Doing Radikalisierung. Eine rekonstruktive Untersuchung der Extremismusprävention [1. ed.] 9783779971368, 9783779971375

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Doing Radikalisierung. Eine rekonstruktive Untersuchung der Extremismusprävention [1. ed.]
 9783779971368, 9783779971375

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Katharina Leimbach Doing Radikalisierung

Soziale Probleme – Soziale Kontrolle Herausgegeben von Mechthild Bereswill | Peter Rieker

Katharina Leimbach

Doing Radikalisierung Eine rekonstruktive Untersuchung der Extremismusprävention

Die Autorin Katharina Leimbach, M.A., Post-Doc und Projektkoordinatorin am Institut für interdisziplinäre Gewalt- und Konfliktforschung der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Probleme und Soziale Kontrolle, Kriminalsoziologie, qualitative und rekonstruktive Methoden/Methodologien. [email protected]

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.

Dieses Buch ist erhältlich als: ISBN 978-3-7799-7136-8 Print ISBN 978-3-7799-7137-5 E-Book (PDF) 1. Auflage 2023 © 2023 Beltz Juventa in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel Werderstraße 10, 69469 Weinheim Alle Rechte vorbehalten Herstellung: Ulrike Poppel Satz: Helmut Rohde, Euskirchen Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Beltz Grafische Betriebe ist ein klimaneutrales Unternehmen (ID 15985-2104-100) Printed in Germany Weitere Informationen zu unseren Autor:innen und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de

Für meinen Vater und meine Großeltern.

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Inhalt

Danksagung

11

1.

Einleitung

13

2.

Prävention als Bearbeitungsform von Extremismus und Radikalisierung – Eine einleitende forschungsstandberücksichtigende Hinführung Prävention und Intervention 2.1.1 Prävention im kriminologischen Diskurs und dessen Zeitdiagnosen 2.1.2 Prävention und Intervention bei Extremismus und Radikalisierung 2.1.3 Institutionalisierung der Extremismusprävention in Deutschland 2.1.4 Forschung zu Institutionen der Extremismusprävention Extremismus und Radikalisierung als staatlicher Interventionsbedarf im Spiegel des Forschungsstandes 2.2.1 Extremismus 2.2.2 Radikalisierung 2.2.3 Rechtsextremismus 2.2.4 Islamismus Wissenschaftliche Transformationskonzepte: Desistance, Deradikalisierung, Disengagement 2.3.1 Desistance 2.3.2 Deradikalisierung, Disengagement und Ausstieg Zusammenfassung

2.1

2.2

2.3

2.4

Handeln, Wissen und Diskurs im Lichte der Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle 3.1 Vom amerikanischen Pragmatismus und symbolischen Interaktionismus zur interaktionistischen Devianzsoziologie 3.1.1 Identität und „totale Institution“ bei Goffman 3.1.2 Interaktionistische Devianzsoziologie und Soziale Kontrolle

20 22 22 27 29 32 37 38 39 44 48 51 52 57 61

3.

64 65 69 72

7

3.2 Der interaktionistische Zweig der Soziologie sozialer Probleme 3.2.1 Die Bedeutung der wissenssoziologischen Diskursanalyse für die Analyse von sozialen Problemen 3.2.2 Das „doing social problems“ Forschungsprogramm 4. Methodologie 4.1 Rekonstruktion als Forschungsprinzip und Situiertheit als Heuristik 4.1.1 Zum methodologischen Verhältnis von Situation, Subjekt und Diskurs 4.1.2 Situierung der Forschung und zur methodologischen Bedeutung von Reflexivität 4.2 Die Interviewstudie 4.2.1 Das leitfadengestützte Interview mit Präventionsakteur*innen 4.2.2 Das biografisch-narrative Interview mit Adressat*innen von Rechtsextremismus- und Islamismuspräventionsmaßnahmen 4.2.3 Auswertung durch Feinanalysen, Kodieren und Mapping 4.2.4 Rekonstruktion der Situation, theoretische Verdichtung und Reflexivität als Prämissen der Generalisierung 5. Ergebnisse 5.1 Deutungen von Präventionsakteur*innen der Rechtsextremismusprävention: Konkrete Typisierung und Wissens(re-)produktion 5.1.1 Problemgruppenkonstruktion und Typisierungen in der Rechtsextremismusprävention 5.1.2 Wissens(re-)produktion durch die Bearbeitung von Rechtsextremismus 5.1.3 Zusammenfassung und Diskussion 5.2 Wie Präventionsakteur*innen der Islamismusprävention eine diffuse Gefahr konstruieren 5.2.1 Zur Herstellungsweise des Phänomens „Radikalisierung“ 5.2.2 Gefahr und Gefährlichkeit 5.2.3 Zusammenfassung und Diskussion 5.3 Positionierung, Erfahrung und Subjektivierung von Radikalisierung im Kontext von Präventions- und Interventionsprogrammen 5.3.1 Positionierungen im Kontext von Institutionen sozialer Kontrolle im Modus des Radikalisierungsdiskurses 5.3.2 Die Wechselseitigkeit des Transformationsprozesses 5.3.3 Subjektivierung von Wissen um Radikalisierung 5.3.4 Zusammenfassung und Diskussion 8

75 79 83 87 87 91 100 105 108 113 129 136 141

143 144 155 166 170 171 181 190

195 196 213 225 235

5.4 Institutionelle Besonderheiten in der Situation ‚Extremismusprävention‘ 5.4.1 Bedeutung der institutionellen und diskursiven Besonderheiten als Situiertheit 5.4.2 Zusammenfassung und Diskussion 6. 6.1

6.2 6.3 6.4

7.

Figurationen – Doing Radikalisierung als Schlüsselkategorie wechselseitiger Abhängigkeiten Figurationen in der Situation ‚Extremismusprävention‘ 6.1.1 Figurationen der Wissensordnungen über Rechtsextremismus und Islamismus 6.1.2 Figurationen der Subjektivierung (diskursiven) Wissens 6.1.3 Figurationen von (Un-)Gleichheitsordnungen bei Extremismusprävention Figurationen und soziale Prozesse: Soziale Kontrolle im Wandel Die Figurationsperspektive als theoretische Ergänzung von Reflexivität Figuration und Situation als verstehendes Forschungsprogramm für die Analyse von Problematisierungsprozessen Zusammenfassung

Literatur Links

239 240 255

258 261 265 271 277 285 292 296 303 307 344

9

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1.

Einleitung

„Aber jetzt so aus Trägersicht so, wir sind ja also sozusagen ein zivilgesellschaftlicher Träger, da ist das auch völlig unbestimmt, was eigentlich Prävention ist. Gegen was“ (E-4, Interviewausschnitt).

Die gesellschaftliche Beschäftigung mit verschiedenen Formen des Extremismus und möglichen Verhinderungsmaßnahmen wird seit vielen Jahren regelmäßig thematisiert. Dabei stehen in der deutschen Auseinandersetzung besonders Islamismus und Rechtsextremismus im Zentrum medialer, politischer und wissenschaftlicher Debatten (Millbradt et al. 2019). Zunehmend sind diese Auseinandersetzungen von der Frage begleitet, wie Extremismus durch staatliche Maßnahmen verhindert werden kann. In diesem Zuge wird der Begriff der ‚Prävention‘ evident. Auf die lateinische Wortbedeutung von Prävention besinnend, also ‚praevenire‘ – ‚zuvorkommen‘, ist Prävention immer zugleich Reaktion auf etwas, was bereits passiert ist oder passieren könnte und in Zukunft verhindert werden soll (Leimbach 2019). Untersuchungen zum Präventionsdiskurs haben gezeigt, dass dieser in den vergangenen Jahren einen starken Aufschwung in der Wissenschaft und der (Kriminal-)Politik erfahren hat (Lampe 2018). Wissenschaftler*innen konstatieren einen gesamtgesellschaftlichen Trend, bei dem soziale Probleme durch präventive Maßnahmen ‚gelöst‘ werden sollen und das Wort ‚Prävention‘ zu einer rhetorischen „Zauberformel“ (Plewig 2009) geworden ist (Dollinger et al. 2015a; Lampe 2018) (siehe Kapitel 2.1.1). In Bezug auf Extremismus ist Prävention jedoch nicht nur ein öffentlicher, politischer oder wissenschaftlicher Diskurs, sondern eine politische Forderung aus der ein extremer Ausbau von Extremismus- bzw. Radikalisierungspräventionsmaßnahmen erfolgt ist (Kreissl 2018; Milbradt et al. 2019). Schon seit Beginn der 1990er Jahre existieren Bundesprogramme zur Prävention von Extremismus (Mathiesen, Meier 2021: 2). Bis 2010 legte die Bundesregierung den Schwerpunkt auf die Verhinderung von Rechtsextremismus (Rieker 2014: 9) (siehe Kapitel 2.1.2 und 2.13). Danach wurden zunehmend Projekte gegen Islamismus institutionalisiert. Im Zuge dieser zunehmenden Investitionen in staatliche Extremismuspräventions- und Interventionsprojekte wurden auch verstärkt Forschungsprojekte gefördert, die neben den Fragen zu Abläufen von Radikalisierungsprozessen, ebendieses institutionelle Gefüge der Extremismusprävention untersuchen sollten (siehe Kapitel 2.1.4). Im Rahmen eines solchen Vorhabens entstand die vorliegende Arbeit. Im Jahr 2017 startete das Bundesministerium für Bildung und Forschung das (BMBF) geförderte Verbundprojekt „Radikalisierung im digitalen Zeitalter 13

(RadigZ)“ mit einer Laufzeit von drei Jahren. Der Zusammenschluss bestand aus acht Teilprojekten. In den unterschiedlichen Teilprojekten wurden verschiedene, aber sich überschneidende Forschungsfragen verfolgt. Das Teilprojekt VII „Bestandsaufnahme und Analyse bestehender Präventionsprojekte“ lieferte den institutionellen Rahmen für die Erhebung der Forschungsdaten, die Grundlage der vorliegenden Arbeit wurden. Im Teilvorhaben sollten alle bestehenden sekundären und tertiären Präventionsprojekte der Extremismuspräventionslandschaft quantitativ bestimmt werden.1 Im Rahmen einer geplanten Wirkungsanalyse von ausgewählten Extremismuspräventionsprojekten wurden qualitative Interviews mit Professionellen, also Durchführenden der Extremismusprävention und mit Adressat*innen der Maßnahmen geführt. Diese Interviewdaten liefern die empirische Grundlage für die vorliegende Arbeit (siehe Kapitel 4.1.2). Geht man dem eigentlichen Sinn von Präventionsmaßnahmen nach, so wird deutlich, dass in dem frühzeitigen Vermeiden von unerwünschten Handlungen oder Situationen bereits Definitionen über das Unerwünschte enthalten sind (Holthusen et al. 2011: 22). Solche Problemdefinitionen spiegeln bestimmte gesellschaftliche Werte und Normen, also Wissensbestände und -kulturen wider. Der Einleitung ist ein Interviewzitat vorangestellt. In diesem Zitat sagt der*die Interviewpartner*in, dass völlig unbestimmt sei, was eigentlich Prävention sei und gegen was. Damit repräsentiert der*die Interviewte eine Haltung, die in vielen der Interviews zum Ausdruck gebracht wurde: Institutionell-konzeptionell ist oft unklar, was Prävention meint – obwohl sie täglich durchgeführt wird. Durch die Anwendung eines bestimmten Wissens in Kombination mit den alltäglichen Erfahrungen verselbstständigen sich die Problemdefinitionen und deren institutionelle Bearbeitungsstrategien. In Anlehnung an das problemsoziologische „doing social problems“ Konzept wird davon ausgegangen, dass spezifisches Problematisierungswissen durch dessen institutionelle Bearbeitungsstrategien einerseits gesellschaftlich verankert wird und andererseits ein Eigenleben in seiner Anwendung entfaltet (Groenemeyer 2010: 15; Keller, Poferl 2020). Um dieses ‚Eigenleben‘ und die damit einhergehenden „Risiken und Nebenwirkungen“ (Holthusen 2020: 359) spezifischer Präventionsmaßnahmen geht es in der vorliegenden Arbeit. Ziel der Arbeit ist es herauszufinden, wie in den Deutungen der Interviewten Problematisierungswissen hergestellt wird, und inwiefern das Einfluss auf das Problemverständnis von Rechtsextremismus und Islamismus hat. Dies geschieht auf Basis von 43 Interviews mit Professionellen und Adressat*innen in Anwendung einer rekonstruktiven Auswertungsstrategie. Das Forschungsinteresse war damit zunächst offen formuliert und richtete sich vor allem darauf, was eigentlich passiert in der Extremismusprävention, um daran anschließend nach den dadurch entstehenden gesellschaftlichen Effekten

1

14

Zu den Begriffen ‚sekundär‘ und ‚tertiär‘ mehr in Kapitel 2.12.

zu fragen. Dieses grundlagentheoretische Forschungsinteresse wurde durch folgenden Forschungsfragen konkretisiert: a.) Welche Bedeutungen werden von den Professionellen im Kontext ihrer Arbeit hervorgebracht? Wie werden die Klient*innen adressiert? b.) Welche Bedeutungen werden von den Adressat*innen im Kontext der Präventions- und Interventionsmaßnahmen hervorgebracht? Haben die Adressierungen der Professionellen Auswirkungen auf die (Selbst-)Deutungen der Klient*innen? c.) Wie wirken Akteur*innen, Institutionen und Wissen bei der Situation der Extremismusprävention zusammen? d.) Was lässt sich daraus in Bezug auf die Untersuchung von Problematisierungsprozessen ableiten? Die Forschungsfragen repräsentieren drei unterschiedliche Abstraktionsebenen, die sich nicht nur aus dem Forschungsinteresse, sondern auch aus dem spezifischen theoretischen und methodologischen Zugriff auf das Datenmaterial ergeben. Die interaktionistisch und wissenssoziologische theoretisch-methodologische Rahmung der Arbeit führt zur Frage nach den (Be-)Deutungen, die Professionelle und Adressat*innen der Extremismusprävention herstellen. Während es sich bei den Interviews mit den Professionellen um leitfadengestützte Interviews handelte, wurden mit den Adressat*innen biografisch-narrative Interviews geführt (siehe Kapitel 4.2). Auf diese Weise konnte untersucht werden, welche (Selbst-)Deutungen von den Adressat*innen in Bezug auf Problematisierungswissen im Kontext von Extremismuspräventionsmaßnahmen relevant gemacht wurden. Darüber hinaus konnte gezeigt werden wie das Problematisierungswissen in die biografischen Selbstdeutungen hineinwirkt bzw. hervorgebracht wird. Die dritte Forschungsfrage zielt darauf ab, entlang der Interviewdaten ein situationsanalytisches Verständnis der Extremismusprävention in Deutschland zu erhalten. In Anlehnung an die Situationsanalyse nach Clarke (2012) sollte herausgefunden werden, welche Elemente für die Situation der Extremismusprävention relevant sind und wie diese zusammenhängen und sich dadurch wechselseitig konstituieren (siehe auch Kapitel 4.1.1). Die Situationselemente werden dabei auf Basis der im theoretischen Teil der Arbeit (Kapitel 3) herausgearbeiteten, problemsoziologisch informierten, Dimensionen von Akteur*innen, Wissen und Diskurs analysiert. Mit der vierten Forschungsfrage wird eine abstrahierende Form der Ergebnisgeneralisierung angestrebt. So sollen theoretisch-methodologische Überlegungen anhand der empirischen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit in Bezug auf die Analyse von Problematisierungsprozessen angestellt werden.

15

Um die Forschungsfragen am Ende der Arbeit beantworten zu können, beginnt die Arbeit in Kapitel 2 mit einer Hinführung zum Thema Prävention als Bearbeitungsform von Extremismus und Radikalisierung, und berücksichtigt dabei den Forschungsstand. Zu diesem Zweck werden Prävention und Intervention definiert und im Spiegel kriminologischer und soziologisch-zeitdiagnostischer Diskurse betrachtet (Kapitel 2.1.1). Zunächst wird Prävention allgemein in Bezug auf abweichendes Verhalten besprochen, in Kapitel 2.1.2 werden dann Präventionskonzepte spezifisch in Bezug auf Extremismus und Radikalisierung vorgestellt. Dies leitet über zu einer Beschreibung der institutionellen Struktur der Extremismusprävention in Deutschland (Kapitel 2.2.3). In Kapitel 2.1.4 werden schließlich aktuelle Forschungsergebnisse und -perspektiven auf Extremismusprävention in Deutschland dargelegt. Der zweite Teil der Hinführung widmet sich den Phänomenen Extremismus und Radikalisierung (Kapitel 2.2). In diesem Kapitel werden Extremismus (Kapitel 2.2.1), Radikalisierung (Kapitel 2.2.2), Rechtsextremismus (2.2.3) und Islamismus (2.2.4) in Bezug auf zentrale Forschungsergebnisse und -konzepte eingeführt und voneinander abgegrenzt. Hierbei thematisieren die Kapitel bereits, inwiefern die unterschiedlichen wissenschaftlichen Konzepte Einfluss auf das Problemverständnis haben und wie dies Auswirkungen auf staatliche Bearbeitungsstrategien haben kann. In Kapitel 2.3 werden wissenschaftliche und subjektorientierte Transformationskonzepte präsentiert. Hierbei geht es zunächst um die Darstellung der kriminologischen Desistance-Forschung (Kapitel 2.3.1), um dann deren Einflüsse auf die Konzepte Deradikalisierung, Disengagement und Ausstieg Im Kontext von Extremismus (Kapitel 2.3.2) zu erarbeiten. In Kapitel 2.4. wird das Forschungsfeld, in dem die vorliegende Arbeit thematisch verortet ist, auf die zentralen Annahmen hin zusammengefasst. Die sozialtheoretische Positionierung und theoretische Konzeptionierung zentraler soziologischer Begriffe wie Handeln, Wissen und Diskurs werden in Kapitel 3, in Bezug auf die Soziologie sozialer Probleme und Kontrolle, erarbeitet. Zu diesem Zweck werden die Wurzeln der interaktionistischen Devianzsoziologie im amerikanischen Pragmatismus und im symbolischen Interaktionismus erläutert (Kapitel 3.1). Da die theoretischen Ausarbeitungen auf das Thema der vorliegenden Arbeit spezifiziert werden sollen, werden in Kapitel 3.1.1 Goffmans (1961, 1963) Überlegungen zu Identität und „totalen Institutionen“ eingeführt und in Kapitel 3.1.2 die interaktionistische Devianzsoziologie in Bezug auf ihren theoretischen Zusammenhang mit dem Konzept der sozialen Kontrolle erarbeitet. Mit dem zweiten Teil der sozialtheoretischen Fundierung wird der interaktionistische Zweig der Soziologie sozialer Probleme präsentiert (Kapitel 3.2). Spezifiziert werden diese Grundlagen durch die Bedeutung der wissenssoziologischen Diskursanalyse für die Analyse von Problematisierungsprozessen (Kapitel 3.2.1). Alle theoretischen Überlegungen fließen in Kapitel 3.2.2 zusammen in die Einführung des „doing social problems“ Konzeptes. Dies diente schließlich 16

als Forschungsprogramm und sensibilisierendes Konzept (Blumer 1969) für die empirischen Analysen. In Kapitel 4 werden die methodologischen Grundlagen erarbeitet und das konkrete methodische Vorgehen präsentiert. Zentral für die vorliegende Arbeit ist das Prinzip der Rekonstruktion in Kombination mit der Situationsanalyse als Heuristik. Wie dies miteinander vereinbar ist, ist Gegenstand von Kapitel 4.1. Gerade, weil in dieser Arbeit situationsanalytische und wissenssoziologische methodische Komponenten mit der rekonstruktiven Sozialforschung zusammengebracht werden, wird das methodologische Verhältnis von Situation, Subjekt und Diskurs in Kapitel 4.1.1 genau bestimmt. In Kapitel 4.1.2 wird das gesamte Forschungsvorhaben als situative, also kontextgebundene Praktik präsentiert und die Bedeutung von Reflexivität für diese Arbeit beschrieben. Die konkrete Interviewstudie wird in Kapitel 4.2 erläutert. Hierbei werden die Erhebungen mit den leitfadengestützten (Kapitel 4.2.1) und den biografisch-narrativen Interviews (Kapitel 4.2.2) getrennt voneinander dargestellt. Die Auswertungstechniken der Interviewdaten werden in Kapitel 4.2.3 präsentiert. In Kapitel 4.2.4 werden methodologische Überlegungen zur Generalisierung der rekonstruierten Daten angestellt. Das fünfte Kapitel ist den Rekonstruktionen der Interviewdaten gewidmet und wird mit einer Präambel eingeführt, in der die Präsentation der Ergebnisse erläutert wird. So werden in Kapitel 5.1 die eigensinnigen Deutungen der Rechtsextremismuspräventionsakteur*innen präsentiert. In Kapitel 5.2 werden die Deutungen der Islamismuspräventionsakteur*innen zusammengefasst. Hier wird deutlich, dass Rechtsextremismus und Islamismus unterschiedlichen Konstruktionslogiken unterliegen, weshalb diese in unterschiedlichen Kapiteln dargestellt werden. Beim Rechtsextremismus sind spezifische Problemgruppenkonstruktionen und Typisierungen (Kapitel 5.1.1) sowie verfestigte Wissensstrukturen (Kapitel 5.1.2) relevant. Beim Islamismus hingegen sind die diffuse Problematisierung von Radikalisierung (5.2.1) sowie Gefahr und Gefährlichkeit als omnipräsente Thematisierungen (Kapitel 5.2.2) bedeutend. In Kapitel 5.3 werden die Positionierungen, Erfahrungen und Subjektivierungen der rechtsextremistisch- und islamistisch-definierten Adressat*innen dargelegt. Dafür werden zunächst die spezifischen Positionierungen im Kontext von Institutionen sozialer Kontrolle im Modus des Radikalisierungsdiskurses rekonstruiert (Kapitel 5.3.1). Das Kapitel 5.3.2 nimmt die Erfahrungen der Adressat*innen zum Transformationsprozess auf und rekonstruiert die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Adressat*innen und Ausstiegsbegleiter*innen. In Kapitel 5.3.3 wird ein besonderer Fokus auf die Subjektivierung von Wissen um Radikalisierung gelegt und entlang bestimmter Interviewfälle verdeutlicht. Der letzte Abschnitt des Ergebniskapitels wechselt noch einmal die Perspektive und legt den analytischen Schwerpunkt auf die institutionellen Besonderheiten der Extremismusprävention in Deutschland (Kapitel 5.4). Hierbei werden in verschiedenen Unterabschnitten die institutionellen und 17

diskursiven Besonderheiten als situative Dimensionen herausgearbeitet und damit ein stärkere situationsanalytische Perspektive eingenommen (Kapitel 5.4.1). Das sechste Kapitel präsentiert eine theoretisierende und diskutierende Zusammenfassung der in Kapitel 5 dargestellten Ergebnisse. Hierzu wird zunächst ‚Doing Radikalisierung‘ als Schlüsselkategorie herausgearbeitet. Die daran anknüpfenden Überlegungen zur Interdependenz von Problematisierungsprozessen wird durch eine theoretische Verdichtung der Ergebnisse mit dem Figurationskonzept (Elias 1976) dezidiert ausgearbeitet. Hierzu wird in Kapitel 6.1 die Figurationstheorie eingeführt und daran anschließend drei empirische Figurationen inhaltlich und empirisch diskutiert. So stellt Kapitel 6.1.1 die Figuration der Wissensordnungen um Rechtsextremismus und Islamismus dar, Kapitel 6.1.2 präsentiert Figurationen der Subjektivierung von (diskursivem) Wissen und Kapitel 6.1.3 erhellt die Figurationen der (Un-)Gleichheitsordnung der Extremismusprävention. Kapitel 6.2 wendet die Prozessperspektive der Figurationstheorie auf die Entwicklungen von Formen sozialer Kontrolle unter besonderer Berücksichtigung von Extremismusprävention an. Mit Kapitel 6.3 wird die Figurationstheorie methodologisch und mit Blick auf das Prinzip der Reflexivität herausgearbeitet. Mit Kapitel 6.4 wird schließlich das Konzept der Figuration mit der Situationsanalyse zusammengebracht und als Forschungsprogramm für die Analyse von Problematisierungsprozessen diskutiert. Kapitel 7 umfasst eine kurze Zusammenfassung zentraler Ergebnisse der vorliegenden Arbeit. Da es sich bei Extremismuspräventionsmaßnahmen um eine gesellschaftliche Reaktion auf unerwünschtes bzw. abweichend-definiertes Verhalten handelt, kann die vorliegende Arbeit an der Schnittstelle zwischen der Soziologie sozialer Probleme und der Kriminologie verortet werden. In diesem Sinne werden Rechtsextremismus und Islamismus als deviantes Verhalten konzeptioniert (Bötticher, Mareš 2012), welches mit einem interaktionistischen Ansatz verstanden wird. Stehr und Schimpf (2012: 38) merken an, dass Problemforschung oft die institutionellen Kontexte, Mechanismen und Prozesse in Bezug auf die Reproduktion bestimmter sozialer Ordnungen außen vorlasse. Gerade mit dem „doing social problems“ Konzept, der situationsanalytischen Rahmung und dem rekonstruktiven Auswertungsprinzip soll mit dieser empirischen Auswertung eine Arbeit vorgelegt werden, die Problematisierungsprozesse interaktionistisch und situationsanalytisch in den Blick nimmt. Die Arbeit liefert Einblicke in die Deutungen von Akteur*innen der Extremismusprävention und schließt dabei auch die Adressat*innen mit ein. Damit grenzt die Arbeit an gefängnissoziologische Diskurse, da viele der in den Blick genommenen Maßnahmen im Strafvollzug stattfinden und ein Großteil der interviewten Adressat*innen zum Zeitpunkt des Interviews inhaftiert waren.

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In dieser Arbeit wird eine genderneutrale Sternchen-Schreibweise verwendet, die nur dann nicht eingehalten wird, wenn das Geschlecht analytisch relevant ist oder es sich beispielsweise um einen männlichen Autor oder eine weibliche Autorin handelt. Die in rekonstruktiven Forschungsarbeiten herkömmliche IchForm wird sparsam eingesetzt und nur dann verwendet, wenn Entscheidungen präsentiert werden, die unmittelbar den Forschungsprozess betreffen oder es zu analytischen Situationsschilderungen beispielsweise Szenen des Feldzugangs kommt. Die häufig verwendeten passiv-Formulierungen sollen die konstruktivistische Positionierung der Arbeit widerspiegeln und die Konstruktion der Rekonstruktion sprachlich zum Ausdruck bringen.

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2.

Prävention als Bearbeitungsform von Extremismus und Radikalisierung – Eine einleitende forschungsstandberücksichtigende Hinführung

Im Sinne einer reflexiven Forschungspraxis erfüllt dieses Kapitel nicht nur den Zweck, den Forschungsgegenstand zu konkretisieren und den Forschungsstand zu präsentieren, sondern es sollen die Wissensbestände im Forschungsfeld zusammentragen werden. Das ‚Forschungsfeld‘ wird hier als eine soziale Welt mit spezifischen Wissensbeständen verstanden (Strauss 1982; Schütze 2002: 59). Das Konzept lässt sich wie folgt definieren: „Soziale Welten sind Arrangements der kreativen Wissensproduktion und der praktischen Anwendung von Wissen. Im Mittelpunkt sozialer Welten stehen thematisch eingegrenzte Problembereiche und auf sie gerichtete Aktivitäten der Analyse und der Bearbeitung durch die Akteur_innen, die miteinander die jeweilige soziale Welt bilden. Der Austausch zwischen den Akteur_innen sozialer Welten findet in sozialen Arenen statt“ (Wildhagen, Detka 2018: 209).2

Soziale Welten setzen sich aus verschiedenen sozialen Arenen zusammen. Diese können bestimmte Institutionen, Situationen, Professionen oder Wissensbereiche sein. Eine soziale Welt besteht also aus einem Konglomerat sozialer Arenen, die stärker thematisch eingegrenzt einen Teil der gesamten Wissensproduktion der sozialen Welt abbilden. Ein Teil der Untersuchung sozialer Welten besteht auch darin, die relevanten sozialen Arenen zu entdecken und zu benennen. So konnte beispielsweise festgestellt werden, dass die Welt der Extremismusprävention Diskurse enthält, die den Strafvollzug und seine Auswirkungen auf die Inhaftierten auf verschiedene Weise beeinflussen und damit eine spezifische Arena bilden. Die folgenden Abschnitte sollen Extremismusprävention als Forschungsgegenstand konstituieren indem zentrale Debatten zusammengefasst werden. So werden zunächst Prävention und Intervention im kriminologischen Diskurs und die daran anschließenden zeitdiagnostischen Debatten erarbeitet (Kapitel 2.1.1). Anschließend werden präventive und interventive Handlungen in Bezug auf 2

20

Mehr zur Theorie der sozialen Welten und Arenen in Kapitel 4.1.1 des Methodenkapitels.

