Fortgang der Bühnengeschehnisse angedeutet werden. Nach dem Siegeszug des von dem sich befreit wähnenden Volke getragenen Helden und dem Bericht vom Selbstmord des – nicht auf der Bühne erscheinenden – Thronräubers Godunow tritt der Umschwung der Handlung im dritten Aufzug ein. Demetrius stürzt von der Höhe seines Glückes durch den Verlust des Glaubens an sich selbst und an seine Sendung. In maßloser Wut und Enttäuschung erschlägt er den Intriganten Odowalsky, als er erfährt, dass er, ohne es zu ahnen, als dessen Werkzeug gehandelt hat. Diese Szene war zum Kulminations- und Wendepunkt der Tragödie bestimmt. Hier entscheidet sich die persönliche Schuld des Demetrius, von der er sich bisher frei zu sein glaubte. Erniedrigung und Empörung treiben ihn zum Verbrechen. Demetrius, der das Land befreien wollte von der Gewaltherrschaft, beginnt seinen Vorläufern Iwan und Boris zu gleichen. Nicht minder eindrucksvoll hätte sich vermutlich eine weitere Szene gestalten können, die Schiller noch vor dem Einzug des gedemütigten Siegers in seine Hauptstadt Moskau einzufügen gedachte. Marfa, die Zarenmutter, und Demetrius, der nun erfahren hat, dass sie nicht seine wahre Mutter ist, stehen einander gegenüber. Jetzt, da er vor sich selbst alle Legitimation für sein Handeln verloren hat, steht er vor dieser Frau, um sie zu überzeugen, dass er ihr Sohn ist, um einer Mutter Tränen der Wiedersehensfreude entgegenzubringen. Sollte ihn Marfa entlarven, so wäre er hoffnungslos der 208

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Wut des betrogenen Volkes ausgeliefert. Schiller hält die Spannung am Leben und lässt Marfa zweifelnd im Ungewissen bis zum letzten Augenblick schweigen. Dann folgt der rauschende Einzug in Moskau: Lärmendes Glück um ihn her, Glockengeläut, Jubelgeschrei. Und in seinem Inneren nichts als eine verzweifelte Verbissenheit, den Weg bis zum Ende zu gehen. Einen letzten Halt sucht Demetrius in Axinia, der Tochter des gestürzten Zaren Godunow, obwohl er nicht wissen lässt oder selbst nicht weiß, ob er sie um ihrer selbst oder um ihres Erbrechtes willen für seine Sache gewinnen will. Doch diese verhehlt dem Usurpator nicht ihre Verachtung. Im letzten Akt plante Schiller die in Krakau abgesprochene Hochzeit des neuen Zaren mit der polnischen Fürstin Marina. Von der aber hat dieser sich längst entfremdet. Immer wieder verführt ihn die scheinbare Nähe der Herrschaft zu Selbsttäuschung und Lüge. Die alle Sinne und Hoffnungen überwältigende Pracht der Zarenpaläste umschließt ihn als trugvolle Kulisse, vor der sich sein innerer Zusammenbruch umso eindrucksvoller ereignet. Demetrius hat gelernt, die von ihrem eigenen Ehrgeiz geleitete Marina zu durchschauen, und ist dennoch gezwungen, sie auf den Thron zu erheben. Dann jedoch, während der Hochzeitsfeierlichkeiten, bricht das Unheil über ihn herein. Die katholischen Polen, die den neuen Zaren und seine Braut schützend umgeben, sind den Russen verhasst und außerstande ihn zu schützen. Die Zarenmutter Marfa, die ihn durch ihr schweigendes Einverständnis gestärkt hat, von Demetrius danach aber beiseitegeschoben und um ihre Hoffnungen betrogen wurde, sie rächt sich nun ein zweites Mal. Als die zur Verschwörung entschlossenen Bojaren von ihr die Antwort auf die Frage fordern, ob der neue Herrscher ein Sohn des Zaren Iwan sei, wendet sie sich stumm von ihm ab. Marina gelingt es zu fliehen. Demetrius wird erschlagen. Dieses gewaltsame Ende großer Hoffnungen sollte in dem projektierten Untertitel der Tragödie seinen Ausdruck finden: „Die Bluthochzeit von Moskau“ sollte er lauten. Beim Durchlesen dieses Planes entsteht das gewaltige Gemälde eines politischen Spiels um Macht und Leidenschaft. Man sieht die handelnden Personen vor sich, ahnt die Wirksamkeit so mancher Szene und staunt über die dramaturgische Stringenz des Ganzen. Die Architektur ist so beeindruckend, dass man lebhaft bedauert, dass man das ganze belebte Gebäude niemals auf der Bühne wird bewundern können. Die Massenszenen do209

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minieren in diesem Werk: der Reichstag in Krakau, die Volksszene im Dorf an der Grenze, der Einzug in Moskau, die Krönung im Kreml, die Hochzeit, die Pracht des polnischen und des russischen Hofes, der katholischen und der orthodoxen Riten. Ein Fest für Augen und Ohren. Schiller war ein Bewunderer Christoph Glucks und ein begeisterter Freund der Oper. In Weimar hat er alle musiktheatralischen Aufführungen besucht und manche kommentiert. Dass seine Theaterstücke in späteren Jahren mehrere Komponisten immer wieder zu Vertonungen inspiriert haben, kann uns nicht Wunder nehmen. Den Stoff des falschen Demetrius aber hat ein anderer noch einmal und, ein Lebensalter später, auf andere Art an sich gezogen. Von dem Werk, das durch seine Haupt- und Staatsaktionen alle anderen Schiller’schen Werke an szenischem Aufwand übertreffen sollte, von seinem „Demetrius“, steht nur das Gerippe. Und es ist halb nur bekleidet mit Schillers fünffüßigen Jamben: wortreich, faltenreich, geistreich, kostbar und glänzend. Nirgends kann ein rechtschaffener Mensch dem Autor widersprechen. Nichts von dem, was da gesagt wird, hätte ein anderer besser zu sagen vermocht. Eloquent ist eine jede der zahlreichen Figuren, selbst hingerissen und alles ringsum hinreißend. Warum aber fällt es heute den Schauspielern und vor allem den Schauspielerinnen so schwer, die meisterhaft geschmiedeten Schiller’schen Verse zu sprechen? Haben sie den Glauben verloren an die Macht des Wortes, an die Macht der Ideen, von denen man einst gesagt hat, sie gestalteten die Welt? Glaubt keiner mehr an die Macht des Guten, das alle Intrigen besiegt und durch den Tod alle Verirrungen sühnt? Vertraut keiner mehr dem Kampf des Erzengels gegen die Pforten der Hölle? Stottern sie lieber oder verkrampfen sie ihre Finger in die Taschentücher, als dass sie den Mund auftun, um der Welt laut ins Gesicht zu sagen, was die Worte des Dichters sie zu denken, zu empfinden lehren könnten? Lähmt sie der Gedanke, dass diese klassischen Figuren nicht ihre eigene Sprache sprechen, sondern die eines berühmten Dramatikers? Fühlen sie, dass er diese seine Sprache gebraucht, um Sachverhalte, Gedanken, Pläne, Forderungen darzulegen, anstatt Empfindungen zu offenbaren? Dass er nicht zuhören kann, wenn jemand schweigt? Wenn jemand stammelt? Wenn jemand vergeblich darum ringt, das rechte Wort zu finden? Ganz unrecht hätten sie nicht. Schiller erweist sich auch in seinem letzten Werk als der Prediger, der er einst hätte werden wollen, als der Überbringer einer 210

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Botschaft, die ihm gewiss heiß brennend am Herzen lag. Nieder mit den Tyrannen! Freiheit den Geknechteten! Verachtung den Intrigen und Kabalen! Sieg dem Wort über die rohe Gewalt! Wer könnte ihm darin widersprechen? Aber ist es ein Wunder, dass vor dieser Eloquenz heute so mancher zurückweicht, als fürchtete er, selbst in seinem Gewissen getroffen zu werden? Es ist gewiss ein Verlust für das deutsche Theater, dass dieser „Demetrius“ ein Stückwerk geblieben ist, ein verlassener Bauplatz, unwegsam durch verstreute, nur grob behauene Blöcke. Er wäre neben dem „Wallenstein“, dem „Don Karlos“ einer der stützenden Pfeiler des nationalen Theaterdaches geworden. Und nicht nur dessen in Weimar. Aber wenn es Schiller gelungen wäre, den gewaltigen Plan zu vollenden, wer weiß, ob Alexander Puschkin, der wie alle Russen ein großer Verehrer des deutschen Dichters war, es gewagt hätte, diesen ureigen russischen Stoff noch einmal aufzugreifen und uns mit seinem „Boris Godunow“ ein Werk zu schenken, auf das wir, zumal in seiner Vertonung durch Modest Mussorgskij, um keinen Preis verzichten wollten. Es ist von hohem Interesse, das eine mit dem anderen zu vergleichen, zu sehen, wie Puschkin für jede seiner Figuren die ihm eigentümliche Sprache gefunden hat, eigentümlich in der Wortwahl, im Rhythmus und in der Dauer der Rede. Wie er das Augenmerk nicht auf den jugendlichen betrogenen Betrüger Demetrius legt, sondern auf die Seelenqualen des Kindermörders Godunow, der selbst um das Leben seiner beiden unmündigen Kinder bangt. Wie er den Schwachsinnigen immer wieder nach Worten suchen lässt, die das Leiden des geknechteten Volkes zum Ausdruck bringen sollen. Puschkins Werk ist alles andere als vollkommen, hat Abschweifungen, hat Längen, hat unschlüssige Übergänge; aber es ist aus der Kenntnis des Lebens am russischen Hofe, des Lebens in den Schenken des abgeschiedensten Dorfes gestaltet. Ganz ohne Rhetorik, ganz ohne Leidenschaft und ideenbeflügelten Schwung. Nicht die Macht ist sein Thema, sondern die Ohnmacht. Es ist sehr grob geschnitten, aber aus gutem, unverwüstlichem Holz, aus dem besten, das sich denken lässt für ein Bühnenwerk: aus dem reinen Mitgefühl mit den leidenden Menschen.

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die farbe schwarz meinem altvertrauten Freund Ernst Theodor Amadeus respektvoll gewidmet

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berall, sagte einer meiner Freunde zu mir, der nun schon lange verschollen ist, überall, wo du stehst, kannst du graben und wirst einen Schatz oder eine sprudelnde Quelle finden. Von überall kannst du tief hinab bis ins Herz der Welt gelangen. Oder wie die alten Griechen sagten: Der Weg zum Hades ist gleich weit von jedem Ort. Und was du denkst und redest, wird ein Teil werden des allumfassenden nach Erkenntnis strebenden Geistes, wenn du dich nicht ablenken lässt von deinen selbst gegrabenen Gedankengängen durch kleinlich alltägliche Hantierungen. Nach zwei, drei folgerichtigen Schritten – Schritten, sagte er, nicht Sprüngen – bist du heraus aus der Zeit. Jeder Faden, den du aufnimmst aus den Fransen des alten Märchenteppichs, führt dich bis ins Innerste eines großen Musters, das zu geistmächtigen Zeichen gewebt ist. Und so auch gibt es kein Thema, das unwürdig wäre eines langen, besinnlichen Gesprächs. Du magst übers Wetter reden, über die Reinigung der Kanalsysteme unter den Straßen, du magst über den Geruch der Pfefferminzstauden reden oder über die Stimmungen des großen javanischen Tempelgongs. Du magst auch reden über das weiße Papier, das auf dem Tisch vor dir liegt, oder über die schwarzen Buchstaben, die in der Kulturbeilage einer Provinzzeitung gedruckt sind. Wenn du wirklich den Spaten ansetzt und gräbst, anstatt nur zu scharren, dann werden denen, die eben nur aus Freundlichkeit zuhörten oder weil ihnen nichts anderes zu tun war, bald die Ohren sich öffnen. Das alles sagte mein Freund. Und als er auf solche Art sicher geworden war, dass sich die Ohren mir aufgetan hatten, hob er die mageren Hände, als wollte er ein Spruchband in die Luft über sich halten, hub also an und sprach: Weil aber in Worten solche Macht ist, die Menschen zu lenken und zu leiten, kannst du die gutwillig Folgenden auch in die Irre führen, kannst sie zum Lachen bringen über ein Telefonbuch oder zum Weinen über einen Kuhfladen. Du kannst erreichen, dass sie einen kastrierten Affen ins Parlament wählen oder, wie im alten Rom geschehen, einen Gaul in den 212

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Senat. Du kannst sie dazu bewegen, dass sie ihr Bett verkaufen oder ihren Kühlschrank und sich lossagen von Vater und Mutter. Du kannst ihnen die Sonne für den Mond vormachen und eine Blechdose gefüllt mit Exkrementen für ein Werk museumswürdiger Kunst. Ich weiß sogar von Betörten, die man gelehrt hatte, ihre Nachbarn, die kein Schermesser duldeten auf ihren Haaren, hätten kein Recht mehr zu leben, oder von anderen, die behaupteten und glauben machten, sie seien gegen Krankheiten und strahlende Bomben gefeit. Wir haben das alles erlebt. Und leider noch mehr. Worte können sich in Wölfe verwandeln, in gebratene Tauben, in dunkle Höhlen oder in Feenpaläste. Zu viel, zu viel auf einmal, wehrte ich ab. Mir würde schon der versprochene Spaten genügen, um nach einem Goldschatz oder einer Quelle zu graben. Alles andere später oder ein anderes Mal. Das mit der Blechdose im Senat und dem Kuhfladen im Bett, das geb’ ich dir zu. Das mit dem gebratenen Telefonbuch und der strahlenden Taube glaub’ ich dir auch. Aber was willst du mir über das weiße Papier erzählen, dessen bloßer Anblick mich erschreckt, oder über die schwarze Tinte, mit der ich es immer wieder vergeblich beflecke? Was gibt es davon zu sagen, dass ich darüber weinen sollte oder Vater und Mutter verlassen? Überall wahllos kannst du graben und du wirst finden, sagte mein verschollener Freund. Jeden Stein kannst du aufheben auf deinem Weg. Wähle: schwarz oder weiß? Schwarz, sagte ich, aber wenn du zu Ende bist mit deinem Sermon, musst du mich wecken. Es gibt nichts, was langweiliger wäre als kluge Reden über nichtige Dinge und von all denen ist keines nichtiger als das schwarze, stumpfsinnige Nichts. Da hast du wie so oft wieder einmal weit daneben getroffen, antwortete grimmig lachend mein verschollener Freund und rief nach Punsch und zwei Gläsern. Wahr ist nur dies: Was da lebt, das sehnt sich nach dem tausendfarbigen Licht der Sonne. Das lichtlose Schwarz aber mahnt uns nicht an das Leben, sondern woran? An den Tod. Und den auszusparen aus unserem Reden und Schreiben mühen wir uns ebenso wie die, die versuchen sich ihren Schatten von den Füßen zu schneiden. Es gibt zwar manche, die meinen, man könne in der Natur keine gerade Linie und keine schwarze Farbe erblicken. Alles sei irgendwie doch gekrümmt und gewunden und in jede Finsternis schiene doch immer ein Abglanz des Lichts. Doch sie irren sich, sie irren sich ganz gewaltig. 213

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Da aber wurde der Punsch brühheiß serviert. Mein Freund unterbrach sich, füllte mit dem Schöpflöffel unsere Gläser und sagte: Wir wollen trinken zuerst, und dann bei jedem neuen Glas die Sache anders betrachten, sonst irren wir, übersehen wir etwas, stolpern und fallen in einen Brunnen, und darinnen ist es wenn nicht schwarz, so doch in jedem Falle sehr dunkel. Darauf nahm er zuerst das Glas und danach das Wort und hub an und sprach: Beginnen wir mit einer Behauptung. Schwarz, sage ich, ist keine Farbe, oder anders gesagt: Schwarz ist die absolute Nichtfarbe, die Abwesenheit, nein, die Verweigerung des Lichts und damit des Lebens. Schwarz ist das, was zurückbleibt, wenn ich dieses brennende Streichholz aus der Hand legen werde, wenn sich das Licht ganz und gar in Wärme verwandelt hat: schwarz ist die Asche des Lichts. Das tiefste Schwarz wird gewonnen aus Ruß. Die Chinesen bereiten ihre Tusche aus Lampenruß, bei uns begnügt man sich mit dem Ruß des Kohleofens. Was aber ist das anderes als der Rest, der bleibt, wenn alles Licht und alle Wärme einem einst lebendigen Ding qualvoll ausgetrieben wurden? Und da wundert sich einer, wenn man Schwarz als die Trauerfarbe bezeichnet, wenn man sich schwarz verhüllt, um nicht beachtet zu werden in den Stunden oder Tagen der Melancholie, der Schwarzgalligkeit, wie die Alten es nannten. Schwarz verbannt, verleugnet und tötet, was da lebt und leuchtet. Schwarz ist, wo nicht der Tod, so doch der Mantel des Todes. Das klang nicht schlecht. Dem konnte ich zustimmen in einem gewissen augenscheinlichen Sinn, dem stimmte ich zu, denn so viel wusste auch ich, und ich sagte es auch, dass, wenn auf dem Theater etwas unverzichtbar benötigt wird, damit das Spiel beginnen kann, so ist es das Licht, sei es das natürliche Licht der aufgehenden Sonne am Morgen wie bei den Alten oder das künstliche aus einem Spot, einem Niedervolt-Scheinwerfer oder einem Projektor wie heutzutage oder besser heutzunacht. Unverzichtbar ist das Licht für das, was vorgeführt und gezeigt werden soll. Soll aber etwas nicht wahrgenommen werden, so wird es schwarz angestrichen oder mit schwarzem Samt umkleidet. Auch wenn etwas geschehen soll, was unsichtbare Hände erfordert, wenn Tische gerückt, Wände gewendet oder Speere im Flug angehalten werden sollen, bedient man sich schwarz gekleideter dienstbarer Geister. Nicht nur im Prager Illusionstheater der Laterna magica, auf jeder Mecklenburger oder Allgäuer Provinzbühne kann man das sehen – oder besser gesagt, wird man aufgefordert, es eben nicht zu sehen. Schwarze Gestalten vor schwarzen Samtprospekten sollen uns bedeuten, 214

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dass alles, was wir dennoch wahrzunehmen glauben, nicht zu gelten hat. So auch die schwarzen Gestalten, die hinter den Puppen nur halb verborgen deren Bewegungen führen und nicht bemerkt, und wenn doch bemerkt, nicht beachtet sein wollen. Wenn aber eine Figur eine Bühne betritt oder eine Leinwand befleckt, eine Figur, die blind ist auf einem oder auf beiden Augen, so trägt sie eine schwarze Binde über der Braue. Denken Sie an die Prinzessin Eboli, denken Sie an Oswald von Wolkenstein, an den Wanderer Wotan, denken Sie an den Grafen Stauffenberg oder den geblendeten Gloster. Ein blindes Auge ist schwarz. Schwarz ist die Verneinung aller sichtbaren Dinge. Man weigert sich das Schwarze wahrzunehmen. Widerspruchslos und unaufgefordert. Diese Regel wird von jedem Publikum im selben Sinne erkannt und nicht in Frage gestellt. Es bedarf keiner Worte: das Schwarze spricht für sich selbst und gegen alles andere. Kann man denn mit euch Kulissenschiebern kein ernstes Wort je sprechen über eine ernsthafte Sache? Muss immer der Hanswurst aus der Falltür gucken? Allein das blinde Auge der Eboli lässt uns hinabblicken in den Abgrund der Finsternis, von dem uns das Schwarze nur eine blasse Ahnung vermittelt. Was nämlich, sagte mein Freund, der bereits bei seinem zweiten Glase angekommen und also schon ein wenig über mir schwebte, was nämlich sieht der Blinde unter dem Schwarz seiner Augenklappe? Sieht er da auch nur Schwarz? Oder sieht er das Rot seines eigenen Blutes? Oder sieht er das Nichts? Das Nichts, das nicht einmal schwarz ist? Sein Auge ist gleichsam ab von der Welt und nach innen gekehrt, wo sein Hirn Unerhörtes, Unfassbares brütet. Wer nichts sieht, weiß nichts von Hell und Dunkel, nichts von Tag und Nacht. Aber Leben und Tod kann er wohl unterscheiden. Er hört den Puls in den Adern pochen und ahnt, dass ein gerechter Anteil daran ihm verborgen bleibt. Der Punsch dampfte nun offenbar nicht mehr so heiß wie der im ersten Glas, denn er trank, ohne auch nur zu zwinkern, einen tüchtigen Schluck. Ich muss meine zu Beginn aufgestellte Behauptung modifizieren, sagte er dann. Ich zielte damit auf ein totales, unwidersprechliches Schwarz, auf die vollkommene Abwesenheit und habe damit nicht ganz ins Schwarze getroffen. Im Grunde nämlich gibt es, hierzulande zumindest, kein wirkliches Schwarz, leider, leider ..., fuhr er fort und blieb doch bei mir und ganz bei der Sache. Ich muss mich verständlicher machen. Wovon zeugen die vielfältigen Bezeichnungen, die wir in den Farbengeschäften oder in der Um215

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gangssprache der Maler, Drucker und Rauchfangkehrer finden? Sie zeugen davon, dass es für sie auch im Farblosen noch so etwas wie Nuancen gibt, Abschwächungen also und Verstärkungen auch. Da haben wir nicht einfach nur schwarz, sondern pechschwarz oder kohlrabenschwarz, onyx- und obsidian-, anthrazit- und basaltschwarz, ebenholzschwarz, lampenschwarz, druckerschwarz, mitternachtsschwarz und ruß- und höllteufelschwarz und was weiß ich noch alles dergleichen. Schwarz ist für einen von euch Ahnungslosen nichts weiter als die dunkelste Tönung von Violett, von Blau oder Grau. Wascht einmal euer Tintenfass aus und ihr werdet es sehen. Und darum zwinkern die, die alles bezweifeln und sagen: Ebenso wie wir niemals den absoluten Tiefpunkt der leblosen Kälte werden erreichen können, so werden wir niemals die vollkommene Schwärze zu Gesicht bekommen, denn von irgendwo blinzelt immer ein Widerschein des Feuers herein, aus dem alles, was ist, einst entstanden ist, so sagt Heraklit, und an dem alles, was ist, einst zugrund gehen wird, so sage ich. Aber ich sage euch auch: Alles was ist, ist aus dem Nichts entstanden, aus dem schwarzen, unergründlichen Nichts. Das aber sehen wir nicht, denn wir sind geblendet. Also sprach mein reisender Freund, denn er war wohl bewandert und wusste mehr als wir alle. Wenn wir aber doch, wie Sie meinen, kein wirkliches Schwarz erblicken in der Natur, so scheint es doch etwas Schwarzes zu geben in unserem Hirn, widersprach ihm einer vom Nachbartisch, ein bebrillter Kiebitz, ein Mann in schwarzem Cord und schwarzem Pullover, offenbar ein Literat, der vom Punschgeruch gelockt seinen Stuhl an unseren Tisch rückte und sich einschenken ließ. Ich habe mich immer gewundert, wie sogar der Mohr Othello die blonde, weißhäutige Desdemona als schwarzes Unkraut beschimpfen mag. „A black weed“ steht da im Original der quarto-Ausgabe von 1604. Und im postum erschienenen folio-Druck von 1623 ist der Satz plötzlich verschwunden. Hat da der Drucker bemerkt, dass der dunkelhäutige Held das Schwarze für einen hässlichen Fleck hält auf einer weißen Seele? Oder besser gesagt, dass der Dichter selbst dem Mohr einen Gedanken eingeflößt hat, den dieser doch gar nicht selbst hätte gebären können? Oder ist Shakespeare in der Zwischenzeit seiner black lady begegnet und hat sich bekehren lassen von der sinnbetörenden Schönheit des Schwarzen? Auch Boito und mit ihm Verdi sind ihm fast vierhundert Jahre später auf den Leim gegangen oder haben vielmehr den gleichen Fehler noch einmal aus eigenem Antrieb begangen, indem sie ihren schwarzen Mann Otello 216

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vom „schwärzesten Verbrechen“, vom „più nero delitto“ Desdemonas singen ließen. Schwarz war ihnen allen offenbar nicht die Farbe eines sichtbaren Dinges, sondern der Schatten des Bösen. Schwarz im moralischen oder metaphysischen Sinne mag so manches bedeuten oder manche Bedeutung gerade eben verweigern, gab ich nun meinerseits zu Protokoll, um weitere Anschwärzungen meiner Theaterhelden zu verhindern und die Sache selbst wieder in den Lichtkreis unseres freundlichen Wirtshaustisches zu bringen. Aber es gibt da noch eine säkularisierte Ansicht dieses sonst nicht leicht zu fassenden Objekts. Schwarz ist nämlich unter anderem auch die Amtsfarbe für die sogenannten höheren und darum meist nur mehr symbolischen Dienste. Wer etwas zu bestimmen oder anzuordnen hat, kleidet sich schwarz. Oder können Sie sich einen Pfarrer, einen Präsidenten, einen Empfangschef, einen Dirigenten oder einen Direktor anders vorstellen als in Schwarz gekleidet? In reines, unverfälschtes Schwarz? Nicht in Mitternachtsblau, das ihm am nächsten kommt und das darum besonders falsch am Platz wäre, wo es um klare Ordnungen geht. Und schwarz ist auch die Uniform der finstersten Gestalten unter unseren Zeitgenossen, jenen, die Wert darauf legen, sich bedeutungsvoll von der werktätigen Bevölkerung zu unterscheiden. Ich spreche nicht von den schwarzen Brigaden oder Todesschwadronen, ich erinnere mich da vielmehr eines Diskussionsabends von Wortführern und Meinungsmachern. Sie erschienen allesamt gekleidet in Schwarz, ohne dass man sie darum gebeten hätte. Sie kamen, um gegen Gleichmacherei zu protestieren, gegen Verlust der Freiheit, gegen Bevormundung, gegen Parteigängerei. Und sie trugen alle die Farbe, oder besser Nichtfarbe, die sie zu Uniformierten des Zeitgeists machte. Schwarz waren nicht nur die Schuhe und Socken, schwarz waren nicht nur die Hosen und Sakkos, schwarz waren die Rollkragenpullover und Hemden. Schwarz war die zur Schau getragene Uniform der Rechthaberei ohne jede Nuance. Denn dieses Schwarz galt ihnen offenbar als Zeichen des Widerspruchs, als Abkehr von falscher Identifikation, da doch alle anderen oder besser gesagt: alle wirklichen Farben besetzt sind von Nationen, von Kirchen, Parteien, Firmen und Sportvereinen. Eine Partei gibt es allerdings, die sich die schwarze nennt, zwitscherte da ein hinter mir stehender Kiebitz. Von wahrer innerlicher Schwärze aber ist sie so weit entfernt wie vom Licht der Erleuchtung. Es ist nur das Schwarz der Kutten auf ihre Fahne geraten. 217

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Schwarz ist die Fahne der Piraten! Schwarz ist die Fahne der Anarchie!, schrie ein junger, rothaariger Bursche im Hintergrund, drängte sich vor und stieg auf unseren Tisch. Schwarz ist sie, wenn sie im Wind steht oder besser noch, wenn sie geschwungen wird. Hier aber hängt sie zu Boden, tatenarm und gedankenvoll, schlaff und schlapp, und ist die Fahne des Defätismus, des Missmuts und der Trauer. Als der hemdsärmelige Wirt das Bürschchen vom Tisch gehoben und wieder für Ruhe gesorgt hatte, ergriff mein verschollener Freund, sein vom Fuß des Rebellen umgestürztes Punschglas, schenkte sich ein und nahm mit erwärmtem Gaumen wieder das Wort. Schwarz sind auch die Eintagsfliegen, sagte er lächelnd und weiter: Da ihr nun nichts sonst gefunden habt, als was sich aus den Papierkörben kratzen oder vom Boden zusammenscharren lässt, will ich euch zeigen, wie ein wahrer Schatzgräber den Spaten tiefer ansetzt als nur am Müll unseres alltäglichen Geschwätzes. Nachdrücklicher stoßen wir zu und bald schon werden wir in den diversen geologischen Schichten der Historie unterschiedliche Materialien entdecken. Eure Epoche wird man einmal erkennen am hinterlassenen Ruß. Eure Großväter schon haben gebrandschatzt, was einmal lebendig und brennbar war, und ihr, ihre finsteren Enkel, ihr trübt und beschmutzt euren Planeten noch immer und mehr. Alles holt ihr aus dem Bauch der Erde hervor und verbrennt ihr, alles, was ihr an Brennbarem findet. Und am Ende lasst ihr euch selbst verbrennen in der Hoffnung, dem Urteil eurer Kindeskinder zu entgehen. Vergeblich wird sich die nächste Sintflut mühen, den Ruß eurer Epoche wieder abzuwaschen. Aber, wer weiß, vielleicht wird, wenn es bald nichts mehr zu verbrennen gibt, die große Kälte über euch kommen und wird eine weiße Schnee- oder Eisdecke sich breiten über die einst blühende Landschaft. Dazu müsste die Erde sich nur ein ganz klein wenig zur Seite neigen, wenn sie es leid geworden ist, was das Ungeziefer auf ihrem Rücken so treibt. Nicht so ernst, nicht so grimmig, rief da ein Maler, gestikulierend mit den nur notdürftig durch Terpentinersatz gereinigten Händen. Der hatte sich freundlich prostend zu uns und zu unserer aufs Neue gefüllten Punschschale gesellt und mischte sich nun mit folgenden Worten in das Gespräch: Ich muss es den Herren nicht sagen, denn sie wissen’s vermutlich: das Schwarz, das sich heute so frech auf unsere Zeichenpapiere und Leinwände drängt, ist nicht sehr alt und nicht so ehrwürdig wie die anderen Farben. 218

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Gezeichnet hat man früher mit braunem Bister, mit dem Silberstift oder dem Rötel. Und auch haben die Maler einst das reine Schwarz nur an Masken und an den Hörnern des Satans geduldet, aber sonst auf Gemälden fast durchwegs gemieden. Jan van Eyck oder Raffael haben niemals Schwarz unter ihre Farben gemischt, so dass sie unverfälscht und klar erscheinen wie an dem Tag, an dem sie die Palette verließen. Kann man sich einen Boucher, einen Fragonard, einen Chardin oder Watteau mit einem schwarzen Pinsel vorstellen? Nein. Das war erst die Sache eines finsteren Spaniers, eines Francisco de Goya. Der bekleidete sogar seine milch- und blutvollen, lebenssprühenden Damen mit nachtfarbenen Gewändern und Schleiern und gab ihnen schwarze Fächer in die rosige Hand, um ihnen die sommerlich glühende Luft vom blühenden Leib zu halten. Auch der arme Lautrec hat seinen tanzenden Huren schwarze Strümpfe über die Beine gezogen. Und Auguste Renoir hat neben oder besser noch hinter die buntfarbigen Kleider seiner feisten, wohl eingefetteten Frauen eine schwarze männliche Silhouette gesetzt. Mag sein, mag sein, meldete sich eine weitere Stimme aus der sich erweiternden Runde. Die Stimme gehörte einem stadtbekannten Herrenschneider und tat sich noch einmal hervor: Mag sein. Dann aber fuhr sie fort und sprach: Aber seit in Wien ein gewisser Joseph Gunkel in seinem Atelier am Graben den schwarzgeflügelten – oder soll ich sagen: schwarzgeschwänzten – Frack erfunden hat, ist, was die Eleganz der männlichen Silhouette anlangt, nichts Vergleichbares mehr geschaffen worden. Die Beine werden verlängert, die Brust wird gehoben und den in allen glückverheißenden Farben prangenden Damen wird ein ernster Halt und würdevoller männlicher Rahmen geboten. Kann man sich etwas Vornehmeres denken als die Zurückhaltung der schwarz gekleideten Musiker gegenüber dem schillernden Ungeheuer der Musik, das sie zu bändigen sich zusammengefunden haben? Es gibt nichts Vornehmeres als die reservierte Eleganz des mitternächtlichen Schwarz, auch wenn es der allgemeinen Wohlmeinung in diesem Wirtshaus zu widersprechen scheint. Das alles ist die glitzernde, die seidenglänzende Seite der Schwärze. Sie können gerne auch die Schuhwichse dazu zählen. Bunt glänzt die eine Seite des Spiegels, schwarz ist die andre. Wenn wir nun aber versuchen zurückzukehren auf die stumpfe, die lebensfeindliche Seite, insistierte noch einmal mein Freund, der nun schon, wie mir schien, über den Durst gepunscht 219

