Disziplinierte Tiere?: Perspektiven der Human-Animal Studies für die wissenschaftlichen Disziplinen [1. Aufl.] 9783839425183

Previously, due to their prevailing anthropocentrism, the radical rejection of all kinds of anthropomorphism and biologi

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Disziplinierte Tiere?: Perspektiven der Human-Animal Studies für die wissenschaftlichen Disziplinen [1. Aufl.]
 9783839425183

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Inhalt
Vorwort Marc Bekoff
Vorwort Kurt Kotrschal
Einleitung. Disziplinierte Tiere?
Bildungswissenschaft. Auf dem Weg zu einer posthumanistischen Pädagogik?
Gender Studies und Feminismus. Von der Befreiung der Frauen zur Befreiung der Tiere
Geschichtswissenschaft. Von einer Geschichte mit Tieren zu einer Tiergeschichte
Kunstgeschichte. Disziplinäre Wachstumsprognosen einer marginalisierten Themenstellung
Linguistik. Das Tier in der Sprache
Literaturwissenschaft. Die Befreiung ästhetischer Tiere
Philosophie. Tierethik und die Human-Animal Studies
Psychologie. Von Mensch zu Tier
Rechtswissenschaft. Vom Recht über Tiere zu den Legal Animal Studies
Soziologie. Humansoziologische Tiervergessenheit oder das Unbehagen an der Mensch-Tier-Sozialität
Theologie. Ambivalenzen einer Beziehung – und ein Plädoyer für eine antispeziesistische Theologie
Volkskunde/Europäische Ethnologie. Zur kulturwissenschaftlichen Erforschung des Mensch-Tier-Verhältnisses und der Mensch-Tier-Beziehungen
Zoologie. Von »Mensch und Tier« zu »Menschen und andere Tiere«
Informationen zu den Autor_innen

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Reingard Spannring, Karin Schachinger, Gabriela Kompatscher, Alejandro Boucabeille (Hg.) Disziplinierte Tiere?

Human-Animal Studies

Lynne Chisholm und Otta Wenskus gewidmet, die uns ermutigt haben, unseren eigenen wissenschaftlichen Weg zu gehen. Reingard und Gabriela

Reingard Spannring Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Innsbruck Gabriela Kompatscher Institut für Sprachen und Literaturen, Universität Innsbruck Karin Schachinger Studentin im MA-Programm »Gender, Culture and Social Change«, Universität Innsbruck Alejandro Boucabeille Dissertant am Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck

Reingard Spannring, Karin Schachinger, Gabriela Kompatscher, Alejandro Boucabeille (Hg.)

Disziplinierte Tiere? Perspektiven der Human-Animal Studies für die wissenschaftlichen Disziplinen

Diese Publikation wurde mit finanzieller Unterstützung aus den Fördermitteln des Vizerektorats für Forschung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, des Dekanats der Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck, des Forschungszentrums Bildung-Generation-Lebenslauf sowie United Creatures gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Reingard Spannring, Gabriela Kompatscher, Karin Schachinger, Alejandro Boucabeille Korrektorat: Jan Wenke Satz: Reingard Spannring, Gabriela Kompatscher, Karin Schachinger Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2518-9 PDF-ISBN 978-3-8394-2518-3

Inhalt

Vorwort Marc Bekoff | 7 Vorwort Kurt Kotrschal | 9 Einleitung Disziplinierte Tiere?

Reingard Spannring/Karin Schachinger/Gabriela Kompatscher/ Alejandro Boucabeille | 13 Bildungswissenschaft Auf dem Weg zu einer posthumanistischen Pädagogik?

Reingard Spannring | 29 Gender Studies und Feminismus Von der Befreiung der Frauen zur Befreiung der Tiere

Karin Schachinger | 53 Geschichtswissenschaft Von einer Geschichte mit Tieren zu einer Tiergeschichte

Mieke Roscher | 75 Kunstgeschichte Disziplinäre Wachstumsprognosen einer marginalisierten Themenstellung

Jessica Ullrich/Friedrich Weltzien | 101 Linguistik Das Tier in der Sprache

Reinhard Heuberger | 123 Literaturwissenschaft Die Befreiung ästhetischer Tiere

Gabriela Kompatscher | 137 Philosophie Tierethik und die Human-Animal Studies

Klaus Petrus | 161

Psychologie Von Mensch zu Tier

Tamara Pfeiler/Mario Wenzel | 189 Rechtswissenschaft Vom Recht über Tiere zu den Legal Animal Studies

Margot Michel/Saskia Stucki | 229 Soziologie Humansoziologische Tiervergessenheit oder das Unbehagen an der Mensch-Tier-Sozialität

Rainer E. Wiedenmann | 257 Theologie Ambivalenzen einer Beziehung – und ein Plädoyer für eine antispeziesistische Theologie

Julia Eva Wannenmacher | 287 Volkskunde/Europäische Ethnologie Zur kulturwissenschaftlichen Erforschung des Mensch-TierVerhältnisses und der Mensch-Tier-Beziehungen

Jutta Buchner-Fuhs | 321 Zoologie Von »Mensch und Tier« zu »Menschen und andere Tiere«

Volker Sommer | 359 Informationen zu den Autor_innen | 387

Vorwort

Delphine, die sich mit Namen rufen; Schimpansen, die sich mittels Zeichensprache verständigen können; Elefanten, die andere Tiere aus der Gefangenschaft befreien; Pinguine, die langfristige Liebesbeziehungen pflegen: Intelligenz, Sprache, Moral und komplexe Emotionen wurden lange nur den Menschen zugestanden. In den Naturwissenschaften zeichnet sich schon länger ein Paradigmenwechsel ab, der die Mensch-Tier-Grenze brüchig werden lässt oder gar dekonstruiert. Daran knüpft das junge, interdisziplinäre Forschungsgebiet der Human-Animal Studies an. Vertreter_innen verschiedenster wissenschaftlicher Fächer arbeiten hier gemeinschaftlich an einer dringend notwendigen Neupositionierung von menschlichen und nichtmenschlichen Tieren innerhalb gesellschaftlicher Gefüge und Bezüge. Wenn Wissenschaftler_innen aus den Human-Animal Studies Tieren einen intrinsischen Wert zuerkennen und sie als autonome Koexistierende betrachten, wird diese Haltung auch peu à peu in die Gesellschaft einfließen. Die Human-Animal Studies liefern dabei jedoch nicht nur eine wissenschaftliche Basis für Diskurse über Tiere in der menschlichen Gesellschaft, sondern inspirieren die traditionellen wissenschaftlichen Disziplinen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen bisher weitgehend unhinterfragt gebliebenen anthropozentrischen Grundannahmen und thematischen Einschränkungen. In diesem Sinne spielen die Autor_innen in diesem Sammelband die Perspektiven und Erkenntnisse der Human-Animal Studies zurück an ihre jeweilige Herkunftsdisziplin, um dort alte Überzeugungen herauszufordern und neue Fragen zu stellen. Marc Bekoff Colorado, August 2014

Vorwort

Immer schon bezogen sich Tiere – und damit auch die Menschen – auf andere Tiere. Da Tiere im Gegensatz zu grünen Pflanzen heterotroph sind, sich also von Anderen ernähren müssen, gab es ökologische Interaktionen zwischen den Arten, seitdem mehr als eine davon auf dieser Erde lebt. Arten und Individuen konkurrieren um Nahrung und andere Ressourcen und nein: Sie trachten einander nicht primär nach dem Leben. Letzteres geschieht gar nicht so selten innerartlich, im Zuge von sozialen Auseinandersetzungen. Wenn aber ein Räuber seine Beute verzehrt, dann geht es vielmehr um den Energiefluss; der Tod ist dabei nicht das Ziel, sondern in Kauf zu nehmender Kollateralschaden. Gerade in Räuber-Beute-Beziehungen entwickelte sich eine hohe Fähigkeit zur gegenseitigen Aufmerksamkeit. Wenn ein Fuchs das Verhalten der Beutegänse falsch einschätzt, verpasst er eine Mahlzeit. Wenn aber die Gans den Fuchs falsch einschätzt, ist sie schlicht tot. Der Selektionsdruck auf das Einanderbeobachten und -einschätzen – und damit auch auf ein großes und leistungsfähiges Gehirn – kommt daher nicht nur aus einem komplexen Sozialleben (social brain hypothesis, heute der Mainstream in der Erklärung, warum Wale, Elefanten, Wölfe, Raben und Menschen große Gehirne entwickelten), sondern auch aus der Notwendigkeit, in einer komplexen ökologischen Einbettung nicht nur zu überleben, sondern sich besser als andere Artgenossen zu vermehren. Darum geht es letztlich im evolutionären Dauerwettlauf. Wahrscheinlich reflektieren die großhirnigen Tiere (die pragmatische Bezeichnung für etwa Säugetiere, deren Kortex in Windungen liegt) sogar in gewissem Maß über sich in Beziehung zu den Anderen, über soziale oder ökologische Zusammenhänge; wenn sie denken, tun sie das in Bildern, denn die Worte einer hoch differenzierten Symbolsprache fehlen den anderen Tieren. Diese Sprachfähigkeit gekoppelt mit einem »philosophischen Modul« im Gehirn ist das Alleinstellungsmerkmal des Menschen. So können – nein, müssen – wir über uns, über Gott und die Welt reflektieren, über Vergangenheit und Zukunft – und

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über unsere Beziehungen zu den anderen Tieren. Das philosophische Modul ist primär Welterklärungsapparat. Es ermöglichte uns als äquatorrnah entstandene Wesen, jene Kulturen zu entwickeln, die uns befähigten, buchstäblich alle Gebiete dieser Erde bis weit jenseits des Polarkreises dauerhaft zu besiedeln. Nicht einfach aufgrund jener ökologischen Flexibilität, die wir im Grunde mit Raben oder Wölfen teilen, sondern auf Basis jener konzept- und kulturbasierten ökologischen Flexibilität, welche uns das philosophische Modul bescherte. Durch die formale Disziplinierung dieses Welterklärungsapparates kam schließlich die Philosophie in die Welt, ausgehend etwa auch von den Philosophen im alten Griechenland. Zu bemerken, dass Aristoteles ausgerechnet im Athener Tempel des Apollo Lykaios, also des »Wolfsapollo«, lehrte und diskutierte und dass später die höheren Töchter in Lyzeen (also Wolfsanstalten) gebildet wurden, kann ich mir hier nicht verkneifen; auch nicht, dass Carl von Linné den Menschen in seine binäre Nomenklatur unzutreffenderweise als Homo sapiens einreihte. Denn erstens wusste er, dass wir kein eigenes Genus verdienen, sondern zoologisch gesehen Schimpansen sind; was man sich damals aber nicht zu sagen getraut hätte. Und zweitens gebärden sich Menschen meist wenig »weise«. Eine viel zutreffendere Gattungs- und Artbezeichnung wäre daher »Pan philosophicus« gewesen. Als Wurzel des reflektierenden und spirituellen Konzept- und Welterklärungsgehirns der Menschen muss das intensive Zusammenleben mit Natur und Tieren über die letzten paar Hunderttausende von Jahren gelten. Klar ersichtlich ist dies in der Evolution religiöser Vorstellungen. Die Tierkulte der animistischen Jäger und Sammler dienten zunächst dazu, die Kooperation der Tiere (Jagdtiere und Raubfeinde) zu erreichen und zu verhindern, dass ein Geist der getöteten Tiere (oder andere Geister) Schaden anrichtet. Daraus entstanden über Tieridole eine ganze Menge Hybridgötter, halb Mensch, halb Tier (etwa im alten Ägypten) und schließlich Olympe mit menschenähnlichen und teils recht liederlichen Göttern und Göttinnen, etwa bei den griechischen und germanischen Kulturen. Was Wunder, dass schließlich der eine und einzige, allwissende Gott als menschliches Idealbild entstand; der ist nun liebevoll, streng, moralisch einwandfrei, er (?) hurt und betrügt nicht mehr, wie das früher Gottwesen noch fröhlich taten. Von Anbeginn war es allerdings das Hauptproblem im Monotheismus, wie ein allwissender, allmächtiger und im Grunde guter Gott jene alltäglichen Grausamkeiten zulassen kann, die uns Menschen plagen – Theodizee als Systemeigenschaft des Monotheismus. Menschen schufen sich ihren Gott also nach ihrem Ebenbild und auch nach ihren moralischen Idealen; und der wiederum schuf dann die Menschen freundlicherweise nach seinem Ebenbild. Während das Alte Testament noch viele An-

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merkungen zum sorgsamen Umgang mit anderen Tieren enthält, generiert sich das Neue Testament essentiell tierfrei. Das Thema der »Emanzipation« des Menschen von Tier und Natur und damit auch von seiner animistischen Vergangenheit beherrscht nicht nur diese Entwicklung religiöser Vorstellungen, sondern natürlich auch das philosophische Denken und die Entwicklung der Geisteswissenschaften. Dennoch gab es keine großen Philosoph_innen, die sich nicht mehr oder weniger ausführlich Gedanken über die Beziehung der Menschen zu den Tieren gemacht hätten; solange es Menschen gibt, also ab der Entwicklung von Sprachund Reflexionsfähigkeit, fungierten Tiere immer als Spiegel unserer selbst, war die Beziehung zur Natur überlebenswichtig. Tiere dominieren Mythen und Fabeln, sie stehen bei Kleinkindern weltweit im unangefochtenen Fokus des Interesses. Dennoch wurden sie im Verlauf der geisteswissenschaftlichen Entwicklung von der Antike über das Mittelalter bis in Neuzeit und Aufklärung immer mehr verdrängt. Die Bedeutung der Tiere wurde immer mehr geleugnet, obwohl Menschen nie aufgehört hatten, mit Tieren zu leben. Menschen seien eben in ihrer mentalen Konstruktion »biophil«, wie 1987 Edward Wilson bemerkte, also nahezu instinktiv an Tieren und den Dingen der Natur interessiert, geistige »Emanzipation« hin oder her. Naturgemäß beschäftigten sich die Naturwissenschaften immer schon mit den anderen Tieren, um ihrer selbst willen, immer aber auch in ihrer Funktion als Modelle, um für Menschen wichtige Prinzipien zu erforschen: Spiegelfunktion der Tiere also nicht nur in der Spiritualität und in der Philosophie, sondern auch in den Naturwissenschaften, eigentlich in allen Wissenschaften. Auch die philosophischen, geistes- und kulturwissenschaftlichen Fakultäten unserer – systembedingt – sehr konservativen Unis waren niemals ganz tierfrei. Womit nicht der illegale Dackel unter dem Schreibtisch des Institutsvorstandes gemeint ist. Dennoch fristete die wissenschaftlich-universitäre Bearbeitung der MenschTier-Beziehung lange ein Schattendasein. Die Anthrozoologie, also die naturwissenschaftlich geprägte Wissenschaft der Mensch-Tier-Beziehung mit den Disziplinen Anthropologie, Ethologie, Medizin, Psychologie, Veterinärmedizin sowie Zoologie und Biologie, entwickelte sich erst in den letzten paar Jahren rasant, etwa mit dem Einsteigen wichtiger Forschungsfinanzierungsagenturen wie dem US-amerikanischen NIH oder dem österreichischen FWF. Noch weniger sichtbar waren in der Vergangenheit die Human-Animal Studies (HAS), die sich im Wesentlichen mit der Perzeption der anderen Tiere und der Mensch-TierBeziehung in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften befassen. Auch das änderte sich in den letzten paar Jahren rasant. An den Universitäten weltweit sprießen sehr rasch immer mehr Projekte und Institute, die sich mit diesen HAS

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befassen. Der Erfolg der entsprechenden Tagung, 2014 in Innsbruck, und auch das Interesse an diesem vorliegenden Band fügen sich als wichtige Indizien in dieses Bild. Ein Grund zum Jubeln, weil nun selbst die vergeistigte »Akademia« darangeht, den tiefen Graben zwischen Mensch und Tier aufzufüllen, um damit ihre Erbschuld aus der Aufklärung und aus anderen »emanzipations«beflissenen Zeiten abzutragen? Nicht unbedingt. Auch in der Kunst werden Tiere meist immer noch nicht um ihrer selbst willen dargestellt, sondern dienen vorwiegend zur Verbildlichung menschlicher Befindlichkeiten; so stellte etwa die Wiener Künstlerin Deborah Sengl mittels ausgestopfter Ratten Szenen aus Karl Kraus‫ ތ‬Die letzten Tage der Menschheit dar, präsentiert 2014 im Essl-Museum. Dabei ging es natürlich gar nicht um die Ratten, sondern nur um uns Menschen – nicht gerade ein Ausdruck einer Beziehung auf Augenhöhe zwischen uns und den anderen Tieren. Die bräuchte es aber, um längerfristig den Menschen ein Überleben zusammen mit den anderen Tieren auf dieser gestressten Welt zu ermöglichen. Natürlich darf die Kunst das, sie sollte aber nicht überrascht sein, dass darüber diskutiert wird. Darum kann es gar nicht hoch genug geschätzt werden, wenn sich auch die Geisteswissenschaftler_innen in sehr anspruchsvoller Form mit unserer Beziehung zu den anderen Tieren befassen. Gerade auch zur Auseinandersetzung mit dem Anthropozentrismus liefern Wissenschaftler_innen aller Disziplinen differenzierte Beiträge, so auch in diesem Band. Und nebenbei bemerkt tragen neuere Erkenntnisse, wonach die sozialen Gehirne der Menschen und anderer Tiere nahezu identisch sind, auch dazu bei, dem Anthropomorphismusvorwurf seine Angstfixiertheit und das Gefühl der Hilflosigkeit zu nehmen. Informierter Anthropozentrismus ist wahrscheinlich in der Betrachtung anderer Tiere durchaus angemessen. Die Mensch-Tier-Beziehung in all ihren Ausprägungen, Nutztier, Wildtier, Arbeits- und Sozialkumpan etc., hat viele Facetten, die es alle für ein angemessenes Gesamtbild braucht. Dies ist sogar mir, dem Naturwissenschaftler, bewusst, für den der Begriff »biologischer Essentialismus« keine negative Konnotation trägt. Noch produzieren die HAS weltweit einen durchaus überschaubaren Output an solch facettenreichen Werken. Ich bin mir sicher, dass der vorliegende Band ein Weiteres dazu tun wird, das Feld zu beleben. Kurt Kotrschal Wien, September 2014

Einleitung Disziplinierte Tiere? R EINGARD S PANNRING /K ARIN S CHACHINGER / G ABRIELA K OMPATSCHER /A LEJANDRO B OUCABEILLE

V ON DER D ISZIPLINIERUNG ZUR B EFREIUNG DER T IERE : DIE G ESCHICHTE DES D R . D OLITTLE Kurz nachdem Dr. Dolittle sich mit seinen Tieren dem Zirkus angeschlossen hatte, wurde er von Sophie zu einem Gespräch gebeten. Sophie war daran gewöhnt, zweimal am Tag in einem großen Zelt aufzutreten, gleich nach den Trapezkünstler_innen, den Pinto-Brüdern und dem sprechenden Pferd. Den Rest des Tages verbrachte sie als Nebenattraktion in ihrem Becken, wo sie zum Amüsement der Zuschauer_innen für drei Pfennig nach Fischen tauchte. Als Dr. Dolittle bei ihrem Becken ankam, dümpelte Sophie, die hübsche Robbendame aus Alaska mit seidigem Fell und intelligenten Augen, in düsterer Stimmung im Wasser herum. Als der Doktor sie in ihrer eigenen Sprache anredete, erkannte sie, wer der Besucher war, und brach in bittere Tränen aus. Nachdem sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, erzählte sie, dass sie die Nachricht bekommen habe, dass ihre Gefangennahme ihrem Ehemann, der in der Bering-Straße mit dem ganzen Robbenrudel zurückgeblieben war, das Herz gebrochen hatte. Während er früher der stärkste unter den Robbenmännern gewesen war, wurde er nun immer dünner, weil er vor Kummer nichts mehr aß, und hatte die Führung des Rudels abgegeben. Sie und ihr Mann hätten sich hingebungsvoll geliebt und er brauche sie. Sie müsse zu ihm zurück, um ihn zu unterstützen, sagte sie und hob sich mit ausgebreiteten Flossen aus dem Wasser, aber sie sehe keine Möglichkeit zu fliehen. Sophie brach wieder in verzweifelte Tränen aus, doch der Doktor meinte, es sei zwar keine leichte Sache, sie zum Meer zu schmuggeln, aber doch nicht unmöglich. Und so begann die abenteuerliche Reise von Sophie und Dr. Dolittle zur

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englischen Küste, von wo aus Sophie selbständig zu ihrem Ehemann und ihrem Rudel zurückschwimmen konnte. Nach Dr. Dolittles Rückkehr in den Zirkus ging er daran, die Lebensbedingungen der Zirkustiere zu verbessern. So durften die altverdienten Pferde auf einer wunderschönen Weide ihre Rente verbringen und die Raubtiere durften in der Nacht spazieren gehen, um sich die Beine zu vertreten. Gemeinsam mit den Tieren entwickelte der Doktor ein attraktiveres Zirkusprogramm. Die Schlangen, die er Fatima abgekauft hatte, durften nun eine eigene kleine Show vorführen. Statt der einfältigen Schlangenbeschwörerin, die vorgab, etwas zu sein, das sie nicht war, tanzten nun die Schlangen ohne Einmischung eines Menschen ihren eigenen seltsamen, aber grazilen Tanz. In Musikbegleitung glitten sie über die Bühne, verbeugten sich voreinander, formten Ketten, Kreise und Quadrillen und führten Hunderte faszinierende Dinge vor, die die Menschen noch nie gesehen hatten. Mit der Zeit wurden fast alle Vorführungen der Tiere von ihnen allein geleitet. Jede Nummer war Ausdruck der spezifischen Talente des jeweiligen Tiers. Die Schlangen waren der Inbegriff der Anmut, und der Elefant, anstatt Balancetricks vorzuführen, zeigte seine Stärke und Sanftheit. »Wir wollen keine Menschen in Tiervorführungen«, sagte Dr. Dolittle zu seinem Assistenten. »Was ist der Sinn eines dummen Mannes in Uniform, der einen Löwen mit einer Peitsche durch einen Reifen treibt? Menschen scheinen zu denken, dass Tiere keine Ideen haben, die sie ausdrücken könnten. Wenn man sie sich selbst überlässt, können sie viel bessere Vorstellungen geben.«1 So kann man leicht sehen, dass Dr. Dolittles Zirkus sehr anders als die üblichen war. Die Abenteuer des Dr. Dolittle, der mit Tieren sprechen konnte, und seiner kleinen Tierfamilie bestehend aus Polynesia, dem Papagei, Dab-Dab, der Ente, Jip, dem Hund, Too-Too, der Eule, Chee-Chee, dem Affen, und dem Stoß-michzieh-dich sind Kinderklassiker, die auf der Basis der Briefe entstanden, die Hugh Lofting im Ersten Weltkrieg von der Front an seine Kinder zu Hause schrieb. Seine Beobachtung, dass Tiere im Krieg eine ganz enorme Rolle spielten, brachte ihn auf die Idee, anstatt über die ohnehin unaussprechbaren Belastungen des Krieges zu berichten, die Geschichten eines exzentrischen Landarztes mit einer Neigung für Naturgeschichte und einer großen Liebe zu Tieren zu erzählen. Gemeinsam ist den Erzählungen die Botschaft von Respekt für das Leben und den Rechten aller, die diese Welt gemeinsam bewohnen. Sophies Befreiung aus der physischen Gefangenschaft und die Befreiung der anderen Zirkustiere von konventionellen Vorstellungen der Menschen, wie nichtmenschliche Tiere sind und dass bzw. wie man sie nutzen kann, sind sym-

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Freie Übertragung aus dem Englischen auf Grundlage der Edition Lofting 1991: 325.

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bolhaft für die Beschäftigung dieses Sammelbandes mit der Disziplinierung im Sinne von Gefangennahme, Zurichtung, Verzweckung, Ausbeutung und Marginalisierung der nichtmenschlichen Tiere in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen einerseits und den Möglichkeiten und Konsequenzen ihrer Befreiung andererseits. Die Autor_innen untersuchen aus Sicht der Human-Animal Studies die Tier-Mensch-Thematik jeweils für die eigene Disziplin und fragen kritisch nach deren Beitrag zur Disziplinierung bzw. Befreiung der nichtmenschlichen Tiere.

H UMAN -ANIMAL S TUDIES Die Human-Animal Studies sind ein junges und interdisziplinäres Forschungsfeld, das eine neue, angemessene Darstellung der zahlreichen und komplexen Mensch-Tier-Verhältnisse zum Ziel hat. Es ist ein beschreibendes, kritischanalytisches, darüber hinaus aber auch ein ethisch motiviertes und handlungsnormatives wissenschaftliches Unternehmen. Die Human-Animal Studies entwickelten sich im Laufe der letzten 25 Jahre2 ausgehend vom englischsprachigen Raum (Nordamerika, England, Australien, Neuseeland) und finden in den letzten Jahren vermehrt auch im deutschsprachigen Raum Beachtung. Angestoßen und beeinflusst von gesellschaftlichen Debatten über den Status von Tieren nimmt das wissenschaftliche Interesse und damit einhergehend auch die Anzahl an wissenschaftlichen Publikationen und Veranstaltungen über die Mensch-TierVerhältnisse stetig zu. Allein in Nordamerikas Colleges, Universitäten und law schools gibt es inzwischen über 300 Kurse und Lehrveranstaltungen zum Thema Human-Animal Studies (DeMello 2010). Universitäten in Australien, Neuseeland, Großbritannien und Israel haben sich in diesem Bereich ebenfalls schon einen Namen gemacht und teilweise Lehrstühle für Tierrechte eingerichtet. Doch auch im deutschsprachigen Raum führt das zunehmende Interesse von Forschenden und Studierenden zur Entstehung von Forschungseinrichtungen und Lehrangeboten wie dem Messerli-Forschungsinstitut in Wien, den Forschungsinitiativen an den Universitäten Berlin (Chimaira), Hamburg (Group for Society and Animals), Basel (mensch tier kritik. Interdisziplinärer Zusammenschluss zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Mensch-Tier-Verhältnis) und Konstanz

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Kenneth Shapiro (2008a) datiert den Beginn der Human-Animal Studies als eigenes Feld mit der ersten Ausgabe der Zeitschrift Anthrozoös 1987. Das bedeutet aber nicht, dass nicht auch schon vor diesem Zeitpunkt andere inhaltlich ähnliche Beiträge erschienen sind.

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(Forschungsinitiative Tiertheorien) sowie dem Studiengang »Interdisziplinärer Master Mensch-Tier-Beziehung« an der Veterinärmedizinischen Universität Wien und dem Doktoratsprogramm für Jurist_innen »Law and Animals: Ethics at crossroads« an der Universität Basel. Nicht zuletzt hat das überwältigende Interesse der Studierenden an den Ringvorlesungen der Human-Animal Studies Innsbruck die Organisator_innen derselben zu diesem Sammelband inspiriert. Dieses intensive, nicht nur akademische Interesse an den Beziehungen zwischen Tier und Mensch begann mit den Publikationen Animal Liberation 1975 von Peter Singer und The case for animal rights 1983 von Tom Regan (Shapiro/DeMello 2010: 307). Durch Singer wurde der von Richard Ryder geprägte Begriff Speziesismus einem größeren Publikum bekannt. Speziesismus bezeichnet, angelehnt an Rassismus und Sexismus, eine Diskriminierung und Unterdrückung aufgrund der Spezieszugehörigkeit. Soziale Bewegungen und Organisationen, die sich schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aktiv für eine Verbesserung der Situation der Tiere einsetzen, erfuhren dadurch einen starken Aufschwung (Phelps 2007). Parallel zur Stärkung und Diversifizierung der Tierschutz- und Tierrechtsbewegung entwickelte sich in den letzten 20 bis 30 Jahren eine akademische Beschäftigung mit dem Mensch-Tier-Verhältnis, vor allem im englischsprachigen Raum. So wie Feminist_innen versuchen, Frauen sichtbar zu machen, eröffnen die Human-Animal Studies den Blick auf nichtmenschliche Tiere in der Gesellschaft und Wissenschaft. Damit reihen sich die HumanAnimal Studies in die Tradition jener wissenschaftlichen Felder ein, die sich parallel zu progressiven sozialen Bewegungen wie der Bürgerrechts-, Frauen- und Umweltschutzbewegung entwickelten. Ähnlich dem Paradigmenwechsel, den der linguistic turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften bewirkte, wird der Ruf nach einem animal turn laut, »der die hegemonialen Mensch-TierVerhältnisse grundsätzlich infrage stellt« (Wirth 2011: 80). Obwohl die Initialzündung mit Peter Singer aus den Geisteswissenschaften kam, wuchsen die Human-Animal Studies (HAS) im englischsprachigen Raum zunächst in den Sozialwissenschaften mit zahlreichen Studien zum Verhältnis von Mensch und Haustier am stärksten.3 In den 1990er Jahren kamen verstärkt Geisteswissenschaften hinzu. In jüngster Zeit wenden sich auch immer mehr Naturwissenschaftler_innen wie etwa Marc Bekoff, Karsten Brensing oder Volker Sommer den Mensch-Tier-Beziehungen zu, ohne Tiere auf einen Objektstatus zu reduzieren (Shapiro/DeMello 2010: 310 ff.)