Extremismus und Radikalisierung konkretisiert (Kapitel 2.1.2), um daraufhin die Institutionalisierung der Extremismusprävention in Deutschland herauszuarbeiten (2.1.3). Im letzten Abschnitt dieses Kapitels werden die zentralen Untersuchungen und damit implizierten Perspektiven auf Institutionen der Extremismusprävention präsentiert (Kapitel 2.1.4). In Kapitel 2.2 dann werden zentrale Konzepte zu Extremismus und Radikalisierung zusammengetragen, um den in diesen Konzepten zum Ausdruck kommenden staatlichen Handlungsbedarf herauszufiltern. Zu diesem Zweck werden zunächst Konzepte und Forschungen zu Extremismus dargestellt (Kapitel 2.2.1). Daran anschließend folgen die zentralen wissenschaftlichen Debatten und Forschungsergebnisse zu Radikalisierung (Kapitel 2.2.2), Rechtsextremismus (Kapitel 2.2.3) und Islamismus (Kapitel 2.2.4). In Kapitel 2.3 werden Konzepte vorgestellt, die sich mit der Frage befassen, wie Personen nachhaltig abweichendes Verhalten beenden können. Es geht dabei zunächst um subjektorientierte Transformationskonzepte, die sich generell mit dem Beenden abweichenden Verhaltens beschäftigen (Kapitel 2.3.1). Daran anschließend wird die konzeptionelle Nähe zu Transformationskonzepten hergeleitet, die sich mit der Auflösung von extremistischem Verhalten befassen (Kapitel 2.3.2). Da die vorliegende Untersuchung in Deutschland durchgeführt wurde, sind im Folgenden vor allem die wissenschaftlichen Diskurse, die in Deutschland rezipiert werden und damit den größten Einfluss auf die Präventionspraxis haben, von Interesse. Zu manchen Themen werden stärker internationale Forschungsergebnisse rezipiert (z. B. beim Thema Islamismus, siehe Kapitel 2.2.4) als zu anderen Themen (z. B. beim Thema Rechtsextremismus, siehe Kapitel 2.2.3). Es gilt in Kapitel 2 die zentralen Wissensbestände der sozialen Welt der Extremismusprävention mit ihren Problematisierungen, institutionellen Vorstrukturierungen und dominierenden wissenschaftlichen Konzepten herauszuarbeiten. Damit wird dem Vorschlag von Bereswill und Rieker (2008) für eine reflexive Forschungspraxis im Kontext rekonstruktiver Forschungsarbeiten gefolgt: „Offengelegt werden sollen vor allem die theoretischen Vorkenntnisse und Vorannahmen, die den Blick der Forschenden und ihre Schritte im Feld lenken (Hopf 1996; King 2004; Meinefeld 1995). Diese Prämisse, wie unterschiedlich sie in verschiedenen methodologischen Traditionen auch gefüllt wird, setzt einen Prozeß der produktiven Selbstreflexion im Forschungsprozeß voraus. In dessen Verlauf sollen nicht nur die eigenen Theorietraditionen, sondern auch die Wissensbestände im Feld oder die angrenzenden Fachdiskurse unter die Lupe genommen werden“ (Bereswill, Rieker 2008: 399).

Es geht also um die Fragen, welche Diskussionen und Debatten geführt und welche Forschungsfelder berührt werden. Der Fokus liegt hierbei auf den staatlichen 21

Interventionslogiken zu Rechtsextremismus und Islamismus und den daran angrenzenden Feldern, wie z. B. Kriminalprävention, Extremismus als abweichendes Verhalten etc. Es soll so herausgearbeitet werden, mit welchen Annahmen in dem Forschungsfeld operiert wird, in dem diese Untersuchung stattgefunden hat. Dabei geht es weniger um eine Deskription von z. B. Rechtsextremismus und Islamismus als mehr um eine Askription, um besonders Prävention und Intervention als gesellschaftliche bzw. staatliche Bearbeitungsstrategien auf ein zuvor definiertes Problem zu erfassen.

2.1

Prävention und Intervention

„Prevention of everything – and everything as prevention“ (Billis 1981: 374)

Im Folgenden werden zentrale Debatten und kriminalpolitische Entwicklungslinien nachgezeichnet, um damit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedeutung von Prävention und Intervention näher zu kommen. Wie das vorangestellte Zitat von Billis (1981) veranschaulicht, repräsentiert der Präventionsbegriff kein konkretes Konzept. So hat der Präventionsbegriff in den vergangenen 50 Jahren gesamtgesellschaftlich an Bedeutung gewonnen, folgt dabei jedoch in erster Linie einem Prinzip des Latenthaltens (Bröckling 2008: 39). All das, was durch Prävention verhindert werden soll, wird a priori bestimmt und als Gegenteil von einem erwünschten Zustand oder Verhalten konkretisiert (ebd.). Wie die Thematisierung von Prävention in einen kriminologischen und daran anknüpfenden zeitdiagnostischen Diskurs einzubetten ist, soll im Folgenden näher bestimmt werden. Hierzu werden im ersten Abschnitt des Kapitels allgemeinere Diskurse zur Bedeutung von Prävention und Intervention sowohl im Sinne kriminalpolitischer Maßnahmen als auch im Sinne zeitdiagnostischer Ansätze fokussiert. Im zweiten Abschnitt werden Prävention und Intervention als gesellschaftliche Bearbeitungsstrategien von Extremismus und Radikalisierung betrachtet. Das Ende des zweiten Abschnitts stellt schließlich definitorische Aspekte heraus, bei denen das dieser Arbeit zugrundeliegende Verständnis von Prävention und Intervention entfaltet wird.

2.1.1 Prävention im kriminologischen Diskurs und dessen Zeitdiagnosen Im Anschluss an Meier (2021: 303) kann „Kriminalprävention“ als „die Gesamtheit aller privaten und staatlichen Bemühungen, die auf die Verhinderung von Straftaten abzielen“ bezeichnet werden. Von dieser Definition muss das Präventionsanliegen der strafrechtlichen Sozialkontrolle klar abgegrenzt werden. So sei 22

zwar Prävention3 auch ein Leitgedanke des modernen Strafrechts, doch gehen die präventiven Bestrebungen zur Verhinderung von abweichendem Verhalten längst über das Strafrecht als Instrument hinaus (ebd.: 256 ff.). Lampe (2018: 178 ff.) konstatiert, dass es seit den 1970er Jahren einen deutlichen Wandel im Umgang mit abweichendem Verhalten gegeben habe. Die staatliche Orientierung an der Verbrechensbekämpfung folgt nunmehr Trends der Verbrechensverhütung, „die über die engen Grenzen des eher metaphysisch-dogmatischen Diskurses der Rechtswissenschaften über General- und Spezialprävention hinausgehen“ (ebd.: 178 f.). Es wurde gefordert, das polizeiliche Handeln stärker proaktiv auszurichten (siehe z. B. Kerner 1976), um bereits in der Gegenwart zukünftiges abweichendes Verhalten zu verhindern. Prävention ist in aller Munde und wurde zu einer „Zauberformel“ (Plewig 2009), die längst nicht mehr nur als politisches Narrativ verwendet wird, sondern zahlreiche institutionelle Komplexe hervorgebracht hat.4 So sind einige staatliche Präventionsprogramme implementiert worden, die sich den ‚Schutz der Bevölkerung‘ auf die Fahne schreiben. Die staatliche Vorliebe für solche Projekte des Schutzes, beschreibt Zedner (2007) als „pre-crime“-Orientierung, die eine generelle Veränderung der Sicherheitspolitik andeutet. Eine solche Orientierung wird in der Literatur als eine Entwicklung diskutiert, die mit dem Aufstieg des Sicherheitsdiskurses korrespondiert. Die Kommunikation von Bedrohungen durch „massenmedial angeheizte Angst- und Erregungsdiskurse der Gegenwart“ (Witte 2018: 256) führt zu einem ständigen Gefühl der Unsicherheit in der Gesellschaft. Dies schlägt sich in aktuelleren Studien zur Kriminalitätsfurcht nieder, die belegen, dass sich objektive und subjektive Sicherheit teilweise diametral zueinander verhalten (Schartau et al. 2018). Im Rahmen von kriminalpolitischen Präventionsmaßnahmen gewinnt die Herstellung von Sicherheit Oberhand und Prävention von Kriminalität wird über das Wohl des Einzelnen gestellt (Jukschat, Leimbach 2020: 339). Eine solche Entwicklung wird von Carvalho (2017: 2) als „preventive turn“ gedeutet, der als „direct consequence of a tension which lies at the core of liberal society and which is expressed through the law“ zu verstehen sei. Die gleiche Tendenz konstatieren Puschke und Rienhoff (2018) auch bezogen auf das Verhältnis des deutschen Strafrechts zu dem zunehmenden Präventionsprinzip am Beispiel Extremismus, Terrorismus und Radikalisierung. Sie zeich3

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Bei der implizierten präventiven Wirkung des Strafrechts wird in Spezialprävention und Generalprävention unterschieden. Spezialprävention bezeichnet die Wirkung einer präventive Strafwirkung auf der Individualebene, während mit der Generalprävention die allgemeine (abschreckende) Wirkung des Strafrechts gemeint ist (Meier 2021: 257). Ein solcher Trend ist nicht nur für kriminalpolitisch relevante Bereiche nachzuvollziehen, sondern lässt sich etwa auch im Gesundheits- oder Bildungssystem beobachten (Lampe 2018: 561). Seit dem pandemischen Geschehen, ausgelöst durch Covid-19, dürfte sich der Diskurs um Prävention noch einmal verschärft und in Teilen verändert haben. Da die Daten zwischen 2017 und 2018 erhoben wurden, nehmen die Darstellungen zum Präventionsdiskurs jedoch Bezug auf die Entwicklungen vor der Pandemie.

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nen hierzu nach, wie aktuelle Strafrechtserweiterungen5 und die Ausweitung der Befugnisse von Sicherheitsbehörden einen wesentlichen Teil institutioneller (präventiver) Bearbeitungsstrategien darstellen. Ohne, dass an dieser Stelle eine ausführliche Auseinandersetzung mit den rechtlichen Veränderungen und dessen Auswirkungen stattfinden kann, sei darauf verwiesen, dass die Entwicklungen der Antiterrorgesetzgebung und des Polizeirechts als manifeste Hinweise einer präventiven Wende betrachtet werden können (Puschke 2017; Gnüchtel 2019). Es wird deutlich, dass die Vorliebe für Prävention kaum von einem staatlichen Sicherheitsgedanken zu trennen ist. Singelnstein und Stolle (2012) nehmen dies zum Anlass und spitzen die Bedeutung von Sicherheit für moderne Gesellschaften in dem Begriff der „Sicherheitsgesellschaft“ zu, die auf einer „präventiven Sicherheitsordnung“ (Trotha 2003) fuße. Schon 1982 machte Riehle deutlich, dass Prävention und Sicherheit keine voneinander unabhängig verlaufenden Entwicklungen darstellen, sondern Sicherheit durch den Aufschwung von Prävention umgewertet werde und sich somit zu einer perfideren Form der Sozialkontrolle wandle (ebd.: 275 ff.). Lampe (2021) beobachtet drei Entwicklungen, die im Zentrum wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit dem Wandel sozialer Kontrolle stehen. Neben dem Trend zur Prävention ließe sich eine Zunahme an Diskussionen um Versicherheitlichungen6 und Punitivität7 beobachten. Die These einer zunehmenden punitiven Orientierung wurde erstmals von Garland (2001) formuliert und später von Wacquant (2009) aufgegriffen. Aktuelle Studienergebnisse zeigen jedoch, dass dieser aus Großbritannien und den USA kommenden These in Deutschland bisher weniger Bedeutung beigemessen wird (Fassin 2018; Drenkhahn et al. 2020). So wird die kriminalpolitische Vorliebe für Prävention immer wieder auch im Rahmen eines Wandels sozialer Kontrolle im 21. Jahrhundert diskutiert (Garland 2001; McCulloch, Wilson 2017; Schuilenberg 2011).

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Sie beziehen sich zuvorderst auf die Einführung der § 89a StGB Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, § 89b StGB Aufnahme von Beziehungen zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und § 89c StGB Terrorismusfinanzierung sowie § 91 StGB Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Der Begriff der ‚Versicherheitlichung‘ geht auf den Securitization-Ansatz aus Studien zur Beschreibung der internationalen Beziehungen zwischen Staaten zurück (Buzan et al. 1998). Dies fußte auf der Beobachtung, dass Sicherheit zu einem dominanten Thema in Studien zu internationalen Beziehungen wurde. Miko-Schefzig (2019: 138) arbeitete für ihre Situationsanalyse von subjektiver Sicherheit im öffentlichen Raum heraus, dass sich das Konzept gerade für subjektzentrierte Forschungen fruchtbar machen lasse, da es sowohl interaktive als auch diskursive Konstruktionen von Sicherheit mit einbeziehe. Dieser Deutung wird hier gefolgt, da Diskurse um Sicherheit eine zentrale Bedeutung bei wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Prävention und Radikalisierung einnehmen. Versicherheitlichung wird demnach als eine interaktiv hergestellte Situation gedeutet (Bögelein et al. 2021; Miko-Schefzig 2019: 129; Wehrheim 2018: 212). Punitivität bedeutet hier ‚Straflust‘.

Die wissenschaftlichen Diskurse zu Prävention und Sicherheit legen eine paradoxe Situation in der Forschungslandschaft offen. Je mehr Prävention implementiert wird, desto mehr nimmt die Beschäftigung mit möglichen Bedrohungsszenarien zu. Die andauernde Beschäftigung mit Gefahren und Bedrohungen erzeugen diffuse Unsicherheiten, aus denen heraus neue Präventionsmaßnahmen entwickelt werden (Zabel 2018). Dieses Präventionsparadox führt dazu, dass immer wieder auf die dialektische Ambivalenz von Prävention hingewiesen wird, die in der Schaffung gesellschaftlicher Sicherheit einerseits und Einschränkung der individuellen Freiheit andererseits besteht (Carvalho 2017; Singelnstein, Stolle 2012; Peters 2019). Vielfach werden Befürchtungen geäußert, dass der massive Ausbau von Präventions- und Interventionsmaßnahmen in Bezug auf abweichendes Verhalten zu einer autoritären Sicherheitsgesellschaft führen könnte (Eisch-Angus 2019; Dollinger et al. 2018; Lampe 2019; Ostermeier 2018). Diese Befürchtungen lassen sich zum Teil bereits durch empirische Befunde stützen. Es fällt auf, dass bereits eine Zunahme der Sicherheitslogik bei sozialpädagogischen Maßnahmen zu verzeichnen ist, die sich unter anderem in engen Kooperationen zwischen sozialpädagogischen Programmen und Sicherheitsbehörden ausdrücken (Figlestahler, Schau 2019; Jakob et al. 2020; Lindenau, Kressig 2015). Gleichzeitig nimmt die Kritik am Präventionsvorhaben des Staates zu: Holthusen (2020) bezeichnet Prävention als einen schillernden Begriff, der vor allem als eines zu deuten ist, nämlich als ein gesellschaftlicher Trend mit Nebenwirkungen. Holthusen (2020: 360) sieht die „Risiken und Nebenwirkungen“ der Prävention besonders in dessen Stigmatisierungseffekten und Mechanismen der selbsterfüllenden Prophezeiung, womit das Verhältnis zwischen Problemdefinition und zukünftig imaginierten Problemsituationen angesprochen wird. Prävention trage schließlich dazu bei, problematisch-definierte Zustände zu einer sozialen Wirklichkeit werden zu lassen.8 Soziologisch-zeitdiagnostische Ansätze nehmen die dargestellten, teils auch empirisch fundierten, Ausführungen zum Anlass, Prävention etwa als „übergreifenden Modus des Zukunftsmanagements zeitgenössischer Gesellschaften“ (Bröckling 2008: 47) zu begreifen. Zukünftig unerwünschtes Verhalten zu kontrollieren ist zu einem wesentlichen und gewöhnlichen Aspekt staatlichen Regierens in der Moderne geworden (Kreissl 2000; Lutz 2010). Damit bewahrheitet sich in Teilen die von Beck (1986) diagnostizierte „Risikogesellschaft“. Eine moderne Gesellschaft also, die sich an einer Zunahme von wahrnehmbaren Risiken orientiere. Demnach werde die „Wirklichkeit (…) nach einem Schematismus von Sicherheit und Gefahr kognitiv strukturiert und wahrgenommen“ (Beck 1986: 48; Herv. i. Orig.). In Anlehnung daran prägt Dahrendorf (1987) den Begriff des „Interventionsstaates“. Die Zunahme staatlicher Interventionen in unerwünschte Lebenssituationen und Verhaltensweisen einzelner gesellschaftlicher Mitglieder 8

Siehe hierzu auch die theoretischen Überlegungen in Kapitel 3.

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wurde zur damaligen Zeit als das sozialdemokratische Ergebnis eines Ideals politischer Gestaltbarkeit in modernen Gesellschaften interpretiert. Dabei bewegen sich die Interventionen auf einem Kontinuum zwischen Normalität und Abweichung, die durch gesellschaftliche Normen und Werte angeleitet werden und sich durch die praktische Intervention bei bestimmten Individuen konkretisieren. So sind auch individuelle Interventionen mit einzelnen Personen „in ihrer Orientierung an Normalwerten rückgebunden an die Gesamtpopulation“ (Bröckling 2008: 44). Staatliche präventive Interventionen als Reaktion auf abweichendes Verhalten sind insofern an subjektive Unsicherheitsgefühle und Kriminalitätsfurcht gekoppelt, als dass sie den staatlichen Eingriff legitimieren. Diesen Zusammenhang bezeichnete Bude (2014) als „Gesellschaft der Angst“ und charakterisiert moderne Gesellschaft entlang ihrem Drang, Unsicherheiten kontrollieren zu wollen. Dieser Kontrollbedarf sei der Grund, dass Präventionsmaßnahmen immer mehr zu einer goldenen Lösung für das (gefühlte) Problem der Beherrschbarkeit von Unsicherheit werden. In der skizzierten Verhinderungslogik verfolgen viele wissenschaftliche Arbeiten, insbesondere in der Kriminologie, das Ziel, abweichendes Verhalten zu beforschen und daran anknüpfende Erkenntnisse für angemessene Präventionsmaßnahmen gewinnen zu können. Die kritische Beschäftigung mit Prävention soll im Folgenden auch auf den Entstehungskontext dieser Arbeit bezogen werden. Damit ist gemeint, dass Wissenschaftler*innen, die sich mit Prävention beschäftigen, ihre eigenen diskursiven und institutionellen Verstrickungen reflektieren sollten. Dies wird in den nächsten Kapiteln entlang der Darstellung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Extremismus und Radikalisierung immer wieder deutlich werden. So ist Prävention auch „zu einem Leitmotiv der sozialwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung und der davon ausgehenden sozialpolitischen Interventionen“ (Lengwiler, Madarász 2010: 13) geworden. Dies spiegelt sich etwa in der vorliegenden Arbeit wider, die aus einem Teilprojekt eines Forschungsverbundes hervorgegangen ist, welches sozialpolitische Erkenntnisse über die Effektivität von Extremismuspräventionsmaßnahmen gewinnen wollte (hierzu mehr in Kapitel 4.1.2). Es ist jedoch bereits jetzt darauf hinzuweisen, dass gerade wissenschaftliche Diskurse um Radikalisierung und Terrorismus häufig im Zentrum von Sicherheitsdebatten stehen und wissenschaftliche Forschung damit Gefahr läuft, selbst zugleich Produkt und Produzent von Prozessen der Versicherheitlichung zu werden (Dollinger, Negnal 2019; Wehrheim 2018). Denn wie bereits mit dem Präventionsparadox deutlich wurde, beinhaltet die Beschäftigung mit Phänomenen, die als interventionsbedürftig gedeutet werden und den dazu passenden Präventionsmaßnahmen, immer auch die Aufrechterhaltung von

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Gefahrensituationen, bei gleichzeitiger Suggestion einer Beherrschbarkeit dieser Gefahr (Jukschat, Leimbach 2020; Zabel 2018).9 Holthusen et al. (2011) weist auf eine, für diese Arbeit bedeutende, Dimension von wissenschaftlicher Beschäftigung mit Prävention hin: „Wenn man Prävention als das frühzeitige Vermeiden unerwünschter Ereignisse, Entwicklungen und Zustände begreift, dann ist damit vorausgesetzt, dass diese und ihre Auswirkungen zuvor als unerwünscht definiert worden sind. Doch Standards, Kriterien und Werte sind sehr variabel und Entwicklungsprozessen unterworfen. In modernen, pluralistischen Gesellschafen hängt die Definition von Unerwünschtem davon ab, wer etwas als unerwünscht definiert und für andere verbindlich durchsetzen kann – und aus welcher Perspektive und mit welchem Wissen dies geschieht“ (Holthusen et al. 2011: 22).

Um Prävention jeglicher Art betreiben zu können, muss zuallererst klar sein, was eigentlich verhindert werden soll. Hierfür muss ein sozialer Zustand oder ein Verhalten gesellschaftlich erfolgreich problematisiert werden. Solche Problematisierungen sind von den gesellschaftlichen Werten und jenen, die sie durchsetzen, abhängig. Zugleich kann das Wissen über das definierte Problem innerhalb der institutionellen Problembearbeitung abgewiesen oder verändert werden. Diese Arbeit setzt sich mit einem verstehenden Blick mit Fragen der Problemdefinition innerhalb von Extremismuspräventionsmaßnahmen auseinander. Im weiteren Verlauf werden deshalb zunächst die wissenschaftlichen Konzeptionen und zentralen Diskurse rund um die Problemdefinition, dessen institutionelle Bearbeitung und wissenschaftliche Lösungsansätze, also die Bearbeitungsstrategien, dargelegt. Zunächst wird die Bedeutung von Prävention und Intervention in Bezug auf Extremismus und Radikalisierung spezifiziert.

2.1.2 Prävention und Intervention bei Extremismus und Radikalisierung Meist werden wissenschaftlichen Publikationen, sobald es um Extremismus, Radikalisierung und Prävention geht, mit einer Historie von rechtsextremistischen und islamistischen Anschlägen eröffnet (siehe z. B. Hasche 2018: 389; 9

Auf die dialektische Ambivalenz von gesellschaftlicher Sicherheit und der Einschränkung der individuellen Freiheit im Kontext von Prävention und Intervention ist bereits vielfach hingewiesen worden (Carvalho 2017; Jukschat, Leimbach 2019, 2020; Singelnstein, Stolle 2019; Peters 2019). Hierbei wird insbesondere in Bezug auf Extremismus und Radikalisierungsprävention auf die Gefahr einer Beschneidung von Religions- und Meinungsfreiheit argumentiert (Milbradt et al. 2019). Leider ist es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich diesen, überwiegend rechtlich, moralisch und ethisch zu bearbeitenden Fragen zu begegnen.

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Jahnke et al. 2021: 1; Mathiesen, Meier 2020: 1 ff.; Zick et al. 2021: 10 ff.). Daran anschließend wird die Beschäftigung mit Extremismusprävention als Resultat eines politischen Handlungsdrucks zur Schaffung oder Erhaltung von Sicherheit kontextualisiert. Mathiesen und Meier (2020: 2) spitzen dies wie folgt zu: „Prävention von politischem Extremismus und Gewalt erschien und erscheint bis heute als ein Gebot der Zeit“. Obwohl in der Literatur auf die Unterscheidung zwischen Präventionsansätzen mit Fokus auf den Adressat*innenkreis und solchen mit Fokus auf den Zeitpunkt der Intervention hingewiesen wird, werden die Ansätze dennoch oft synonym verwendet (Armborst et al. 2018: 5; Ceylan, Kiefer 2018: 17 ff.; Meier 2021a: 308 f.; Trautmann, Zick 2016: 7). So wird einerseits auf das Konzept der primären, sekundären und tertiären Prävention nach Caplan (1964) verwiesen, welches den Zeitpunkt der Maßnahmen fokussiert. Andererseits wird auf die universelle, selektive und indizierte Prävention nach Gordon (1983) rekurriert, welche Prävention nach Zielgruppen definiert. Primäre bzw. universelle Prävention meint die allgemeine Prävention ohne spezifische Zielgruppen. Im Kontext von Radikalisierungsprävention wird darunter politische Bildung und Vermittlung von Demokratieverständnis verstanden (z. B. Beutel et al. 2016; Hößl et al. 2020). Sekundäre bzw. selektive Prävention umfasst Maßnahmen, die gezielt bestimmte Gruppen adressieren, die als ‚gefährdet‘ wahrgenommen werden sich zu radikalisieren. Dies können z. B. Trainings mit Jugendgruppen sein, die regelmäßig Rechtsrockkonzerte besuchen. Tertiäre bzw. indizierte Prävention adressiert Menschen, die bereits radikalisiert sind. Hierbei handelt es sich um sogenannte Deradikalisierungsmaßnahmen oder Ausstiegsarbeit. Diese Form der Präventionsarbeit lässt sich kaum noch als Prävention betiteln, da es sich um reaktionierende Maßnahmen handelt, die auch als Interventionen bezeichnet werden. Die synonyme Verwendung der beiden Konzepte wird durchaus kritisiert, da sie – so Milbradt et al. (2019: 10) – im Detail zu unterschiedlich seien und die vereinheitlichte Begriffsverwendung so zu einem schwammigen Verständnis von Prävention führt. Wichtig für diese Arbeit ist festzuhalten, dass Prävention auf unterschiedlichen Ebenen, also entweder bei einem Zeitpunkt oder einer Zielgruppe ansetzt und, dass zwischen allgemeinen, etwa demokratiefördernden Programmen und mehrjährigen intensiven Betreuungen im Rahmen bestimmter Projekte unterschieden werden muss. Gerade, weil in dieser Arbeit letzteres fokussiert wird, basiert das Präventionsverständnis auf dem Konzept der sozialen Intervention. Sowohl der Interventions- als auch der Präventionsbegriff implizieren eine Perspektive, die von Beobachter*innen zu bestimmten Handlungen eingenommen wird. Soziale Interventionen sind demnach soziale Handlungen, bei denen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen von Akteur*innen vor dem Hintergrund eines bestimmten Wissens oder einer Situationseinschätzung verändert bzw. bearbeitet werden sollen (Kaufmann 2012: 1287). In diesem 28

Sinne werden Maßnahmen der Extremismus- und Radikalisierungsprävention als staatliche Interventionen verstanden. Prävention wird so als eine geplante, eingreifende Handlung konzipiert, die versucht, bestimmte soziale Folgen zu erzielen, um zuvor problematisch definierte Situationen zu bearbeiten bzw. zu verändern. Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehen die Deutungen von Akteur*innen, die an Interventionen, also sekundäre (selektive) und/oder als tertiäre (indizierte) Prävention, beteiligt sind. Konkret handelt es sich um Deradikalisierungs- und Ausstiegsprogramme (siehe Kapitel 2.1.3). Obwohl für sekundäre (selektive) und tertiäre (indizierte) Prävention der Interventionsbegriff passender erscheint, wird sowohl in der Fachpraxis als auch in der Wissenschaft in diesen Fällen überwiegend von Prävention gesprochen oder synonym zu dieser der Begriff der Intervention verwendet. Da es in dieser Arbeit auch um die Rekonstruktion von Wissen und Konzepten der Extremismusprävention geht, werden die in diesem Zusammenhang etablierten Begrifflichkeiten zunächst übernommen, um sie am Ende der Arbeit mit den empirischen Erkenntnissen zusammenzuführen und abzugleichen. Um zwischen denjenigen zu unterscheiden, die die präventiven Maßnahmen durchführen und denjenigen, die als Zielgruppen der Maßnahmen gelten, werden hier Begriffe aus der Sozialarbeit übernommen und von Professionellen und Adressat*innen gesprochen (siehe z. B. Graßhoff et al. 2018). In der gleichen Absicht wird immer dann, wenn es um die professionelle und institutionalisierte Durchführung von Extremismusprävention geht, von ‚Fachpraxis‘ gesprochen (ebd.).

2.1.3 Institutionalisierung der Extremismusprävention in Deutschland Seit 1992 fördert die Bundesregierung Programme zur Prävention von Extremismus (Mathiesen, Meier 2021: 2). Die Bundesprogramme des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hatten bis 2010 jedoch einen klaren Schwerpunkt auf der Rechtsextremismusprävention („Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG)“ (1992–1996), „entimon – gemeinsam gegen Gewalt und Rechtsextremismus“ (2002–2006), „Civitas – initiativ gegen Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern“ (2001–2006), „VIELFALT TUT GUT. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“ und „kompetent für Demokratie – Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus“ (2006–2010). Seit 2010 dann wurden die Bundesprogramme „TOLERANZ FÖRDERN – KOMPETENZ STÄRKEN“ (2011–2013) und das aktuelle Förderprogramm „Demokratie leben!“ (2015–2019 und 2020–2024) phänomenübergreifend konzipiert und somit auch Islamismus und Linksextremismus inkludiert. Die Entwicklungslinie der Bundesprogramme des BMFSFJ verdeutlicht, dass insbesondere die Rechtsextremismusprävention seit Anfang der 1990er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland 29

Bestand hat (Rieker 2014: 9). Bis 2000 bestand aber das Angebot der Projekte noch darin, allgemeine Jugendarbeit anzubieten und etwa Gewaltpräventionsworkshops zu organisieren (ebd.: 8). Erst seit 2000 existieren Projekte, die speziell den Ausstieg aus der rechtsextremistischen Szene fokussieren. Die Ausstiegsprogramme werden je nach Bundesland von privaten Trägern, dem Bundesamt für Verfassungsschutz, Landeskriminalämtern oder Justiz-, Jugend- oder Sozialbehörden organisiert und durchgeführt (ebd.). Die Programme zielen manchmal auf bestimmte Zielgruppen oder Kontexte (z. B. Strafvollzug), agieren mal bundesweit und mal nur im eigenen Bundesland (ebd.). Die unterschiedlichen Projekte arbeiten mit unterschiedlichen Methoden und verfolgen damit unterschiedliche Ansätze (ebd.). Es kann zusammenfassend vor allem eines festgehalten werden, und zwar, dass tertiäre (indizierte) Rechtsextremismuspräventionsangebote in Deutschland ein äußerst heterogenes Feld sind. Im Jahr 2000 wird mit EXIT-Deutschland das erste ‚zivilgesellschaftliche‘ Ausstiegsprogramm gegründet. Zwar wird sowohl in der Fachpraxis als auch in wissenschaftlichen Publikationen (siehe z. B. Ceylan, Kiefer 2018; Glaser et al. 2014; Rieker 2014) zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Präventionsprojekten unterschieden. In Bezug auf die Finanzierung kann diese Unterscheidung jedoch nicht eingehalten werden. So werden auch zivilgesellschaftliche Programme mindestens teilweise aus Mitteln der Bundesprogramme finanziert. „Zivilgesellschaftliche Organisationen sind professionelle und ehrenamtliche Akteure [sic] wie Vereine, Stiftungen, Bündnisse, Initiativen, Genossenschaften und GmbHs. In der Radikalisierungsprävention geförderte Träger sind häufig anerkannte Träger der Kinder- und Jugendhilfe und damit im professionellen Spektrum angesiedelt“ (Milbradt et al. 2019: 144).