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hatte. – Und ich sah nun erst, als er sich erhob, dass er gekleidet war wie ein romantisch reisender Engländer und karierte Hosen an den Beinen und rehlederne Gamaschen an den Füßen trug. – Wenn wir noch einmal zurückkehren und wenn Sie mir in den Süden folgen in eines jener abgelegenen Dörfer am Meer, rief er nun schon ein wenig entnervt, als spräche er auch zu den entfernter sitzenden Gästen in dem rauchverhangenen Raum, so werden Sie die schwarzgekleideten Frauen sehen, die beim ersten Tageslicht auf den Markt schleichen, um als erste ihre Einkäufe zu machen, die Frauen, die sich den Tag über in ihren stickigen, lichtlosen Häusern verbergen und erst gegen Abend wieder sichtbar werden, wenn sie zur Kirche humpeln oder auf den Bänken und Stufen vor ihren Haustüren hocken. Witwen, die nichts mehr zu sagen haben, auch wenn sie oft stundenlang reden. Nicht einmal die Kinder mehr hören auf sie. Ihre Kleider, Strümpfe und Kopftücher wollen nichts anderes sagen, als: Schaut nicht auf uns, hört nicht auf uns und vor allem: rührt uns nicht an. Wir gehören nicht mehr dem Leben. Wem sie gehören, das weiß keiner zu sagen, denn sie achten sich selbst nur mehr für nichts. Offenbar sprach mein Freund nun zu einem größeren und nur mehr achselzuckend auf ihn achtenden Publikum und über mich hinweg. Jedenfalls schien es mir so, denn wenn andere in wachsender Punschseligkeit ihre Tischgenossen immer vertraulicher zu duzen begannen, so siezte er mich nun mit den anderen Trinkern und fuhr mit seinen spinnenfingrigen Händen über mich hin, so dass ich Mühe hatte, mich abseits zu beugen, um von dem Inhalt seines schwappenden Glases nicht besprüht zu werden. Sie alle haben’s geschehen lassen. Sie alle! Ausgelöscht hat man sie, diese Witwen, rief er, ausgelöscht haben sie sich selbst. Und schwarz gekleidet werden Sie alle eines Tages, wie Sie da sitzen, als Tote übergeben werden an die Erde. Das schwarze Kleid ist der Widerspruch, das große Nein zum Leben. Die Frauen wissen wohl, was sie tun. Das Licht der Welt, in das wir für einen kurzen Augenblick nur entlassen werden, ist das rasch entfliehende Leben, die große blendende Ausnahme für uns und die Welt. Wir alle, wir alle und auch ich, wir sind aus dem Dunkel des Mutterschoßes gekommen und gehen ein in das Dunkel der Erde. Einst hat man uns durch Feuer geschwärzt, dass unsre Rippen das Loblied der Nacht singen sollten, damit kein Zweifel sein konnte, wohin die Reise ging. Aus Nacht sind wir gekommen, einer Sternschnuppe vergleichbar, und in die Nacht werden wir reisen, in tiefe, tiefschwarze Nacht. 220

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Da drängte ein Junger, der sich erfreulicherweise nicht von dem von mir gespendeten und bereits mehrfach erneuerten Punsch bediente, sondern Bier aus einem eigenen Kruge trank, an unseren Tisch heran und rief: Schwarz ist eine Farbe der Witwenverbrennung, der Nonnen, der Schriftgelehrten, der Druckerpressen und der Kohlengruben. Schwarz ist es unter dem Tisch. Dort, wo geschoben wird und getreten. Wir aber wollen unterm freundlich wärmenden Licht der Lampe sitzen und uns in die hellen Gesichter sehen wie ehrliche Leute. Prost! Der gute Junge hatte wohl blaue Augen, war aber gekleidet in Schwarz und hatte silbrig glänzende Knöpfe auf seiner Jacke. Seinem breiten Schlapphut nach mochte er ein Wandergeselle sein, ein Zimmermann vielleicht auf der Walz. Der hatte eine Schaumkrone auf seinem Krug und hatte gut lachen. Und nun war der Maler wieder am Zug, aus dem Glas zuerst, das versteht sich, und dann aus dem Stegreif. Und er rief: Prost ja! Und ich bin ganz bei denen, die da sagen: Es gibt kein echtes, endgültiges, unbezweifelbares Schwarz! Auch die Nacht ist durchaus nicht schwarz, wie manche Schwarzseher meinen. Die Italiener nennen sie braun, weil sie ihren Blick nicht von ihrem fruchtbaren Erdboden abwenden wollen. Wir Träumer, wir nennen sie blau. Und der Himmel oben, auch wenn er nur von ferne oder durch Wolken hereinscheint in unsere Nacht, ist immer und ewig von einem ungetrübten himmlischen Blau. Das Blau ist die metaphysische Farbe, die Farbe der Ferne und sogar, möchte ich meinen, die wahre Farbe der Ewigkeit. Darum rate ich: Seht darauf, wie ein Maler mit dem Blauen zurechtkommt auf seinen Bildern, mit dem vieldeutigen, kaum je zu fassenden Blau, und erkennt daran seinen Wert und wendet euch ab von der Schwarzmalerei. Da nun, lächelte grimmig mein verschollener Freund, der ein gelehrter Buchprüfer und Gazettenblätterer war, da nun muss ich Sie korrigieren, Verehrter. Ihr blauer Himmel ist nur ein Augentrug, ein Farbenspiel der Atmosphäre. Wenn wir einmal hinausgelangt sein werden über den blauen Dunstkreis unseres Planeten, wissen wir, dass das, was Sie mit einer sehr irdischen Metapher den Himmel oder gar die Ewigkeit nennen, jenseits unserer lebenserhaltenden Atmosphäre durchaus nicht blau ist, sondern, Sie werden’s nicht glauben: schwarz, tief und tintenfassmäßig schwarz. Schwarz wie die Nacht ist das Universum, tief und tiefer als der Tag gedacht. Alles andere sind fliegende Funken. Was wir nicht sehen können mit unseren 221

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vom irdischen Irrlicht geblendeten Augen, das ist das große, mütterliche, allumfassende Schwarz. Schwarz ist das Loch auch, in dem einst alles Licht und Feuer untergehen und für alle Zeiten verschwinden wird, die schwarze Höhle des Nichts. Halt ein, nicht gar so verzweifelt Abschied nehmen von unserer Erde, rief da aus der Nachbarschaft eine Stimme. Und es erhob sich an einem Tisch im Abseits ein weißbärtiger Mann. Ich kannte ihn gut, es war der Geschäftsführer des Städtischen Bestattungsvereins, ein philosophischer Kopf auf einer trinkfreudigen Gurgel. Er erhob sich und erhob seine Stimme und sprach: Meine ehrenwerten, punschbeflügelten Herren, mir scheint, Sie alle reden, wie man so sagt, vom Schwarzen, wie der Blinde redet von der Farbe. Die Erde hat uns hervorgebracht, sie wird uns auch wieder aufnehmen in ihren Bauch, sei’s in der Mördergrube, sei’s in einem Grab des Zentralfriedhofs. Woher das Schwarz des Weltalls oder das Blaue vom Himmel kommt, weiß keiner von uns. Wir aber tun gut daran, uns an die vertraute Erde zu halten. Meine Herren, genießen Sie die Gaben der Erde, die umso fruchtbarer ist, je schwärzer sie ist. Freuen Sie sich ein wenig noch Ihres Lebens. Und wenn die Stunde gekommen ist, sprechen Sie bei mir vor, dann reden wir weiter. Dann erst ist’s an der Zeit, dass Sie die Schleifen bestellen. Prost! Damit setzte er sich und hinterließ für einen Augenblick besoffnes Schweigen. Endlich aber meldete sich mein Freund noch einmal, hob die Hände und sprach die geflügelten Worte: Okzidentalische Sitten, Trauergehabe! Gold- und Silberschrift ist auf den Schleifen. Ich habe Länder bereist, in denen kleiden die Lebenden ihre Toten in Weiß. Wir aber können uns unsere Schriften und Zeichnungen nicht anders als in schwarzer Tinte vorstellen. Der Zeichner mit der Feder oder dem Pinsel gibt durch die Wahl seines Werkzeuges zu erkennen, dass er verzichtet hat auf allen Flitter, verzichtet hat, die Buntheit, die Vielgestaltigkeit, die Ferne, die anfang- und endlose Verwandlung der Erscheinungswelt nachzuvollziehen. Er sucht nicht das Unfassbare zu erfassen, das stets sich neu Gebärende und rasch Vergehende zu halten, er setzt seine schwarzen Linien, die die Welt umschreiben und bannen. Der Denkende vermag sich eine Infinitesimalrechnung nicht vorzustellen mit Buntstiften gemalt oder eine Partitur in farbigen Noten. Das zeitlos ewige Schwarz, das keiner Farbe auf Erden gleicht, steht, wenn es ernst wird, für sie alle. Ehe das einst ungeschaute und bald wieder vergängliche Licht ward, war alles wüst und leer, war ringsum schwarze Nacht. Licht 222

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bedeutet immer Feuer und Feuer bedeutet Untergang, Vernichtung. Die Sonne verzehrt sich selbst, um Licht zu spenden. Tagtäglich, jahrein, jahraus verliert sie unvorstellbare Mengen ihrer eigenen Substanz, indem sie sie verwandelt in flüchtiges, entschwindendes Licht. Wenn sie sich eines Tages gänzlich verwandelt haben wird in flüchtiges Licht, wird sie erlöschen. Und das ewige Dunkel wird wiederum herrschen wie einstmals zuvor. Und so wie ihr wird es allen Gestirnen ergehen. Ihr eigenes Licht wird sie verzehren. Wer das Nichts nicht erkannt hat, das hinter allem waltet, der hat auch das täglich neugeborene und hinsterbende Wunder der Farben nicht erkannt. Darum ist die Nichtfarbe Schwarz zugleich die Königin oder besser noch: die Mutter aller Farben. Und um der Sache ein Ende zu machen, gehen Sie hinaus in das mit schwarzer Ölfarbe gestrichene Pissoir, blicken Sie in den Spiegel und schauen Sie tief in Ihre Pupillen. Dort werden Sie das Schwarze sehen in seiner tiefsten Schwärze, aus dem Ihnen Ihr eigenes Unwissen entgegenglotzt. Gelächter ringsum. Und prost! Was der Wirt dazu sagte? Der Wirt zuckte die Achseln. Ich sag’ dazu nichts, sagte er dennoch. Das sind ausgewachsene Männer. Die sollen reden. Reden macht durstig. Das nächste Mal werden sie über die Esel philosophieren. Mich interessiert nur die Tafel, die schwarz ist, und die Kreide, die weiß darauf schreibt. Noch einmal heiterer Gläserklang. Und so redeten wir weiter bis in die Nacht hinein. Der Punsch war kalt und das Bier war lau geworden, Pfeifenrauchnebel lagerten sich um uns. Es standen auch schon ein paar Stühle verkehrt auf den Tischen. Und da wir Für- und Widersprechenden nur mehr um einen einzigen Tisch versammelt saßen, schwand rings um uns das Licht. Eine sprudelnde Quelle oder gar einen Schatz, so schien es mir, hatten wir nicht gefunden. Und keiner fragte auch mehr danach, als wir uns endlich, da ein Ende und Abschluss unseres Gesprächs nicht zu erwarten war, kopfschüttelnd trennten und ein jeder nach Hause ging. Ich blieb als Letzter und zahlte notgedrungen die Zeche. Damals war es, dass auch mein Freund aufstand, schwankend, und ein Ding wie eine dunkle Scheibe aus seinem Rock zog. Er schlug mit der Hand darauf und es öffnete sich, blähte sich auf und da war es ein schwarzer Zylinder. Indem er ihn lüpfte, sagte er noch: Schade, dass es immer so enden muss. Mir war es ernst um die Sache. Und er empfahl sich mit einer resignierenden Geste, die nicht zu beschreiben ist, wandte sich kopfschüttelnd zur Tür und blieb seither verschollen. 223

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Mir aber, als ich vor meiner Haustür den Schlüssel in das wohlvertraute, tiefschwarze Schlüsselloch steckte, kam mit einem Mal in den Sinn, dass an diesem seltsamen Abend nur Männer um einen Tisch versammelt gewesen waren. Keine Frau war auch nur vorübergegangen, um uns durch ein spöttisches Lächeln oder einen lockenden Duft für einen kurzen Moment zur Besinnung zu bringen. Wohin würden wir uns versteigen, dachte ich da, wenn sie, die wir lieben, uns nicht immer wieder zurückführen würden, dorthin, wo wir einzig zu leben begehren? Unter diesen Gedanken fiel ich endlich auch in mein Bett und löschte die Lampe. Dunkel wurde es rings um mich her. Und während in dieser altvertrauten Finsternis mein Grübeln sich in Träumen verlor, fragte irgendetwas in mir: Was wissen die, wovon sie reden, wenn keiner jemals so wie ich einstmals vor Jahren von einer Sturzflut nachtschwarzer Haare überschüttet lag, vor Glück erblindet und hoffend nie daraus zu erwachen? Da aber kam die Nacht über mich und begrub mich in ihren Armen.

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georges rouault, der maler

Es muss an einem Februartag des Jahres 1958 gewesen sein. Ich war unterwegs auf dem Kohlmarkt. Mein Ziel war – wenn ich mich recht entsinne – das Theaterwissenschaftliche Institut der Universität in der Hofburg, an dem ich zu jener Zeit meine Dissertation vorbereitete. Da blieb ich unversehens wenige Schritte vor der Michaelerkirche stehen und meine Stimme sagte laut vor mich hin: Georges Rouault ist gestorben. Meine Ohren hörten es und mein Hirn fragte: Woher weiß das meine Stimme? Ich selbst weiß es nicht und habe es bisher auch von keinem andern erfahren? Und überdies bin ich keiner von denen, die Stimmen hören und Erscheinungen haben, wenn sie unterwegs sind zu ihrer Arbeit. So vieles vergisst man, Wichtigeres vielleicht, aber dieses Vorfalls, der nun bald ein halbes Jahrhundert zurückliegt, erinnere ich mich bis auf den Wortlaut genau, weil ich in jenem Augenblick den Kopf voll anderer Dinge hatte und durch meine eigene laut vernehmliche Stimme aus diesen Gedanken gerissen wurde. Georges Rouault ist gestorben, hatte sie gesagt. Warum? Und warum mir? Ich kannte die Bilder dieses Malers damals nur von Reproduktionen. Einige Abbildungen hatte ich in Büchern gesehen. Die hatten mich angerührt. Sie waren mir entgegengekommen. Ich hatte sie nicht gesucht. Und als ich sie gesehen hatte, hatte ich keine Anstalten gemacht, ihnen auszuweichen. Während meines Studienjahrs in Paris wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, eine Begegnung mit dem Künstler zu suchen oder nach einer Ausstellung seiner Werke zu fragen. Wie denn auch? Er war berühmt weit über Frankreich hinaus, ich war einer von vieltausend anonymen Studenten. Und überdies: Ich wusste von Georges Rouault, dass er lebte, nicht weit von mir entfernt, wusste auch, dass er die Macht hatte, mich zu berühren, mich zu treffen, aber ich hatte eigene Pläne im Kopf und wollte weder von ihm noch von einem anderen betroffen oder gar aufgehalten werden. Doch dann bemerkte ich: die Bilder Rouaults gingen mir nicht nur nahe, sie gingen mir nach. Ich aber wollte meiner Wege gehen und hatte Mühe genug, zu mir selbst zu kommen. Und überdies fühlte ich mich wohler in Gegenwart von Bildern eines Amedeo Modigliani, eines 225

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Paul Klee oder eines Henri Matisse, die mich nicht anstießen, die mich zu nichts aufforderten, die mich in Ruhe so sein ließen, wie ich sein wollte. Sie gaben mir etwas hinzu und nahmen mir nichts von dem Meinen. Schauen, staunen, bewundern, lernen vor allem, das wollte ich gerne. Ich war eben dabei, meine Bahn zu suchen und meine Spur darin einzuschleifen. Ich wollte nicht angerempelt oder gar umgeworfen werden, ehe ich ein paar selbstbestimmte Schritte getan hatte. Und nun, an diesem Februartag, war ich doch aufgefordert worden, stehen zu bleiben und nachzudenken. Aufgefordert von meiner eigenen Stimme. Georges Rouault ist am 13. Februar 1958 in Paris gestorben. Er war am 27. Mai 1871 während eines Bombardements beim Aufstand der Kommune in einem Pariser Keller geboren worden. Demnach hatte er also ein Alter von beinahe 87 Jahren erreicht. Das las ich ein paar Tage später in einer Zeitung. Und ich war nicht mehr überrascht von der Botschaft. Ich hatte sie ja schon voraus empfangen. Die Todesnachricht hatte mich überfallen. Vielleicht war sie aus der nahen Kirche, die ich so selten besuchte, hervorgeweht. Vielleicht hatte einer, der an mir vorbeigegangen war, und schon alles gewusst hatte, mir den Gedanken zugezwinkert. Oder der Geist des Sterbenden hatte, unwillig das Leben loszulassen und sich von der Welt zu trennen, dem einen oder anderen, an dem ihm gelegen sein mochte, diese hilferufende Nachricht gesendet. Aber warum mir Unbekanntem im fremden Land? Ich weiß es nicht und es gibt niemand, der es mir sagen könnte. Georges Rouault ist gestorben, das weiß nun alle Welt. Die Enzyklopädien halten es fest. Aber dass er gelebt hat, das haben zur Zeit seines fruchtbarsten Schaffens nicht viele wirklich beachtet. Andere Maler waren ihm weit voraus. Erst als alter Mann wurde er von denen, die im Namen des Volkes sprachen, häufig und hoch geehrt, mit Diplomen und Medaillen, mit Titeln und Preisen. Als alter Mann konnte er sich nirgends und über nichts mehr beschweren, außer über den Schwund der eigenen Kräfte. Die Zeitgenossen, die ihn früher gering geschätzt hatten, hatten sich längst aus dem Staub gemacht oder waren zu Staub zerfallen. Vielleicht freute er sich dennoch über die späte Gunst und nickte freundlich resigniert, wenn man Gutes über ihn redete. Aber im Grunde war ihm vermutlich damit nichts mehr genützt. Es war zu spät für den Ruhm. Einen Künstler, der Lob und Preis verdient, sollte man nicht erst als stammelnden, schwerhörigen Greis 226

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anerkennen. Die Bewunderung sollte nicht seinem Namen, seinem Marktpreis oder seiner sterbenden Hülle gelten. Sie sollte suchen, seinem schaffenden Geist zu begegnen. Ihm sollte sie auf die Beine helfen oder unter die Arme greifen zu einer Zeit, in der er sich seiner Haut wehren und oft genug fürchten muss, er werde untergehen im Kampf gegen Neid und Verachtung. Aber geehrt werden immer nur die, die niemandem mehr im Wege stehen, die man nicht fürchten oder beneiden muss, die keine Umstände mehr machen, keinen Anstoß mehr erregen. Darum ist nicht viel gelegen an solchen Ehren, mit welchen die Ehrenden sich selbst mehr Gutes tun als den Geehrten. Georges Rouault ist gestorben. Daran ist nichts zu ändern. Man nimmt es zur Kenntnis. Wehklagen hört man nicht um diesen Tod. Sein Werk ist vollendet, sein Name ist in allen Lexika aufgezeichnet. Wichtig aber ist allein, dass er gelebt hat. Dass er gelebt und geschaffen hat. Zum Zeitpunkt seines Todes habe auch ich nur einen schmalen Teil seines Werkes gekannt: Christus- und Marienbilder. Die haben mich mit ihren trauerumrandeten, schmerzgeprägten Gesichtern immer aufs Neue verstört. Sie haben mich an die von dunklen Bleiadern durchzogenen Fenster der Kathedralen erinnert zu einer Zeit, als ich mich vom katholischen Glauben allmählich entfernt und die Kirchen meist nur mehr aus kunsthistorischem Interesse besucht habe. Und dann erfuhr ich, warum mir dieser Vergleich so unabweisbar gekommen war. Rouault hatte fünf Jahre seines Lebens lernend bei einem Glasmaler und danach bei einem Restaurator alter Glasbilder verbracht, ehe er an der Pariser Kunstakademie von Gustave Moreau aufgenommen und gefördert wurde. Die geistlichen Bilder konnte ich damals – für eine Zeit wenigstens – abhalten von mir. Was aber sollte ich tun, als ich nun, von vermehrter Neugier getrieben, seine Bilder von Clowns, Jahrmarkthändlern, Schmierenkomödianten, von Dirnen und von Richtern zum ersten Mal sah? Außenseiter allesamt, fragwürdige Gestalten, auf ihre Menschenwürde oder auf ihre Legitimation befragt, mit schwarzer Schere aus der Wirklichkeit geschnitten und unserem Mitleid oder unserem Urteil überantwortet. Was ihr dem Geringsten unter ihnen getan habt, das habt ihr mir getan. Man will nicht richten, aber man will auch nicht alles verzeihen. Man wendet sich ab und kommt doch nicht los. Diese Bilder wirft der Maler uns gleichsam vor die Füße – Vorwürfe sind sie. Marien und Dirnen, Gekreuzigte und Richter mit demselben Pinsel gemalt, mit denselben dumpf traurigen, erdigen Far227

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ben. Kein Licht ist in diesen Figuren, das sie von innen erleuchtet. An ihnen erkennen wir alles, was in uns wohnt an Gier, an Torheit an Grausamkeit und an Güte. Man fühlt sich schuldig vor ihnen. Und möchte sie doch nicht ändern, weil man sich selbst in ihnen erkennt. Dieser Künstler wanderte aus, aus unserer gesitteten Welt an die Ränder der Gesellschaft. Rouaults Figuren mahnen uns an das menschliche Sein in dieser so wohl gemästeten und doch alles Fürchterliche übertreffenden Epoche. Sie erzählen keine Geschichten. Sie zeigen nur, mahnen und warnen. Dass man über uns urteilen wird, noch lange nach unserer Zeit, das müssen wir fürchten. Wer immer das Urteil sprechen wird, wir müssen auf Gnade hoffen, nicht auf Gerechtigkeit. Das sagen uns diese Bilder. Landschaften sind auf den Gemälden Rouaults wenn überhaupt, so nur im Abseits zu sehen. Und auch dann scheinen sie nicht betretbar, sind wie mit Schlamm und Asche bedeckt. So als wäre mit unserer Welt etwas Furchtbares geschehen, etwas, das wir ihr angetan haben. Tiere und Bäume, Wiesen und Hügel sind uns in diesen Bildern kein Trost. Menschenwerke wie Mauern und Gebäude sind der Beachtung des Malers kaum wert. Er ist kein Vedutenmaler. Ihn interessiert allein, was der Mensch vom Menschen zu hoffen oder zu leiden hat. Rouault war einer, der mit der Welt keine Kompromisse ausgehandelt hat. Er mag in Frankreich geboren sein, mag Rotwein getrunken und Baguettes gegessen haben, aber er hat keine französischen, sondern abendländische Bilder gemalt. Er ist durch drei furchtbare Kriege, europäische Bruderkriege, gegangen ohne äußere Wunden, aber im Innersten tief verstört und verletzt. Am Ende des einen war er eben erst geboren worden, in den anderen war er zu alt, um selbst zu den Waffen zu greifen. Er hat nicht alles, was ihm von seiner Epoche zugemutet wurde, achselzuckend zur Kenntnis genommen. Er hat es nicht beiseiteschaffen können, hat es aber mit seinen Händen verwandelt in Kunst und hat es ihr wiederum vorgeworfen. Und er war darum keines von ihren Lieblingskindern. Das wusste er wohl. Rouault war nicht „auf der Höhe der Zeit“, war nicht im Einverständnis mit der mörderischen Epoche, die Frieden nur geschlossen hatte, um Krieg und Hunger und Seuchen auf andere Kontinente zu exportieren. „Âme de rêveur catholique et misogyne“ nannte ihn einer, der ihn gekannt hat, Louis Vauxcelles. Misogyne? Davon wusste ich nichts, aber schöne Frauen, glänzendes Haar, blühendes Fleisch hat er niemals gemalt. Mag 228

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sein, dass er es gar nicht gesehen hat. Um diesen Maler ist eine große Einsamkeit, wie eine Aura, die man sich nicht zu überschreiten getraut. Man würde sich scheuen zu fragen, an welchen Krankheiten er gelitten, wer ihn verstanden und getröstet und wie viele Kinder er gezeugt hat. Denn von all dem kann angesichts seiner Bilder keine Rede mehr sein. Alles Persönliche scheint aus seinem Werk getilgt. Man liest, er habe seine Adresse in Versailles und seine Adresse in Paris auch seinen näheren Bekannten lange Jahre verheimlicht. Meinte er, etwas verbergen zu müssen? Oder wollte er nur nicht belästigt werden von dem alles überwuchernden Geschwätz der Epoche? Man hört, er habe sich die Post stets nur an das Musée Moreau senden lassen, dessen Verwalter und Konservator er über viele Jahrzehnte hin war. Selbst sein Galerist Vollard habe jahrlang nicht gewusst, wo der Maler wohnte und arbeitete, bis er ihm endlich in seinem eigenen Hause ein Atelier eingerichtet habe, um seiner sicher, oder soll man sagen: habhaft zu werden. Einsam mag er gewesen sein. Aber immerhin: er war nicht allein. Die Namen Georges Rouault und Gustave Moreau eng beisammen in einem Satz zu hören, verwundert den, der nur die Bilder der beiden Maler kennt. Sie sind so verschieden von einander, dass man an nichts zu erkennen vermag, dass der Jüngere des Älteren Schüler war. Man fragt sich: Der elegante, glatte, sinnenfreudige Schilderer des dekadent absterbenden neunzehnten Jahrhunderts, der Zubereiter feinster Augenschmäuse, der Professor der École Nationale Supérieure des Beaux-Arts, was hat der gemein mit dem Schmerzensmann, dem überlebenden Opfer alles bisherige Grauen übertreffender Kriege und eines furchtbaren, menschenverhöhnenden Jahrhunderts? Und doch haben sich die beiden offenbar wie Vater und Sohn geliebt. Und der Schüler hat seinem verehrten Lehrer über Jahrzehnte hin den treuesten Dienst getan als Verwalter seines Nachlasses und Direktor des ihm gewidmeten Museums. Man liest so etwas nicht ohne Rührung in einer Zeit, in der sich keiner mehr belehren lassen will. Gewiss hat Rouault vieles gelernt von dem souveränen Moreau, dem Meister des zarten und zärtlichen Pinsels. Aber dies hat ihn doch nicht von seinem eigenen, um so vieles beschwerlicheren Weg abgebracht. Als Sohn eines bretonischen Kunsttischlers hat Georges Rouault bei seinem leiblichen Vater viel sorgsame Handarbeit gelernt. Und doch ist das Handwerkliche das, was an seinen Bildern als letztes ins Auge fällt. Es ist da, gewiss, es ist vorhanden, aber es steht nicht im Weg. Seine Hände dienen 229

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anderen Mächten. Es ist vor allem die Botschaft, die einen vor den Bildern Rouaults anrührt und verstummen lässt. Man versteht sie, man wagt keinen Einwand. Auch wenn man danach nicht auf dem Weg umkehrt und sein Leben ändert. Rouault sucht keine Nachfolger, er kommentiert auch andere nicht. Er zeigt und weist hin. Und das tun auch die dargestellten Gestalten seiner Gemälde: sie schweigen, schweigen mit versiegelten Mündern. Nicht jeder erträgt dieses Schweigen. Denn er fühlt sich vor ihnen, als wäre er einer von denen, die Schuld tragen an all dem Jammer der Welt. Rouaults Dirnen und Clowns klagen, aber sie klagen nicht an. Was Ironisches oder gar Lächerliches an diesen Figuren sein mag, die über den Rand der Gesellschaft hinausblicken ins Leere, das wird von Rouaults hartem Pinselstrich bis zum Tragischen verzerrt. Guillaume Apollinaire hat das schon früh erkannt. Trost ist für Rouault nicht bei den schönen, fröhlichen Leuten. Kein Picknick oder Konzert in einer friedlichen Landschaft wird von ihm dargeboten, um unsere Augen darin auszuruhen. Immerzu steht die Gestalt des Opfers in der Mitte: der leidende Mensch, der Ausgestoßene oder – da, wo der Richter neben den Gerichteten steht – der Täter, der Ausstoßende. Dass Rouault bei solcher Wahl seiner Themen, trotz zweimaliger Befürwortung durch Moreau, schon als Student den Prix de Rome nicht hat bekommen können, wird keinen verwundern. Er hat weder der Selbstgefälligkeit der Gesellschaft des fin de Siècle gedient, noch der gloire de la France. Er hat keinen Siegesjubel gemalt. Er hat sich auch schwer getan mit seinem Dienst am katholischen Glauben. Gewiss hat er sie alle gekannt, die berühmteren, preisgekrönten Zeitgenossen. Sie waren ja in Paris, der Stadt der Maler, nicht zu übersehen. Hat mit dem einen oder anderen hin und wieder wohl auch ein Glas Absinth getrunken oder zwei. Aber irgendwann ist Rouault nur mehr seinen eigenen, steinigeren Weg gegangen. Einzig von Sergej Diaghilew hat er sich einmal bestimmen lassen, etwas zu tun, was auch die meisten der anderen schon einmal getan hatten. Er hat eine Bühnenausstattung im Théâtre Sarah Bernhardt geschaffen. Aber das Werk, wofür er gebeten wurde diese zu schaffen, das war nicht nur für unseren Maler bezeichnend, sondern auch für das feine Gespür des russischen Impresarios. Der nämlich hatte den Komponisten Sergej Prokofieff mit der Komposition eines Balletts über die biblische Erzählung vom verlorenen Sohn beauftragt. Und „Le Fils prodigue“ wurde Rouaults einzige Arbeit für das Theater. Er entwarf sowohl Bühnenbild wie auch Kostüme. 230

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Und die Wahl des Stückes ist so, dass man glauben möchte, er selbst habe sie zur Bedingung gemacht. Es lag auf seinem ureigenen Weg. Für die anderen, leichtfüßigeren Beteiligten, wie den Impresario, den Komponisten oder Georges Balanchine, den Choreografen, gab es zu anderen Zeiten auch ganz andere Wege auf dem Theater zu beschreiten. Nicht für Rouault. Seine Kunst erscheint uns heute wie eine Mahnung zur Umkehr, eine Bußübung in unser aller Namen. Georges Rouault hat gelebt und geschaffen und ist nun schon vor langer Zeit gestorben. Er hat im Leben ein schweres Tagwerk auf sich genommen. Das hat uns verstört und bereichert. Mir hat es sich eingeprägt. Und er hat uns allen, kreisend immer um dieselbe Frage von Leid und Schuld des Menschen, ein großes bildnerisches Werk hinterlassen, das uns alle zugleich bloßgestellt und gezeichnet hat. Möge seine glühende, mitfühlende, mutige Seele den Frieden finden, der sie heilt. Niemand hätte gewagt von ihr zu fordern, was sie uns gegeben hat.