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Der Artikel von Buschka, Gutjahr und Sebastian (2012) gibt einen guten Überblick über die sozialwissenschaftliche HAS-Forschung im deutschsprachigen Raum.

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Zentral in den HAS ist das Erforschen und kritische Hinterfragen unserer Beziehungen mit anderen Tieren, des Zusammenspiels und der Wechselwirkung von Menschen und anderen Tieren. Nichtmenschliche Tiere werden dabei nicht als kulturelle Gegenstände, Symbole oder Muster betrachtet, sondern als Lebewesen mit eigenen Erfahrungen, Empfindungen, Perspektiven und Interessen, als gesellschaftliche Akteur_innen und als Individuen mit einem intrinsischen Wert wahrgenommen (Shapiro 2002). Es gilt, den Raum, den nichtmenschliche Tiere in menschlicher Kultur und Gesellschaft einnehmen, zu erforschen und zu betrachten, wie sich die Interaktionen zwischen Mensch und Tier gestalten, wie sich die Lebensformen von Tieren und Menschen miteinander verflechten und so Gesellschaft immer wieder neu hervorbringen. Die Anthropologin und Soziologin Margo DeMello bezeichnet die HAS – wie etwa auch die Anthropologie – als eine holistische Wissenschaft, die ein Thema in seiner Ganzheit und mit allen Facetten zu betrachten strebt. So sollen alle Aspekte der Mensch-Tier-Beziehung berücksichtigt und miteinbezogen werden: kulturell, gesellschaftlich, wirtschaftlich und historisch (DeMello 2012). Die HAS werden durch ihren Gegenstand definiert, nicht jedoch durch eine bestimmte methodologische Herangehensweise. Das interdisziplinäre Verständnis der HAS bringt es mit sich, dass ihre Fragestellungen aus verschiedenen Blickwinkeln und mit sehr unterschiedlichen Methodologien, also multidisziplinär bearbeitet werden (dies. 2010). Die HAS befassen sich nicht, wie mitunter fälschlicherweise angenommen wird, mit dem Tier per se; sie beschäftigen sich ebenso wenig mit den biologischen Merkmalen und der Anatomie von Tieren, deren Lebensraum, Reproduktionsverhalten oder Ernährung. So sind Ethologie (Verhaltensforschung), Vergleichende Psychologie, Zoologie und Primatologie nicht Teil der HAS (dies. 2012; Flynn 2008b). Gleichwohl liefern diese Disziplinen wichtige Erkenntnisse, die mithelfen, Tiere im Kontext menschlicher Kultur und Gesellschaft besser zu verstehen. Neben der Bezeichnung »Human-Animal Studies« werden alternativ auch die Begriffe »Animal Studies«, »Anthrozoologie« und »Critical Animal Studies (CAS)« verwendet, wobei im deutschsprachigen Raum die Tendenz zu HumanAnimal Studies als dominierende Bezeichnung feststellbar ist. Obgleich die Begriffe teilweise analog verwendet werden, sind sie nicht deckungsgleich, da sie sich in Teilbereichen unterscheiden und verschiedene Schwerpunkte setzen (Buschka/Gutjahr/Sebastian 2012). Der Begriff Anthrozoologie, zum ersten Mal im Titel der 1987 erstmals erschienenen Zeitschrift Anthrozoös publiziert, bezeichnet vor allem Forschung, die sich der Interaktion von Mensch und Tier und der Verbundenheit zwischen

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ihnen widmet. Im Zentrum des Interesses stehen die Rolle der Haustiere, ihre therapeutischen Effekte auf Menschen und auch die Verhaltensbiologie im Hinblick auf Interaktion und den wechselseitigen Einfluss von Tier und Mensch (Mills et al. 2010: 28 f.). Die HAS stellen die Beziehung und die Wechselseitigkeit von Mensch und Tier in den Mittelpunkt des Interesses – unabhängig davon, ob ein Tier als Nutz-, Haus- oder Versuchstier klassifiziert wird. Diese Wechselseitigkeit spiegelt sich in der Bezeichnung des Faches wider. Trotzdem ist die Benennung HumanAnimal Studies auch kritisch zu betrachten, da sie den Mensch-Tier-Dualismus unterstützt. In Entweder – Oder? Zum Umgang mit binären Kategorien beschreibt Sigrid Schmitz die Tendenz, in Dichotomien zu denken, die keinesfalls vorgegeben und unveränderlich sind, sondern »historisch entstanden und stark beeinflusst von den jeweiligen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Themen ihrer Zeit« (Schmitz 2006: 334). Der Begriff Human-Animal Studies reproduziert so gesehen gerade jene Dichotomie, die dieses Forschungsfeld aufzubrechen versucht. In der Alltagssprache, aber auch im Bereich der Wissenschaften wird der Begriff »Tier« für alle Tiere exklusive der Menschen verwendet, obwohl biologisch gesehen Menschen ebenfalls den Tieren zuzuordnen sind; wie Volker Sommer in diesem Band schreibt, ist es zumindest »für zeitgenössische Zoolog_innen […] unproblematisch, auch Menschen als eine Art von Tier zu begreifen« (S. 359). Diese sprachliche Festschreibung einer biologisch nichtexistenten Mensch-Tier-Grenze hat ihre Wurzeln in philosophischen und religiösen Ideen der westlichen Kultur, die den Menschen als überlegen und das nichtmenschliche Tier als untergeordnet betrachtet (während andere Kulturen diese Grenze als durchlässig wahrnehmen oder sich gar keiner Grenze bewusst sind [vgl. DeMello 2012: 34 f.]). Noch immer lernen Menschenkinder in der Schule, dass es Menschen, Tiere und Pflanzen gibt, und sind dann erstaunt, wenn sie die Fabel von der Ameise lesen, die in der Ameisenschule lernt, dass es Ameisen, Tiere und Pflanzen gibt. Der Philosoph Günther Anders meinte bereits 1956 dazu, dass die »Idee, die Einzelspezies ›Mensch‹ als gleichberechtigtes Pendant den abertausenden und voneinander grenzenlos verschiedenen Tiergattungen und -arten gegenüberzustellen und diese abertausende so zu behandeln, als verkörperten sie einen einzigen Typenblock tierischen Daseins, einfach anthropozentrischer Größenwahn«

sei (Anders 1956: 327). Die Verwendung der Bezeichnung »Tier« als Gegensatz zur Bezeichnung »Mensch« unterschlägt nicht nur die enorme Vielfalt der Le-

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bewesen auf dieser Erde, sondern auch die Tatsache, dass die Menschen und die Menschenaffen irgendwann einmal gemeinsame Vorfahren hatten, und zementiert auf diese Weise Exklusion und othering nichtmenschlicher Tiere. Wenn nun die Grenze zwischen Mensch und Tier als eine zunehmend uneindeutig werdende und zu hinterfragende angesehen wird, geht es dabei jedoch nicht darum, Unterschiede zwischen Menschen und Tieren zu leugnen oder zu vernachlässigen, sondern im Gegenteil: Ein differenzorientierter Ansatz führt dazu, die Bedürfnisse nichtmenschlicher Tiere zu berücksichtigen (vgl. dazu den Beitrag von Margot Michel und Saskia Stucki in diesem Band). Während aus diesen Gründen der Begriff Human-Animal Studies ebenso inkohärent ist wie die Zusammenfassung von »tomatoes and vegetables« in einer Bezeichnung (Shapiro 2008a: 7), gibt es dennoch einen guten Grund für diese Begriffswahl: »[B]ecause it highlights the contradictions in current usage while retaining the emphasis on human-animal relationships« (ebd.: 8). Auch wir Herausgeber_innen haben uns entschieden, bis auf weiteres bei dieser sprachlich etablierten Form zu bleiben, bis sich eine Bezeichnung gefunden hat, die allen Anforderungen gerecht werden kann. Abgrenzen möchte Shapiro sich hingegen vom älteren Begriff der Animal Studies, der heute in naturwissenschaftlichen Disziplinen wie Biologie, Biomedizin und Psychologie verwendet wird. Die Animal Studies haben mit der Untersuchung von Mensch-Tier-Verhältnissen wenig gemein, sondern betrachten Tiere als Studienobjekte: »[I]t refers to investigations that attempt to use nonhuman animals to create models of targeted human phenomena« (ebd.: 8). In den Geisteswissenschaften wird der Begriff Animal Studies jedoch manchmal für jene Art von Forschung verwendet, die in den Sozialwissenschaften als HumanAnimal Studies bezeichnet wird (ebd.; DeMello 2012: 5). Er kommt beispielsweise in der Benennung der – sehr wohl kritischen – literaturwissenschaftlichen Subdisziplin der Human-Animal Studies, den Literary Animal Studies, vor. Obwohl die HAS parallel zu einer sozialen Bewegung, der Tierschutz- und Tierrechtsbewegung, entstanden sind, beschäftigen sie sich nicht primär mit Tierschutz und Tierrechten noch nährt sich das wissenschaftliche Engagement zwangsläufig aus tierrechtlichem Aktivismus. Eine explizit politische Agenda, nämlich die Unterdrückung von nichtmenschlichen Tieren in allen sozialen Kontexten abzuschaffen, haben die Critical Animal Studies (CAS). Stärker als die Human-Animal Studies fokussieren und problematisieren sie Macht- und Ausbeutungsverhältnisse und den damit verbundenen Veränderungsbedarf. Die CAS sehen den Kapitalismus als Motor der meisten, wenn nicht sogar aller, Formen von Unterdrückung. Oft wird mit Bezug auf marxistische und anarchistische Theorien argumentiert, dass die Ausbeutung von Tieren und Umwelt die Basis

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des Kapitalismus sei. Die CAS gehen laut Nik Taylor (Taylor 2013: 156 ff.) auch davon aus, dass Tierausbeutung innerhalb moderner kapitalistischer Systeme mit anderen Formen der Unterdrückung wie Sexismus oder Rassismus verknüpft ist. Die Theorie der Intersektionalität, die Verwobenheit von verschiedenen Differenz- und Diskriminierungskategorien, betrachtet Taylor daher als eine Schlüsselkomponente der CAS, wie dies auch im folgenden Zitat von Steve Best, Mitbegründer des Institute for Critical Animal Studies, zum Ausdruck kommt: »Critical animal studies has a broad and holistic understanding of hierarchical power systems (e.g. racism, sexism, classism, and speciesism) and their intricate interrelationships, explores the systemic destructive effects of capitalism on all life and the earth, and views animal liberation and human liberation as inseparably interrelated projects. Most generally, critical animal studies use theory as a means to the end of illuminating and eliminating domination.« (Best 2007: o. S.)

Best kritisiert an den Human-Animal Studies, ohne jedoch ihren Wert und ihre Errungenschaften anzuzweifeln, dass sich die Beschäftigung mit dem MenschTier-Verhältnis umso mehr in theoretischen Ausführungen und fachsprachlichen Ausdrücken verliere, je mehr sie in den akademischen Mainstream und in traditionelle Vorstellungen von wissenschaftlicher Neutralität in der Forschung integriert wird (Taylor 2013: 156 ff.). Demgegenüber argumentiert Kenneth Shapiro (Shapiro 2008a: 2) für das Festhalten an traditionellen Kriterien für gute Wissenschaft, um der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Mensch-TierBeziehung Anerkennung in der akademischen Welt zu verschaffen, um die Glaubwürdigkeit des Themas beizubehalten und das Niveau der Diskussion zu erhöhen. Ungeachtet dessen, ob und wie stark wissenschaftliche Arbeit mit politischem Engagement verbunden wird bzw. werden soll, entkommt keine Forschung der »doppelten Hermeneutik« (Giddens 1988). Wie generell im Kontext sozialer und kultureller Phänomene, kommt es auch im Bereich der MenschTier-Beziehungen und -Verhältnisse zu wechselseitigen Rückwirkungsprozessen und Durchdringungen zwischen dem alltäglichen Wissen über die sinnhafte Sozialwelt und dem professionellen Wissenschaftswissen (vgl. Birke/Hockenhull 2012b: 31 f.). In diesem Sinne haben die Ergebnisse der Human-Animal Studies immer gesellschaftspolitische Implikationen wie beispielsweise bei der Verbindung von Tierquälerei und zwischenmenschlicher Gewalt (human-animalviolence-link), beim Verstehen von Risikofaktoren für krankhaftes Sammeln von Tieren (animal hoarding, dt. auch Tierhortung) oder bei der Analyse der wirt-

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schaftlichen und kulturellen Basis des Fleischkonsums (DeMello 2012: 26). Umgekehrt ist damit eine besondere Verantwortung der Forscher_innen verbunden, sich der disziplinierenden und befreienden Konsequenzen ihrer Arbeit für die nichtmenschlichen Tiere bewusst zu sein.

D IE WISSENSCHAFTLICHEN D ISZIPLINEN D ISZIPLINIERUNG DER T IERE

UND DIE

Betrachtet man die sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen aus der Perspektive der HAS, fällt als erste Form der Disziplinierung das weitgehende Ignorieren von nichtmenschlichen Tieren und unseren Beziehungen zu ihnen auf. Davon legen fast alle Beiträge in diesem Sammelband Zeugnis ab. So weist beispielsweise Jutta Buchner-Fuhs auf die Ausblendung nichtmenschlicher Tiere in der Volkskunde/Europäischen Ethnologie hin, die trotz deren Sichtbarkeit in den vormodernen Lebenswelten bäuerlicher Kulturen das fachgeschichtliche Potential volkskundlicher Tier-Mensch-Forschung unerkannt lässt. Mieke Roscher weist im Kontext der Geschichtswissenschaft auf die »absolute Verneinung tierlicher Historizität« (S. 76) hin und die Theologin Julia Eva Wannenmacher auf das Verblassen der nichtmenschlichen Tiere angesichts der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Jessica Ullrich und Friedrich Weltzien hingegen stellen einen Bruch zwischen dem Stellenwert von nichtmenschlichen Tieren in der künstlerischen Praxis und ihrer Abwesenheit in der wissenschaftlichen Kunstgeschichte fest ähnlich wie Reingard Spannring den Widerspruch zwischen Formen pädagogischer Praxis, die zunehmend nichtmenschliche Tiere miteinbeziehen, und der Bildungswissenschaft. Einer Berücksichtigung nichtmenschlicher Tiere in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen steht ein Anthropozentrismus entgegen, der sie an der Peripherie des Forschungsinteresses belässt. Wiewohl diese wissenschaftlichen Disziplinen sich mit dem Menschen, seiner Geschichte, Kultur und Gesellschaft beschäftigen, kann jedoch der Mensch nicht als unabhängig von seiner nichtmenschlichen Mitwelt angesehen und können die vielfältigen Formen gegenseitiger Beeinflussung und gemeinsamen Werdens nicht ignoriert werden. Eine weitere Form der Disziplinierung besteht in der Reduktion nichtmenschlicher Tiere auf Gattungswesen und Objekte bzw. schlichtweg auf das Andere, das als Kontrastfolie der Klärung des genuin Menschlichen dient. Gabriela Kompatscher beschreibt, wie die Literaturwissenschaft nichtmenschliche Tiere auf Chiffren und auf »literarische Objekte« reduziert. Tamara Pfeiler und Mario Wenzel erinnern daran, welche Bedeutung nichtmenschliche Tiere als Ob-

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jekte psychologischer Tiermodelle und Tierversuche hatten und haben, und Reingard Spannring, wie nichtmenschliche Tiere zu Mitteln für menschliche Entwicklung und Bildung gemacht werden. Die expliziteste Objektifizierung erfahren nichtmenschliche Tiere durch das Rechtssystem, das sie als Eigentum definiert und damit nachhaltig aus der Rechtsgemeinschaft ausschließt, wie Margot Michel und Saskia Stucki ausführen. Diese Objektifizierung verhindert nicht nur, dass nichtmenschliche Tiere als handelnde Individuen mit eigenen Bedürfnissen und Interessen anerkannt werden, sondern stabilisiert im Gegenteil Macht- und Ausbeutungsverhältnisse. Ganz grundsätzlich werden nichtmenschliche Tiere bereits durch den Mensch-Tier-Dualismus diszipliniert, der sie schon seit der Antike in den westlichen Kulturen ganz fundamental und unüberwindbar von den Menschen absetzt (Ebeling/Schmitz/Bauer 2006: 347). Auch wenn diese Dichotomie fragwürdig ist, weil sie einerseits suggeriert, dass beide Gruppen homogen sind, obwohl die Gruppe der Tiere so unterschiedliche Lebewesen wie Amöben und Elefanten umfasst, und andererseits die Kriterien für die Demarkation – wie beispielsweise Sprache und Ichbewusstsein – von der Biologie immer mehr in Frage gestellt werden, sind die Sozial- und Geisteswissenschaften nach wie vor an der Reproduktion dieses Dualismus beteiligt. Dies lässt sich am Umgang mit der biosoziologischen und soziobiologischen Unschärfe verdeutlichen. Sozial- und Kulturwissenschaftler_innen beschreiben Menschen anhand ihrer materiellen und sozialen Strukturen, die sie selbst herstellen, von denen sie aber auch geformt werden. Während biologischer Essentialismus in den Sozialwissenschaften zu Recht zurückgewiesen wird, akzeptieren eben diese Wissenschaftler_innen ein Bild von Tieren, das diese als Organismen beschreibt, die vollständig von ihren Genen bestimmt sind. Biologie und Ethologie wurden die Wissenschaften der Tierheit, und ihr Tierbild bestimmt das Bild, das Sozial- und Kulturwissenschaftler_innen von Tieren haben. Wenn sie aus einer reduktionistischen Sicht dargestellt werden, könne das nur an den Tieren selbst liegen: Nicht nur, dass die neueren Tierbilder der Biologie nicht zur Kenntnis genommen werden, auch das Bemühen, die eigene Disziplin »möglichst eindeutig, klar und ›sauber‹ vom Animalischen abzugrenzen«, wie dies Rainer E. Wiedenmann für die Soziologie konstatiert (S. 264), führt zur Disziplinierung der nichtmenschlichen Tiere im Sinne einer Einschränkung der Sicht von »Tieren im eigentlichen Sinn« auf »konstruierte Tiere« (Shapiro 2008a: 9 f.). Über diesen Tier-Mensch-Dualismus hinaus disziplinieren die Kategorien, in die nichtmenschliche Tiere eingeteilt werden, indem sie den Modus des zulässigen Umgangs und die Nutzbarkeit der Tiere festlegen. Ob Menschen eine Spezies lieben, essen oder ausrotten, hängt nicht von deren Biologie, sondern von

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der sie betreffenden sozialen Konstruktion ab (Joy 2013; Buscka/Gutjahr/ Sebastian 2012; Mütherich 2005). Während solche sozialen Konstruktionen und die damit verbundenen Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse in den Geistesund Sozialwissenschaften meistens nicht hinterfragt werden, kann die Ökolinguistik eine kritische Reflexion des Sprachgebrauchs und damit verbundener Normen, Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber nichtmenschlichen Tieren fördern, wie Reinhard Heuberger ausführt. Die Parallelität von Diskriminierungs- und Ausbeutungsprozessen sowie die Verwobenheit von Sexismus, Rassismus, Klassismus und Speziesismus wird von Karin Schachinger diskutiert, während Klaus Petrus tierethische Positionen und Entwicklungen auch aus der Perspektive sozialer Konstruktionen analysiert. Doch auch die Zoologie ist nicht frei von sozialen Konstruktionen und so zeigt Volker Sommer auf, wie sehr sich Forschungsmethoden und Wissen über nichtmenschliche Tiere im Laufe der Zeit verändert haben. In der Wissenschaft galt eine Sprache, die suggeriert, dass Tiere Intentionen, Wünsche und Gefühle haben, als unobjektiv. Hinweise darauf, dass Tiere mit uns Menschen einige mentale, soziale und emotionale Fähigkeiten teilen, wurden daher auch tunlichst übersehen. Ironischerweise hat eben diese Wissenschaft gezeigt, dass Tiere Präferenzen und Intentionen haben, Probleme lösen können, Emotionen zeigen und unsere eigenen erkennen können, sich ihrer selbst bewusst sind und gemeinsame Bedeutung mit Menschen schaffen können (vgl. Flynn 2008b). Einige Tierforscher_innen wie Donna Haraway und Donald Griffin schlagen entsprechend einen vorsichtigen Gebrauch anthropologischer Methoden vor, insbesondere was die Forderung nach Respekt im Umgang mit den Forschungsobjekten und der Reflexion eigener anthropozentrischer Vorurteile betrifft (Haraway 2003; Griffin 1992). Andere Forscher_innen, z.B. Marc Bekoff, argumentieren für eine Ausweitung des methodologischen Repertoires um die Anekdote und phänomenologische und hermeneutische Verfahren, die subjektive und intersubjektive Dimensionen zum Ausdruck bringen können (Bekoff 2006). An diesen paradigmatischen Veränderungslinien, die nicht nur die TierMensch-Grenze, sondern auch die Grenze zwischen den Naturwissenschaften einerseits und den Geistes- und Sozialwissenschaften andererseits durchlässig machen, eröffnen die HAS Möglichkeiten der kritischen Reflexion tierlicher Disziplinierungen und »humanimalischer« Befreiungen. Jedes Kapitel dieses Sammelbandes beleuchtet die Verbindung des jeweiligen Fachgebietes zu den HAS, die großen theoretischen Fragen, die die Berücksichtigung des Tier-MenschVerhältnisses in dieser Disziplin aufwirft, die Beiträge, die diese Disziplin zu den HAS geleistet hat, sowie Hinweise darauf, welche Forschungsgebiete sich für die Zukunft noch anbieten.

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Während auch die wissenschaftlichen Disziplinen dazu beigetragen haben, nichtmenschliche Tiere als Objekte, Waren, Werkzeuge und Besitz anzusehen und damit deren Marginalisierung, Abwertung und Ausbeutung unterstützt haben, wollen die HAS nichtmenschliche Tiere als Subjekte mit ihren eigenen Erfahrungen und Interessen respektieren und ihnen dadurch einen Platz in der »moralischen Landschaft« sichern (Shapiro, zitiert in Flynn 2008b: xvii). Die Integration nichtmenschlicher Tiere in die Wissenschaften soll zu einer kritischen Überprüfung ihres bisherigen Status sowie einem besseren Verständnis des menschlichen Umgangs mit ihnen führen und damit auch zu einer gesellschaftlichen Sensibilisierung und Befreiung der nichtmenschlichen Tiere von Kommodifizierung und Ausbeutung beitragen – eine Befreiung, von der schon Dr. Dolittle, träumte.

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Bildungswissenschaft Auf dem Weg zu einer posthumanistischen Pädagogik? R EINGARD S PANNRING

T IERE

IN PÄDAGOGISCHER

P RAXIS

UND

W ISSENSCHAFT

Haustierhaltung spielt in den alltagspädagogischen Vorstellungen von Eltern eine große Rolle. Kinder haben so Zugang zur »Natur«, lernen im Umgang mit nichtmenschlichen Tieren Fürsorge und Verantwortung und werden im Spiel mit ihnen motorisch, emotional und sinnlich gefördert. Zoobesuche und Urlaub auf dem Bauernhof sind beliebte Freizeitaktivitäten von Familien, und tiergestützte Pädagogik erfreut sich zunehmender Popularität. Wir sind in vielfältiger Weise mit nichtmenschlichen Tieren verbunden, seien sie Haus- und Begleittiere, Sportpartner, Wildtiere, »Schädlinge« oder »Nutztiere«; in letzterem Fall zumeist nur noch in Form von Fleisch oder anderen Tierprodukten. Die Qualität der Interaktionen in Tier-Mensch-Beziehungen reicht von Gewalt bis Vergötterung. Wie andere Beziehungen und soziale Praktiken auch, implizieren sie immer Lernprozesse und haben damit Relevanz für die Bildungswissenschaft. Interessanterweise werden nichtmenschliche Tiere zunehmend in die pädagogische Praxis miteinbezogen, während die Frage nach dem nichtmenschlichen Tier und dem Tier-Mensch-Verhältnis in der Bildungswissenschaft so gut wie gar nicht vorkommt (vgl. Liebau 2008). Damit entspricht die Bildungswissenschaft insofern einem anthropzentristischen Wissenschaftsverständnis, als sie aus einer rein menschzentrierten Sichtweise Forschungsprobleme definiert und bearbeitet, nichtmenschliche Tiere an der Peripherie des Forschungsinteresses belässt und sie auf Objekte und Gattungswesen reduziert. Die Perspektive der HumanAnimal Studies, nichtmenschliche Tiere in ihrer Subjektivität und Individualität wahrzunehmen (vgl. Shapiro 2008), macht dagegen die vielfältigen, multidimensionalen Verflechtungen tierlicher und menschlicher Leben mit ihren unter-

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schiedlichen Implikationen für die Beteiligten sichtbar. Diese Perspektive wird in den Praxisfeldern der tiergestützten Pädagogik, Tierschutz im Unterricht und in der Sozialarbeit genutzt bzw. eingefordert. So greift die tiergestützte Pädagogik die positiven Erfahrungen von Tierhalter_innen auf, um sie in formalen und nichtformalen pädagogischen Settings auch ihren Klient_innen zu ermöglichen. Sie verweist auf unzählige Studien, die Verbesserungen im physischen und psychischen Wohlbefinden der Menschen nachweisen, die in Beziehung mit nichtmenschlichen Tieren treten. Dabei kann es beispielsweise zu einer Reduktion des Blutdrucks (Katcher et al. 1983), Verringerung von Depressionen (Siegel et al. 1999) und Stress (Allen/Blascovich/Mendes 2002), der Vermittlung eines Gefühls von sozialer Unterstützung und Sicherheit, sowie zur Förderung von Lernmotivation und kognitiver und sprachlicher Entwicklung (z.B. Risley-Curtiss et al. 2006) kommen. Die tiergestützte Pädagogik und Therapie hat sich seit geraumer Zeit stark professionalisiert und institutionalisiert. Sowohl die Institutionen als auch die Literatur sind in der Zwischenzeit fast nicht mehr zu überblicken1 (vgl. Buchner-Fuhs/Rose 2012). Gleichzeitig sind jedoch die Schwächen in der Diskussion und empirischen Basis nicht zu überzusehen. Einerseits handelt es sich um die tierethischen Aspekte, welche die Funktionalisierung des nichtmenschlichen Tieres für menschliche Zwecke in pädagogischen Settings im Kontext des allgemein ausbeuterischen Tier-Mensch-Verhältnisses betreffen,2 andererseits aber auch um die Problematik artgerechter Haltung und Umgangsformen3 insbesondere unter den Bedingungen von Profit-, Effizienz- und Institutionalisierungslogiken. In diesem Zusammenhang fehlt auch eine umfassende kritisch-wissenschaftliche Analyse der Risiken für die nichtmenschlichen Tiere.4 Andererseits steht eine systematische und theoretisch fundierte Erforschung der tiergestützten Pädagogik noch aus. Leitende Konzepte wie Salutogenese und Biophilie scheinen für die Komplexität der Lebens-, Lern- und Entwicklungsprozesse in Interaktionen mit dem nichtmenschlichen Tier nicht vielschichtig genug zu sein (Buchner-

1

Lediglich auf zwei Standardwerke sei hier verwiesen: Otterstedt/Olbrich 2003 und Fine 2010.