Zusätzlich zu den Bundesprogrammen und den zivilgesellschaftlichen Projekten initiierte erstmalig auch das Bundesamt für Verfassungsschutz ab 2001 Ausstiegsprogramme für Rechtsextremist*innen und deren Angehörige (Rieker 2014: 8 f.). Im gleichen Jahr zogen die ersten Bundesländer mit eigenen Präventions- und Interventionsprojekten zur Verhinderung von Rechtsextremismus nach (ebd.: 9). In den folgenden Jahren nahmen Diskurse und Institutionalisierungen von Extremismuspräventionsprogrammen weiter zu, indem sie auf den Phänomenbereich „Islamismus“ ausgeweitet wurden (Ceylan, Kiefer 2018: 19).10 Fast zeitgleich entwickelten sich Projekte und Programme, die vom Bund, den Ländern oder den Kommunen initiiert wurden, sicherheitsbehördlich oder sozialpädagogisch 10

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Mit dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“ wurden auch erste Projekte gegen Linksextremismus ins Leben gerufen (Lehmann, Jukschat 2019: 42 ff.). Hierbei handelt es sich jedoch mit Blick auf die gesamte Extremismuspräventionslandschaft um einen äußerst geringen Anteil. Aufgrund dessen fokussiert diese Arbeit die präventive und interventive Beschäftigung mit Rechtsextremismus und Islamismus.

ausgerichtet sind und sowohl staatlich als auch zivilgesellschaftlich organisiert sind (Köhler 2016: 426). Im Zuge dieser Entwicklungen begann sich auch der Begriff der ‚Radikalisierungsprävention‘ als moderne Variante der ‚Extremismusprävention‘ durchzusetzen. Mit der Institutionalisierung von Projekten zur Verhinderung und Intervention von Islamismus gewinnt außerdem der Begriff der „Deradikalisierung“ zunehmend an Bedeutung (Köhler 2016: 425). Köhler (2016: 426) sieht die Debatten um Deradikalisierung an einem „turning point“ als das Time Magazine 2008 den Gedanken der Umkehr von Radikalisierung als eine Idee der Zukunft tituliert (Ripley 2008). Kurz darauf werden die ersten wissenschaftlichen Publikationen zu Prozessen der Deradikalisierung veröffentlicht, die bis heute die wissenschaftliche Debatte anleiten (siehe Kapitel 2.3.2). Im Jahr 2009 wird das länderübergreifende Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) gegründet, in dem 40 Behörden aus Polizei und Nachrichtendiensten regelmäßig die Lage zu Extremismus und Terrorismus, mit besonderen Fokus auf den Islamismus, sondieren.11 Obwohl die ursprüngliche Ausstiegsarbeit mit Rechtsextremist*innen eher sozialpädagogischen Konzepten folgte, ist durch die Involvierung der Sicherheitsbehörden im Laufe der Jahre, sowohl im Bereich Rechtsextremismus als auch im Bereich Islamismus, eine zunehmende Sicherheitsorientierung festzustellen. So sieht Vidino (2013a: 2) Radikalisierungsprävention auf einem Kontinuum zwischen allgemeinen Demokratieförderungszielen und polizeilichen bzw. nachrichtendienstlichen Maßnahmen auf der anderen Seite. Damit wird deutlich, dass die Pole der Präventionsziele zwischen Demokratieförderung und Sicherheit angeordnet werden (siehe z. B. Ceylan, Kiefer 2018: 62). 2014 wird von der EU-Innenkommission ein 10 Punkte Plan zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus vorgelegt.12 Darin enthalten ist die Forderung, dass alle EU Länder umfangreiche „Deradikalisierungsprogramme“ initiieren und institutionalisieren sollen (Köhler 2016: 426). Mit der Forderung der EU-Kommission wird deutlich, dass es sich bei der zunehmenden Implementierung von Ausstiegs- und Deradikalisierungsprogrammen nicht um eine alleinig deutsche Entwicklung handelt. Tatsächlich ist das Gegenteil zu dieser Annahme der Fall: In ganz Europa ist ein signifikanter Anstieg von Ausstiegs- und Deradikalisierungsprogrammen zu verzeichnen (Maskalinait 2015; Romaniuk 2015). Zusätzlich zu den Bundesprogrammen des BMFSFJ, wird seit 2017 auch seitens des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) ein Bundesprogramm zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus aufgelegt. Zudem stellen das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF), 11 12

Siehe www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Kooperationen/GTAZ/gtaz_node.html (Letzter Zugriff: 09.08.2021). https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/IP_14_18 (Letzter Aufruf: 09.08.2021).

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das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Bundesressorts für die Entwicklung und Institutionalisierung von Extremismuspräventionsmaßnahmen bereit.13 Die etablierten Präventionsprojekte und ihre institutionellen Zugehörigkeiten werden in der Praxis oft in sozialpädagogisch orientierten und sicherheitsbehördlich orientierten Projekten eingeteilt. Diese Parallelität erfordert Kooperation, weshalb sozialpädagogische und sicherheitsbehördliche Strategien in der Präventionspraxis nicht unbedingt voneinander zu trennen sind. Die Kooperationen können bei situativen Aushandlungen beginnen und reichen bis hin zu gemeinsam durchgeführten Projekten (Schuhmacher 2018: 161). Während die sicherheitsbehördlichen Projekte sicherheitsprognostische Verfahren einsetzen und die oberste Prämisse die der Straftatenvereitelung ist, stützen sich die meisten sozialpädagogischen Projekte auf das Achte Sozialgesetzbuch und versuchen „die Entwicklung (von Jugendlichen) in Richtung selbstbestimmter Lebensentwürfe zu fördern – entweder in erzieherischer Weise oder durch die Schaffung von Möglichkeiten zur eigenständigen Lebensgestaltung“ (Milbradt et al. 2019: 144). Milbradt et al. (2019: 144) heben hervor, dass es bei sozialpädagogisch orientierter Extremismusprävention in erster Linie um freiwillige Arbeitsbündnisse zwischen Professionellen und Adressat*innen ginge, die das adressierte Individuum stärken und gesellschaftlich integrieren sollen. Der hohe Organsiationsgrad und Prozesse der Institutionalisierung von Extremismuspräventionsmaßnahmen ist ein Merkmal der sozialen Welt. Analytische Relevanz erhält dies bei der situationsanalytischen Betrachtung der Forschungsdaten in Kapitel 5.4.

2.1.4 Forschung zu Institutionen der Extremismusprävention Das schnelle Wachstum der Extremismuspräventionslandschaft in Deutschland hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass sowohl von politischer als auch von wissenschaftlicher Seite Forderungen laut wurden, mehr Transparenz in dieses Feld zu bringen. Konkreter ging es einerseits darum, dass es bis 2016/2017 noch keine Daten über die Projektlandschaft gab, die über alle Projektträger hinweg erstellt wurden, und es andererseits kaum wissenschaftlichen Einblick in die Praktiken der Extremismusprävention gab (Baaken et al. 2018; Leimbach et al. 2017; Zick et al. 2021). Zur Füllung dieser Leerstellen starteten zahlreiche Forschungsprojekten, die Antworten auf diese Fragen bringen sollten. Die schnelle Entwicklung der Extremismuspräventionslandschaft und der offensichtliche 13

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Redaktion Infodienst Radikalisierungsprävention (2020): www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/281811/islamismuspraevention-auf-bundesebene (Letzter Zugriff: 09.08.2021).

politische Druck dahinter führten zu einer schnell wachsenden und komplexen Institutionenlandschaft. So wurde in unterschiedlichen Bestandsaufnahmen versucht, eine strukturierte Übersicht von Extremismuspräventionsprojekten zu erstellen. Erstmalig ermitteln Lützinger und Gruber (2017) für das Bundeskriminalamt 721 Extremismuspräventionsprojekte für die Jahre 2015 und 2016 in Deutschland. Diese Untersuchung wurde im Jahr 2018 erneut durchgeführt und zählte dann schon 1.642 Projekte zur Verhinderung und Intervention von Extremismus und Radikalisierung (Lützinger et al. 2020). Trautmann und Zick (2016) erfassen für das Jahr 2015 insgesamt 36 Projekte, die auf Islamismus fokussierten waren. Während Trautmann und Zick (2016) nur Projekte zählen, die nicht im Strafvollzug tätig waren, folgte kurz darauf eine Befragung unter allen deutschen Justizvollzugsanstalten, um deren Bemühungen gegen Extremismus und Radikalisierung zu erheben (Hoffmann et al. 2017). Hier wird deutlich, dass zwar einige Ausstiegsprojekte im Justizvollzug aktiv sind, die Anstalten aber dennoch sehr unterschiedliche Angebote für die Gefangenen zur Verfügung stellen. Besonders relevant für diese Arbeit ist die Erhebung von Mathiesen und Meier (2021), die im selben Teilprojekt entstand, in dessen Rahmen die Daten dieser Arbeit erhoben wurden.14 Sie erhoben zwischen 2017 und 2018 den Bestand an sekundären und tertiären Präventionsprojekten zu Rechtsextremismus und Islamismus. Insgesamt konnten 96 Projekte recherchiert werden. Diese Anzahl an Projekten stellt damit die Grundgesamtheit von Präventionsprojekten dar, die im Rahmen der vorliegenden, rekonstruktiven Untersuchung von Interesse waren und für Interviews angefragt wurden. Im Jahr 2021 ist außerdem das Ergebnis des Verbundprojektes „MAPEX“ (2021) erschienen, welches Präventions- und Distanzierungsprojekte im Umgang mit islamistischer Radikalisierung erhoben und analysiert hat und eine interaktive Plattform zur Darstellung der Islamismuspräventionsprojekte in Deutschland entwickelte (Freiheit et al. 2021). Sie betrachten für den Zeitraum 2018–2019 insgesamt 985 Projekte und Maßnahmen, die sich mit der Prävention von Islamismus befassen. Dazu zählten sie auch primäre (universelle) Präventionsprojekte. Ganz aktuell und auch aus einem großfinanzierten Forschungsprojekt hervorgegangen, veröffentlichte das Bundeskriminalamt (BKA) im Jahr 2020 den interaktiven ‚Extremismuspräventionsatlas‘. Hierbei handelt es sich um eine Website, auf deren Landkarte alle, durch das BKA erfasste, Extremismuspräventionsprojekte dargestellt werden.15 Wenn auch die Erhebungsparameter in den Studien unterschiedlich angewendet wurden, so kann dennoch eine deutliche Zunahme von Islamismuspräventionsprojekten, im Untersuchungszeitraum dieser Studien ab 2015, festgestellt 14 15

Mehr zum Verbund- und Teilprojekt siehe Kapitel 4.1.2. www.handbuch-extremismuspraevention.de/HEX/DE/Home/home_node.html (Letzter Zugriff: 19.08.2021).

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werden. Bei der Untersuchung von Mathiesen und Meier (2021: 19) zeigte sich, dass bereits über die Hälfte der erhobenen Projekte Maßnahmen gegen Islamismus durchführt (45,8 % Islamismusprojekte, 42,7 % Rechtsextremismusprojekte, 11,5 % agierten phänomenübergreifend). Dieses Ergebnis ist besonders deshalb bemerkenswert, da Rechtsextremismusprävention eine deutlich längere Tradition in Deutschland aufweist (siehe Kapitel 2.1.3). Neben der Kritik, dass es sich bei der Extremismusprävention um ein unübersichtliches institutionelles Feld handele, wird immer wieder die Abwesenheit von Studien moniert, die sich mit dem Erfolg der Ausstiegs- und Deradikalisierungsprogramme auseinandersetzen (Armborst et al. 2019; Armborst 2018; Baaken et al. 2018; Kober 2017; Köhler 2016; Lützinger, Gruber 2017; Mathiesen, Meier 2021; Meier 2020).16 Die Debatten kreisen hier um die unterschiedlichen Messungen und geeignete Evaluationsmethoden. Dabei könnten die Diskussionsstandpunkte kaum unterschiedlicher sein. Die Pole werden besonders zwischen Vertreter*innen von quantitativen und qualitativen Verfahren zur Analyse der Extremismuspräventionspraxis hergestellt. Dies hat unmittelbar Auswirkungen auf die Verwendung der Begriffe. So wird insbesondere von Vertreter*innen des quantitativen Paradigmas mit dem Wirkungsbegriff operiert, der kausale Zusammenhänge zwischen Maßnahme und Präventionserfolg (z. B. gemessen an der Legalbewährung) unterstellt. Vertreter*innen qualitativer Verfahren lehnen den Wirkungsbegriff meist ab und sprechen eher von ‚Folgen‘ (Langer et al. 2021; Dollinger 2018).17 Ein viel diskutierter Begriff ist in diesem Zusammenhang die ‚evidenzbasierte Prävention‘. Eine Evidenzbasierung unterstellt einen wissenschaftlichen Zusammenhang zwischen der Strategie und den angestrebten Ergebnissen (Armborst 2018a; Beelmann 2017). Die wissenschaftliche Diskussion dreht sich in diesem Feld meist um das methodische Instrumentarium oder um den Wirkungsbegriff und dessen Implikationen. Dollinger (2015: 431 ff.) gibt zu bedenken, dass die zunehmende Evidenzbasierung zu einer „normativen Positionierung“ in fachöffentlichen Diskursen geworden sei. Damit ist gemeint, dass die empirisch-wissenschaftlichen Diskussionen immer mehr in kriminalpolitische Diskussionen diffundieren. Evidenzbasierung kann jedoch ethische Abwägungen nicht ersetzen (ebd.: 432). Um die Wirkung einer Maßnahme einschätzen zu können, werden zuvor zahlreiche Risikofaktoren bestimmt, die durch die Maßnahme minimiert werden sollen. Allein die Formulierung solcher Risikofaktoren und die damit einhergehende Ausrichtung präventiver Maßnahmen birgt die Gefahr, dass das 16

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Dieser Diskurs korrespondiert mit den Debatten, die allgemein in der Kriminologie und speziell in der Kriminalprävention geführt werden. Hier geht es generell um die Frage, wie der Erfolg von kriminalpräventiven Ansätzen empirisch untersucht werden kann (siehe z. B. Lukas 2012; Meier 2019; Sherman 1997; Suhling 2018). Auch dieser Diskurs ist nicht auf Deutschland beschränkt, sondern wird auch in Europa und Nordamerika geführt (Bellasio et al. 2018; Lum et al. 2006; Mastroe, Szmania 2016).

‚Risiko‘ entgrenzt und die Maßnahmen auf verschiedenste Formen abweichender Lebensstile angewandt werden (ebd.). Während einige Forscher*innen die Potenziale von qualitativen Methoden für die Beforschung von Wirkungen bzw. Folgen von Extremismuspräventionsmaßnahmen betonen (z. B. Milbradt et al. 2019; Jukschat et al. 2020), sieht Dollinger (2015: 439) wiederum die Gefahr, die in einer solchen Herangehensweise liegt, lediglich anekdotische Geschichten über die Inhalte und den Ablauf der Maßnahmen zu erzählen. Deshalb geht es nach Ziegler (2012: 1066) besonders darum „Verursachensprozesse und -mechanismen in ihrem Kontext zu analysieren und erklärende Deutungsangebote über Wirkungszusammenhänge zu machen“. Die sogenannte PüG-Studie („Entwicklungsmöglichkeiten einer phänomenübergreifend ausgerichteten Prävention politisch motivierter Kriminalität“), die durch das Bundeskriminalamt (BKA) durchgeführt wurde, ist ein Beispiel für die explorative Erforschung der Extremismuspräventionslandschaft. Für die Studie wurden zahlreiche Expert*inneninterviews geführt. Damit wurden erste Erkenntnisse über die Bedarfe und Herausforderungen der praktischen Extremismusprävention geliefert. Die Autor*innen dieser Studie fassen die Perspektive der Interviewten zusammen und leiten daraus konkrete Handlungsvorschläge ab (Lützinger, Gruber 2017: 27 ff.). Sie fordern eine gesamtgesellschaftliche Verantwortungsübernahme, Vereinfachung und Förderung von Kooperationen, dauerhafte Finanzierungen und zielen damit in erster Linie auf strukturell-institutionelle Dimensionen ab. Die Forschungen und Publikationen, die im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ durch das Deutsche Jugendinstitut (DJI) entstanden, sind für diese Arbeit von zentraler Bedeutung. Nicht nur, dass Perspektiven auf Wirkungen qualitativ erhoben wurden, sie wurden auch überwiegend rekonstruktiv ausgewertet (Jukschat et al. 2020). Während Lützinger und Gruber (2017) insbesondere die strukturelle Dimension der Extremismusprävention in Deutschland beleuchten, stellen die Berichte der wissenschaftlichen Begleitung des Programmbereichs „Prävention und Deradikalisierung in Strafvollzug und Bewährungshilfe“ neben strukturellen Erkenntnissen auch komplexe Handlungsfolgen in der tertiären Extremismusprävention dar (Jukschat et al. 2020). Sie rekonstruieren nicht nur die Handlungslogiken der Präventionsakteur*innen, die zwischen Sicherheitslogik und pädagogischem Anspruch hin und her pendeln, sondern konstatieren auch eine ausgeprägte Sensibilität gegenüber dem Islamismus. Wohingegen Rechtsextremismus als etwas mehr oder weniger ‚normales‘ in den Projekten im Strafvollzug verhandelt wird (Herding et al. 2021; Jakob, Leistner 2018; Jukschat et al. 2020a). Der Bericht des Programmbereichs verdeutlicht die Herausforderungen tertiärer Extremismusprävention aus Sicht der Präventionsakteur*innen. Er kann aber diejenigen Stimmen nicht befriedigen, die sich belastbare Aussagen über die konkreten Wirkungen und Erfolgs- bzw. Misserfolgsquoten wünschen. 35

Die bereits 2016 entbrannte Diskussion darüber, inwiefern Erfolge, Wirkungen oder einfach ‚gute‘ Präventionsarbeit methodisch eigentlich gemessen werden können, ist bis heute aktuell (Armborst et al. 2018: 11; Jugl et al. 2021; Lützinger et al. 2020: 614; Köhler 2016; Mathiesen, Meier 2021). Es ist bemerkenswert, dass sich die meisten der wissenschaftlichen Publikationen zu Extremismusprävention mit konzeptionell-wissenschaftlichen Debatten auseinandersetzen. Eine inhaltliche Debatte über wissenschaftliche Einblicke in die Extremismuspräventionsarbeit gibt es nur selten. Wie deutlich geworden sein sollte, bietet die Forschungslandschaft bereits einige Arbeiten an, die sich anwendungsbezogen und (kriminal-)politisch positionierend mit Fragen der Wirkung von Ausstiegsund Deradikalisierungsprogrammen auseinandersetzen. In dieser Arbeit soll jedoch ein Schritt zurückgegangen werden und sich aus grundlagentheoretischer Perspektive, sensibilisiert durch Theorien der Soziologie sozialer Probleme und Kontrolle (siehe Kapitel 3.2) mit der Problematisierung von Radikalisierung und Extremismus durch dessen institutionelle Bearbeitung beschäftigt werden. Dabei soll besonders auch dem begegnet werden, was als vermeintlich selbstverständlich angenommen wird. Ich möchte dies an folgendem definitorischen Zitat veranschaulichen, welches auf wichtige empirische und konzeptionelle Arbeiten der Extremismusprävention verweist: „Unter Deradikalisierungsprogrammen werden dabei zunächst Programme verstanden, welche an radikalisierte Personen mit dem Ziel gerichtet sind, diese Personen zur Einstellungsänderung zu bewegen und sie wieder in die Gesellschaft zu integrieren oder zumindest von direkter (physischer) Gewaltausübung abzubringen (Horgan 2008; ISD 2010). Anders als bei den meisten präventiven Ansätzen geht es in der Regel um die Arbeit mit einzelnen Personen (El-Mafaalani et al. 2016: 15; Trautmann & Zick 2016: 8; vgl. Kapitel 5 in Ben Slama & Kemmesies 2020)“ (Zick et al. 2021: 16).

Daran anknüpfend stellt sich die Frage, was unter einer radikalisierten Person, sowohl wissenschaftlich als auch fachpraktisch eigentlich verstanden wird. Welche (Einstellungs-)Änderungen werden tatsächlich bei den Individuen angestrebt? Was macht die Arbeit mit den vermeintlich radikalisierten Personen konkret aus? Gerade, weil es in dieser Arbeit um die Problematisierung von Extremismus und Radikalisierung durch dessen institutionelle Bearbeitungsstrategie gehen soll, werden nun die gängigen wissenschaftlichen Diskurse zum Verständnis von Extremismus und Radikalisierung präsentiert, bevor die wissenschaftlichen Konzepte der individuell-orientierten Problemlösung zusammengefasst werden. Die Darstellung der phänomenologischen Konzepte der Präventionspraxis (Verständnis von Radikalisierungs- und Deradikalisierungsprozessen) dient dazu, dass in der empirischen Analyse der Einfluss der Konzepte, ihre Veränderung oder auch Bearbeitung in den Deutungen der Präventionsakteur*innen und Adressat*innen nachgegangen werden soll. Es wird zwar davon ausgegangen, dass 36

Problemdefinitionen bereits in den Konzeptionen der Präventionsmaßnahmen berücksichtigt werden, dennoch wird professionelles Wissen (und die darin enthaltenen Problemdefinitionen) durch seine Anwendung in den Maßnahmen und den Interaktionen mit den Adressat*innen verändert, verworfen und neu gebildet. Ebendiese Vorgänge sind es, die in dieser Arbeit interessieren. Dafür muss zunächst das professionelle (wissenschaftliche) Wissen um die problematisierten Phänomene Extremismus, Radikalisierung, Rechtsextremismus und Islamismus dargestellt werden.

2.2

Extremismus und Radikalisierung als staatlicher Interventionsbedarf im Spiegel des Forschungsstandes

In diesem Abschnitt geht es um eine knappe Darstellung einschlägiger Extremismus- und Radikalisierungstheorien im Sinne dominierender (wissenschaftlicher) Konzepte der Präventionspraxis sowie ihrer zentralen Diskussionen. Daran kristallisiert sich schließlich das professionelle Wissen, welches wissenschaftliche Konzepte zur „Umkehr von Radikalisierung“ (Köhler 2016: 426) anleitet und damit Einfluss auf Ausstiegs- und Deradikalisierungsprogramme hat. Wenn auch die folgenden Zusammenfassungen der zentralen wissenschaftlichen Diskurse und Konzepte zu Extremismus, Rechtsextremismus und Islamismus sowie dem Begriff der Radikalisierung als diskursive Konstruktionen18 verstanden werden, so wird in dieser Arbeit trotzdem mit ebenden Begrifflichkeiten operiert.19 Bei der Betrachtung der wissenschaftlichen Konzepte zu den Begriffen wird vor allem eines deutlich: Uneinigkeit. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Extremismus und Radikalisierung ist zu einem beliebten Tätigkeitsfeld geworden, aus dem zahlreiche Publikationen hervorgegangen sind. Schon allein deshalb kann es hier gar nicht um eine auf Vollständigkeit zielende Zusammenschrift wissenschaftlicher Forschungsergebnisse und Debatten gehen. Stattdessen werden im Folgenden, die zentralen Wissenschaftsdiskurse und deren forschungsleitende Annahmen herausgearbeitet.

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Dieser Begriff wird in Anlehnung an die wissenssoziologische Diskursanalyse nach Keller (2011) verwendet und in Kapitel 3.2.1 erläutert. Auf diese Weise soll besonders für die Leser*innen der vorliegenden Arbeit eine bessere Nachvollziehbarkeit gewährleistet werden.

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2.2.1 Extremismus Der Extremismusbegriff ist wohl der populärste Begriff, um politische Gruppen und Einstellungen, die stark von den Normen und Werten der jeweiligen Gesellschaft abweichen, beschreibbar zu machen. Wenn es auch zahlreiche Definitionen und Verständnisweisen zu dem Begriff gibt, die stark von der wissenschaftlichen Perspektive der Definierer*innen abhängt, besteht zumindest ein Konsens darüber, dass es sich um eine Beschreibung von abweichendem Verhalten handelt (Bötticher, Mareš 2012: 58). Der Extremismusbegriff wird häufig synonym zu Terrorismus und Radikalität verwendet. Dabei geht es immer um die Erfassung eines Verhaltens, das sich unterschiedlich weit vom Bereich des (politisch) ‚Normalen‘ bewegt, wodurch er immer auch als normativer Begriff zu begreifen ist (ebd.: 51).20 Über den Zustand der sozialen bzw. politischen Abweichung hinaus, wohnt dem Begriff im öffentlich-medialen und sicherheitsbehördlichen Sprachgebrauch eine, die Sicherheitsordnung bedrohende, Interpretation inne (Döhlemeyer, Mehrer 2011: 10). Die Verfechter*innen des Extremismusbegriffes definieren ihn ex negativo, also als Abweichung von den Grundgedanken des Verfassungsstaates (z. B. Beelmann 2017; Jesse, Mannewitz 2018; Backes 2006; Backes, Jesse 2005; Kailitz 2004). In dieser Manier wird er also immer dann verwendet, wenn es darum geht, Feind*innen der Demokratie auszumachen (Döhlemeyer, Mehrer 2011: 10). Darüber hinaus wird auf diese Weise eine politische Ordnung hergestellt, welche vom sogenannten „Hufeisen-Modell“ repräsentiert wird. Innerhalb dieses Modells wird von einer Mitte ausgegangen, die einerseits als politische Mitte der Gesellschaft zu verstehen ist und andererseits eine gesellschaftliche Mehrheit darstellt. An den Enden des Hufeisens (und den Rändern der Gesellschaft) liegen demnach Rechtsextremismus und Linksextremismus (ebd.). Die Ausprägungen Rechtsextremismus und Linksextremismus stehen sich in der Darstellung gegenüber, werden also auch als sich gegenüberstehende Pole verstanden, die durch in sich homogene Gruppen repräsentiert werden. Der Streit zwischen den Verfechter*innen des Extremismuskonzeptes und jenen, die es ablehnen, wird bereits seit vielen Jahren geführt (Butterwegge 2002; Kopke, Rensmann 2000; Neugebauer 2000; Pfahl-Traughber 2001). Wie das Hufeisenmodell bereits nahelegt, beinhaltet das Extremismuskonzept phänomenologische Unterscheidungen, die als Rechtsextremismus und Linksextremismus kategorisiert werden. In einschlägigen Überblickspublikationen (Bötticher, Mareš 2012; Hasche 2018; Neumann 2013) werden die Anschläge vom 11. September 2001 als historischer Marker genommen, um darüber hinaus auch den Islamismus als eine Form von Extremismus zu beschreiben. Er lässt sich nicht direkt in das Hufeisenmodell 20

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Zur deutschsprachigen Debatte um den Extremismus Begriff, dessen Historie und seinen populärsten Kritiken siehe Bötticher (2017), Jesse, Mannewitz (2018), Teune (2018).

integrieren und wird deshalb mal als religiöser und mal als politischer Extremismus definiert (Bötticher, Mareš 2012; Jesse, Mannewitz 2018). Im Rahmen dieser Arbeit sind die Überlegungen, die das Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (2011) in einem Sammelband anstellte, am bedeutendsten. Sie unterscheiden zwischen ‚Extremismus‘ als einer Praktik, die von anderen so bezeichnet wird, und der diskursiven Ebene, also den diskursiven Konstruktionen durch politische, wissenschaftliche und öffentliche Alltagsdiskurse (Döhlemeyer, Mehrer 2011; Klärner, Kohlstruck 2006: 14). Immer wieder gibt es Vorschläge, Begriffe wie Extremismus aufgrund seiner problematischen Implikationen nicht länger zu verwenden (siehe z. B. Teune 2018). Betrachtet man diese Begriffe jedoch als diskursive Konstruktionen, dann können inhaltliche Debatten überwunden und konzeptuelle Implikationen beleuchtet werden. In diesem Sinne werden auch die weiteren hier zu klärenden Begriffe wie Rechtsextremismus, Islamismus und Radikalisierung verstanden. Die folgenden Ausführungen dienen dazu, zu demonstrieren, wie Rechtsextremismus, Islamismus und Radikalisierung innerhalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzung diskursiv konstruiert werden. Bevor Rechtsextremismus und Islamismus als phänomenologische Ausprägungen von Extremismuskonzept beschrieben werden, soll der Begriff Radikalisierung mit seinen wissenschaftlichen Konzepten eingeführt werden.