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om bekehrten Paulus stammt der Satz: Betrachtet alles und das Gute behaltet. Mir scheint, als wäre dies einer der vernünftigsten Ratschläge unter den vielen, die uns seither zur Richtschnur gegeben wurden. Wie wenig hat man ihn betrachtet und wie rasch hat man ihn beiseitegeschoben. Das Beste des Guten ist das Leben. Das zu achten und zu lieben in allen seinen Formen ist unsere vornehmste Pflicht. Bewahren können wir es nur eine kleine Weile. Da die Menschen vergänglich sind, bleibt nur zu handeln vom Bewahren dessen, was die Menschen uns hinterlassen, gesprochen, erdacht und geschaffen haben. Paulus selbst war als Saulus vordem wohl eher ein Jäger und Verfolger und vielleicht auch ein Zerstörer gewesen. Vor Damaskus hat er einen bösen Sturz getan und sich daraufhin besonnen. Ohne dass er jemals Jünger gewesen war, wurde er zum Apostel, was auf Deutsch so viel heißen will wie Hinausgesandter. Er war ein Ohrenzeuge, kein Augenzeuge. Die Botschaft des Verkünders, allein vom Hörensagen hat er sie gekannt. Die, die sie selbst erfahren und aufbewahrt hatten, hatten ihm davon berichtet und hatten ihn teilhaben lassen an einem Schatz, der nicht kleiner wurde, sondern wuchs, je mehr man von ihm austeilte. Zu einem unerschöpflichen Schatzhaus war das Gedächtnis derer geworden, die Ohren gehabt hatten, um zu hören, und Augen, um zu sehen. In den Evangelien hatten sie zusammengetragen, was ihnen gegeben wurde. Sie hatten alles betrachtet und das Gute bewahrt. Dies Gute ist auch seither nicht geringer geworden und hat nicht gelitten durch die Jahre und Jahrhunderte, in denen es weitergereicht wurde von Hand zu Hand, von Mund zu Mund. Vieles, was wir unter uns austeilen und handeln, verliert bald seinen Glanz. Weniges nur bewahrt ihn. Am dauerhaftesten ist das brauchbare Wort. Es ist wie das Gold neben den Banknoten, Pfandbriefen und Aktienpapieren, die, wie wir heute wissen, auch in den Tresoren der Banken nicht sicher sind über die Tagesgeschäfte hinaus. Paulus war ein Mann des Wortes, er hat von Worten gesprochen, von Gedanken und Schriften. Er hat gewiss wenig Achtung gehabt auf die 232

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Dinge, die mit Händen zu greifen sind. Er war viel unterwegs, zu Fuß, auf Mauleseln oder auf Schiffen. Da wird er sich weislich an den römischen Spruch omnia mea mecum porto gehalten haben. Schreibzeug und Papyrus wird man ihm überall gerne geliehen haben. Er wusste und predigte: Der größte unserer Schätze besteht nicht aus hinfälligen Gegenständen, an die wir unser Herz hängen und die wir doch eines Tages aus den Händen geben müssen, er besteht aus dem, was wir im Gedächtnis bewahren, aus dem, was wir wahrhaft beherzigen. Was war es, das wir nicht mehr hergeben wollten? Einst haben wir es in Stein gegraben, dann auf Tierhäute und danach auf Blätter geschrieben oder gezeichnet, heute haben wir die technischen Mittel gefunden, es auf kleinstem Raum zusammenzupressen, so dass wir es in der Tasche mit uns tragen können. Es bedürfte jedoch der Glaubensstärke eines Paulus, um darauf zu vertrauen, dass uns die auf solche Weise aufbewahrten Worte auf ewig erhalten bleiben. Wir haben heute in anderen Dimensionen zu denken gelernt als die Menschen der Zeitenwende. Und dennoch oder gerade darum haben wir nicht mehr den Mut von einer unermesslichen Ewigkeit zu sprechen. Was immer wir bewahren wollen, das hoffen wir nicht länger zu bewahren, als wir hinausblicken können in eine schwindelerregende Zukunft. Wir wissen: es wird mit den Sprachen der Menschen vergehen. Ob im Feuer oder im Eis, den Untergang allen Lebens haben uns die Propheten unserer Wissenschaften vorausgesagt. Endgültiger wird es sein als die Sintflut, was uns bedroht. Einzig ein ganz und gar unwissenschaftliches Wunder könnte uns retten und auch dann nur, wenn wir alles abgestreift haben, dessen wir nicht bedürfen. Aber es ist ungewiss, ob wir dem, was nach uns kommen wird, noch etwas zu übergeben haben. Der griechische Geschichtsschreiber Strabon hat behauptet, dass Aristoteles der erste gewesen sei unter den Gelehrten, der Bücher aufbewahrt und gesammelt habe, der erste, der zur eigenen Verfügung eine Bibliothek eingerichtet und den ägyptischen König Ptolemaios beraten habe, wie er die seine einrichten solle. Diesem Umstand verdanken wir unser seither schier unüberschaubares, enzyklopädisches Wissen. Dem Betrachten, Wählen, Aufbewahren und Pflegen einer großen schriftlichen Tradition. Das Wissen davon steht seither allen frei, ist jedem verfügbar, der danach strebt. Nun ist aber auch das Sammeln von Wissen ein fragliches Geschäft. Ohne Plan und Urteil gerät es ins Uferlose. Das reine Wissen von Tatsa233

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chen, Dingen, Daten und Namen endet im Chaos. Dagegen hilft uns nur das Betrachten, das Werten und Wählen. Und den Maßstab dazu gibt uns allein der Überblick der offenen Augen. Seit jener Zeit der griechischen Denker und christlichen Prediger haben wir uns mehr und mehr von den nur mit Buchstaben, Noten und Zeichen fassbaren geistigen Dingen abgekehrt und uns dem Hab und Gut zugewandt, mit dem wir uns rings umstellen, den greifbaren Dingen, auf denen wir sitzen und mit denen wir handeln. Und wir haben denen unter uns vermehrte Beachtung geschenkt, die vieles haben, was anderen fehlt. So leben wir nun in einer Zeit, in der der Wind die Zeitungen vom vergangenen Tag, die ausgesogenen Zigarrenkippen und die leeren Nylonsäcke durch die Gassen treibt. Wir leben in einer Zeit, in der wir alles, was wir erjagt und erbeutet haben, nach Essbarem, Trinkbarem, Genießbarem, Verpfändbarem oder auf eine andere Weise dienlich Verwertbarem prüfen. Wenn es uns davon nichts mehr zu bieten, wenn es ausgedient hat, werfen wir es beiseite. Ganz so, als wäre die Welt allein zu unserem Verzehr, zum Schutz unseres Leibes, zur Erhaltung unseres Daseins oder zur Befriedigung unserer Lüste bestimmt. Hin und wieder entdecken wir in zerfallenen und wieder ausgegrabenen Städten einen versiegten Brunnen, in den vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden Dinge geworfen wurden, die nicht mehr gebraucht werden konnten. Es ist darin zu unserem Erstaunen nur geblieben, was auch der Notleidenste nicht mehr gebrauchen konnte. Offenbar wurde alles aufbewahrt, was in irgendeiner fantasievollen Weise noch einmal umgestaltet und neu verwertet werden konnte. Was wir dort finden, sind Scherben, die keine Hand mehr kitten konnte, verdorbene Speisereste, Knochen und Gräten. Die dienen uns nun wie eine Bibliothek, in der wir lesen, was einst an diesen Orten geschah. Heute aber häuft sich das achtlos Weggeworfene als Abfall in unseren Straßen, wenn einmal die Müllarbeiter streiken. Heute benimmt uns der Pestgestank des Verdorbenen den Atem, so dass die Empfindlichen Schutzmasken tragen müssen vor ihren Nasen und Mündern. Heute müssen manche Städte den Müll, dessen sie nicht mehr Herr werden, weil ringsum keine Verbrennungsanlagen mehr gebaut werden können, mit Lastwagen oder Schiffen in andere Länder exportieren. Wir haben unsere Landschaften zu Abfallhalden gemacht und unsere Meere zu Kloaken. 234

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Wandernd im fernsten Gebirge sieht man Plastiksäcke in den Dornbüschen hängen. Der von der Asche unserer Kamine geschwärzte Regen beschmutzt die vergessene Wäsche in unseren Gärten und die Segel über unseren Booten. Und unsere Netze holen oftmals mehr totes Gerümpel als lebende Fische aus den Flüssen und Seen. Kaum einer sorgt sich, ob unsere Kinder und Enkel den Mut und die Kraft haben werden, sich unserer Hinterlassenschaft wieder zu entledigen. Wir sind auf Abwege geraten. Wir alle gehen einen irren Weg, die wir meinen einander zum Erwerb von immer mehr und immer neuen Dingen überreden zu müssen, Dingen, die wir nicht benötigen und darum bald entsorgen werden. Wir leben, so kann man in denselben Zeitungen lesen, die Reklame machen für das Allzuviele, wir leben in einer Wegwerfgesellschaft. Das Erste, was wir beiseitewerfen, sind eben die Zeitungen vom vergangenen Tag, die uns wahre Müllberge an überflüssigem Geschwätz in die Wohnungen kippen. Keiner nimmt sich mehr ein Blatt vor den Mund und schweigt, wenn er nichts zu sagen hat. Und keiner denkt sich viel dabei, wenn er mitansehen muss, wie auch wir einst entsorgt werden mit all dem, was wir gesprochen, geschrieben, gebaut oder sonst wie verursacht haben. Und vielleicht ergeht es auch dem, was ich hier und heute an meinem Schreibtisch tue, nicht anders, und ich hätte besser geschwiegen. Ein Rat, der jedoch, so klug und mäßigend er sein mag, noch keinen zu einem Philosophen gemacht hat. Manch einer, der einzusehen gelernt hat, dass nichts von Dauer ist, verfügt in einer letzten Geste der Verachtung, dass seine sterblichen Überreste verbrannt und als Asche von einem Schiff aus ins Meer oder aus einem Hubschrauber über die Landschaft verstreut werden solle. Einer, der den Verstorbenen gekannt oder geliebt hat, fühlt sich verletzt von dieser endgültigen Abkehr, von diesem unwiderruflichen Verzicht auf alle Hoffnung. Ein anderer, der sich verpflichtet fühlt, den letzten Wunsch, der schon kein Wunsch mehr ist, zu erfüllen, macht sich keine Gedanken, ob das, was ihm da ausgehändigt wurde und das nun verfliegt und versinkt, wirklich die Asche eines Menschen oder nur die eines Holzsarges oder Müllsackes war. Pulvis sumus, denkt er, wenn er nicht aufgegeben hat zu denken. Ununterscheidbar löst sich die Asche im Wasser des Regens oder des Meeres. So zerstreuen die einen, was ihnen in die Hände gegeben wird, Müll oder Asche, weil sie nichts mehr zu halten vermögen, weil ihnen nichts mehr zu taugen scheint. Und andererseits leben mitten unter uns 235

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Menschen, die sich so sehr an die irdischen Dinge krallen, dass sie, was immer sie finden, sammeln, ordnen und aufbewahren und nichts, was sie je in die Hände bekommen, wieder loslassen wollen. Man hat mir von einer alten Dame erzählt, die die letzten Jahre ihres Lebens damit verbrachte, alles, was ihr ins Haus getragen wurde, zu horten und zu stapeln. Man konnte am Ende, als sie nicht mehr fähig war, ihr Bett zu verlassen, kaum mehr durch die ehemals herrschaftliche Wohnung zu ihr gelangen, um sie zu versorgen mit dem wenigen, das sie zum Leben noch brauchte. Sie konnte nicht beredet werden, irgendetwas fortzugeben, wovon sie meinte, dass es ihr gehöre. Und so stapelten sich die Werbeprospekte, die Flaschen und Pillendosen, die ausgebrannten Glühbirnen und Weihnachtskarten, die Bücher und Pralinenschachteln nicht nur in Schränken und Regalen, sondern auch auf Tischen, Stühlen und Fensterbrettern. Und endlich wuchsen aus den Zimmerecken bis in die Mitte der Räume die Hügel der aufgestauten Gegenstände zu schritthemmenden Hindernissen heran, bis es nicht mehr möglich war, die Vorhänge beiseitezuziehen oder die Fenster zu öffnen. Die Welt kam außer Sicht. Die Dinge hatten den Blick auf sie verstellt, und der Staub, der ihnen folgte, benahm nun den Atem. Als die Besitzerin dieses Hab und Gutes eines Tages von all dem hatte lassen müssen und gestorben war, sagte der Arzt, sie hätte noch einige Jahre zu leben gehabt, aber die Dinge, die sie gehortet hatte, hatten sie im wahren Sinn der Worte umzingelt, gelähmt und erstickt. Die Bewahrung ihres Besitzes hatte sie um den Verstand und endlich ums Leben gebracht. Wir haben in den vergangenen Jahren mehr als einmal Berichte vernommen von Menschen, die gierig alles an Organischem, dessen sie habhaft wurden, verschlangen und sich einverleibten, so dass sie endlich einen Leibesumfang sich angemästet hatten, der sie hinderte, die Wohnung oder gar das Bett zu verlassen, und die mit einem Kran aus dem Fenster gehievt werden mussten, wenn man einen letzten Versuch unternehmen wollte, sie vor sich selber zu retten. Äußerste Beispiele dies von dem, was Hegel einmal den „Weltverzehr“ genannt hat. Man muss Verzicht leisten können, um zu leben, das ist wohl wahr. Man kann weder alles betrachten noch alles, was einem gut und nützlich scheint, besitzen oder bewahren. Man muss der Welt seine eigenen Werturteile nicht aufzwingen wollen und muss manches gut sein lassen, was 236

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man selbst nicht begreift. Sie ist nicht nur unsere Welt, sie ist auch die der anderen lebendigen Wesen. Besitz darf nicht zur Besessenheit werden. Der freie Mensch benötigt nur wenig Gepäck. Und das wertvollste ist ohnehin das immaterielle, das gespeicherte Wissen. Und auch dessen Maß hat eine von der Vernunft zu bestimmende Grenze. Man muss von allem, was man mit Händen halten kann, lernen Abschied zu nehmen. Und auch von der Macht, zu richten und zu ordnen. Denn es sind nicht die irdischen Dinge, um deretwillen wir leben. Aber gibt es denn Anderes? Gibt es etwas, das bleibt, wenn unser Leib begraben oder unsere Asche verstreut ist? Hat das wahrhaft Bewahrenswerte einen Ort im Gedächtnis der Menschen, aus dem es nicht vertrieben werden kann? Und wie weit reicht dieses Gedächtnis? Als ich vor langen Jahren einst in einem südlichen Land auf einem staubigen Weg zwischen abgeernteten Feldern ging, bückte ich mich von Zeit zu Zeit, um etwas, das wie ein Stück alten Glases oder Tons aussah, näher zu betrachten. Und dabei kam mir vor, als hätte ich immer wieder einmal auch das Bruchstück eines uralten Gefäßes gefunden. Das eine oder andere davon steckte ich in meine Tasche. Der neben mir ging, lächelte freundlich, und als ich ihn auf die Anzeichen alter Inschriften oder Abbildungen hinwies, meinte er, das alles stamme ohne Zweifel aus römischen Epochen. Ich könne aber nichts davon vor dem endgültigen Zerfall mehr bewahren, denn auf jedem Schritt, den wir täten, träten wir in dieser Gegend auf den Staub versunkener Kulturen. Er musste es wissen, er war der Gouverneur der Provinz. Ich habe die bunten Scherben einige Jahre aufbewahrt und sie weggeworfen, als ich fand, sie hätten ihren Dienst getan, mich an die Vergänglichkeit der großen Werke und Reiche zu mahnen. Und ich habe gelernt, auch alles, was ich je begonnen habe, zu prüfen, wie lang es Bestand haben könne. Ich habe vieles fortgetan. Und habe dennoch nicht davon abgelassen, etwas, was nicht gelingen wollte, unvollendet aufzubewahren, um immer aufs Neue dafür eine endlich doch gelingende Form zu suchen. Was wir geprüft und für bewahrenswert befunden haben, hinterlassen wir eines Tages einer anderen Generation, die nicht alles mit gleichen Augen sehen wird wie einst wir. Es gehört zu den oft recht schmerzlichen Aufgaben der Erben, Dinge fortzugeben, die einst große Bedeutung für liebe Verstorbene hatten. Sie haben neben dem eigenen Wert, sei es des Materials, des Gebrauchs oder einer investierten Arbeit, auch den Wert 237

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von Erinnerungen, und damit der Gefühle, die ihr Anblick erwecken mag. Aus solchen Prüfungen und Entscheidungen entsteht, was wir als Tradition bezeichnen und somit letztendlich die Kultur einer Familie, eines Landes, eines Kontinents. Die Stätten, an denen heute gesammelt und aufbewahrt wird und die in vielen Fällen von staatlichen Institutionen oder gemeinnützigen Vereinen unterhalten und ständig erweitert werden, wurden meist von Adeligen oder wohlhabenden Bürgern als private Sammlungen begründet. Nach den Umwälzungen der Neuzeit sind sie nach und nach in öffentlichen Besitz übergegangen. Was vordem oft recht kuriosen individuellen Entscheidungen entsprungen war, wurde seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts weiterhin nach professionellen Kriterien verwaltet. Die unterschiedlichsten Gegenstände wurden zusammengetragen, Gebrauchsgegenstände des Alltags, historische Dokumente, organische und anorganische Naturalien, vor allem aber Werke der Kunst, der Literatur, des Handwerks, der Technik und der Wissenschaften. So haben sich im Laufe der letzten Jahrhunderte Abermillionen von Dingen angehäuft, die nur mehr den Fachleuten auf ihren je eigenen Gebieten überschaubar sind. An vielem Weitergereichten hängt der Wert historischer Erkenntnisse, an manchen aber auch nur mehr die Erinnerung an einen längst verstorbenen Sammler. So werden Jagdtrophäen und Gewänder eines Tages beiseitegetan und Pokale oder Schmuckstücke auf ihren Materialwert zurückgeführt. Was aber geschieht mit den Werken der Kunst? Ihr Gebrauchswert ist meist gering. Die Beurteilung ihrer Qualität und ihres Marktwertes schwankt von Epoche zu Epoche. Es gäbe letztlich nur ein einziges Kriterium, das erlaubte, eine untere Grenze zu setzen: die handwerkliche Vollendung. Die ist jedoch in unseren Zeiten so ziemlich das letzte, was die vom kommerziellen Zeitgeist und der elektronischen Reproduktion erzogenen Kritiker einbeziehen wollen in ihr Urteil. Die Preise des Kunstmarkts taumeln vom bloßen Materialwert des Gegenstandes bis zu einem fingierten Schätzwert, der alles Erwartbare um ein Vielfaches übertrifft. Und es sind eben die institutionellen Sammlungen und Museen, die in Konkurrenz um ihr mediales Prestige aberwitzige Preise zahlen und es so den Künstlern ermöglichen, Werke zu schaffen, die in privaten Räumen nicht mehr gezeigt werden können. Was für die Werke der Bildhauer immer schon gelten durfte, das soll nun auch für die Werke der Maler gelten. Sie schaffen Gemälde, die nur mehr an Wände von Museen oder öffentlichen 238

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Gebäuden gehängt werden können. Die erzielten Marktpreise locken die Diebe. Und so wandert ein Großteil der verfügbaren Kunstbudgets an die kommerziellen Versicherungsgesellschaften. In den Kellern und Archiven der Museen aber häufen sich die Werke, die durch eine gegenseitige Lizitation um abenteuerliche Beträge erstanden wurden und deren auf keiner kaufmännischen Realität mehr gegründeter Wert in vielen Fällen bald gänzlich verfallen wird. Es ist hier nicht der Ort, das endlos scheinende Crescendo der Kommerzialisierung der Künste zu verfolgen. Ein Beispiel aber soll angeführt werden, das mehr als viele Berechnungen die ganze Misere einer missverstandenen Tradition aufzeigen kann. Ein Museum für zeitgenössische Kunst in den Niederlanden, das über viele Jahre die ihm anvertrauten Gelder zum Ankauf grafischer Werke lebender Künstler verwendet hatte, musste eines Tages erkennen, dass die Kosten einer fachgerechten Aufbewahrung dieser empfindlichen Werke alles vertretbare Maß überstiegen. Die verfügbaren Räume waren gefüllt, für die Aufrechterhaltung der erforderlichen Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit und für die personelle Betreuung waren alle Mittel ausgeschöpft. An eine öffentliche Präsentation der gehorteten Schätze war nicht zu denken. Die Grafiken blieben in lichtlosen Räumen verborgen. Um weiterhin erwerben und sammeln zu können, hätten neue Gebäude errichtet werden müssen. Die verfügbaren Gelder wären der Kunst damit verloren gegangen und in die Bauindustrie geflossen. Die Kosten der Aufbewahrung begannen die Kosten der Anschaffung zu übersteigen. Zudem machte sich ein Verfall des Marktwertes der Sammlung bemerkbar. Folgende Alternativen wurden erwogen: Man konnte das Aufbewahrte belassen, wo es war, und nichts Neues mehr hinzu erwerben. Man konnte weiterhin Neues ankaufen und das Alte zerschreddern. Man konnte einen Teil der erworbenen Werke zu niedrigsten Preisen in den Markt zurückführen und einen anderen Teil an die Autoren zurückgeben. All dies hätte den Kunstmarkt ruiniert und den lebenden Künstlern ihre Lebensgrundlage entzogen. Man hätte ihnen durch das billige Überangebot der Museumsware eine Konkurrenz geschaffen, gegen die sie sich nicht hätten behaupten können. Das System war zum Stillstand gekommen. Was immer man tat, man entwertete die Werke der Künstler nicht allein in der Öffentlichkeit, sondern auch in deren eigenen Augen und beschädigte ihren Willen, Neues zu schaffen. 239

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Das Museion Athens, das den Musen der Künste und Wissenschaften seinen Namen verdankte, wurde nicht lange nach den ersten Bibliotheken gegründet. Im Jahre 280 v. Chr. wurde es errichtet als ein Studienort für Künstler und Gelehrte, als ein Anschauungsort auch von Beispielen früheren Forschens und Schaffens, der nicht dem Sammeln und Horten dienen sollte, sondern der Bildung der Menschen. Kein Athener hätte daran gedacht, Depots anzulegen, die für Nichtbefugte nicht zu betreten wären. Bewahren nicht um des Bewahrens willen sollte dieses erste Museum, bewahren sollte es, um zu befruchten. Was an einem Beispiel aus den bildenden Künsten gezeigt wurde, gilt heutigentags in gleichem Maße für die Druckerpressen und die Musikindustrie. Die angeführten Beispiele jedoch sind hinreichend, um erkennen zu lassen, dass alles Menschenwerk hinfällig ist und man sich darein fügen muss, nur so viel davon zu erhalten als dem Neuen zur Belehrung dient und ihm nicht den Weg verstellt. Es lässt auch erkennen, dass die Verantwortung, das Bewahrenswerte vom Hinfälligen zu unterscheiden, von Menschen wahrgenommen werden muss, die das Außerordentliche in der Masse zu erkennen vermögen, von Menschen, die nicht nach persönlichen Vorlieben und Moden entscheiden, sondern nach ethischen und ästhetischen Grundsätzen, die Bestand haben über ihren eigenen Gesichts- und Gehörkreis hinaus. Endlich, dass dennoch jedes Urteil einem willkürlich wandelbaren Zeitgeist unterworfen ist, der es sehr bald als fraglich erscheinen lässt. Den Gegenpol zu den alles Überschaubare übersteigenden Sammlungen unserer großen Museen bilden – wir kehren zum Anfang unsrer Betrachtung zurück – die Müllhalden, die unsere Städte umgeben. Die sich selbst in unsere Landschaften und Wälder erstrecken und mehr und mehr auch Flüsse, Seen und Meere in lebensfeindliche Kloaken verwandeln. Dem Zeitungsleser Beispiele davon zu geben, erscheint nicht mehr nötig. Viele haben erkannt: wir sind in einen fatalen Kreislauf geraten, dadurch, dass wir mehr und mehr produzieren und schließlich des Überflusses an Unbrauchbarem nicht mehr Herr werden können. Wahrer Fortschritt kann nicht darin liegen, die Produktionen zu steigern. Dies alles und viel anderes mehr muss aufgezeigt werden, damit wir erkennen, dass wir einhalten müssen, um nachzudenken und um danach unser Urteilen und Handeln zu ändern. Denn wir sind auf dem Weg, 240

über das sammeln und bewahren

nicht nur unseren Lebensbezirk, sondern auch unseren geistigen Freiraum zu zerstören. Umkehr tut not. Länger dürfen wir nicht die Schätze der Erde in Dinge verwandeln, derer wir nicht bedürfen. Wir müssen erkennen, dass wir die Welt nicht mehr gestalten, sondern sie ausbeuten und vermarkten. Das Geschwätz derer, die nur kommerzielle Interessen verfolgen, muss zum Schweigen gebracht werden. An den alten Sokrates sollten wir denken, der über den Markt von Athen wandernd sprach: Wie viele Dinge sehe ich staunend doch, derer ich nicht bedarf. Mit Strenge muss geprüft werden, was lauten Anspruch erhebt. Mittelmäßigkeit darf keinen Bestand haben, nur weil es alt ist. Vom modischen Ramsch nicht zu reden. Das ist die eine Hälfte der Paulinischen Forderung. Prüft und betrachtet alles. Auch was lange gegolten hat, muss nicht ewig gelten. Dass einer aber leichthin hinweggeht über alles Gewordene und Gewachsene und nichts ihm Überantwortetes mehr schützens- und bewahrenswert erachtet, sondern nur nach nie Gesehenem, Unerhörtem und Neuem sucht, zeugt in meinen Augen von einem Mangel an dem, was mir das einzig Lebenswerte erscheint, es zeugt von einem Mangel an Liebe. In dem Sinne hab ich den großen Mann Paulus immer verstanden. Das Hinschwindende ist, was wir lieben und was wir vor diesem Hinschwinden zu bewahren hoffen, auch wenn uns die Vergänglichkeit alles Irdischen stets vor Augen bleibt. Im Geliebten aber ist uns die Hoffnung auf ein Unverwelkliches, Unzerstörbares auf wundersame Weise enthalten. Alles andere ist ein klingendes Erz und eine tönende Schelle.

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in memoriam leopold pötzlberger

D

ass er gestorben war, erfuhr ich im Sommer 1962 aus einer Wiener Tageszeitung, noch bevor einer unserer gemeinsamen Freunde mich hätte verständigen können. Gestorben ist nicht das rechte Wort, wenn einer mit vier anderen zusammen in einem grauenvollen Verkehrsunfall zermalmt und zerrissen wird als eines von Millionen und Abermillionen Opfern der immer rasenderen Bewegung, in die unsere einst zweibeinigen und nun dampf- und benzingetriebenen Artgenossen seit einigen Dezennien geraten sind. Dass er nicht nur ein liebenswerter Mensch, sondern auch einer der begabtesten österreichischen Dichter um die Mitte des Jahrhunderts gewesen war, wurde mir seither immer deutlicher bewusst, obwohl die vier Dutzend Gedichte, die er hinterlassen hat, von der durch Geschwätz verwirrten literarischen Öffentlichkeit kaum je registriert und bald vollkommen vergessen wurden. Wer – außer seinen Verwandten und Freunden – weiß heute noch etwas von diesem jähen Leben und Sterben? Für ihn gilt das hirn- und herzlose Verdikt, dass einer, von dem nicht von den Berichterstattern über Druck oder Draht berichtet wird, im Gedächtnis der Epoche so wenig vorhanden ist, als hätte er nicht gelebt. Ich hatte ihn etwa fünf Jahre vor seinem frühen Tod in Pötzleinsdorf kennengelernt, wo er als Dolmetscher in dem als Jugendgästehaus der Stadt Wien adaptierten Biedermeier Schloss für kurze Zeit einen seiner häufig wechselnden Arbeitsplätze gefunden hatte. Dort trafen wir uns auch in den folgenden Jahren immer wieder mit drei oder vier Freunden oder auch – seltener – allein. Dort diskutierten wir über Literatur, stiefelten durch den Park, tranken den Wein der umliegenden Weinberge, oder zogen – mit der Tramway, nicht mit dem Automobil wohlgemerkt – zu später Stunde noch in die Stadt: ins Café Glory an der Ecke des Votivparks, in das Café in der Bergstraße schräg gegenüber dem Wohnhaus des Professors Freud oder auch gelegentlich ins entferntere Café Hawelka in der innerstädtischen Dorotheergasse. Ich erinnere mich an das lebhafte, blasse Gesicht, die stets übernächtigen, wasserblauen Augen, das heftige Lachen, das meist nicht glücklich klang, und an den schmalen, weißhäutigen Körper, in dem 242

im memoriam leopold pötzlberger

neidvollen Gerüchten zufolge doch ganz erstaunliche männliche Kräfte erwachen konnten. Poldi nannte man ihn unter Freunden, wie das in Wien so üblich war, wo man keine Scheu hatte, den kaiserlichen Vornamen Leopold volkstümlich herabzustimmen. Warum er sich mit einem altklugen Burschen, der viele Jahre jünger war als er, so oft an einen Tisch setzte, ist mir heute gar nicht mehr so recht klar. Nun ja, ich hatte wie er an der Wiener Universität meinen Doktorhut abgeholt und hatte seither, um ernster zu wirken, hin und wieder eine Pfeife im Mundwinkel hängen, aber der Doktor Pötzlberger, in den Kriegs- und Nachkriegsjahren früh gereift und schon ein wenig angekränkelt, hatte mir doch mehr als nur die Lebensjahre voraus. Ich denke, es war seine mehr noch brüderlich-soziale als beruflich-kollegiale Gesinnung, die einen jeden gelten ließ, der den Mut hatte, sich auf den steinigen Weg des Schreibens zu wagen. Meist traf ich ihn erst in den Abendstunden und da oft belebt von einer fast hektischen Euphorie. In der Erinnerung sehe ich ihn immer lachen. Und dabei, wenn man es vom Ende her überblickte, welch erschreckend schmerzliches Leben war ihm auferlegt. Nicht vorzustellen, dass er das nicht gefühlt haben soll. Aber seine dunklen Stunden wird er wohl allein und in den grauen Morgenstunden in seinem Junggesellenkämmerchen mit sich abgemacht haben. Junggeselle war er, um es genau zu nehmen, eigentlich immer, auch wenn er für kurze Zeit einmal verheiratet und seither auch Vater einer Tochter war. Die Wohnung bei seinen Eltern im zweiten Gemeindebezirk, der Leopoldstadt, hat er nie wirklich verlassen. Der Vater, ein Diplomingenieur, war Mitglied der kommunistischen Partei und vieles von deren Gedankengut war Ehrensache in der Familie. Peggy hieß seine geschiedene Frau. Auch mit ihr trafen wir uns gelegentlich in einem der Kaffeehäuser in der Nähe der Universität. Ich habe sie mir eingeprägt, weil sie mich, halb wohlwollend, halb maliziös stets mit dem Namen eines deutschen Schauspielers ansprach, mit dem ich, obwohl er mir ähnlich sah, nicht gern verglichen werden wollte. Peggy rauchte und redete viel und schien trotz der gelungenen Scheidung auch nicht eben glücklich. Man erzählte mir später, sie habe fast ebenso viele Abtreibungen hinter sich wie fruchtbare Lebensjahre. Derlei auch unter besseren Auspizien immer schmerzliche Eingriffe waren in jenen Jahren sehr teuer, da sie gesetzlich verboten waren und heimlich geschehen mussten. Ich dachte damals und denke auch heute noch nur mit Beklemmung daran. 243