2

Dieser Widerspruch ist besonders augenfällig bei Projekten auf Bauernhöfen, wo nichtmenschliche Tiere den Kindern und Jugendlichen u.a. Fürsorge und Mitgefühl beibringen sollen und dann geschlachtet werden.

3

Siehe auch kritisch: Wibbecke 2013 sowie Buchner-Fuhs/Rose 2012.

4

Ein erster kleiner Schritt ist die Studie von Haubenhofer/Kirchengast (2007) zur emotionalen und physiologischen Belastung von Hunden und ihren Begleitpersonen in therapeutischen Settings.

B ILDUNGSWISSENSCHAFT

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Fuhs/Rose 2012: 14). Empirische Arbeiten beruhen zumeist auf beschreibenden Falldarstellungen, während eine kritische, differenzierte Evaluationsforschung mit ausreichend großen Stichproben und Kontrollgruppen sowie eine weitergehende Theorieentwicklung noch voranzutreiben sind (ebd.; Bachi 2012). Interessanterweise unterliegen jedoch beide Positionen, sowohl die der euphorischen Propagierung tiergestützter Pädagogik als auch die Kritik an mangelnder Wissenschaftlichkeit, teilweise derselben Logik: nämlich jener der Herstellbarkeit, Kontrollierbarkeit und Messbarkeit von Lernprozessen, wie sie aus der Perspektive des Posthumanismus weiter unten noch in Frage zu stellen ist. Ein weiteres sich entwickelndes Praxisfeld stellt der Tierschutzunterricht dar, der weit darüber hinaus gehen kann, Kinder über artgerechte Haustierhaltung aufzuklären, um eine kritische Auseinandersetzung mit Tier-Mensch-Beziehungen im globalen Kontext sowie empathische Kompetenzen zu fördern (vgl. Wibbecke 2013: 59). Tierschutz als Erziehung zur Menschlichkeit hat im angloamerikanischen Raum unter dem Begriff der humane education eine schon viel längere Tradition, die auf die Societies for the Prevention of Cruelty to Animals zurückgeht. Sie wurden Mitte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien und den USA gegründet und führten in einigen Fällen auch zur Gründung von Kinderwohlfahrtsorganisationen (Phelps 2007; Myers 2007). Zu den Effekten von humane education gibt es auch schon Untersuchungen, die einerseits aufzeigen, wie sich beispielsweise die unmittelbare Erfahrung mit und der physische Kontakt zu nichtmenschlichen Tieren, insbesondere solchen, die Ekel und Angst auslösen, positiv auf die Wahrnehmung und das Verständnis der Kinder auswirken (Randler/Hummel/Prokop 2012; Tomazic 2011). Andererseits wird auch auf die Grenzen und Risiken hingewiesen, wie beispielsweise von Melson (2001), die in Klassenbeobachtungen zu dem Schluss kam, dass Kinder in Gruppen dazu tendieren, in der Anwesenheit der tierlichen Besucher sehr aufgeregt zu werden, sie zu jagen und zu drücken und sie eher als Dinge zu behandeln denn als lebendige Wesen. Hier findet eine subtile Verschiebung statt zwischen der Wahrnehmung des eigenen Haustieres als Familienmitglied oder intimen Freund und dem nichtmenschlichen Tier in der Schulklasse oder im Zoo als Untersuchungsobjekt, die zu unerwünschten Lernprozessen führen kann. Darüber hinaus zeigt KehlBrands Erfahrung mit Schulhundeprojekten, dass Berichte über Erfolge solcher Projekte und Annahmen eines natürlich positiven Kontakts und einer grundsätzlichen Verbundenheit zwischen Kindern und Tieren nicht verallgemeinerbar sind (Kehl-Brand 2012: 408). Schließlich sei auf das Praxisfeld der Sozialarbeit verwiesen, für das aus systemischer Sicht eine Berücksichtigung der nichtmenschlichen Tiere gefordert wird (Buchner-Fuhs/Rose 2012; Risley-Curtiss 2010). Diese Notwendigkeit

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ergibt sich aufgrund im Sinne des Tierschutzes bedenklicher oder sogar »gescheiterter« Tierhaltung (Buchner-Fuhs/Rose 2012: 17). Im Zusammenhang mit der Betreuung von Familien mit besonderen Belastungen können einerseits für Sozialarbeiter_innen Widersprüche zwischen ihren professionellen Handlungsorientierungen und dem Desiderat des Tierschutzes auftreten. Andererseits können sozialarbeiterische Problemlösungsstrategien zu einer Verschärfung der materiellen und psychischen Belastung der nichtmenschlichen und menschlichen Betroffenen führen. Besondere Brisanz erhalten derartige systemische Zusammenhänge dort, wo Gewalt im Spiel ist, die menschliche und nichtmenschliche Familienangehörige gleichermaßen betrifft. Studien belegen den Konnex zwischen Kindesmissbrauch, Gewalt gegen Haustiere und häuslicher Gewalt (Ascione/Arkow 1999) sowie zwischen Missbrauchserfahrung und Gewalt gegen nichtmenschliche Tiere (Ascione 2005). Tierquälerei kann indes bei Kindern auch ein früher Indikator für Verhaltensprobleme (Dadds/Whiting/Hawes 2006) und Gewalt gegen Menschen (Merz-Perez/Heide 2004) sein. Umgekehrt sind Klient_innen von Sozialarbeit häufig auch aufgrund ihrer Tierpraktiken stigmatisiert wie z.B. obdachlose Hundehalter_innen (Bodenmüller 2012). In all diesen Fällen ginge es um psychosoziale Betreuung und gesellschaftliche Integration unter Berücksichtigung der Bedeutung der nichtmenschlichen Tiere für die menschlichen Klient_innen sowie des Tierschutzes. Was dies im sozialpädagogischen Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle für alle Beteiligten bedeutet und welche Strategien angemessen wären, muss erst durch Forschung und Entwicklung erarbeitet werden. Während die pädagogische Praxis somit schon seit längerem auf offene Forschungsfelder hinweist, greift die Bildungswissenschaft die Tier-Thematik erst langsam auf. Dabei geht es nicht nur darum, menschliche Entwicklungs- und Lernprozesse im Umgang mit nichtmenschlichen Tieren zu untersuchen,5 sondern auch danach zu fragen, welchen Anteil Bildungssystem, Lehr- und Lernkonzepte sowie Bildungsphilosophien an der Reproduktion von Gewalt gegen nichtmenschliche Tiere haben. In diesem Sinn geht der nächste Abschnitt auf die Herausforderungen der Massentierhaltung für die Pädagogik ein, um in Hinblick darauf die Frage nach der Verortung der Human-Animal Studies in den Bildungswissenschaften aufzuwerfen. Im Weiteren soll dann auf die Problematik von Entwicklungs- und Lerntheorien eingegangen werden, die auf den Dualis-

5

Die umgekehrte Frage, nämlich, welche Volkspädagogiken menschliches Handeln beim Lehren und Trainieren nichtmenschlicher Tiere leitet, wäre eine ebenso relevante Frage, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Siehe dazu: BuchnerFuhs 2012.

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men Mensch-Tier, Kultur-Natur sowie Geist-Körper beruhen, und der posthumanistische Ansatz als Versuch, diese Trennungen zu verwinden, expliziert werden.

L ERNEN FÜR ODER GEGEN T IERE ? D IE H ERAUSFORDERUNG DER M ASSENTIERHALTUNG Seit es Tierrechtsaktivist_innen gelungen ist, das horrende Tierleid in der Massentierhaltung öffentlich zu machen, und die Umweltforschung aufzeigt, dass der weltweit steigende Fleischkonsum eine treibende Kraft hinter fast jeder größeren Kategorie von Umweltschäden wie Entwaldung, Erosion, Wasserknappheit, Luft- und Wasserverschmutzung, Klimawandel und Reduktion der Biodiversität ist (Nierenberg 2005), bekommt die Problematik von Fleischproduktion und Fleischkonsum etwas mehr mediale Aufmerksamkeit. Doch ist es ein Thema, mit dem sich Bildung beschäftigen müsste? Im Folgenden soll nach den Lernprozessen im Zusammenhang mit Fleischkonsum gefragt sowie individuelle und gemeinschaftliche Such- und Lernprozesse aufgezeigt werden, die zu veränderten Praktiken führen. Nach Melanie Joy (2011) ist der Fleischkonsum in ein »karnistisches Glaubenssystem« eingebettet, das ihn wie eine universelle Selbstverständlichkeit aussehen lässt, obwohl er auf sozialen Konstruktionen beruht. Die Ideologie des Karnismus basiert auf physischer Gewalt und arbeitet aktiv daran, sich und die inhärente Gewalt zu verschleiern. Diese Praktiken sind physisch unsichtbar, weil versteckt vor öffentlichem Zugang, aber auch symbolisch unsichtbar aufgrund der psychologischen Mechanismen der Vermeidung und Leugnung, welche die Wahrnehmung der Diskrepanz zwischen den Werten der Tierliebe und des Tierschutzes und der der Massentierhaltung inhärenten Gewalt verhindern. Dazu gehören auch die sprachlichen Konventionen, die nichtmenschliche Tiere in politisch konnotierte Kategorien einteilen, sie abwerten und Gewalt gegen sie legitimieren (siehe dazu auch die Beiträge zur Psychologie von Tamara Pfeiler und Mario Wenzel sowie zur Linguistik von Reinhard Heuberger in diesem Band). Gleichzeitig liefert das Glaubenssystem die sozialen Normen, die systemkonformes Verhalten vorgeben. Es ist nicht nur praktisch einfacher, Fleisch zu essen, weil es immer vorhanden ist, während Alternativen oft schwieriger zu bekommen sind, sondern auch gesellschaftlich bequemer. Dagegen befinden sich Veganer_innen häufig in Situationen, in denen sie ihre Ernährungsweise verteidigen oder sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen müssen, die sie ande-

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ren bereiten. Veganer_innen werden häufig als Hippies, Personen mit Essstörungen oder Extremist_innen stereotypisiert (Hirschler 2011). Die Kultur des Karnismus rückt das pädagogische Schlüsselkonzept der Sozialisation in den Mittelpunkt. Individuen werden in eine soziale Gruppe, Gesellschaft und Kultur hineingeboren, deren Normen und Werte sie internalisieren und später (mit Abweichungen) an die nächsten Generationen weitergeben. Was Kleinkinder von den Eltern und anderen Bezugspersonen zu essen bekommen, prägt maßgeblich ihre Ernährungsgewohnheiten, noch bevor sie darüber reflektieren können. Gleiches gilt für die kulturell dominanten utilitaristischen Einstellungen zu Tieren und Natur. So lernen Kinder Tiere als Objekte von Genuss und Konsum kennen und weniger als fühlende Lebewesen (Potts 2012). Hier wird die häufig gepriesene pädagogische Rolle des Tieres als Mitlebewesen durch das Unbehagen und die moralischen Dilemmas der Erwachsenen klar eingeschränkt (Herzog 2011). Obwohl Studien zeigen, dass Kinder in Bezug auf Fleischkonsum durchaus ihre eigenen moralischen Entscheidungen treffen können (Hussar/Harris 2009) und damit die häufig verschwommenen moralischen Grenzen der Erwachsenen in Frage stellen (Herzog 2011), ist der Normalisierungsdruck durch das soziale Umfeld sehr groß. Kinder lernen unterschiedliche Kategorien von Tieren zu unterscheiden, sich vom Leid der »Nutztiere« zu distanzieren und die Implikationen ihres Fleischkonsums auszublenden. Diese Lernprozesse können besonders schwierig werden für Jugendliche, die sich für Ausbildungen in der Fleisch- und Milchwirtschaft entscheiden und dadurch auch zu »emotionalen Lehrlingen« (Ellis/Irvine 2010) werden, die lernen müssen, ihre Gefühle zu den nichtmenschlichen Tieren zu managen. Das Glaubenssystem einer Gesellschaft wird von den großen Institutionen wie beispielsweise dem Rechtssystem, den Medien, dem Gesundheitssystem, aber auch dem Bildungssystem gestützt. So zeigt Helena Pedersen (2011) auf, wie die Strukturen, Praktiken und Narrative der Schule die Ausbeutung der nichtmenschlichen Tiere normalisiert und reproduziert, indem sie die sozialen Repräsentationen der nichtmenschlichen Tiere als archetypische Andere und die implizierten Machtverhältnisse bestätigt. Emotionales Engagement für nichtmenschliche Tiere, die auf dem Teller enden, wird weniger unterstützt; die Milch- und Fleischindustrie wird legitimiert mit dem Hinweis, dass die »Nutztiere« sonst gar nicht existieren würden; das Jagen von Wildtieren wird gewährleistet durch einen Managementdiskurs, der behauptet, die Dezimierung der Population sei für alle gut; die Gefangenschaft von Tieren in Zoos wird durch die Logik der Arterhaltung und Volksbildung verteidigt. Obwohl Lehrer_innen unterschiedliche Botschaften an die Schüler_innen weitergeben, unterstützt der »heimliche Lehrplan« doch überwiegend die Weltanschauung, nach der Tiere

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wie Objekte be- und ausgenutzt werden können. Wie sehr dabei die ökonomischen Interessen Schulen durchdringen, zeigt sich nicht nur daran, wie das dominante Ernährungsregime durch Aussagen mit Wahrheitsanspruch wie z.B. »Menschen sind Raubtiere« geschützt wird, sondern auch, wie unhinterfragt Konsummuster allgemein in Schulen bleiben (ebd.). Neben dem »heimlichen Lehrplan« tut natürlich auch das offizielle Curriculum seine Wirkung, das akademisches Wissen und Professionalität an »Objektivität« und Distanziertheit festmacht. So können Schüler_innen jahrelang lernen, sich auf Prüfungen vorbereiten und Zertifikate erwerben, ohne jemals Fürsorge für sich selbst, für andere Menschen, für nichtmenschliche Tiere, Pflanzen und die natürliche Welt zu lernen (Noddings 2005). Was nützt es, wenn Kinder die Körperteile eines Schweins benennen können, wenn sie nicht auch Mitgefühl lernen? Was nützt es, wenn Kinder hinter der Darstellung der Körperteile als für den Menschen verwertbare Fleischstücke nicht die karnistische Ideologie erkennen lernen? Wenn Schule Bedeutung für das Leben haben soll, dann müssen auch solche ideologischen und ethischen Themen diskutiert werden. Sich mit der Ausbeutung von Tieren auseinanderzusetzen ist nicht antiintellektuell, sondern bedarf der wissenschaftlichen Disziplinen und Schulfächer (ebd.). Es geht jedoch von einem Problem aus, das bewegt und aufwühlt, dessen Lösung die Überwindung von Leugnung und Verdrängung erfordert und die Entwicklung eines Bewusstseins für komplexe Macht- und Unterdrückungsstrukturen sowie von Kreativität und Visionen abverlangt. Letztere sind notwendig, um der Idee des globalen Marktes und Konsums eine Weltanschauung entgegenzusetzen, die innerhalb des globalen und planetaren Kontextes eine Heimat für ein sinnerfülltes Leben in einer mehr als menschlichen Welt ermöglicht (Sterling 2001). Mit dem Veganismus und der Tierrechtsbewegung haben sich auch schon Gemeinschaften und Praktiken (Wenger 1998) etabliert, in welchen gelernt wird das zu sehen, zu verstehen und zu tun, was im Mainstream der Gesellschaft noch außerhalb der Vorstellung ist. Dementsprechend impliziert die Entscheidung, auf vegane Ernährung umzusteigen, in erster Linie die Überwindung von Konformitätseffekten und transformatives Lernen (Mezirow 2010; O’Sullivan/Morrell/O’Connor 2002). Letzteres beinhaltet die schockierende Konfrontation mit Tierausbeutung, Versuche, dieses neue Wissen zu verdrängen, eine Neuorientierung und schließlich eine veränderte Weltanschauung und Lebenspraxis. Lernen bedeutet in diesem Kontext nicht nur, sich über die Fleisch- und Milchproduktion sowie deren vielfältige Auswirkungen zu informieren, sich das praktische Wissen anzueignen, wie man sich vegan ernährt und wie man dies im Alltagsleben umsetzt. Lernen bezieht sich auch auf den Umgang mit Konflikten mit der Umwelt, aber auch mit

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sich selbst, wenn die eigene Einstellung und Praxis nicht übereinstimmen, sowie das Verhandeln der eigenen sich verschiebenden Identität. Das damit verbundene Gefühl, »zu erwachen« oder »ganz zu werden«, ist auch bei Umweltaktivist_innen zu beobachten (Kovan/Dirkx 2003: 103). Mit der Übernahme eines ethisch motivierten Veganismus ist häufig ein politisches Engagement verbunden, das gleichzeitig politisierende Lernprozesse voraussetzt und mit sich bringt: nicht nur unmittelbar durch Aktionismus und politische Partizipation, sondern auch in Form von Boykotten und sogenannten Buycotts als Versuche, Gesetzgebung und wirtschaftliche Praktiken zu beeinflussen. Während individuelles Lernen auf dem Weg zum Veganismus schon häufig Forschungsgegenstand war,6 ist »life politics« (Giddens 1994) im Kontext der Tierrechtsbewegung noch wenig im Sinne politischer Bildung sowie kritischen globalen Lernens untersucht worden. Insbesondere dort, wo Länder die Strafandrohung und Anklagepraxis gegen Aktivitäten von Tierschützer_innen verschärft haben (Balluch 2011; Potter 2011), wird das problematische Machtverhältnis zwischen Wirtschaft und Politik einerseits und Zivilgesellschaft andererseits sichtbar und damit die Frage nach Lernen, Politisierung und gesellschaftlichem Wandel unter postmodernen und postdemokratischen Bedingungen (Giddens 1994; Crouch 2004) bedeutsam. Engagement für Tierrechte sowie Lebensstilveränderungen in Richtung Veganismus stellen jedoch nur eine kleine soziale Bewegung dar, auch wenn sie in den vergangenen Jahren medial stärker präsent wurde. Gesamtgesellschaftlich gesehen liegt es nicht im Trend, grün zu sein, und die Vertreter_innen dieser Bewegungen sind keine Rollenmodelle für die Mehrheit der Menschen. So kann der kulturelle Wandel auch nicht vorgeschrieben oder gelehrt, sondern nur dort zugelassen und gefördert werden, wo er sich »an den Rändern und Grenzen der dominanten Kultur« (Sorgo 2011: 13) entfaltet und die daran Beteiligten Selbstermächtigung erleben können. Inwieweit Jugend- und Kulturarbeit sowie community education (Erler/Kloyber 2013) in diesem Sinne Räume öffnen können, in denen Menschen sich für ein gemeinsam definiertes Feld der Sorge oder Fürsorge kritisch engagieren und ein Repertoire an Ressourcen und ethischen und nachhaltigen Praktiken entwickeln,7 wäre ein Forschungsfeld, das die Bereiche Tierethik, Nachhaltigkeit und Bildung umfasst.

6

Beispielsweise: McDonald 2000; Friedrich-Schiller Universität Jena 2007; Kurth et al.

7

Hier sei an urban gardening als Beispiel verwiesen.

2011; Hirschler 2011; Wibbecke 2013.

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V ERORTUNG

DER

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H UMAN -ANIMAL S TUDIES

Die Problematisierung der Nutzung und Ausbeutung nichtmenschlicher Tiere legt die Perspektive der kritischen Pädagogik nahe, welche die Idee und Praxis sozialer Gerechtigkeit verfolgt und die Strukturen und Prozesse aufzeigt, die auf Basis sozialer Konstruktionen wie Rasse, Klasse und Geschlecht zu Marginalisierung, Unterdrückung und Ausbeutung führen. In den letzten Jahrzehnten wurde der Speziesismus kritisch aufgegriffen und mit Rassismus und Sexismus verglichen (z.B. Spiegel 1996). Dabei sind diese Ausbeutungsverhältnisse auf der strukturellen Ebene in »interaktiven Systemen« (Andersen/Collins 1992: xii; Pharr 1988) miteinander verknüpft und verstärken sich gegenseitig. So führt beispielsweise die gewalttätige Arbeit in den Schlachthäusern nicht nur zu massivem Leid und millionenfachem Tod der nichtmenschlichen Tiere, sondern kann auch Traumatisierungen bei den Arbeiter_innen hervorrufen, die sich in Alkohol- und Medikamentenmissbrauch sowie häuslicher Gewalt manifestieren können (Eisnitz 2007). In den USA sind mehr Schlachthäuser in Regionen mit einem hohen Immigranten_innenanteil sowie höheren Arbeitslosen- und Kriminalitätsraten zu finden (Fitzgerald/Kalof/Dietz 2009). Global gesehen drückt sich diese Interaktion im Zusammenhang zwischen »Reduktion der Biodiversität«, »Zerstörung von Ökosystemen« und »Migration in der Dritten Welt« aus (Nibert 2008: 266). Auf der kulturellen Ebene zeigen sich die Verflechtungen in Stigmatisierungsprozessen. Tierpraktiken von Immigrant_innen oder ethnischen Minderheiten werden als unzivilisiert und brutal dargestellt, während die Legitimität gewalttätiger Tierpraktiken der dominanten Kultur nicht in Frage gestellt werden (Elder/Wolch/Emel 1998). Diese Prozesse der Dehumanisierung, die letzten Endes Gewalt gegen die betreffende menschliche soziale Gruppe entschuldigen, rechtfertigen gleichzeitig implizit die Gewalt gegen nichtmenschliche Tiere. Die kritische Pädagogik ist damit aufgerufen, offenzulegen, wie nichtmenschliche Tiere im kapitalistischen Wirtschaftssystem und der Kultur der späten Moderne ausgebeutet werden, und dabei intersektionell quer über alle Unterdrückungsbeziehungen hinweg gegen alle Arten von Ausbeutung und für ökologische Nachhaltigkeit und Ethik in einer mehr als menschlichen Welt zu arbeiten (Kahn/ Humes 2009). Eine in der kritischen Pädagogik häufig verwendete Perspektive ist die Paulo Freires, der das Bankiersmodell des Lehrens und Lernens als Unterdrückungsinstrument bezeichnet (1978). In diesem Modell sind die Schüler_innen, die dazu gebracht werden, Inhalte auswendig zu lernen, Container, die von der Lehrperson gefüllt werden. In dem Maße, wie die Lernenden die Einlagen der Lehrperson aufnehmen und anhäufen, verlieren sie die Fähigkeit, ein kritisches Be-

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wusstsein durch ihre Interventionen und Transformationen der Welt zu entwickeln. In seiner Pädagogik der Unterdrückten argumentiert Freire jedoch auf Basis anthropozentrischer Annahmen, die eine Befreiung des nichtmenschlichen Tiers schwer vorstellbar machen. Menschen lebten in einer »Welt«, die sie produzierten und transformierten und von der sie sich distanzieren könnten, während nichtmenschliche Tiere lediglich in einem Habitat lebten, an das sie organisch gebunden seien. Nichtmenschliche Tiere seien geistlose, zeitlose und lediglich instinktiv handelnde Wesen. Im Unterschied zu ihnen sei der Mensch ein Subjekt, das autonom, rational, verantwortungsbewusst sei und über der Natur stehe. Indem Freire den Subjektstatus der Menschen in der Dritten Welt und ihre Menschlichkeit gemessen an den Kriterien der Aufklärung hervorstreicht, befreit er sie von dem Vorurteil, dass sie nichtmenschlich und daher unterdrückbar und ausbeutbar sind. Freires überoptimistischer Humanismus, die Subjektivierung und die Betonung von Lesekompetenzen für die Befreiung8 kann die Unterdrückung der nichtmenschlichen Tiere nicht berücksichtigen. Tatsächlich unterstützt er ein unangemessenes Verständnis von Unabhängigkeit, Macht und Kontrolle, das selbst zur tierethischen und ökologischen Krise beigetragen hat. Eingebundenheit, Würdigung und Ehrerbietung für die nichtmenschliche Mitwelt haben dagegen in unserer westlichen Kultur nur geringen Wert und bringen uns gefährlich nahe an die rein biologische Existenz von nichtmenschlichen Tieren (vgl. Bell/Russell 2000). In Anbetracht dieses Defizits in Freires Pädagogik der Unterdrückten, das Nel Noddings dazu führt, in Bezug auf nichtmenschliche Tiere, Pflanzen und Natur von der Notwendigkeit einer »Pädagogik der Unterdrücker_innen« zu sprechen (Noddings 2005: 137), bietet sich der Zugang der Frankfurter Schule als der angemessenere an. Mit Horkheimers Ausweitung des Solidaritätsprinzips auf nichtmenschliche Tiere zeigt er nicht nur ein explizites Engagement für sie, sondern auch eine Distanzierung von der problematischen marxistischen Vorstellung uneingeschränkter Naturbeherrschung und rein konflikttheoretisch gefasster Gerechtigkeit für Menschen. Damit entwickelt sich eine »allgemeine Analyse von Herrschaftsbeziehungen […], die sich auf die unter den Zwängen des modernen, industriegesellschaftlichen Kapitalismus lebenden Menschen sowie auf die durch wirtschaftliche Expansion und Intensivierung der Produktionsformen zum Objekt totaler Ausbeutung gewordenen tierlichen Individuen konzentriert. Die Kritik der

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Paulo Freire verknüpfte die Politisierung der Bevölkerung mit Alphabetisierungsprogrammen.

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›doppelten Naturbeherrschung‹ bildet hierbei die konzeptuelle Klammer« (Mütherich 2004: 80).

Sie verweist auf den Zusammenhang zwischen der Unterjochung der äußeren Natur und der inneren Natur, die sich in (Selbst-)Verdinglichung, Entfremdung und Ausbeutung äußert und auf der Abwertung des Körperlichen, Vorrationalen und Naturgebundenen beruht. Gegenentwürfe zu diesem typisch westlichen Inder-Welt-Sein wurden in der Tradition der Frankfurter Schule beispielsweise von Erich Fromm (1978) in seiner Gegenüberstellung von Haben und Sein und in der anarchistischen Bildungstheorie von Ivan Illich (1972) im Vergleich zwischen dem Prometheus’schen und dem Empimetheus’schen Zugang zur Mitwelt ausgedrückt.9 Beide verweisen auf die Notwendigkeit von Konvivialität, fürsorglicher Liebe und Biophilie sowie auf die Dringlichkeit, Lehren und Lernen anders zu denken. Während die Frankfurter Schule im kritisch-pädagogischen Diskurs rezipiert wird,10 bleiben ihre Überlegungen zur natürlichen Mitwelt in pädagogischen Kontexten jedoch weithin unberücksichtigt.

L ERNEN

VON UND MIT

T IEREN ?

Mit der Kritik an Freires Anthropozentrismus ist ein wesentlicher Aspekt westlicher Kultur und Wissenschaft angesprochen, nämlich die kategorielle Unterscheidung zwischen Mensch und Tier,11 Kultur und Natur sowie Geist und Körper. Abgesehen von der langen Geschichte dieser Dichotomie spielte im deutschsprachigen Raum die philosophische Anthropologie von Helmut Plessner und Arnold Gehlen, die sich mit nichtmenschlichen Tieren als Kontrastfolie zum Menschen beschäftigten, für die Pädagogik eine große Rolle. Ihr Anthropozentrismus führt sie zu einer selektiven Wahrnehmung und Interpretation biologischer Befunde und einem reduktionistischen Tierbild, das bis heute die Bildungswissenschaft prägt. Zeitgenössische Arbeiten zu kognitiven und sozialen Fähigkeiten nichtmenschlicher Tiere ignorierend beschränkt Plessner (1925/ 1975) das Tier auf seinen Körper und sieht von der Körperlichkeit des Menschen

9

Zur Bedeutung von Ivan Illich im Rahmen einer kritischen Ökopädagogik siehe: Kahn (2009).