2.2.2 Radikalisierung Kühle und Lindekilde (2012: 160 f.) verweisen darauf, dass sich der Radikalisierungsbegriff bei der Erforschung von politischem und religiösem Extremismus zu einem zentralen Konzept entwickelt habe. So werden beide Begriffe teilweise synonym oder zur wechselseitigen Erklärung verwendet, wenn beispielsweise Radikalisierung als ein Prozess beschrieben wird, der zu extremistischen Einstellungen führt (Baaken et al. 2018: 7). Dabei wird ‚radikal‘ als Beschreibung für die Unterschiede zwischen sogenanntem ‚kognitiven‘ und ‚gewaltbereiten‘ Extremismus eingesetzt – was nicht weniger zu Unklarheiten führt und mit dem folgenden Zitat veranschaulicht werden soll: „Auch der Begriff des ‚kognitiven Extremismus‘ ist jedoch alles andere als klar. Die Worte ‚radikal‘ und ‚extrem‘ als Bezeichnung für bestimmte Ideen, Ziele und Wertvorstellungen besitzen keine universelle Gültigkeit. Sie setzen ein Wissen darüber voraus, was in einer bestimmten Gesellschaft oder zu einem gewissen Zeitpunkt als ‚moderat‘ oder ‚Mainstream‘ gilt. Was die eine Gesellschaf für ‚radikal‘ hält, das gehört in einer anderen zum allgemeinen Konsens. Und was heute als ‚extremistisch‘ gilt, ist vielleicht morgen schon unverrückbarer Teil der staatlichen Ordnung“ (Neumann 2013: 4).

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Neumann macht hier auf die Normativität der Begriffe und Konzepte aufmerksam und spiegelt damit einen wichtigen Strang der kritischen Auseinandersetzung mit ihnen wider. Immer wieder weisen zentrale Extremismus- und Radikalisierungsforscher*innen darauf hin, dass sowohl bei dem Begriff des Extremismus als auch bei der Radikalisierung zwischen ‚gewaltbereit‘ und ‚ideologisiert‘ unterschieden werden müsse (z. B. Borum 2011; Beelmann 2017; McClauley, Moskalenko 2017). Im Dickicht der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zu diesen Themen gerät jedoch genau diese Unterscheidung immer wieder ins Wanken. So heißt es beispielsweise bei Srowig et al. (2018: 1): „Gleichwohl untersuchen die meisten Studien die Radikalisierung einzelner Gewalttäter und Gewalttäterinnen, um zu ergründen, welche Prozesse bei der Internalisierung extremistischer Denkmuster wirken und wie radikale Einstellungen bzw. Ideologien zur Legitimierung von Gewalt beitragen können“.

Hier wird deutlich, dass ‚radikale‘ Einstellungen als Grundlage für Radikalisierung verstanden werden. Der Radikalisierungsbegriff selbst richtet sich jedoch an der Annahme eines Prozesses in Richtung Gewalttat aus bzw. stellt dar, dass Radikalisierung meist bei radikalisierten Gewalttäter*innen untersucht werden würde. Beelmann et al. (2017: 441) definieren Radikalisierung wie folgt: „Entwicklungsprozess (…), an dessen Ende eine von geltenden Rechtsnormen signifikant abweichende extremistische Grundhaltung steht, die auf eine gewaltsame Änderung bestehender gesellschaftlicher und staatlicher Verhältnisse ausgerichtet ist“.

Radikalisierung wird bei Beelmann et al. (2017) als Entwicklungsschritt zum Extremismus gedeutet. Dabei richtet sich diese Definition im Gegensatz zur vorangegangenen an der Gewaltbereitschaft aus und nicht an begangenen gewalttätigen Handlungen, die als extremistisch oder radikal interpretiert werden. Es wird also schon an diesen zwei Beispielen deutlich, dass der Begriff Radikalisierung vor allem eines ist, nämlich eine „source of confusion“ (Sedgwick 2010: 479). Obwohl oder vielleicht gerade, weil der Begriff eine hohe Ambiguität aufweist, dominiert er seit einigen Jahren nicht nur die Politik und die Öffentlichkeit, sondern auch die Forschung (Jukschat, Leimbach 2020; Kundnani 2012; Sedgwick 2010, Ravn et al. 2019). Dabei wird der Begriff mit dramatisierenden Bedeutungen aufgeladen, um die Relevanz, sich mit ihm auseinanderzusetzen, zu unterstreichen. So definiert Neumann (2008: 4) in einer vielzitierten Arbeit Radikalisierung als einen Prozess „what goes on before the bomb goes off“. Häufig wird Radikalisierung mit Terrorismus in Verbindung gebracht, indem Radikalisierung als Endpunkt eines terroristischen Aktes gedacht wird (Jukschat, Leimbach 2020: 339).21 21

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Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Terrorismusbegriff siehe Bötticher, Mareš (2012: 60 ff.) oder auch Quent (2016).

Neben der Uneinigkeit zur Stellung der Gewalt, wird auch das Verhältnis von Ideologie und sozialem Kontext bzw. individueller und gesellschaftlicher Erklärungen diskutiert (Srowig et al. 2018). Einigkeit herrscht am Ende lediglich darüber, dass es sich bei Radikalisierung um einen Prozess bzw. um eine Entwicklung handelt. Sowohl individuelle, psychologische oder auch gesellschaftskontextuelle Ansätze suchen nach einer Erklärung und Modellierung für Radikalisierung. Die Perspektiven der dominanten Radikalisierungsforschung sind damit stark ätiologisch ausgerichtet und korrespondieren mit der dominanten Herangehensweise an abweichendes Verhalten in der Kriminologie, welche ebenfalls meist die Gründe für und Empfehlungen gegen Devianz und Delinquenz22 beinhalten.23 Im Folgenden werden die populärsten Erklärungsmodelle von Radikalisierung kursorisch und durch kritische Perspektiven angeregt, zusammengefasst. Das Gros der gängigen Radikalisierungstheorien stellt typischerweise auf islamistische Radikalisierung ab (Logvinov 2019: 24). Im Zentrum der Theorien stehen Individuen, die sich den Radikalisierungsmodellen nach linear und prozesshaft radikalisieren (ebd.). Je nach Modell werden ganz unterschiedliche Dimensionen oder Faktoren zu unterschiedlichen Zeitpunkten als wichtig erachtet, um Radikalisierung als Prozess zu bestimmen. Dieser Determinismus wird oft schon begrifflich sichtbar: So spricht Borum (2011) vom „Vier-Stufen-Modell“, Moghaddam (2005) vom „Treppenhaus-Modell“ oder Wiktorowicz (2005) vom „Vier-Phasen Modell“ (Jukschat, Leimbach 2020: 337 f.). Andere Autor*innen orientieren sich stärker an der Bewegungsforschung und ordnen Faktorenoder Mechanismensets auf der Mikro-, Meso- und Makroebene an – wie das Zwölf-Mechanismen-Modell von McClauley und Moskalenko (2008) oder der Multidimensionenansatz von Gill (2007) (ebd.). Das Prinzip aller Modelle ist in erster Linie Komplexitätsreduktion und die Entwicklung einfacher Erklärungsansätze, die produktiv in der Extremismusbekämpfung eingesetzt werden können. Da heißt es dann, es käme auf die drei „I’s“ (Walther 2014) – injustice, ideology, ingroup – oder die drei „N’s“ (Webber,

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Die Begriffe Devianz und Delinquenz stammen aus sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit abweichenden Verhalten. Dabei ist Devianz der (sozialwissenschaftliche) Fachbegriff für abweichendes Verhalten, welcher in Relation zu sozialen Normen und kodifizierten Normen steht (Lamnek 2017: 14 ff.). Delinquenz wird als Spezialfall von Devianz konzeptioniert: „Der Begriff konkurriert mit dem der Kriminalität und steht für das Bestreben, Normverstößen junger Menschen das unangemessene Stigma ‚kriminell‘ zu ersparen“ (Plewig 2008: 222). In einem ähnlichen Sinn wird der Begriff ‚Delinquenz‘ synonym für den Begriff ‚Kriminalität‘ verwendet. Die Parallele zur Kriminologie wird an dieser Stelle deshalb gezogen, weil sowohl Extremismus als auch Radikalisierung konsensuell als Formen von abweichenden Verhalten verstanden werden. Der Begriff ‚ätiologisch‘ stammt aus der Kriminologie und beschreibt jegliche wissenschaftliche Ansätze, die versuchen theoretisch oder empirisch Delinquenz zu erklären (Lamnek 2017).

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Kruglanski 2016) – needs, narratives, networks – an (Jukschat, Leimbach 2020: 337 f.). Es haben sich hier vor allem psychologische und kriminologische Perspektiven durchgesetzt, die Radikalisierung als ein Problem der inneren Sicherheit fassen (Borum 2012; Githens-Mazer 2012). Darüber hinaus liegt den Annahmen von islamistischer und rechtsextremistischer Radikalisierung eine Annahme zugrunde, die beide Probleme als Ergebnis von individuellem Anerkennungs- und/oder Statusverlust betrachtet. Besonders bekannt ist im Zusammenhang mit rechtsextremistischer Radikalisierung die Desintegrationshypothese von Heitmeyer (2002–2012) und Kolleg*innen. In einer regelmäßig aufgelegten quantitativen Befragung wird untersucht, inwiefern gesamtgesellschaftliche Entwicklungen der Moderne, wie etwa Individualisierung und relative Deprivationen bestimmter Gruppen (rechts-)extremistischen Verhalten beeinflussen. Hierbei ist bemerkenswert, dass ‚Radikalisierung‘ im Kontext von Rechtsextremismus immer öfter durch den Begriff der ‚Hinwendung‘ ersetzt wird (Glaser 2017).24 In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff der ‚Modernisierungsverlierer*innen‘ geprägt. Die These politischer Unzufriedenheit und die Sorge vor Statusverlust führten demnach weiter zu extremistischem Verhalten (Best et al. 2016; Lubbers et al. 2002). Gerade in soziologischen Arbeiten zu Extremismus und Radikalisierung wird daran anschließend die Gesellschaftstheorie zum „Kampf der Anerkennung“ von Honneth (1994) angeführt, um individuelle Radikalisierung zu erklären und zu verstehen.25 Die sozialpsychologischen Pendants zu diesen Annahmen finden sich auch im ‚Stufenmodell zum Terrorismus‘ (Moghaddam 2005) und im Modell der differentiellen Pfade der Radikalisierung (McCauley, Moskalenko 2008, 2011). Besonders häufig zitiert, wird auch die ‚Significance Quest Theory‘ von Kruglanski et al. (2016, 2017). Ebenso die internationale Arbeit „The Psychology of Terrorism“, in der der Autor auf die rational-choice Kriminologie zurückgreift und Terrorismus aus einer Perspektive individuell-rational getroffener Entscheidung heraus erklärt (Horgan 2005). Diese Entscheidungen würden zwar aus einem Wechselspiel prozesshafter Abläufe entstehen, sie seien letztlich aber auf individuell abgewägte Entscheidungen zurückzuführen (ebd.: 81). Damit legte Horgan (ebd.) einen Grundstein für die starke Fokussierung auf das radikalisierte Individuum. 24

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Radikalisierungs- und Hinwendungswege werden zwar allgemein als Konzepte der Integration in extremistische Szenezusammenhänge verwendet und dabei oft auch synonym für Rechtsextremismus und Islamismus verwendet, Forschungsergebnisse zeigen aber, dass die Ausprägungen rechtsextremistischer und islamistischer Radikalisierung durchaus unterschiedlich sind (Glaser 2017). So auch im empirisch-kritischen Beitrag von Jukschat und mir. Anhand eines Einzelfalls rekonstruieren wir dort, wie bestehende Radikalisierungsmodelle bei tiefgehender (rekonstruktiver) Betrachtung nicht zwangsläufig standhalten können. Dennoch lässt sich anhand des Falles beobachten, dass die Selbstpräsentation des Interviewten auch auf einen spezifischen Bedarf an Anerkennung zurückzuführen ist (Jukschat, Leimbach 2020).

Insbesondere die Radikalisierungstheorien nehmen meist zeithistorischen Bezug auf die terroristischen Akte vom 11. September 2001 und stellen damit einen direkten Bezug zum Islamismus und oft auch zum Islam im Generellen her (Leschkar 2019; Ali 2015; Kundnani 2015). Das Wissen der wissenschaftlichen Modelle zu Radikalisierungsverläufen und -faktoren wird zunehmend zur Erstellung von Instrumenten zur Risikobeurteilung genutzt (Lösel et al 2018). Solche Risikoeinschätzungsinstrumente, wie das „Terrorist Radicalization Assessment Protocol“ (TRAP-18) nutzen psychische Kategorien und sollen Erkenntnisse über gefährdende Individuen liefern (Jukschat, Leimbach 2020: 337; Logvinov 2019: 2). Noch einen Schritt weiter geht jener Trend in der Radikalisierungsforschung, der versucht Zusammenhänge zwischen Radikalisierung und psychologischen Erkrankungen zu finden (z. B. Bhui 2021; Kudlacek 2018, Logvinov 2019; Misiak et al. 2019). Dabei kommen jedoch immer wieder Wissenschaftler*innen zu dem Schluss, dass sich keine Kausalität herstellen lässt (jüngst hierzu Trimbur et al. 2021). Es scheint sich hierbei vielmehr um einen Diskurs zu handeln, der psycho-pathologisch-definierte Abweichungen und politisches abweichendes Verhalten miteinander verbindet. Dadurch entsteht eine Konnotation, die Oppenhäuser (2011: 48) kritisch als einen Antagonismus zwischen „Abweichung – Extrem – Krank“ einerseits und „Normal – Mitte – Gesund“ andererseits betrachtet (Jukschat, Leimbach 2020: 338). Auf diese Weise werde, so wird verschiedentlich angemerkt, das Extremismuskonzept mit seiner hufeisenförmigen Gesellschaftsvorstellung reproduziert (Falter 2011; Oppenhäuser 2011; Schmidt-Kleinert 2018). Diese konzeptionellen Trends zur Individualisierung, Linearisierung und Pathologisierung, wenn es um Radikalisierung geht, treten in besonderer Formation dann auf, wenn Radikalisierung im Kontext von Strafvollzug thematisiert wird (Jukschat, Leimbach 2020). Auch in diesem Zusammenhang wird sich überwiegend auf Islamismus konzentriert (Hoffmann et al. 2017; Matt, Lisitzki 2017). So stünden Inhaftierte in der Gefahr, sich während ihres Aufenthaltes im Strafvollzug sowohl auf ideologischer Ebene, in Form von Rechtfertigungs- und Neutralisierungstechniken, als auch auf der Handlungsebene, in Form von Aneignung besonderer ‚skills‘, wie etwa dem Umgang mit Waffen, zu radikalisieren (Basra et al. 2016; Jukschat, Leimbach 2020: 339). Hier kristallisiert sich schließlich die Nähe von Radikalisierungskonzepten und Präventionsansätzen heraus. Denn als Ergebnis dieser Thematisierung von Bedrohungen durch islamistische Radikalisierung in Haft sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Deradikalisierungsprogramme für Gefängnisse aufgelegt worden (BMBFSJ 2017; Jukschat et al. 2020; Ronco et al. 2019). Damit sind Präventions- und Interventionsmaßnahmen im Strafvollzug ebenfalls zu einem Betätigungs- und Diskursfeld für Politik, Medien und Wissenschaft geworden. Besonders kritisch wird die zunehmende Fokussierung auf den Islamismus betrachtet, der mit einer starken sicherheitsbehördlichen Logik einhergeht (Ali 2015; 43

Kundnani 2015; Larsen 2019; Leschkar 2019; Sedgwick 2010; Stampnitzky 2011). Forscher*innen konstatieren, dass ‚Radikalisierung‘ kein wissenschaftlich-analytischer Begriff sei und sich jeglicher Erklärungskraft entziehe (Coolsaet 2019). Und dennoch ist der Begriff der Radikalisierung, mit all seinen Implikationen, zu einem zentralen wissenschaftlichen Konzept geworden, welches einen anscheinend nicht abreißenden Strom an Publikationen evoziert (Crone 2016; Fadil et al. 2019). Dabei wird insbesondere gefordert, dass Radikalisierungsforschung abseits von Sicherheitsinteressen möglich sein muss (Koshrokhavar 2016) und alternative, empirisch-fundierte Beschreibungen zulässig sein sollten (Jukschat, Leimbach 2019, 2020). Gerade in Bezug auf Prävention fragen z. B. Matt und Lisitzki (2021: 23) pointiert, ob Radikalisierungsprävention nun als Gefahrenabwehr verstanden wird oder als Form der Wiedereingliederung. Diese Frage wird in der Literatur abhängig von der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin sehr unterschiedlich beantwortet. Dennoch wird durchaus auch von ätiologisch-denkenden Wissenschaftler*innen darauf hingewiesen, dass gerade die Forschung zu Radikalisierungsfaktoren die Gefahr beinhalte, dass es in der Diskussion zu einem Spezifitätsproblem kommt, da nicht alle Personen, die in diese ‚Raster‘ fallen tatsächlich radikalisiert oder gewaltbereit sind (Pisoiu 2013: 48; Jost 2017: 82). Dies führt wiederum dazu, dass die Prävention von Radikalisierung zunehmend entgrenzt wird und Forderungen etabliert werden, die Radikalisierungsprävention bereits bei acht bis zwölf-jährigen Kindern empfehlen (Beelmann 2017: 205). Im Folgenden soll kursorisch herausgearbeitet werden, welche zentralen Debatten Rechtsextremismus und Islamismus konzeptuell bestimmen. Dabei werden keine phänomenologischen, theoretischen Beschreibungen vorgenommen, die sich mit der Geschichte von Gruppierungen, den verschiedenen ideologischen Ausprägungen oder den Gefährdungspotenzialen, gemessen an den Verfassungsschutzberichten, beschäftigen.26 Stattdessen erfolgt auch im Folgenden eine Zusammenfassung zentraler (empirischer) Arbeiten und Diskurse.

2.2.3 Rechtsextremismus Im Folgenden werden einige Forschungsarbeiten zum Thema Rechtsextremismus vorgestellt. Hierbei wurden jene ausgesucht, die besonders für diese Arbeit zentral sind, weil sie entweder gängige Konzeptualisierungen von Rechtsextremismus repräsentieren oder weil sie mit ähnlichen methodischen Ansätzen gearbeitet haben. Damit soll veranschaulicht werden, wie Rechtsextremismus als eine phänomenologische Ausprägung von Extremismus und Radikalisierung erfasst wird. 26

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Für solche Darstellungen zum Rechtsextremismus siehe Gomolla et al. (2018), Bötticher, Mareš (2012: 295), Quent (2019, 2020), Virchow et al. (2016) und zu Islamismus siehe Ceylan, Kiefer (2018), Hasche (2018).

„Der Rechtsextremismus ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im politischen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen“ (Decker, Brähler 2006: 21).

Es handelt sich hierbei um eine gängige Definition, die veranschaulicht, welche Elemente bei der Konkretisierung für wichtig erachtet werden. Wieder taucht das Wort Einstellung als zentrale Beschreibung, die eine Trennung zwischen einer (ideologischen) Gedankenwelt und dem tatsächlichen Handeln schafft, auf. Es werden Ungleichwertigkeitsvorstellungen als zentrales Kriterium für eine rechtsextremistische Gedankenwelt konzeptualisiert, welche in der Regel über inhaltliche Bezüge zum deutschen Nationalsozialismus ab 1930 hergestellt wird. Eine überwiegende Anzahl der empirischen Arbeiten zum Rechtsextremismus untersucht die Einstellungsebene (Birsl 2011: 241). Unter der Einstellungsebene werden Auseinandersetzungen verstanden, bei denen die ideologischen Versatzstückelungen und deren empirisch-quantitative Verteilung in der Gesellschaft im Vordergrund stehen (Jaschke 2001: 30). In diesem Zusammenhang sind insbesondere die quantitativen Arbeiten von Heitmeyer (2002–2012) zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF)27 und die Studien von Decker et al. (2008–2018) zu benennen. Die klare Unterscheidung zwischen Einstellungsund Verhaltensebene wird vor allem durch quantitative Sozialforscher*innen getroffen, interpretative Arbeiten hingegen operieren an dieser Stelle mit anderen Begrifflichkeiten, die weniger normativ aufgeladen und eher methodologisch konzeptionell angelegt sind (Sigl 2018: 56). So sollte berücksichtigt werden, „dass (…), rechtsextrem orientiert sein mit jeweils unterschiedlichen Erfahrungen verbunden und deshalb individuell definiert ist“ (Köttig 2004: 109). In gewichtigen empirisch-qualitativen Arbeiten werden vor allem die Bedeutung der Gruppenkonstellationen und deren Dynamiken für rechtsextremistisch-definierte Personen hervorgehoben. Zentrale Ergebnisse dieser qualitativen Arbeiten zeigen, wie Zugehörigkeit (siehe auch Kapitel 2.2.2) zu Peers, eine anschließende Vergemeinschaftung und die Geschlossenheit der Gruppen den Reiz eben jener Gruppierungen ausmachen (Bjørgo 2009; Hitzler, Niederbacher 2010; Sigl 2018: 67). Interessant ist, dass besonders bei den qualitativen Arbeiten auch die nicht-politischen Beweggründe rechtsextremistische Orientierungen zu leben, hervorgehoben werden (Bjørgo 2011). Die international oft rezipierten Arbeiten zum Einstieg in und Ausstieg aus dem Rechtsextremismus wurden von Bjørgo (2009, 2011) vorgelegt. Der norwegische Wissenschaftler führte zahlreiche Interviews mit Personen, die auf ganz unterschiedliche Weise rechtsextremis27

Die Bezeichnung der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit war ein Versuch den Rechtsextremismusbegriff zu reformieren und auf die inhaltliche Ebene abzustellen.

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tisch-definiert sind oder waren. Er prägte schließlich die Begriffe ‚Engagement‘ und ‚Disengagement‘ (siehe auch Kapitel 2.3.2). Die deutschen Pendants dazu sind die Begriffe ‚Hinwendung‘ und ‚Ausstieg‘ (Glaser et al. 2018; Möller, Wesche 2014; Rieker 2014). Diese Bezeichnungen wurden vor allem von sozialpädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Seite her geprägt und werden ausschließlich im Kontext von Rechtsextremismus verwendet.28 Die verbreitetste Erklärung für Rechtsextremismus stammt von Heitmeyer (1987) und wird als Desintegrationsthese formuliert. Damit hat sich eine Perspektive entwickelt, die Rechtsextremismus zuvorderst bei jugendlichen deutschen Männern, die sich gesellschaftlich abgehängt fühlen, verortet (Sigl 2018: 70). Bildungsbenachteiligung, Sozialisation im Osten und spezifische Männlichkeitsvorstellungen haben als Erklärungsmuster nicht nur die 1990er Jahre in der Rechtsextremismusforschung dominiert, sondern sind bis heute wirkmächtige Diskurse (Glaser et al. 2018; Köttig 2004: 20 ff.). Aus einer interpretativen Perspektive haben sich vor allem Inowlocki (2000) und Köttig (2004) sowie Sigl (2018) dem Thema Rechtsextremismus genähert. Hierbei vertreten die drei Autorinnen die Perspektive, dass „[d]ie Frage bleibt, auf welche Weise rechtsextreme Handlungen und Orientierungen den Beteiligten Sinn machen und wie sich dieser Sinn auswirkt“ (Inowlocki 2000: 18). Sowohl Inowlocki als auch Köttig nähern sich diesem Anspruch über die Rekonstruktion lebensgeschichtlicher Entstehungsprozesse von Rechtsextremist*innen. Sigl (2018) hat ebenfalls eine biografietheoretische Perspektive, die sie jedoch um eine geschlechterreflektierende Perspektive ergänzt. Sigls (2018) Arbeit ist auch deshalb bedeutend für die vorliegende Untersuchung, da sie ebenfalls biografisch-narrative Interviews mit Aussteiger*innen führte. Sie verfolgt jedoch einen stärker biografischen Ansatz, der den Wandlungen ehemals rechtsextremistisch-definierter Personen nachgeht. Diese benannten rekonstruktiven Arbeiten haben interessanterweise oft einen geschlechterreflektierenden Ansatz, obwohl Rechtsextremismus wissenschaftlich stets als männliches Phänomen untersucht und konzipiert wurde (Schuhmacher 2011; Rommelspacher 2001). Birsl (1994) und Stiller (1997) nehmen zunächst einmal Heitmeyers Desintegrationsthese auf und führen diesen weiter aus, indem sie die Herausbildung rechtsextremer Orientierungen bei jungen Frauen untersuchen. Sie erklären Rechtsextremismus bei weiblichen Personen schließlich als Ergebnis einer doppelten Benachteiligung, die neben einer sozial-ökonomisch 28

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Die sozialpädagogische und erziehungswissenschaftliche Forschung zu Rechtsextremismus hat eine lange Tradition in Deutschland und hat vor allem sozialisationstheoretische Ansätze zur Erklärung oder Beschreibung von Rechtsextremismus geprägt (Rieker 2014). Aktuell wird diese Forschungstradition besonders durch Wissenschaftler*innen des Deutschen Jugendinstitutes (DJI) in Deutschland vertreten. Einige der Arbeiten legen dabei einen starken Fokus auf die Beforschung von Rechtsextremismus durch die Brille seiner institutionellen Bearbeitbarkeit (z. B. Glaser, Greuel 2012).

deprivierten Situation auch die generelle Benachteiligung von Frauen beinhalte. Dies wird von Döhring und Feldmann (2004: 64) sowie Sigl (2018: 70) kritisiert, da dieses Erklärungsmuster auch als Entschuldigung für gewalttätige und rassistische Handlungsweisen bei Frauen gelesen werden können. Sigls (2018) Studienergebnisse zu diesem Phänomen fallen dagegen komplexer aus. Nach der Rekonstruktion der Lebensgeschichten und den Transformationsgeschichten der ehemaligen Rechtsextremist*innen kommt sie zu dem Schluss, dass in ihrer Untersuchung die Unterschiedlichkeit der biografischen Erfahrungszusammenhänge in denen keine Vereinheitlichungen der Bedeutungszuweisung von Geschlecht vorgenommen werden kann, den vereinheitlichenden Rechtsextremismustheorien gegenüberstehe. Sie warnt dahingehend davor, in empirischen Untersuchungen von Rechtsextremismus zur „Reifizierung von heteronormativen Geschlechterkonstruktionen beizutragen“ (ebd.: 336). Zwei weitere zentrale interpretative Arbeiten rekonstruieren vordergründig die Bedeutung der Familienkonstellation der Interviewten. So interpretiert Inowlocki (2000: 364) Rechtsextremismus auf Basis ihrer interpretativen Biografieanalyse deshalb als politischen Protest und einer Reinszenierung historischer Begebenheiten mit nostalgischen Momenten. Köttig (2004) wählt einen ähnlichen methodischen Zugang und begründet rechtsextremistische Orientierungen auf Basis ihrer Analyse damit, dass instabile Familienverhältnisse, unbearbeitete familiengeschichtliche Themen der NS-Vergangenheit und außerfamiliäre kollektivierende Gelegenheitsstrukturen zusammenfallen. Stärker modellierend arbeiten Möller und Schuhmacher (2007), indem sie die Konzepte ‚Einstieg‘ und ‚Ausstieg‘ auf der Basis von Interviewdaten mit rechtsextremistisch-definierten Personen erarbeiten. Auf Basis unterschiedlicher Interviewverfahren stellen sie fest, dass die „Hinwendungsphase“ (ebd.: 127 ff.) überwiegend in der Frühadoleszenz zwischen dreizehn bis fünfzehn Jahren stattfinde. Auch autoritäre Erziehungsstile und instabile Familienverhältnisse wurden bereits in der frühen Forschungswelle zu Rechtsextremismus problematisiert (Hafeneger 1993; Heitmeyer, Müller 1995; Hopf 1995; Rieker 1997) und werden auch weiter in jüngeren Studien als bedeutende Faktoren erklärt (Lützinger 2010; Möller, Schuhmacher 2007; Miliopoulus 2017; Simi et al. 2016; Zick 2017). Zudem wird davon ausgegangen, dass die ‚rechte Szene‘ insbesondere versuche, Jugendliche anzuwerben und zu diesem Zweck jugendspezifische Angebote schaffe, die auch als „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ (Glaser, Pfeiffer 2017) bezeichnet wurden (Rieker 2009). Es seien überwiegend männliche Jugendliche, die sich von den rechtsextremen Gemeinschaftsangeboten angezogen fühlten (Schuhmacher 2011). Eine weitere empirisch überprüfte These stellt die sozialräumliche Gelegenheitsstruktur dar. Wer in der Nähe von rechtsextremen Gemeinschaftsangeboten aufwachse, sei demnach auch eher geneigt, sich diesen Gruppen anzuschließen (Quent, Schulz 2015: 145). War in den 1990er Jahren noch stärker Adornos Autoritarismusansatz als Erklärungsangebot für Rechtsextremismus in qualitativen 47

empirischen Arbeiten vertreten (z. B. Hopf 1995), so hat sich dies vor allem in Form von verschiedenen Autoritarismusitems in quantitativen Großbefragungen fortgesetzt (z. B. Decker et al. 2015) und ist in seiner ursprünglichen Ausführung aus aktuellen empirisch-qualitativen Untersuchungen nahezu verschwunden. Der Kontrast von den Betrachtungen zu Rechtsextremismus zu den Konzepten zu Islamismus liegt in besonderer Weise darin, dass Rechtsextremismus deutlich weniger aus einer sicherheitsanalytischen Perspektive heraus verstanden wird. In einem wissenschaftlichen Bericht zur Lage des Rechtsextremismus in Europa stellen Bjørgo und Ravendal (2019) deshalb fest, dass die öffentliche Aufmerksamkeit so sehr auf islamistische Bedrohungslagen fokussiert sei, dass Rechtsextremismus nun seit vielen Jahren „overshadowed“ sei (ebd.: 2).