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Der Poldi war eine bekannte Figur in der Wiener Nachkriegsbohème. In allen Lokalen, die damals von jungen Künstlern frequentiert wurden, war er bekannt, sei es im Art-Club, im Strohkoffer, in der Edenbar oder im Hawelka. Mit allen Künstlern seines Jahrganges war er befreundet, mit Hundertwasser, Fuchs, Lehmden, Ferra, Beyer und Artmann. Und besser noch verstand er sich mit den Damen, die nur Gutes und oft sogar Erstaunliches von ihm zu berichten hatten, und denen er hin und wieder zwischen ein paar Gläsern Wein eines seiner auf Schreibmaschine getippten Gedichte verehrte. Diese romantisch anmutende Geste wurde ihm durch den Umstand erleichtert, dass viele seiner Verslein recht erotisierenden Inhalts waren. Wie etwa dieses, das nicht nur mir besonders gefiel: Beim Flusse Eurotas rauscht der helle Himmel auf sie nieder – der omnipotente Schwan in seinem schweren Gefieder: den schwanken Hals gebogen hängt schnäbelnd an ihrer schneeig weißen Brust, in heißer Brunst krallt er die breiten Klauen in der Königin volle Hanken – und sie sinkt hin in lymphatischer Lust der göttliche Vogel tritt sie triumphierend und gießt seine Schauer in ihren Schoß Die meisten der solcherart ausgestreuten Texte sind seither verschollen. Damals, als jeden Tag Neues entstehen konnte, dachte ich nicht viel nach über solche Verluste, heut tut es mir leid. Pötzlbergers Gedichte entstanden nicht 244

im memoriam leopold pötzlberger

in der abgeschiedenen Stube. Eines Tages fiel es mir auf, dass Pötzl berger immer einige nachlässig gefaltete Zettel in der inneren Brusttasche seines Jacketts mit sich trug und oft unvermittelt während eines Gesprächs Notizen darauf machte. Lernbegierig war ich und fragte ihn nach deren Inhalt. Und er gab gern Antwort. Für ihn war das Schreiben von Gedichten keine Liebhaberei, sondern ernste, immerwährende Arbeit, die er mit professionellen Methoden betrieb. Er spann seine Fäden überall, wo er saß, und lauerte, auch wenn er nur zu trinken und zu kalauern schien, mit den Ohren auf Beute. Floskeln aus zufällig mitgehörten Gesprächen, Vokabeln aus Lexika, Aufschriften auf Schildern oder Formulierungen aus Tageszeitungen oder Rundfunksendungen fing er auf und trug sie auf seinen Zetteln zu einem Schatz zusammen, der ihn reich machen sollte, wortreich, eloquent, sprachgenau, lebensecht, zeitgerecht und präzis. Neben dem Studium von Fremdsprachen galt vor allem der Etymologie seine genaueste Aufmerksamkeit. Er wollte nicht nur wissen, wohin die Wörter zielten, sondern auch woher sie kamen. Dass er eine Dissertation über „Adalbert Stifter und die Frauen“ geschrieben hatte, galt uns eher als ein Anlass für respektlose Scherze. Heute, da ich mehr über Stifter weiß, würde ich die Arbeit, die wohl nur mehr in der Universitätsbibliothek zu finden sein wird, gern einmal lesen. Die Romane des Amerikaners Henry Miller waren damals sehr im Schwange; sie vor allem erschlossen ihm die epische Literatur der Gegenwart. Den Autor hat er, wie er behauptete, wohl auch einmal persönlich getroffen. Gottfried Benn jedoch, den Berliner Dichter der Großstadtneurosen, verehrte er mehr als alle anderen Autoren. Wer danach sucht, erkennt in seinen Versen hin und wieder die Spuren. Und wegen dessen zwei Dutzend unvergänglicher Gedichte verzieh der Sohn aus gutem marxistischem Hause seinem bürgerlichen Vorbild die bald bereuten politischen Irrwege. Der keusche biedermeierliche Unmensch Stifter, der seine Frauengestalten kaum mit dem Flaum seiner Dichterfeder zu berühren wagte und sich, in seiner Gegenwelt gefangen, um Staub und Asche der Realität nicht bekümmerte, der wild und zotig zupackende Miller und der Seismograf intellektueller Einsamkeit, der so vieles vom Elend des Lebens wusste und so wenig von der Liebe, die drei waren die Nähr- und Ziehväter des Wiener Kaffeehauspoeten. Eine seltsame Trias. Aber in Ideologien war Leopold Pötzlberger nicht erstarrt. Ich kannte ihn nur tolerant, liebenswürdig, morbid, lebenshungrig, spottlustig und ohne Illusionen, 245

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einer, der in vielen Sprachen und mit sehr unterschiedlichen Freunden, Frauen und Kumpanen viele Leben lebte, alle aber lichterloh brennend. Und darum sträubte sich, als ich die Nachricht von seinem Tode las, alles in mir, anzuerkennen, dass er ausgelöscht sein könnte, mit einem Mal, wie eine Kerze im Wind, tödlich verunglückt im Alter von nur 35 Jahren. Der Wagen, in dem er zu später Stunde unterwegs gewesen war in die Innenstadt, war, so stand da in der Zeitung zu lesen, in einer Biegung der Pötzleinsdorfer Straße am Türkenschanzpark auf einen Straßenbahnzug geprallt. Von den fünf Insassen, vier davon um vieles jünger als mein Freund, der Poet, und offenbar alle betrunken, hatte keiner überlebt. Auch Poldi nicht, der nicht gelenkt haben konnte, da er keinen Führerschein hatte. Bei der Trauerfeier im Krematorium des Wiener Zentralfriedhofes, das auf dem Parkgrund eines alten kaiserlichen Schlosses steht, kam mir eines seiner Gedichte in den Sinn, das sich seither in meinem Gedächtnis eingenistet hat und dort immer noch einen leichten Schmerz bereitet. Jetzt wohnt niemand mehr in deinem Haus Hagestolzleben Lemurenstunden nur das Englischhorn und der Krokus verblüht was blieb von deinen Komplizen Urnen im Kolumbarium die Tauben gurren und sind ein großer grauer Traum sie rollen nicht den Stein hinauf Sisyphos iß dein Frühstück und dann leiste deine Frone Ein schmales Bändchen mit seinen Gedichten ist uns geblieben. Der hortulus-Verlag in St. Gallen hat es unter dem Titel „Die letzten Festivale“, auf 246

im memoriam leopold pötzlberger

Veranlassung unseres literarischen Freundes Hermann Joseph Kopf im Jahre 1963 herausgebracht. Dieser ruhlos wandernde Schweizer Dichter, der zuerst Hermann und nach einem Aufenthalt in Israel nur mehr Joseph genannt werden wollte, ist auch einer der Verschollenen der Nachkriegsjahre. Ein schmales Bändchen mit Gedichten unter dem Titel „durchschossen von blauem sternlicht“ ist geblieben und die Erinnerung seiner alternden Freunde. Mutig und vermutlich – für den Verleger Hilty jedenfalls – fast ganz unbelohnt war die Edition der Leopoldinischen Gedichte. Deren biegsamen Umschlag schmückt ein Bild Friedensreich Hundertwassers, zwischen die Verse sind Federzeichnungen Anton Lehmdens gestreut. Zweiunddreißig Seiten umfasst das Büchlein. Wenig und doch viel für den, der die nuggets aus den Kieseln zu lesen weiß. Das oben zitierte Gedicht hatte ich schon vor seiner Veröffentlichung als eines der fliegenden Blätter gekannt und nach ihm ein Zimmer in der Wohnung eines anderen früh verstorbenen Freundes, des Komponisten Peter Ronnefeld, das Taubenzimmer getauft, da in den Dachrinnen vor dessen Fenstern stets gurrende Tauben hockten. Das Zimmer war in meiner Fantasie von dem ewigen gleichen Ton ganz grau geworden. Grau war die Farbe des Englischhorns im dritten Akt des „Tristan“. Grau war die Farbe der grabenden Lemuren, des Sisyphossteines, des täglichen Frondienstes und grau war auch die Asche in den Kolumbarien, den Taubenschlägen, des Zentralfriedhofs. So ist mir dieses Abschiedsgedicht, das über siebzehn Zeilen von freien Rhythmen und behutsamen Alliterationen gebunden wird, seither als eine Etüde in g-Moll, will sagen in sanften Grautönen erschienen, durch deren Zeilen ein kleines augenzwinkerndes Lächeln irrt. Da ist die freundschaftliche Endung -leben, die die Juden den Namen oder Titeln vertrauter Personen anhängen, wie etwa Leopoldleben oder Doktorleben. Hagestolze oder Komplizen werden hier die verlassenen, geschiedenen oder verschollenen Freunde genannt. Einsamkeit und selbst auferlegte Schuld verbindet sie dem Schreibenden. Wohlwollend und sarkastisch zugleich ist die an die Kinderjahre erinnernde Mahnung „Iß dein Frühstück!“ für einen, der den Namen Sisyphos trägt, der offenbar auch eine Mutter hat und weiß, dass er ein Ende der Fron nicht erreichen kann. Der graue Stein wird ihn in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit überrollen, unversehens, mitten im Leben, der graue Stein oder der rot-weiß-rot gestrichene Straßenbahnwagen der Wiener Verkehrsbetriebe. 247

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Unkommentiert will ich zum Abschluss ein drittes Gedicht hier anfügen, ohne Titel, unvermittelt steht es da, wie all die anderen Gedichte des toten Dichters. Es unterscheidet sich jedoch von den meisten durch die eigenwillig eingefügte Interpunktion. Offenbar hatte der Schreibende sich noch nicht entschieden, in welcher Form er sein lyrisches Werk einst präsentieren wollte. Sein Schreiben und sein Leben sehen aus, als sei er nur eben aus dem Haus gegangen, um wiederzukehren. Der Tod hat ihn überrascht. Viel wissen wir nicht von unserem Freund und von den Wirrnissen dieses hektischen Lebens. Aber in den wenigen kargen Worten seiner Verse ist mehr gesagt, als ein Außenstehender je erfragen könnte von seinem Autor. Poverello, deine Braut ist nun die meine, la Donna povertà, aber ich liebe sie nicht – weil mich die Armen dauern, lieb’ ich die Armut nicht; unsere Brüder Esel haben gefastet genug, wir wollen nicht Almosen erbetteln von den Reichen dieser Welt, Bruder, sondern säen und ernten (wir sind nicht Vögel des Himmels) die süßen Früchte dieser Erde.

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von der schönheit

Viel ist hingesunken uns zur Trauer und das Schöne zeigt die kleinste Dauer Heimito v. Doderer

So weit, wie die Erinnerung reicht – und wohl noch weit darüber hinaus bis in allen Anbeginn ihres Denkens und Fühlens –, ist der Begriff der Schönheit allen Menschen vertraut. Dies gilt für den Einzelnen wie auch für die Gesamtheit unserer Vorfahren. Es wird sich auch heute keiner eine Belehrung erwarten über das, was er als Schönheit zu verstehen hat. Dennoch sind solche Lehren vielfach erteilt worden. Nirgends sind sie lange haften geblieben. Denn trotz aller Regeln, das letzte Urteil spricht das Gefühl. Und darum hat kaum einer je sagen können, worin das Schöne denn eigentlich bestehe. Ist es das Wohlgefällige, das Verlockende, das Begehrenswerte, das Sinnerfüllte, das Regelgerechte, das Ebenmäßige oder das Zweckgemäße? Entspricht es Maßstäben, die wir in uns tragen, folgt es Gesetzen dessen, was andere einst beschlossen haben und was wir Ästhetik nennen? Hans Georg Gadamer etwa hat die Begriffe des Spiels, des Symbols und des Festes als konstituierende Bedingungen der Schönheit genannt. Es fällt jedoch nicht schwer, das Schöne auch zu finden im Ernst einer ruhenden Gefasstheit, in der Unvergleichlichkeit oder gar in einsamer Trauer. Aber das Schöne scheint uns über all dies hinaus noch etwas anderes und etwas mehr zu sein. Es gemahnt uns an etwas, das uns vollendet und uns zugleich überschreitet. Wie man dies nennen, oder ob man es ungenannt lassen will, darüber müsste man in sich selbst einige Klarheit gewinnen, ehe man sich um Antworten an diesen oder jenen wendet. Sehr bald wird man dann erkennen, dass der eine ohne lange zu zögern, nur einfach das Hübsche meint, der andere das Modische und wieder ein anderer das Liebenswürdige und andere anderes mehr. Auch wenn sich alle, die guten Willens sind, darüber einigen könnten, ob etwas schön sei oder nicht, ein Ding, ein Lebewesen, eine Pflanze, so wüsste doch keiner recht, woran dies für ihn und die anderen so unbezweifelbar erkennbar wird. Es wird auch in den nachfolgenden 249

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Zeilen nicht gelingen. Der Versuch über die Schönheit wird aller Voraussicht nach scheitern. Das aber ist noch lange kein Grund, ihn nicht dennoch zu unternehmen. Manche Leute, auch solche, denen die Schönheit, wie sie sagen würden, am Herzen liegt, werden meinen, das Selbstverständliche müsse nicht weiter befragt und begründet werden. Manche sogar werden sich leichthin damit zufriedengeben, die Achsel zu zucken und jede Erörterung zu beenden mit dem alten Spruch: De gustibus non est disputandum. Doch wer von solch einem gusto spricht, der kann nur den Geschmack der schmatzenden Zunge im Sinne haben. Schönheit aber ist nicht von jedem unserer Sinne zu erfassen. Dem Geschmacksinn der Zunge, dem Geruchssinn der Nase und dem Tastsinn der Hände ist sie nicht erreichbar. Ohren und Augen sind von anderer Art. Ihnen kann man nicht nur eine Meinung, sondern auch ein Zeugnis abfordern. Sie nehmen nicht allein wahr, was nützt oder gefällt, sie sind nicht nur mit dem Bauch und dem Geschlecht, sie sind auch mit dem Hirn und dem, was man früher einmal das Herz genannt hat, verbunden. Wenn wir auch all diese fünf Sinne mit vielen Tieren gemeinsam haben, so sind doch Augen und Ohren nicht allein dienstbar, um zu erkennen und zu unterscheiden, sondern auch um das Erkannte und Unterschiedene als Beweisstücke vorzulegen der Instanz, die in uns das Urteil spricht. Dieses Urteil ist fast immer spontan. Es ist vergleichbar einem Wiedererkennen. Einem Einspruch wird kaum jemals stattgegeben. Es gibt jedoch geheime Übereinkünfte, die von Zeit zu Zeit neu abgesprochen werden, ohne lange Geltung zu bewahren. Die entspringen dem Zeitgeist, der Mode, den Herrschaftsstrukturen. Denn es ist kaum zu erwarten, dass sich Maße oder Normen vollkommener Schönheit für alle Zeiten je finden ließen. Schönheit lebt und ist vergänglich. Eine Vollendung der Erscheinung kann es nicht geben, da alles Seiende ewigem Wandel unterliegt, dem Streben nach immer besserer Anpassung an die sich verändernde Welt. Der von der Wahrnehmung Betroffene aber ist und bleibt, auch wenn Tausende ähnlich empfinden, ein unteilbares Ich von eng begrenzter Dauer. Und wenn dieses Ich keine Fiktion ist, wie manche meinen, sondern der monadische Innenraum der Welt, so ist dort die Botschaft der Schönheit an ihr letztes Ziel gelangt und muss weiter keine Rechenschaft geben. Darum wird, wer Schönes einmal gesehen oder vernommen hat, nicht das Urteil darüber dem allgemeinen Belieben oder dem Wandel der Moden 250

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überlassen. Er wird die Wege erkunden, auf denen er sie finden, ihr wiederbegegnen kann, er wird sich mühen, sie nachzuformen oder selbst zu gestalten, und vor allem wird er viel darangeben, sie zu bewahren und andere an ihr teilhaben zu lassen. Auch wenn er, wie feuilletonistische Meinungsmacher behaupten, sich der Gefahr der Lächerlichkeit aussetzt, findet sich immer wieder einer bereit, nach dem Wesen dessen, das uns im Innersten betrifft und ins Einvernehmen setzt mit der Welt, nach dem Wesen also der Schönheit zu forschen. Er hat dabei anderes zu fürchten als das Gelächter einiger opinionleaders. Die urteilen auf solche Weise über sich selbst und das, was ihren Zwecken nützlich erscheint. Sit venia verbo. Man verzeihe mir, dass ich’s erwähne. Das Schöne ist, so will es scheinen, eine menschliche Kategorie. Der biblische Gott schuf, wenn man der Bibel glauben mag, die Welt und sah, dass es gut war. Von Schönheit ist noch lange danach nicht die Rede. Weiter muss man blättern bis zum Hohen Lied, ehe man die Schönheit lobpreisen liest. Anders die Dichtung der alten Griechen. Es kann wohl sein, dass uns deren Götter bis zum heutigen Tag noch so menschlich vertraut sind, weil ihnen die Schönheit ein Anliegen war. Für uns sind Tiere oder Pflanzen, Paradiesvögel und Korallenbäume schön, füreinander sind sie, so jedenfalls vermuten wir, vielleicht nur nütz lich oder begehrenswert, um zu zeugen, zu überwinden, sich einander einzuverleiben oder symbiotisch miteinander zu leben. Ein blühender Baum, ein Pfauenrad, der Gesang einer Lerche oder ein farbenschillernder Tiefseefisch wollen nicht den Augen der Menschen gefallen, sie wollen nichts weiter als fortbestehen und locken auf solch augen- oder ohrenfällige Weise zur Paarung und Befruchtung. Dass der Mensch hingegen vor dem, was er als schön erkennt, oft nur einfach in Bewunderung oder Zuneigung verharrt, dass er ihm Dauer wünscht oder Schutz gewährt, ohne weiteren Nutzen zu fordern, verweist auf eine Fähigkeit anderer Art. Er sieht in der Schönheit eines Dinges oder Wesens offenbar etwas, was hinausweist über den Schauenden wie auch über das Geschaute, etwas, was eine Sehnsucht erfüllt, etwas, durch das er in Harmonie und schweigendes Einverständnis gelangt mit sich und der Welt. Wenn Sterbende sich noch einmal an ein Fenster rücken lassen, um eine geliebte Landschaft, die Sonne oder den Sternenhimmel zu sehen, wenn sie sich ein Sonett von Petrarca vorlesen oder eine Sarabande von Bach vorspielen lassen oder einfach nur das Bild eines Kin251

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des in die Hand nehmen, so wollen sie keinem Zweck mehr dienen, keinen Nutzen mehr haben. Sie suchen in einem solchen Abschied nichts weiter mehr als Frieden und Trost und eine letzte Erfüllung. Dass nach unseren Begriffen eine Landschaft, eine Pflanze, ein Tier oder ein Menschenwesen schön sei, darüber werden sich die meisten rasch einigen. Diese Übereinkunft betrifft die Erscheinungsformen der Natur. Und sie wird gefällt in Hinblick auf eine uns bestimmungsmäßig erscheinende Vollendung der äußeren Form. Wobei unter Bestimmung allein die dem Menschen erkennbare gelten kann. Denn ob es so etwas wie ein Urteil darüber auch unter anderen Lebewesen gibt, davon wissen wir nichts. Dass alle Kreatur, allein deshalb, weil sie aus der Hand eines wohlgesonnenen Schöpfergottes stamme, schön sein müsse, können uns die Dogmatiker schon seit einigen Jahrhunderten nicht mehr vermitteln. Schönheit bezieht ihre Gültigkeit nicht von ethischen, sozialen oder religiösen Gesetzen. Schönheit ist ein Wert, der diesen allen vorausgeht, der in sich selbst begründet ist, auch wenn die Maßstäbe, die wir an sie legen, oftmals denen der Logik oder der Zweckmäßigkeit ähnlich sind. Uns erscheint ein Tier dann als schön, wenn es im Vollbesitz seiner Kräfte und seiner geschlechtlichen Bestimmung ist, wenn es den Anforderungen des Überlebens durch Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit oder Geschmeidigkeit ebenso gewachsen ist wie den Anforderungen des Zeugens und Gebärens und damit der Erhaltung nicht nur seiner selbst, sondern seiner Gattung. Dass darum die auf Körperertüchtigung angewiesenen Raub- und Fluchttiere vor allem unsere Bewunderung finden, verweist darauf, dass Schönheit auch eine Frage der Funktionalität und nicht allein eine Frage der Ästhetik oder der Ethik sein kann. Die beiden Letzteren sind Kategorien des menschlichen Urteils und haben außerhalb dessen vermutlich keine Bedeutung. Der Sternenhimmel ist schön allein für den staunenden Menschen. Ein Baum oder Strauch gilt uns für schön, wenn er in seinen wesenstypischen Eigenschaften kraftvoll ausgeprägt und überlebensfähig ist. Und für alle lebendigen Wesen einschließlich des Menschen gehört zu einer schönen Erscheinung offenbar auch so etwas wie Autarchie oder Selbstbewusstsein als Ausdruck einer inneren Ausgewogenheit und organischen Gesundheit. Anders ergeht es uns beim Betrachten oder Betreten einer Landschaft, eines Gebirges, eines Gewässers oder eines anderen naturbelassenen Biotops. Oftmals empfinden wir den Eindruck, den wir dabei erhalten, als atemberaubend, als überwältigend gar. So ganz gewiss sind wir 252

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uns dabei nicht, ob das Wort schön, das uns leicht von den Lippen kommt, hier das angemessene sei. Sind denn der Hochvogel, der Säuling oder das Matterhorn schön, nur weil Tausende von Touristen sie fotografieren? Ist ein Saphir schön, weil seine tiefe himmlische Bläue uns an die Reinheit des Himmels gemahnt? Ist eine Schneeflocke schön, ein Bergsee, ein Muschelsandstrand, ein Wolkengebilde? Oder empfinden wir nicht nur eine dankbare Bewunderung vor dem, wofür sie uns als Symbole erscheinen, um noch einmal mit Hans Georg Gadamer zu sprechen? Woran gemahnen sie uns? An etwas, das sich in der Wirklichkeit findet? Oder an etwas, das sich nicht finden und vielleicht auch nicht einmal benennen lässt? Wecken sie eine Erinnerung, wie Platon meint, an ein Urbild, das alles Seiende bestimmt und von dem das Schöne nur die größtmögliche irdische Annäherung bildet? Wenn ein Gewordenes und nicht Geschaffenes aus eigener Vollkommenheit uns als Schönes erscheint, so weckt es in uns Gefühle, die uns beglücken und erschrecken zugleich. Denn das Schöne vermag die Empfindung der Übereinstimmung, der Harmonie, der wiedererkennbaren Wahrheit und damit des gesicherten Glücks zu schenken und zugleich die Furcht vor seiner Zerstörung. Das Schöne mahnt uns an die nie ganz gelingende Erreichung eines über uns hinaus liegenden Zieles ebenso wie an die Hinfälligkeit aller irdischen Dinge. Es zeigt uns unsere Möglichkeiten und zugleich unsere Grenzen. „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheim gegeben“, lauten die beiden Zeilen, die den Grafen August von Platen berühmt gemacht haben. Er hat damit an ein Geheimnis gerührt, das wir auch uns selbst nicht gern eingestehen. Ohne das Bewusstsein des Todes gäbe es, so meint er, keine Erkenntnis der Schönheit. Ein halbes Jahrhundert vor ihm hat der Mann, der die ästhetische Debatte des 18. Jahrhunderts bestimmte, Johann Joachim Winckelmann, ein sprechendes Beispiel gewählt für die Schönheit in der Natur: die ruhige, sonnenspiegelnde Meeresfläche, unter der sich die Schrecken der Tiefe verbergen. Das sollte man dagegenhalten, wenn man verstehen will, was er meinte, wenn er von edler Einfalt und stiller Größe der antiken Kunst sprach. Für die Werke der Menschen muss all das hier von der Natur Gesagte in einem anderen, einem zweifachen Maße gelten. Wer diese betrachtet, kann, auch wenn sie ihm in sich vollendet erscheinen, die Hand dessen, 253

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der sie gestaltete, nicht vergessen. Und darum gelangt man in deren Beurteilung nicht ebenso leicht zu einem gemeinsamen Maßstab. Man kann nicht umhin, mit dem schönen Gegenstand auch dessen Urheber in sein Urteil einzubeziehen, und wenn nicht den Urheber als Person, so doch das Land seiner Herkunft oder die Epoche seines Schaffens. Da treten neben den objektiven Kriterien subjektive Vorlieben oder Vorbehalte mit größerer Bestimmtheit hervor. Gemeinsam ist allen Werken der Kunst jedoch eines: dass sie versuchen, dem allzu rasch Vergänglichen Dauer zu verleihen. Ein Kind, das uns wohlgefällt, wächst heran und hat sich in wenigen Jahren oft so verwandelt, dass wir es nicht wiedererkennen. Wenn wir es zeichnen oder malen, bleibt uns etwas von dem, was wir an ihm liebten, in einem schmalen Bereich dennoch erhalten. Und spätere Generationen, die nur mehr das Abbild sehen und nichts mehr wissen von uns und unserem Kind, werden immer noch das Sinnbild des Kindlichen und die Zuwendung des Malers erkennen und darin eine andere, allgemeinere Schönheit finden, als es einst für uns die lebendige war. Shakespeare hat in seinen Sonetten wieder und wieder von dieser vornehmen Aufgabe der Kunst gesprochen. Was schön ist – das haben wir eingangs erwähnt und wiederholen es hier – ist nicht von allen unseren Sinnen erfassbar. Was wir nur zu tasten, zu riechen oder zu schmecken vermögen, würden wir wohl, auch wenn es uns wohlgefällt, anders als schön benennen. Es ist allzu flüchtig. Wir halten es nicht. Wir haben keine Mittel, um es darzustellen. Das Schöne aber, das wir sehen oder hören, schenkt uns nicht allein das Glück des Erkennens, es erinnert uns an zuvor Erkanntes oder Erahntes, ohne dass wir sagen könnten, aus welchen Zeiten dieses Erinnern herrührt. Es ist uns, als ob wir wiedererkennten, was wir ehedem gewusst haben. Wir stimmen dem zu, was es uns sagt, und doch ist uns, als wäre solch eine Wiederbegegnung stets eine freudige Überraschung, ein Wiedersehen mit dem Unverhofften, dem Flüchtigen, dem niemals Festzuhaltenden, dem Todbedrohten, von dem wir schon fürchten mussten, es sei uns verloren. Es erscheint uns dann eben darum als das dennoch Unverlierbare, das der Erde Eingeborene, Ureigene und Eigentliche. Wir hoffen auf seine Dauer. Das Schöne bedeutet uns die Erfüllung des in allem Dasein zuinnerst Angelegte, das alle Zweifel aufhebt. Darum erfahren wir das Schöne als etwas, das uns stärkt, uns mit Mut erfüllt und keinen Spott in uns aufkommen lässt. Vor ihm wird es uns ernst bei aller Freude. Und es gibt wohl keinen Menschen, alt oder jung, arm 254

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oder reich, dem das Erlebnis des Schönen nicht immer und immer wieder geschenkt würde, wenn er nur Augen und Ohren offen und bereit hält und sie nicht verschließt, weil er meint, es nicht mehr zu verdienen. Die Wissenschaft vom Schönen haben die Alten Ästhetik genannt, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, ob das Schöne denn überhaupt etwas sei. Platon hat seinen Ursprung in eine Welt der Ideen verlegt und ihn damit aus unserer Reichweite gerückt. Kant hat in seiner „Kritik der Urteilskraft“, dem immer noch grundlegenden Werk der abendländischen Ästhetik, das Schöne in einem bestimmten Gemütszustand des Betrachters zu finden gesucht und es damit ebenfalls dem Gegenstand entzogen. Nach beiden wäre das Schöne also nichts, was den Dingen anhaftet, sondern wäre ihm nur verliehen und wäre aus anderem Blickwinkel gesehen vielleicht nur eine Illusion. „Gekleidet bist du in Schönheit“, sagen die Dichter, „Schönheit ist über ein Werk ausgegossen“, schreiben die Kunstbetrachter und meinen wohl etwas Ähnliches. „Schönheit ist der Abglanz des Göttlichen“, sagen die Theologen. Und auch sie gewähren den irdischen Dingen kein Eigenrecht auf ihre Erscheinung. Es ist in der Tat nicht zu leugnen, dass alles Schöne uns an etwas gemahnt, das jenseits unseres Zugriffs liegt. Dieses Jenseits muss nicht außer unserer Welt sein. Es gibt so etwas wie eine Schönheit von innen als Erfüllung einer immanenten Bestimmung, die mir die wahre Schönheit zu sein scheint. Einen Baum nennen wir schön, wenn er aufrecht steht auf dem Boden, der ihn ernährt, wenn er seine Äste nach allen Seiten gleichmäßig ausbreitet, um all seine Blätter ans Licht der Sonne zu heben. Die Schönheit eines weiblichen Menschen, die uns allen als offenbarste Verkörperung dieses Prinzips erscheint, ist der sichtbare und fühlbare Ausdruck einer gelungenen Übereinstimmung der Form des Körpers mit der Lebensbestimmung des Anschmiegens und Empfangens sowie des Bildens, Behütens und Bewahrens von immer weiterem Leben. Das innewohnende Bewusstsein davon muss jedoch die Form mit Leben erfüllen, sonst gewinnt der Betrachter den Eindruck einer seelenlosen Schönheit, der ihn befremdet. Mag sein, dass uns alle das Ruhen an der Brust der liebenden Mutter zum Glück der Empfindung einer alle Wünsche stillenden Schönheit befähigt hat. Es ist uns wohl kein Anblick so vertraut und wird so immer wieder unersättlich bestaunt wie der eines blühenden weiblichen Körpers. Das gilt, auch wenn ich nur aus der Sicht eines Mannes zu urteilen vermag, nach meiner siche255