10 Beispielsweise von Klaus Mollenhauer, Wolfgang Klafki und Ludwig Pongratz. 11 Die Kursivstellung des Wortes »Tier« hier und im Folgenden soll auf die unangemessene Zusammenfassung einer schier unbeschreiblichen Mannigfaltigkeit an Lebensformen aufmerksam machen (vgl. Derrida 2010).

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ab. Gleichzeitig konstatiert er einen »Wesensunterschied« zwischen Mensch und Tier, dessen Infragestellung »eine große Gefahr für die Einsicht in die Sonderstellung des Menschen« bedeute (Plessner, zitiert in Mütherich 2004: 56). Ebenfalls auf ideologischer Grundlage verteidigt Gehlen (1940) den Sonderstatus des Menschen, »dem alle tierischen Lebensbedingungen fehlen« (Gehlen, zitiert in Mütherich 2004: 58), sogar gegen evolutionstheoretische Konzepte (ebd.). Die in dieser philosophisch-anthropologischen Tradition stehende Bildungswissenschaft versucht darzulegen, »was einzelne Erziehungsphänomene vom Wesen des Menschen offenbaren und welche Bedingungen zur Verwirklichung von Erziehung vorliegen müssen« (Wulf 1994: 9), wobei der Mensch als bildungsbedürftig und bildungsfähig verstanden und das Ziel in der Erreichung von Mündigkeit, Selbstreflexion und Selbstverwirklichung gesehen wird. Während Plessners Tierbild und die kategorielle Unterscheidung zwischen Mensch und Tier heute längst von der Ethologie überholt ist und eine simplifizierende Gegenüberstellung von Mensch und Tier zugunsten einer Betonung der Vielfalt menschlicher Lebensweisen und kultureller Ausdrucksformen in der pädagogischen Anthropologie abgelehnt wird, wirken die Dualismen Mensch und Tier, Kultur und Natur, Geist und Körper weiter fort. Wie bedeutsam diese nach wie vor sind, zeigt sich in der Faszination für die »wilden Kinder«, aber auch in Ideologien kindlicher Tierheit. Drei historische Diskurse basieren auf der Vorstellung einer Gemeinsamkeit zwischen Kindern und Tieren aufgrund ihrer »Natürlichkeit« im Vergleich zur »Zivilisiertheit«. Ein Strang sieht Kinder und Tiere in ihrer ursprünglichen Wildheit und »Bestialität«. In Thomas Hobbes‫ ތ‬Leviathan (1651) beispielsweise ist der »Naturzustand«, in dem das Leben einsam, arm, grausam und kurz ist, ein analytisches Konstrukt, das dazu motivieren soll, sich einer absoluten politischen Macht zu unterwerfen. Die Fähigkeiten, die Menschen von Tieren unterscheiden, müssen erst durch Instruktion und Disziplin von den Kindern gelernt werden. Auch die Psychoanalyse um die vorletzte Jahrhundertwende verweist auf das ungezähmte Kind in Gestalt des Es, dem anachronistischen, animalistischen Teil der Psyche, das kontrolliert und unterworfen werden muss, um ein zivilisiertes Leben zu ermöglichen. Der zweite Strang hingegen porträtiert Kindheit und Tierheit als Sphären relativer Unschuld und Tugend, während Zivilisation die Korrumpierung dieses Zustandes bedeutet. Das tierähnliche Kind wird schnell zum Opfer der Gesellschaft, wenn es nicht so sorgfältig aufge- und zum Bürger erzogen wird, wie Rousseau es 1762 in Emile beschreibt. In jüngerer Zeit findet sich das Thema des »Kindes der Natur« im Kontext der Umweltzerstörung, in der Tiere und Kinder Schutz brauchen und gleichzeitig den Vandalismus der Erwachsenen anklagen. Im dritten Diskurs geht es nicht um eine metaphorische, sondern um eine

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evolutionär begründete tatsächliche Ähnlichkeit zwischen Tieren und Kindern, die jedoch im Laufe der kindlichen Entwicklung überwunden wird. In allen drei Diskursen treffen Konzeptionen der Natur und Konzeptionen der Menschheit aufeinander. Wie auch immer bewertet drücken die nichtmenschlichen Tiere die als angeboren angesehenen Eigenschaften der Menschen aus, und die Tier-KindBeziehung spiegelt die Fragen nach Individuum und Gesellschaft. Gemeinsam ist ihnen die Überwindung eines natürlichen, animalischen Zustandes hin zu einem typisch und einzigartig menschlichen Sein. Die Zielpunkte menschlicher Entwicklung sind auch hier wiederum gerade jene Eigenschaften, wie Rationalität, Sprache und Selbstbewusstsein, die nur dem Menschen zugestanden werden und den tierlichen Körper überwinden. (Myers 2007) Solche Vorstellungen trennen menschliche und nichtmenschliche Tiere, marginalisieren letztere und unsere Beziehungen zu ihnen. Während es schon einige Untersuchungen in den Human-Animal Studies dazu gibt, wie nichtmenschliche Tiere zu Interaktionen gleichermaßen beitragen wie Menschen (Shapiro 1989; Sanders/Arluke 1993; Alger/Alger 1997) und die Biologie eine gemeinsame Basis für Beziehungen und Kooperation innerhalb der Arten und über Artgrenzen hinaus, insbesondere für Säugetiere, bestätigt (Julius et al. 2013), bleiben (mit Ausnahme der tiergestützten Pädagogik) nichtmenschliche Tiere als Partner in Entwicklungs- und Lernprozessen von der Bildungswissenschaft weitgehend unberücksichtigt. Eine weitere Folge dieses Dualismus ist die Trennung zwischen dem einfachen, mechanistischen Körper mit einer einfachen primitiv-instinktiven Ordnung einerseits und dem Geist mit einer konzeptionellen Ordnung, die meist in Verbindung mit Sprache gesehen wird, andererseits. Das fehlende Verständnis des Zusammenhangs zwischen Körper und Geist lässt jedoch die Vorstellung eines solipsistischen menschlichen Individuums entstehen, wie es sich auch in den dualistisch und individualtheoretisch verkürzten Lerntheorien wiederfindet (Künkler 2011). Demgegenüber zeigt Myers (2007), dass Tiere für Kinder eine ganzheitliche und unwiderstehliche Präsenz haben und in ihrer Entwicklung eine vitale Rolle spielen. Die Bemerkungen, die Kinder zu nichtmenschlichen Tieren machen, sind nicht in erster Linie psychosoziale Projektionen oder nichtverwirklichte Potentiale für rationale Gedanken oder teilweise internalisierte kulturelle Konzepte. Sie drücken aus, dass die Kinder die unaussprechbare Gleichheit und Andersartigkeit anderer lebender Tiere anerkennen und davon gefesselt werden. Kinder zeigen ein fein abgestimmtes Gefühl für bestimmte grundlegende und variable Eigenschaften von Tieren (inklusive Menschen) als Interaktionspartner wie Handlungsfähigkeit, Kohärenz, Affektivität und Kontinuität. Diese Eigenschaften rufen bei den Kindern Sorge um das subjektive Wohlbefinden der

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nichtmenschlichen Tiere hervor und legen damit wie in zwischenmenschlichen interaktiven Dynamiken die Grundlage für moralische Einstellungen. Moral ist nicht einfach eine äußerliche soziale Konstruktion, die Kinder lernen, noch ist sie ein Nebenprodukt eines isolierten egozentrischen Selbst, wenngleich Kultur und Sprache selbstverständlich die moralische Entwicklung beeinflussen. Die moralischen Lektionen in Wort und Tat, die Kinder erhalten, können jedoch nicht erklären, warum Kinder so sensibel auf Gefahren für das Wohlbefinden von nichtmenschlichen Tieren reagieren. Gerade umgekehrt geht Myers davon aus, dass die Ansprechbarkeit der Kinder entsprechende kulturelle Praktiken der Erwachsenen hervorrufen. Manche dieser Praktiken schützen diese Ansprechbarkeit und unterstützen die Kontinuität der körperlichen Erfahrungen und Gefühle der Kinder, andere untergraben sie, indem sie eine psychische Distanz aufbauen. Kinder schließen nichtmenschliche Tiere in ihrem Selbst mit ein im Sinne einer Fürsorge für sie, dem Wunsch, weiter mit ihnen zu interagieren und Ähnlichkeiten zu ihnen zu finden. Wie diese Beobachtungen jedoch theoretisch zu fassen sind, ist nicht offensichtlich. In der Sozialpsychologie wird traditionellerweise zwischen einem subjektiven und einem objektiven Gefühl des Selbst unterschieden. Einerseits steht die Erfahrung, ein handelndes, wissendes, subjektives Ich zu sein. Hier wird das Tier als dynamisch interaktiver und subjektiver Handelnder erlebt, durch den das Ich in seiner Persönlichkeit bestätigt wird. Dieses Ich ist jedoch für die Selbstreflexion nicht zugänglich und daher schwierig zu studieren. Andererseits wird das objektive Selbst häufig als explizites Selbstkonzept betrachtet; doch Theorien, welche die sprachliche Vermittlung des Selbst betonen, schließen Tiere als direkte Mitglieder der Gemeinschaft aus, in der das Selbst angelegt wird, weil sie nicht sprechen. Alternativ argumentiert Myers, dass die Dimensionen des Selbst auf Strukturen von Beziehungen beruhen, d.h. auf anhaltenden Interaktionsmustern. Die grundlegenden Konturen des subjektiven Selbst können demnach aus den Interaktionen abgeleitet werden. Die vier grundlegenden Konstanten Handlungsfähigkeit, Kohärenz, Affektivität und Kontinuität des Selbst und des Anderen liegen der Erfahrung des frühen Ichs – oder des Gefühls des Selbst als Subjekt und des entsprechenden subjektiven Anderen – zugrunde. Aus dieser Struktur kann eine Basis für ein Gefühl des menschlichen Selbst in Beziehung zum nichtmenschlichen Anderen postuliert werden, die an den Interaktionen der Kinder mit den nichtmenschlichen Tieren sichtbar wird. Die feinfühligen Antworten der Kinder auf ihre nichtmenschlichen Interaktionspartner lassen an den Vorstellungen von egozentrischen, projektiven oder anthropomorphisierenden Zugängen zum Tier zweifeln. Obwohl viele Aktivitäten wie das Beim-Namen-Rufen oder das Streicheln von kulturellen Praktiken ge-

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rahmt sind, kann dieser Rahmen die Feinheiten der Interaktionen nicht erklären. Im Gegenteil, die kulturellen Vorgaben sind abhängig vom direkten Geben und Nehmen in den Beziehungen. Die Frage nach dem objektiven Selbst betrifft die Beziehung zwischen dem nonverbalen Bereich und dem verbalen Bereich und seinen Produkten – die persönlichen und kulturellen Bedeutungen, die durch Sprache ausgedrückt werden. Entgegen der Sozialpsychologie, die sich auf George Herbert Mead stützt, wonach das Selbst als Objekt nur in einer Gemeinschaft von Sprachnutzer_innen entstehen kann, beruht Selbst-Bewusstsein auf der Wahrnehmung von sozialem Kontext, d.h. der Fähigkeit, Muster, Kohärenz oder Invarianzen zu finden. Dies kann auch im nonverbalen Bereich stattfinden, nämlich mit Verhaltensmustern, wie dies beispielsweise geschieht, wenn Kinder Tiere nachahmen und in einen tierlichen Körper schlüpfen. Das Tierrollenspiel zeigt die Konzepte der Kinder vom Tier und von sich selbst bzw. im Moment des Spiels des tierlichen Selbst und menschlichen Anderen. Dies weist auf eine wichtige Kontinuität in der Erfahrung hin zwischen dem Präverbalen und dem Selbst-Bewusstsein, dem Körper und dem Geist – eine Einheit, die wichtige Entwicklungspotentiale enthält, aber auch unterbrochen werden kann. Nichtmenschliche Tiere durchqueren aber auch die kognitive Entwicklung, beispielsweise das biologische Wissen oder die theory of mind. Bemerkenswert ist das anhaltende intellektuelle Interesse der Kinder am tierlichen Anderen mit seiner gewissen Andersartigkeit. Auch hier produzieren kulturelle Praktiken nicht aus dem Nichts die Neugier am nichtmenschlichen Tier. Stattdessen ermuntern oder deformieren sie etwas, das schon im Kind angelegt ist. Kulturelle Praktiken der Objektivierung und Subjektivierung beeinflussen schon im Kindergartenalter das Potential des Kindes, mit einem Interesse an der Lebenswelt anderer Tierarten aufzuwachsen. So, wie sie Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit etc. lernen, lernen sie auch, was es bedeutet, Mensch zu sein. Kleine Kinder erfahren eine Kontinuität zwischen dem menschlichen Selbst und dem tierlichen Anderen, ohne die Unterschiede zu ignorieren. So verorten sie sich in einer Gemeinschaft unterschiedlichster Lebewesen. Aber lernen, Mensch zu sein, kann auch beinhalten, ausdrücklich nicht Tier zu sein und sich in einem Prozess der Reifikation von »Mensch« und »Tier« mit Tieren zu dis-identifizieren. (Myers 2007)

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P OSTHUMANISTISCHE P ÄDAGOGIK ? Die Anerkennung der Verschwommenheit der Tier-Mensch-Grenze und die Betonung des Verbindenden inspiriert zu posthumanistischer Theoriebildung. Das Konzept des Posthumanismus bedeutet nicht das Ende des Humanismus oder etwas, das nach dem Humanismus kommen könnte. Vielmehr bezieht es sich auf »grundsätzliche ontologische und epistemologische Fragen, die sich aus dem Unvermögen des Humanismus, seine eigenen Ziele wie Wertepluralismus, Toleranz und Gleichheit für alle zu erreichen« (Pedersen 2010b: 242), ergeben. An den multiplen Berührungsflächen zwischen Organischem und Anorganischem, Materiellem und Virtuellem, Kulturellem und Natürlichem geht es u.a. darum, wie sich menschliche und tierliche Subjektivitäten und Körperlichkeiten innerhalb einer Natur-Kultur-Symbiose gestalten und wie sie sich gegenseitig in einer Art System konstituieren (ebd.).12 Die oben besprochene Signifikanz von TierKind-Interaktionen und den darin enthaltenen Grenzauflösungen und -rekonstruktionen deutet schon an, in wie vielen unterschiedlichen Arten nichtmenschliche Tiere immer schon Teil unseres Selbst, unseres Lernens und unserer Kultur sind. Dieses »gegenseitige Werden« (Pickering 2005) verweist auch auf den methodologischen Aspekt einer posthumanistischen Pädagogik, denn sie bedarf einer Verschiebung der Analyseeinheit. In Anlehnung an Deleuze und Guattari (1987) überwindet sie traditionelle disziplinäre Grenzen zwischen den Naturund Sozial- bzw. Humanwissenschaften durch die Erforschung einer »Dialektik« zwischen menschlichen und tierlichen Handelnden, welche eine Art posthumanes Objekt, eine Versammlung mit einer inneren Einheit entstehen lässt. Nach Pickering geht dieses posthumane Objekt den menschlichen und tierlichen Objekten der traditionellen Wissenschaften voraus und verleiht ihnen eine Qualität des Emergierens, die letzteren fehlt. Damit wird ein neuer und unverkennbarer Forschungsbereich eröffnet, nämlich die gegenseitige Abhängigkeit und Verwobenheit des Werdens von Mensch und Tier. In diesem Sinne zeigt Pedersens teilnehmende Beobachtung einer Studie mit Hühnern, wie diese als handelnde Subjekte den Lern- und Forschungsprozess der studentischen Forscherin beeinflussen und der menschlichen Vorstellung vom Tier als Untersuchungsobjekt und von Forschung als kontrollierbarem Prozess Widerstand entgegensetzen (Pedersen 2011). Die Hühner, die aus einer Legebat-

12 Vertreter_innen posthumanistischer Theorie sind beispielsweise Katherine Hayles, Donna Haraway und Cary Wolfe. Prominent in dieser Denkrichtung ist auch der kybernetische Bereich, in dem es um Mensch-Maschinen-Interaktion und Hybridität geht.

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terie in dieses Forschungssetting verfrachtet wurden, konnten zwar nicht aus ihrer Situation ausbrechen, aber sie konnten mit ihrem Verhalten die Versuchsanordnung stören und den Forschungsprozess verzögern und verkomplizieren. Mit ihrem Verhalten und Ausdruck gaben sie der Studentin qualitative Informationen, welche die Grenze zwischen dem quantitativen und dem qualitativen Bereich sowie »objektiven« Daten und subjektiver Bedeutung ins Schwanken brachten. Der Dialog zwischen der Studentin und den Hühnern stellte eine Beziehung her und bestätigte diese und rückte im Lernprozess der Studentin die Persönlichkeit der Hühner in den Vordergrund, während die statischen, eindimensionalen quantitativen Daten für sie immer weniger aussagekräftig und vertrauenswürdig wurden. So kann Lernen als »Konvergenz von Energien« (ebd.: 23 f.), als dynamisches Entstehen von Subjektivitäten innerhalb dieser konkreten Forschungssituation verstanden werden, wie dies auch andere Naturwissenschaftlerinnen wie beispielsweise Barbara Smuts (2001) oder Barbara McClintock (Fox Keller 1995) berichten. Diese radikale epistemologische Unvollkommenheit relativiert das Lernen über und vertieft das Verständnis für ein Lernen mit und von. Sie stellt die anthropozentrische Vorstellung vom Menschen als egozentrisch geschlossene Persönlichkeit und von Lernen als Aneignung, dem Besitz und der Beherrschung eines Wissensbestandes und der Nutzung der Mitwelt zur eigenen Bildung und Selbstentwicklung in Frage. Die Auswirkungen dieser Sichtweise, dass nichtmenschliche Tiere Inhalt, Material und Mittel zu Forschung und Bildung sind, sind quantitativ und qualitativ am Schicksal der »Labortiere« zu sehen. Das ineinander verwobene Werden von Mensch und Tier in einem gemeinschaftlichen Projekt problematisiert auch die Annahme, Lern- und Forschungsprozesse könnten durch Objektivierung, Standardisierung, Mess- und Kalkulierbarkeit kontrolliert und Wiederholbarkeit und Erfolg garantiert werden. Dagegen rückt eine posthumanistische Pädagogik Intersubjektivität, Prozesshaftigkeit und Unabschließbarkeit von Lernen in den Vordergrund. Beziehung und Ansprechbarkeit implizieren denn auch Moral und schlussendlich die Befreiung des Anderen von seiner Instrumentalisierung und Benutzung (Spannring 2014). So bekommen auch die Hühner nach Beendigung der Studie entgegen den Plänen der Forschungseinrichtung, an ihnen ein neues Gift auszuprobieren, von der Studentin in einer Befreiungsaktion ein neues Zuhause mit Hahn und Freilaufgelände – ohne Nutzen für den Menschen (Pedersen 2011). Während die kritische Pädagogik die Massenbeschulung und Kommodifizierung von Wissen unter kapitalistischen Produktions- und Konsumptionsbedingungen im Zusammenhang mit der Ausbeutung der nichtmenschlichen Tiere bringt, kann die posthumanistische Perspektive, die Machtverhältnisse anders,

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wenn überhaupt, theoretisiert, als im Widerspruch dazu stehend gesehen werden. Doch der Posthumanismus ist nicht Spekulation oder Träumerei, sondern kann Irritationen ins Spiel bringen, die die Normativität des Faktischen in Frage stellen und damit zutiefst (bildungs-)politisch sind. Der Fokus auf Relationalität, Koexistenz und Koevolution von Menschen, Tieren, Artefakten und Technologien in einem gemeinsamen biosozialen Raum kann zu einer Dezentrierung des Menschen beitragen und damit zu neuen Möglichkeiten lebendigen, affektiven und kreativen Zusammenlebens und Lernens in einer mehr als menschlichen Welt führen. Diese ökologischen und pädagogischen Beziehungen sind nicht unbedingt dort zu finden, wo Pferde mit Ausbindezügeln zusammengeschnallt im Kreis gehen müssen, Meerschweinchen von vielen Händen angegriffen und gedrückt werden oder Delphine in Gefangenschaft vor sich hindümpeln müssen. Sie entstehen dort, wo wir uns beispielsweise bewusst machen, wie unsere Größe, Bewegung, Geräusche und Verhalten von Anderen wahrgenommen werden, die uns beobachten. Werde ich als gewaltig und gefährlich wahrgenommen durch die Vibrationen, die meine Bewegungen in den feinen Beinhärchen der Spinne auslösen, die mit mir und den Kindern das Klassenzimmer teilt (vgl. Affifi 2011)? Sie sind auch dort nicht zu finden, wo wir schon vorab den Anderen bestimmt und klassifiziert haben und wissen, was der pädagogische Nutzen und die pädagogische Lösung ist. Stattdessen ergeben sich die ökologischen und pädagogischen Beziehungen dort, wo wir den Anderen als Wesen im Prozess des Wachsens und der Veränderung sehen, die Bedeutungen und Beziehungen offen sind und wir durch diese »selbstvalidierende Einladung« (Weston 1996: 129) neue Dinge sehen und neue Beziehungen entwickeln können. In diesem Sinne bleiben Lernen und Ethik Projekte mit unbestimmtem Ende (Biesta 1998), die immer wieder von Neuem begonnen werden müssen in einem dynamischen Spannungsfeld, in dem einerseits Lernen und Bildung nicht gänzlich außerhalb von Ideologie und Machtstrukturen möglich sind und daher nicht funktionalistisch als simple Lösung für die tierethischen und ökologischen Probleme angesehen werden können und in dem andererseits doch Herrschaftsstrukturen und Machtprozesse dekonstruiert, gegenhegemoniale Räume erschlossen und Veränderung möglich werden können.

L ITERATUR Affifi, Ramsey (2011): »What Weston’s Spider and My Shorebirds Might Mean for Bateson’s Mind: Some Educational Wanderings in Interspecies Curricula«, in: Canadian Journal of Environmental Education 16, S. 46-58.

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Gender Studies und Feminismus Von der Befreiung der Frauen zur Befreiung der Tiere K ARIN S CHACHINGER

E INFÜHRUNG Sehr viel hat sich im letzten Jahrhundert, vor allem in den letzten Jahrzehnten, bezüglich der Situation der Frauen1 (und auch Männer!) in der westlichen Welt2 geändert. Politisches Engagement und gesellschaftlicher Wandel haben Veränderungen nach sich gezogen: Frauenwahlrecht, verstärkter Zugang zum Arbeitsmarkt, Gesetzgebungen, die vor Gewalt schützen sollen, Verhütung und Recht auf Schwangerschaftsabbruch sind nur einige davon. Auch das Leben der Tiere hat sich maßgeblich verändert. Während mehr und mehr Menschen in der westlichen Welt mit Haustieren zusammenleben und ihnen mit großer Nähe und Emotionalität begegnen, weitet sich die Massentierhaltung auf immer mehr Regionen der Welt aus. Dadurch steigt die Anzahl sogenannter Nutztiere3 stetig. Durch Umweltverschmutzung und Klimawandel sterben viele Tierarten aus, Ur-

1

Die Begriffe »Frauen« und »Männer« sind zu problematisieren. Sie bezeichnen keine biologisch oder sozial eindeutigen Tatsachen, sondern sind konstruierte Kategorien.

2

Die in diesem Artikel dargestellten Ansätze und Richtungen beschreiben einen westlich zentrierten Blick und können keinesfalls die Wissensproduktion und Sichtweisen von Feminist_innen und HAS-Forscher_innen auf der ganzen Welt abdecken. Wichtig ist zu beachten, dass es sich dabei um privilegierte Sichtweisen handelt.

3

Die Einteilung in Nutz- und Haustier (sowie Arbeits-, Versuchstier etc.) ist kritisch zu betrachten, da sie eine willkürliche Kategorisierung ist, die sich am Nutzen der Tiere für die Menschen orientiert. Generell ist der Begriff »Tier« ein problematischer, wie auch in der Einführung zu diesem Band erläutert wird.

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banisierung und intensive landwirtschaftliche Nutzung zerstören Lebensräume. Erst seit kurzem beginnt eine gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung für die Anliegen der Tiere. Die Ambivalenzen und Widersprüche in der Mensch-TierBeziehung werden langsam deutlich und das Interesse an ihrer Erforschung wächst. Gibt es wissenschaftlich analysierbare Verbindungslinien, welche die Geschlechterforschung (Gender Studies) und die Analyse der Mensch-TierVerhältnisse (Human-Animal Studies, kurz HAS) zusammenführen? Auf den ersten Blick erscheint diese Verbindung abwegig, doch tatsächlich eröffnen sich zahlreiche mögliche gemeinsame Forschungs- und Handlungsfelder – auch wenn Publikationen, die sich explizit auf Gender Studies und HAS beziehen, noch sehr rar sind. Die Human-Animal Studies sind nach wie vor ein sehr junges, akademisches Forschungsfeld. Im deutschsprachigen Raum entwickeln sie sich erst seit wenigen Jahren. Auch die Gender Studies,4 die sich mit Geschlechterverhältnissen in unterschiedlichster Ausprägung befassen, bewegen sich, verglichen mit teilweise seit Jahrhunderten etablierten Disziplinen, erst seit kurzem auf der akademischen Bühne. Weder Gender Studies noch Feminismus sind, anders als mitunter landläufig angenommen, einheitliche Konzepte. Sie sind reich an unterschiedlichen Ansätzen, Bereichen und Herangehensweisen – sowohl in der akademischen als auch in der praktischen Arbeit. Auch die HAS sind interdisziplinär und bedienen sich vieler unterschiedlicher Methoden. Was die HAS und Gender Studies darüber hinaus teilen, sind ihre Wurzeln in sozialen Bewegungen: Die Anfänge der Gender Studies sind in der Frauenbewegung zu verorten, jene der Human-Animal Studies in der Tierrechtsbewegung. Den akademischen Feldern wohnen also auch politische Ansprüche inne. So wie Feminist_innen versuchen, durch ihre Forschungen Frauen sichtbar zu machen und das Geschlechterverhältnis zu hinterfragen, beginnen HAS-Forscher_innen, tierrelevante Themen in akademische Disziplinen zu integrieren und einen kritischen Blick auf Mensch-Tier-Verhältnisse zu werfen. Wie lässt sich nun Forschung an der Schnittstelle von Gender Studies und HAS betreiben?5 Die aktuellen Gender Studies erwähnen tierbezogene Themen

4

Vorläuferinnen der Gender Studies sind Frauenforschung bzw. Women’s Studies, die sich aus feministisch-wissenschaftlicher Perspektive mit der Situation der Frau in patriarchalen Gesellschaften auseinandersetzen. Mit den Gender Studies wurde die Perspektive erweitert, da die Situation einer Gesellschaftsgruppe (in dem Fall jene der Frauen) immer nur in Relation zur anderen (den Männern) gesehen werden kann und somit das Verhältnis der Geschlechter in den Mittelpunkt rückt.

5

Interessant dazu sind auch Birke 2012 und Birke/Bryld/Lykke 2004.

G ENDER S TUDIES UND F EMINISMUS

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nur selten und auch in den HAS wird Geschlecht häufig nicht in Analysen miteinbezogen (vgl. Birke 2002: 430). Lange Zeit wurde die Thematisierung von Tieren und deren Rechten im Kontext von Feminismus eher vermieden, um nicht dem Vorwurf des Essentialismus ausgesetzt zu sein. Dieser Artikel soll die Bereiche Geschlechterverhältnis und Mensch-Tier-Beziehung zusammenführen.