2.2.4 Islamismus Der Forschungsstand zu Islamismus lässt sich weniger eindeutig zusammenfassen, als dies zu Rechtsextremismus der Fall ist, dies liegt vor allem daran, dass ein äußerst heterogenes Forschungsfeld existiert. Während die Rechtsextremismusforschung in Deutschland den internationalen Forschungsstand weniger berücksichtigt, sind es beim Islamismus vor allem die internationalen Arbeiten, die stark rezipiert werden. Wieder soll versucht werden, einerseits die wichtigsten wissenschaftlich-dominanten Deutungen von Islamismus herauszuarbeiten und andererseits die für diese Arbeit am wichtigsten erscheinenden Erkenntnisse und Studien zu präsentieren. Es soll begonnen werden mit den Gemeinsamkeiten zwischen den Konzeptionen von Islamismus und Rechtsextremismus. So stellen Ceylan und Kiefer (2018: 46) fest, dass Islamismus insbesondere in der „Phase des Heranwachsens“ eine Rolle spielt. Verallgemeinernd konstatieren sie, dass „der Grad der sozialen Deprivation in sozialer und räumlicher Hinsicht“ ausschlaggebende Risikofaktoren für Islamismus seien (ebd.: 46). Wie schon bei den Rechtsextremismuskonzepten problematisieren Ceylan und Kiefer (2018) in Hinsicht auf den Islamismus ebenfalls Desintegration, Sozialraum und Jugend. Das Gefährdungspotenzial bei adoleszenten Personen wird also als besonders bedeutend eingestuft. Einige Autor*innen geben genaue Altersangaben an und setzen das größte Risiko für eine islamistische Radikalisierung auf Personen zwischen 16 und 25 Jahren fest (BKA, BfV, HKE 2016: 12 ff.; Glaser et al. 2018: 225; Slootmann, Tillie 2006; Steinberg 2014). Die ideologische Anziehung islamistischer Ideologie wird durch eine jugenduntypische Haltung von Selbstkontrolle und Askese als gegenkulturelle Praxis verstanden (El-Mafaalani 2014; Hegghammer 2017). Dies greift zusammen mit Annahmen, die die Suche nach Anerkennung und stabilen Orientierungsmustern empirisch überprüfen

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(Brettfeld, Wetzels 2007).29 Auch die sozio-ökonomische Desintegration sei ein Zustand, der in vielen Fällen einer islamistischen Radikalisierung vorauseile (Aslan et al. 2017; Silber, Bhatt 2007). Arbeiten, die sich mit Islamismus auseinandersetzen, thematisieren omnipräsent die Rolle des Islams als Religion. Auch wenn sie dabei zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen, findet eine starke Auseinandersetzung in der wissenschaftlichen Beurteilung von Islamismus mit der Bedeutung der Ideologie statt. Es sei eine fehlende Unterscheidungsfähigkeit bei den Jugendlichen dafür verantwortlich, dass sie einen gemäßigten Islam von einer ‚radikalen‘ Islamauslegung nicht differenzieren könnten (Bakker 2011; Precht 2007; Wiktorowicz 2005). Mal werden islamistische Deutungen bei Jugendlichen also als intendierte Protestkultur (z. B. El-Mafaalani 2014; Toprak, Weitzel 2017) und mal als unintendiertes Verhalten, welches auf Unwissenheit zurückzuführen ist, interpretiert. Gerade die Thematisierung von Migrationsgeschichten als Dimension für islamistische Radikalisierung interpretiert diese auch als identitätsbehauptende Praktik (Schiffauer 2000; Slootmann, Tillie 2009). Dabei wird die islamistische Radikalisierung in Zusammenhang mit Migration oft als Reaktion auf langjährige Diskriminierungserfahrungen verstanden (Aslan et al. 2017; Hohnstein, Glaser 2017; Jasperse et al. 2012; Saltman, Smith 2015; Sinclair 2011; Waldmann 2009; Özbek 2011). Waldmann (2009) und Kundnani (2014) gehen sogar so weit zu sagen, dass diese Diskriminierungserfahrungen auf eine weltweite Islamophobie zurückzuführen seien. Diese Stimmung werde durch die Verbindung von Islam und Terrorismus dauerhaft angeheizt und könne in der Umkehr dazu führen, dass diskriminierende Erfahrungen ideologisch umgedeutet werden (Aslan et al. 2017; Hohnstein, Glaser 2017). Die Verbindung zwischen der islamischen Religion und einem extremistischen Verhalten zeigt sich auch bei der Analyse der wissenschaftlichen Definitionsversuche. Hier wird im Wesentlichen diskutiert, inwiefern der Begriff mit bestimmten religiösen Strömungen (‚Salafismus‘ oder ‚Neosalafismus‘) oder mit einer religiösen Interpretation des Islams (‚Dschihadismus‘) ausgedeutet werden soll (siehe z. B. Ceylan 2016; Dziri 2014; Fouad 2015). Daran anschließend wird diskutiert, inwiefern überhaupt von einem religiösen Extremismus gesprochen werden kann, wenn Islamismus doch politische Ziele, wie die Errichtung eines islamischen Staates, verfolge (Farschid 2014). Der Begriff ‚Islamismus‘ wird im deutschen Kontext im Vergleich zu äquivalenten Begriffen, wie ‚Salafismus‘, ‚Neusalafismus‘ oder ‚gewaltbereiter Salafismus‘ am häufigsten verwendet, da er politische und religiöse Handlungsziele zu vereinen mag (Seidensticker 2014). An anderen Stellen wird im Kontext von Islamismus oft synonym von Radikali29

Hier sind auch die zahlreichen sozialpsychologischen Ansätze zu erwähnen, die Aufwertung der eigenen Gruppe, bei gleichzeitiger Abwertung einer anderen Gruppe (Ingroup und Outgroup) als Mechanismus für die Involvierung in extremistische und besonders islamistische Ideologien sehen (z. B. Walther 2014: 359; Weis, Zick 2007).

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sierung gesprochen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass sich viele der weitverbreiteten Radikalisierungsmodelle phänomenologisch am Islamismus abarbeiten (z. B. Wiktorowicz 2005) (siehe Kapitel 2.2.2). Erwähnenswert scheint jedoch, dass die synonyme Verwendung von Islamismus und Radikalisierung dazu führt, dass im Falle von Islamismus weniger differenziert über gewalttätiges und ideologisches (bzw. bei Rechtsextremismus die ‚Einstellungsebene‘) Verhalten gesprochen wird. Dabei erscheint Islamismus als ein statischer Zustand, während Radikalisierung eine Prozessperspektive impliziert. So impliziert der Begriff der Radikalisierung zwar einen Prozess, aber dessen Endpunkt wird allgemeinhin über die Gewaltbereitschaft der ‚radikalisierten‘ Individuen hergestellt (z. B. Abay Gaspar et al. 2018; Neumann 2017a: 43; Schmid 2013: 5). Im Gegensatz zu Rechtsextremismus existiert eine Vielzahl an empirischen Studien zur Untersuchung von Islamismus, die belegen, dass Islamismus keineswegs allein ein Phänomen von bildungsfernen oder bildungsbenachteiligten Personen ist, sondern auch überdurchschnittlich hohe Bildungsabschlüsse bei islamistisch-definierten Personen konstatiert werden können (BKA et al. 2016; El-Mafaalani 2014; Sageman 2008). Genau so wird auch die Bedeutung des Internets fast ausschließlich im Kontext islamistischer Radikalisierung als eine Gelegenheitsstruktur thematisiert (Glaser et al. 2018a; Hohnstein, Glaser 2017). An dieses Thema knüpfen Debatten, wie die des „lone wolf terrorism“, an, bei denen sich Personen allein übers Internet radikalisieren würden (Harrendorf et al. 2020; Neumann 2008, 2018). Dagegen halten insbesondere Wissenschaftler*innen, die Radikalisierung nicht nur im Internet, sondern auch analog untersuchen. Sie sind der Überzeugung, dass sich diese Annahmen nicht bestätigen lassen und immer auch reale soziale Interaktionen in den Prozess der Radikalisierung involviert sind (Bögelein, Meier 2020; Schurrman et al. 2017). Hierbei wird immer wieder auch der Kontakt zu bestimmten Moscheegemeinden als Begünstigung für Radikalisierungsdynamiken untersucht (Frank, Glaser 2017). Die im Jahr 2010 durch das BKA vorgelegte Studie „Qualitative Studie zu Biografien von Extremisten und Terroristen“ (Lützinger 2010) bestätigte die Erkenntnisse der Rechtsextremismus- und Islamismusforschung. Als zentrales Ergebnis wurden ideologieübergreifende Gemeinsamkeiten und dysfunktionale Familienverhältnisse konstatiert. Interessant ist, dass widersprüchlich zu den empirischen Arbeiten, die insbesondere die Bedeutung der islamischen Religion hervorheben, Lützinger (2010: 73) zu dem Schluss kommt, dass bei den radikalisiert-definierten Personen „kein ausgeprägtes, grundständiges Interesse an Politik oder Religion“ bestünde. Die „extremistische bzw. terroristische Karriere“ sei hingegen eher durch Zufälle, als durch Pfadabhängigkeiten zu charakterisieren. Insgesamt würden Terroristen30 und Extremisten sich hinsichtlich ihrer sozialen 30

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Hier wird nur die männlich Form verwendet, da in der Studie ausschließlich Männer interviewt wurden.

Merkmale „nicht grundlegend von anderen Delinquenten“ unterscheiden (ebd.). Dieses Ergebnis vermag besonders deshalb nicht zu überraschen, da 31 der 39 Befragten abgeurteilte Straftäter waren und die Interviews im Strafvollzug durchgeführt wurden. Milbradt et al. (2019: 145) halten dagegen, dass Islamismus und Rechtsextremismus in den wissenschaftlichen Konzeptionen zu vereinheitlichend dargestellt werden würden. Sie beziehen sich dabei unter anderem auf die Arbeiten von Glaser et al. (2018, 2018b), deren qualitativ-rekonstruktive Arbeiten zeigen, dass Hinwendungsverläufe und -gründe sowohl bei Rechtsextremismus als auch bei Islamismus weitaus komplexer seien, als dies die dominanten wissenschaftlichen Annahmen in dem Forschungsfeld widerspiegeln würden. Es bestünde hier generell die Gefahr zu eindimensionalen Erklärungen zu kommen und bestehende Forschungsergebnisse zu reproduzieren, anstatt komplexe Erfahrungshintergründe von rechtsextremistisch und islamistisch-definierten Personen zu untersuchen. Glaser (ebd.) plädiert in diesem Zuge für mehr qualitativ-rekonstruktive Ansätze zur Beforschung von rechtsextremistischen und islamistischen Lebenswelten, Hinwendungs- und Distanzierungsgründen. Der folgende Abschnitt führt die vorherigen zusammen, indem die Forschungsdiskurse und -ergebnisse zum Ausstieg bzw. der Deradikalisierung präsentiert werden, die auf den Annahmen zu Extremismus, Radikalisierung und seinen phänomenologischen Ausprägungen aufbauen.

2.3

Wissenschaftliche Transformationskonzepte: Desistance, Deradikalisierung, Disengagement

Durch die Beschäftigung mit institutionellen Bearbeitungen von spezifisch definiertem abweichendem Verhalten, wie es zuvor dargestellt wurde, haben sich zahlreiche wissenschaftliche Konzepte etabliert, die die Abkehr von einem solchen Verhalten in den Blick nehmen. An den zentralen Begriffen dieser Modelle, Desistance, Disengagement, Deradikalisierung und Ausstieg kristallisieren sich konzeptuelle Annahmen heraus, die meist lebenslauftheoretisch Transformationsprozesse von delinquenten Individuen hin zu ‚normalen‘ Lebensentwürfen, die meist mit Strafunauffälligkeit konnotiert sind, konzeptualisieren. Diese Konzepte schließen mitunter direkt an die zuvor zusammengetragenen Ideen zu Extremismus und Radikalisierung an. Erneut sollen im Folgenden zentrale Ansätze, Begriffe und Forschungsergebnisse präsentiert werden, die die gängigen wissenschaftlichen Diskurse in diesem Feld zusammenführen. Dafür werden zunächst einschlägige Forschungen und Ergebnisse rund um das ‚Desistance‘-Konzept dargestellt. Dieses hat keinen Bezug zu Extremismus oder Radikalisierung, sondern bezieht sich ganz allgemein auf abweichendes Verhalten bzw. das Beenden ebendieses. Desistance-Theorien und die anschließend vorgestellten Konzepte zu 51

Deradikalisierung und Disengagement haben sich wechselseitig informiert und können deshalb kaum getrennt voneinander betrachtet werden.

2.3.1 Desistance Das Wissen um Prozesse der Inklusion und Exklusion in und aus extremistischen Zusammenhängen sowie der kriminologischen Forschung zu kriminellen Karrieren und Disengagement haben sich wechselseitig beeinflusst (Ahmad, Monaghan 2019: 1288; LaFree, Freilich 2017). Dies hängt auch damit zusammen, dass es ein allgemein geteiltes Verständnis darüber gibt, Extremismus und Terrorismus als bestimmte Formen von Kriminalität zu begreifen (LaFree, Freilich 2017: 4). Laub und Sampson (2001: 1) fragen in einem Überblicksartikel zu Desistance-Ansätzen „Why do they stop?“. Es wird deutlich, dass sich das wissenschaftliche Interesse hier nah an anwendungsbezogenen Fragen orientiert, die Aufklärung darüber bringen sollen, warum Menschen delinquentes Verhalten beenden. Die beiden Autoren leiten mit dem Satz ein: „the study of desistance from crime is hampered by definitional, measurement, and theoretical incoherence“ (ebd.: 1). Ihr Ansatz ist es, Faktoren herauszuarbeiten, die die Abkehr von delinquenten Verhaltensweisen kausal erklären, um sie dann für Präventionsprogramme übersetzen zu können (siehe z. B. Farrall 2012; Halsey und Deegan 2015; Maruna 2001). Der Desistance-Begriff ist eng verknüpft mit dem Konzept der ‚kriminellen Karrieren‘ (Rieker et al. 2016). Als kriminelle Karrieren werden in der Kriminologie Lebensläufe verstanden, die durch strafrechtliche Auffälligkeiten, welche über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder auftauchen, charakterisiert werden (Fan 2008: 7 ff.).31 Das Desistance-Konzept schließt daran an, indem es den Abbruch eines kriminellen Verlaufs als Prozess versteht, der sich ebenfalls über einen längeren Zeitraum erstreckt und an dessen Ende eine konforme Lebensweise steht (Laub, Sampson 2001: 8 ff.). Was zunächst klar umrissen erscheint, wird bei genauerem Hinsehen zu einer definitorischen Herausforderung: Wann kann eine Person als erfolgreiche*r ‚Desister*innen‘ bezeichnet werden? Wie lange muss eine Person straffrei leben, um als ‚Desister*in‘ zu gelten? Auf welche Lebensbereiche erstreckt sich der Desistance Prozess? Geht es nur um Straffreiheit, im Sinne einer Legalbewährung, oder ist jemand erst dann ‚Desister*in‘, 31

52

Mit kriminellen Karrieren sind explizit Lebensverläufe von sogenannten ‚Intensivtäter*innen‘ gemeint. Das kriminologische Interesse an dieser Gruppe ist auf die Erkenntnis zurückzuführen, dass etwa 10 % der Mehrfachauffälligen für 50 % der Hellfelddelikte verantwortlich sind (Lipsey, Derzon 1999: 86). Diese Erkenntnisse gehen auf quantitative Kohorten- und Längsschnittstudien zurück, die erstmalig in 1945 in Philadelphia erhoben wurde (Grundies 1999; West, Farrington 1973; Wolfang et al. 1972). Der Begriff der kriminellen Karriere wird vor allem aufgrund seiner Normativität von vielen Seiten kritisiert.

wenn die Person auch eine innere Wandlung durchlaufen hat? Insbesondere die letzte Frage treibt nicht nur Desistance-Forscher*innen um, sondern ist eine essenzielle Dimension konzeptueller Uneinigkeiten, wenn es um Extremismus und Radikalisierung geht. Sampson und Laub (1997) machen eine altersunabhängige Theorie stark, die aktuelle Lebensumstände und soziale Bindungen als zentral für einen erfolgreichen Desistance-Prozess erachtet. Sie schließen damit an den kriminologischen Klassiker der allgemeinen Kriminalitätstheorie von Gottfredson und Hirschi (1990) an, die mangelnde soziale Kontrolle und schwache soziale Bindungen als erklärende Faktoren für abweichendes Verhalten konstatieren. Dies steht der Theorie von Matza (1964: 22) gegenüber, die den Abbruch einer kriminellen Karriere als „maturing reform“ (dt. Herauswachsen) bezeichnet. Dieser Theorie legt er die kriminologische Erkenntnis zugrunde, dass die Kriminalitätsstatistiken abweichendes Verhalten überwiegend bei Personen in der Adoleszenz feststellen und dieses im Alterszeitraum zwischen 20–25 Jahren stark abnimmt, also in erster Linie adoleszente Männer betreffe (Boers, Reinecke 2007). Sampson und Laub (1997) weisen jedoch nach, dass die Beendigung einer kriminellen Karriere neben dem ‚maturing out‘-Effekt auf das Schließen neuer Bindungen in Form von Partnerschaften oder stabilen Beschäftigungsverhältnissen zurückzuführen ist. In Deutschland ist diese These vor allem durch Stelly und Thomas (2004) empirisch nachgewiesen worden. Hofinger (2012) kritisiert, dass der kausale Zusammenhang zwischen sozialen Bindungen und Legalbewährung dabei kaum expliziert werde. Ein weiterer Klassiker der Desistance-Forschung wurde von Maruna (2001) vorgelegt. Diese qualitative Studie lenkt den Blick auf die Bedeutung des Selbstbildes von (ehemaligen) Delinquenten.32 Die inhaltsanalytische Auswertung von insgesamt 65 Interviews erhellt die Selbst-Narrative der interviewten Personen. Maruna (2001) unterscheidet zwischen dem Narrativ des „condemnation script“ und dem „redemption-script“. Ersteres sei ein Argumentationsmuster, bei dem Interviewte ihre problematische Sozialisation und traumatischen Erfahrungen für ihr delinquentes Verhalten verantwortlich machen. Zweiteres sei ein Narrativ der Verantwortungsübernahme, bei dem die Gesprächspartner ihre kriminelle Vergangenheit distinktiv von ihrer aktuellen Identität abheben und sie auf den eigenen Erfahrungen aufbauen, um sich gegen Delinquenz zu engagieren. Die Studie zeigt, dass eine narrative Identitätsrekonstituierung wesentlich für den Abbruch einer kriminellen Karriere ist. Der Autor geht vor allem inhaltsanalytisch-zusammenfassend vor und differenziert damit nicht von Selbstpräsentationsinteressen oder anderen impliziten (Be-)Deutungen der Akteur*innen.

32

Marunas Studie „Making Good“ (2001) basiert auf Interviewtranskripten von vermeintlich noch delinquenten Personen und vermeintlichen ‚Desister*innen‘.

53

Auch von Sampson und Laub (2003) ist die Annahme der Identitätsrekonstituierung als zentrales Element für Desistance-Prozesse stark kritisiert worden. Später entwerfen Maruna et al. (2004) das Konzept der ‚primary‘ und ‚secondary‘ Desistance. Damit unterscheiden sie zwei verschiedene Ebenen der Abkehr von delinquenten Verhalten, nämlich ‚behaviour‘ und ‚identity‘ (ebd.). Eine solche Unterscheidung spielt bei den Konzepten zur Abkehr von extremistischen Verhalten, ebenfalls eine zentrale Rolle. Aktuelle Desistance-Konzepte verfolgen eine integrative Strategie und fügen die Erkenntnisse der älteren Desistance-Forschung zusammen, um besonders auf Wechselbeziehungen abzustellen (Rieker et al. 2016). Während aber Giordano et al. (2002) sowohl strukturelle Veränderungen und Opportunitäten als auch individuelle Einstellungsveränderungen hervorheben, arbeiten Farrell et al. (2010) insbesondere die soziostrukturellen Veränderungen für Desistance-Prozesse heraus (Rieker et al. 2016). Es wird also deutlich, dass der Kern der Uneinigkeit der verschiedenen Ansätze auch heute noch in einer unterschiedlichen Verhältnisbestimmung zwischen äußeren und inneren Einflüssen liegt. Nach Walsh (2016: 24) lassen sich somit drei verschiedene Desistance-Ansätze unterscheiden: (1) das „strong subjective model“ fokussiert allein das Innenleben der Individuen; (2) Vertreter*innen des „strong social model“ sehen die Auslöser für ein Beenden krimineller Karrieren allein bei Umweltfaktoren; (3) bei dem „subjective-social model“ werden beide vorangegangenen Ansätze kombiniert. Das Wissen der Desistance-Forschung hat sich in besonderer Weise auf die Strafvollzugs- und Resozialisierungsforschung ausgewirkt (Rieker et al. 2016: 149; Walsh 2016). So ist gerade das deutsche Justizsystem dem Resozialisierungsgedanken verpflichtet, weshalb die anwendungsbezogene-kriminologische Forschung ständig versucht, Antworten auf die Frage nach den Auswirkungen des Strafvollzugs und auf das Beenden krimineller Karrieren zu finden und optimale Resozialisierungsprozesse hierfür zu eruieren (Hofinger 2012: 2; Walsh 2016: 24). Die Diskussion um den Nutzen des Strafvollzuges für erfolgreiche Desistance-Prozesse bewegt sich immer an der Grenze zur Kriminalpolitik. Während einige Studien meinen einen indirekten Nutzen von strafrechtlichen Sanktionen nachweisen zu können (z. B. Mulvey et al. 2004: 226 ff.), belegen zahlreiche andere Studien, dass Inhaftierungen zahlreiche negative Folgen entfalten können und mitunter sogar abweichende Karrieren begünstigen (siehe z. B. Bereswill et al. 2007; Farrall, Calverley 2006; Healy, O’Donnell 2008; Hosser 2008; Klein 1986; Ortmann 1993; Pruin 2013; Walsh 2014). Durchaus aber haben die Erkenntnisse der Desistance-Forschungen, als ein relativ junges Feld der Kriminologie, Auswirkungen auf die Gestaltung der Übergänge aus freiheitsentziehenden Maßnahmen heraus in ein Leben außerhalb des Strafvollzugs (Rieker et al. 2016; Wirth 2014). Es wird vermehrt darauf geachtet, dass die ehemals Inhaftierten in ein möglichst stabiles soziales Umfeld zurückkehren und durch eine Erwerbstätigkeit selbstständig sind und geregelte Tagesabläufe haben (Rieker et al. 2016; Schinkel 54

2014). Damit ist die Bewährungshilfe direkt von den Erkenntnissen der Desistance-Forschung beeinflusst. So schlägt Maruna (2001) etwa vor, dass Menschen, die aus freiheitsentziehenden Maßnahmen entlassen werden, eine längere institutionelle Unterstützung bekommen sollten. Bereits während der Inhaftierung sollte mit Gefangenen in einer Weise gearbeitet werden, die es ihnen ermöglicht, neue Selbstbilder zu entwickeln, die unabhängig von einer kriminellen Karriere gebildet werden (Hofinger 2012; Maruna 2001). Insbesondere die Arbeiten von Bereswill (1999, 2003, 2008) und Neuber (2009, 2016) zeigen aber, dass die interdependenten Dynamiken von „totalen Institutionen“ (Goffman 1961)33, dem sozialen Status der Gefangenen und ihrem Innenleben deutlich komplexer sind, als dies viele der klassischen Desistance-Arbeiten vermuten lassen. Die subjekttheoretischen und rekonstruktiven Forschungen von Bereswill (2003) und Neuber (2003) greifen überwiegend auf die Interviewdaten einer qualitativen Längsschnittstudie mit jungen Inhaftierten und Haftentlassenen aus den späten 1990er Jahren und frühen 2000er Jahre zurück (Bereswill 1999). Die zentrale Untersuchungsperspektive besteht in einer „psychodynamische[n] Auffassung von Subjektivität“ (Bereswill 2003: 177). Damit verbindet sich die Annahme, dass Individuen, die ihnen unterbreiteten Rollenangebote nicht nur annehmen oder verwerfen, sondern sie sich wechselseitig und konflikthaft dazu verhalten. Auf diese Weise zeichnet Bereswill (1999, 2003, 2010) biografische Verläufe von Jugendlichen nach, in deren Leben Inhaftierung(en) eine Rolle spielen oder spielten. Die interviewten Personen deuten ihre Lebensläufe ganz unterschiedlich und thematisieren die Erfahrung von Geschlossenheit mal als Anstoß für eine Transformation, also einer Beendigung der Karriere, mal wird Devianz als identitätsstiftendes und distinktives Moment verwendet (Bereswill 2003: 192). Es wird aber über alle Fälle hinweg deutlich, dass Inhaftierungen einen extremen Eingriff in die eigene Handlungsökonomie darstellen und Gewalt- sowie Viktimisierungserfahrungen bewältigt werden müssen (Bereswill 2001; Neuber 2009). Die Biografien der Interviewten waren bereits vor der Inhaftierung von „biografischen Diskontinuitäten“ (Bereswill 2010: 33) geprägt, die dann im Kontext des institutionellen Freiheits- und Autonomieentzugs bewältigt werden müssen. Sowohl Bereswill (z. B. 2010), als besonders auch Neuber (2009) untersuchten die Inhaftierungserfahrungen vor dem Hintergrund der Konstruktion von Männlichkeit. An dieser Stelle zeigt sich ein Konflikt zwischen den gesellschaftlichen Rollenbildern von Männlichkeit, die kaum sichtbare Verletzlichkeit zulassen und den biografischen Erfahrungen, die geprägt waren von schmerzvollen Erfahrungen. Neuber (2009) betitelt ihre Studie vor diesem Hintergrund mit „Die Präsentation kein Opfer zu sein“. Im Zuge der empirischen Untersuchung kritisieren Bereswill et al. (2008) die selbstverständliche Annahme des Jugendstrafvollzugs, zwischen Legalbewährung und Ausbildung oder Arbeit 33

Hierzu mehr in Kapitel 3.1.1.

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gäbe es einen direkten, evidenten Zusammenhang. Die klassische und vor allem männliche Erwerbsbiografie sei prekär geworden und gerade für Menschen, die inhaftiert werden, oft kaum realisierbar. Die genannten Arbeiten sind im Kontext der vorliegenden Arbeit deshalb bedeutend, da sie Einblicke zum Thema liefern und das Feld um andere Perspektiven ergänzen, die sich abseits der aktionistischen Frage nach Faktoren zur Beendigung krimineller Verläufe bewegen. Als grundlegende paradigmatische Verschiedenheit können in der Kriminologie ‚objektivistische‘ und ‚interaktionistische‘ Ansätze voneinander unterschieden werden.34 Es geht im Kern um die Frage, ob Kriminalität als objektiver Tatbestand vorliegt oder sie das interaktionistische Produkt einer bestimmten Werte- und Normengemeinschaft mit ungleich verteilten Machtstrukturen ist. Erst kürzlich entbrannte ein solcher paradigmatischer Streit entlang der Desistance-Forschung. Nachdem Rieker et al. (2016) ein ganzes Heft in der Zeitschrift für Soziale Probleme zur Desistance-Forschung füllten, entgegnete Peters: „Es werde angenommen, dass Kriminalität objektiv vorliegt, dass Kriminalität schlecht ist, durch Schlechtes verursacht wird und verhindert werden muss. Alle diese Annahmen sind mit einem soziologischen Verständnis von Kriminalität nicht zu vereinbaren. Bemängelt wird darüber hinaus, dass mit dem „Desistance“-Konzept der normative Status quo legitimiert wird“ (Peters 2018: 3).

Rieker et al. (2018) reagieren auf diese Vorwürfe und gestehen, dass die traditionelle Desistance-Forschung bisher weniger interaktionistische Stigmatisierungseffekte in den Blick nahm, deshalb aber dennoch ein Bedarf bestehe auch die Ausstiegsprozesse aus der Kriminalität zu untersuchen und so zunächst als objektiven Tatbestand anzunehmen. Dies soll in Ergänzung zu den kriminologisch-interaktionistischen Theorien krimineller Karrieren geschehen (z. B. Becker 2014 [1963]; Quensel 1973; Thornberry 1987). Sie argumentieren, dass zwischen einer Forschung, die bloß nach Risikofaktoren für Rückfälle suche, und einer, die individuelle Wege der Veränderung beschreibe, unterschiedenen werden müsse. Mit diesem kurzen Einblick in die deutsche Diskussion zu kriminologisch-interaktionistisch geprägten Desistance-Forschung wird in jedem Fall deutlich, dass die Beschäftigung mit ‚kriminellen Karrieren‘ durchaus die Gefahr birgt, normative Annahmen zu reproduzieren. Gleichzeitig muss es jedoch möglich sein, die individuellen Wege aus der Straffälligkeit von bereits definierten Straftäter*innen nachzuvollziehen, wie es bereits in einigen Arbeiten gemacht wird (z. B. Hofinger 2016; Neuber 2016; Zahradnik, Humm 2016).