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ren Überzeugung für alle Menschen. Die Maler und Bildhauer, Männer wie Frauen, aller Zeiten hatten kein lieberes Motiv. Ein nicht geringer Grund für das Glück dieses Anblicks mag in der ausgewogenen Zweisamkeit der Brüste, Hüften und Glieder liegen, an der Zusammenstimmung ebenso wie an der Sinnhaftigkeit ihrer Form und ihres Zweckes. Ihnen verdanken wir alle unser Überleben, unsere Besänftigung und unsere Ruhe. Und es scheint eines der am leichtesten erkennbaren Merkmale alles Schönen zu sein, dass wir bei der Begegnung mit ihm zur Ruhe kommen in der Gewissheit, das Rechte und Gute zu sehen, zu hören und zu erfahren. Wenn das Gute etwas sein mag, das zu tun ist, das uns auffordert zu handeln und zu entscheiden, und das Wahre etwas, das uns auffordert zu erkennen und zu lehren, so ist das Schöne als Drittes der großen platonischen Dreieinigkeit etwas, das nichts fordert, sondern alles gewährt. Es macht, dass wir teilhaben am Dasein der Dinge, an der Fülle des Lebens und am Glück der Welt. Darum auch ist die Erkenntnis und das Staunen vor der Schönheit stets als Hinweis gedeutet worden für die Existenz eines göttlichen Willens. Es will uns nicht eingehen, dass das Schöne durch den puren Zufall nicht nur einmal, sondern immer aufs Neue geschaffen werden kann. Wäre es vom Zufall gezeugt, es würde keine Erinnerung in uns wecken. Wäre es vom Zufall gezeugt, würde uns seine Vergänglichkeit nicht mit Trauer erfüllen. Was die vom Menschen geschaffene Schönheit betrifft, so wechseln wir oft unsere Maßstäbe. Das Kunstwerk ist kein reines Gebilde. Das Schöne zu schaffen, ist nicht sein alleiniges Ziel. Und es gibt nur wenige, sehr wenige Kunstwerke, die in allen Epochen der uns überschaubaren Geschichte für schön erkannt wurden. Vielleicht kann man dies nicht einmal von den Skulpturen des Pheidias oder den Klavierkonzerten von Mozart behaupten. Um die Welt zu zeigen, wie sie sein sollte, muss Fuß gefasst werden in der Welt, wie sie ist. Der Pythondrachen des Schreckens muss bezwungen werden, ehe Apollon die Saiten stimmt, um zu singen. Und da die Schrecken zu allen Zeiten andere Gestalt annehmen, ändert sich mit ihnen die Kunst. Rascher als in den bildenden Künsten wechseln die Urteile in der Musik. Unser Gedächtnis erfasst hievon kaum ein halbes Jahrtausend. Es kann wohl sein, dass dies an ihrer Vermittlung liegt, ohne die sie uns nicht erreicht. Auch haben in einem Zeitalter des Lärms sich die Ohren den einen Reizen geöffnet, den anderen wieder verschlossen. Es gibt kein überzeitliches Gedächtnis. Das eine ist uns immer nah und das andere fern. 256

von der schönheit

Die Erfahrung von Schönheit ist nicht allein an die Empfindungen unserer Sinne gebunden. Sie eröffnet sich uns auch in den Ordnungen der Architekturen des Geistes. Vor allem aber in der menschlichen Sprache und ihren vieltausend Formen. Die Sprache wendet sich nicht allein an Augen und Ohren, obwohl sie durch diese vermittelt wird. Auch in der Übersetzung eines Gedichts des Li Tai Po ins Deutsche kann noch vieles von seiner Schönheit, nunmehr in ganz andere Worte und Laute gekleidet, uns erscheinen. Die Schönheit einer Dichtung liegt nicht allein im Klang ihrer Wörter, wenngleich diese ein wesentlicher Anlass zu ihrer Niederschrift gewesen sein mögen. Oftmals verborgen wirken Mythos und Ethos, Hass und Liebe, Maß und Ziel mit bei der Entstehung eines literarischen Werkes, gleich welcher Gattung. Ohne sie würde das reine Spiel der Worte uns bald ermüden. Sie alle werden uns nicht von Augen und Ohren vermittelt. Die Schönheiten aller Werke der Sprache liegen darüber hinaus in der durch sie allein ermöglichten Erfassung und Formung unserer Gefühle und Gedanken. Die Sprache ist das Gehäuse unserer Erinnerungen. In ihr werden all unsere Empfindungen und Erkenntnisse aufgehoben. Und solange wir zu sprechen vermögen, ist es uns auch gegeben, all das wiederzuerwecken, was wir ehedem erkannt oder erfühlt haben. Je besser uns dies gelingt, umso näher kommen wir der Gewissheit von der Unvergänglichkeit der großen Gesetze, die alles Dasein lenken. Dies mag auch der Grund sein, warum wir außer den Werken der Natur und der Kunst auch manche Werke der menschlichen Erfindungsund Kombinationsgabe, wie etwa die einen oder anderen Spiele des Körpers oder des Geistes und einige mathematische oder geometrische Prozeduren, als schön empfinden, schön im Sinne von einer Ordnung entsprechend, die das Unterschiedliche eint und einen Zweck erfüllt, der jenseits allen individuellen Nutzens liegt. Die Schlüssigkeit einer mathematischen Gleichung erweist uns die weltumfassende Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes und setzt uns in Harmonie und Einverständnis mit der Ordnung der Dinge. Auch wenn sich solche Glücksgefühle bei der Lösung eines Rätsels oder einer Gleichung, ja sogar bei der strategischen Gestaltung eines Spieles einstellen, so kann darin nur ein ideeller Aspekt des Schönen gesehen werden. Die sinnliche Erfahrung, die die körperliche Vertrautheit ebenso wie das Bewusstsein der Vergänglichkeit einschließt, wird durch solche Unternehmungen überindividueller Art nicht vermittelt. Und darum sei hier nur gleichsam in Parenthesen auf sie verwiesen. 257

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Für den Kunstschaffenden hingegen bleibt jenseits allen objektiven Erkennens und Meisterns der Form die Frage bestehen, ob die Gestaltung des Schönen seine einzige und eigentliche Aufgabe ist und ob demnach die ästhetischen Kriterien die einzigen oder auch nur die wichtigsten sind, an denen sein Werk zu messen wäre. Sicherlich sind etwa Vermeer van Delft schöne Werke der Malerei und Pergolesi schöne Werke der Musik gelungen. Wie aber steht es mit den Gemälden El Grecos, Goyas oder des älteren Breughel? Ist schön das richtige Epitheton für die Werke eines Beethoven, eines Skrjabin, eines Kleist oder eines Dostojewskij? Ein schönes Werk ist nicht notwendig gleichzusetzen mit einem Meisterwerk. Das letztere braucht nicht unbedingt schön zu erscheinen, um gelungen zu sein. Je größer es ist, umso mehr bezieht es ein und umfasst auch die Kategorien des Wahren und des Gerechten, der Erkenntnis und der Ergebung in die Schrecken des Unvermeidlichen. Man wird hierbei an Homer, an Sophokles oder Shakespeare denken, die wohl ebenso tief erschreckt wie belehrt und getröstet haben. Wenn auch das Nützliche vielleicht das letzte sein mag, was man von einem großen Kunstwerk fordert, so wird es doch in einem höheren Sinn durch seine innere Wahrhaftigkeit und formale Vollkommenheit gut und gerecht und dienlich sein für das, was dem Menschen in letzter Hinsicht bleibt, dem Überleben in Würde. In diese Zusammenhänge hat Rilke uns einen tiefen Einblick gewährt, wenn er in seinen Duineser Elegien schreibt: „Denn das Schöne ist nur des Schrecklichen Anfang.“ Und nichts anderes meint wohl auch Hölderlin, wenn er seinen Hyperion ausrufen lässt: „Es ist unglaublich, daß der Mensch sich vor dem Schönsten fürchten soll; aber es ist so.“ Des Rätsels der Schönheit wird sich der Mensch von Stufe zu Stufe, die ihn aufwärtshebt und damit seinem Ende näher bringt, schmerzlicher bewusst, und untrennbar dem Glück verbunden, das sie gewährt, bleibt ihm die Trauer.

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enn ich mich anschicke, einige Gedanken über das Theater eines Autors aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts niederzuschreiben, kann ich nicht umhin, einen Blick über die Landschaft zu werfen, der dieses Werk entstammt, sei es, um es einzuordnen in ein historisches und geografisches und damit auch in sein zeitgeistiges und politisches Umfeld oder um es zugleich dagegen abzugrenzen. Das französische Theater, das erst um die Mitte des 17. Jahrhunderts klassische Ausprägung und überregionale Geltung gewann, war von allem Anbeginn ein Theater des Wortes, ein Ort der intellektuellen Auseinandersetzung mit den leitenden gesellschaftlichen Bestrebungen und philosophischen Konzeptionen der Epochen. Dies gilt für Molière ebenso wie für Beaumarchais, für Hugo ebenso wie für Anouilh, um nur ein Beispiel aus jedem Jahrhundert zu wählen. Wenn sich uns aber aus früheren Jahrhunderten kaum jeweils drei oder vier Namen im Gedächtnis und noch nicht einmal ebenso viele auf den Spielplänen erhalten haben, so findet man zurückblickend in den vergangenen hundert Jahren eine ganze Reihe von Autoren, und erstmals auch Autorinnen, die nicht nur internationales Aufsehen erreichen konnten, sondern auch zu Vorbildern in Ländern weit über die Grenzen Europas hinaus geworden sind. Und dennoch: Man kann in einigem Abstand sich nur verwundert fragen, ob von all den zahlreich sich in die Diskussion drängenden Werken sich ähnlich viele dauerhaft erhalten werden wie aus den Zeiten des Absolutismus oder der Aufklärung. Und in der Tat, es erstaunt, dass bei näherem Zusehen die einzig wirklich noch immer gegenwärtigen Theaterstücke des in diesem Belang so fruchtbaren 20. Jahrhunderts die kleinen Stücke sind, die der Ire Samuel Beckett in französischer Sprache geschrieben hat. Was aber ist mit den Dramen eines Maurice Maeterlinck, eines Henri de Montherlant, eines Jean Giraudoux, eines Jean Anouilh, eines Georges Bernanos, eines Paul Claudel, eines Jean Cocteau, eines Jean-Paul Sartre, eines Marcel Pagnol, einer Colette Audry, eines Jean Genet, eines Eugène Ionesco geworden, um nur wenige aus einem großen Gedränge zu nennen? Gewiss: vergessen hat man 259

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sie nicht. Man lobt sie zuweilen, man ordnet sie in literarische Zusammenhänge. Der eine oder andere Autor hat, etwa durch eine Verfilmung oder durch die Vertonung eines seiner Werke auch außerhalb seines literarischen oder theatralischen Feldes Bedeutung erlangt. Die epischen oder philosophischen Werke mancher dieser Autoren hingegen sind anderen, bedächtigeren Händen übergeben und werden länger gewälzt und diskutiert, als dies üblich ist in den der Mode und dem Kommerz allzu willig unterworfenen Theatern. Blicken wir vom Ufer, das uns kein rettendes ist, vom Ufer des neuen Jahrtausends zurück auf die ungeheuerlichen Geschehnisse des 20. Jahrhunderts, so kann uns noch immer das Grauen erfassen vor dem, was wir erleben mussten und dem wir nicht ohne Verletzungen entronnen sind. Dass die Künste sich darin lebend erhalten haben, will uns fast als Wunder erscheinen, auch wenn die eine oder andere ihr menschliches Antlitz dabei verloren hat. Vielen der einst sogenannten unverlierbaren Werte wurde der Untergang bereitet. Manches hat sich nur mühsam klammernd erhalten. Das Theater hat überlebt als die Kunst des Ephemeren. Denn die Menschen konnten nicht leben, ohne sich von Zeit zu Zeit den Spiegel vorzuhalten, um zu sehen, was die Epoche aus ihnen gemacht hatte, und um zu erfahren, ob all der Mühen wert war, was ihnen geblieben ist. Anderen Ländern hat es für eine gute Weile die Sprache verschlagen. Frankreich aber hat grimmige Abrechnung gehalten. Kein Land hat eine solche Fülle von Stimmen hervorgebracht, die auf der Bühne Gericht halten wollten über die Taten und Untaten ihres Zeitalters, wie Frankreich, das drei der furchtbarsten Demütigungen seiner Geschichte hatte erfahren müssen und ebenso oft sich wieder erhoben hat, um neu zu beginnen. Besiegt, besetzt und seiner geraubten Kolonien selbst beraubt, hat es am Ende doch eine moralische Statur gewonnen, die ihm erlaubte, die Hände auszustrecken nach den ehemaligen Gegnern. Und nun: Albert Camus. Sein Name hat noch immer nichts von dem dunklen, harten Glanz verloren, den er sich so rasch in den letzten Kriegsund den ersten Nachkriegsjahren erworben hat. Er ist uns als Gestalt und Charakter noch immer im Gedächtnis, auch wenn wir seinen Stücken nur mehr selten auf den Bühnen begegnen. Seit sein bruchstückhaftes Carnet, das er Tagebuch nicht nennen wollte, das aber doch viele bedeutsame Er260

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eignisse und geistige Entwicklungen seines kurzes Lebens festgehalten hat, und seit sein unvollendeter autobiografischer Roman „Le premier Homme“ von seiner Witwe Francine nach langem Zögern herausgegeben wurden, ist neues Interesse an diesem Autor erwacht. Man hat wieder einmal bekundet, dass „Der Mythos des Sisyphos“ und „Der Mensch in der Revolte“ wegweisende Gedanken nicht nur für die Epoche ihrer Entstehung enthielten. Man hat seinen ersten Roman, den er selbst nicht hatte veröffentlichen wollen, unter dem Titel „La Mort heureuse“ (deutsch als „Der glückliche Tod“) in Frankreich und bald darauf auch in anderen Ländern publiziert. Man hat den Essayisten Albert Camus, der nie ganz vergessen war, zu erneuter Geltung gebracht. Aber hat man auch seine Theaterstücke gespielt? Wenig hat man davon erfahren. Und doch will es auch heute noch immer scheinen, als wären seine vier oder, wenn man die Transposition des Dostojewskij-Romans „Die Dämonen“ auf die Bühne als gleiches gelten lassen will, fünf Bühnenwerke noch keineswegs endgültig beiseitegelegt. Albert Camus war, mehr vielleicht als mancher andere Autor, ein Sohn seiner Zeit, ein Sohn aber, der sich dem lenkenden Zugriff des Zeitgeists entwand und hartnäckig beharrte auf einem sehr eigenen Weg. Dieser stets absturzgefährdete Pfad hat ihn rasch bergan geführt und hat ihm Ausblicke gewährt, die geeignet wären, uns auch heute noch schaudern zu machen. Camus war eine der seltenen Gestalten in dieser Epoche, denen man wagte Vertrauen entgegenzubringen, auch wenn er in späteren Jahren nicht allen als der große Dichter erscheinen mochte, als der er in jungen Jahren vorauseilend gefeiert wurde. Es mag wohl sein, dass man in den ersten Nachkriegszeiten mehr seine Haltung bewunderte als sein Werk. Auch kann man zugestehen, dass die Verleihung des Nobelpreises und vor allem sein früher Tod ein Übriges dazu taten. Aber das, was wir auch heute noch am meisten an ihm bewundern, ist, dass er im Leben nicht abwich von dem Weg, den er gewählt hatte, ohne Aussicht, ans Ziel zu gelangen, und dass er dessen Stationen mit nicht austauschbaren Worten beschrieben hat. Die Zeit, in die er gestellt wurde, und der Ort, den er wählte, um seine selbst auferlegte Bestimmung zu erfüllen, prägten nicht nur sein Leben, sondern auch sein Werk. Und es kann, wer zurückblicken will auf die leitenden geistigen Ströme der Jahrhundertmitte, nicht darauf verzichten, einen Blick über beides streifen zu lassen. Dem Ungeduldigen sei versichert, dass dies mit den knappsten Worten geschehen soll, die sich finden lassen. 261

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Albert Camus wurde am 7. November 1913 in dem kleinen ostalgerischen Dorf St. Paul bei Mondavi als Sohn des Gutsverwalters einer Weinfirma in ärmlichsten Verhältnissen geboren. Der Vater entstammte einer elsässischen, die Mutter einer balearischen Familie. Wie der Name Camus sagt, waren seine Vorfahren keine deutschstämmigen Elsässer, sie hatten vielmehr ihre Heimat verlassen, als das Elsass nach dem Krieg von 1870/71 wieder einmal von Deutschland beansprucht wurde. Camus’ Mutter Catherine, sprachbehindert und außerstande, sich allein zu behaupten, war nach dem frühen Soldatentod ihres Mannes mit den beiden Söhnen in das Haus ihrer spanischen Mutter in die Hauptstadt Algier gezogen. Als Dienstbotin in besser situierten Häusern suchte sie ihre Familie mehr schlecht als recht zu ernähren. Dort in Algier hat der kleine Albert im Armenviertel Belcourt gelernt, sich nicht nur im Fußballspielen, sondern auch mit den Fäusten durchzusetzen. Durch ein Stipendium gelangte er auf das Gymnasium. Während der Ferien aber musste er durch meist recht leidige Gelegenheitsarbeiten zum Erhalt der Familie beitragen. Im Alter von siebzehn Jahren zeigten sich die ersten Symptome einer Lungentuberkulose. Dass ihm auch auf dem Gymnasium nichts geschenkt wurde, ist aus der Tatsache zu ersehen, dass er die abschließende Klasse wiederholen musste. Dann aber erreichte er nach einer erfolgreich bestandenen Prüfung die Aufnahme an der Universität von Algier. Die Neigung zum Theater erwachte vermutlich durch seine Beteiligung an den Aufführungen einer von ihm mitbegründeten Truppe unter dem Namen „Théâtre du Travail“. Hierbei erprobte er sich bereits in den Funktionen eines Schauspielers, eines Regisseurs und eines Autors. Die finanzielle Not seiner Familie und das nie ganz konfliktfreie Zusammenleben mit der arabischen Bevölkerung, deren Lage ihm oft noch bedrückender erschien als die eigene, weckte schon früh sein soziales und politisches Interesse. Er erfuhr am eigenen Leibe die harten Lebensbedingungen der europäischen Kolonisatoren und den Hass der Kolonisierten. Die „Grande Nation“ blieb ihm lange Jahre ein Wort aus dem Schulbuch, auch wenn sein Vater Lucien, kaum dass er seinen Fuß zum ersten Mal auf deren Boden gesetzt hatte, dafür hatte sterben müssen. Erste schriftstellerische Erfahrungen gewann Camus noch in Algier, als er gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Truppe unterschiedliche Werke für die Zwecke ihres kleinen Theaters einrichtete oder, mehr oder weniger anonym, selbst neue Spielvorlagen verfasste. So hat er unter anderem 262

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den „Prometheus“ des Aischylos für diese Bühne übersetzt und bearbeitet. Neben der Lektüre französischer Autoren, unter denen André Gide und Henri de Montherlant ihn besonders beeindruckten, studierte Camus die deutschen Philosophen, Hegel, Feuerbach, Marx, Heidegger, Jaspers, und dazu den Dänen Kierkegaard. Eine besondere Hinneigung hat ihn offenbar mit dem einsamen Widerspruchsgeist und Umwerter aller Werte Friedrich Nietzsche verbunden. Noch in seinen späten Jahren hatte er ein Bild des sterbenden Philosophen in seinem Arbeitszimmer hängen. Es scheint, wenn man sein gesamtes späteres Œuvre überblickt, als hätten dessen Gedanken und nach diesen auch die von Jaspers und Kierkegaard am nachdrücklichsten auf Camus gewirkt. Seine Weigerung, sich einer objektiven Weltsicht zu unterwerfen, und sein Bestehen auf einer frei „schwebenden“ individuellen Entscheidung im „Entweder-Oder“ der großen Auseinandersetzungen, denen er sich auf politischem wie auf moralischem Feld zu stellen hatte, führten ihn unter die Vertreter des sogenannten „Existenzialismus“, der in den Nachkriegsjahren die weltanschaulichen Diskussionen beherrschte. Was die literarischen Leitbilder anlangt, so benannte er selbst Homer, die griechischen Dramatiker, Shakespeare und die großen russischen Romanautoren des 19. Jahrhunderts; später ergänzte er diese Liste durch die Namen seiner französischen Landsleute Sade, Balzac, Stendhal, Proust, Malraux und endlich auch durch den Namen Kafka. Dessen Spuren sind in Camus’ Theaterstücken deutlicher als alle anderen zu erkennen. Wörtlich und entschieden aber kommt er auf ihn im Anhang an seinen „Sisyphos“Essay unter dem Titel „Die Hoffnung und das Absurde im Werk von Franz Kafka“ zu sprechen. Noch während des Studiums heiratete Camus im Jahre 1934 in Algier die gleichaltrige Simone Hié und trat in die Kommunistische Partei ein. Überstürzt beides, wie sich erweisen sollte. Die Kommunistische Partei verließ er, nachdem er ihr nur drei Jahre angehört hatte, bereits 1937. Bemerkenswert erscheinen die beiden ersten Auslandsreisen, die er noch als Student unternahm. Er hat sich mit ihnen offenbar auf die Spuren seiner eigenen Herkunft gemacht. Die erste führte ihn auf die spanischen Balearen, die zweite, gemeinsam mit seiner jungen Frau Simone, durch Frankreich und das Elsass nach Süddeutschland und über Österreich bis nach Prag. Prag war für ihn offenkundig vor allem die Stadt Kafkas. Aus der aber war inzwischen die jüdische ebenso wie die deutsche Bevölkerung auf grausame Weise ausgetilgt 263

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oder vertrieben worden. Camus wird wenig von dem gefunden haben, was er suchte. Enttäuscht kehrten die beiden zurück und trennten sich wenig später. Vermutlich hat sich Simone als abhängig von Drogen erwiesen. Es ist zu bedauern, dass nur wenige Hinweise über diese Reisen in Camus’ Notizen und auch nicht viel mehr in seinem autobiografischen Roman zu finden sind. Immerhin scheint er die Erkenntnis zurückgebracht zu haben, dass seine Heimat nirgends anders war als in Algerien. Was seine persönlichen Verhältnisse und Zukunftserwartungen betrifft, scheint er in diesen Jahren noch nicht recht aus und ein gewusst zu haben. Und so betätigte er sich nach der Erlangung des philosophischen Diploms der Universität vorerst eine Zeit lang als Lokalreporter bei der Tageszeitung „Alger républicain“ und publizierte einen ersten Essayband unter dem Titel „L’Envers et l’Endroit“, sowie einen Band mit Prosastücken unter dem Titel „Noces“. Beide wurden erst später in ihrer Bedeutung als Vorstufen zu den größeren Werken erkannt. Wenn man aus einem Vorwort zu seinem als zweites aufgeführten und gedruckten Theaterstück „Caligula“ erfährt, dass er eine erste Niederschrift dieses Werkes bereits im Jahre 1938 in Algier verfasst und die Titelrolle bei einer eventuellen Aufführung selbst zu spielen gedacht hat, so ahnt man vielleicht ein wenig von der an Verzweiflung grenzenden Bedrängnis, in welcher sich der eben erst 25-jährige Mann befunden haben mag. Europäischer Herkunft, in einem afrikanischen Land, in arabisch sprechender und sich immer feindlicher zeigender Umgebung aufgewachsen in Armut, in einer Ehe gescheitert, von einer sich übernational und klassenlos gebärdenden Partei zurückgestoßen aus Gründen, die wir nur erraten können, sah sich der junge Camus in einer Lage, die ihn entweder in die Knie oder zum Aufstand zwingen musste: zur Revolte gegen die Willkür der gesellschaftlichen Verhältnisse, zum Protest gegen die Dogmen der nationalen Rassen- und sozialen Klassenstrukturen, zum Widerstand gegen die Verteiler der irdischen Güter und gegen die Vertröster auf jenseitige Kompensationen. Er suchte in diesen Jahren ganz offenbar Fuß zu fassen, um sich zu stemmen gegen die Übermacht dessen, was man ihm entgegenhielt als gott- oder menschengewollte Ordnung der Welt. Bei Ausbruch des Krieges meldete sich Albert Camus, obwohl er das Land, dessen nomineller Staatsbürger er war, nur als Durchreisender kannte, von Algier aus freiwillig zur französischen Armee. Wegen seiner Lungenkrankheit wurde er zurückgewiesen. Auch wenn ihm hier bereits 264

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zum zweiten Mal diese durchaus ernste Bedrohung seiner Gesundheit bewusst gemacht wurde, konnte dies seinen Entschluss, ein Leben nach eigener Bestimmung zu wählen, nicht beugen. Es war ein harter, trotziger Stolz, der aus dieser Erkenntnis seiner Fremdheit entstand, seiner Fremdheit in Algier, in Frankreich und in allen anderen ihm erreichbaren Ländern. Er entschloss sich zu kämpfen. Zu einer unermüdlichen schriftstellerischen und journalistischen Tätigkeit kam nun eine Bereitschaft zu endlosen nächtlichen Diskussionen. In Zeiten des Krieges dachte er nicht mehr daran, Rücksicht zu nehmen auf seine Gesundheit. Dies zeigt sich vor allem in seiner wachsenden Abhängigkeit vom Gift des Nikotins. Man findet kaum mehr ein Bild von ihm in späteren Jahren, auf dem er ohne Zigarette zu sehen wäre. Die Zigarette scheint unter den Intellektuellen der Jahrhundertmitte zum Symbol einer trotzigen Lebensverachtung geworden zu sein. Als die Zeitung, an der er mitwirkte, von den französischen Behörden verboten wurde, übersiedelte Camus im Jahr 1940 nach Paris. Nun war er am Ort seiner Bestimmung, dem Ort, an dem der Mann sichtbar wird, den wir unter dem Namen Albert Camus zu kennen glauben. Unter den waltenden Bedingungen gab es für ihn keine Wahl. Er wollte Anteil nehmen an dem, was geschehen sollte, und da ihm wegen seiner Krankheit der Kampf mit der Waffe verwehrt war, entschied er sich für den Kampf mit dem Wort und begann diesen Weg als Mitarbeiter bei der Tageszeitung „Paris Soir“. 1943 wechselte er in die Redaktion der Untergrundzeitung „Combat“, und übernahm schon bald deren Leitung. Um diese Tätigkeit im Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht zu verbergen, wurde er offiziell als Lektor beim Verlag Gallimard angestellt. Gallimard war auch der Verleger seiner ersten in Frankreich entstandenen literarischen Publikationen. Mit dem fast gleichzeitigen Erscheinen des Romans „L’Étranger“ und des Essays „Le mythe de Sisyphe“ tritt Camus im Jahr 1942 als Schriftsteller und Philosoph hervor und erlangt bereits im Alter von 29 Jahren jene anerkennende Bewunderung, die ihn sein kurzes Leben lang begleiten sollte. Vor allem dem „Sisyphos“ verdankte er seinen Aufstieg zu einer Person des öffentlichen Interesses. Denn in dieser Figur aus der griechischen Mythologie hat er ein Gleichnis gefunden, das die Situation der europäischen Intellektualität inmitten der Vernichtung aller tradierten Werte darzustellen vermochte. Sisyphos ist einer jener Titanen, die sich um der Menschen willen gegen die von den Göttern verhängten Gesetze empören. Er hat den Todesgott Tha265

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natos in Fesseln gelegt und wird von Zeus dafür bestraft, indem er in der Unterwelt einen Stein auf einen Berg rollen muss, einen Stein, der kurz vor dem Ziel seinen Händen immer wieder entgleitet und ins Tal rollt. Diesem absurden Urteilsspruch sah Camus auch den hoffenden Menschen unterworfen, der die Vergeblichkeit seiner Mühen nicht annehmen will und ja sagt zu seinem Schicksal. Wer den Essay genau las, konnte zu allem Anfang der existenzialistischen Bewegung erkennen, welcher Abstand das Weltbild Camus’ von dem Jean-Paul Sartres trennte. Während Sartre stets unterwegs war nach dem Ziel der Aufhebung aller Entfremdung und Unterwerfung, sah Camus den Sinn der menschlichen Existenz in der leidenschaftlichen Bejahung seiner unabänderlich absurden Existenz. Sein Sisyphos tut, was getan werden muss. Auch wenn es sinnlos erscheint, auch wenn kein fernes Ziel erreicht werden wird, gibt doch sein eigenes Handeln hier und heute das Maß. „Man muß sich Sisyphos glücklich vorstellen“, lautet der letzte Satz des Essays. Es gibt nicht viele Autoren, die mit solch entschiedener und klarer Kontur hervortraten wie Albert Camus und die ohne jeden Umweg damit einen moralischen und ästhetischen Rang gewannen, den ihnen niemand mehr bestreiten konnte. Camus hat sich wie nur wenige Künstler selbst erschaffen in einer Zeit, die in angstvoller Bedrängnis Entscheidungen forderte. Er hat mit sicherem Instinkt den Platz gefunden, der ihm gemäß war, hat sein Los in die richtige Waagschale geworfen und hat sich zuerst im Geheimen und dann in aller Öffentlichkeit bewährt vor einer nicht zu bewältigenden Aufgabe. Was Martin Heidegger, einer der Leitsterne seiner intellektuellen Laufbahn, angesichts des Abgrunds forderte, den „Mut zur Angst“, das hat er geleistet, ohne zu fallen. Von vielen Seiten drängten sich nun Freunde herbei, suchten ihn für ihre Anliegen zu reklamieren. Er aber scheute nicht davor zurück, sich auch Feinde zu schaffen, wo die Not der Zeit Abgrenzungen und Konfrontationen forderte, er verlor nicht das Maß und erkannte stets im Unglück die Prüfung und im Gegner den Menschen. Sein erstes Theaterstück veröffentlichte Albert Camus im nun schon gereiften Alter von einunddreißig Jahren: „Le Malentendu“ (Das Missverständnis), dem folgte unmittelbar als zweites der schon in Algier entworfene „Caligula“. Das erste wurde 1944 im Pariser Théâtre des Mathurins uraufgeführt, das zweite im folgenden Jahr im Théâtre Hébertot. Beide erschienen 266

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noch im selben Jahr bei Gallimard, und beide wurden verstanden als Theaterstücke der Résistance. Auch wenn sie die durch die deutsche Besetzung geschaffene politische Lage Frankreichs nicht ausdrücklich thematisierten, brachten sie doch psychische Situationen zur Sprache, der vergleichbar, in die sich die Menschen der letzten Kriegs- und Notjahre gestellt sahen. Die Schauplätze der beiden Stücke waren in fremde Länder, und die Zeiten der Handlung waren in andere Epochen entrückt. Aber die verhängte Ausweglosigkeit erschien als die gleiche. In welchem Land und zu welcher Zeit die Handlung des Stückes in drei Akten „Le Malentendu“ angesiedelt ist, geht weder aus dem Untertitel noch aus einer Regieanweisung hervor. Alles Äußere ist von einer fast schon abstrakten Kargheit. Die Herbergswirtin, in deren Haus die Tragödie sich abspielt, wird Mutter genannt, ihre Tochter trägt den biblischen Namen Martha, gleich der dienenden Schwester des Lazarus in dem gastfreundlichen Haus zu Bethanien. Der Fremde, der die Herberge betritt, nennt sich Jan, seine Frau heißt Maria. Der alte namenlose Diener des Hauses spricht bis zum Ende des Stückes kein Wort. Längst hat man sich damit abgefunden, dass er stumm ist, da wird ihm unerwartet das letzte Wort überlassen. Als die verzweifelte Maria nach der Ermordung ihres Mannes durch Mutter und Schwester um seine Hilfe oder doch wenigstens um sein Mitleid fleht, spricht er ein einziges Wort: „Nein.“ Es ist nicht ohne Bedeu tung, dass Camus dieses Werk den algerischen Freunden seiner ehemaligen Theatertruppe gewidmet hat. Es ist ein Stück, das allen Schmuck verweigert, das von Bühnenbild, Requisite, Maske und Kostüm nur das Allernotwendigste fordert und in lakonischer Sprache die tragische Handlung ohne Umwege und ohne Auswege darlegt. Mutter und Schwester töten den Gast, der unerkannt bei ihnen Unterkunft sucht, und erkennen zu spät, dass es der verschollene Sohn und Bruder war, der zurückkehren wollte. Man kann nicht verschweigen, dass die Handlung nicht neu war. Jean Cocteau hatte einen Einakter fast identischer Handlung geschrieben, „Le pauvre matelôt“, den Darius Milaud zu einer kleinen Oper vertont hatte und der schon 1927 uraufgeführt worden war. Es ist nur schwer vorstellbar, dass Camus von diesem Werk zweier berühmter Zeitgenossen nicht zumindest gehört haben sollte. Niemand jedoch hat daran gedacht, ihm einen Vorwurf zu machen, dass er das Sujet noch einmal aufgegriffen hat, denn er hat es nicht nur neu geformt zu einem dreiaktigen, abendfüllenden Stück 267