T HEORETISCHE V ERBINDUNGSLINIEN VON HAS G ENDER S TUDIES

UND

DeMello (2012: 20 ff.) stellt fest, dass für die Erforschung von Mensch-TierVerhältnissen vor allem in den Sozial- und Geisteswissenschaften angesiedelte theoretische und methodologische Zugänge anwendbar oder adaptierbar sind. Im Folgenden werden einige Forschungsfelder thematisiert, in denen Geschlecht und Tiere bzw. Natur bereits zusammengeführt und beforscht werden und die gleichzeitig mögliche Anregungen für weitere Forschungen gegeben. Dualismen in der Kritik Binäre Kategorien wie »Frau – Mann« oder »Tier – Mensch«6 werden auch als Dualismen oder Dichotomien bezeichnet und benennen eine Strukturierung in zwei Gruppen, zwei entgegengesetzte Pole an einer trennscharfen, eindeutigen Linie (vgl. Schmitz 2006: 331 ff.). Einige grundlegende Dualismen, die gesellschaftlich sehr prägend sind und auch in den Gender Studies vielfach behandeln werden, zählt Schmitz (2006: 331) auf: »Frau – Mann; Natur – Kultur; Tier – Mensch; Sex – Gender; angeboren – erlernt; Körper – Geist; passiv – aktiv; privat – öffentlich; Intuition – Rationalität; Heterosexualität – Homosexualität«.

Mit der obenstehenden, keinesfalls abgeschlossenen, sondern erweiterbaren Auflistung von Gegensatzpaaren zeigt Schmitz auf, dass westliche Vorstellungen von der Welt maßgeblich von binären Kategorisierungen geprägt sind. Sie sind wichtige Ordnungsstrukturen. In einer komplexen Welt bieten sie Orientierung und Möglichkeiten, etwas Wahrgenommenes einzuordnen und zu verarbeiten. Die Strukturierung unserer Gesellschaft in Kategorien beinhaltet gleichzeitig

6

Zu den Parallelen von Mensch-Tier-Dualismus und Geschlechterbinarität siehe auch Hastedt 2011.

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Trennungen zwischen den Polen und Hierarchisierungen. »Sie symbolisieren und reproduzieren Macht« (Hastedt 2011: 196). Binäre Klassifikationen sind also nicht neutral, sie erzeugen ein Konzept des Anderen: Frau anders als Mann, Afrikaner_in anders als Europäer_in. Dieses othering setzt voraus, dass es einen normativen Maßstab dessen gibt, was normal ist – eine Messlatte, anhand derer Andersartigkeit begründet wird (vgl. Adams 2007: 30 f.). Etwas als »anders« zu bezeichnen baut Distanz auf und betont in Abgrenzung dazu die eigene »Normalität«. Dies passiert beispielsweise im Kontext von Religion, Ethnizität oder Geschlecht. Der Begriff othering wird aber auch in den Human-Animal Studies angewandt: Die Konstruktion des Tieres, also die Beschreibung des Tieres in seiner Unterschiedlichkeit zum Menschen (z.B. dessen Verwendung von komplexen Sprachsystemen), versetzt die Beschriebenen in eine Objektposition und wertet gleichzeitig die Eigenschaften der Menschen auf. Die Andersartigkeit erst bestätigt die Vormachtstellung derer, die sich in diesem Dualismus aus einer Abgrenzung heraus konstituieren. Dass im Fall der Mensch-Tier-Dichotomie sowohl Ameisen als auch Fische oder Elefanten in ihrer Unterschiedlichkeit einer gemeinsamen Kategorie zugeordnet werden, zeigt die Fragwürdigkeit der Kategorie »Tier« deutlich. Gleichsam wird dadurch die Einzigartigkeit des Menschen konstruiert. Birke (2012: 150) schreibt bezeichnend: »Animal is a slippery word, conflating enormous diversity«. Dichotomien können suggerieren, dass alle ihnen zugeordneten Elemente homogen seien – sie können also künstlich Gemeinsamkeiten erzeugen. Schmitz (2006: 332-335) zeigt zwei Erklärungsstränge zur Entstehung von binären und bipolaren Kategorien auf. Der eine bezieht sich auf Dichotomien als deterministisches Grundprinzip, der andere beschreibt sie als konstruierte Kategorien. Bei letzteren werden Dichotomien als historisch gewachsen betrachtet, entstanden aus den jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten. Als gemeinsames Merkmal von Dualismenpaaren erwähnt Schmitz die geschlechtliche Konnotation: Die eine Seite wird mit Weiblichkeit, die andere mit Männlichkeit in Verbindung gebracht. So wird Frauen häufig zugeschrieben, näher an der Natur zu stehen als Männer, und im Vergleich zum aktiven, rationalen Mann passiv und emotional zu agieren. Zwischen den beiden Polen eines Dualismus besteht außerdem eine hierarchische Beziehung. So steht der Mensch über dem Tier, die Kultur über der Natur, der Mann über der Frau (vgl. Schmitz 2006: 332 ff.). Binäre Hierarchien sind somit immer auch Teil der Herrschafts- und Machtstrukturen (vgl. ebd.: 335) und zu problematisieren, da sie zu Benachteiligungen führen. Dichotomien als deterministische Grundprinzipien wiederum beziehen sich darauf, dass das Zwei-Geschlechter-Modell, also die grundlegende Einteilung

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von Menschen in Männer und Frauen, als »ursprünglich, biologisch determiniert und unveränderlich« (ebd.: 334) wahrgenommen wird. Das betrifft nicht nur die Körper, sondern auch die ihnen zugeschriebenen Geschlechterrollen oder Verhaltensweisen. Sie werden auf diese Weise naturalisiert, also auf biologische Gegebenheiten zurückgeführt. Dass es sich allerdings nicht um biologisch eindeutige Merkmale handelt, rückt in den letzten Jahren vermehrt in den Blick wissenschaftlicher und auch öffentlicher Aufmerksamkeit: Debatten über Intersexualität halten Einzug, nicht nur in medizinische, sondern auch immer mehr in gesellschaftliche Diskurse. Als intersexuell werden Menschen bezeichnet, die aufgrund von unterschiedlichen biologischen Kriterien medizinisch nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden können. Für intersexuelle Kinder war und ist diese geschlechtliche »Uneindeutigkeit« häufig mit schmerzhaften »geschlechtsanpassenden« Operationen verbunden, die sie äußerlich zum Jungen oder – in den meisten Fällen aufgrund chirurgisch einfacherer Abläufe – zum Mädchen machen sollen. Im Moment geht die Debatte über Intersexualität hin zu einer gesellschaftlichen und rechtlichen Frage, ob solche Eingriffe tatsächlich medizinische Grundlagen haben oder nur vorrangig das Bedürfnis einer Gesellschaft befriedigen sollen, die Dichotomie von Frau und Mann aufrechtzuerhalten. Auch Transsexualität fordert die Normalisierung von Zweigeschlechtlichkeit heraus. Tatsächlich beschränkt sich die Vorstellung von zwei, und nur zwei, Geschlechtern nicht nur auf Menschen, sondern dehnt sich auch auf andere Spezies aus: »Allgemein wird davon ausgegangen, dass die meisten Tiere zwei- und getrenntgeschlechtlich sind und dass sie sich zweigeschlechtlich fortpflanzen« (Ebeling 2006: 57). Tiere, die der zweigeschlechtlichen Vorstellung nicht entsprechen, also beispielsweise intersexuell sind, sich eingeschlechtlich fortpflanzen oder gleichgeschlechtliches Sexualverhalten zeigen, werden als Ausnahme und als »bizarr, merkwürdig oder ungewöhnlich« (ebd.) dargestellt. Tatsächlich beschreibt die Zoologie sehr viele Tierarten, »die ihr Geschlecht wechseln, gleichgeschlechtliches Sexualverhalten zeigen, intersexuell oder hermaphroditisch sind und damit in unterschiedlicher Weise von der Zwei- und Getrenntgeschlechtlichkeit ebenso abweichen wie von dem bipolaren Geschlechterkonzept« (ebd.). Trotzdem beschreibt Ebeling eine Wechselwirkung von Biologie und Gesellschaft, »[so]dass auch biologiekritische Autoren und Autorinnen ihre Analysen

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biologischer Tierbeschreibungen im Kontext ihrer gesellschaftlichen und politischen Perspektiven vornehmen« (ebd.: 71 f).7 Die Geschlechterdichotomie ist somit auch im Tierreich von Belang. In der modernen Massentierhaltung ist es für die Tiere von besonderer Bedeutung, welchem Geschlecht sie zugeordnet sind. So werden in der Eierindustrie männliche Eintagsküken gleich nach dem Schlüpfen getötet, da sie keine Eier legen. Weibliche Tiere werden wiederum als Lege-»Maschinen« eingesetzt. Für die Milchindustrie ist die weibliche Kuh zentral, männliche Kälber werden meist nur kurz gemästet und dann zu Kalbfleisch verarbeitet. Das Geschlecht der Tiere ist in der Massentierhaltung also ausschlaggebend dafür, welche Prozesse sie durchlaufen müssen und wie lange sich ihre ohnehin kurze Lebensdauer innerhalb der industriellen »Verwendung« gestaltet. Die Mensch-Tier-Dichotomie »In other words, we – like dogs, cats or insects – are multicellular, eukaryotic creatures that use carbon for growth, move independently, sexually reproduce, and must eat other organisms to live.« DEMELLO 2012: 32

Eine in allen Bereichen des Lebens grundlegende und allgegenwärtige Trennlinie ist der Mensch-Tier-Dualismus, der sich als ambivalent präsentiert. Tatsächlich wird der Mensch in der zoologischen Systematisierung als Homo sapiens den Menschenaffen zugeordnet. Der Mensch ist somit ein Tier – wenn auch mit

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In diesem Zusammenhang macht Ebeling auf anthropomorphe Perspektiven – also Übertragungen von menschlichen Eigenschaften auf Tiere – aufmerksam. Zahlreiche Autor_innen schreiben auch bei Tieren von Hetero-, Homo- oder Transsexualität. Ebeling schlägt die Verwendung anderer Begriffe vor, denn »[s]ie sind im Kontext menschlicher Verhältnisse bedeutungsvoll, so dass durch die Verknüpfungen menschlicher Sexualität mit dem Sexualverhalten und den Fortpflanzungsformen von Tieren spezifische historisch und kulturell gebundene Bedeutungen in Interaktionen mit den Vorstellungen über Geschlecht und Sexualität bei Tieren gebracht werden. […] [M]it der Verwendung von spezifischen Begrifflichkeiten für Tiere ziel[t sie jedoch] weniger auf eine ›objektivere‹ Tierbeschreibung, sondern vielmehr auf die Sichtbarmachung einer Perspektive, die den Menschen zentriert und seine Wertvorstellungen und Eigenschaften überträgt« (Ebeling 2006: 59).

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besonderer Stellung8 –, wodurch biologisch gesehen keine starre Trennlinie zwischen Mensch und Tier existiert (vgl. Ebeling/Schmitz/Bauer 2006: 347 f.). Diese Erkenntnis mag naturwissenschaftliche Relevanz haben, ihre Bedeutung im täglichen Leben ist jedoch noch gering. Um diese Tatsache sichtbar zu machen, wird in den HAS, und auch im Kontext der Tierrechtsbewegung, häufig von nichtmenschlichen und menschlichen Tieren gesprochen. DeMello beschreibt, dass sich im Alltag und auch in vielen Wissenschaftsbereichen aber vielmehr das Menschliche durch Abgrenzung vom Tier definiert: Als menschlich werden vor allem jene Eigenschaften dargestellt, die nicht per se als tierisch angesehen werden (vgl. DeMello 2012: 15). Tatsächlich wird diese Polarisierung immer fraglicher, denn weder Werkzeuggebrauch noch Sozialverhalten werden heutzutage als primär menschliche Fähigkeiten angesehen. Auch Icherkennung oder Empathiefähigkeit werden heute für einige Spezies diskutiert (vgl. Schmitz 2006: 336). Interessanter und produktiver, als zu beforschen, wo genau nun die Grenze zwischen Tier und Mensch liegen könnte, würde sich allerdings eine differenzierte Analyse von Mensch-Tier-Verhältnissen herausstellen (vgl. Ebeling/ Schmitz/Bauer 2006: 361). Für die Gender Studies ist es von besonderer Relevanz, diese Verhältnisse auch in Verbindung mit Geschlecht zu betrachten. Ökofeminismus: Umwelt und Frauen »[T]he patriarchal conceptual framework that has maintained, perpetuated, and justified the oppression of women in Western culture has also, and in similar ways, maintained, perpetuated, and justified the oppression of nonhuman animals and the environment.« DEANE CURTIN 1991: 60

Noch bevor sich die Human-Animal Studies im Kontext von Feminismus bewegten, schlug der Ökofeminismus eine Brücke zwischen feministischen Gedanken und »der Kritik technisch-industrieller Modernisierung« (Bauhardt 2008: 322). Wie auch andere akademische Fächer in der Tradition sozialer Bewegungen entwickelten sich ökofeministische Ansätze in den 70er und 80er Jahren im Rahmen der zweiten Frauenbewegung aus Graswurzelbewegungen sozialer und

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Ebeling/Schmitz/Bauer (2006) beschreiben, welche (umstrittenen) Merkmale die Sonderstellung des Menschen ausmachen könnten, z.B. historisches Bewusstsein und komplexe Sprachsysteme.

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politischer Natur, z.B. aus der Umwelt-, Antiatom- und Friedensbewegung. Im Fokus stand die Annahme, dass ein patriarchales Mensch-Natur-Verhältnis vorherrsche und dass zwischen Mann und Frau und zwischen Mensch und Natur ähnliche »ausbeuterische Herrschaftsverhältnis[se]« (Mies/Shiva 1995: 9) bestünden. Unter dem Begriff Ökofeminismus werden unterschiedliche Ansätze und Ausrichtungen vereint. Die grundlegende Annahme ist eine konzeptionelle Verbindung zwischen der Unterdrückung von Frauen und Natur (vgl. Roscher 2009: 279). Der Ökofeminismus fand im Laufe der 1980er Jahre auch Eingang in den akademischen Diskurs (vgl. ebd.: 278). Bekannte Vertreterinnen sind z.B. Karin Warren, Vandana Shiva, Val Plumwood, Carolyn Merchant, Maria Mies, Greta Gaard und andere. »Wissenschaft und Technologie [sind] nicht geschlechtsneutral« (Mies/Shiva 1995: 9). So wurde von Ökofeminist_innen argumentiert, dass die naturwissenschaftliche Erkenntnisproduktion androzentrisch funktioniere: Im naturwissenschaftlichen Forschungsbetrieb gäbe es immer noch wenige Frauen. Außerdem hätten die verwendeten Forschungsmethoden einen Objektivitätsanspruch, dem sie jedoch nicht gerecht würden, da soziale Vorannahmen, die unbewusst einfließen, nicht oder zu wenig reflektiert werden (vgl. Bauhardt 2008: 323). Außerdem ignoriert diese »objektivierende Distanzierung von der Natur die Einbettung des Menschen in natürliche Prozesse« (ebd.). Die Natur-Kultur-Dichotomie ist eng mit der Gegenüberstellung von Frau und Mann verknüpft. Historisch wurde der Mann dem Bereich der Kultur zugeordnet. Aufgrund der Fähigkeit, Kinder zu gebären, wurde Frauen eine biologisch determinierte, angeborene Verbindung zur Natur zugeschrieben – und im Zuge dessen auch Charaktereigenschaften, die aus der Mutterschaft abgeleitet werden können: Empathie, Fürsorglichkeit und Friedfertigkeit (vgl. ebd.: 322). Gleichzeitig wurden Frauen aufgrund der körperlichen Funktionen (Menstruation, Schwangerschaft, Stillen) auch mit Tieren assoziiert und es wurde argumentiert, dass Frauen »tierhafter« und weniger rational seien (vgl. Gaard 2007: 647). Bezüglich der Tiere gibt es keine allgemeingültige feministische Position (vgl. Taylor 2013: 151). Viele Feminist_innen versuchen aber, die angebliche Verbindung von Frauen mit der Natur bzw. mit den Tieren zu trennen – indem der Gegensatz von mentalen und körperlichen Funktionen betont und somit der Verstand über die Emotionen gesetzt wird. Es geht um die Anerkennung der Rationalität von Frauen als Basis für die Zuerkennung von Rechten. Wohl auch aus diesem Grund werden Tiere in geschlechtertheoretischen Vorlesungen und Seminaren an den Universitäten kaum oder gar nicht thematisiert. Andere Feminist_innen wiederum nahmen die Opposition von Verstand vs. Körper, Vernunft vs. Emotion und Mann vs. Frau an und setzten sich für eine

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Aufwertung der emotionalen Seite ein. Sie nutzten die Frau-Tier-NaturAssoziation, um für Frauen, Umwelt und Tiere einzutreten (vgl. Gaard 2007: 647). Roscher beschreibt, dass Bereiche des Ökofeminismus essentialistisch argumentieren – Frauen also aufgrund ihrer Reproduktionsfähigkeiten eine determinierte Nähe zur Natur zuweisen: »Diese biologisierte Verbindung bestärkt dualistische Ansichten von Männlichkeit und Weiblichkeit und konstruiert die Frau als natürlicherweise ›gut‹ und ›naturverbunden‹« (Roscher 2009: 281). Aus dieser Verbundenheit zur Natur heraus wandten sich viele Ökofeministinnen der Spiritualität zu, oft verknüpft mit Vorstellungen einer Muttergöttin und mit positivem Bezug auf matriarchale Kulturen. Aufgrund dieses spirituellen Aspekts ist Ökofeminismus, insbesondere in akademischen Kontexten, häufig Kritik ausgesetzt. Ökofeministische Ansätze sind kein direkter Teilbereich der Human-Animal Studies und auch in den Gender Studies nur ein peripheres Thema. Aktuell wird vor allem das Konzept der »Nachhaltigkeit« sowohl im gesellschaftlichen Diskurs als auch im akademischen Bereich thematisiert. Da der Nachhaltigkeitsbegriff jedoch sehr breit gefasst und in einer Vielzahl von Kontexten verwendet wird, ist sein Inhalt eher allgemein und ungenau. Auch das Wohl der Tiere spielt im Mainstreamdiskurs eine untergeordnete Rolle.9 Interessant für die HumanAnimal Studies ist vor allem der vegetarisch-vegane Ökofeminismus, der Tiere und Fleischkonsum direkt in seine Betrachtungen miteinfließen lässt. Vegetarischer und veganer Ökofeminismus Die Differenzierung von Privatheit und Öffentlichkeit ist eine jener Dichotomien, welche die feministische Bewegung aufzubrechen versuchte. Mit dem Aufkommen einer industrialisierten Gesellschaft und der Trennung von Lebensund Arbeitsbereich wurden Frauen eher dem privaten und Männer eher dem öffentlichen Bereich zugeordnet.10 Unter dem Motto »Das Private ist politisch!« stellten Feminist_innen die Dichotomie Privatheit – Öffentlichkeit in Frage und machten Ausbeutung und Gewalt innerhalb der Familie zu (gesellschafts-)poli-

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Lehrveranstaltungen zu Nachhaltigkeit, die auch Tiere berücksichtigen, hält z.B. Reingard Spannring an der Universität Innsbruck und an der Summer School der National Chung Chen University in Taiwan. Livia Boscardin (Universität Basel) schreibt ihre PhD-Arbeit zu »Our Common Future?«–Animals and Sustainable Development.

10 Zum Thema Privatheit vs. Öffentlichkeit im historischen Kontext von Geschlechterverhältnissen siehe Hausen 1976.

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tischen Themen, die nicht nur die Familie, sondern die gesamte Gesellschaft betreffen (vgl. Opitz-Belakhal 2010: 97 f.). Analog dazu thematisiert der vegetarisch-vegane Ökofeminismus den politischen Kontext des eigenen Ernährungsstils (vgl. Gaard 2002: 117). Der Verzehr oder Nichtverzehr von Tieren ist nicht nur gesellschaftlich, sondern auch besonders in feministischen Kreisen und in der Umweltbewegung ein kontroverses Thema – dementsprechend auch im Ökofeminismus. Greta Gaard argumentiert, dass Vegetarismus eine logische Folge sowohl von Feminismus als auch von Ökofeminismus sei: »For if ecofeminism can be seen as the offspring of feminism, then vegetarian11 ecofeminism in surely feminism’s third generation.« (Ebd.) Während sich also viele Ökofeminist_innen nicht zur Tierproblematik äußern, betonen andere die ähnlichen Funktionsweisen von Speziesismus, Sexismus, Rassismus und Klassismus (vgl. ebd.). Mit vegetarisch-veganem Ökofeminismus beschäftigen sich u.a. Greta Gaard, Lynda Birke, Josephine Donovan, Deane Curtin und Lori Gruen. Eine der bekanntesten Theoretikerinnen ist die US-Amerikanerin Carol J. Adams mit ihrem 1990 erstmals erschienenen Buch Sexual Politics of Meat: A FeministVegetarian Critical Theory. Die Entwicklung des Patriarchats wird von ihr mit der Kultur des Fleischessens in Verbindung gesetzt. Dazu führt Adams viele Beispiele aus Literatur und Sprachverwendung an, die aufzeigen sollen, dass die Unterdrückung von Frauen und von Tieren Hand in Hand geht. Interessante Aspekte der Verbindung von Tieren und Frauen bei der Herstellung, Zubereitung und dem Verzehr von Lebensmitteln, in der Schönheitsindustrie, bei Tierversuchen, häuslicher Gewalt u.a. zeigt Greta Gaard (2007: 649 ff.) auf. Die moderne Massentierhaltung, besonders die Produktion von Eiern und Milch, so argumentiert Gaard, fußt in großem Maße auf der Ausbeutung von weiblichen Tieren. Kühe geben lediglich Milch, wenn sie nach vorhergehender künstlicher Befruchtung ein Kalb geboren haben. Dieses wird jedoch direkt nach der Geburt von der Mutter getrennt und nach kurzer Mast getötet. Die Reproduktionsfähigkeit der weiblichen Tiere steht auch bei der Eierindustrie im Mittelpunkt. Im Grunde verhält es sich bei jeder Tierrasse ähnlich. Es müssen immer genügend neue Tiere »nachproduziert« werden, da in der Massentierhaltung alle Tiere sehr jung geschlachtet werden:

11 Auch wenn Greta Gaard lediglich Vegetarismus thematisiert, lässt sich dieses Zitat aus dem Jahr 2002 auf Veganismus umlegen, da Veganismus seither bekannter und »massentauglicher« wurde und auch Greta Gaard in neueren Publikationen (z.B. Gaard 2010) von veganem Ökofeminismus schreibt.

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»Vegetarian ecofeminists have recognized these practices as a form of compulsory motherhood that uses the female’s body for reproduction without regard for her own interests and needs, and without regard for her offspring either.« (Gaard 2007: 649)

Im Ökofeminismus wird eine kritische Debatte über Reproduktionstechniken geführt,12 die auch in Bezug zu Tieren gesetzt werden könnte. Eine weitere Verbindung von Frauen und Tieren sieht Gaard beim Thema Gewalt (vgl. ebd. 651). Der Begriff human-animal violence link (dazu auch Taylor 2013) bezeichnet die Verknüpfung von Tierquälerei und Gewalt gegen Menschen – sei es beispielsweise Kindesmisshandlung oder Gewalt gegen Ehepartner_innen. Seit den 1980er Jahren wird diese Verbindung in den USA auch empirisch erforscht. Dabei zeigte sich, dass in einem Großteil der Familien, in denen Kinder misshandelt werden, auch Haustiere gequält werden – fast ausschließlich von Männern oder männlichen Kindern/Jugendlichen (vgl. Mütherich 2010: 84 ff.). Eine ökofeministische Perspektive soll nun die Verbindung von Gewalt gegen Frauen, Kinder und Tieren fokussieren. Für die Gender Studies, die Gewaltverhältnisse ebenfalls untersuchen, kann die Berücksichtigung des human-animal violence link eine fruchtbare Erweiterung sein. Intersektionalität In den letzten Jahren gewannen intersektionelle Ansätze in den Gender Studies stark an Popularität. Sie beruhen auf der in den 1970er Jahren aufkommenden Kritik schwarzer Frauen am weißen Mittelschichtsfeminismus, der ihre Erfahrungen und Lebenswelt nicht oder kaum miteinbezog. Schon damals wurde die Forderung nach einer Analyse hinsichtlich Ethnizität, Klasse und Geschlecht laut. Kimberlé Crenshaw prägte in den 1990er Jahren den Begriff intersectionality. Im Gegensatz zu eindimensionalen Modellen, die jeweils Geschlecht, Klasse und Rasse als die bedeutendsten Unterdrückungskategorien festlegen, wollen intersektionelle Ansätze berücksichtigen, dass die Kategorien verschränkt auftreten und sich gegenseitig modifizieren können (vgl. Winker/Degele 2010: 10-15). Es wird nicht mehr von einer Differenz, sondern von mehreren Differenzlinien gesprochen: Ethnizität, Geschlecht, Klasse – aber auch beispielsweise Nation, Alter, Sexualität, Religion oder (dis-)ability (vgl. Twine 2010: 9). Selbst wenn nicht direkt mit intersektioneller Methodologie gearbeitet wird, wird es in den

12 Zu diesem Thema schreibt Maria Mies in Sexistische und rassistische Grundlagen der neuen Fortpflanzungstechnologien 1995.

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Gender Studies immer wichtiger, sich nicht nur mit Geschlecht zu beschäftigen, sondern immer auch einen Blick auf intersektionelle Aspekte zu werfen. Heutigen Debatten um Intersektionalität wurde bereits seit mehreren Jahrzehnten vorgegriffen: Der Begriff triple oppression thematisiert Sexismus, Rassismus und Klassismus. »Diese […] Überlegungen wurden in der Folgezeit erweitert, was in der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung unter dem Begriff unity of oppression und in den akademischen Diskursen unter dem Label Intersektionalität geschah.« (Gamerschlag 2011: 155) Der Intersektionalitätsansatz an sich bezieht die Spezies nicht mit ein. Die Human-Animal Studies können sich dieses Konzept jedoch fruchtbar zu eigen machen und für Analysen der MenschTier-Verhältnisse adaptieren. Im deutschsprachigen Bereich hat dazu vor allem Andre Gamerschlag erste Überlegungen angestellt (vgl. Gamerschlag 2011). Da intersektionelle Analysen nicht eindimensional vorgehen, sondern das Zusammenspiel von Differenzen im Blick haben, sind sie komplex und können hier nicht detailliert vorgestellt werden. Es gibt mehrere Ansätze, u.a. das bei Winker und Degele verwendete »Mehrebenen-Modell«, das Makro- und Mesoebene (gesellschaftliche Sozialstrukturen inklusive Organisationen und Institutionen), Mikroebene (Prozesse der Identitätsbildung) und eine Repräsentationsebene (kulturelle Symbole) berücksichtigt (vgl. Winker/Degele 2010: 18). Ein anderes Modell verwendet Gamerschlag (2011): Anhand von Ina Kerners Differenzierung von Ähnlichkeiten, Unterschieden, Kopplungen, Intersektionen und »tückischen Strategien«13 zeigt er erste Perspektiven und Fragestellungen zur intersektionellen Analyse von Mensch-Tier-Verhältnissen und intrahumanen Verhältnissen auf. In diesem Abschnitt des Artikels wurden einige Forschungsfelder an der Schnittstelle von Human-Animal Studies und Gender Studies vorgestellt: die Kritik von Dichotomien, insbesondere des Frau-Mann-Dualismus und der Mensch-TierDichotomie; Ökofeminismus, vor allem der vegetarische und vegane Ökofeminismus; und intersektionelle Zugangsweisen zu den HAS. Im weiteren Verlauf werden die Verknüpfung von Essen und Geschlecht anhand der männlichen Konnotation von Fleischkonsum sowie die Geschlechterverhältnisse innerhalb der Tierrechtsbewegung untersucht.

13 Einen guten Überblick über diese Differenzierungen bietet Ina Kerners (2009) Artikel Alles Intersektional? Zum Verhältnis von Rassismus und Sexismus.