34

56

Insbesondere mehr zum interaktionistischen Ansatz in Kapitel 3.

2.3.2 Deradikalisierung, Disengagement und Ausstieg Die konzeptuelle Nähe zwischen Desistance und Deradikalisierung bzw. Disengagement soll einleitend entlang einer einschlägigen Definition gezeigt werden: „Disengagement describes a ‚behavioural‘ change leading people to cease participation in extremist action (see Doosje et al. 2016), and, accordingly, disengagement programs aim at stopping an individual from participating in violent extremist behavior (Matroe & Szmania 2016). De-radicalization, on the other hand, is primarily a ‚cognitive‘ process in which extremist attitudes are being rejected (Berger 2016; Doosje et al. 2016)“ (Jugl et al. 2020).

Dieses Zitat repräsentiert zwei der zentralen Diskurse in der Deradikalisierungsforschung: (1) die Unterscheidung zwischen Veränderungen des Verhaltens und einer kognitiven Veränderung bei (ehemaligen) Extremist*innen und (2) eine Diskussion, die eng mit der institutionellen Bearbeitbarkeit von Extremismus geführt wird. Die konzeptionelle Unterscheidung zwischen „cognitive“ und „behavioural change“ geht auf die Untersuchungen von Bjørgo (2009) und Horgan (2009)35 zurück.36 Sie führten zahlreiche Interviews mit aktiven und ehemaligen Rechtsextremist*innen und stellten heraus, dass zwischen einer physischen und psychischen bzw. ideologischen Transformation unterschieden werden müsse. Ersteres bezeichnen sie als ‚Disengagement‘ und zweiteres als ‚Deradicalization‘ (Bjørgo 2009; Horgan 2009). Das Äquivalent der Desistance-Forschung dieser Unterscheidung findet sich in der Arbeit von Maruna et al. (2006) mit dem Konzept der „primary and secondary desistance“.37 In den empirischen Arbeiten dieser ‚norwegischen Forschungsschule‘ stellen die Autor*innen fest, dass der Anlass für das Verlassen empirischer Gruppen in erster Linie auf individuelle Beweggründe zurückzuführen ist (Bjørgo, Horgan 2009; Fink, Haerne 2008; Horgan 2009). Den Beginn eines Disengagement-Prozesses markiere der intrinsische Wunsch nach einem ‚normalen‘ Leben. Sie unterscheiden hier zwischen push- und pull-Faktoren („schiebend“ und „ziehend“), die sich im weiteren Verlauf eines Disengagement-Prozesses wechselseitig bedingen. Sogenannte push-Faktoren seien familiäre Veränderungen oder altersentsprechende, normalbiografische Vorstellungen. Pull-Faktoren bestünden meist in der Desillusionierung der Gruppendynamiken 35 36 37

Die norwegischen Forscher bilden damit die zentrale Grundlage für empirische und konzeptuelle Deradikalisierungsforschung (Bjørgo 2009; Bjørgo & Horgan 2009; Bjørgo et al. 2009; Horgan 2008, 2009). Erstmalig in der wissenschaftlichen Literatur wird die Desistance-Forschung mit der Abkehr von politischer Gewalt in der Arbeit von Aho (1988) zusammengebracht, aber noch nicht konzeptuell-begrifflich entwickelt. Für einen vertieften Überblick über die Schnittmengen der Desistance-Forschung mit dem Konzept der Deradikalisierung siehe Köhler (2013, 2014).

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und ideologischer Vorstellungen (Bjørgo et al. 2009: 36 ff.; Rosenau et al. 2014: 284). Bereits die Untersuchungen der norwegischen Wissenschaftler korrespondieren eng mit der Frage wie Deradikalisierungs- bzw. Ausstiegsprogramme arbeiten und welche Rolle sie bei einem Disengagement-Prozess einnehmen können. Das Prinzip sozialpädagogisch-orientierter Ausstiegsprogramme stammt aus Skandinavien, weshalb es kaum verwundern mag, dass sich Bjørgo (2006) erstmalig mit dem Rechtsextremismus und dem Ausstieg daraus in Norwegen auseinandersetzte (Rieker 2014: 9). Die konzeptuelle Unterscheidung zwischen Disengagement und Deradikalisierung lässt sich nicht nur auf die empirischen Ergebnisse der Interviewstudien zurückführen, sondern ist auch das Ergebnis ethischer und rechtlicher Überlegungen. So kritisiert Horgan (2009), dass kaum nachzuweisen sei, inwiefern Deradikalisierungsprogramme überhaupt zu einer Deradikalisierung beitragen können und inwiefern es ethisch und rechtlich in einer Demokratie überhaupt vertretbar ist, Menschen auf ideologischer Ebene verändern zu wollen (siehe auch Backes, Albrecht 2017).38 Diese kritische Haltung hat einen internationalen Diskurs darüber eröffnet, ob Deradikalisierungsprogramme nicht allein die physische Herauslösung ihrer Adressat*innen bezwecken sollten (Köhler 2014: 428; Noricks 2009: 314). In einer ethnografischen Studie, die die Bedeutung der Teilnahme an Exit-Programmen für das Leben von Rechtsextremist*innen in Dänemark untersuchte, wurde eine rekonstruktive Perspektive auf diesen Zusammenhang eingenommen (Christensen 2019). Die Studie stellt einen wichtigen und gleichzeitig seltenen empirischen Beitrag dar, der zeigt, wie eine institutionell erzeugte Transformation auch nach der Teilnahme an einem Programm zur Belastungsprobe wird. Christensen (2019) gelingt es, mit ethnografischen Verfahren Einblicke in die komplexen Bewältigungsmuster ‚verletzter‘ Identitäten zu geben. An der Studie von Christensen zeigt sich bereits, dass die empirischen Auseinandersetzungen mit Desintegrationsprozessen von Extremist*innen eng an deren institutionelle Bearbeitung gekoppelt sind. Für die deutsche Forschungslandschaft zu Disengagement und Deradikalisierung gilt, dass sie bisher eine übersichtliche Landschaft darstellt. Es wird kritisiert, dass sie in Teilen nur ungenügend den internationalen Forschungsstand rezipiere und besonders wenig Einblicke in die Arbeit der Ausstiegs- und Deradikalisierungsprogramme liefere (Köhler 2014). Dies ist mitunter auf den besonders schwierigen Feldzugang zurückzuführen. Viele Programme schließen sich nach außen hin ab und begründen dies mit einer potenziellen Gefährdung der Ausstiegsprozesse und deren sicherheitspolitischer Relevanz (Bjørgo, Horgan 2009:

38

58

Ein Diskurs zu den ethischen und rechtlichen Grundlagen von Präventions- und Interventionsprogrammen wird bisher kaum geführt. Auch empirische Studien erwähnen diese Aspekte eher als Randnotiz.

254; Mathiesen, Meier 2021; Rieker 2014: 7).39 Die empirischen Untersuchungen in Deutschland schließen meist direkt an die Annahmen der Hinwendungs- und Radikalisierungsforschung an und beziehen sich dabei häufig auf den Phänomenbereich des Rechtsextremismus (Möller, Schuhmacher 2007; Rommelspacher 2006; Sigl 2018; Welp-Eggert 2006). Darüber hinaus kann konstatiert werden, dass das Gros der empirischen Untersuchungen in diesem Feld aus qualitativen Untersuchungen besteht. Die ersten deutschen Untersuchungen, in denen qualitativ-biografische Interviews mit (ehemaligen) Rechtsextremist*innen zu Einstiegs- und Ausstiegsprozessen geführt wurden, wurden von Hafeneger (1993) und Schiebel (1992) vorgelegt. Beide prägen die Begriffe ‚Einstieg‘ und ‚Ausstieg‘ und führen Erkenntnisse an, die bis heute in die Rechtsextremismusforschung hineinwirken. Der Einstieg in die Szene wird als Anerkennungspraktik gelesen, die als Resultat mangelnder familiärer Geborgenheit interpretiert wird. Der Ausstiegsprozess wird als politische Umorientierung beschrieben und bleibt damit noch relativ unspezifisch (Schiebel 1992: 75). Hafeneger (1993) unterscheidet zusätzlich zwischen Einstieg und Ausstieg bei Männern und Frauen. Er fügt der Arbeit von Schiebel hinzu, dass Frauen vor allem aufgrund von rechtsextremen Partnern in die Szene einsteigen und schließlich bei Beendigung der Partnerschaft aussteigen. Hafeneger (1993: 70 ff.) baut die Erkenntnisse auf den Selbstpräsentationen der Interviewten. Eine viel zitierte Studie im deutschen Raum wurde später von Möller und Schuhmacher (2007) vorgelegt. Hier wurden 40 Rechtsextremist*innen innerhalb von zwei Jahren zwei Mal interviewt. Sowohl der Leitfaden als auch die inhaltsanalytische Auswertung führte hierbei zu stark theoriegeleiteten und am Ende theorieüberprüfenden Erkenntnissen (kritisch hierzu auch Sigl 2018: 89 ff.). Sie prägen den Begriff der Distanzierung und entwerfen damit ein Konzept, welches einen phasenhaften Entwicklungsprozess als Szeneausstieg umschreibt. Dabei unterscheiden sie zwischen zwei verschiedenen Distanzierungsmodellen, die auf sozialisationstheoretischen Annahmen aufbauen und an die Überlegungen von Bjørgo und Horgan (2009) zum Disengagement-Konzept anschließen. Sie interpretieren Distanzierungsverläufe einerseits als Abwendung von politischen Einstellungen und entsprechenden Verhaltenscodes und andererseits als eine Redefinition des extremistischen Milieus (Möller, Schuhmacher 2007: 359). In Ergänzung werden mehrere Teilmuster von prozesshaften Distanzierungsverläufen typisiert: Desintegrierende Binnenerfahrung innerhalb der extremistischen Szene, ein altersabhängiger „maturing out“-Effekt, der mit Bestrebungen im Erwachsenenalter ‚zur Ruhe zu kommen‘ und normalbiografischen Lebensent39

Sigl (2018: 87) nennt als weitere Datengrundlage zur Erforschung von Ausstiegs- und Deradikalisierungsprozessen Selbstzeugnisse ehemaliger Extremist*innen, also Autobiografien und Pressezeugnisse. Auf eine Zusammenfassung von Forschungsergebnissen, die auf dieser Art der Daten beruht, wird an dieser Stelle verzichtet.

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würfen korrespondiert, positive und negative soziale Kontrolle durch wichtige Beziehungspersonen (Familie, Partner*innen etc.) oder durch institutionelle Sanktionierungen (ebd.: 372). Der Distanzierungsprozess wird von den Autoren in drei Phasen unterteilt: Irritations-, Lösungs- und Manifestierungsphase (ebd.: 373). Das Distanzierungsmodell, zusammen mit den Begrifflichkeiten, wurde vor allem in der sozialpädagogisch geprägten Rechtsextremismusforschung zu einem wichtigen Konzept. Die Ergebnisse der Studie von 2007 wurden einige Jahre später noch einmal überprüft und konnten bestätigt werden (Möller, Wesche 2014: 33). Die bereits in Kapitel 2.2.3 eingeführte Studie von Sigl (2018) ermöglicht ein differenziertes und geschlechterreflektierendes Bild auf Ausstiegsprozesse von (ehemaligen) Rechtsextremist*innen. Zunächst plädiert Sigl (2018: 335) für eine differenziertere wissenschaftliche Konzeptionierung von Einstiegs- und Ausstiegsprozessen. Im Kern legt sie zwei verschiedene Typen von Ausstiegsprozessen vor: Distanzierung von der extremen Rechten bei gleichzeitiger Beibehaltung identitätsversichernder Handlungsmuster und Distanzierung als Inszenierung unter Beibehaltung der Deutungsmuster. Die Stärke der Studie liegt in der methodisch-analytischen Berücksichtigung der Selbstpräsentationsinteressen der Interviewten. Im Jahre 2018 legte zudem das BKA eine Studie vor, die die Ergebnisse verschiedener empirischer Untersuchungen mit Expert*innen von Ausstiegsprogrammen und Aussteiger*innen zusammenträgt. In der Studie wird die Bedeutung des „Gruppendrucks“ (van de Wetering, Zick 2018) als hemmender Faktor im Ausstiegsprozess untersucht. Der Fokus auf die Beeinflussungstaktiken der ‚rechten Szene‘ auf institutionell begleitete Ausstiegsprozesse soll praktische Handlungsanweisungen für die Ausstiegsprogramme erarbeiten. Anders als beim Thema Rechtsextremismus existieren in Deutschland bisher nur wenige Arbeiten, die sich dezidiert mit den Ausstiegsprozessen ehemaliger Islamist*innen auseinandersetzen. Islamismus und Deradikalisierung werden vor allem im Zuge der institutionellen Praxis und Radikalisierungstheorien, wie in den Kapiteln 2.2.2 und 2.2.4 eingeführt, besprochen. Möglicherweise ist dies auch der Grund dafür, dass sich in der deutschen Forschungslandschaft eine Konnotation durchgesetzt hat, die die Begriffe ‚Ausstieg‘ und ‚Distanzierung‘ häufig in Bezug auf Rechtsextremismus und in sozialpädagogischen Kontexten verwendet, während ‚Deradikalisierung‘ sich in Bezug auf den Islamismus etabliert hat (Möller 2008).40 Insbesondere Köhler (2014) kritisiert am deutschen Fachdiskurs zu Distanzierung und Deradikalisierung, dass es ihm an theoretischer Tiefe und 40

60

Dies gilt nicht für die sozialpädagogisch orientierten Arbeiten, die die Begriffe ‚Distanzierung‘ sowohl für den Phänomenbereich Rechtsextremismus als auch für Islamismus verwenden (siehe z. B. Glaser et al. 2018). Glaser et al. (2018: 17 ff.) begründen dies damit, dass der Diskurs um Deradikalisierung eher sicherheitspolitisch konnotiert sei, weshalb sie von der Verwendung dieses Begriffes abraten.

der Würdigung des internationalen Forschungsstandes der Desistance-Forschung mangele (ebd.: 428). In Anbetracht der starken Implikationen, die die einzelnen Begriffe zur Beschreibung von Desintegrationsprozessen bedeuten, wird hier auf einen, in der Forschungslandschaft weniger etablierten, Begriff zurückgegriffen. Da diese Arbeit keine dezidierte Untersuchung von Faktoren oder Dimensionen der einzelnen Desintegrationsprozesse darstellt, sondern auch diese Beschreibungen einem Zusammentragen wissenschaftlicher Diskurse und damit einhergehenden Konzeptionierungen dient, sollen Prozesse der Abkehr von extremistisch-definierten Verhaltensweisen als ‚Transformationsprozesse‘ bezeichnet werden. Dieser Begriff gilt immer dann, wenn die Wandlungsprozesse beschrieben werden sollen, ohne dass explizit auf das ‚Ausstiegs‘ oder ‚Disengagement‘-Konzept etc. verwiesen werden soll. Der Transformationsbegriff stammt aus der Sozialarbeit und impliziert einen Prozess, in dem „die Professionellen die lebensweltlichen Sinnzusammenhänge der KlientInnen bzw. deren Diffusität in ein anderes Bezugssystem übersetzen, um die so redefinierten Probleme handlungsmäßig zu bearbeiten“ (Loch, Schulze 2012: 689). Auch die Begriffe der ‚Adressat*innen‘ und ‚Professionellen‘ wird fortan verwendet, um zwischen jenen zu unterscheiden, die beruflich mit Extremismus befasst sind und jenen, die innerhalb dieser Kontexte als Extremist*innen oder Radikalisierte bezeichnet werden. Beide Begriffe stammen ebenfalls aus der Sozialarbeit (siehe Thole 2012).

2.4

Zusammenfassung

Im Gegensatz zum Kapitel zur sozialtheoretischen Positionierung (Kapitel 3) und der Methodologie (Kapitel 4) erfolgt hier eine Zusammenfassung des Forschungsstandes. Im Folgenden sollen die wichtigsten Erkenntnisse aus der theoretischen Einführung und den wissenschaftlichen Thematisierungen zusammengefasst werden, da diese später noch einmal analytisch relevant werden. Wie deutlich geworden sein sollte, ist das Forschungsfeld zu Extremismus und Radikalisierung und dessen institutioneller Bearbeitung heterogen, im Sinne zahlreicher Untersuchungen und Konzepte. Dennoch lassen sich zugleich zentrale wissenschaftliche Diskurse herausarbeiten, die mit spezifischen Implikationen verbunden sind. Zusammenfassend betrachtet wird Extremismus und Radikalisierung als von geltenden Normen, Werten und politischen Vorstellungen abweichendes Verhalten betrachtet. Durch diese Sichtweise existiert eine deutliche Nähe zu kriminologischen Wissenstraditionen. Die vorgestellten wissenschaftlichen Konzepte sind Teil des Themas Extremismusprävention, welches eingangs in Anlehnung an Strauss (1982) und Schütze (2002: 59) als soziale Welt begriffen wurde, die 61

sich aus verschiedenen sozialen Arenen (spezifischen Wissensbeständen und Thematisierungen: z. B. Radikalisierungsdiskurse oder Extremismuskonzepte) zusammensetzt. Übergeordnet betrachtet wird innerhalb der sozialen Welt der Extremismusprävention insbesondere die Adoleszenz problematisiert und durch die institutionellen Programme adressiert. Sowohl Rechtsextremismus als auch Islamismus folgen Erklärungsmustern, die beide Phänomene über jugendtypische Verhaltensweisen erklären, die auf entsprechende Deutungs- und Zugehörigkeitsangebote treffen (Glaser et al. 2018; Glaser 2016). Während der Extremismusbegriff weniger phänomenologisch und explorativ in der Forschung eingesetzt wird, sondern vielmehr als wissenschaftliches Konzept mit großer populärer Bedeutung zu verstehen ist und durch wissenschaftliche Deutungskämpfe mindestens koproduziert wird (Stampnitzky 2011), liegt dem Begriff der Radikalisierung eher ein empirisch-exploratives Interesse zugrunde. Durch die zahlreichen Arbeiten zu Radikalisierungsprozessen kann eine Verschiebung festgestellt werden, in dessen Folge Extremismuskonzepte in den Hintergrund rücken und Radikalisierungskonzepte Konjunktur haben. Das Gros der Radikalisierungskonzepte geht von einem linearen Prozess aus und tendiert zu einer Psychologisierung (Jukschat, Leimbach 2020; Schmidt-Kleinert 2018: 41). Sowohl Erklärungskonzepte zu Islamismus als auch zu Rechtsextremismus weisen einen starken ‚Täter*innen‘-Fokus auf (Frindte et al. 2016; Glaser et al. 2018). Insbesondere zu den Radikalisierungskonzepten erstarken allerdings auch kritische Stimmen (Abbay Gaspar et al. 2018; Coolsaet 2019; Crone 2016; Fadil et al. 2019; Kundnani 2012; Ravn et al. 2019; Schmidt-Kleinert 2018; Sedgwick 2010; Stampnitzky 2011). Sie kritisieren eine zunehmende Perspektive der Versicherheitlichung und bringen dies mit zeitdiagnostischen Ansätzen zu Prävention zusammen (siehe auch Kapitel 2.1.1). Auch die stark ontologische und ätiologische Ausrichtung der Extremismus- und Radikalisierungsforschung, zusammen mit einer Fokussierung auf Islamismus, werden kritisiert. Diese abgeurteilte Form der Radikalisierungsforschung erlangt im Zuge der Präventions- und Interventionsbestrebungen eine spezifische Perspektive unter der insbesondere die Ermittlung von Risikofaktoren in den Blick rückt. Abbay Gaspar et al. (2018: 3) fassen das wie folgt zusammen: „Doch durch diese weitgehende Gleichsetzung des Radikalisierungsbegriffs mit Terrorismus wird ein gewaltgebundenes Verständnis von Radikalisierung gefestigt, das in empirisch-analytischer Hinsicht verhindert, dass wir die Mechanismen von Radikalisierung besser verstehen können, weil wir einen Teil des Phänomens von vornherein aus der Analyse ausschließen. Wir verzerren also systematisch unsere Untersuchungen. In normativ-praktischer Hinsicht geraten so auch potenziell emanzipatorische Prozesse in den politischen Sog einer Sicherheitsdebatte, die ihnen ihre Legitimität abspricht“.

62

Diese Subjektorientierungen und modellhaften Entwicklungen von Präventionsmaßnahmen erscheinen ebenfalls bei der Betrachtung der wissenschaftlichen Diskurse zu Transformationsprozessen von abweichenden Personen hin zu konformen Lebensstilen relevant. Es zeigt sich bei der Betrachtung der Konzepte zu ‚Desistance‘, ‚Disengagement‘, ‚Deradikalisierung‘ und ‚Ausstieg‘, dass es eine starke konzeptuelle Orientierung an heteronormativen und normalbiografischen Lebensstilen gibt (Sigl 2018). Darüber hinaus sind die Konzepte eng mit der Frage nach institutionellen Bearbeitbarkeiten verknüpft. Insbesondere in der deutschen Forschungstradition gehen die Konzepte fast ausschließlich auf die institutionellen Bearbeitungskontexte zurück, indem sie Aussteiger*innen oder im Ausstiegsprozess befindliche Personen über entsprechende Programme rekrutieren. Es wird also deutlich, dass die soziale Welt der Extremismusprävention als ein umkämpftes Feld beschrieben werden kann, indem nach Deutungshoheiten gerungen wird. Dieses Ringen um Deutungshoheit als eine wissenschaftliche Dynamik, setzt einen Mechanismus frei, der dazu beiträgt, dass latente Problemlagen zu konkreten transformiert werden (Brusten 1999: 543 f.). Es wird an dieser Stelle also eine Reflexionsfähigkeit vorausgesetzt, die dazu führen muss, dass man sich als Wissenschaftler*in in dem Feld nach seiner Rolle befragen muss, „wenn gesellschaftliche Verhältnisse zu interventionsbedürftigen Notlagen stilisiert werden“ (Lautmann 2003: 65). Wie ist mit einer wechselseitigen Konstitution zwischen Forschungsgegenstand und Forschung umzugehen?41 Die Beantwortung dieser Frage wird im Folgenden zunächst durch die sozialtheoretische Fundierung der Soziologie sozialer Probleme und der Einführung des „doing social problems“ Konzepts (Groenemeyer 2012, 2014) operationalisiert und später durch die Darlegung der methodischen Herangehensweise konkretisiert.

41

Zu konkreten ethischen und rechtlichen Herausforderung bei einer qualitativen Beforschung von Radikalisierung siehe auch Bögelein et al. (2021).

63

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3.

Handeln, Wissen und Diskurs im Lichte der Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle

„Konstruktionen [sind] höchst reale Sachverhalte“ (Groenemeyer 2001: 18)

In diesem Abschnitt geht es um die sozialtheoretische Positionierung der vorliegenden Untersuchung einerseits und um eine transparente Gestaltung der theoretischen Sensibilisierung andererseits. Dabei werden die erarbeiteten theoretischen Grundlagen als theoretische Sensibilisierung fungieren: „The Use of Concepts. Throughout the act of scientific inquiry, concepts play a central role. They are significant elements in the prior scheme that the scholar has of the empirical world; they are likely to be the terms in which his [sic] problem is cast; they are usually the categories for which data are sought and in which the data are grouped; they usually become the chief means for establishing relations between data; and they are usually the anchor points in interpretation of the findings“ (Blumer 1969: 26).

Das Verständnis von Theorie und Empirie bei rekonstruktiven Forschungsarbeiten ist weder trivial noch kann davon ausgegangen werden, dass es sich um ein ‚theorieloses‘ Vorgehen handelt: „Das heißt, dass man mit bestimmten grundlagentheoretischen Annahmen seinen Finger immer auf ganz bestimmte Aspekte der sozialen Welt legt“ (Przyborski, Wohlrab-Sahr 2014: 31). Die theoretische Brille also, mit der das Vorhaben dieser Arbeit angegangen wurde, bildet eine selektive Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit ab und hilft die Daten ‚einzuordnen‘, wie es Blumer (1969) formulierte. Im Folgenden wird dargelegt, wie das theoretische Verständnis des sozialen Zusammenlebens entlang der soziologischen Grundbegriffe ‚Handeln‘, ‚Wissen‘ und ‚Diskurs‘ im Kontext der Soziologie sozialer Probleme und Kontrolle aufgefasst wird. Das Vorhaben nimmt daher interaktionistische Arbeiten, die dem amerikanischen Pragmatismus entspringen, zum Anlass, soziales Handeln als interpretative und interaktive Leistung zu verstehen. Zuerst einmal wird die Arbeit von Goffman eingeführt, um sein Identitätskonzept und die Arbeiten zu „totalen Institutionen“ für diese Arbeit fruchtbar zu machen (Kapitel 3.1.1). Von der Prämisse ausgehend, dass Radikalisierung und Extremismus als abweichendes Verhalten definiert werden, werden devianzsoziologische Überlegungen unter besonderer Berücksichtigung des Labeling Approaches thematisiert und als 64

Folgen sozialer Kontrolle verstanden (Kapitel 3.1.2). Daran anschließend wird der interaktionistische Zweig der Soziologie sozialer Probleme eingeführt und eine Verhältnisbestimmung zwischen dem als abweichend definierten Subjekt und seinem Verhalten und den reaktiven gesellschaftlichen Bearbeitungsstrategien vorgenommen (Kapitel 3.2). Um den Begriff ‚Diskurs‘ aus wissenssoziologischer Perspektive heraus zu konzeptualisieren, werden in Kapitel 3.2.1 die Grundgedanken der Wissenssoziologie und der wissenssoziologischen Diskursanalyse mit Blick auf die Problemsoziologie präsentiert. Dies mündet schließlich im „doing social problems“ Konzept von Groenemeyer (2010, 2012, 2014) (siehe Kapitel 3.2.2). Hierbei geht es um ein konkretes interaktionistisches und wissenssoziologisch sensibilisiertes Forschungsprogramm, welches ein theoretisches Gerüst für die Untersuchung von gesellschaftlichen Problematisierungsstrategien in konkreten institutionellen Bearbeitungssettings liefert. Insbesondere mit der wissenssoziologischen Fundierung des „doing social problems“ Konzeptes wird das Verhältnis zwischen Wissen, Diskurs und Handeln sozialtheoretisch bestimmt. Mit Groenemeyers Forschungsprogramm schließt das Kapitel ab und liefert damit einen theoretischen Kompass für diese Untersuchung. Wichtig hierbei ist ein Verständnis, bei dem die empirischen Auswertungen nicht der bloßen Überprüfung dieser Konzepte dienen, sondern diese als „sozialtheoretische Begriffe als sensibilisierende und mit einer notwendigen Vagheit ausgestattete[n] Konzepte zu begreifen“ (Bereswill 2019: 7) versuchen.

3.1

Vom amerikanischen Pragmatismus und symbolischen Interaktionismus zur interaktionistischen Devianzsoziologie42

In der Soziologie sozialer Probleme lassen sich zwei verschiedene Forschungsperspektiven unterscheiden: Die einen werden als ‚interaktionistisch‘ und die anderen als ‚objektivistisch‘ bezeichnet (Groenemeyer 2010). Daran anknüpfend wird im Folgenden die interaktionistische Tradition der Soziologie dargelegt, ohne zunächst eine stärkere Abgrenzung von ‚objektivistischen‘ Theorien vorzunehmen. Mit diesem Ansatz wird Wehrheim (2018) gefolgt, der davon ausgeht, dass die jüngere Soziologie sozialer Probleme Mertons objektivistische Problemsoziologie 42

Dieser Abschnitt ist in kurzen Passagen einer früheren Publikation entnommen (siehe Leimbach et al. 2021). Dort werden Gemeinsamkeiten bei der Entwicklung der Kriminalsoziologie, der Methodologie qualitativ-rekonstruktiver Sozialforschung und der Soziologie sozialer Probleme und Kontrolle herausgearbeitet, um dies zu einem neuen konzeptuellen Ansatz zusammenzuführen, den wir als „Qualitative Kriminologie“ bezeichnen. Hier werden Textstellen übernommen, die den Symbolischen Interaktionismus zum Ausgang nehmen, um das theoretische Verständnis in dieser Arbeit von Handeln, Wissen und Diskurs zu entwickeln.