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des Sprechtheaters, sondern hat ihm auch seinen ganz persönlichen Sinn und Inhalt gegeben. Er hat die an sich lakonische Handlung erweitert durch den Selbstmord, den die beiden Mörderinnen nach der Erkenntnis ihres tragischen Missverständnisses verüben, indem sie sich in denselben Fluss werfen, in welchen sie ihr durch einen Schlaftrunk betäubtes Opfer versenkt haben. Er hat die klagende und anklagende Figur der jungen Ehefrau des heimkehrenden Sohnes hinzugefügt und ihr all die Fragen an die verborgen waltenden Mächte in den Mund gelegt, die keine Antwort finden können. Er hat die Fremdheit und die Mitleidlosigkeit der Menschen nicht nur dieses einen Hauses unter den Zwang von Verhältnissen gestellt, die ihnen keine Rettung ermöglichten. Er hat gezeigt, wie Armut und Unterdrückung machen, dass sich die Menschen in ihrer Verzweiflung gegen sich selbst kehren, dass die Mutter den Sohn nicht kennt und die Schwester nicht ihren Bruder. Auch wenn uns im Zeitalter des totalen Konsums diese Botschaft heute verschlossen ist, war sie doch den Theaterbesuchern der Kriegs- und Nachkriegsjahre leicht zu entschlüsseln. Auch Frankreich war getrennt und zerspalten. Auch in der gemeinsamen Herberge Europa tötete ein Bruder den anderen, um zu überleben. Dass Camus hier, wie auch später in all seinen Theaterstücken, auf Deutungen und Begründungen verzichtet, gibt ihnen die schicksalhafte Härte, die keine Ausreden duldet. Er selbst, der Autor, verweist niemals auf die Prüfungen, die er zu bestehen hatte. Er war als „Reisender ohne Gepäck“ in das Land seiner Väter gekommen, entschlossen, sich zu bewähren. Hier ist ihm der Heidegger’sche Begriff des „Geworfenseins“ gleichsam mit Händen, die ins Leere fassen, begreifbar geworden, ein Begriff, der bald schon die Diskurse der Existenzialisten beherrschen sollte. Camus wies die Stimmen zurück, die seine Stücke als philosophisches Theater reklamierten und konnte doch nicht verhindern, dass seine Zeitgenossen in ihnen dramatische Darlegungen des Existenzialismus zu erkennen meinten. Er nimmt jedoch in Anspruch, ebenso „wie die griechischen Tragiker, das menschliche Schicksal in seiner Ganzheit ins Spiel zu bringen“, in seiner Einfachheit und Größe. Psychologische Untersuchungen und Intrigengespinste sind seine Sache nicht. Im Vorwort zur Ausgabe seiner gesammelten Theaterstücke schreibt er, dass es für ihn „kein echtes Theater ohne Sprache und Stil gibt“. Und trotz dieses ästhetischen Ansatzes sieht er darin keinen Widerspruch zur ethischen Verpflichtung. Stil und Sprache 268

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sind Äußerungsformen eines Charakters. Und so bekennt sich Camus in allen seinen Werken als Moralist. Er fragt nicht nach Gründen, er sucht die Verantwortung nirgends sonst als im Inneren eines jeden selbst. Sein als erstes konzipiertes, als zweites aber uraufgeführtes und publiziertes Theaterstück „Caligula“ nimmt sich formal betrachtet sehr anders aus als „Le Malentendu“. Es ist in vier Akte geteilt. Der Ort der Handlung ist der Palast des Kaisers in Rom. Dass Caligula darinnen herrscht, verwandelt dieses prunkvolle Gebäude, dieses Symbol der römischen Weltmacht, in ein Tollhaus. Der junge Kaiser hat seine Schwester und Geliebte Drusilla durch einen plötzlichen Tod verloren und weigert sich, einen Sinn in diesem Verlust und in den Geschehnissen der Welt insgesamt zu erkennen. Er entschließt sich, seine imperiale Gewalt in derselben „göttlichen“ Konsequenz und erhabenen Teilnahmslosigkeit zu gebrauchen, wie sie an ihm gebraucht wurde. In den nun folgenden Exzessen von Grausamkeit ist er sich klar bewusst, dass sie auf ihn zurückschlagen müssen, sobald er nachlässt, sie zu üben. Und so wird er am Ende tatsächlich von den eigenen Freunden erschlagen. Die glauben offenbar an einen Sinn ihrer Tat. Caligula ist eine der auf veränderten Schauplätzen immer wiederkehrende Camus’schen Gestalten, die uns als Mörder und Selbstmörder in einer Person begegnen. Der junge römische Kaiser, Sohn des imperialen Verbrechers Tiberius, ist nicht willens, in einer, wie ihm scheint, sinnentleertenWelt sinnvoll zu leben. Er beantwortet die Absurdität seines Schicksals mit der Absurdität seines Handelns. Caligula weigert sich zu erfüllen, was ihm von Amt und Würde aufgetragen wurde, und widersetzt sich einem ganzen Kaiserreich voll fremder Erwartungen. Damit ist er zwar in Widerstand gegen alle geraten, aber nicht ins Einvernehmen mit sich selbst. Kein Mensch, auch kein Kaiser, vermag einen einzigen sinnlosen Tod durch viele andere sinnlose Tode aus der Welt zu schaffen. Der Tod, der das verlorene Maß wieder aufrichten kann, ist der, den er selbst erleiden muss. Und so bleibt keine andere Wahl für ihn als der provozierte Selbstmord durch die Hand seiner Freunde. Dieses Stück ist eines der genauesten Beispiele für das erst viele Jahre später postulierte „absurde Theater“. In ihm wird ex negativo dargelegt, was geschieht, wenn einer angesichts der scheinbar äußersten Willkür des Weltgeschehens keine Hoffnung sieht für ein verantwortungsvolles Handeln. Caligula ist kein Sisyphos. Konfrontiert mit dem Tod, gerät er in die Irre. Er, der als Kaiser dem Reich die Richtschnur geben sollte, reißt es aus allen 269

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Fugen. Er bringt es nicht über sich, seine Qual anzunehmen und seinen Stein bergan zu wälzen, auch wenn er den Gipfel nicht erreichen wird. Er vermag nicht dem Gesetz in seiner eigenen Brust trotz aller Niederlagen zu folgen. Er schreit seinen Ekel vor der Willkür der Götter hinaus und weigert sich, den Rücken zu beugen und sich die Hände im Dienst der Menschen schmutzig zu machen. Er stellt sich außerhalb aller Gesetze. Er will kein Gesetz mehr erlassen. Er glaubt nicht an eine sinngeleitete Ordnung der Welt. Er wählt den Protest und damit den Untergang. Wenn in „Le Malentendu“, Camus’ erstaufgeführtem Theaterstück, viel Unausgesprochenes angestaut bleibt und wie eine mächtige Mauer hinter den Geschehnissen steht, so wird in seinem „Caligula“ wortreich und dennoch immer vergeblich versucht zu erklären, was uns als Wahnsinn erscheint. War die Zahl der handelnden Personen und der Spielräume im ersten Stück auf das Notwendigste beschränkt, so wechseln hier die Szenen und Gewänder und bringen doch keine Bewegung in die einmal beschlossene fatale Wendung der Geschehnisse. Trotz der vielen Türen des Palastes ist ein Ausweg nirgends zu finden. Die sogenannte konsequente Logik des Handelns des jungen Kaisers kann allein durch das Schwert des Mörders zerschlagen werden. Camus hat schon in frühen Jahren ein ästhetisches Bekenntnis abgelegt, das wir in seinen Stücken immer wieder – wenn auch nicht durchgehend – verwirklicht finden. Es gibt da einen bedeutsamen Eintrag in eines seiner Tagebücher, aus dem hier zwei Sätze zitiert seien. Sie lauten: „Das wahrhafte Kunstwerk ist dasjenige, das weniger ausspricht ...“ und „... ein fruchtbares Werk verdankt seine Fülle der unausgesprochenen Erfahrung, deren Reichtum man errät“. Hier wird deutlich, was ihn von Jean-Paul Sartre unterscheidet. Camus schreibt keine „pièces à thèse“, er verkündet keine Lehrmeinungen von der Bühne. Er stellt dar, was er erfahren hat, ohne einen anderen Schluss daraus zu ziehen, als den, dass es in eines jeden Macht steht, sich zu widersetzen, auch wenn im unvermeidbaren Scheitern keine Hoffnung besteht, mehr zu retten als die Würde des frei entscheidenden Menschen. Insofern mochte man Camus sehr wohl auch zu den Existenzialisten rechnen, wird ihn aber rückblickend in Erinnerung behalten als einen der großen Autoren seines Jahrhunderts, der um das Geheimnis des Schweigens hinter den Wörtern wusste, und als aufrechten Mann in einer Zeit der Demütigungen, die ganz Europa sich selbst bereitet hatte. 270

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Dass Camus nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wie ein Held gefeiert wurde, hat ihn vielleicht verstört. Ist es verwunderlich, dass er mit wachsendem Ruhm als Künstler nicht weiter zu wachsen vermochte? Die folgenden Stücke, „L’État de Siège“ von 1949 und „Les Justes“ von 1950, haben nicht ebenso viel Widerhall gefunden wie die beiden ersten. Das mag seinen Grund darin haben, dass er sich nicht mehr allein ans Werk machte, sondern Hilfe oder Bestätigung bei anderen suchte. Bei lange vor ihm schon prominent Gewordenen. Es mag aber auch daran liegen, dass er sich nicht mit derselben Strenge an sein „Schweigegebot“ hielt. 1947 hatte er den Roman „La Peste“ publiziert, der den Ausbruch der Seuche in der algerischen Stadt Oran schildert, den vielhundertfachen Tod und den Mut der Menschen, die vor dem Grauen des allgemeinen Sterbens ihr menschliches Gesicht zu wahren vermochten und ihr Leben aufs Spiel setzten für andere. Der Regisseur, Schauspieler und Theaterleiter Jean-Louis Barrault, der die Sinnbildhaftigkeit dieses Sujets in der Epoche des Völkermordes erkannte, gewann Camus für den Plan, gemeinsam ein Theaterstück zum Thema der Pest zu entwerfen. Offenbar traten bald schon sehr unterschiedliche Absichten der beiden Künstler zutage. Wohl stellt Camus in einem kurzen Vorwort zur Buchausgabe fest, dass jedes Wort, das geschrieben und gesprochen wurde, aus seiner Feder stammt, bekennt aber zugleich, dass ohne Barrault das Werk nicht oder nicht in dieser Form entstanden wäre. Er wehrt sich auch gegen einen Vergleich des Theaterstückes mit dem Roman und kann doch nicht verhindern, dass er gezogen wird. Um dem zu entgehen, hatte man sich auf eine Verlegung der Handlung vom algerischen Oran in die spanische Hafenstadt Cadiz geeinigt, auch darauf, den Personen andere Namen zu geben und sowohl die Pest als auch den Tod zu personalisieren. Man suchte die im Roman aus dem unfassbaren Nichts verhängte Plage durch eine bürokratische Maschinerie auf der Bühne sichtbar zu machen, jener der nationalsozialistischen Besatzung Frankreichs vergleichbar. Es fällt auf, dass Camus auch in diesem Werk keinen anderen Ausweg kennt, um die Autonomie des freien Menschen zu erweisen, als die des selbstgewählten Todes. Diego, der Held, nimmt willig seinen Tod in Kauf, um die Stadt vor der Plage zu retten. Camus postulierte, es handle sich darum, „einen Mythos zu imaginieren, der für alle Zuschauer des Jahres 1948 verständlich sein sollte“. Und erreichte damit nicht nur eine Entmythologisierung und Banalisierung des 271

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Verhängnisses, sondern auch einen Leerlauf der Worte, die das Unerklärliche vergebens zu erklären suchten. Camus hatte sich im Vorwort zu diesem Werk zu der Ambition bekannt, „alle Formen dramatischen Ausdrucks zu vereinigen, vom lyrischen Monolog bis zum kollektiven Theater, vom stummen Spiel über den einfachen Dialog bis zur Farce und der chorischen Deklamation“. Jean-Louis Barrault hatte seine Inszenierung vermutlich auf ein totales Spektakel angelegt, wie er es bei anderen Anlässen mit größerer Fortune geleistet hatte. Das Publikum dagegen scheint, ebenso wie die Presse, trotz der glanzvollen Besetzung der Hauptrollen mit Jean-Louis Barrault, Madeleine Renaud, Maria Casarès, Marcel Marceau und Pierre Brasseur, trotz der Musik von Arthur Honegger und trotz der Bühnenbilder und Kostüme des berühmten Malers Balthus, von der Überfülle der Eindrücke eher verwirrt als bewegt worden zu sein. Offenbar war sich Camus bald danach darüber klar geworden, dass mit einer Steigerung der Mittel die Darstellung des Absurden und Abgründigen eher vernebelt als verdeutlicht wurde. Und er hatte auch ein für alle Mal verstanden, dass das Herzstück eines jeden Theaterabends, der auf mehr abzielte als auf Staunen und Zeitvertreib, das Wort des Dichters sein musste, und alles andere sich dem zu fügen hatte. In seinem nächsten Stück „Les Justes“ beschränkte er sich wiederum auf eine überschaubare Anzahl von Akteuren und auf drei verschiedene Schauplätze, die, jedoch von Wänden umstellt, alle öffentlichen Verhandlungen ausschlossen. Das auf tatsächlichen Ereignissen beruhende Sujet hatte er den „Erinnerungen eines Terroristen“ von Boris Sawinkow entnommen. Eine Gruppe von Terroristen, vier Männer und eine Frau, hat sich gegen den russischen Großfürsten Sergej verschworen. Eine Bombe wird geworfen und tötet den Fürsten. Der Attentäter bleibt am Tatort, versucht seine gerechten Gründe öffentlich darzulegen, wird gestellt und ins Gefängnis geworfen. Dort besucht ihn die Witwe des Fürsten und stellt ihm die Möglichkeit einer Begnadigung in Aussicht, wenn er Einsicht gewinnt, dass er, indem er ein System treffen wollte, einen Menschen getötet hat, und wenn er sich dazu bekennt, ein Verbrechen begangen zu haben. Er weigert sich und wird hingerichtet. Nachdem sie die Nachricht von seinem Tod erhalten hat, bittet die Geliebte des Terroristen um das Einverständnis der Mitverschworenen, die nächste Bombe werfen zu dürfen.

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Die Uraufführung fand am 15. Dezember 1949 statt. Im Théâtre Hébertot verkörperten unter der Regie von Paul Oettly Serge Reggiani und Maria Casarès die Hauptrollen. Die Premiere, bei der Camus sich durch ein erneutes Aufflammen seiner Tuberkulose geschwächt zeigte, wurde mit verhaltener Freundlichkeit aufgenommen. Offenbar waren nicht alle, auch wenn sie in manchem an die Kämpfe der Résistance erinnert wurden, bereit, die Gründe der selbstgerechten Tyrannenmörder nachzuvollziehen. Camus hat bekannt, dass Gewalt dieser Art unvermeidlich, aber gleichzeitig nicht zu rechtfertigen sei. Er war mit diesem Stück weitgehend in die von Sartre vorgeprägten Spuren des „pièce à thèse“ geraten. Den einzigen Ausweg aus dem moralischen Dilemma des Widerstands gegen die Tyrannei sah er in der Vereinigung von Mord und Selbstmord, von Schuld und Sühne, in einem Akt, der Richter und Opfer zusammenschloss. Wir sind dieser äußersten Versinnbildlichung der Ausweglosigkeit menschlichen Schicksals bereits in Camus’ ersten Werken begegnet. Zweifellos sind dem Autor Szenen von großer Eindringlichkeit gelungen, so vor allem die des Besuchs der verwitweten Großherzogin im Kerker, in welcher mit gleicher Beredsamkeit die beiden Sichtweisen der Tat offengelegt werden und trotz der Härte der argumentierten Gegensätze so etwas wie ein kreatürliches Einverständnis der beiden Betroffenen jenseits der grausamen Fakten spürbar wird. Das Werk hat, wie Camus selbst schreibt, „mehr Glück gehabt“ als „Die Pest“, dennoch war ihm ein anhaltender Erfolg nicht beschieden. In unserer Zeit, in der der terroristische Selbstmord die Titelseiten der Zeitungen beherrscht, hat man längst erkannt, dass auch diese Art von „Gerechtigkeit“ der Selbstjustiz zu einer Seuche werden kann, wenn sie jeden Rettungsversuch auf der ebenen Erde der menschlichen Vernunft verweigert. Camus zog sich danach zur Heilung seines Leidens wieder einmal in die Einsamkeit der Pyrenäen zurück. Mag sein, dass er sich in der Folge ernste Gedanken gemacht hat, ob das Theater der Ort sei, an dem er seine Kunst am deutlichsten zur Darstellung bringen konnte. Obwohl er zwar nicht mehr als Schauspieler, aber doch als Regisseur hin und wieder abseits der großen Bühnen noch in Erscheinung trat, so ist doch zu bemerken, dass er bei keinem seiner eigenen Stücke versuchte, seine Vorstellungen selbst inszenierend zu verwirklichen. Und er hat in den zehn Lebensjahren, die ihm danach noch vergönnt waren, kein originäres Stück für die Bühne mehr geschrieben. Noch einmal jedoch hat er seine gesellschaftspolitischen Ge273

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danken in dem Essayband „L’homme rèvolté“ niedergelegt, der 1951 bei Gallimard erschien und an die großen Erfolge der Nachkriegsjahre anschloss, auch wenn er ihnen nichts wesentlich Neues hinzufügte. Danach folgten einige Publikationen von Essays und Novellen, Rückblicke auf das Algerien seiner Jugendjahre, das sich mehr und mehr veränderte. Vergebliche Friedensappelle im Angesicht des sich immer verbissener gestaltenden Krieges seiner alten gegen seine neue Heimat. Noch einmal erschien ein Stück auf dem Theater, das unter den Werken Camus’ figuriert, obwohl es eigentlich nichts anderes ist als eine Dramatisierung des berühmten Romans „Die Dämonen“ des von ihm lebenslang verehrten Fjodor Dostojewskij. Zu seiner Bühnenfassung hat er die im Allgemeinen gesondert veröffentlichte „Beichte“ Stawrogins, einer der Hauptpersonen des Romans, und die von Dostojewskij während der Niederschrift des Romans geführten Tagebücher verwendet. Das Stück trägt den Titel „Les Possedés“, der im Deutschen mit „Die Besessenen“ wiedergegeben wurde, und erweist, dass sich der Dramatiker Camus ganz in den Dienst des großen russischen Dichters gestellt hat. Wohl zeigt Camus auch hier wiederum seine besondere Fähigkeit zur dialogisierten Sprache, seine wie immer klare Artikulation der tragenden Gedanken und seine ebenso behutsam einfließende wie wirkungsvolle lyrische Begabung. Auch wenn die Handlung des Romans als bekannt vorausgesetzt werden kann, soll sie doch in wenigen Strichen hier noch einmal skizziert werden. In einer russischen Provinzstadt hat sich eine Gruppe von jungen revolutionären Nihilisten zusammengefunden. Ihr Anführer Werchowenskij versichert sich ihrer Loyalität, indem er sie zu einem Mord an einem fälschlich der Denunziation Beschuldigten anstiftet. Die Hauptrolle des Stückes ist Strawrogin, einem jungen Mann aus reichem Haus, zugewiesen, der ein ausschweifendes Leben geführt und, um sich selbst zu bestrafen, die verkrüppelte Schwester eines Säufers geheiratet hat. Um ihn in ihre Netze zu ziehen, töten die Verschwörer das Geschwisterpaar. Ein Verbrechen gebiert das nächste. Als schließlich auch die Vorstadt der Armen in Brand gesteckt und seine Geliebte in den dabei entstandenen Tumulten erschlagen wird, beendet Strawrogin sein gescheitertes Leben durch Selbstmord. Selbstmord, dieses Wort steht immer und immer wieder am Ende der Camus’schen Dramen. Es ist, als sähe der Autor einen Ausweg aus der Geworfenheit des Menschen nur in diesem seinem Einverständnis auf sein Leben zu verzichten, um seine Würde zu bewahren. 274

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Dass Camus sich dieses Sujet gewählt hat, in dem Dostojewskij das große Thema seines Lebenswerkes, den Kampf zwischen dem glühenden Christusglauben der russischen Orthodoxie und dem aufkommenden Nihilismus der jungen Intellektuellen, in realistischer Drastik zu einem gewaltigen Höhepunkt bringt, zeigt, dass auch Camus sich der Zerrissenheit seiner eigenen Epoche in neuer Weise bewusst wurde. Es mag wohl sein, dass er sich aufgemacht hatte, nach einem neuen Weg durch diese Finsternisse zu suchen. Dass es ihm gegeben war, wie sein großes Vorbild Fjodor Dostojewskij, dem flackernden Licht eines Glaubens zu folgen, lässt sich jedoch nicht erkennen. Als Dramaturg hat Camus hier seine große theatralische Fantasie bewiesen. Der epischen Vorlage gemäß ist die Handlung der „Besessenen“ in drei Teile und diese wiederum in insgesamt zweiundzwanzig Bilder aufgeteilt. Die Schauplätze zeigen einmal einen Salon, dann eine ärmliche Wohnung, danach eine Straße, ein Haus in der Vorstadt, eine Brücke, ein Kloster, einen Wald und endlich wieder einen Salon, wobei die Wechsel von einem zum anderen Bild von Mal zu Mal schneller geschehen, und auf solche Weise den dramatischen Sog der Handlung verstärken. Die Figur des Erzählers verweist auf den epischen Charakter des Werkes. Durch sie gelingt es dem Autor, vieles von dem, was im Roman an Motiven und Nebenhandlungen ausgebreitet werden kann, in das verknappende Bühnengeschehen hereinzuziehen. Auch dies geschieht zu Beginn in großzügiger Form und gegen Ende zu in immer drängenderer Kürze. Es erstaunt nicht wenig, dass Camus, der kurze Zeit zuvor noch die Herkunft seines Theaters von den unerschöpflichen Quellen der griechischen Tragödie behauptet hatte, nun so deutlich abweicht von den formalen Gesetzen seines bisherigen dramatischen Schaffens. Er wollte offenbar selbst zurücktreten hinter dem Werk des verehrten Dostojewskij, den er, anders als die Ideologen des Kommunismus, als „den wahren Propheten Rußlands“ erkannte. Camus hat in seinen letzten Lebensjahren in einem öffentlichen Vortrag in Athen sich selbst zur Konzeption seines dramatischen Werkes geäußert. Er hat dabei auf die großen Epochen des europäischen Theaters, die der griechischen Tragiker einerseits und der Shakespeares und Calderóns andererseits, verwiesen. Und hat seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass die aus den furchtbaren Ereignissen gewonnenen Widerstandskräfte seine eigene Epoche befähigen würden, der dramatischen Kunst zu einer neuen, 275

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den großen Vorbildern vergleichbaren Bedeutung zu verhelfen. Kaum einem anderen als ihm hätte man den Mut zu solchen hoffnungsvollen Worten zugestanden. Und doch war es ihm nicht gegeben, seinen Traum wirklich werden zu lassen. Im öffentlichen Leben Frankreichs zeigte sich Camus als unbestechlicher Verteidiger der Freiheit des Individuums wie der Selbstbestimmung der Staaten. Er bewies dies in seinen öffentlichen Stellungnahmen gegen die Unterdrückung des Berliner Aufstandes von 1953 und gegen die noch weitaus blutigere Niederwerfung der ungarischen Revolution von 1956 durch die Truppen der Sowjetunion. Hierbei setzte er sich jeweils in Gegensatz zu seinem früheren Freund Jean-Paul Sartre, dem mit zunehmendem Alter immer trotziger argumentierenden Dogmatiker des stalinistischen Marxismus. Unvermeidlich geworden war die journalistische Auseinandersetzung der beiden über die Gewaltherrschaft der kommunistischen Ideologie im Osten Europas, bei welcher Camus seine hohe moralische Integrität wahrte, Sartre jedoch durch seine bedingungslose Unterwerfung unter das Diktat der Moskauer Parteizentrale zum Entsetzen vieler, die ihm vorher mit kritischem Interesse gefolgt waren, sein Gesicht verlor. Aus Sicht der deutschen Nachbarn des von ihm so leidenschaftlich verteidigten Frankreich muss dem französischen Dichter Respekt gezollt werden, der bald schon nach dem Ende des Krieges die in Schutt und Asche liegenden Länder rechts des Rheines und Nietzsches Refugium Sils Maria in den Schweizer Alpen besuchte und in seinen veröffentlichten „Briefen an einen deutschen Freund“ zur Versöhnung der überwundenen Gegensätze aufrief. Im Dezember 1957 wurde Albert Camus der Nobelpreis für Literatur verliehen. Und es gab wohl weit über Frankreichs Grenzen hinaus kaum eine Stimme, die sich gegen diese Wahl erhoben hätte. Am 30. Januar 1959 kamen „Die Besessenen“ im Pariser Théâtre Antoine zu einer allseits bejubelten Aufführung. Am 4. Januar 1960 starb Albert Camus zusammen mit seinem Verleger Gallimard auf der Fahrt nach Paris bei einem Autounfall im Alter von nur 46 Jahren. Frankreich und die geistige Welt Europas verloren mit ihm einen Mann, der wie kaum ein zweiter mit seinem Leben hinter seinem Worte stand. Er hat uns notgetan und hat uns Hoffnung gegeben.

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Die Wachenden haben alle eine gemeinsame Welt, im Schlafe wendet sich jeder seiner eigenen zu. Heraklit

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elegentlich hab ich behaupten gehört, nicht jeder Mensch denke, aber jeder Mensch träume. Er könne sich leicht die Gedanken aus dem Kopf schlagen, nicht aber die Träume, denn er träume wehrlos im Schlaf. Während ich den ersten Teil dieser Behauptung für den Scherz eines überheblichen Witzbolds halten muss, kann ich den zweiten weder bestätigen noch abweisen, da ich keinen Einblick habe in andere Köpfe. Was meinen eigenen Kopf anlangt, so würde ich ihn gern einmal im Traume von hinten oder von oben sehen und möchte erfahren, ob eine solche Spaltung des Handelnden vom Beobachtenden gelingen kann und, falls sie gelingt, ob sie dann vom Scheitel durch den ganzen Körper hindurch bis zu den Fersen geht. Meist aber bin ich, wenn ich tatsächlich träume, zu sehr beschäftigt, um mich solcher Forschungsaufgaben zu erinnern. Und oft erscheint mir das Träumen als ein mühsameres Geschäft als das Denken, zumal man sich diesem entziehen, dem Träumen aber nirgends entgehen kann. Wenn nun aber das denkende und das träumende Ich ein und dasselbe ist, ist der Traum vielleicht nur ein Denken nach anderen Regeln. Der Mensch stehe, hörte ich sagen, um zu handeln, er setze sich nieder, um zu denken, sobald er aber zu liegen käme, beginne er zu träumen. Auch diese oberflächliche und doch nicht ganz abwegige Behauptung könnte ein rascher Scherz bald beiseitewischen. Man hat von Leuten erzählen gehört, denen ihre Gedanken auf langen Wanderungen zuflogen. Ich meinerseits schreibe für gewöhnlich, und so auch jetzt, im Sitzen. Und beim Arbeiten kommen mir die Ideen. Sie entspringen aus dem Widerstand der Sprache. Liegend fantasiere ich gern, entwerfe ich Pläne und kann mir dabei nur kleine Notizen machen, die ich später mit einiger Mühe entziffere. Was meine Träume anlangt, so kann ich erst nach ihnen fassen, wenn ich glaube hellwach zu sein und an meinem Schreibtisch 277

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sitze. Und auch dann kann mir das nur in kleinen Teilen gelingen. Meine Hände sind zu grob, um einen Traum zu halten, mein Füllfederhalter ist zu spitz, und in ein mechanisches oder elektronisches Schreibgerät lässt sich ein so zartes und zerreißbares Gewebe, wie es ein Traum ist, ohnehin nicht zwängen. Das erfahre ich auch heut. Es ist früh am Morgen, wie ich so sitze. Und ich habe noch nichts gegessen. Der Tag sei dem Handeln und das Handeln dem Denken zugeordnet, die Nacht dem Schlaf und der Schlaf dem Träumen, kann man des weiteren von vielen Seiten vernehmen. Ich war mir dieser Zuordnung nicht immer ganz sicher. Ich habe Leute gesehen, die in der Nacht handelten, andere, die tagsüber träumten, ohne zu schlafen, andere die handelten, ohne zu denken. Ich habe Leute gesehen, die im Sitzen oder im Stehen träumten, und Leute, die nachts schlaflos im Bett saßen und dachten und dachten. Aber das sei der Natur des Menschen nicht gemäß, höre ich sagen, das räche sich an seinem Wohlergehen, wenn man es allzu weit damit treibe. Ein jedes habe seine Zeit. Und die Tatsache, dass wir heute durch künstliches Licht das Dunkel der Nacht vertrieben und in verdunkelten Räumen am Tag den Schlaf herbeizwängen, störe das Gleichgewicht, in dem wir uns lebend erhalten. Das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen, zwischen Denken und Fühlen, zwischen Schaffen und Ruhen, zwischen Einatmen und Ausatmen. All das ist Konsens der Vernünftigen. Dem stimme ich zu. Sitzend und denkend. Aber was ist, wenn ich träume? Gerate ich da schwankend nicht aus dem Gleichgewicht der Vernunft? Verlasse ich da nicht die richtende Ordnung? Und ist es das wahre Gleichgewicht, in das ich zurückkehre, wenn ich erwache? Ist das, was wir Denken nennen, die Vernunft und ist die Unvernunft das, was wir träumen? Die Nacht ist mehr als der Schatten des Tages. Sie ist seine dunkle Schwester. Und die Träume sind mehr als die Spiegelbilder des Lebens. Es gibt keinen Nagel, an dem man sie aufhängen könnte. Sie sind aus demselben Schoß geboren wie die Gedanken, auch wenn sie ihnen nicht gleichen. Sie sprießen und quellen aus allen Fugen. Und wir schöpfen die Nahrung unserer Seele aus beiden Bereichen, aus den hellen wie aus den dunklen. Dass wir das eine mit dem anderen nicht begreifen und nicht ermessen können, bewahrt sie beide vor unserem zerstörenden Zugriff. Man wird, wenn man dies zugesteht, nun also von mir nicht erwarten, dass ich auch nur den Versuch – auf Englisch: den Essay – mache, was dem 278