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Männlichkeit und Fleischkonsum Essen ist ein grundlegendes Bedürfnis und allgegenwärtig. Es ist nicht nur eine biologische Notwendigkeit, sondern in großem Maße auch ein kulturellgesellschaftliches Phänomen. Mit ihm verknüpft sind viele unterschiedliche Aspekte: Tischriten, Nahrungsmitteltabus, Traditionen, Herkunft/Kultur, Klassenzugehörigkeit und vieles mehr. Obgleich die Versorgung mit Lebensmitteln in vielen Teilen der Welt problematisch und nicht gesichert ist, gibt es in der westlichen Welt Nahrungsmittel im Überfluss und eine beträchtliche Auswahl an verschiedenen Lebensmitteln. Auch Geschlecht spielt in der heutigen Debatte um Ernährung eine große Rolle. Frauen nehmen deutlich weniger Kalorien zu sich als Männer und essen mehr Obst und Gemüse. Männer verzehren fast zwei Mal so viel Fleisch wie Frauen, und Menschen mit geringerem Einkommen konsumieren in der westlichen Welt mehr tierische Produkte (vgl. Schritt 2011: 55 ff.). Dies war jedoch nicht immer so. In früheren Jahrhunderten war Fleischkonsum ein Symbol von gesellschaftlichem Status. Personen in hohen Positionen mit Macht aßen häufig Fleisch und tierische Produkte. Weniger wohlhabende Menschen verzehrten vor allem Kohlenhydrate und damit vorwiegend vegetarische Kost. Dies ist ganz einfach damit zu erklären, dass es zu teuer gewesen wäre, Getreide und Gemüse an Tiere zu verfüttern, anstatt es direkt für den menschlichen Verzehr zuzubereiten. Wenn in Arbeiter_innenfamilien Fleisch zur Verfügung stand, war es vor allem für den Mann bestimmt. Carol J. Adams (2002) bringt in The Sexual Politics of Meat viele Berichte von Ehefrauen aus dem 19. Jahrhundert, die das wenige vorhandene Fleisch eher für den Mann aufsparten, als es für sich oder die Kinder zu verwenden. Auch in Kriegszeiten sollte Fleisch zuallererst für die Soldaten zur Verfügung stehen und nicht für die zivile Bevölkerung. In Überflusszeiten hingegen waren Fleischkonsum und Geschlecht nicht in diesem Ausmaß miteinander verknüpft (vgl. Adams 2002: 24 ff.). War Fleisch früher ein Nahrungsmittel der höheren Schichten, nimmt die Bedeutung von Klasse mittlerweile in vielen westlichen bzw. postindustriellen Gesellschaften ab oder hat sich sogar umgekehrt. Die Preise von tierischen Produkten sind stark gesunken und so auch für weniger finanzkräftige Schichten der Gesellschaft erwerbbar. Der Konsum von Fleisch wird aber auch heutzutage mit Männlichkeit, Kraft, Stärke und Leistungsfähigkeit assoziiert – und immer noch essen Männer mehr Fleisch als Frauen (vgl. Gutjahr 2012: 64).

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»Geschlechtsspezifisches Essverhalten kann aber nicht nur als eine Anpassung an gesellschaftliche Normen interpretiert werden, sondern auch [als] eine aktive Form der Konstruktion geschlechtlicher Identität (doing gender).« (Prahl/Setzwein 1999: 79)14

Abwesende Körper Wie die patriarchale Geschlechterordnung und der Fleischkonsum zusammenhängen, beschreibt Carol J. Adams (2002). Sie zeigt dabei, dass sowohl Frauen als auch Tiere zu »konsumierbaren Objekten« (Gutjahr 2012: 66) werden. Ein zentraler Punkt ihrer Theorie ist das Konzept des abwesenden Referenten. Durch die Schlachtung und die Transformation zu schön verpacktem Fleisch werden Tiere zu abwesenden Referenten: »Tiere als Lebewesen mit Name und Körper werden als Tiere entfernt zugunsten der Existenz von Fleisch. […] Solange Tiere leben, können sie kein Nahrungsmittel sein. Also ersetzt ein toter Körper das lebendige Tier.« (Adams 2002: 43)

Doch nicht nur auf der faktischen Ebene (das Tier ist tot), sondern auch auf der sprachlichen Ebene werden Tiere entfernt, die toten Körper umbenannt. Adams bringt verschiedene Beispiele aus dem englischen Sprachraum: Ein totes Kalb, calf, wird beispielsweise zu veal (vgl. ebd.). Laut Adams werden nicht nur Tiere, sondern gleichermaßen auch Frauen durch Worte entfernt oder umbenannt. Sprachlich fungieren viele Tierbezeichnungen auch für Menschen: in Redewendungen, in Schimpfwörtern, in Kosenamen. Es zeigt sich also auch sprachlich, wie eng die tierischen und menschlichen Welten verknüpft sind. Eine wissenschaftliche Betrachtung der Sprache im Hinblick auf die Verknüpfung von speziesistischen und sexistischen Aspekten kann ein lohnendes linguistisches For-

14 Der Doing-gender-Ansatz versteht Geschlecht als performativ – also durch das persönliche Verhalten und durch Alltagspraktiken erzeugt. Die eigene Geschlechtsidentität wird aktiv hergestellt: »Individuen [sind] nicht natürlicherweise ein Geschlecht, sondern müssen sich als einem Geschlecht angehörig ausweisen, das heißt, sie müssen entsprechend handeln. Diese Zugehörigkeit ist nicht als bewusste oder willentliche Entscheidung einer einzelnen Person zu verstehen, sondern als eine Zugehörigkeit, die immer durch mehrere Personen interaktiv hergestellt wird.« (Villa 2006: 90) Durch das Ernährungsverhalten kann somit eine Abgrenzung vom jeweils anderen Geschlecht erfolgen. Dies betrifft auch Zubereitungsformen von Nahrungsmitteln. So erscheint der Verzehr von halbrohem Fleisch oder ganzen Tieren eher männlich. Auch Grillen wird als männlich inszeniert und interpretiert (vgl. Gutjahr 2012: 69).

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schungsfeld sein. Die Berücksichtigung der Geschlechterperspektive gibt interessante Anregungen für die Ökolinguistik, die Geschlecht beispielsweise im Kontext von Tiermetaphern durch Metaphernanalyse untersuchen kann. Zum Thema Human-Animal Studies und Sprache sei insbesondere auf den Artikel von Reinhard Heuberger in diesem Band verwiesen. Fremdbestimmte Körper Körper und Körperlichkeit15 sind seit einiger Zeit Themen in der Soziologie. Mit daran beteiligt ist der Feminismus, der den weiblichen Körper zum »Gegenstand sowohl politischer Auseinandersetzung als auch wissenschaftlicher Diskussion« (Meuser 2010: 125) machte. Der weibliche Körper sollte nicht fremdbestimmt sein. Der Protestspruch für Schwangerschaftsabbruch – »Mein Bauch gehört mir!« – ist hierzu bezeichnend. Das Recht auf einen unversehrten Körper und die eigene Entscheidungsfreiheit lässt auch Parallelen in den Anliegen der Tierrechtsbewegung erkennen. Bekannte Sprüche wie »Mein Fleisch gehört mir!« verweisen darauf. Im Diskurs der Postmoderne wird der Körper zum Medium kultureller Inszenierungen, zur Selbstpräsentation und Selbstdarstellung (vgl. ebd.: 127 f.). Die Präsentation weitet sich auch immer mehr auf Haustiere aus, die als »Verlängerung« des eigenen menschlichen Körpers auch zusehends anthropomorphen Gestaltungen ihrer »Halter_innen« ausgesetzt sind, beispielsweise durch Kleidung oder Schmuck für Tiere. Der (tierische und menschliche) Körper und seine Gestaltung, Verwendung und Diskurse über ihn, sind für Forschungen an der Schnittstelle von Gender Studies und Human-Animal Studies ein sicherlich produktives Arbeitsfeld.

T IERRECHTSBEWEGUNG UND F RAUEN /G ESCHLECHT Eine weitere Fragestellung, mit der sich die Gender Studies beschäftigen können, ist die Repräsentation und Erzeugung von Geschlechterverhältnissen und die Beteiligung von Frauen innerhalb sozialer Bewegungen, die sich mit Tierschutz, Tierrechten oder Tierbefreiung befassen.

15 Eine Einführung in die Körpersoziologie bietet Meuser (2010).

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Beteiligung von Frauen in der Tierrechtsbewegung Seit über 100 Jahren sind Frauen im Engagement für Tiere involviert. Roscher beschreibt die Geschichte der Bewegung in Ein Königreich für Tiere: Die Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung (2009) auch unter dem Geschlechteraspekt ausführlich. Einiges lässt sich auf den deutschsprachigen Raum umlegen, wo die Bewegung jedoch weniger aktiv war. Petrus (2013) hat eine kurze Geschichte der Tierrechtsbewegung verfasst, aber in diesem Werk Geschlechterverhältnisse nur am Rande miteinbezogen. Konkretere Analysen über die historische und aktuelle Beteiligung von Frauen in der deutschsprachigen Tierrechtsbewegung wären wünschenswert. Frauen verrichteten, und verrichten immer noch, viel ehrenamtliche bzw. gemeinnützige Arbeit in unterschiedlichsten Bereichen. Tatsächlich waren die Mitglieder von Tierschutz-, Antivivisektions- oder Vegetarier_innenvereinigungen des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts vorwiegend Frauen der Mittelschicht. Viele in der ersten Frauenbewegung involvierte Frauen engagierten sich auch für Vegetarismus oder Tierschutz16 (vgl. Gaard 2002: 125). In der Antivivisektionsbewegung waren Frauen am stärksten vertreten. Sie agierten im Gegensatz zu Männern vorwiegend hinter den Kulissen und traten nur selten in die Öffentlichkeit. Frauen hielten aber auch Führungspositionen innerhalb der Bewegung inne. Durch dieses halböffentliche Engagement von Frauen schufen sie aus feministischer Perspektive eine Möglichkeit, sich erstmals politisch zu betätigen, Erfahrung zu sammeln und die ihnen zugeordnete Sphäre der Privatheit zu verlassen. So ist der hohe Frauenanteil in frühen Tierrechtsbewegungen auch mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen zu erklären, die ihnen öffentliche Beschäftigungsbereiche versagten (vgl. Roscher 2009: 124-134). Dass die Tätigkeiten von Frauen in Tierschutzangelegenheiten akzeptiert wurden, war jedoch mit gesellschaftlichen Vorannahmen über Weiblichkeit verbunden. Die Frauen sollten »ihre emotionale, sensible, stereotyp weibliche Seite zeigen […], um sich als rechtmäßige Beschützerinnen der Tierwelt präsentieren zu können« (ebd.: 173). Auch hier sollte die Nähe zur Natur und die Verbindung zum Tier in den Mittelpunkt gestellt werden. »[Das Engagement in gemeinnützigen Vereinen verhalf] Frauen [aber] letztendlich dazu, langfristig in organisierter Form politisch tätig zu werden« (ebd.: 134).

16 Anders als in der ersten britischen Frauenbewegung gab es in der zweiten keine signifikanten personellen Überschneidungen mit der Tierrechtsbewegung (vgl. Roscher 2009: 366). Mehr zur Suffragettenbewegung und Vegetarismus findet sich auch bei Leneman 1997.

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Ab den 1970er Jahren fingen sehr viele Frauen an, in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Für gemeinnützige Vereine bedeutete das, dass die Frauen des Mittelstandes nicht mehr wie im früheren Ausmaß für ehrenamtliche Aufgaben zur Verfügung standen. Das Engagement musste von nun an mit der Lohnarbeit in Einklang gebracht werden. Trotzdem ist die Frauenbeteiligung in sozialen Bewegungen auch heute immer noch sehr hoch. Feministische Kritik an Tierrechtskampagnen Die geschlechterspezifische Kleiderordnung zog nicht nur Kritik von feministischen Bewegungen, sondern auch die der Tierrechtsbewegung auf sich. Die meisten Pelzbesitzer_innen sind Frauen und als Konsumentinnen verwenden sie Kosmetika, die häufig im Tierversuch getestet werden. Frauen sehen sich aus diesem Grund mit Tierrechtskampagnen konfrontiert, die oft sexistische Elemente beinhalten. Viele der Kampagnen zielen also auf Frauen ab – gleichzeitig wird aber auch mit ihnen für Tierrechte geworben (vgl. Roscher 2009: 369). Feministische Kritik richtet sich vor allem auf Kampagnen, die nach dem zugrunde liegenden Motto sex sells versuchen, öffentliche Aufmerksamkeit für tierquälerische Praktiken zu gewinnen, indem nackte oder sexualisiert dargestellte Frauenkörper präsentiert werden. In diesem Zusammenhang gerät immer wieder die Tierrechtsorganisation PETA (People for the Ethical Treatment of Animals) in die Kritik. In ihrem Artikel Der Fleischvergleich setzt sich Andrea Heubach mit der Kritik an sexualisierten Kampagnen für Tierrechte auseinander. Sie äußert, dass die Anliegen der Tiere bagatellisiert würden, indem der Mensch ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird und mit »Attributen wie Schönheit, Gesundheit oder einem erfüllten Sexleben« (Heubach 2011: 252) für vegetarisches oder veganes Leben geworben wird. Die Vorteile für den Menschen stehen also im Mittelpunkt. Eine weitere Kritik richtet sich gegen die sexualisierte Darstellung von Frauen, die sie auf Objekte reduziert – beispielsweise bei der PETA-Kampagne »Lieber nackt als im Pelz«.17 Kritisch betrachtet wird auch, dass die Modells gängigen Schönheitsnormen entsprechen, also nicht nur sexistische, sondern teilweise auch lookistische, ageistische, ableistische, rassistische oder transphobe Elemente beinhalten (ebd.: 268 f.). Dass die Berücksichtigung von anderen Ebenen für viele Akteur_innen innerhalb der Bewegung jedoch wichtig ist, zeigt die immer wieder aufkommende Kritik an der angeblichen Single-issue-Einstellung der Tierrechtsbewegung. Sin-

17 Heubach beschreibt in Der Fleischvergleich jedoch auch andere Positionen, die bei der Darstellung von nackten Körpern nicht grundsätzlich von Sexismus ausgehen.

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gle issue bedeutet, sich als Bewegung nur mit einem Thema, im Falle der Tierrechtsbewegung mit dem Tierleid, zu befassen und dabei wenig auf andere gesellschaftliche Ungleichheiten zu achten und auch kaum mit anderen sozialen Bewegungen zu kooperieren oder eine breitere Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen und Unterdrückungsmechanismen zu üben. Gerechtfertigt wird diese Fokussierung auf ein »einziges Thema« mit einem häufig wiederkehrenden Argument: Die Umstände für Tiere seien so furchtbar, dass eine Änderung der Verhältnisse besonders dringlich sei. Ohne Zweifel können gerade die HumanAnimal Studies unterschiedliche Wissenschaften, aber auch praktische Handlungsfelder zusammenführen und somit zu einem disziplinen- und bewegungsübergreifenden Verständnis für Ungleichbehandlungen und Benachteiligungen beitragen.

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Tiere sprechen nicht für sich selbst. Sie brauchen andere, die ihre Rechte einfordern und ihre Anliegen aufgreifen. Tiere an Universitäten als Subjekte, und nicht nur als Untersuchungsobjekte, zur Sprache zu bringen ist ein langer Weg. Können sich jene, die nicht nur Forschung in den HAS betreiben, sondern auch versuchen, Human-Animal Studies im Studienangebot ihrer Universitäten zu institutionalisieren, ein Beispiel an den Gender Studies nehmen? Vieles spricht dafür. Studienangebote in den Gender Studies entwickeln sich einerseits mit der Integration von Lehrveranstaltungen mit Geschlechterbezug in bestehende Studienpläne oder über Wahlmodule. Eine andere Möglichkeit ist jene von Studienergänzungen oder -schwerpunkten mit eigenen Zertifikaten (z.B. an der Universität Salzburg). Die dritte und sicherlich aufwändigste und kostenintensivste Variante ist die Einrichtung eigener Master- oder Bachelorstudiengänge. Häufig speist sich wiederum ein Teil der Lehrveranstaltungen dieser Studiengänge aus anderen Curricula. Ähnliche Entwicklungen wie in den Gender Studies zeigen die aktuellen Tendenzen in den Human-Animal Studies, wobei sowohl die Integration in bestehende Curricula als auch die Einrichtung von eigenen Studienplänen im deutschsprachigen Raum noch am Anfang steht. Studiengänge wie das Masterprogramm zu »Human-Animal Interactions« am Messerli Forschungsinstitut bzw. an der Veterinärmedizinischen Universität Wien sind noch selten. Für Unterrichtende, die Human-Animal Studies in ihre Lehrveranstaltungen integrieren oder eigene HAS-Seminare und -Vorlesungen entwickeln möchten, sei das von Margo DeMello herausgegebene Buch Teaching the Animal. Human-Animal

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Studies across the Disciplines (2010) empfohlen. Es gibt einen Überblick darüber, wie Tiere in den einzelnen Disziplinen berücksichtigt werden können, und beinhaltet auch erste Anregungen für Kursplanungen, Literaturempfehlungen und Beispielübungen. Für die Integration von HAS in Women’s Studies oder Gender Studies ist darin das Kapitel »Teaching Difference: Sex, Gender, Species« (Gruen/Weil 2010) relevant. Das Animals & Society Institute 18 sammelt außerdem auf seiner Website Kurse und Studiengänge, die an Universitäten international zu HAS angeboten wurden und werden. Dass ihre Zahl jährlich steigt und die Human-Animal Studies nun seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Raum vermehrt thematisiert werden, lässt darauf hoffen, dass in Zukunft mehr Forschungen und Lehrveranstaltungen an der Schnittstelle von Gender Studies und Human-Animal Studies entstehen werden.19

L ITERATUR Adams, Carol J. (2002): Zum Verzehr bestimmt. Eine feministisch-vegetarische Theorie, Wien/Mülheim: Guthmann-Peterson. Original [1990]: The Sexual Politics of Meat: A Feminist-Vegetarian Critical Theory, New York: Continuum). Adams, Carol J. (2007): »The War on Compassion«, in: dies./Josephine Donovan (Hg.), The Feminist Care Tradition in Animal Ethics, New York u.a. Columbia University Press, S. 21-38. Bauhardt, Christine (2008): »Ökologiekritik: Das Mensch-Natur-Verhältnis aus der Geschlechterperspektive«, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, 2. aktualis. Aufl., Wiesbaden: VS, S. 323-326. Birke, Lynda (2002): »Intimate Familiarities? Feminism and Human-Animal Studies«, in: Society & Animals 10 (4), S. 429-436. Birke, Lynda (2012): »Unnamed Others: How Can Thinking About »Animals« Matter to Feminist Theorizing?«, in: NORA – Nordic Journal of Feminist and Gender Research 20 (2), S. 148-157.

18 Folgender Link zeigt Kurse zu HAS und Gender Studies: http://www.animalsand society.org/pages/has-courses-in-womens-studies vom 25.09.2014. 19 Ich danke Gabriela Kompatscher und Reingard Spannring herzlich für ihre hilfreichen Anmerkungen und Korrekturvorschläge.

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Birke, Lynda/Bryld, Mette/Lykke Nika (2004): »Animal performances. An exploration of intersections between feminist science studies and studies of human/animal relationships«, in: Feminist Theory 5 (2), S. 167-183. Curtin, Deane (1991): »Toward an Ecological Ethic of Care«, in: Hypatia 6 (1), S. 60-74. DeMello, Margo (2012): Animals and Society. An Introduction to HumanAnimal Studies, New York: Columbia University Press. Ebeling, Smilla (2006): »Alles so schön bunt. Geschlecht, Sexualität und Reproduktion im Tierreich«, in: dies./Sigrid Schmitz (Hg.), Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel. Wiesbaden: VS, S. 57-74. Ebeling, Smilla/Schmitz, Sigrid/Bauer, Robin (2006): »Tierisch menschlich. Ein un/geliebter Dualismus und seine Wirkungen«, in: Smilla Ebeling/Sigrid Schmitz (Hg.), Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel. Wiesbaden: VS, S. 347-362. Gaard, Greta (2002): »Vegetarian Ecofeminism«, in: Frontiers 23 (3), S. 117146. Gaard, Greta (2007): »Ecofeminism and Animals«, in: Marc Bekoff (Hg.), Encyclopedia of Human-Animal Relationships. A Global Exploration of Our Connections with Animals, Band 2, Westport/London: Grennwood Press, S. 347-653. Gaard, Greta (2010): »New Directions for Ecofeminism: Toward a More Feminist Ecocriticism«, in: Interdisciplinary Studies in Literature and Environment 17 (4), S. 643-665. Gaarder, Emily (2011): Women and the Animal Rights Movement, New Brunswick u.a.: Rutgers University Press. Gamerschlag, Andre (2011): »Intersektionelle Human-Animal Studies. Ein historischer Abriss des Unity-of-Oppression-Gedankens und ein Plädoyer für die intersektionelle Erforschung der Mensch-Tier-Verhältnisse«, in: Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.), Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen. Bielefeld: transcript, S. 151-189. Gruen, Lori/Weil, Kari (2010): »Teaching Difference: Sex, Gender, Species«, in: Margo DeMello (Hg.), Teaching the Animal, New York: Lantern Books, S. 127-142. Gutjahr, Julia (2012): »›Männer mögen Tiere – am liebsten auf dem Grill!‹ Überlegungen zu einer feministischen Kritik an der Mensch-Tier-Beziehung«, in: Tierrechtsgruppe Zürich (Hg.), Theorie um Tierbefreiung, Zürich: Tierrechtsgruppe Zürich.

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Zusätzliche Ressourcen http://www.animalsandsociety.org/pages/has-courses-in-womens-studies

Geschichtswissenschaft Von einer Geschichte mit Tieren zu einer Tiergeschichte M IEKE R OSCHER

E INLEITUNG Dass Tiere eine wichtige Funktion in der menschlichen Geschichte haben, wird wohl kaum ein_e Historiker_in mehr in Frage stellen. Großen historischen Brüchen lagen häufig auch sich ändernde Tier-Mensch-Beziehungen zugrunde, die sich beispielsweise in der Form der Domestizierung, also der Nutzbarmachung von Tieren durch den Menschen äußerten. Fängt man in der Vor- und Frühgeschichte an, so wurde bereits mit der Neolithischen Revolution das Ende des menschlichen Nomadenlebens auch mit seiner Bindung zum Tier erklärt. Antike Imperien bauten auf Tiere als omnipotente Lasten- und Kriegsgeräte. Tiere fungierten aber auch immer – in nahezu allen Gesellschaften, die Objekte historischer Untersuchung waren – als das omnipräsente Andere, auf das vor allem Negatives projiziert wurde. Andererseits war die Abgrenzung von dem, was als tierlich, und dem, was als menschlich markiert wurde, bis in die Frühe Neuzeit fluide. Dies zeigen sowohl die mittelalterlichen Tierprozesse wie auch bildlichen Darstellungen, z.B. die Bestiarien. Die Moderne wiederum, die auch als das Ende des Pferdezeitalters tituliert wurde (vgl. Koselleck 2003), ist durch eine Veränderung der Tier-Mensch-Beziehung gekennzeichnet, in der einerseits Tiere als Haustiere näher in intime menschliche Lebensräume rückten, andererseits die industrielle Ausnutzung ihrer Körper anlief. So klar also einerseits die Relevanz von Tieren für die menschliche Entwicklungsgeschichte ist, so unklar war und ist vielen Historiker_innen, wie und ob sie ihren buchstäblichen Spuren nachgehen wollen, sollen und können. Diese von manchen als anthropozentrische Geschichtsschreibung titulierte Historiographie (Fudge 2002a: 11) hat weder den historischen Beitrag einzelner Tiere je heraus-

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gehoben, noch versucht, Tieren eine eigene Geschichte zu geben. Die absolute Verneinung tierlicher Historizität hat sich seit der Einführung einer Animal History allerdings zumindest relativiert. Es erscheint mir deshalb sinnvoll, grundsätzliche Fragen dieser historiographischen Annäherung im ersten Teil dieses Aufsatzes aufzugreifen, nachdem allgemeine genealogische Entwicklungslinien der Geschichtsschreibung, die zur Aufnahme des Tierthemas führten, skizziert wurden. Zum einen werden hier generelle Fragen verhandelt, die etwa problematisieren, welche Quellen nutzbar und wie sie zu interpretieren sind. Zum zweiten wird auf theoretische Zugänge eingegangen, die als fruchtbar betrachtet werden, um das historische Tier zu greifen. Diese theoretische Dimension ist insofern besonders signifikant, als sie auch darauf abhebt, ob Tiere überhaupt als historische Wesen angesehen werden können. Aufgrund der Komplexität dieser theoretischen Ebene soll nachfolgend auf die Operationalisierbarkeit der Tiergeschichte am Beispiel der Untersuchung von Mensch-Haustier-Beziehungen eingegangen und somit das Methodische in den Fokus gerückt werden. In einem zweiten Teil werden dann zwei der zentralen Diskussionsfragen der historischen HumanAnimal Studies (HAS) beleuchtet. Insbesondere wird in diesem Zusammenhang auf die Debatte abgehoben, inwieweit das historische Tier immer bloß die Repräsentation menschlicher Vorstellungen darstellt, kurz: Es wird auf den Konflikt zwischen einem reinen Repräsentationsansatz und dem Akteursansatz eingegangen. Des Weiteren wird die Frage gestellt, inwieweit man die Geschichte der Tiere epochalisieren kann und welcher neuen organisatorischen Strukturen es bedarf, eine historische, also keine rein biologisch-evolutionäre Entwicklungsgeschichte des Tieres vorzunehmen. In einem dritten Schritt werden die zentralen und aktuellen Forschungsbereiche der Tiergeschichte dargestellt und die historischen Teilgebiete aufgezeigt, von denen ein Interesse an einer tierhistorischen Annäherung benannt wird. Zudem soll erläutert werden, warum sich die Historiker_innen programmatisch eher den HAS und nicht den Animal Studies bzw. den Critical Animal Studies zugehörig fühlen und wie weit die Institutionalisierung der Tiergeschichte gediehen ist.

T EIL 1: T IERE UND G ESCHICHTE – D ER V ERSUCH ANNÄHERUNG

EINER

Tiere neu sehen – die Entwicklung der Geschichtswissenschaft Verschafft man sich heutzutage einen Überblick über das in den HAS Publizierte, so ist man geneigt zu konstatieren, dass die Geschichtswissenschaften, zu-

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mindest in ihrer kulturwissenschaftlichen Ausprägung, neben der Soziologie und den Literaturwissenschaften wohl zu den am breitesten vertretenen Disziplinen gehören. Nicht nur ist hier in den letzten Jahren eine enorme Publikationswelle losgetreten worden, auch gehen einige zentrale, die Disziplin der HAS formierende Texte auf die Werke von Historiker_innen und historisch arbeitenden Wissenschaftler_innen zurück. Es war die amerikanische Historikerin Harriet Ritvo, die 2007 den animal turn ausrief und damit eine kulturwissenschaftliche Wende in Bezug auf das Tier proklamierte (Ritvo 2007: 118). Und es war eine von Historiker_innen organisierte Konferenz, die 2005 das Feld explizit in Deutschland einführte.1 Doch spiegelt dieses Bild weder in letzter Konsequenz die Verbreitung der HAS innerhalb der – zumindest deutschsprachigen – Geschichtswissenschaften wider noch zeugt es von ihrer allgemeinen Anerkennung. Die Inklusion des Tieres in die Historiographie – wie bereits zuvor auch die Inklusion anderer marginalisierter Gruppen – ist mitnichten konfliktfrei verlaufen (Krebber/Roscher 2011: 4) und dies ist sicherlich auch als eine der Besonderheiten der HAS innerhalb der historischen Wissenschaften aufzufassen. Disziplinär betrachtet, stellen sich die Geschichtswissenschaften einerseits als ein Pionierfeld dar, anderseits sind sie Schauplatz fundamentaler Infragestellungen der Möglichkeiten, die die HAS anbieten. Die »etablierte Geschichtswissenschaft«, so resümierte Clemens Wischermann 2009, beteilige sich an diesen Prozessen, also der Einbeziehung des Tieres als historischer Akteur, noch kaum (Wischermann 2009: 8). Die grundlegende Skepsis, die jedoch Münch (Münch 1998: 16; auch Roscher 2011: 125) der historischen Disziplin gegenüber den HAS nachsagte, den »freak status«, den Eitler ihr zuspricht (Eitler 2011: 228), hält Aline Steinbrecher im Jahr 2012 für überwunden (Steinbrecher 2012: 15). Dennoch lohnt es, kurz zu reflektieren, aus welchen Ansätzen heraus das Tier in die historischen Wissenschaften einzudringen begann und worin gleichzeitig die Vorbehalte lagen. Betrachtet man die Entwicklung der Geschichtswissenschaften seit den 1960er Jahren, so erhält man Aufschluss darüber, inwieweit Offenheit dafür bestand, sowohl neue methodische Wege zu gehen wie auch generell die historische Perspektive zu erweitern. Vor allem zeigte sich diese Entwicklung darin, wen und was man als »geschichtsmächtig« begreifen wollte. Nicht länger mochte man sich auf die Geschichte der weißen Männer als alleinige Impulsgeber historischen Geschehens beschränken. Man fing an, Geschichte der Arbeiter_innen als eine Sozialgeschichte zu schreiben, indem erstmals Strukturen und grundsätz-

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Gemeint ist die 2005 vom Deutschen Historischen Institut Washington in Köln organisierte Konferenz »Animals in History«.