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überwunden hat. Er ist der Überzeugung, es gäbe einen Konsens darüber, dass soziale Sachverhalte erst über ihre Problematisierung zu sozialen Problemen werden würden (Peters 2002; Schetsche 2014; Wehrheim 2018). Als gemeinsame Entwicklungslinie einer sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Devianz und sozialer Kontrolle und den ersten qualitativen Untersuchungen kann die „Chicago School“ betrachtet werden. Sie ist der Ursprungsort des amerikanischen Pragmatismus, dessen Handlungsbegriff durch George H. Mead und John Dewey geprägt wurde. Die pragmatistische Handlungstheorie bildet die Basis für die überwiegende Mehrheit der theoretischen und methodischen Überlegungen, die im Kontext der Chicagoer Schule entstanden (Schubert 2007: 120). Im amerikanischen Pragmatismus wird der Handlungsbegriff über eine kreative und experimentelle Aushandlung entworfen. Damit wird Handeln nicht nur, wie z. B. bei Weber (1980 [1920]) als zweckrational oder normorientiert betrachtet, sondern als ein Ergebnis angesehen, welches aus dem Zusammenwirken von individuellen Zwecken, sozialen Normen und kulturellen Werten entsteht (Schubert 2007: 121). Diese Betrachtung mündete in kriminalsoziologischen und stadtsoziologischen empirischen Arbeiten, deren Befunde sowohl mit der Entwicklung des symbolischen Interaktionismus als auch mit dem Werdegang qualitativer Methodologien und Methoden korrespondiert haben (Schubert 2009: 345). Die ersten Studien der Chicago School entstanden im frühen 20. Jahrhundert. Sie hatten einen ethnografischen Anspruch und beruhten insbesondere auf teilnehmenden Beobachtungen. Die Forscher43 konzentrierten sich zunächst, basierend auf einem ätiologischen, das heißt auf die Frage nach den Ursachen von Kriminalität gerichteten, Erkenntnisinteresse, auf die Karriere von Straftäter*innen (Shaw 1930) und auf subkulturelle Zusammenhänge (Anderson 1923; Whyte 1943; Landesco 1929; Thrasher 1927). In ihren meist explorativ angelegten Studien gingen sie den Beziehungen der beforschten Gruppen zu ihrem räumlichen Kontext und den Instanzen sozialer Kontrolle nach. Daher wird diese erste Studienphase der Chicago School auch als sozialökologischer Ansatz verstanden, aus dem unter anderem die Kriminalitätstheorie der sozialen Desorganisation hervorging (Park et al. 1925).44 Die grundlagentheoretische Verdichtung solcher Analysen wurde von dem Mead-Schüler Herbert Blumer unter dem Namen des Symbolischen Interaktionismus etabliert (Mead 1973; Blumer 1969; Blumer 2004). Diese mikrosoziologische Handlungstheorie legt ein Verständnis zugrunde, welches den Entste43 44

66

An dieser Stelle wird bewusst die männliche Form verwendet, da es sich hierbei um ausschließlich männliche Wissenschaftler handelte. Clarke (2012: 79) baut ihre methodische Herangehensweise des Mappings zur Analyse von Situationen später auf den sozialökologischen Studien der Chicagoer Schule auf (siehe auch Kapitel 4.1.1). Die Chicagoer Sozialökolog*innen nutzten für ihre ethnografischen Analysen zu Raum und Interaktion das Erstellen von Karten und Maps als methodisches Mittel im Erkenntnisprozess.

hungsprozess von Bedeutungen sozialer Objekte, Beziehungen und Gegenständen als Ergebnis einer symbolischen Interaktion zwischen Akteur*innen versteht (Blumer 1969; Blumer 2004; Mead 1973). Blumer (1973) formuliert für den symbolischen Interaktionismus drei Prämissen: • • •

Menschen handeln, weil sie Objekten, Gegenständen oder anderen Individuen bestimmte Bedeutungen zuweisen. Die Bedeutungen, die Objekten, Gegenständen oder anderen Menschen zugewiesen werden, entstehen in und durch soziale Interaktionen. Die wechselseitige Interpretation von Bedeutungen in sozialen Interaktionen führt dazu, dass diese, in der Auseinandersetzung angewendet, verändert oder umgedeutet werden. Diese Prozesse können sowohl geplant als auch ungeplant und dem deutenden Subjekt unbewusst passieren.

An diese Grundannahmen anschließend entwickelte sich die Ethnomethodologie als eigenständige Forschungsrichtung, die nach den konkreten Methoden fragt, mit denen Akteur*innen im Alltag anschlussfähig kommunizieren und damit soziale Wirklichkeit fortwährend herstellen (Garfinkel, Sacks 1976). Besonders bekannt sind in diesem Zuge die Garfinkelschen45 Krisenexperimente geworden, bei denen durch künstliche Missachtung handlungsleitender Normen, Werte und impliziter Kommunikationsregeln sichtbar wurde, wie voraussetzungsvoll das Funktionieren der scheinbar selbstverständlichen Alltagskommunikation ist. Anhand dieser Krisenexperimente werden die erkenntnistheoretischen Probleme der Indexikalität von Sprache und des Fremdverstehens greifbar, die einen zentralen Bezugspunkt der methodologischen Fundierung einer ganzen Bandbreite qualitativ-rekonstruktiver Ansätze der Sozialforschung darstellen (Przyborski, Wohlrab-Sahr 2014; Kruse 2015). Die Ethnomethodologie wird auch als Theorie des Alltagshandelns (Abels 2009: 87) und als „Theorie sozialer Ordnung“ bezeichnet: „Für die Ethnomethodologie ‚verwirklicht‘ sich gesellschaftliche Wirklichkeit erst im alltäglichen Handeln, soziale Ordnung ist für sie ein fortwährendes Erzeugnis von Sinnzuschreibungen und Interpretationsleistungen“ (Bergmann 2000: 527). Dabei beschreibt Indexikalität die Vagheit menschlicher Kommunikation. So sind einzelne Begriffe nur im situativen Kontext oder in ihrer begrifflich-referentiellen Dimension zu verstehen (Kruse 2015: 75). Zurückgehend auf den amerikanischen Pragmatismus, den symbolischen Interaktionismus und die Ethnomethodologie, wird soziales Handeln in dieser Arbeit als ein wechselseitiger Deutungs- und Interpretationsprozess verstanden. 45

Als ein Schüler von Alfred Schütz (1971) stützt Harold Garfinkel (1980) seine interaktionistischen Überlegungen zur Ethnomethodologie auf Schützes Phänomenologie. Wichtige Bezüge bestehen zudem zur Mannheimschen (1970 [1952]) Wissenssoziologie, auf die später Bohnsack (2014) seine qualitativ-rekonstruktive Dokumentarischen Methode aufbaute.

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Diese handlungstheoretische Verortung dient damit nicht nur als Wegbereiter für die weitere theoretische Fundierung dieser Arbeit bei der Soziologie sozialer Probleme und sozialer Kontrolle, sondern auch für die methodologische und methodische Positionierung (siehe Kapitel 4). Mit den Arbeiten von Tannenbaum (1938) und darauf aufbauend Lemert (1967) wird das interaktionistische Paradigma in den 1920er und 1930er Jahre mit Bezug auf abweichendes und delinquentes Verhalten aufgegriffen. Lemerts (1967) Analysen zur primären und sekundären Devianz sind der Beginn des Labeling Approaches bzw. des Etikettierungsansatzes (siehe auch Kapitel 3.1.2). Unter Rückgriff auf die interaktionistische Feststellung von Tannenbaum (1938: 17 f.) „the young delinquent becomes bad because he [sic] is defined as bad“ konstatiert Lemert erstmaliges abweichendes Verhalten als primäre Devianz, die sodann von außen definierte Rolle des*der Abweichler*in wird durch Verhaltensanpassung erfüllt und damit als sekundäre Devianz bezeichnet. Dieser interaktionistische Ansatz zur Erklärung von abweichendem bzw. delinquentem Verhalten wird auch unter Bezug auf das Thomas-Theorem herausgearbeitet: „If men define situations as real, they are real in their consequences“ (Thomas, Thomas 1928: 572). Durch die Erkenntnis, dass Wissen über Menschen und Probleme Ergebnis interaktiver Kommunikationen und Aushandlungen ist, wird schließlich Howard Beckers Arbeit „Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance“ (1963) in der nordamerikanischen Kriminologie zu einem wichtigen Werk der sogenannten zweiten Chicagoer Schule (Miller et al. 2015). Becker (1963) rekonstruiert institutionelle und gesellschaftliche Vorgänge, die dazu führen, dass bestimmte Verhaltensweisen von bestimmten Gruppen kriminalisiert werden. Sogenannte Moralunternehmer*innen („moral entrepeneurs“), wie z. B. Sozialarbeiter*innen oder auch Polizeibeamt*innen sind dafür verantwortlich, das zuvor kriminalisierte Verhalten durch die Durchsetzung gesellschaftlich anerkannter oder rechtlicher Normen zu verhindern, zu sanktionieren oder zu bearbeiten. Hierbei wird in der vorliegenden Arbeit besonders der Idee Beckers (2014 [1963]) gefolgt, dass die Anwendung und Durchsetzung spezifischer Normen selektiv ist und ihre Anwendung erfolgreich sein muss. Hierbei ist ein besonders zentraler Punkt, dass Lemert und Becker in ihren Arbeiten herausstellen, dass abweichendes Verhalten auch aus einer interaktionistischen Perspektive heraus erklärt werden kann, indem sie die Rolle jener bestimmen, die abweichendes Verhalten als dieses bezeichnen und damit zu einer Definition bzw. einem gesellschaftlichen Verständnis von abweichendem Verhalten beitragen.

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3.1.1 Identität und „totale Institution“ bei Goffman Zur sogenannten zweiten Chicagoer Schule werden auch die Arbeiten von Erving Goffman gezählt, der nicht nur einen zentralen soziologischen, handlungstheoretischen Beitrag mit seinem Dramaturgical Approach46 in Anlehnung an den symbolischen Interaktionismus leistet, sondern mit seinen Werken „Asylums: Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates“ (1961) und „Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity“ (1963) bis heute in Forschungen rezipiert wird, die sich mit abweichendem Verhalten und den gesellschaftlichen Reaktionen darauf beschäftigen (Schubert 2009; Jukschat, Lehmann 2020; Wacquant 2010; Neuber, Zahradnik 2019; Negnal 2016). Mit dem Werk „Stigma“ leistet Goffman (1963) einen zentralen Beitrag für ein interaktionistisches Verständnis von Etikettierungen mit Blick auf die Etikettierten selbst. Während bei Becker und Lemert die Rolle des*der Stigmatisierten im Etikettierungsprozess weitestgehend unklar bleibt, gilt dies nicht für Goffmans Arbeiten. Ein Stigma erscheint für Goffman erst durch soziale Relationen und wird innerhalb von sozialen Beziehungen hergestellt. Das Stigma beziehe sich meist auf bestimmte Merkmale, die in einer unerwünschten Weise von den Erwartungen der Anderen abweicht. Hierbei geht es Goffman nicht etwa um das Merkmal selbst, sondern darum, dass dieses als etwas Negatives oder Unerwünschtes definiert wird. Die Erfahrung der Stigmatisierung koppelt Goffman an seine Identitätstheorie, bei der er zwischen einer sozialen Identität, einer persönlichen Identität und einer Ich-Identität unterscheidet. Die soziale Identität bildet sich aus der Zuordnung zu gesellschaftlichen Kategorien wie z. B. ‚Studierende‘ oder, relevant für diese Arbeit, ‚Inhaftierte‘ (Goffman 2016 [1963]: 30 ff.). Eine persönliche Identität47 bildet sich zum einen aus den biografischen und damit sehr individuellen Erfahrungen und zum anderen aus der Identifizierung des Subjekts als eine relationale Positionierung im sozialen Umfeld des Individuums (ebd.: 67 ff.). Die Ich-Identität stellt das subjektive Empfinden, verknüpft mit den sozialen Erfahrungen des Individuums, dar (ebd.: 156 ff.). Im Kontext der Stigma-Theorie bedeutet dies:

46

47

Goffman (2003 [1959]) entwickelt aus dem dramaturgischen Konzept eine Analogie, um Handeln und Identität zu erklären. Die Hauptidee ist, dass das Leben eine Darstellung mit Subjekten als Schauspieler*innen ist. Dahinter verbirgt sich die rollentheoretische Annahme, dass Akteur*innen beim Handeln immer bestimmte gesellschaftliche Rollen performen. Dabei unterscheidet er zusätzlich die Vorderbühne und die Hinterbühne. Bestimmte Rollen und damit verbundene Handlungen werden nur auf der Vorderbühne ausgeführt, während ein Teil im Verborgenen bzw. auf der Hinterbühne bleibt. Im Englischen heißt es „personal identity“, was durch die deutsche Übersetzung zu „persönlich“ zu einer sprachlichen Ungenauigkeit führt. „Persönliche Identität“ ist nicht in einem psychologischen Sinne gemeint, sondern als ein Identitätsmerkmal, welches aus der Positionierung des Subjekts in seinem sozialen Umfeld entsteht (von Kardoff 2009: 140).

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„Der Begriff der sozialen Identität erlaubt uns, Stigmatisierungen zu betrachten. Der Begriff persönliche Identität erlaubt uns, die Rolle der Informationskontrolle im Stigma-Management zu betrachten. Die Idee der Ich-Identität erlaubt uns, zu betrachten, was das Individuum über das Stigma und sein Management empfinden mag, und führt uns dazu, den Verhaltensregeln, die ihm hinsichtlich dieser Dinge gegeben werden, besondere Aufmerksamkeit zu widmen“ (Goffman 2016 [1963]: 133).

Goffman fokussiert damit den Konflikt zwischen der Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen und der Einzigartigkeit des Individuums. Für ihn liegt die handlungsrelevante Wirklichkeit zwischen den beiden Polen. Da Goffmans mikrosoziologische Betrachtungsweise auf den konkreten Interaktions- und Kommunikationssituationen liegt, weist er dem gesellschaftlichen Kontext, der sich durch die Einhaltung sozialer Normen und Regeln (z. B. institutionalisierte Normen, wie das Strafrecht, aber auch ‚weiche‘ Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens) eine besondere Bedeutung bei der Analyse von Interaktionen zu. Soziale Normen bilden sozusagen die ‚Weichenstellung‘ für Stigmatisierungen und sind in ein Normalitätsdispositiv (gesellschaftlicher Kontext) eingebunden (von Kardoff 2009: 140). Für Goffman ist hierbei der Begriff der Situation zentral. So ist eine seiner fundamentalen Ansichten, dass soziale Handlungen „sozial situiert“ sind (Goffman 1994: 56). „Diese Situiertheit nimmt ein derartiges Ausmaß an, daß Handlungen, die in völliger Einsamkeit vollzogen werden, schon oftmals allein durch dieses Merkmal ausreichend charakterisiert sind“ (ebd.: 56). Reichertz und Wilz (2015) betten Goffmans Aussage wie folgt ein: „In jeder Situation finden sich die Beteiligten situiert durch soziale Formate, Sprache, Typiken und Ordnungen, die sie zwar deuten müssen, die sie aber nicht beliebig deuten können, da sie gemeinsame Muster der Deutung haben“ (ebd.: 52). Die Bedeutung des Situativen wird in dieser Arbeit durch die Situationsanalyse von Clarke (2012) als methodologische Heuristik ergänzt und zum analytischen Gegenstand gemacht. Damit rückt die Situation selbst in den Fokus der Untersuchung und Handlungssubjekte und Handlungen werden zu Träger*innen der Situation, bilden aber nicht den eigentlichen Fokus, wie es bereits öfter in der interpretativen Sozialforschung vorgeschlagen wurde (Reichertz 2009; Reichertz, Wilz 2015: 42; Soeffner 2013). Die Bedeutung der Situationsanalyse für diese Arbeit wird in Kapitel 4 dargelegt. Die sozialtheoretische Fundierung unter anderem bei den Arbeiten von Goffman zu Identität und Interaktion, stellt eine Anschlussfähigkeit zur methodologischen Ausrichtung dieser Arbeit dar und verbindet damit Theorie und Empirie. Mit Goffmans theoretischen Überlegungen sensibilisiert, soll herausgestellt werden, dass die Definition von Devianz situativ bzw. kontextspezifisch gedacht und institutionelle Zusammenhänge bei dem Definitionsprozess betrachtet werden müssen. Darüber hinaus wird deutlich, dass die Rolle der deviant etikettierten Person im empirischen Forschungsprozess näher zu bestimmen ist. 70

Goffmans Identitätstheorie ist für diese Arbeit insofern relevant, als dass sie eine sensibilisierende Unterscheidung für die Analyse bietet. So wird zwischen den, durch äußere Situationen wie einen Gefängnisaufenthalt entstehenden, Umständen für die Identität, der Identifizierung der Person zu bestimmten Gruppen und schließlich dem subjektiven Empfinden der Person basierend auf deren Erfahrungen, analytisch differenziert. Damit lässt sich besonders bei den Interviews mit den als radikalisiert etikettierten Personen zwischen den drei Identitätstypologien unterscheiden und das Verhältnis dieser zueinander beleuchten. Darüber hinaus kann mit einem interaktionistischen Theorieverständnis das wechselseitige Verhältnis zwischen Ausstiegsbegleiter*innen, den Adressat*innen und ihren sozialen Situationen in Bezug auf die Identitätskonstruktion der Adressat*innen fokussiert werden. Weitere Aspekte, die in dieser Arbeit von Interesse sind, wie etwa die wechselseitige Wissensproduktion rund um spezifische Problematisierungen innerhalb der Maßnahmen, werden etwa durch einen wissenssoziologischen Ansatz ergänzt, der im Folgenden ebenfalls präsentiert wird. Da ein Großteil der Extremismuspräventionsmaßnahmen im Strafvollzug stattfindet, zeigt sich außerdem Goffmans Arbeit zu „totalen Institutionen“ als relevant für diese Arbeit (2016a [1973]). Soziale Institutionen werden zunächst als Räume, Gebäude oder Betriebe bezeichnet, in denen regelmäßige Tätigkeiten ausgeführt werden, die bestimmten Logiken unterliegen (ebd.: 15). Eine „totale Institution“ wird durch ihre beschränkenden und zugleich für dessen Insass*innen allumfassenden, kontrollierenden, maßregelnden, überwachenden und autoritären Funktion charakterisiert (ebd.: 16 ff.). „Totale Institutionen“ können neben Gefängnissen auch Psychiatrien oder Kinderheime sein. Goffman beschreibt eindrücklich, inwiefern ein Aufenthalt in diesen Institutionen ein einschneidendes Erlebnis für die Identitätskonstruktion, das Selbstbild und biografische Entwürfe eines Individuums ist. Er beschreibt den Aufenthalt als einen bürgerlichen Tod, der durch einen Bruch mit früheren sozialen Rollen und einer äußeren Beschränkung des Selbst einhergeht (ebd.: 24 ff.). Dies trifft auf Gefängnisse in besonderer Weise zu, da sie, im Gegensatz zu psychiatrischen Kliniken oder einem Altersheim, nicht durch die Fürsorge der Insass*innen, sondern durch die institutionelle Logik der Bestrafung bestimmt sind.48 Insbesondere die Wegnahme der zivilen Kleidung und anderer persönlicher Gegenstände sowie der Entzug kultureller Vergnügungen, wie dem Hören von Musik, dem Surfen im Internet oder Fernsehen werden mindestens begrenzt, wenn nicht sogar komplett untersagt. Goffman (2016a [1973]: 64 ff.) präsentiert verschiedene Typen von Umgangsweisen mit dieser Form der Identitätsverletzung: 48

Anders beim Jugendstrafvollzug, der sowohl maßregelnd ist als auch einen erzieherischen, gesetzlich verankerten Leitgedanken pflegt (Meier 2018) und dennoch in seinen Auswirkungen auf die Identität der Insassen durchaus vergleichbar ist (empirische Ergebnisse hierzu z. B. Bereswill 2010).

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• • • •

Anpassung: die Assimilierung, bei Goffman auch „Kolonisierung“ genannt, an die Welt der Institution. Konversion: Die Person übernimmt die auferlegte Rolle und erfüllt diese in einer monochromen Art und Weise, spielt also die*den perfekte*n „Insassen*in“. Rebellion: Nicht-Einhaltung der Institutionenlogik bis hin zu einer Zur-WehrSetzung gegen diese. Vollkommener Rückzug: Ein solcher Rückzug kann im Sinne einer resignierenden, bis hin zur depressiven und suizidalen Haltung der Insass*innen verstanden werden.

Die drastischen Erfahrungen einer Gefangenschaft wurden von Sykes (1999 [1958]) als „Schmerzen des Freiheitsentzugs“ bezeichnet. Die Untersuchung fokussierte erstmalig die Perspektive männlicher Strafgefangener und rekonstruierte, wie der Strafvollzug zu existenziellen und psychosozialen Krisen führt. Die empirischen Ergebnisse von Sykes’ Studie werden von ihm in fünf Dimensionen einer Deprivationssituation beschrieben: Entzug der Freiheit, Entzug von eigenem Besitz, Verbot von heterosexuellen Beziehungen, Entzug der (Entscheidungs-) Autonomie und eine generelle persönliche, unsichere Situation (Sykes 1999 [1958]: 63 ff.; Neuber 2020: 114). Goffman stützt seine eigene Arbeit zu „totalen Institutionen“ auf Sykes Studie und führt sie mit seinen Untersuchungen zusammen (Goffman 2016a [1973]: 25). Ein Gefängnisaufenthalt wird also als biografische Erfahrung verstanden, die einen konflikthaften Interaktionsprozess darstellt. In Anlehnung an die Arbeiten von Bereswill (2010) und Neuber (2009) kann dieser Interaktionsprozess als ein wechselseitiges Ringen um Autonomie, Anerkennung und Abhängigkeit verstanden werden.

3.1.2 Interaktionistische Devianzsoziologie und Soziale Kontrolle Lemerts und Beckers Arbeiten werden unter dem Sammelbegriff des Labeling Approaches zusammengefasst49 und auch in Deutschland durch Fritz Sack aufgegriffen, der sie um eine marxistische Perspektive anreichert (Sack 1972). Auf 49

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Beckers und Goffmans Arbeiten werden von Herbert Blumer (1969) beeinflusst, der mit dem symbolischen Interaktionismus nicht nur die Basis für einen Meilenstein in der soziologischen Handlungstheorie gelegt hatte, sondern auch für die qualitative Sozialforschung: Blumers Arbeiten dienen Glaser und Strauss (1967) wesentlich für die Ausarbeitung der Grounded Theory Methodology (GTM) (siehe hierzu auch Kapitel 4.1). Dieser nicht-standardisierte, induktiv und abduktiv arbeitende sowie ergebnisoffene Forschungsansatz bildet einen totalen Gegenentwurf zum zur damaligen Zeit dominanten positivistischen, auf statistische Messbarkeit fokussierten Paradigma, das auch in der Kriminologie in Form einer psychologisierenden, teilweise biologisierenden und standardisiert-denkenden Konzeption von Kriminalität ab den 1960er Jahren eine Hochphase erlebte (Lamnek 2017: 72 ff.).

diese Weise wird die Konzeption von Devianz und Delinquenz als Ergebnis gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse um eine Machtperspektive ergänzt. Dahinter steckt die Annahme, dass nur Akteur*innen, die Macht und Deutungshoheit innehaben, erfolgreich machtlose Akteur*innen durch kriminalisierende Label etikettieren zu können. Diese herrschaftskritische Betrachtungsweise wird in Deutschland als ‚Kritische Kriminologie‘ verhandelt und hatte in den 1980er Jahren ihre Hochphase (Dellwing 2015: 99). Sie bildet damit eine Strömung der „interaktionistischen Devianzsoziologie“ (Dellwing 2015: 37), der sich auch Becker zuordnet, da er den Begriff des Labeling Approaches selbst, aufgrund seiner konzeptuellen Verengung, ablehnt. Auch in der vorliegenden Arbeit soll der Fokus weniger auf dem spezifischen Etikettierungsprozess liegen, als vielmehr die Bedeutung interaktionistischen Zusammenwirkens bei staatlichen und gesellschaftlichen Problematisierungen und daraus wachsenden Bearbeitungsstrategien herausgearbeitet werden. So wird soziales Handeln als symbolische Interaktion begriffen. Die hier präsentierten Ansätze der interaktionistischen Devianzsoziologie sollen die Wechselwirkungen zwischen Problemdefinierer*innen und als problematisch definierten Akteur*innen erhellen, denn diese werden insbesondere im Kontext von Maßnahmen sozialer Kontrolle bedeutend. Soziale Kontrolle wird nach Scheerer (2000: 167) „als ein Ensemble all dessen definiert, was unerwünschtes Verhalten verhindern soll und/oder faktisch verhindert (auch der Versuch der Verhinderung kann ein Kontrollverhalten sein) – sowie all dessen, was auf unerwünschtes Verhalten reagiert (ob das nun funktioniert oder nicht)“. In diesem Sinne werden Maßnahmen der Prävention und Intervention von Extremismus als institutionelle Reaktion auf zuvor als unerwünscht definiertes Verhalten verstanden. Dies impliziert, dass im Rahmen von Präventionsarbeit zwischen einem ‚normalen‘ und ‚erwünschten‘ Verhalten einerseits und einem ‚abweichenden‘ und ‚unerwünschten‘ Verhalten andererseits differenziert wird (Leimbach 2019: 147; Ziegler 2006). Insbesondere staatliche Institutionen haben die Macht, bestimmte Vorstellungen von Normalität und Abweichung zu definieren und durchzusetzen (Sack 1972). Dies knüpft an Beckers interaktionistische Devianzsoziologie an: „Ich meine vielmehr, dass gesellschaftliche Gruppen abweichendes Verhalten dadurch schaffen, dass sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert und dass sie diese Regeln auf bestimmte Menschen anwenden, die sie als Außenseiter etikettieren. Von diesem Standpunkt aus ist abweichendes Verhalten keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere und der Sanktionen gegenüber einem ‚Missetäter‘. Der Mensch mit abweichendem Verhalten ist ein Mensch, auf den diese Bezeichnung erfolgreich angewandt worden ist; abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen als solches bezeichnen“ (Becker 2014 [1963]: 31).

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Institutionen sozialer Kontrolle stellen in dieser Lesart Regeldurchsetzer*innen dar, die im Rahmen ihrer kontrollierenden Funktion Vorschriften anwenden. Die Personalisierung der Regeln, also die Anwendung auf bestimmte Personen, produziert Etikettierungen. Einerseits werden soziale Abweichungen, die als problematisch definiert werden, durch ihre Personalisierung erst bearbeitbar und andererseits können zahlreiche unintendierte Nebenfolgen auftreten, die Scheerer (2000: 166) pointiert als „Ironien sozialer Kontrolle“ bezeichnet. Damit sind die nicht intendierten Handlungsergebnisse gemeint, die durch Kontrollinstanzen und deren Kontrollverhalten entstehen können. Wenn also Prävention eine (staatliche) Reaktion auf den Umgang mit Gefahren oder Unsicherheiten ist, dann sind präventive Handlungen sowohl nach Scheerer (200: 167) als auch nach Becker (2014 [1963]: 31) eine Form der sozialen Kontrolle (Leimbach 2019: 147). Soziale Kontrolle ist also ein Oberbegriff für jegliche Bemühungen, durch soziale Gemeinschaften bestimmte Sozialordnungen zu bewahren oder (wieder-)herzustellen (Hess 2015; Lucke 2014; Peters 2009). Gerade weil es sich bei sozialer Kontrolle um den Erhalt oder die (Wieder-)Herstellung von Normkonformität handelt, ist diese zugleich Produkt und Produzent*in gesellschaftlicher Machtstrukturen (Foucault 2008; Kreissl 2000). Dabei spielen Institutionen der sozialen Kontrolle eine wichtige Rolle. Soziale Kontrolle wird durch zahlreiche (institutionelle) Akteur*innen ausgeführt. Diese können neben der Polizei und Justiz auch Institutionen der Sozialarbeit, Psychologie, politische Parteien und vielem mehr sein. Dies bedeutet, dass Devianz und Delinquenz gesellschaftlich definiert werden und dass diese kontextspezifisch50 bzw. situativ sind. Daran anknüpfend werden gesellschaftliche bzw. institutionelle Bearbeitungsstrategien entwickelt. In dem Definitions- und Bearbeitungsprozess ist die Rolle der als deviant etikettierten Personen näher zu bestimmen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Etikettierungen ausschließlich an passive Personen geheftet werden, sondern es sich in vielen Fällen um ein Wechselspiel zwischen aktiven und passiven Momenten handelt. Dass solche gesellschaftlichen Bearbeitungsstrategien, wie Extremismuspräventionsmaßnahmen, selbst zu Interaktionen der Problemdefinition beitragen, wird in der Soziologie sozialer Kontrolle und Probleme thematisiert. Diese nimmt ihren Ausgang beim symbolischen Interaktionismus und der interaktionistischen Devianzsoziologie, führt diese jedoch in gesellschaftlichen Mehrebenen-Modellen und empirischen Forschungsprogrammen weiter. Für die Soziologie sozialer Probleme stellt sich die zentrale Frage, wie soziale Probleme überhaupt zu solchen werden. Ausgehend von dem Verständnis der interakti50

74

In Kapitel 4 wird die Situationsanalyse mit all ihren Implikationen eingeführt. Dazu gehört, dass nicht länger von Kontext gesprochen wird, sondern alles in der Situation ist. Da dies jedoch an dieser Stelle noch nicht tiefergehend erläutert wurde, wird für ein besseres Verständnis der Begriff ‚Kontext‘ noch in einigen Fällen verwendet.

onistischen Devianzsoziologie, dass soziale Abweichung auch als interaktiver ‚Bedeutungszuweisungprozess‘ zu verstehen ist, stellt sich die Frage wie kollektive Phänomene zu sozialen Problemen werden. Im folgenden Kapitel wird deshalb der interaktionistische Zweig der Soziologie sozialer Probleme unter besonderer Berücksichtigung sozialkonstruktivistischer und wissenssoziologischer Ansätze eingeführt. Dies wird schließlich mit Groenemeyers (2010, 2012, 2014) Forschungsprogramm „doing social problems“ zur Untersuchung von sozialen Problemen enggeführt und im Sinne eines sensibilisierenden Konzeptes konkretisiert.