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wachen Verstand am Traum ein Geheimnis ist, durch eine Anordnung von mit Sinn und Hintersinn angereicherten Wörtern zu entschlüsseln. Es sind so viele Experten am Werk, um den Traum zu sezieren: Psychiater, Psychologen, Neurologen, Pneumologen, Traumdeuter, Schlaflaboranten. Sie messen ihn, sie wiegen ihn, sie suchen ihn zu entschlüsseln. Sie suchen ihn mit Werkzeugen der Vernunft zu erfassen. Aber er ist klüger als sie, er entzieht sich. Ganz ohne zu spotten; denn Spott verlangte ein Einverständnis. Das kann er den Vernünftigen nicht gewähren. Aber auch für sie kommt die Zeit, da sie schlafen. Dann schläft auch ihre Vernunft. Dann herrscht der Traum. Goya hat es gezeichnet. Man erkenne, sagen die Traumforscher, wenn man einen Schlafenden beobachte, am Rollen der Augen, wie sich sein Geist müht mit seinen Träumen. Dies geschehe zumeist gegen Ende des Schlafs beim ersten Morgengrauen und währe nicht lange. Ein paar Minuten vielleicht. Wenn man bald danach erwache, könne man sich nur für kurze Zeit erinnern, was man geträumt habe. Und die Traumdeuter sagen: Da die meisten Träumer nicht gelernt haben zu entwirren, was das Geträumte bedeute, verliere es sich wie Rauch, den man gegen den Himmel blase, oder wie Farbe, die man in einen Fluss gieße. Man könne aber sehr wohl verstehen lernen, was uns die Träume sagten. Durch den Traum nämlich versuche sich das Gehirn von den Verletzungen zu heilen, die es beim hellen Taglicht erhalten und oft nicht einmal empfunden habe. Und einer der Traumforscher behauptet sogar, man träume nur, um das Geschehen des jüngst vergangenen Tages zu verarbeiten, will heißen: um es im Geist zu kauen und zu verdauen und mit dem Verdauten die Seele zu nähren. Aber ich denke doch, man quält sich im Traum auch über manche nie recht verheilte Verwundungen nicht nur des vergangenen Tages, sondern eines ganzen Lebens. Was man nicht zu verwinden vermag, das setzt sich ab auf dem Grund unserer Seele und lässt sich lange nicht verdauen und zerschmelzen. Manches davon aber löst sich nach und nach und steigt dann, lange nicht mehr erwartet, aus diesen Sedimenten herauf in unsere Träume. Aber ich weiß davon wenig und lasse mich gern belehren, dass ich das wenige, was ich zu wissen meine, nicht recht verstanden habe. Was ich als Ungelehrter versuchen kann, ist, mich meinen Träumen, meinen eigenen Träumen, von innen her zu nähern. Mit ihnen zu spielen, zu reden, zu fantasieren. Mein Schlaflabor ist mein Bett. In dem bin ich allein. Und nichts 279

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weiter ist meine Absicht, als mir selbst zu berichten von den Erfahrungen, die ich lauernd und spielend mit meinen eigenen Träumen gemacht habe. Es ist vieles, was ich nicht erkenne, wohl aber erahne oder erträume, heraufgedrungen in meine Fingerspitzen und hat sich niedergeschlagen auf meinen Papieren. Davon kann ich versuchen, mir selbst Rechenschaft zu geben. Den Schlüssel aber am Tor des Morpheus werde ich stecken lassen. Und solide, vernünftige Schlüsse aus meinen Traumerinnerungen werde ich keine ziehen. Lange Jahre war ich der Meinung, all das, wovon ich heute zu berichten versuche, betreffe mich nicht, denn ich träumte wenig oder erwachte zu heftig vom Lärm der Weckuhr gerüttelt, um etwas so rasch Verfliegendes wie einen Traum festhalten zu können. Es gab eine Zeit in meinen unruhigen Jahren, da ich meist so müde ins Bett fiel, dass ich von irgendwelchen Träumen, wenn sie mich denn überhaupt heimgesucht haben sollten, nach dem Erwachen nichts im Gedächtnis behielt. Ich dachte, träumen, das sei etwas für Spinner oder Fantasten, nicht aber für einen, der wisse, was er zu tun habe und keine Zeit erübrigen könne für Höhlenforschungen in der eigenen Seele. Erst in späteren Jahren, als ich mehr und mehr mir bewusst wurde, dass ich ersetzbar und meine Arbeit auch von einem anderen getan werden konnte, wandte ich mich nach innen und wurde mir wieder bewusst, dass auch ich träumte. Ich war noch immer mitten im tätigen Leben und musste frühmorgens schon aus dem Bett, oft nach einer Nacht, in der mich der Ärger, die Freude oder die Hoffnung lange wach gehalten hatten. Und dennoch begann ich mir Gedanken zu machen über meine Träume und verspürte das Bedürfnis, sie festzuhalten an ihrem so leicht zerreißbaren Gewand. Es war mir nicht daran gelegen, aus dem, was mir davon in Händen blieb, irgendwelche Schlüsse oder Lehren zu ziehen. Vielmehr wollte ich mich nur hin und wieder hinausheben lassen über den Acker meiner Frone und mein Hirn auf eine Wiese in den Bergen führen, auf der es seine freien Spiele treiben konnte. Dort wollte ich es gewissermaßen zeitversetzt belauschen. Vielleicht, so dachte ich, könnte das eine oder andere für meine Arbeit am Schreibtisch mir einmal nützlich werden. Das ging einige Monate so hin. Von einem Tag auf den andern aber ließ ich es damit genug sein und brach meine Niederschriften ab, ohne dass ich 280

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einen triftigen Grund dafür hätte angeben können. Mag sein, ich war nur einfach der Anstrengung müde, die mir die Jagd auf etwas so Flüchtiges wie einen Traum abforderte. Mag sein, ich suchte meine Inspirationen unterdessen schon wieder auf anderen Feldern. Da diese Niederschriften unmittelbar nach dem Erwachen hatten geschehen müssen, wenn ich mehr in den Händen behalten wollte als ein paar Fäden von dem schillernden Spinnengewebe, hatte ich mich noch im Morgenmantel an meinen Schreibtisch gesetzt und in großer Eile und, ohne viel auf stilistische Fragen zu achten, protokolliert, was mir erinnerlich war. Solange ich aber der selbstauferlegten Pflicht gehorchte und schrieb, spürte ich, während ich das eine noch festhielt, wie das andere mir schon entschlüpfte. Die Schwierigkeit bestand offenbar darin, eine überwiegend optisch sich darbietende Beute in das Netz der geschriebenen Worte zu treiben. Dies musste so rasch und behutsam geschehen, dass dem Chamäleon Traum keine Gelegenheit blieb, sich in erschrockener Abwehr zu verfärben oder zu verwandeln. Dass das Opfer jedoch bei diesem Zugriff meines Füllfederhalters, der dem eines aus einer Höhle hervorschießenden Tintenfisches glich, wie in plötzlichem Schreck erstarrte, zerbrach oder zerstob, ließ sich nicht immer vermeiden. So blieben oft nur mehr Schuppen oder Flaumfedern von meinen Jagden auf dem Papier, aus denen man die Gestalt des flüchtigen Beutetieres kaum mehr zu erahnen vermochte. Manchmal war ich mir im Schreiben schon nicht mehr sicher, ob ich noch aus der Erinnerung dokumentierte oder bereits zu fabulieren begann. Wenn dies hin und wieder geschehen sein sollte, so allein in der Absicht, ein wenig Ordnung im Chaos meiner Visionen zu schaffen, so dass das Geschriebene dem Lesenden verständlich würde, oder auch um Lücken zu schließen, über die ich im Traum oder im halben Erwachen achtlos hinweggesprungen war. Aber es war gerade dieses Prinzip der Ordnung, das den Wachenden leitete und den Denkenden immer wieder auf falsche Fährten führte. Und überdies wurde ich mir bald schreibend bewusst, dass ich, indem ich rekapitulierte, bereits kritisch zu interpretieren begann und also kein verlässliches Bild mehr geben konnte von dem, was ich träumend gesehen hatte. Wenn ich hier vom Sehen schreibe, so taste ich dabei nach einer besseren Definition dessen, was mir im Traum begegnet war. Man spricht tatsächlich nur von Traumgesichten und Visionen, weil man sich offenbar des bildlichen Erlebnisses besser bewusst geworden ist als der Tatsache, dass man das 281

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Gesehene zuvor selbst geschaffen hat. Einer meiner Freunde, ein Maler, hat mir erzählt, dass er nicht wenige seiner Bilder, darunter eines, das er „Das himmlische Jerusalem“ genannt hat, im Traum vor sich gesehen und im Wachen aus der Erinnerung abgemalt habe. Ich habe danach eine Zeit lang meine eigenen Träume befragt, ob ich sie in Farben sehe oder, einem Film vergleichbar, nur in Schwarz-Weiß. Kaum hatte ich mir diese Frage gestellt, erschienen mir die Farben im Traum, die ich zuvor nie beachtet hatte. Vermutlich habe ich meine Träume selbst koloriert. Man träumt für gewöhnlich nicht in stehenden Bildern. Man hat die Träume oft mit Wolken und schäumenden Wogen verglichen. Ich vergleiche sie eher mit Gewächsen, die unserer Seele entsprießen und sich lösen von ihren Wurzeln wie Tiere, wie laufende, schwimmende, fliegende organische Wesen, die sich wandeln, die rasch entstehen und rascher noch vergehen. So viel von den geträumten Visionen. Anders erging es mir mit dem Gehör. Reden hörte ich gewiss die erträumten Gestalten, auch hörte ich den Fußboden knarren unter ihren Schritten. Ob ich aber jemals instrumentale Musik zu hören meinte oder nur musizierende Menschen imaginierte, kann ich zurückdenkend nicht sagen. Aber dass im Traume gesprochene oder gesungene Worte, auch wenn sie nicht zu klingen vermögen, dennoch verstanden werden, daran kann ich nicht zweifeln. Allerdings war mir im Nachhinein davon nichts Genaues erinnerlich. Nicht einmal in welcher Sprache da geredet wurde, konnte ich nach einem Traume sagen. Das wäre nicht ganz unerheblich gewesen zur Identifizierung der geträumten Personen, die oft ihre Gestalt oder ihr Angesicht wechselten, je näher ich sie an mich heranzog. In meiner beruflichen Tätigkeit habe ich oft viele Stunden am Tag kein deutsches Wort gesprochen, sondern in Italienisch, Englisch oder Französisch gesucht mich verständlich zu machen. Aber habe ich auch in fremden Sprachen geträumt, etwa während meines Studiums in Frankreich oder während meiner Arbeiten in England, Canada, Marokko, Italien, Belgien, Amerika? Oder in Ländern, deren Sprache ich nicht beherrschte? Ich denke: Das hab ich getan. Aber wunderlicherweise sind mir alle akustischen Reminiszenzen immer sehr viel rascher abhanden gekommen als die optischen. Wenn ich mich etwa an einen heftigen Zornesausbruch erinnere, der mich vor Kurzem erst im Traum so erregt hat, dass ich davon erwachte, so weiß ich zwar noch, worüber ich mich ereifert habe, jedoch nicht mehr, was ich so laut geschrien 282

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habe, und weiß auch nicht, ob mich die eigene Stimme oder der erhöhte Pulsschlag geweckt hat. Aus der Ilias des Homer, dem Buch der Richter des Alten Testaments oder aus manchen Theaterstücken Shakespeares wissen wir von Traumerscheinungen, die sehr deutliche Worte in wohl verständlichen Sprachen geredet haben. Manche Träume wurden wörtlich überliefert und oft als Prophezeiungen oder göttliche Urteile ausgelegt. Und es gibt vermutlich keine Traumerzählung in der Literatur, die nicht zur Folge hätte, dass der Traum aus seiner Irrealität heraustritt und in die erzählte oder dargestellte Handlung hinübergreift. Man denke nur an die berühmtesten aller Träume, die Joseph in Ägypten zu entschlüsseln aufgegeben waren. Oder an den Traum des Gilgamesch-Freundes Enkidu, der sich von einem Adler hoch in die Lüfte gehoben, niedergestürzt und zerschmettert wähnt und dies als Ankündigung seines baldigen Todes versteht, oder an Elsas Traum und die Erscheinung Lohengrins, herbeigeführt durch den Schwan. Ich möchte immerhin glauben, dass man in solchen bedeutsam in die Zukunft wirkenden Träumen eigenes Leben und Leiden anders zu sehen vermochte, zwingender, gestaltender, als in den allnächtlichen, rückwärts gewandten, die einem gemeinhin aufgezwungen werden. Warum aber waren mir wohl einige der Bilder, niemals aber die von meinen Traumgestalten gesprochenen Worte so recht zu erfassen? Sprachen sie in vorschriftlichen Sprachen? Hatte mir niemand im Traum etwas zu sagen oder wollte ich nicht hören und verschloss meine Ohren? Andererseits bildeten sich Inhalte und Botschaften solcher Szenen sehr wohl in meinem Kopf, aber nicht als hätten sie ein gewöhnliches Kleid aus Lauten und Geräuschen angelegt, sondern als würde ich selbst im Kopf an einem Text formulieren und als kämen die Worte nicht über die Lippen derer hinaus, die redeten in meinem Traum. Ich frage mich oft, ob ich jemals Töne und Klänge träumte oder ob ich alles Akustische mir selber ergänzte aus einem Fundus von Erinnerungen. Doch auch dass ich Gerüche jemals geträumt hätte, kann ich mich nicht entsinnen. In Lichtenbergs Sudelbüchern habe ich eine ähnliche Frage gefunden, mit der der Autor erkunden möchte, ob Gerüche nicht nur durch eine äußerliche Veranlassung in einen Traum eindringen könnten. Und er meint damit wohl, dass man von einem Geruch nur träume, wenn in der Küche nebenan am Morgen schon Kaffee gekocht oder Zwiebel geröstet 283

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werden oder wenn die Matratze brennt, auf der man ruht. Das Rätsel wäre am ehesten zu lösen, wenn man sich verleiten könnte, von einem Veilchenstrauß oder vom Geruch einer weiblichen Schulter zu träumen. Träume aber sind eigenwillig, lassen sich nicht befehlen. Vielleicht zeigt sich auch nur durch diese Abwesenheit in unseren Träumen, wie wenig Verlass ist auf unseren Geruchsinn und wie wichtig dagegen unser Gesicht. Denn eigentlich, und davon bin ich überzeugt, sind Träume weder Duftspuren noch Klangspuren noch auch Gesichte, sondern Erzählungen, die sich all dieser Mittel bedienen. Unser träumender Geist führt uns Geschehnisse vor das innere Auge, von denen eines gleichsam aus dem anderen quillt und von denen man besser mit Worten als mit allem anderen Mitteilung machen kann, auch wenn sie wortlos geschehen. Träume stehen nicht still, sie bewegen sich in der Zeit. Und das Medium, das diese Bewegung am besten erfassen kann, ist die Literatur. Dichter sind Träumer. Dichten, sagt ein alter Meister, sei Träumen in Gegenwart der Vernunft. Wer dichtet, zwingt die beiden ungleichen Schwestern zusammen, oder, wenn das Bild freundlicher erscheint, liegt mit beiden gemeinsam im Bett. Und so, wie man im Wachen seine Träume zumindest versuchsweise planvoll nachbilden und modellieren kann, so ist man im Schlafe fähig, mit Gedanken seine Träume zwar nicht zu erschaffen, aber, wenn sie entstanden sind, zu lenken. Dass auch das Theater und hier besonders das Musiktheater immer wieder versucht, Träume darzustellen, soll uns nicht wundern. Theater in jeder Form wird zuallererst von Dichtern erdacht und entworfen. Das Theater hat schon immer versucht, das Nichtalltägliche, das Außerordentliche und sogar das Irreale darzustellen. Wenn es jedoch eine Traumszene zeigt, so geschieht dies kaum jemals ohne Musik. Die Musik ist wie keine andere Kunst befähigt, die Wirklichkeit zu überspringen und ohne viele Umwege zu den bedeutsamen Dingen zu gelangen. Zwei Akkorde genügen und wir wissen: Wir betreten einen andern Bereich. Auch der Film kann, wenn er von Träumen erzählt, auf Musik nicht verzichten. Musik trennt die Sphären des Realen und des Irrealen ganz ohne Mühe. Wenn wir jedoch in der Wirklichkeit unseres Schlafes träumen, so geschieht dies meist lautlos in uns. Ich kann mich nicht erinnern, so etwas wie eine sphärische Musik gehört zu haben im Traum. Und wenn es so war, so habe ich nichts davon behalten. Ich spreche hier von Musik, die von außen hereintönt, aus klingenden Räumen, nicht von Menschen, die singend agieren oder auf Instrumenten spielen. 284

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Aber niemand außer uns selbst kann davon wissen und uns belehren. Wir sind allein mit unserem Traum. Wir können niemanden mit hineinnehmen in unseren Traum, so dass er sieht und hört, was wir sehen und hören. Ein anderer, und stünde er uns noch so nahe, kann nur erscheinen im Traum, nicht aber mitträumen mit uns. Im Traum erfahren wir uns selbst, nur uns. Und darum kann ein Theaterstück, dessen Aufgabe es ist, ein Geschehnis aus der Sicht unterschiedlicher Personen darzustellen, einen Traum nur als die Vision eines einzelnen Protagonisten darstellen für die, die da gemeinsam im Dunkeln sitzen. Anders der Film. Hier ist das Auge der Kamera das Subjekt. Einsam blickt es um sich und verwandelt alles Sichtbare in ein Objekt seiner Betrachtung. Ein geträumtes Bild hat im Gegensatz zu einer Bühne oder einem Gemälde, die beide in einen Rahmen gefasst sind, keine Begrenzung. Vermutlich hat es auch keinen Bretterboden und keinen Malgrund, sondern wird gleichsam schwebend in die Luft gezeichnet. Man kann ein solches Bild, ohne den Kopf auf dem Kissen zu wenden, verschieben, verlängern, verengen, ganz so wie auch das Sichtfeld des Auges vom Schauenden bestimmt werden kann. Manchmal möchte man an ein Spiegelkabinett dabei denken. Und darum ist vermutlich der Film, der durch eine schwenkbare Kamera auf Landschaften, Menschen und Dinge blickt, sie heranzieht oder zurückschiebt, das gemäßeste optische Medium, um solch eine geträumte Vision zu schildern oder nachzugestalten. Der Film jedoch benötigt zu seiner Verwirklichung zu viele technische Konstruktionen, Werkzeuge und Requisiten, von den Darstellern gar nicht zu reden, als dass er von dem allen nicht bestimmt würde, abzulassen von der Verfolgung eines Phantoms und vielmehr dem Handwerk selbst des Filmens zu folgen und Wege zu gehen, die von diesem bestimmt werden. Cocteau hat Sequenzen gedreht, die eine große Verwandtschaft zu haben scheinen mit Geträumtem. Er hat jedoch gewiss nicht eigene Träume zu fotografieren versucht, auch nicht die von Maria Casarès oder Jean Marais, sondern hat seine Kamera angeregt, selbst zu träumen. Wenn es so ist, dass, solange die Welt besteht, keine zwei gleichen Träume jemals geträumt wurden, so scheint es doch einige Situationen zu geben, die in Träumen auch recht verschiedener Menschen immer wiederkehren. Etwa die, dass man versucht zu fliehen und nicht vom Fleck kommt, oder die, dass man wie in elastischen Bändern gefangen sich vergeblich zu befreien 285

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versucht, dem Laokoon und seinen Söhnen vergleichbar, oder dass man aus einem Labyrinth nicht ins Freie findet. Oder, um nur noch eine letzte zu nennen, die, dass man mit einer Frage oder einem Rätsel konfrontiert wird und beschämt gestehen muss, dass man keine Antwort weiß. Hier spiegelt sich die allen Menschen gemeinsame Angst vor dem Versagen. Und gewiss ahnen wir in solchen Träumen, dass wir einmal nicht mehr werden fliehen können, dass wir gefangen und gezwungen werden und keine Antwort wissen auf die letzte Frage. Und wenn solche Träume im Alter seltener werden, so ist dies vielleicht ein Zeichen für das, was manche Resignation nennen würden. Ich aber weiß ein besseres Wort und nenne es Einsicht. Ich habe mich oft gestoßen an den strengen Gesetzen der Kausalität in Raum und Zeit, die unser überkommenes Weltbild konstituieren. Der Traum aber fragt nicht nach Rechtfertigungen oder nach Gründen. Er pflanzt sich fort wie ein Gewächs. Er wächst und wuchert in Assoziationsketten gleichsam aus sich selbst heraus. Und auf solche Weise hat mich der Traum in Bezirke geführt, in denen ich nie vorher geahnte Räume und Zeiten betreten und verlassen habe, ja sogar – und das war mir besonders erstaunlich – fähig wurde, sie selbst zu verwandeln, neu zu gestalten, zu zerstören und wieder aufzubauen. Der Traum hat mir gestattet, mit den sogenannten Realitäten zu spielen. Ein vertrautes Gesicht konnte ich träumend verändern, einen fremden Körper konnte ich schmücken oder kleiden, als könnte ich über ihn verfügen, wie ein Regisseur ver fügt auf dem Theater. Ich konnte ihn kommen und gehen lassen, konnte ihn auftauchen oder versinken, aufleuchten oder entschwinden lassen. Oft habe ich mich als Gestalter, sehr selten nur als Opfer gefühlt in meinen eigenen Träumen, letzteres am ehesten dann, wenn ich meinte, ich könnte mich nicht von der Stelle bewegen. Selten sah ich mich, wenn überhaupt, selbst auf der Flucht. Wenn mir ein Geschehnis aber qualvoll und schwer zu ertragen schien, gelang es mir meist, wie von außen eingreifend, den Traum zu unterbrechen, auch wenn ich dann in Kauf nehmen musste, unvermittelt aus dem Schlaf zu erwachen. Insgesamt aber scheint mir, dass ich so etwas wie einen Albtraum nur ganz selten, wenn überhaupt jemals erlebt habe. Angst vor meinen Träumen oder in meinen Träumen habe ich kaum je empfunden. Und da dies mir im Nachhinein doch recht seltsam erscheint, wage ich nicht zu behaupten, dass ich mich recht erinnere und nicht vielmehr, bewusst oder unbewusst, etwas beiseiteschiebe, was mir missfällt. 286

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Nicht nur der Raum, auch die Zeit hat im Traum offenbar keine herrschende Bedeutung. Personen, von denen man träumt, sind oft nicht nur weit in der Vergangenheit von uns entfernt, sondern manchmal gar nicht mehr unter den Lebenden. Man kann Menschen einander begegnen lassen, die einander nie gesehen haben, Tote und Lebende. Man kann Länder und Städte in der Zeitspanne eines Augenblicks hinter oder unter sich lassen. Mühelos. Ein Wunsch genügt, ein Zwinkern, ein Fingerschnippen genügt. Raum und Zeit können dem Träumenden nicht befehlen. Eins folgt nicht mehr zwingend aus dem andern. Ja, der Träumende kann sogar sich Befehle hineinrufen in sein eigenes Traumhandeln und -wandeln. Es ist mir mehr als nur einmal geschehen, dass ich aus einem Traum erwachte, ohne recht die Augen zu öffnen, weil ich noch halb im Schlaf verfangen war, und dass ich nach dem Zurücksinken in die Kissen den verlassenen Weg ganz bewusst wieder suchte, um meinen Traum zu Ende zu träumen. Dies war die sicherste Möglichkeit, um rasch wieder einzuschlafen. Der Traum war die Brücke, über die ich aus dem nächtlichen Nebel meines Zimmers in die scheinbare Bewusstlosigkeit des Schlafes zurückfand. Was das Träumen unter Einfluss von Giften und Drogen betrifft, so bin ich vermutlich einer der letzten Zeitgenossen, die davon nichts wissen. Drogen, wenn man vom Alkohol absieht, habe ich nie zu mir genommen und habe, wie man oft so leichthin zu sagen pflegt, auch nicht einmal im Traum daran gedacht. Man wird zu diesem Thema wohl eher bei de Quincey, bei Baudelaire oder bei Castañeda nachlesen müssen. Mich interessieren derlei Forschungen schon allein darum nur sehr am Rande, weil ich auch ohne solche Mittel Chaos genug in mir zu bewältigen habe. Ganz abgesehen davon, dass mich, nach manchem, was ich mit wachen Augen zu sehen gezwungen war, ein unwiderstehlicher Abscheu von derlei zerstörerischen Praktiken fernhält. Von einer Deutung meiner Träume will ich hier nichts Weiteres schreiben und will auch meine eigenen Überlegungen dazu nicht weiter verfolgen, da ich mir bewusst bin, dass ich selbst nichts Klärendes oder gar Bedeutsames über meine individuellen Empfindungen hinaus festzuhalten vermöchte. Ich bin aber andererseits auch kein Pharao, der sich von seinen Träumen gequält fühlt und sich einen klugen Mann aus dem Gefängnis kann holen lassen, um sie zu deuten. Und bin keine russische Baronin, die sich auf einer plüschbezogenen Couch von den brillenglitzernden Augen 287

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eines Wiener oder Zürcher Professors durchleuchten lassen muss. Unter meinen Träumen habe ich nur selten gelitten. Und möchte darum meinen Träumen ihre Geheimnisse lassen. Denn nur auf solche Weise beschützt vor kritischen Blicken können sie ihre heilende Wirkung entfalten. Dass die Forschung, die in den vergangenen Jahrzehnten manche Erkenntnisse gewonnen hat, denen meine Überlegungen nichts hinzufügen können, behutsam mit unseren Träumen zu Werke geht, um sie uns nicht zu verleiden, hoffe ich gerne. Mir ziemt es einzugestehen, dass ich bisher kein ins Allgemeine zielendes, wissenschaftliches Interesse an der psychologischen Traumdeutung gefunden habe. Das mag sich ändern, wenn ich einmal zu dem Bewusstsein kommen sollte, dass ich mehr das Opfer als der Gestalter meiner Träume geworden bin. Was mich veranlasst hat, meine Träume niederzuschreiben, war vor allem die Hoffnung, aus diesen Niederschriften für meine literarischen Arbeiten Anregungen zu gewinnen. Einiges könnte man auch tatsächlich, sei es in meinen Opern, sei es in meinen Gedichten finden, wenn man sich die Mühe machen wollte, danach zu suchen. Am deutlichsten erkennbar wären vielleicht das geträumte Insektenballett in der Oper „Die Ameise“, die geträumte Erscheinung des verstorbenen Wang Si-lang in der Oper „Der lange Weg zur Großen Mauer“ oder die Traumsequenz, die das Ende meines Romans „Die Verbannung“ bildet. Auch ist mein vorläufig letztes Theaterstück für Musik, das den Titel „Mahan“ tragen wird, nichts anderes als eine Traumerzählung, deren Motiv ich allerdings nicht selbst erdacht, sondern nach einer Erzählung des persischen Dichters Nezami weitergesponnen habe. Nun habe ich seit langen Jahren keine Niederschriften mehr gemacht von meinen Träumen. Und doch ist mir in Abständen immer wieder einmal ein prächtiges Ungeheuer von einem Traum in die Netze gegangen. Aber ich hab es entschlüpfen lassen oder, nachdem ich es gefangen und bewundert habe, zurückgeworfen ins schwarze Wasser des Vergessens. Es fehlt mir nun im Alter wohl auch an Kraft, mich mit halb ausgeschlafenen Augen, ungekämmt und ungewaschen noch vor dem Frühstück im Schlafrock an den Schreibtisch zu zwingen. Ich habe lange nicht mehr in meinen Aufzeichnungen gelesen, um etwa noch einmal Material zu gewinnen für Arbeiten des wachen Geschäfts. Aber ich habe seither anders geträumt als zuvor. Kann ich sagen: bewusster, wählerischer? Mein Tag ist zwar immer 288

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noch zu kurz für meine Pläne, aber meine Arme und Beine sind nicht mehr so regsam wie einst. Und so ist mein Geist des Nachts oft unterwegs durch vergangene Zeiten, und ich lasse ihn ziehen und schaue ihm zu und freue mich über fast alles, was er so findet. Denn es geschieht nur sehr selten, dass ich etwas Hässliches oder gar Erschreckendes träume, und nur hin und wieder träume ich vom Theater, obwohl sich doch gerade dort ein so weites Feld eröffnen würde an Erinnerungen, die nicht immer nur glücklich waren. Immerhin habe ich träumend schon mehr als nur ein Dutzend Opern inszeniert, keine eigenen seltsamerweise. Eingeprägt ins mühelos abrufbare Gedächtnis haben sich vor allem die gelegentlich wiederholten Traumsequenzen von Ängsten, die jeder Theatermensch kennt, etwa dass man eine Vorstellung versäumt, dass man während einer Vorstellung unversehens auf die offene Bühne gerät, dass man in den Orchestergraben stürzt oder dass man ein Werk inszenieren soll, das man nicht kennt. Beunruhigend oft ist mir dies allerdings zu keiner Zeit geschehen. Leider träume ich selten – allzu selten zu meinem Bedauern – von schönen, unbekleideten Frauen. Wovon träume ich heute? Ich weiß es nicht mehr. Ich halte nichts fest. Ich vergesse es rasch. Die einst so beherrschenden Triebkräfte der Hoffnung, der Sehnsucht und des Heimwehs sind nur noch behutsam und nicht mehr schmerzlich in mir am Werk. Von alten Wünschen bin ich nicht mehr zu verführen. Und will auch nicht zielen in die Zukunft, was etwa noch zu erträumen wäre. Ich lasse gewähren, wohin sie mich treiben, meine Träume. Nichts weist darauf hin, dass sie auf ein Licht in der Zukunft deuten. Was kommen muss, kommt, und ich fürchte mich nicht.