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lich andere Quellen befragt wurden. Die Frauen- und Geschlechtergeschichte fing an, angetrieben auch von der zweiten Frauenbewegung, der Geschichte insbesondere des unterdrückten Geschlechtes nachzugehen und mit der Entwicklung der Neuen Kulturgeschichte schließlich wurde das Andere per se als Untersuchungskategorie eingeführt (vgl. auch Steinbrecher 2009: 272). Getrieben wurde diese Entwicklung insgesamt von 1963 von E. P. Thompsons Aufruf, eine history from below, eine Geschichte von unten, zu schreiben, in denen die Vergangenheit durch den Erfahrungshorizont der »einfachen Leute« und ihre Erfahrungen neu zu perspektivieren war (Thompson 1963). Die Erweiterung auf Tiere lag jedoch insbesondere auch unter dem Eindruck der Entwicklung umwelthistorischer Fragestellungen und der Etablierung der Umweltgeschichte als Subdisziplin historischer Forschung nahe. Wenn Geschichtsschreibung sich vormals nur mit der Geschichte der großen Männer beschäftigte, so war es das Verdienst der Sozialgeschichte, weitere menschliche Protagonist_innen in die Geschichtsbücher zu integrieren, und das der Umweltgeschichte, auch die Natur als einen Agens anzubieten (Walker 2013: 50 f.). Naturgewalten machen etwas mit dem Menschen, das nunmehr mit diesem historischen Zugriff auszuloten versucht wurde. Beeinflusst zudem durch die Entstehung und Weiterentwicklung der Tierrechtsbewegung, drängten sich Fragen nach dem Umgang mit dem Tier auf, die auch historische Dimensionen einnahmen (Fudge 2002a: 4; Roscher 2009a: 20). Insofern kann man mit Harriet Ritvo die Inkludierung der Tiere in die Geschichtsbücher auch als den letzten Schritt eines »demokratischen Trends« apostrophieren, in dem die letzte marginalisierte Gruppe nun auch endlich ihre Berücksichtigung finde (Ritvo 2002). Tiere konzeptualisieren – grundsätzliche Fragestellungen Das Themenfeld »Tier« ist mit vielen, zum Teil noch ungelösten Fragestellungen befrachtet. Sie sind sowohl methodischer wie auch, könnte man viel grundlegender sagen, wissensphilosophischer Natur. Zudem sind diese grundsätzlichen Fragestellungen in zweierlei Kategorien zu unterteilen, zum einen jene, die die Geschichtswissenschaften spezifisch betreffen, und solche, die alle Disziplinen gleichsam berühren. Zur letzteren Kategorie müssen sicherlich so wesentliche Fragen gerechnet werden, wie jene nach dem Subjektstatus des Tieres und des Selbst, die »im Kern […] die gesellschaftliche Konstruktion der Wertigkeit tierischen Lebens« (vgl. Wischermann 2009a: 10) berühren. Zugespitzt ergibt sich daraus jedoch auch für die Geschichte und ihre Perspektive eine Frage, die dem Prozess der Schreibung vorgelagert ist und speziell jedes Projekt begleitet, welches sich in den historischen HAS verorten will: »On reflection, we’ll find that

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animals are all over the past, but assessing their role in history, as actors or objects, is a pressing and challenging question: but, which is it to be, actors or objects?« (Shaw 2013b: 146) Geht es darum, bestimmte Tiere in bestimmten Zeiten historisch erfahrbar zu machen, oder generell darum, die Geschichte der Subalterne kategoriell zu erweitern (ebd.: 147)? Hilda Kean hat konstatiert, dass es in der Geschichte der Tiere vielen Historiker_innen einzig darum geht, Lücken zu füllen (Kean 2012: 58). Tiere dienten hier lediglich als Experimentierfeld. Allerdings betont Harriet Ritvo, dass es eben auch genuine Aufgabe der historischen HAS sei, nicht nur die Geschichte des Verhältnisses des Menschen zum Tier, sondern auch die der Menschen untereinander zu erzählen (Ritvo 1987: 4). Tiere sollen jedoch unter dem Zugriff, den die historischen HAS wählen, als mehr gesehen werden denn als Relikte ihrer eigenen Existenz (Rothfels 2002: 6). Erica Fudge, die als eine Pionierin der Tiergeschichte gelten muss, nachdem sie 2002 den programmatischen Aufsatz »A left handed blow – Writing the History of Animals« verfasst hat, antizipierte nicht nur die Tiergeschichte als eine logische Verlängerung einer Geschichte von unten, sie differenzierte auch die verschiedenen Ansätze heraus, mit denen sich Tieren genähert wurde. Sie unterschied zwischen einem ideengeschichtlichen Zugang, in dem es ausschließlich um die changierenden menschlichen Vorstellungen vom Tier gehe, einer humanen Geschichte, in der das Tier als bedeutsam für die soziale Zusammensetzung menschlicher Gesellschaften betrachtet werde und damit neue Perspektiven auf die menschliche Sozialgeschichte eröffne, und schließlich einer holistisch orientierten Historiographie, bei der mithilfe einer Analyse der Repräsentation des Tieres vor allem der Selbstkonstituierung des Menschen nachgegangen werden könne (Fudge 2002a: 8). Sie proklamierte, den anthropozentrischen Blick fallen zu lassen, zumindest insofern, als man »Tier« nicht mehr als Differenzkategorie begreifen dürfe, und dass aus dieser Ablehnung neue Wege zu beschreiten seien, Geschichte zu denken (ebd.: 135). Zehn Jahre später konkretisierte sie ihre Idee für eine mögliche Perspektivenerweiterung: Nicht nur sei es einigen Menschen möglich, wie manche Tiere zu denken, sondern es ließe sich deshalb auch deren konkretes Verhalten antizipieren (dies. 2013: 23). Inwiefern es gelingen kann, wie Tiere zu denken und die vorhandenen Quellen in ihrem Sinne zu lesen, ist wiederum eine eher philosophische Frage und auch innerhalb der HAS, so meine ich, noch nicht annähernd diskutiert. Dabei wäre durchaus zu klären, ob es überhaupt Sinn ergibt, wie ein Tier denken zu können. Abgeleitet aus dieser fundamentalen Problemstellung, lässt sich jedoch ein Thema identifizieren, dass Historiker_innen – auch für die Schreibung der menschliche Geschichte – beschäftigt: Welches sind die richtigen Quellen und wie sind sie jeweils zu lesen?

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Tiere finden – Tiergeschichte und die Quellenproblematik Das Problem der Quellen ist also keines der Menge, denn »die beschriebene Omnipräsenz der Tiere in den vergangenen Lebenswelten findet in allen überlieferten Quellengattungen ihren Niederschlag« (Steinbrecher 2009: 276), sondern zum einen eines der Interpretation und zum anderen der Frage, ob es überhaupt legitim ist, menschliche Quellen für eine Tiergeschichte zu verwenden (Roscher 2011: 127 ff.). Zur Frage der Interpretation hat David Shaw gesagt: »[I]f history is what we can understand because we made it, part of the preparatory process of seeing animals as historical has included understanding much better what animals are like, especially in their similarities to the human« (Shaw 2013a: 3). D.h., es bedarf auch der verhaltensbiologischen Aufarbeitung und Erkenntnisse, um mögliche Verhaltensoptionen als ein Handlungsrepertoire der Tiere aufzuspannen, ohne dabei in eine Debatte um die Intention der Handlung einsteigen zu müssen. Tiergeschichte wird sich deshalb der Interpretation von Quellen ethologischer Erkenntnisse bedienen müssen, jedoch stets berücksichtigen, dass diese Erkenntnisse selbst historisch spezifisch sind. Zudem wird es von manchen Historiker_innen durchaus als legitim angesehen, sich des Mittels der Spekulation beim Interpretieren des tierlichen Selbst und seiner Wahrnehmung zu bedienen (vgl. Baratay 2012: 63 f.). Außerdem ist die historische Betrachtung von Tieren selbst davon beeinflusst, wie viele Quellen hinterlassen wurden, aus denen ihre Präsenz extrahierbar ist. Auch dieses Problem ist jedoch den Historiker_innen aus dem Schreiben der menschlichen Geschichte vertraut. Es bedarf hier nur der stärkeren Offenlegung. Welche Quellen generell zur Verfügung stehen bzw. nutzbar gemacht werden könnten, wurde bereits ausführlich diskutiert (Steinbrecher 2009: 276; dies. 2012 20 f.; Roscher 2011: 128) und es wäre, wie Steinbrecher sagt, ein »Fehlschluss, die Fährten, die Tiere als Gefährten der Menschen gezogen haben, aus methodologischen oder konzeptionellen Gründen zu vernachlässigen« (Steinbrecher 2012: 20). Die Aufgabe der Historiker_innen, diese Quellen zu finden, ist allerdings anspruchsvoller für jene Epochen, »where animals’ roles weren’t part of the period’s imaginative assumptions« (Shaw 2013b: 165). Hier fängt selbstredend, wie Hilda Kean pointiert ausgeführt hat, die eigentliche Diskussionen erst an, denn, wie sie argumentiert, die Tatsache, dass Tiere kein historisches Bewusstsein haben (auch dies ist noch nicht ausreichend erforscht), ist noch kein Zeichen dafür, dass sie nicht im historischen Sinne handeln könnten und dass diese Geschichte interpretiert werden kann (Kean 2012: 60). Wie sie zu interpretieren ist, hängt dann vom jeweiligen sozialen Makrokontext ab.

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Der zweite Aspekt dieser Debatte beinhaltet die Legitimation der menschlich-produzierten Quelle. Dazu hat Chris Pearson pointiert zusammenfasst: »Although primary sources on animals are human-generated, it is possible to catch glimpses of [...] agency amid the representations of them.« (Pearson 2013: 139) Es wird vielmehr als eine der genuinen Aufgaben der historischen Zunft angesehen, jene Quellen ausfindig zu machen, die in den Archiven vergraben sind und die es ermöglichen, diese glimpses of agency herauszufiltern: »There, but not speaking«, wie Fudge es gefasst hat (Fudge 2002b: 2). Inwieweit Sprache als Ausschlusskriterium für Geschichte aufgefasst werden muss, ist breit diskutiert worden (Roscher 2011: 130 f.). Wie Susan Pearson sagt, ist dabei die Spaltung innerhalb der historischen Wissenschaften auch noch auf einer anderen Ebene fundamental: »The implications of using language to separate (or join) humans and animals are not, however, simply moral and political. They are also historical and historiographical: for it is language – and more particularly writing – that is used to separate the fossil record from the archive, natural history from history proper« (Pearson 2013: 93).

Letztlich hat sich aber im Zuge auch der Etablierung der Umweltgeschichte die Relevanz nichtmenschlicher Dinge für die Geschichte durchsetzen können und Sprache wurde allenfalls als Hindernis des Verständnisses betrachtet und im Rahmen der Diskursgeschichte als Hindernis der Inklusion antizipiert. Trotz der methodologischen Schwierigkeiten, die insbesondere die Lesung menschlicher Quellen für die Geschichte der Tiere betrifft, wird davon ausgegangen, dass, indem man den Fokus auf die Tiere legt, man sie »zentriert« (Tortorici/Few 2013: 3) und als Akteure wenn nicht in den Mittelpunkt, so doch den menschlichen Akteur_innen quasi gleichberechtigt beistellt, man somit zumindest in der Lage sei, eine vollständigere Kulturgeschichte zu schreiben. Um diesem Problem zu begegnen, nehmen Tierhistoriker_innen zum einen einen erweiterten Quellenbegriff auf, der eben nicht nur das geschriebene Wort als Quelle erkennt, sondern auch die von Pearson benannten Fossile sowie »animal-made objects«, Dinge, die vom und durch das Tier gemacht worden sind (Fudge 2012: 87). Diesen Dingen wird dann im Rahmen der Akteur-NetzwerkTheorie (siehe unten) gleichsam eine weitreichendere Bedeutung als Aktanten zugesprochen. Insbesondere die »materiellen Überreste«, die auch und insbesondere Grundlage der archäozoologischen Forschung sind, sind darüber hinaus Quellen, die jenseits der sprachlichen Auseinandersetzungen firmieren und die gelebte Beziehung zwischen Mensch und Tier, aber auch von Tieren untereinander illustrieren (Roscher 2011: 129). Dieser Zugang, auch als symmetrische

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Anthropologie bezeichnet (Latour 2008: 122 f.), trifft somit auch Aussagen über die »Bedeutung von Tieren in historischen und aktuellen Konstellationen«, denn »Menschen und Tiere sind intrinsisch und untrennbar miteinander verbunden« (Krüger 2014: 78). Im Prinzip geht es also darum, wie Carol Freeman sagt, die Tiere mehr in den Mittelpunkt der Recherche zu stellen: Durch diese Zentrierung würde man sensibler dafür werden, welche anderen Quellen noch zu befragen wären (Freeman 2011: 165). Zum anderen wird zunehmend erkannt, dass »auch wenn die tierische Spurensuche nur zu von Menschen dokumentierten Spuren führt« (Steinbrecher 2011: 193), diese gleichwohl Hinweise auf das reale Tier geben und daher als Mittel zum Zweck des Schreibens von Tiergeschichte geeignet sind. Etienne Benson geht so weit zu sagen, dass Texte über Tiere schon als Ergebnis einer Kollaboration oder Koautorschaft gelesen werden sollten: »a collection of traces of the animal who writes through the human as well as of the human who writes about the animal« (Benson 2011: 5), und auch wenn Tiere also nicht direkt Quellen hinterlassen, so bringen sie doch nach Bruno Latour jene zum sprechen, »die sich um sie herumscharen und miteinander über sie sprechen« (Latour 2010: 98). Dass dieses Material nicht mit der Intention verfasst worden sei, den Tieren besondere Beachtung zukommen zu lassen, hindere Historiker_innen nicht daran, es neu zu lesen: »The stance of a historian – and the materials – works in relation to each other. Those who seek to write histories on particular topics or from particular perspectives understand the limitations« (Kean 2012: 62). Der Fokus liege also nicht auf dem Material als solchem, sondern jeweils in der Funktion, die die Geschichte annehmen solle, und der Rolle der Historiker_innen in diesem Prozess. Das Hauptaugenmerk liege jeweils auf den Fragen, die an das Material gestellt würden (ebd.). Ein Problem, welches sowohl methodische wie auch quellenbezogene Fragestellungen betrifft, ist das der Individualisierung. Geschichte, so viel kann wohl gesagt werden, lässt sich besser und genauer erzählen, wenn wir die Protagonist_innen kennen, sei es durch Selbstzeugnisse oder sonstige biographische Informationen. Donna Haraway hat dies als »komfortable Narrative von Spezies in Begegnung« (Haraway 2008: 41) bezeichnet Allerdings ist uns auch das Schicksal der großen Masse der menschlichen Akteur_innen verborgen, und es muss als das große Verdienst der Sozialgeschichte gesehen werden, die Stimmen genau derjenigen hörbar zu machen, die nicht prominent auftauchen. Und doch ist das Schreiben von Tiergeschichte, wo in den Quellen »one nonhuman animal tends to blur into another« (Tortorici/Few 2013: 2), zugegebenermaßen noch ein Problem, welches es genauer zu diskutieren gilt.

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Tiere problematisieren – theoretische Zugänge Dem Umgang mit dem Material ist der Historiographie die Fragestellung vorausgesetzt, die theoretisch zu unterfüttern und empirisch zu überprüfen ist. Hierzu sagte Shaw in Bezug auf Tiere: »The first centers on the question of what the animal is, historically; the second relates to the question of how do we come to know it, historically« (Shaw 2013a: 5). Wie man sich dem historischen Tier theoretisch/methodisch nähert, ist wohl die am heftigsten diskutierte Frage nicht nur innerhalb der historischen HAS, sondern der Geschichtswissenschaften insgesamt. Rainer Pöppinghege hat es als eine Krux bezeichnet, dass die Geschichtswissenschaften sich auf interdisziplinäres Terrain begeben würden, ohne eigene methodisch-analytische Standards entwickelt zu haben, auf denen aufbauend solide empirische Forschung betrieben werden könne (Pöppinghege 2012: 1). Tatsächlich sind die allermeisten theoretischen Grundlagentexte, denen sich die Tiergeschichte bedient, nicht genuin geschichtswissenschaftlich, sondern zuvorderst den Sozialwissenschaften entliehen. Animal agency ist dabei wahrscheinlich das Hauptkonzept, mit dem sich die historischen Wissenschaften theoretisch dem Tier nähern (vgl. Eitler/Möhring 2008; Eitler 2011; Pöppinghege 2012; Roscher 2011; dies./Krebber 2011; Steinbrecher 2009; dies. 2012). Basierend vor allem auf Bruno Latours AkteurNetzwerk-Theorie und Donna Haraways Interpretationen wird das Tier als Teil eines Netzwerkes, eines Geflechts, eines Kollektivs betrachtet, das dem Menschen auf zahlreichen Ebenen begegnet und mit ihm eigentlich permanent im Kontakt ist. Der französische Soziologe Bruno Latour zählt mithin zum Liebling der theoretischen Annäherungen an eine Tiergeschichte, in der dem Tier mehr als ein Objektstatus zugesprochen wird: »Sie müssen Akteure sein und nicht bloß die glücklosen Träger symbolischer Projektionen« (Latour 2007: 25). Anhand der Thematisierung des Einflusses von Milchsäurebakterien im Prozess der Pasteurisierung stellte er fest, dass die Veränderung einer Beziehung oder Anordnung nicht alleine vom Menschen getragen wird (vgl. Eitler/Möhring 2008: 97). Vielmehr bilden sie, Mensch, Milchsäurebakterium, Reagenzglas etc., Kollektive, Netzwerke menschlicher und nichtmenschlicher Wesen, die miteinander auf verschiedenen Ebenen in Verbindung treten und sich gegenseitig beeinflussen (Latour 2010: 103 ff.). Eine Herangehensweise, die neben den menschlichen Akteur_innen auch deren Verflechtungen mit anderen, nichtmenschlichen Akteuren bzw. Aktanten berücksichtigt, wird von ihm als symmetrische Anthropologie bezeichnet. Handlung wird als etwas Unkontrollierbares verstanden, denn »andere Entitäten, über die wir keine Kontrolle haben«, brächten Menschen dazu, »Dinge zu tun« (ders. 2007: 88).

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Auch auf die Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway stützen sich die Historiker_innen. Haraways Augenmerk liegt auf dem kollektiven Zusammenspiel von Mensch und Tier, der Koevolution, an der Tiere genauso wie Menschen auch kulturell beteiligt seien, weswegen jene sich auch eine »Co-History« einschreiben würden (Haraway 2003: 12). Sowohl Tier als auch Mensch verändern sich in ihren Beziehungen und in sich selbst durch solche Prozesse, wie jene der Domestizierung oder der Züchtung. Insbesondere die Beziehung des Menschen zu seinem Haustier definiert sie als »co-constitutive relationships« (dies.: 208), in der die Beziehungen jeweils neu formuliert und ausgehandelt werden müssen und die Teilhaber_innen der Beziehung sich durch diese erst konstituieren. Sie verweist damit ganz explizit auf die »Reziprozität der Mensch-Tier-Beziehung« (Steinbrecher 2011: 194) und die Beziehung als kleinste Analyseeinheit (Haraway 2003: 24). Da diese Beziehungen sowohl biologische wie kulturelle Aspekte beinhalten, spricht Haraway auch von »naturalcultural contact zones« (Haraway 2008: 7) bzw. von »mortal world-making entanglements« (ebd.: 4), die alle Subjekte/Objekte einer Geschichte verändern. Dieses ist insofern von Relevanz, als es gleichzeitig die Historiker_innen darauf verweist, ihre Quellen in beiden Bereichen zu suchen. Ansonsten bezieht sich ihr Agency-Konzept auf Latour, auch wenn sie mehr als dieser zwischen belebten und unbelebten Akteur_innen bzw. Aktanten unterscheidet (Eitler/Möhring 2008: 94) und ihre Empirie an Haustiere, vor allem Hunde, bindet. Die Akteursperspektive auf das Tier soll dabei helfen, den Perspektivenwechsel vorzunehmen, der notwendig ist Tiere in die Geschichte zu integrieren. Diese Perspektive legt auf der einen Seite den Fokus auf die »stummen Arbeiter«, die unsere menschliche Welt mitbauen, und beleuchtet gleichsam Beitrag der Tiere dazu, das Menschliche selbst zu konstruieren (Fudge 2012: 89). Allerdings mahnen einige Historiker_innen zur Vorsicht vor einer allzu gleichmachenden Anwendung der Akteurszusprechungen und wollen zwischen »menschlich-intentionalem und nicht-menschlichem Handeln« sauberer differenziert wissen (Pöppinghege 2012: 5). Auch noch radikalere posthumanistische Konzeptionen, in denen der Mensch lediglich als ein Teil der koevolutionären Materie beschrieben wird, indem er gleichsam mit technischen und anderen materiellen Dingen herausgebildet wird, basieren letztendlich auf dem Agency-Konzept (Wolfe 2010: xxv). Weniger radikale Ansätze unterscheiden etwa zwischen Zwischenhändler_innen und Mediator_innen im Agency-Geflecht, wobei Tiere eher als erstere konzipiert werden, da ihr Entscheidungsspektrum weniger zufällig sei (Shaw 2013b: 160). In jedem Fall werden jedoch mit einer wie auch immer gearteten Zuschreibung von agency die eindeutige Zuweisungen von Subjekt-Objekt-

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Unterscheidungen entlang der Mensch-Tier-Grenze durchbrochen (Eitler/ Möhring 2008: 92). Einen weiteren theoretischen Bezugspunkt stellt das Prinzip des »becoming animal« von Gilles Deleuze und Félix Guattari dar. Hiermit wird das eigene »Tiersein« als ein transzendentaler Prozess thematisiert und man erhofft sich über diesen Schritt, Erkenntnisse, die insbesondere das enge Miteinander von Mensch und Tier erklären, zu gewinnen sowie der Frage nachgehen zu können, wo menschliches Leben aufhört und wo tierisches beginnt (Deleuze/Guattari 1987: 256 ff.). Auch auf Giorgio Agambens dispositivanalytisches Werk wird rekurriert. Es ist als diskursive Annäherung an die Tier-Mensch-Dualismen zu verstehen. Das Werk Das Offene befasst sich vor allem damit, den (bio-)politischen Konfliktfeldern nachzugehen, bei denen es um die Strukturen der Ein- und Ausschließung des Animalischen und des Humanen geht (Agamben 2003: 46 ff.). Die Analyse dieser Ausschlusskriterien bildet dabei auch die Grundlage historischer Forschungsprojekte. Insbesondere soll er als »diskursanalytischer Referenzrahmen« genutzt werden (Eitler/Möhring 2008: 100). Zudem wird in der theoretischen Annäherung auf Jacques Derrida verwiesen, wenn es um Begrifflichkeiten geht. Der Begriff des Tieres, so sagt Derrida, sei die Manifestation der Durchsetzung menschlicher Autorität in der Benennung des lebendigen »Anderen« (Derrida 2008: 23), und doch verweigere das einzelne Tier jedwede Konzeptualisierung. Mit der Verneinung eines Generalsubjektivs Tier legt man mit Derrida Grundsteine für eine biographische Tierforschung. Schließlich finden sich, zumindest in den englischsprachigen historischen HAS, theoretische Verweise zu den geschichtsphilosophischen Schriften Walter Benjamins, insbesondere seinen aus dem historischen Materialismus entsprungenen Forderungen, »die Geschichte gegen den Strich zu bürsten« (Benjamin 2007: 132). Das bedeutet, die Quellen auf ihren Anthropozentrismus hin kritisch zu befragen. Sicherlich ist Steinbrecher Recht zu geben, wenn sie anmerkt, dass die theoretischen Hinführungen im Gros schwer operationalisierbar und eher als »Handlungsaufforderung« zu lesen seien (Steinbrecher 2012: 17). Dennoch dient diese theoretische Anbindung nicht bloß der Anerkennung in der weiteren Wissenschaftslandschaft, sondern auch der Skizzierung neuer Forschungswege. Tiere erfassen – Operationalisierbarkeit von Tiergeschichte Die Frage nach der Operationalisierbarkeit von historischer Handlungsmacht und Wirkmächtigkeit von Tieren – welche als Synonyme zu agency zu verstehen sind – liegt im Zentrum der methodischen Debatten innerhalb der HAS (vgl. Krüger/Steinbrecher 2011: 170). Eine allgemeine Definition von agency in Be-

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zug zum Tier lässt sich wohl auf folgende Parameter herunterbrechen: die Fähigkeit, Veränderungen anzustoßen, ohne dabei über Selbstbewusstsein, Sprache, Moral oder Kultur verfügen zu müssen. »Agency, therefore, appears clearly as the capacity not only to make others do things, but to incite, inspire, or ask them to do things« (Despret 2013: 40). Letztendlich geht es also darum, Quellen zu finden, in denen wir Hinweise auf Tiere bekommen, die genau dies tun: die Menschen (oder auch andere Tiere!) dazu veranlassen, inspirieren oder danach fragen (obgleich dies wieder mit methodologischen Problemen behaftet ist), etwas zu tun. Wie uns Hilda Kean ermahnt, verfügen wir über einen reichen Schatz an diesen Quellen, die über das Leben einzelner Tiere deshalb Auskunft geben, weil Menschen mit ihnen in einer Beziehung, die diverse Formen annehmen konnte, gestanden haben (Kean 2012: 61). Genau dieses Beziehungsgeflecht ist es also, was in den Mittelpunkt der historischen Untersuchung rückt: »[d]er Zwischenraum, der durch […] gegenseitige Erfahrungen und Beeinflussungen bestimmt ist« (Krüger/Steinbrecher 2011: 170). Aus diesem Grund resümiert Pöppinghege: »Nicht das Tier selbst, sondern seine Wechselbeziehung mit dem Menschen und seine Auswirkungen auf menschliche Verhaltensweisen, kurzum, die MenschTier-Beziehung steht im Mittelpunkt geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresses« (Pöppinghege 2012: 7). Dieser Aussage wird man vielleicht nicht in jedem Fall zustimmen, hat sich die deutschsprachige Tiergeschichte2 doch als Zusatz noch die Problematisierung der Auswirkungen auf das Tier zur Aufgabe gemacht. Kurzum wird also vielmehr das »dynamische und interaktive Verhältnis zwischen Mensch und Tier sowie der (aktive) Einfluss der Tiere auf dieses Verhältnis« (Krebber/Roscher 2011: 3) untersucht. Nimmt man nun an, dass insbesondere die vernetzte Beziehung mit dem Tier Aufschluss über seine Geschichte gibt, liegen sowohl die Quellen wie auch ihre methodischen Interpretationsmöglichkeiten sowie die konzeptuelle Näherung offener dar: Es ist somit möglich, jene Tiere, die im engen Beziehungsgeflecht standen, sogenannte companion animals, als Grundlage der Untersuchung zu nehmen. Hierfür eignen sich »Quellengattungen, die als Zeugnisse eines intimen Zusammenlebens von Menschen und Tieren« (Steinbrecher 2012: 21) dienen, denen sich beispielsweise im Rahmen eines praxeologischen Rollenverständnisses genähert wird. Verstanden wird dies als Aushandlungsprozess, in dem konkret Interaktionen zwischen Mensch und Tier untersucht werden, in dem »Kommunikationsakte verbaler und nonverbaler Art« eine Schlüsselfunktion zukommt

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Der Begriff der Tiergeschichte reflektiert die spezifisch deutsche Debatte, die sich absetzen möchte von dem reinen Repräsentationsansatz.