3.2

Der interaktionistische Zweig der Soziologie sozialer Probleme

Im Folgenden werden für diese Arbeit relevante Positionen und Diskussionen der Soziologie sozialer Probleme, unter besonderer Berücksichtigung interaktionistischer Ansätze, nachgezeichnet.51 Groenemeyer (2016) trennt bei der wissenschaftlichen Beschreibung des Begriffes ‚Soziale Probleme‘ in zwei verschiedene Forschungsströmungen: Eine ätiologisch orientierte und eine interaktionistisch orientierte Soziologie sozialer Probleme. Basierend auf den bisherigen Ausarbeitungen zum symbolischen Interaktionismus findet die interaktionistische Betrachtungsweise im Folgenden besondere Beachtung. Bevor eine weitere theoretische Auseinandersetzung zur Soziologie sozialer Probleme erfolgt, soll ihr Gegenstand näher bestimmt werden. Groenemeyer (2012: 27 f.) wertet verschiedenste Definitionen von sozialen Problemen aus und kommt zu dem Schluss, dass drei Elemente wesentlich erscheinen: „Ein Teil der Definitionen betont besonders den Aspekt des Schadens, den soziale Probleme darstellen, bzw. das Leiden, das mit sozialen Problemen verbunden ist. Bereits in der Definition von Case (1924) ist die besondere Bedeutung der öffentlichen Thematisierung und Problematisierung hervorgehoben, die in vielen später erschienen Definitionen als zentraler Aspekt der Definition sozialer Probleme verwendet werden. Schließlich liegt es in der Natur der Sache, dass Probleme eine Bearbeitung oder Lösung anmahnen, ansonsten wären es ja keine Probleme. Von daher wird in nahezu allen Definitionen der Apellcharakter sozialer Probleme als Aufforderung zur Veränderung der Situation hervorgehoben“ (ebd.: 28 f.).

Der erste Aspekt fokussiert also die Schadhaftigkeit sozialer Probleme. Dabei geht es nicht nur um die Definition einer gesellschaftlichen Abweichung, sondern 51

Dieser Abschnitt erhebt nicht den Anspruch, einen vollständigen Überblick über Theorien und Modelle der Soziologie sozialer Probleme darzustellen. Für einen solchen Überblick siehe Peters (2002), Schetsche (2014) oder Albrecht und Groenemeyer (2012).

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auch um die Erweiterung dieses Begriffes durch die Feststellung, dass diese dysfunktional für die Gesellschaft ist. Diese Sichtweise verbindet sich mit dem, was Groenemeyer als dritten Aspekt benennt, nämlich die gesellschaftliche Reaktion auf die als problematisch definierten Personen, Situationen oder Verhaltensweisen und ihre Bearbeitung. Über diesen Punkt schließt das Konzept sozialer Probleme direkt an das bereits ausgearbeitete Konzept der sozialen Kontrolle an. Groenemeyers zweiter Aspekt, dass die öffentlichen und institutionellen Problematisierungsprozesse Bearbeitungsstrategien evozieren, um den zuvor definierten Problemen zu begegnen, erhält in dieser Arbeit eine besondere Bedeutung. Sowohl Becker als auch Blumer betonen die Rolle kollektiver Akteur*innen bei der Etablierung von Problemkategorien als Interaktionsgefüge. So etabliert sich die Hauptthese, dass „soziale Probleme hauptsächlich Resultate eines Prozesses kollektiver Akteure [sic] sind“ (Blumer 1975: 102).52 Becker untersucht in „Outsiders“ (1963) die kollektive Problematisierung und Bearbeitung des Marihuanakonsums. Gusfield (1963) und Cohen (1972) nehmen starken Alkoholkonsum und Jugendkriminalität zum phänomenologischen Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen und bezeichnen die Problematisierungsstrategien als „symbolischen Kreuzzug“ (Gusfield 1963) und als „moralische Panik“ (Cohen 1972). Cohen eröffnet mit seinem Begriff der „folk devils“ (ebd.) eine weitere wichtige Ebene, nämlich die der Identifizierung und Problematisierung von bestimmen Gruppen, die als schwierig erachtet werden. Die Kollektivität von Problematisierungsprozessen bezieht sich damit nicht nur auf die Problemdefinierer*innen, sondern auch auf jene, die als problematisch markiert werden. So wird die Hauptthese etabliert, dass „soziale Probleme hauptsächlich Resultate eines Prozesses kollektiver Akteure sind“ (Blumer 1975: 102). Die Beschäftigung mit sozialen Komplikationen als Prozesse der Problematisierung sind damit ein genuin-soziologischer Bereich, der in weiten Teilen Überschneidungen zur (interaktionistischen) Kriminologie hat (Groenemeyer 2012: 36 ff.). Die gesellschaftliche Interpretation von bestimmten Situationen als abweichend von bestehenden Normen und Moralvorstellungen wird in dieser Arbeit als ein Prozess verstanden. Hierzu hat Schetsche (1996: 39 ff.) verschiedene Typen von kollektiven Akteur*innen unterschieden, die basierend auf ihren Moralvorstellungen, Ressourcen und ihrer sozialen Herkunft über die Macht verfügen, Problematisierungen zu etablieren. Ein Aspekt, den Groenemeyer (2012: 31) ebenfalls aufgreift: „Problematisierung ist immer ein Prozess, in dem (Deutungs-) Macht, Herrschaft und kulturelle Hegemonie eine zentrale Rolle spielen“. Damit

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Groenemeyer (2012: 61) betont, dass das interaktionistische Verständnis von Becker und Blumer deshalb so nah beieinanderliegen, weil sich beide auf Fuller und Myers Aufsatz von 1941 beziehen. Ohne an dieser Stelle einen historischen Abriss der Soziologie sozialer Probleme geben zu können, soll zumindest darauf verwiesen sein.

wird eine Dimension eröffnet, die im weiteren Textverlauf noch einmal in Bezug auf die wissenssoziologische Diskursanalyse relevant wird (siehe Kapitel 3.2.1). Das Verständnis von sozialen Problemen als Prozesse der Problematisierung knüpft an die Arbeiten von Spector und Kitsuse (1973, 1977) an. Kitsuse und Spector (1973) kritisieren, dass der Begriff des „sozialen Problems“ nur eine andere Beschreibung für eine pathologisierende und ätiologische Denkweise ist. Mit ihrem Gegenentwurf eines konstruktivistischen Forschungsprogramms sozialer Probleme bilden sie einen Klassiker der aktuellen (interaktionistischen) Soziologie sozialer Probleme. Anders als bei Becker (1963) und Blumer (1975) konstatieren Kitsuse und Spector (1977), dass soziale Probleme kein Interpretationsergebnis von sozial gegebenen, ‚objektiven‘ Tatsachen sind, sondern dass diese nur bestehen, weil es dauerhaft soziale Gruppen gibt, die bestimme Situationen problematisieren. Sie nennen die Strategie solcher Problemgruppenkonstruktionen durch etablierte Akteur*innengruppen „claims-making activities“ (ebd.). Mit dem radikal konstruktivistischen Werk von Spector und Kitsuse wird eine Diskussion entfacht, die sich auf einem Kontinuum bewegt, bei dem soziale Probleme aus rein (sozial-)konstruktivistischer Perspektive oder als objektive Tatbestände, die ‚tatsächliches‘ gesellschaftliches Leid verursachen, begriffen werden. Woolgar und Pawluch (1985) formulieren eine fein ausgearbeitete Kritik gegenüber konstruktivistischen Ansätzen zur Analyse sozialer Probleme im Allgemeinen und Spector und Kitsuse gegenüber im Speziellen. Sie sehen eine Problematik darin, dass Vertreter*innen konstruktivistischer Ansätze zwischen der Deutungsebene und der Tatsachenebene willkürlich hin und her pendeln (ebd.: 215 ff.). So werde in konstruktivistischen Studien selektiv auf vermeintlich ‚objektive‘ Tatbestände zurückgegriffen, um andere Bedingungen oder Phänomene als ‚konstruiert‘ zu analysieren. Sie bezeichnen diese analytische Ungenauigkeit als „ontological gerrymandering“53 (ebd.) und heben damit einen wichtigen Aspekt hervor, mit dem sich seither konstruktivistische Vertreter*innen konfrontiert sehen: Es gilt zwischen den Realitätsebenen – ‚objektive‘ Tatbestände und Deutungsebene – zu unterscheiden oder sich mit dem Zusammenwirken beider Ebenen auseinanderzusetzen. Darüber hinaus fordern Woolgar und Pawluch (1985) einen „reflexiven Konstruktivismus“, der die Analyse von sozialen Problemen selbst zum Gegenstand einer Denkweise macht, die auch die wissenschaftliche Beschäftigung als Konstruktion betrachtet. Groenemeyer (2012: 70 f.) sieht hier die Gefahr, dass eine konstruktivistische Soziologie sozialer Probleme sich dann einzig auf sprachliche und rhetorische Analysen von Herstellungsprozessen zurückzieht. Die produktive Existenz solcher Analysen soll damit nicht angezweifelt werden, trotzdem darf die Analyse von sprachlichen Strukturen gesellschaftlicher

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Schetsche (2014: 21) übersetzt den amerikanischen Begriff „gerrymandering“, zu Deutsch Wahlbetrug, mit „manipulativer Strategie“.

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Problematisierungen nicht die einzige Form konstruktivistischer Forschungsstile darstellen. Groenemeyer (2012: 70) verdeutlicht das erkenntnistheoretische Problem bei der Untersuchung sozialer Wirklichkeit, indem er in einem interaktionistischen und wissenssoziologischen Verständnis konstatiert, dass die soziale Welt in ihren Zusammenhängen nicht direkt, sondern nur kognitiv zu erfassen sei. So wird Wissen im sozialen Miteinander hergestellt, bearbeitet oder verworfen, kurzum konstruiert. Die daraus resultierende Intersubjektivität muss in einer bestimmten Form anschlussfähig sein, damit bestimmtes Wissen und die darin enthaltenen Deutungen kollektiv etabliert werden können. Während soziale Realitäten aushandelbar und veränderbar sind und materielle Realitäten zumindest den Eigenschaften nach angepasst werden können, lassen sich soziale Probleme als konstruiert und in ihrem Ergebnis durchaus materiell definieren. Groenemeyer lehnt seine Überlegungen damit stark an die Wissenssoziologie von Berger und Luckmann (2016 [1969]) an. Auf dieser Basis wird das Materielle, im Duktus von Berger und Luckmann fortfolgend als ‚Objektivierungen‘ bezeichnete, als erfolgreiche Institutionalisierung sozialer Konstruktionen verstanden. Auf Basis dieser Überlegungen wird in der vorliegenden Arbeit eine Position eingenommen, die sich mit dem Vorwurf des „ontological gerrymandering“ konfrontiert sieht, sich jedoch der inhaltlichen Diskussion über die Möglichkeiten konstruktivistischer Forschungsperspektiven vorerst entzieht.54 Die problemtheoretische Diskussion zwischen objektivistischen und konstruktivistischen Positionen (siehe auch Schetsche 2008: 35) werden als wenig zielführend für eine empirisch orientierte Problemsoziologie empfunden. Die vermutete Unvereinbarkeit beider Ansätze wird durch eine konstruktivistische, aber Objektivationen anerkennende, theoretische Haltung aufgelöst. Diese zunächst widersprüchlich erscheinende Annahme wurde durch Groenemeyer (2010, 2012, 2014) mit dem Konzept des „doing social problems“ ausbuchstabiert und kann daher als empirisches Forschungsprogramm gelten, welches die Untersuchung dieser Arbeit in exponierter Weise beeinflusst hat. Damit lässt sich erneut ein Bezug zur Chicago School herstellen und an die Ausführungen in Kapitels 3 anschließen. So hat das zuvor zitierte Thomas-Theorem (Thomas, Thomas 1928: 572) den Zusammenhang zwischen Konstruktion und Objektivation auf den Punkt gebracht. Bevor das Konzept in Kapitel 3.2.2 konkretisiert wird, sollen die wissenssoziologischen Grundlagen dargestellt werden, die diesem einerseits zugrunde liegen und andererseits das theoretische Fundament für die methodologische Positionierung bilden.

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Erst in Kapitel 6.4 wird der Vorwurf des „ontological gerrymandering“ noch einmal in Bezug auf die Ergebnisse dieser Arbeit diskutiert.

3.2.1 Die Bedeutung der wissenssoziologischen Diskursanalyse für die Analyse von sozialen Problemen In einem aktuellen Aufsatz arbeiten Poferl und Keller (2020) die Tangenten zwischen Wissenssoziologie und der Soziologie sozialer Probleme heraus. Sie stellen hierbei unter anderem fest, dass in beiden Teildisziplinen parallel ähnliche Diskussionen geführt wurden, wie z. B. Verhältnisbestimmungen zwischen Konstruktion und Materialität. In Anlehnung an Poferl und Keller (2020: 143 f.) gilt es bei dem Begriff der Wissenssoziologie zwischen verschiedenen Verständnissen zu unterscheiden. Einerseits lässt sich eine Deutung herausarbeiten, die die Wissenssoziologie insbesondere im englischsprachigen Raum mit den Konzepten der Situiertheit (Haraway 1988) und der Seinsgebundenheit nach Mannheim (1970 [1952]) begreift. Dabei wird die Anerkennung einer historisch-gewachsenen Bedingtheit des eigenen Denkens und Erkennens verbunden. Andererseits wird die Wissenssoziologie als Wissenschaftssoziologie verstanden und die Herstellung wissenschaftlichen Wissens untersucht. Diese zweite Sichtweise wird trotzdem durch erstere beeinflusst (siehe z. B. Knorr-Cetina 1989). In Bezug auf die Soziologie sozialer Probleme erklären Keller und Poferl (2020: 144) die Arbeiten von Spector und Kitsuse als einen wissenssoziologischen Turn der bisherigen interaktionistisch geprägten Teildisziplin. Mit Schetsche (2000, 2014) wird die Wissenssoziologie sozialer Probleme in Deutschland begrifflich institutionalisiert. Neben einem sechsschrittigen Karrieremodell, welches die Problematisierungsprozesse spezifischer Probleme nachvollziehen soll, entwickelt Schetsche (2014: 51 ff.) als Erweiterung auch das „Kokonmodell“. Die als problematisch wahrgenommenen Sachverhalte werden hierbei als in der „Gesellschaft prozessierte Wissensbestände“ (ebd.: 51) untersucht. Schließlich stellt Groenemeyers Arbeit eine konsequent wissenssoziologische Ausrichtung dar, in der nach den Bedingungen erfolgreicher und nicht erfolgreicher Problematisierungen gefragt wird. Hierbei werden gesellschaftliche Konstruktionsprozesse unter der besonderen Berücksichtigung von gesellschaftlichen Problembearbeitungen als Teil der Konstruktionsprozesse von sozialen Problemen bedeutend (siehe hierzu Kapitel 3.2.2). Damit stützt sich Groenemeyer (2012, 2014) auf die wissenssoziologischen Arbeiten von Berger und Luckmann (2016 [1969]) sowie von Keller (2006, 2011). Da diese einerseits die Idee der sozialkonstuktivistischen Wissenssoziologie und andererseits der wissenssoziologischen Diskursanalyse repräsentieren, werden die grundlegendsten Annahmen der Autoren im Folgenden kurz eingeführt. Dabei soll besonders berücksichtigt werden, was dies für die theoretische Grundlage dieser Arbeit und Betrachtung des Forschungsgegenstandes bedeutet. Berger und Luckmann konstatieren, dass nicht nur theoretisch fundiertes Wissen, sondern auch Alltagswissen, zu untersuchen ist. Warum das so ist, verdeutlichen sie in ihrem Klassiker „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirk79

lichkeit“ (2016 [1969]). Sie arbeiten heraus, dass die gesellschaftliche Ordnung nicht als objektiv entstanden bezeichnet werden kann, da sie von Menschen und deren Zusammenwirken hergestellt wurde. Eine ihrer grundlegenden Erkenntnisse ist die Annahme, dass Wissensbestände als sozial typisierte Deutungs- und Handlungsroutinen funktionieren (ebd.: 197 ff.). Für Schütz und Luckmann (1979: 173) ist das sogenannte „Rezeptwissen“ von besonderer Bedeutung. Handlungsroutinen (und das sich dahinter verbergende Wissen) strukturieren nicht nur die alltäglichen Bedeutungszuweisungen, sondern sind als Ergebnisse einer „Erfahrungssedimentierung“ zu verstehen. Davon ausgehend, dass „Rezeptwissen“ die Wirklichkeit mitkonstituiert, ist es ein zentrales Anliegen, die Wissensbestände der Professionellen zu rekonstruieren und auf ihre kollektive Bedeutung hin zu befragen. Daran anschließend definieren Schütz und Luckmann (ebd.: 154): „Wissenserwerb ist die Sedimentierung aktueller Erfahrungen nach Relevanz und Typik in Sinnstrukturen, die ihrerseits in die Bestimmung aktueller Situationen und Auslegung aktueller Erfahrungen eingehen“. Keller (2011) nimmt die Ideen des symbolischen Interaktionismus, der hermeneutischen Wissenssoziologie und des Sozialkonstruktivismus zum Anlass, diese um eine an Foucault orientierte Diskursperspektive zu ergänzen: „Die Ziele der Wissenssoziologischen Diskursanalyse können wie folgt beschrieben werden: Sie rekonstruiert Prozesse der sozialen Konstruktion, Zirkulation und Vermittlung von Deutungs- und Handlungsweisen auf der Ebene von institutionellen Feldern, Organisationen, sozialen Kollektiven und Akteuren [sic]. Im Anschluss daran untersucht sie die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse“ (Keller 2011: 192).

Die Verbindung des interpretativen Paradigmas und der hermeneutischen Wissenssoziologie mit Foucaults Verständnis von Diskursen ist die Leistung, die mit der wissenssoziologischen Diskursanalyse erbracht wird. So stellt sich für Keller (2006: 130) nicht nur die Frage, wie Bedeutung und Wissen in alltäglichen Aushandlungen zwischen Akteur*innen entstehen, sondern auch, wie Wissenskonstruktion und Vermittlung auf einer übergeordneten Ebene funktionieren. Zu diesem Zweck dient die Diskursanalyse als Eröffnung einer weiteren Ebene von Sozialität. Gerade, weil Keller und Poferl (2020: 147) jüngst kritisierten, dass der Diskursbegriff in der Soziologie sozialer Probleme oft pauschal verwendet werde, folgen im weiteren Textverlauf nicht nur eine Definition des Diskursbegriffes, sondern auch weitere wichtiger Begriffe aus dem Spektrum der Diskursanalyse. Kellers (2011) Ausführungen dienen hier in besonderer Weise als Orientierung. Der Diskursbegriff wird wie folgt definiert:

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„Diskurse sind (…) spezifizierbare und konventionalisierte Ensembles von Kategorien und Praktiken, die das diskursive Handeln sozialer Akteure [sic] instruieren, durch diese Akteure [sic] handlungspraktisch in Gestalt von diskursiven Ereignissen produziert bzw. transformiert werden und die soziale Realität von Phänomenen konstituieren“ (Keller 2011: 236).55

Diskurse können aus sehr unterschiedlichen kommunikativen Handlungen bestehen und sich materiell in unterschiedlichsten Dokumenten niederschlagen (Keller 2011: 263). Als diskursive Praktik lässt sich somit etwa die Deradikalisierungsarbeit verstehen, wenn sie als solche kommuniziert wird. Maßnahmen der Deradikalisierung gehen dabei auf einen gesellschaftlichen Diskurs zu Radikalisierung als gesellschaftliches und bearbeitbares Problem zurück. Wenn auch diese Maßnahmen etwa der Kriminalprävention oder der Sozialarbeit entsprungen sind, werden sie nun diskursiv überlagert. Dies leitet über zu der inhaltlichen Beschaffenheit von Diskursen. In diesem Kontext wird von „Deutungsmustern“ (Keller 2006: 34; Meuser, Sackmann 1992) gesprochen. Hierbei geht es um Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata, die für Akteur*innen eine strukturierende Funktion übernehmen.56 So haben empirische Untersuchungen zum Radikalisierungsdiskurs etwa ergeben, dass dieser besonders dadurch charakterisiert wird, dass er in erster Linie Islamismus konnotiert und Radikalisierung innerhalb seiner Grenzen als ein linearer Verlaufsprozess verstanden wird. Diskurse werden erst durch Akteur*innen lebendig. Ihre Deutungen und sozialen Handlungen sind es, die Diskurse formen. Keller (2006: 135) verweist in seinen Arbeiten darauf, dass die Entstehung von Diskursen auf institutionell strukturierte Akteur*innenzusammenhänge zurückzuführen ist. Neben Akteur*innen können jedoch auch soziale Ereignisse zu diskursiven Ereignissen werden (Keller 2011: 205). So lassen sich etwa die Anschläge vom 11. September als diskursives Ereignis lesen, das zu einer Neustrukturierung des Diskurses um Terrorismus geführt hat, indem z. B. Wissenschaftler*innen in ihren Publikationen, auch 20 Jahre nach den Anschlägen, ihre Forschung zu Extremismus und Radikalisierung einleiten oder begründen. Durch die wiederholte Herstellung von Verweisen zu diesen Anschlägen wird dieser Diskurs ständig aktualisiert. 55

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Zur Analyse von Diskursen bieten sich, aufgrund der Verortung des Forschungsprogrammes der wissenssoziologischen Diskursanalyse bei Ideen der qualitativen und rekonstruktiven Sozialforschung, rekonstruktive Methoden an. Keller (2011: 115 f.) selber liefert mit dem Forschungsprogramm keine konkreten methodischen Vorschläge zur Analyse, macht jedoch einen Vorschlag indem er auf bedeutungsrekonstruierende Verfahren verweist, wie sie in Kapitel 4.1 beschrieben werden. Der Begriff der Deutungsmuster wird hier der Vollständigkeit halber zwar eingeführt, dient aber nicht als methodologisches Konzept in dieser Arbeit. Daher wird im weiteren Textverlauf in Anlehnung an wissenssoziologische Ansätze von Wissen oder Deutungen gesprochen. Der Deutungsmusteransatz ist zu einer eigenen methodologischen Strömung geworden (siehe z. B. Bögelein, Vetter 2019).

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Wichtige kollektive und institutionelle Akteur*innen in Bezug auf diese Arbeit sind die Präventionsprogramme, aber auch die Universitäten, Massenmedien, politische Gruppen und jene, die als organisierte rechtsextremistische und islamistische Gruppen verstanden werden. Die kollektiven Akteur*innen können unterschiedliche Positionen einnehmen und Themen monopolisieren oder verschweigen, dadurch erhalten Diskurse ihren dynamischen Charakter. Die Aktualisierung von Diskursen erfolgt also durch spezifische Praktiken kollektiver Akteur*innen. Tatsächlich objektiviert, materialisiert und institutionalisiert sind die Diskurse erst dann, wenn sie zu einer Infrastruktur geführt haben (Keller 2011: 234). Eine solche Infrastruktur kann aus Maßnahmenbündeln und Artefakten bestehen und wurde erstmals von Foucault (1978) als Dispositive bezeichnet. Bezogen auf den Forschungsgegenstand dieser Arbeit hat zuletzt Lampe (2021) die gesamte deutsche Präventions- und Interventionsinfrastruktur zur Verhinderung von deviantem und delinquentem Verhalten als Dispositive des Sicherheitsdiskurses interpretiert. Insbesondere die Maßnahmen zur Verhinderung von Radikalisierung und Extremismus sind damit zu Dispositiven des Radikalisierungsdiskurses geworden.57 Hierbei ist bemerkenswert, wie passfähig dieses Begriffskonzept für die Soziologie sozialer Probleme ist. Dispositive werden nämlich weitestgehend als institutionelle und materielle Lösungsstrategien für ein zuvor diskursiv definiertes Problem verstanden. Insbesondere Keller (2011: 74 ff.) erarbeitet seinen Ansatz auch mit direktem Bezug auf Annahmen der frühen definitionstheoretischen Soziologie sozialer Probleme.58 Zusammenfassend sensibilisiert die wissenssoziologische Diskursanalyse für die Beschaffenheit von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und für die Akteur*innengruppen, die Diskurse einerseits erzeugen und die durch diese andererseits adressiert werden. Auch die Entstehung von Wissensstrukturen und Diskursen sowie ihre impliziten Inhalte können in den Blick genommen werden, um ein Verständnis für die Konstitution von sozialer Wirklichkeit zu entwickeln (Keller 2006: 137). In diesem Sinne interpretiert Groenemeyer (2012: 82) die „Problematisierung sozialer Probleme als gesellschaftliche Formierung von Diskursen“.

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In dieser Arbeit wird weniger mit dem Begriff des Dispositivs gearbeitet, da dieser direkt mit Foucaults Diskurstheorie verbunden ist. Das Verständnis von Diskurs und Gesellschaft ist für diese Arbeit jedoch stärker wissenssoziologisch eingefärbt und damit weniger gouvernementalistisch. Damit beziehe ich mich mit dem Diskursbegriff direkt auf die Arbeit von Keller (2011). Keller (2011: 74) beschreibt dies als „Etappen der Wissenssoziologie“ und beschreibt hierzu neben dem symbolischen Interaktionismus auch theoretische Modelle der Soziologie sozialer Probleme unter besonderer Berücksichtigung von Blumer, Gusfield und Schetsche.

3.2.2 Das „doing social problems“ Forschungsprogramm Groenemeyer (2010, 2014) entwirft das „doing social problems“ Konzept als ein Forschungsprogramm, welches situative Problematisierungen in Institutionen untersucht. Unter „doing social problems“ versteht er die „Anwendung von Regeln, Techniken und Wissen auf individuelle Problemlagen und Problemsituationen in Institutionen“ (Groenemeyer 2012: 96). Das Konzept ist nicht nur durch klassische Arbeiten der interaktionistischen Soziologie sozialer Probleme (siehe Kapitel 3.1) beeinflusst, sondern setzt genauso bei der Untersuchung von Cicourel (1969) an, der die Interaktion von Sozialarbeiter*innen und Adressat*innen in Bezug auf deren wechselseitige Realitätsproduktion untersuchte. Auch die Arbeiten von Gusfield (1989) haben das „doing social problems“-Konzept beeinflusst. Gusfield (1989) zeigt, wie sich Institutionen sozialer Probleme konkreter Konflikte annehmen, indem sie sich verantwortlich dafür zeigen und wie dadurch Adressierungen gegenüber spezifischen Personen entstehen. Er bezeichnet diesen Vorgang als „troubled persons industry“. Groenemeyer (2010: 14) ergänzt, dass die Aufnahme von Problemkategorien in Strafgesetzbücher oder Bearbeitungsleitfäden als Institutionalisierung bestimmter Problemkategorien verstanden werden kann. Diese führen dazu, dass Interpretationsräume eröffnet und Erwartungen gegenüber Betroffenheiten geschaffen werden. Die konkrete Anwendung dieser Problemkategorien erfolgt in einem deutlich komplexeren, mehrstufigen Prozess (Groenemeyer 2010: 14): 1.) Bevor konkrete Problemkategorien entstehen, muss eine Gesellschaft mehrheitlich bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen als störend interpretieren und definieren (ebd.). 2.) Die interpretierten und definierten störenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen müssen als bearbeitbar hergestellt werden. Dies passiert immer dann, wenn Politiker*innen diese Interpretationen und Definitionen in ihre Entscheidungen mit einbeziehen und Maßnahmen zur präventiven oder interventiven Verhinderung entschließen (ebd.). 3.) Mit der Gründung von Organisationen und Programmen zur Bearbeitung der definierten Probleme werden diese institutionalisiert (ebd.). 4.) Was innerhalb der Programme passiert, bezeichnet Groenemeyer (2010: 15) als die Entfaltung eines Eigenlebens in Bezug auf Interpretationen und Bearbeitungen der Probleme. Denn nur vor der Hintergrundfolie von spezifischen Wissensstrukturen können die Professionellen ihre Bearbeitungen beginnen. 5.) Der Einsatz von bestimmtem Wissen, etwa in Form von sozialpädagogischen Techniken, wird in der Interaktion mit den Adressat*innen der Maßnahmen eingesetzt. Weil es sich hierbei um Interaktionen handelt, führen diese zu Aushandlungsprozessen zwischen Professionellen und Adressat*innen.

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Zentral ist die Annahme, dass die Adressat*innen aktiv an diesen Aushandlungsprozessen beteiligt sind (ebd.).59 Die beschriebenen Schritte ermöglichen eine mikrosoziologische Analyse von Herstellungsprozessen sozialer Probleme durch deren institutionelle Bearbeitungen. Hierbei gilt, dass dieser Prozess in seinen Handlungszielen durchaus intendierte Praktiken beinhaltet, in seinen Folgen jedoch das Ergebnis unintendierter Handlungsaggregate ist. Ebendiese unintendierten Handlungsfolgen sind es, die in dieser Arbeit von besonderem Interesse sind. Zudem gilt, dass Groenemeyer (2007: 6) immer wieder betont, wie die gesellschaftliche Definition und Bedeutungszuweisung sozialer Probleme, immer in ein Verhältnis zum gesellschaftlichen Gesamtkontext gestellt werden muss. Bedeutungen sind hierbei ein zentraler Begriff, der Handeln, diskursives Wissen und Erleben vereint. Indem ein Subjekt eine sachliche oder soziale Gegebenheit auf bestimmte Weise interpretiert und ihnen damit Bedeutung verleiht, verhält sich das Individuum dazu (Ittner 2016). Die Bedeutungen werden durch soziales Handeln relevant und werden wiederum durch die Positionalität der Subjekte, in denen Kultur, historische Entwicklungen, Gender und Habitus zum Ausdruck kommen, beeinflusst und sind deshalb als Ergebnis des gesellschaftlichen Kontextes zu analysieren. Abbildung 1: Groenemeyers Mehrebenenmodell zur Analyse von Problematisierungsprozessen

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