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die ewigen fragen und die neuesten nachrich ten

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eit einigen Jahrzehnten haben wir abgelassen von den Versuchen, allumgreifende Ordnungen zu erforschen oder gar selbst zu erschaffen und in Systemen zu denken, die, wenn nicht alle, so doch die drängendsten Fragen beantworten. Zu vieles, was unsere Vorvordern hochgehalten haben, ist seither zerschlagen worden, das meiste davon von uns selbst. Fragmente immerhin sind uns geblieben, Tonscherben von einem wunschgeträumten Ganzen, die weit ausgebreitet vor uns liegen. Das heute Schlüssige wird sich morgen wieder als Irrtum erweisen. Erst wenn die Welt vergangen ist, könnte man vielleicht einen Plan erkennen in dem, was geschah. Aber wen kümmert er dann? Die Alten haben die Fragen der zum Denken Erwachenden mit Mythen beantwortet, hinter denen stets ein Göttliches stand, das nicht weiter zur Rechenschaft zu ziehen war. Die Milesier gaben sich damit nicht zufrieden. Und auch nach ihnen Sokrates fragte nicht nach dem Wundersamen, sondern nach dem allgemeinen Gesetz. Er fragte viel und antwortete nie, wie Aristoteles erkannte. Er führte die Befragten an die Grenzen ihrer Erkenntnis und ließ sie dort stehen. Das nahm man ihm übel. Aber nach und nach begriff man, dass er recht haben mochte, wenn er behauptete, dass nicht Boreas die Pharmakaia entführt, sondern ein Windstoß sie über einen Felsen ins Meer gestürzt hatte. Seither haben wir, auch wenn wir in die Aporie, will sagen an das Ende unserer Weisheit geführt wurden und uns keine Antwort gegeben wurde, nicht abgelassen, Fragen zu stellen, und spielen noch immer „das Spiel mit dem Unendlichen, das“ wie Emil Steiger es nennt, „ein lockendes und, wie wir es einsehen müssen, nie restlos befriedigendes Geschäft ist“. Wir haben an die Stelle der Mythen die Wissenschaften gesetzt. Die sind, wenn Bertrand Russel recht hat, das Vermächtnis Europas. Ob sie der Menschheit zum Heil geraten, steht dahin. Aber auch für einen, der sich lange in täglichen Geschäften verbarg, ist irgendwann einmal, sei es nach einem glücklich überstandenen Unfall, sei es beim Überblicken der politischen Landschaft, sei es in Erwartung einer Auskunft aus dem Labor, 290

die ewigen fragen und die neuesten nachrichten

unversehens der Augenblick gekommen, an dem er innehält und prüft, ob er sich den Fragen gestellt hat, von denen er stillschweigend wusste, dass er ihnen nicht entkommen würde. Er beginnt einzusehen, dass er Antwort suchen, will heißen sich verantworten muss, sei es vor sich selbst oder sei es vor einem imaginären Gericht. Es kann wohl sein, dass das Urteil dieses Gerichts nichts anderes sein wird als ein großes Schweigen. Und dennoch fragen wir bis an dessen Ufer nach einer Antwort, die uns zur Ruhe kommen und Abschied nehmen lässt ohne Reue. Es sind dies die ewigen Fragen der Menschheit. Der Tod ist die große Sphinx, die uns die unlösbar scheinenden Rätsel aufgibt. Unter allen Lebewesen ist es vermutlich der Mensch allein, der lange voraus weiß um seinen Tod. Dieses Wissen hat ihn gelehrt, auf Wege zu denken, sich lange im Vollbesitz des Lebens zu erhalten. Solange er lebt, ist ihm alles wert, was ihm nützt weiterzuleben, und ist ihm alles unwert, was ihn näher ans Ende bringt. Versucht er aber sich jung zu erhalten bei schwindenden Kräften, versucht er dem Gedanken an seinen Tod zu entkommen, macht er sich zuerst vor anderen und schließlich vor sich selbst zum Gespött. Wer das Leben als Wert aller Werte begreift, muss sich vom Tod doch endlich geschlagen geben. Er kann das Rätsel seines Daseins nicht lösen. Vom Tod, der uns die Fragen auferlegt hat, wird man endlich doch aufgestöbert und greift dann verlegen nach einer der vorgefertigten Antworten des Katechismus, der Konvention oder des Bürgerlichen Gesetzbuches, um seine Blöße zu bedecken. Hat man sich denn nicht ein Leben lang bemüht, Antworten zu geben auf die Probleme des Berufs, des Ehelebens, des Straßenverkehrs, der Kulturpolitik? So wendet man ein. Und tut man dies, so hat man die letzte Gelegenheit, seinem Leben Sinn und Vollendung zu geben, vertan. Der Tod ist der große Mahner, der jede Stunde unseres Lebens nicht verfinstert, sondern durchleuchtet. Der Tod trifft einen jeden allein. Gegen ihn schützen die Arzneien, die Bußübungen und die Lebensversicherungen nicht, die geschaffen wurden, als könnten sie die Gefahren des Lebens auf mehrere Schultern verteilen. Von den vier letzten Dingen, die die Alten die eschata nannten, betrifft die meisten von uns allein noch der Tod. Die anderen, als da sind das Letzte Gericht, der Himmel und die Hölle, mühen uns nicht mehr so sehr. Wir weigern uns anzuerkennen, dass mit dem Ende unserer irdischen Zeit das Vergangene weiter Belang, will heißen Lohn oder 291

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Strafe haben soll. Einzig der Tod ist uns ein Letztes, über das wir nicht hinaus zu denken vermögen. Er ist, auch wenn wir das Gesicht abwenden von ihm, ein Bestandteil des Lebens. Vor seiner Mauer stauen sich die unzählbaren Fragen. Um von den vielen – von denen eine jede die erste und die letzte zugleich ist, weil sie alle in einer einzigen münden – nur eine zu nennen, so sei begonnen mit der Frage, warum wir entgegen aller Erfahrung Hoffnung haben, hinaus gelangen zu können über den Tod? Warum uns der Gedanke unerträglich erscheint, wir könnten mit dem Tode vergehen, ganz so als hätten wir nie gelebt? Hat uns denn je eine Nachricht erreicht von einem Land, das hinter der dunklen Pforte sich auftut? Es gibt keine menschliche Gesellschaft, in der nicht der Glaube an etwas Unerhörtes, Niegesehenes versuchen würde, eine Brücke zu schlagen in ein jenseitiges Reich. Und es ist wohl darum so viel Verstörendes am Todesgedanken, weil es einem lebendigen Ich nicht gelingen kann, sein Denken vom Leben, das denkt, zu lösen und sein denkendes Ich in ein gedachtes zu verwandeln. Es ist die Kluft zwischen Subjekt und Objekt, die unser Denken nicht zu überspringen vermag. Und so wenig es uns gelingt uns vorzustellen, dass wir waren, ehe wir geboren wurden, so wenig gelingt es uns zu denken, dass wir sein werden, wenn wir gestorben sind. Unsere Fragen danach gehen ins Leere oder verfangen sich im Schleier der Maja. „Der Schleier fällt“, sagt der persische Dichter Omar Chaijam, „wenn weder du mehr bist noch ich.“ Er weiß, dass es eben dieses Ich ist, aus dem keiner heraustreten kann, der solche Fragen stellt. Denn im Grunde will jede unserer Fragen dieses Ich bewahren und sucht nichts anderes als Erkenntnis eines Unerforschlichen, von dem wir meinen, es drohe uns zu vernichten. Man weiß ja, dass es nicht ewig dauern kann; man hat, wenn man allein mit seinen Gedanken war, gelernt, den Tod der anderen und endlich auch den eigenen Tod zu ertragen. Es ist gut so, dass alles ein Ende hat, dass Wurzelgrund geschaffen wird für neues Leben, das dem allgemeinen Leben entspringt. Und doch: Es ist etwas tief in uns, das aller Einsicht zum Trotz nach eigner Unsterblichkeit schreit. Wir haben uns die Götter und Dämonen erschaffen nach unserem Bild und Gleichnis und haben sie dem Zugriff der Zeit entzogen, haben sie in altersloser Jugend über uns auf die Wolken oder zu den Sternen versetzt. Wir haben sie richten lassen über unsere Sünden und Missetaten, die wir keinem unseresgleichen hätten eingestehen wollen. Wir haben ihnen Macht gege292

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ben, uns zu verdammen, uns zu vertilgen vom Angesicht der Erde; denn wir wissen alle, dass wir den Tod verdient haben, ein jeder von uns, wir alle und alles, was lebt und ans Licht will. Ein Übriges, um uns Demut zu lehren, haben die Naturwissenschaften des vergangenen Jahrhunderts getan, die uns, wenn wir uns an ihre Prämissen hielten, unwiderlegbar bewiesen haben, dass die Sonne sich selbst verzehren und alles irdische Leben in ewige Finsternis stürzen wird oder dass einer der schweifenden Meteore unsere Erde und alles Leben auf ihr zertrümmern wird, so dass alles einst vergangen und vergessen sein wird, als wäre es nie gewesen. Darum auch findet die Frage nach dem Sinn der Leiden keine Antwort, mit der wir uns beruhigen könnten. Hinter jedem Glück steht die Hoffnung auf Leben, hinter jedem Unglück die Furcht vor dem Tod. Der Körper, der für uns lebt, empfindet den Schmerz als Warnung vor Schlimmerem, vor der Vernichtung. Er schreit, um unsere Kräfte des Widerstandes zu wecken. Darum dürfen wir, solange wir leben wollen, den Schmerz nicht verdammen. Erst wenn wir bereit sind, uns zu ergeben, verlassen uns mit dem Leben auch unsere Schmerzen. Eine der großen Sehnsüchte des Menschen ist es, frei zu sein von Zwängen, die außerhalb unserer eigenen Macht und Entscheidung stehen. Selbst zu fragen und selbst nach Antwort zu suchen. Solange uns der Trieb der Selbsterhaltung am Leben erhält, sind wir von ebendiesem Trieb gezwungen, unsere eigenen Schritte zu tun, um uns zu ernähren, fortzupflanzen und vor Gefahren zu schützen. Nur ein Wille, der frei ist, sich zu entscheiden für das, wessen er bedarf, kann sich und seine Eigenart, so denken wir, lebendig bewahren. Keiner von uns will es anderen überlassen zu sagen, wie wir leben und sterben sollen. Sollen denn, so fragt er sich, diese oder jene dekretieren, was gut und was böse ist, was wahr und was falsch ist, ob die Seuche eine gerechte Strafe oder Rauschgifthandel ein Verbrechen ist? Soll man achselzuckend sich den herrschenden Geboten und Gewalten ergeben, die von Menschen gemacht und geübt werden, von Menschen, die auf dieselbe Art gezeugt und geboren wurden wie alle anderen auch? Hat nicht ein jeder, der bestimmt ist, einen eigenen Tod zu sterben, das Recht und die Pflicht, auch sein eigenes Leben zu leben und seine eigenen Antworten zu finden? So fragen sich alle, die die selbstverschuldete Unmündigkeit verlassen haben, wenn auch nicht ein jeder mit Worten. Wer sich aber entschließt, 293

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sich fremdem Zwang oder fremder Verführung zu widersetzen, der steht vor der Wahl, unter vielen möglichen den einen eigenen Weg zu suchen. Und um den ersten Pulk von Fragen, von denen die einen die anderen nach sich ziehen, endlich freizugeben, seien nun hier die folgenden gefragt: Ist die Masse des Lebens der Wert aller Werte oder ist es der denkende Geist und das empfindende Herz im unersetzbaren Einem? Soll der Eine sich auflehnen gegen den Trieb der Vielen, die den Schutz in der Herde suchen? Soll er sein Glück abseits suchen von den Straßen der Lemminge? Soll er in die Einsamkeit gehen, um sich zu retten? Trägt der Eine Verantwortung für die Anderen oder nur für sich selbst? Soll er die Anderen dem überlassen, was er selbst als Verderben fürchtet? Soll er allein antworten mit seiner schwachen, vielleicht gar unhörbaren Stimme, oder soll er mit anderen antworten rhythmisch im Chor? Wenn man bestürmt wird von diesen Fragen und anderen mehr, so spürt man, dass man bereits schuldig geworden ist, schuldig entweder durch Entsolidarisierung oder durch Parteinahme, durch Übung oder durch Duldung von Unrecht und Gewalt. Man hat Fisch- und Vogelschwärme beobachtet, in denen sich die einzeln wehrlosen Tiere zu schützen versuchten, indem sie sich zusammenschlossen und so die Gefahr, von stärkeren Räubern angefallen und gefressen zu werden, auf viele mögliche Opfer verteilten. Man hat aber auch Einzelgänger unter Tieren gesehen, denen es durch Verfärbung der Haut, durch Täuschung, durch Verbergen oder durch kämpfenden Widerstand gelungen ist, sich für eine kleine Weile zu retten. „Eines schickt sich nicht für alle, sehe jeder, wo er bleibe“, sagt der Vielzitierte. Und doch gilt es zu bedenken, dass der einsam Gehende nicht nur die natürlichen Feinde seiner Art hat, sondern auch die Feindschaft der Solidarisierten der eigenen Art. So wird der Einsame zum Ausgestoßenen. Er hat auf eine der großen Fragen für sich Antwort gefunden. Er lebt frei, aber er lebt gefährlich. Und wenn es ihm in der Einsamkeit nicht gelingt, sich zu paaren, so muss er den Sinn seines Daseins in sich selbst suchen, andernorts jedenfalls als in der Fortvererbung seines vergänglichen Lebens. Unter den Vielen aber werden zu allen Zeiten Stimmen laut, die ausrufen, sie wüssten die Antworten, sie wüssten auch den Weg aus der Wirrnis. Und sie fordern uns auf, ihnen zu folgen. Die Stimmen sind zahlreich und kommen aus unterschiedlichen Richtungen. In dem Gedränge von Manipulation und Besserwisserei, von Selbstüberhebung und Bevormundung, 294

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vermögen wir kaum mehr einen Ort zu finden, an den wir uns retten könnten. Die Stimmen alle warnen uns vor dem, was wir auch ohne solche Anleitung fürchten: vor dem Untergang. Dem sind die Rufenden verfallen wie alle anderen auch. Sie suchen Gefolgschaft, um sich in der Menge zu schützen. Wenn aber einer der Propheten Recht zu behalten suchte gegen alle Zweifler, so war es ihm aufgegeben, den Tod und das Vergessen zu besiegen. Dazu musste er, da alle Erfahrung dem widersprach, Zeichen und Wunder bemühen. Und so suchten nicht nur die alten Ägypter, wenn schon nicht sich selbst, so doch den für sie alle antwortenden Pharao in den gestirnten Himmel zu retten, so ließen nicht nur die Griechen ihre Heroen auf den Olymp entführen, so musste auch der Gott der Christen Tote erwecken und selbst aus dem Grabe auferstehen und in den Himmel auffahren. Und von mehr als einem christlichen Kaiser wurde eine siegreich rettende Wiederkehr nach tausend Jahren gefordert. Das Gute, so hören wir von den Vorbetern, ist, was uns rettet, das Böse, was uns verschlingt. Aber ist das höchste all unserer Güter wirklich das Leben und ist das Ziel all unserer Handlungen nichts anderes als dessen Erhaltung? Ist das Bewahrende, mit solchen Augen betrachtet, das Gute, weil es das Nützliche, will heißen das dem Leben Dienliche ist? Aber ist das jetzt und hier Lebende das wahrhafte Leben? Haben nicht immer wieder Menschen ihr Leben hingegeben um eines anderen, ersehnteren Zieles willen? Märtyrer, Krieger, Ketzer und Attentäter, wofür sind sie gestorben? Um der Gerechtigkeit willen, der Freiheit, der Liebe, der Tugend, der Wahrheit, des Glaubens, des Friedens oder der Rache willen haben viele ihr Leben geopfert. Manches und sehr Unterschiedliches gäbe es aufzuzählen, wofür einer oder wofür gar Tausende gestorben sind. Und nicht alles will einem sinnvoll erscheinen. Sinnvoll, was heißt das? Urteilt der Sinn über Leben und Tod? Kennt der Sinn den Weg und das Ziel? Lenkt der Sinn all unsere Schritte? Hier kommt ein anderer Schwarm von Fragen im Gefolge. Fragen, die nicht allein den Philosophen, sondern einen jeden Denkenden quälen, Fragen nach dem Warum und Wofür, nach dem Grund und Ziel unseres Daseins. Was ist Sinn, was ist Unsinn? In welchem Gehirn wohnt der Sinn, gereinigt von allem Irrtum? Wirkt er von außen herein auf unser Denken? Oder ist er das nirgends kodifizierte, aber überall dennoch erkennbare Gemeinsame aller unsrer je gedachten Gedanken? Ist der Sinn das Gerechte oder das Lebenserhaltende? Oder ist der Sinn das Berechenbare und Beweisbare, 295

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das Richtige, das auf dem rechten Weg liegen muss? Zu welchem Ziel führt der Weg? Solange wir das Ziel nicht kennen, wie können wir da wissen, ob unser Weg der rechte ist? Es gibt nur wenige Taten, die sinnvoll, gut und gerecht erscheinen unter dem Blickwinkel der menschlichen Richter. Nicht einmal das Zeugen, Gebären und Behüten des Geborenen ist unbestritten zu nennen. Es folgt dem Trieb des einen und auch dem Trieb eines zweiten, aber folgt es immer dem Trieb einer Gemeinschaft? Es schenkt den Zeugenden Glück in seiner größten Fülle, es dient dem Leben eines dritten und es erhält und fördert das Überleben der Art. Das Überleben der einen geschieht jedoch zum Schaden der anderen, und das Überleben allzu vieler gefährdet die Erde. Gebären ist keine Tat, es ist ein Geschehnis, in dem die Gebärende Erschaffende und Geopferte in einem ist. Das Leben geht durch die Wehrlosen hindurch. Die Tat der Zeugung aber, die dem Gebären vorausgeht und die gewollt, verweigert oder auch erzwungen werden kann, die Zeugung ist, wenn schon nicht Schuld, so doch zumindest der Verlust der Unschuld. Eine letzte Ahnung davon zwingt uns noch immer, uns dabei vor fremden Augen zu verbergen. Was aber ist Schuld, ohne die es kein Leben gibt? Ist sie ein Vergehen gegen das Leben der anderen? Gegen das Leben im Allgemeinen oder eines ganz besonderen Lebens? Schuld trägt jeder für sich. Wer handelt und urteilt, ist immer allein. Und allein muss er Rechtfertigung und Verantwortung geben. Ist es aber der Mensch, dem das Urteil zusteht über den sogenannten Gang der Welt? Ist nicht sein erstes Ziel, sein individuelles Glück zu suchen, Leiden von sich selbst abzuwehren und sich selbst zu erhalten? Wer würde uns beachten, wenn nicht ein jeder sich selbst der Nächste wäre, den es zu achten gilt? Wer würde mitleiden mit uns, wenn nicht einer, der leidet an sich selbst? Aber ist diese Welt allein zum Nutzen und Vor teil des Lebens geschaffen? Wurde sie geschaffen oder hat sie sich nicht selbst gebildet zu dem, als das sie unseren Augen erscheint? Durch die freie Entscheidung des Zufalls? Oder nach einem prästabilierten Gesetz? Zu welchem Ziel? Um immer weiteres Leben zu zeugen? Um sich denkend vom Leben zu lösen? Gibt es ein Ziel über das Leben hinaus? Ist menschliches Leben, das nichts will als seine Erhaltung, nicht bereits Schuld gegenüber anderem, tierischem, pflanzlichem Leben und auch gegenüber der unbelebten Natur? Kann Leben nur dauern, wenn es zerstört? Ist Leben nicht selbst wie eine Krankheit, die den Planeten verzehrt? 296

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Wenn dies aber so ist, wird es nicht schuldig durch die Verdrängung oder Verschlingung anderen Lebens, durch den von Hegel so benannten Weltverzehr? So dass eines immer lebt durch das andere hindurch? Ist Eigentum, durch das der Eine sich zu nähren sucht, schützenswert durch die Gemeinschaft? Ist Eigentum, das nach dem Tod des Eigentümers von fremden Händen ergriffen wird, nicht Schuld gegenüber den Menschenrechten der Gleichheit und Brüderlichkeit? Ist Eigentum nicht nur gerechtfertigt, wenn es dem Lebenserhalt dient? Und wird es nicht zur Schuld, wenn es diesem einzigen Zweck entfremdet wird und zum Werkzeug der Macht über andere wird? Ist die Dienstbarmachung anderen Lebens, sei es Tier oder Mensch, nicht verwerflich? Was ist Schuld ohne die Begriffe von Gut und Böse, von Wert und Unwert, von Sinn und Widersinn? Was ist Schuld ohne Gesetze? Und wer erstellt die Regel, wer ordnet das Spiel? Unsere Vorfahren, unsere Vordenker, eine außerirdische Macht oder wir selbst? Gründen diese Gesetze in uns? Sind Gut und Böse überall und zu allen Zeiten ein und dasselbe? Haben nicht Sitten und Gesetze sich immerfort gewandelt? Denn aufrecht geblieben ist von den alten Übereinkünften kaum eine. Der große Aischylos hat die Griechen gelehrt, dass Tugend nicht darin bestehen kann, seinen Freunden zu nützen, seinen Feinden aber zu schaden. Er hat Mitgefühl mit seinen Feinden, den Persern, bezeugt, und die Athener haben es ihm gedankt. Andererseits aber gibt es heute wohl kein christliches Land, in dem die zehn Gebote oder die sieben Werke der Barmherzigkeit noch alle ihre Gültigkeit haben. Denn wir haben kaum je die Freiheit, nach unserem Ermessen Gutes zu tun, das nicht zum Anlass werden könnte für ein schlimmes Ende. Wir können kaum je unser Leben erhalten, ohne Fremdes zu verdrängen. Wenn alle Schuld mit uns geboren ist und uns darum wiederum in den Untergang zwingt nach dem Gesetz der Zeit, wie der alte Anaximandros es nannte, ist dann die paulinische Theologie der Erbsünde, der Urschuld allen Lebens, tatsächlich so widersinnig, wie sie uns in der katholischen Predigt erscheint? Oder ist sie nicht nur ein Ausdruck der Ausweglosigkeit, in die wir gestellt sind? Die Philosophen haben Taubenschläge gebaut für alle Sorten von Fragen. In Verehrung für die alten Weisen haben sie ihnen griechische Namen gegeben. Aber es sind dennoch die alten geblieben, die wir alle kennen. Die nach dem Ursprung, nach dem Sein, nach dem Sinn, nach dem Wert, nach der Schönheit und nach dem Recht. Der Taubenschlag wird geöffnet 297

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und die Fragen schwirren hervor. Wer gibt die Antwort? Wer gibt das Maß? Wer zieht die Grenze? Wer entscheidet über Gut oder Böse, über Recht oder Unrecht? Gibt es auf Erden Gerechtigkeit? Wer soll Macht haben, sie zu bestimmen? Wem dient sie? Und die Frage, die uns alle umtreibt im Angesicht der alltäglichen Gräuel: Gibt es ein Recht auf Gerechtigkeit? Gibt es ein Gericht, das einem jeden zuerkennt, was ihm gebührt? Gebührt dem Geschädigten das Recht auf Wiedergutmachung des Unrechts? Worauf gründen wir unseren Anspruch? Haben alle ein und dasselbe Recht oder ein jeder das, das ihm gebührt? Aus welchem Titel? Weil keiner ist wie der andere oder weil wir alle Brüder und Schwestern sind? Gibt es aber Geschwisterliebe, wo kein Vater ist? Und sind denn alle Eltern gerecht? Sind alle lebendigen Wesen gleichermaßen in Liebe geborgen? Gibt es nicht offenkundig die Lieblingskinder der Natur? Kann man solche Liebe verdienen? Wird im Leben Ausgleich geschaffen? Oder in einem imaginären Jenseits Trost gewährt für Entbehrungen und Leiden? Ist das Jenseits ein Ort der Verheißung oder der Ausflucht? Liegt es auch jenseits der Zeit? Gibt es einen Ort ohne Zeit? Gibt es ein Reich, in das nur die Erniedrigten und Beleidigten Zutritt erhalten? Wann und in welcher Gestalt? Werden die im Diesseits Glückverwöhnten einst in den Orkus geworfen? Wirft sie die Gerechtigkeit dorthin oder der Neid? Ist es nicht Vermessenheit, einer von uns herbeigewünschten Macht vorzuschreiben, dass sie in einer Weise gerecht zu sein hat, die wir dafür erkennen? Gibt es nicht in fast allen Religionen zornmütige, rächende Götter? Warum machen sie solchen Ernst mit uns? Haben wir unserem Gott das Lachen verboten? Warum wird uns in Kirchen und Tempeln das Lachen verübelt? Ist unser Gott – und so wie er die Götter aller anderen Völker – ein Gott, den wir uns geschaffen haben nach unserem Bild und Gleichnis? Man hat sich seit einigen Jahrzehnten, um den unerbittlichen Dogmen der Religionen zu entgehen, darauf geeinigt, das Böse nicht mehr böse zu nennen. Man nennt es das Schädliche, das Übel oder das Schlechte und meidet das moralische Urteil. Schlecht ist nur mehr, was ohne Nutzen ist, was Schaden bringt an Leib und Leben und an anderen weitaus fraglicheren Gütern, Schaden an Macht und Besitz. Gut ist demnach nur mehr, was nützt. Wem? Unbeantwortet bleibt diese Frage, denn ein jeder denkt dabei zuerst an sich selbst. Und hat sie heimlich und verschwiegen für sich längst entschieden. Woher aber kommt die unbestrittene Güte, die Mutterliebe, 298

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die uns alle am Leben erhält und allen Kreaturen gemein ist? Sie bringt oft genug die nährende Mutter in Not. Sie nützt nicht sich selbst, sie dient einem andern. Das andere aber ist nicht allein das hilflose, neugeborene Wesen, es ist mehr, es ist das fortzeugende und fortgebärende Leben. Es reicht hinaus über uns alle. Wohin? Und woher ist sie gekommen, diese Güte? In einem Gedicht von Gottfried Benn, der in grausamen Zeiten hat leben müssen, stehen die Zeilen: Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden, woher das Sanfte und das Gute kommt, weiß es auch heute nicht und muß nun geh’n. Eine ist dies von tausend Fragen. Aber seltsam: Es ist etwas an dieser Frage des Dichters, das uns tröstet. Vielleicht ist das ihr innerster Sinn, dass wir sie aussprechen und gehen. Denn sie ist zugleich eine Versicherung dessen, was uns als Gutes erscheint. Kein Mensch ist noch aufgewachsen, der nicht gefragt hätte, woher er kommt und wohin er geht. Da er unterwegs ist vom Aufgang zum Untergang, ist sein Gesicht in die Zukunft gerichtet, den Tod vor Augen. Und wer ins Dunkel der Zukunft geht, der hofft mit jedem Schritt nicht allein, dass er überdauert, sondern auch dass sein Vertrauen in das, woran er sein Herz hängt, was immer es sein mag, nicht ohne Sinn ist. Er wirft seine Hoffnungen tastend voraus. Das Wissen vom Tod zwingt ihn zu denken. Und seine Gedanken suchen den Sinn seines Lebens. Über die Grenze des Todes hinaus. Dann öffnet sich ihm die dunkle Mauer. In einem schönen Gleichnis nennt Hermann Broch den Tod „die Pforte, durch die das Absolute eindringt in unser Leben“. Ohne den Tod kein Entwurf eines Jenseits. Ohne Untergang keine Auferstehung. Und ohne Vernichtung kein Versuch der Rettung wenn nicht unseres Lebens, so doch der „unzerstörbaren Werke“ unserer Kunst. An sie hängen wir nicht nur unser Wohlgefallen, sondern vor allem unsere Hoffnung. Dass sie bleiben mögen, wenn es hoch kommt für ein paar Jahre oder Jahrzehnte, zusammen mit den Namen, die uns teuer geworden sind, bleiben im Gedächtnis derer, die nach uns leben. Was immer wir unternehmen, um uns aufzulehnen gegen den Tod, unter allen Werken der Menschen ist es allein die Kunst, die uns Hoffnung 299

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gibt auf ein Überdauern. Sie ist uns ein Bollwerk des Lebens gegen den Tod. Die Reiche, die Städte, die großen Vermögen und die mächtigen Heere zerfallen. Die einst dienstbaren Errungenschaften der Wissenschaft zeigen bald schon ihre zerstörerischen Kräfte. Zerstörerisch ist der Drang der sterblichen Menschen, alles, was sie überdauern könnte, mit sich hinab in den Untergang zu reißen. Wenn die Wut der einen Türme und Dächer, Dämme und Maschinen gestürzt, Bücher verbrannt, Spiele verdorben und Bilder zerrissen hat, so gab es immer wieder andere, die ihr eigenes Leben nicht achteten, um Neues zu schaffen und das Geschaffene, das ihnen wert war, zu bewahren. Und trotz all der Kriege und Verwüstungen der letzten Jahrhunderte sind uns Werke der Kunst in großer Zahl und Fülle erhalten. Menschen haben ihr Leben geopfert, um sie zu retten. Im Sand der Wüsten graben wir noch immer nach versunkenen Kulturen und wir, die wir an die Macht der alten Götter nicht glauben, erstarren in Ehrfurcht, wenn wir ihre namenlosen Abbilder in Stein gehauen erblicken. Es ist in den Zeiten der großen Verzweiflung vieles gesagt worden, um der Kunst das Streben nach dem schönen Schein zu vergällen. Und nach den Gräueln des vergangenen Jahrhunderts und im Angesicht der neuesten Nachrichten kann man es keinem verdenken, der hinter allem einst hoch Geehrten Betrug wittert und die Kraft nicht mehr aufbringt, das Wahre zu erkennen, dem Guten zu trauen und das Schöne zu lieben. Schlimmes lassen uns diese Nachrichten befürchten, nicht allein für unser Wohlergehen und Überleben, sondern für alles, was da kreucht und fleucht. Der Untergang droht durch unsere Schuld allem Leben. In den Zeitungen liest man, in den Rundfunk- und Fernsehsendungen hört man, dass wir als vermeintliche Herren über unseren Planeten uns daran gemacht haben, die Meere, Seen und Flüsse zu vergiften und zu überfischen, die Luft zu verpesten, die Pole abzuschmelzen, die Wälder zu entlauben, den Erdboden durch Chemikalien zu verderben und die Rohstoffe auszugraben und in Müll zu verwandeln. Man liest und hört, dass wir Menschen uns selbst und die Tiere, die wir uns zur Nahrung bestimmen, in nie geahntem Maße vermehren und uns auf solche Weise auf einer immer enger werdenden Erde gegenseitig bedrängen und erdrücken. Und man ahnt die Gefahr, dass wir alles, was uns einst wert war, beschädigen oder am Ende sogar zerstören, wenn wir nicht umkehren auf diesem Weg. Die Mittel zur gegenseitigen Vernichtung haben wir uns ersonnen und erprobt. Vor ihrer Drohung verstummen selbst unsere 300

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uralten Fragen. Wehe, wenn uns nicht Schauder ergreift vor uns selbst! Das Suchen hat uns weitab vom Ziel und tief hinein in den Irrtum geführt. Auf diesem Weg hasten wir der Vernichtung entgegen, Getriebene von unserem Willen zum Fortschritt. Von Neuem, Unerhörtem lässt man sich gerne verlocken und berühmt sich immer wieder einer vorausblickenden neuen Erkenntnis. Aber rasch auch wird das Gepriesene wieder gescholten. Die wahre Weisheit erweist sich erst durch ihre Gültigkeit über Dezennien und Epochen hinweg. Sie liegt nicht in der Mehrung des Wissens. Sie liegt in der Erkenntnis des rechten Weges, des Tao, würde Laotse sagen. Wenn diese Weisheit aber hinausweist über die Maße unserer Zeit, worauf weist sie hin? Weist sie nicht hin auf eine im Unendlichen doch erreichbare Vollendung? Von der gibt uns einzig die Kunst einen Abglanz. Gewiss aber erscheint hinter allem, dass Kunst nicht sein kann ohne den Empfangenden, dass sie Leben nur gibt und erhält durch das Einverständnis der Liebe. Die Schönheit erscheint uns nicht nur als eine Mahnung des vollkommen Gelungenen, des erreichten Zieles, des Ruhens nach dem Vollbrachten, sie weist darüber hinaus. Sie mahnt uns an das, was alles Lebende sich ersehnt, an ein ewiges Leben. Sie gibt uns Halt und lässt uns glauben an den Sinn und Wert allen Daseins. Das Wissen darum verdanken wir dem Tod. Er ist der große Widerspruch. Aus ihm entspringt die Antwort und entspringt der Trost. Ohne den Tod kein Sinn, keine Hoffnung und vor allem: ohne Tod keine Liebe. Wer nahe am Tod ist, weiß mehr. Anderen mag es erscheinen, als sei solch einer im Einverständnis und im Geheimnis. Und wenn er es ist, so wird ihm ein leichter Abschied zuteil. Mehr ist nicht zu wünschen.

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RICHARD BLETSCHACHER

ESSAYS ZU MUSIK UND MUSIKTHEATER

Richard Bletschacher wurde mit dreiundzwanzig Jahren von Herbert von Karajan an die Wiener Staatsoper engagiert und hatte dort neben diesem vor allem in Günther Rennert, Wieland Wagner und Lucchino Visconti seine ersten Lehrmeister. 37 Jahre bleibt er dem Haus treu. Neben seinen Funktionen als Regisseur und Chefdramaturg der Staatsoper inszeniert er auch an zahlreichen renommierten Bühnen im In- und Ausland, gestaltet Rundfunksendungen und unterrichtet an der Opernklasse der Hochschule für Musik und am Max-ReinhardtSeminar. Als Autor von Theaterstücken, Romanen, Erzählungen, Gedichten und als Übersetzer von zwei Dutzend Opern (u. a. von Mozart und Puccini) sowie von Theaterstücken und Gedichten aus sechs Sprachen hat er sich einen literarischen Namen gemacht. Der Autor zeichnet in diesem Band Porträts von Sängern und Komponisten, die ihn auf seinem Lebensweg begleiteten. 2008, 290 S. GB. MIT SU 11 S/W-ABB. 155 X 235 MM. ISBN 978-3-205-78114-1

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