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(Wischermann 2009: 11). Hier wird auch das nichtintentionale Handeln bzw. das Reagieren auf menschliches Handeln als zu untersuchender Gegenstand aufgeführt. Steinbrecher nennt dies »embodied agency«, in der vor allem also Körperlichkeit und Performanz in den Mittelpunkt gerückt werden (Steinbrecher 2012: 22). Diese Körperlichkeit offenbart sich auch in den Quellen, und daher werden hier methodische Ansätze angewendet, in denen sich dem Tier biographisch genähert wird, Lebensdaten werden kompiliert und in Kontext gesetzt. Das enge Zusammenleben zwischen Mensch und Tier hat zudem Historiker_innen dazu animiert, es zunächst einmal mit einer fundierten Sozialgeschichte dieser Beziehung zu versuchen, somit das soziale Miteinander und die daraus resultierenden Folgen für die menschliche Gesellschaftsformation in den Fokus zu rücken (Pöppinghege 2012 bzw. sich über den Weg einer Sozialgeschichte dem Tier zu nähern und darauf aufbauend weitere Fragestellungen zu erkunden (Wischermann 2007; Roscher 2011: 144). Die sozialgeschichtliche Perspektive wird nicht nur als ein gut operationalisierbarer Zugang, sondern auch als einer der »wichtigsten Forschungswege einer Geschichte der MenschTier-Beziehungen« vorausgesagt (Wischermann 2009: 7). Als größtes Desiderat wird in der Geschichtswissenschaft indes die bisher weitgehend fehlende Verknüpfung eben dieser methodisch-theoretischen Konzeptionen mit empirischen Operationalisierungen betrachtet (Krebber/Roscher 2011 Steinbrecher 2012: 18). Diese empirische Umsetzung in der Sichtbarmachung des Tieres dürfte aber gerade die Stärke der Geschichtswissenschaften sein. Die »Wahl und Interpretation der Quellen«, in der sowohl das »Spurensuchen« wie auch das »Fährtenlesen« eingeübt werden (ebd.: 20), die den Tieren Kontur zu geben vermag, sollten somit als eine Hauptaufgabe für die historischen HAS gesehen werden.

T EIL 2: E INBLICKE IN HISTORISCHEN HAS

ZENTRALE

F RAGEN

DER

Tiere repräsentieren oder Tiere aktivieren? Zur Kritik des Repräsentationsansatzes Auch der Zugang zum Tier bedarf in den historischen Wissenschaften einer Erläuterung. Waren die ersten Pionierarbeiten zumeist ein Zugang über Repräsentationen von Tieren in der Geschichte – Tiere in Fabeln, auf Wappen, in Büchern –, versuchen sich insbesondere im deutschsprachigen Raum Historiker_innen von

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diesem »Repräsentationsansatz« zu lösen. Allerdings ist dies durchaus mit Problemen behaftet. »Writing the history of animals«, schrieb Dorothee Brantz, »demands negotiating our desire to recover the historical [...] lives of animals vis-à-vis the fact that all of the available records of those lives have been produced by humans. Whether such a history can be anything but representational is thus one of the key debates in the emerging field of animal studies« (Brantz 2010: 5).

Deshalb schlägt Pöppinghege vor, den »Repräsentationsbegriff allmählich wieder [zu rehabilitieren]« (Pöppinghege 2012: 7), und auch Erica Fudges Vorschlag für eine holistische Geschichtsschreibung befördert in erster Linie Erkenntnisse über die Selbstkonstituierung des Menschen, die über die Repräsentation von Tieren gewonnen werden sollen, in der es der Transformation vom materiellen zum rhetorischen und vom realen zum diskursiven Tier bedarf, um daraus historische Erkenntnisse ableiten zu können (Fudge 2002a: 10). Es geht hier also darum, ein umfassenderes »Verständnis von menschlicher Geschichte« (Krebber/Roscher 2011: 4) zu erlangen. Wie positionieren sich die historischen Wissenschaften also zum realen Tier? Nun, zumindest in der deutschsprachigen Tiergeschichtsschreibung ist es den Historiker_innen verstärkt ein Anliegen, von dem Tier als reiner Repräsentationsfläche abzuweichen, sich also von den »glücklosen Projektionen« zu trennen, und von wirklichen Tieren zu sprechen. Tieren, die wirklich gelebt haben und so aktiv bei der Gestaltung von Geschichte mitwirkten: »Auch wenn die realen und imaginierten Tiere eng miteinander verbunden und füreinander konstitutiv sind, geht es um Tiere, die tatsächlich ›da waren‹« (Krüger/Steinbrecher 2011: 169). Insbesondere ihre Nutzung durch den Menschen sei etwas, so betonte auch Fudge, was bar jeder Repräsentation liege, weshalb sie es als die genuine Pflicht von Historiker_innen ansieht, diese Nutzung zu beschreiben (Fudge 2002a: 7). Alles andere würde die Herrschaftsverhältnisse verschleiern und letztlich das Ausmaß der Folgen der menschlichen Herrschaft für das Tier bagatellisieren. Tiergeschichte zu schreiben bedeutet mithin eine »Beschäftigung mit der Logik von Ausbeutungs- und Machtverhältnissen, die Tiere und Menschen umfassen« (Krüger 2014: 89 Herv. i. O.). Diese Tiergeschichte dürfe sich jedoch nicht in der Beschreibung einer »Täter-Opfer-Beziehung« erschöpfen (Eitler 2009a: 93), sondern muss die Wechselbeziehungen klar herausstreichen. Gleichzeitig ist nicht zu ignorieren, und darauf hat Steve Baker hingewiesen, dass natürlich über die Repräsentation von Tieren auch Realitäten hergestellt werden (Baker 2001: xvii). Die Frage, was genau das Tier dann darstellt, ist indes weiterhin schwer zu

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beantworten und nicht nur einer naturwissenschaftlichen Debatte, sondern auch einer wissenschaftsphilosophischen unterworfen. Analog zur Ethnographie, die anerkennt, dass man nie wirklich in die Haut eines Anderen schlüpfen und daher der Subjektcharakter nicht eingenommen werden kann, ist Tiergeschichte als ein Versuch zu verstehen, Tiererfahrungen zugänglich zu machen, nicht jedoch sie selbst körperlich-historisch nachvollziehen zu können (Whitehead 2013: 341). Tatsächlich ist hiermit, neben der Angst der Anthropomorphisierung, die Voreingenommenheit zu erklären, Tieren Subjektstatus in der historischen Narration einzuräumen (Daston/Mitman 2006: 3). Dennoch werden immer mehr Versuche unternommen, unter Zuhilfenahme der Akteursperspektive reale Tiere quellennah zu beschreiben (vgl. z.B. DeJohn Anderson 2004; Roscher/Wöbse 2010). Das konkrete Vorgehen wird jedoch immer die empirische Rekonstruktion sowohl »auf der Ebene der Repräsentation als auch auf der Ebene der Produktion« (Eitler 2009a: 81) historisch perspektivieren. Konkret heißt das, dass die Quellen auf beiden Ebenen befragt werden müssen, um die »material-semiotic practices« (Haraway 2000: 399) auszuleuchten. Von daher ist der Dreischritt – Analyse der physisch-räumlichen Präsenz des Tieres und seiner »Aktionen«, Analyse der menschlichen Produktion des Tieres sowie Analyse seiner diskursiven Aufladung – in seiner Gänze zu vollziehen. Um an die jeweilige Wirkung des realen Tieres heranzukommen, bedarf es der Einbeziehung seiner diskursiven Aufladung (Roscher 2014), die auch Eitler und Möhring »für jegliche Form von Tiergeschichte [für] unumgänglich« halten (Eitler/Möhring 2008: 100). Diese müsse dann »in verstärkten Maße« mit den »nichtdiskursiven Praktiken« abgeglichen werden (ebd.). Auch wenn dieser Zugang, der eher die Produktion von Tieren ins Auge fasst, erst im Ansatz begriffen ist (Eitler 2009a: 80), so ist er doch einer, der einen spezifisch geschichtswissenschaftlichen Ansatz aufleuchten lässt. Der Bezug zu dem »textual, metaphor animal« (Burt 2001: 203) birgt nämlich in sich die Gefahr, wie Jonathan Burt festgehalten hat, das Tier als reines Zeichen misszuverstehen, das ausschließlich für menschliche Bezüge stände. Tatsächlich wurde der Ruf nach »einer Geschichte der realen (und nicht fiktiven, symbolischen oder medialen) Tiere« (Steinbrecher 2012: 12) zuletzt immer lauter, »um damit ein Bild vom Tier entstehen zu lassen, welches sich tradierter Dualismen und Dichotomien entzieht« (ebd.: 19). Tiere epochalisieren – Tiergeschichte und die Periodisierungen der Geschichte Ein zweites Thema, das die Tiergeschichte bewegt, ist das der richtigen zeitlichen Einordnung. Bis dato orientieren sich die Betrachtungen der Tiere in der

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Geschichte entlang der quasi normativen Einteilungen der Geschichte in Vorund Frühgeschichte, Altertum, Mittelalter, Frühe Neuzeit, Moderne und Zeitgeschichte, die dann jeweils noch in andere Epocheneinteilungen heruntergebrochen werden. Dies mag aber für Tiere nicht in selbem Maße gelten. Nimmt man dies als Maßstab, so müsste eventuell konstatiert werden, dass sich möglicherweise lediglich die Sichtweise von Menschen auf Tiere geändert hat, nicht aber das Tier selbst. Und auch hier ist wieder Erica Fudge zurate zu ziehen, die der Frage, ob die Renaissance auch für Hunde gelte, entgegenhielt, dass es hier neuer organisatorischer Strukturen bedürfe, um Hunde zu epochalisieren (Fudge 2002a: 6). Das bedeutet, dass Historiker_innen zunehmend nicht nur überprüfen wollen, inwieweit das Tier menschliches Leben geprägt und verändert hat, sondern auch der Mensch tierisches Leben und inwieweit er zur historischen Entwicklung des Tieres beigetragen hat. Tatsächlich sagt auch Kean, dass aus einer Perspektive, die die Folgen historischen Handelns für das Tier ernst nimmt, bisherige Epochenzuordnungen einer Bearbeitung unterzogen werden müssten. Man könne nicht einfach zusätzliches Wissen darüber, was Tieren zu bestimmten Zeiten widerfahren sei, in den Rahmen der grand narrative stellen. Vielmehr müsse genau hier gefragt werden, was es bedeutete, Mensch oder auch Tier zu dieser Zeit zu sein (Kean 2012: 65), und die epochale Rahmung darum zu entwickeln. Und auch Krüger streicht heraus, dass »heutige Tiere [ein] Resultat historischer Prozesse« sind (Krüger 2014: 90). Dies bedeutet, dass es Aufgabe der Historiker_innen ist, auch die zeitgenössischen Vorstellungen von Tieren zu hinterfragen (Freeman 2011: 156). Zudem müsse berücksichtigt werden, dass jede Geschichtsschreibung quasi von einem Prototyp des Menschen ausgehe, der gleiche Wahrnehmungswelten und somit auch ein gleiches Geschichtsverständnis habe (Fudge 2013: 23). Dem sei aber nicht so: Genau aber, wie der Mensch des 18. Jahrhunderts andere Erfahrungswelten und damit auch andere genealogische Perspektiven einnehme, müsse dies auch für Tiere angenommen werden. Historisch, nicht nur evolutionsbiologisch, sei das Tier der Frühen Neuzeit ein anderes als das der Moderne (ebd.: 24). Zudem gehen Historiker_innen davon aus, dass auch Tiere »Produkte der Geschichte« (Rangarajan 2013: 109) sind, d.h., dass sich das Tier den jeweiligen historischen Gegebenheiten angepasst hat, die sich vor allem in dem jeweiligen Verhältnis zum Menschen artikulieren, dieses Verhältnis damit gleichsam aber auch mitgestaltet hat. Auch Pascal Eitler führt aus, dass das, was das Tier darstellt, jeweils als Ergebnis eines Produktionsprozesses zu verstehen ist, der sowohl diskursive wie nichtdiskursive Formen annimmt (Eitler 2009a: 80; ders. 2012). Zudem betrachten die historischen Wissenschaften auch ideengeschichtliche Faktoren. So ist Shaw zuzustimmen, wenn er sagt: »There are two good reasons

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for asking whether animals have agency: first, they just might and second, people might once have thought they did« (Shaw 2013b: 151). In anderen Worten: Geschichte wurde auch dadurch bestimmt, dass Menschen in anderen historischen Epochen davon ausgingen, dass Tiere agency besitzen würden. Dieses Thema, das dem Handeln mit Tieren und an Tieren selbstverständlich eine historische sowie eine epochale Dimension beimisst und konstatiert, dass dies auch für das Handeln der Tiere gilt, wird die Agenda der tierhistorischen Forschung zukünftig mit bestimmen.

T EIL 3: V ERORTUNG DER

HISTORISCHEN

HAS

Tiergeschichte abgrenzen – Verortung im Wissenschaftsfeld »Tier« In den deutschsprachigen Geschichtswissenschaften verortet sich der tierorientierte Zugang am ehesten an den HAS, da man sich hiervon am besten noch einen historisch-kritischen Zugang verspricht, von dem aus sich materielle Folgen für Tiere historisch aus ihrer Beziehung zum Menschen ableiten lassen (Krebber/Roscher 2011: 4). Anders als Critical Animal Studies, die insbesondere von der Tierrechtsbewegung beeinflusst sind und deren erklärtes Ziel eine Forschung ist, die zur Befreiung der Tiere von menschlicher Herrschaft beiträgt, und die somit schon im Forschungsprozess die »kritische Intervention« (Pedersen 2011: 67) verlangen, möchten die HAS ergebnisoffen forschen können. Zwar liegt auch den HAS durchaus an einer Besserstellung tierischen Lebens im Sinne einer histoire engagé, doch beziehen sie dies zunächst auf eine Neubetrachtung des Tieres als Forschungsobjekt. Dabei möchten sie weiterhin alle vorhandenen Quellen, also etwa auch ethologische Zoobeobachtungen oder Veröffentlichungen über Tierexperimente unvoreingenommen nutzen können, ohne sie im Vorhinein aus programmatischen Gründen abzulehnen (Roscher 2014). Wie bereits ausgeführt, untersuchen die Tierhistoriker_innen zudem primär das Beziehungsgeflecht zwischen Mensch und Tier bzw. sehen Tiere als Teil eines gemeinsamen Kollektivs: Genauso wie also das Tier immer hineingedacht werden muss, muss auch der Mensch immer als Teil des Kollektivs Beachtung finden, und sei dies auf seine/ihre Rolle als Chronist_in der tierlichen Geschichte bezogen. Animal Studies, als nur auf das Tier zentriert, greifen deshalb zu kurz, um diesem Bezie-

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hungsnetz historisch auf die Spur zu kommen.3 Durch die gleichfalls als ungenügend klassifizierte Betrachtungsweise auf die Tiere als Objekt historischer Forschung, in der vor allem ihr Repräsentationscharakter herausgestrichen wird – so wie sie zumindest teilweise in der anglophonen Welt dominiert –, hat sich hieraus zudem ein speziell deutschsprachiger Weg einer »neuen Tiergeschichte« (Krüger 2014: 74) herausgebildet. Tiergeschichte anbinden – Forschungsfragen der Tiergeschichte und Anknüpfungen in den historischen Wissenschaften Einen nur annähernd vollständigen Überblick über die Literatur der historischen HAS zu erlangen, ist im Rahmen eines solchen Aufsatzes nicht möglich.4 Stattdessen sollen an dieser Stelle die dominierenden Forschungsthemen benannt werden und der damit verknüpfte methodische Zugriff Erwähnung finden. Eines dieser Forschungsfelder, das weiter oben bereits aufgegriffen wurde, ist die Beziehung des Menschen zu seinem Haustier. Die companion animals stellen vor allem durch die Nähe zu den Menschen, mit denen sie lebten, eine interessante Gruppe dar, und sie lassen sich auch aufgrund einer relativen Materialfülle an Quellen, die wegen dieser Nähe entstanden sind, ziemlich gut empirisch fassen (z.B. Kete 1994; Wischermann 2007). Die theoretischen Zugriffe befassen sich hier insbesondere mit dem Agens der Tiere und so werden u.a. Donna Haraways Ausführungen zum Agility-Sport herangezogen (Haraway 2003), um sie zu konzeptualisieren. Diese Sportart, bei der Hund und Mensch gemeinsam einen Parcours zu bewältigen haben, soll zeigen, dass nur in einem gemeinsamen Miteinander Aufgaben gemeistert werden können und dass derartige Prozesse, historisch betrachtet, wesentlich das Ergebnis performativ bewerkstelligter Aushandlungsprozesse sind, die sowohl kommunikationstheoretisch wie praxeologisch erfasst werden können. Als Ansprechpartner_innen fungieren in diesem Themenfeld vor allem gefühlsgeschichtliche wie raumgeschichtliche Perspektiven (vgl. Eitler 2011). Ein zweites großes Forschungsfeld ist die Erforschung der Domestizierung

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Mir ist durchaus bewusst, dass der Begriff der Animal Studies häufig als Synonym für HAS verwendet wird, und ich würde mich deshalb auch für eine klarere Benutzung der Terminologie aussprechen.

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Verwiesen sei hier auf die Literaturberichte von Eitler, Roscher und Palmeri, obwohl seit deren Erscheinen schon wieder eine Vielzahl neuer Publikationen auf dem Markt sind.

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bzw. der Behandlung domestizierter Großtiere, insbesondere von Rindern und Pferden. Der hier gewählte Ansatz zielt u.a. auf die Untersuchung der Leistungskraft dieser Tiere ab bzw. auf den Beitrag, den sie für die Errichtung der modernen Welt – insbesondere auch unter ökonomischen Gesichtspunkten – geleistet haben. Neben wirtschafts- und raumhistorischen Zugriffen, die hier ganz besonders auf die Akteur-Netzwerk-Theorie bauen können, werden in diesem Rahmen auch kolonialgeschichtliche Aspekte behandelt. So untersuchen sie den Eindruck, den die mitgebrachten Nutztiere der Kolonialist_innen in der »neuen« Welt hinterließen (vgl. DeJohn Anderson 2004). Kolonialgeschichte ist dann auch ein weiteres Feld, in dem sich die historischen HAS ganz explizit bewegen (vgl. Gissibl 2010; Krüger 2014). Dabei stehen neben der Besiedlung vor allem Fragen der Jagd und der Ausrottung der endemischen Fauna im Mittelpunkt, genauso wie die Untersuchung der Exotisierung fremder Tiere und ihrer Zurschaustellung in zoologischen Gärten (vgl. Rothfels 2002; Ash 2008; Roscher/Wöbse 2010). Erweitert wird hier der theoretische Zugriff um postkoloniale Theorien. Ebenfalls ein breit angelegtes Forschungsfeld, welches bereits Anklang in der Tiergeschichte gefunden hat, ist das eines raumgeschichtlichen Zugangs, wobei hier mikrohistorische Perspektivierungen zum Tragen kommen: Vor allem die Stadt, aber auch die Region sind dabei in den Fokus der Forschung gerückt (vgl. Steinbrecher 2008; Wischermann 2009 Pöppinghege 2012. Eine umwelthistorisch informierte Tiergeschichte nimmt diese Fragen der Auswirkung menschlicher Herrschaftsverhältnisse auf die Natur mit auf und in der Tat sind die Schnittmengen zwischen Tiergeschichte und Umweltgeschichte an diesem Punkt als gravierend zu bezeichnen: Die physische Präsenz, die sich mit dem Stofflichen befasst und sich auch auf die der materiellen Überreste der Tiere erstreckt, firmiert hier als ein wichtiges Forschungsparadigma. Umweltgeschichtliche Ansätze widmen sich zudem eher noch den schwer zu individualisierenden Tieren wie Fischen oder Insekten, die nach wie vor eine der großen Herausforderungen für Tierhistoriker_innen darstellen.5 Sozialhistorische und politikgeschichtliche Zugriffe nehmen sich zudem der Geschichte des organisierten Tierschutzes an, das insofern ein wichtiges Forschungsfeld bleibt, als sich hierin die verschiedenen Vorstellungen von Mensch und Tier ganz besonders gut in ihrer jeweiligen

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Allerdings zeigen sich auch hier durchaus positive Entwicklungen. In der bei Reaktion Books erscheinenden Animal-Serie, die zugegebenermaßen sehr stark interdisziplinär ausgerichtet ist und sich einzelner Tierarten und ihrer historisch-kulturellen Wirkung annimmt, finden sich 2013 unter 66 Bänden neben den erwartungsgemäß dominierenden Säugetieren immerhin sechs Bände zu Insekten, sieben zu Fischen, sechs zu Amphibien und ganze 14 zu Vögeln.

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Historizität ablesen lassen (vgl. Roscher 2009a; dies. 2014). Zudem werden hierunter Fragen nach geschlechterspezifischen Beziehungen zum Tier subsumiert. Ideengeschichtliche Annäherungen als Forschungsgegenstand der Tiergeschichte nehmen ebenfalls einen breiten Raum ein, da es hier gelingt, epochenübergreifende Linien und Genealogien aufzuzeigen. Ähnliches lässt sich über eine wissenschaftshistorische Tiergeschichte sagen. Das Tier als Symbolfigur wurde vor allem für das Mittelalter und den Übergang zur Neuzeit zu einem relevanten Themenfeld (vgl. Steinbrecher 2009: 270) und profitiert hier auch von kulturwissenschaftlichen Zugängen. Während Tiergeschichte letztlich an nahezu alle historischen Subdisziplinen anschlussfähig ist (Krüger/Steinbrecher/ Wischermann: 2014), sind es einige, die bereits vor dem animal turn Tiere ganz selbstverständlich behandelt haben wie die Umweltgeschichte, die Militärgeschichte oder die Medizingeschichte (Krüger/Steinbrecher 2011: 170). Deshalb versteht man die Tiergeschichte auch nicht unbedingt als »eine neue Bindestrichgeschichte« (Bellanger/Hürlimann/Steinbrecher. 2008: 8) bzw. als eine »Art von ›Sondergeschichte‹« (Eitler/Möhring 2008: 102), sondern weist deutlich auf die Anschlussfähigkeit der Tiergeschichte an andere Felder der Geschichtswissenschaften hin. Wie divers die historischen Zugriffe sein können, zeigt beispielsweise der sechsteilige Sammelband A Cultural History of Animals, auch wenn hierin die einzelnen Aufsätze zumeist den heutigen Ansprüchen einer Tiergeschichte jenseits der reinen Repräsentation wahrscheinlich nicht genügen. Dennoch beweist dies, dass es die Variabilität der historischen Zugriffe schräg zu den historischen Epochen ist, die letztendlich für die Anerkennung in der breiteren historischen Wissenschaftslandschaft sorgt bzw. sorgen wird. Tiergeschichte festigen – Institutionalisierung der Tiergeschichte: ein Fazit Die oben benannten Themen bilden auch Forschungsschwerpunkte im deutschsprachigen Raum, wo ab etwa der Mitte der ersten Dekade des neuen Jahrtausends sich eine genuine, von dem Impuls und dem Anliegen der HAS beförderte Forschung etablieren konnte. Zahlreiche deutschsprachige geschichtswissenschaftliche Journale haben dem Thema seitdem eine Ausgabe gewidmet.6 Es gibt einige Sammelbände, die, wenn auch nicht unbedingt auf Tiergeschichte fokus-

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Vgl. die folgenden Themenhefte: Bellanger/Hürlimann/Steinbrecher (2008); Wischermann (2009); Krebber/Roscher (2011); Steinbrecher/Krüger (2011); Seibring (2012); Pöppinghege (2012).

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siert, diese jedoch als einen gewichtigen Teil der HAS insgesamt anerkennen (vgl. Ash 2008; Brantz/Mauch 2010; Chimaira 2011; Krüger/Steinbrecher/ Wischermann: 2014). An zahlreichen Universitäten wurde damit begonnen, Lehrveranstaltungen zum Thema anzubieten. Im Juli 2011 fanden sich in Konstanz deutschsprachige Historiker_innen zusammen, um das Forum »Tiere und Geschichte« zu begründen.7 An der Universität Kassel wurde 2014 die erste Juniorprofessur zur »Sozial- und Kulturgeschichte unter der besonderen Berücksichtigung des Tier-Mensch-Verhältnisses« eingerichtet. Gleichfalls wird sich 2014 erstmals der Deutsche Historikertag, der größte geisteswissenschaftliche Fachkongress Europas, mit einer Sektion dem Tierthema widmen. Dies darf durchaus als ein Anerkennungsangebot von der historischen Zunft gewertet werden. Mit dieser Institutionalisierung der Tiergeschichte, nicht nur in den HAS, sondern auch innerhalb des weiteren Feldes der Geschichtswissenschaften, hat sich gezeigt, dass sich über die Befassung mit dem Tier eine »fundamentale Erweiterung des gesamten Feldes der Geschichtswissenschaft« (Steinbrecher 2009: 283) ergeben hat. Damit wurde auch der Weg bereitet, einer Geschichte Anerkennung zu verschaffen, die versucht, über die Repräsentation der Tiere hinauszugehen, sie als Subjekte von Geschichte zu erkennen und damit die Brücke zu schlagen von einer Geschichte mit Tieren zu einer Tiergeschichte, die sich sowohl innerhalb der historischen Disziplin als auch in einem interdisziplinären Rahmen verorten kann.

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7

Verwiesen sei hier auf den Bericht zur Gründungsinitiative Tier und Geschichte, vgl. online unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=16500 vom 29.10. 2014.

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Kunstgeschichte Disziplinäre Wachstumsprognosen einer marginalisierten Themenstellung J ESSICA U LLRICH /F RIEDRICH W ELTZIEN

D ER H UMAN -ANIMAL -S TUDIES -D ISKURS K UNSTGESCHICHTE

IN DER

Die von Carolyn Christov-Bakargiev kuratierte documenta XIII, die im Jahr 2012 in Kassel stattfand, zeigte einen Schwerpunkt auf Kunst, die sich mit der Beziehung zwischen Mensch und Tier und dem Verhältnis von Tier und Kunst beschäftigte. Zu besonderer Berühmtheit gelangten dort beispielsweise die beiden spanischen Podenco-Hunde Human und Senor. In der Garteninstallation »Untilled« des Franzosen Pierre Huyghe streiften die beiden Tiere in den Karlsauen umher und hatten keine andere Aufgabe, als eine Hundeperspektive in die Überblicksschau zum globalen Stand der zeitgenössischen Kunst einzubringen. Ganz im Sinne der Gesamtkonzeption der documenta sollten sie zum Nachdenken anregen über alternative emanzipatorische Formen der Koexistenz von Arten und über die Möglichkeit einer weniger anthropozentrisch ausgerichteten Welt. In einer weiteren Arbeit stellte der amerikanische Künstler Brian Jungen einen Agility-Parcours für Hunde bereit, Araya Rasdjarmrearnsook zeigte ihr persönliches Engagement für Straßenhunde im Rahmen eines Kunstwerks, die Künstlerin Kristina Buch züchtete Schmetterlinge und Tue Greenfort präsentierte in seinem von Donna Haraway inspirierten »The Worldly House« ein ganzes Archiv von künstlerischem Material, Texten und Videos zur Mensch-Tier-Beziehung in den Künsten. In Entsprechung zu diesem Schwerpunkt richtete sich auch das kunstpädagogische Vermittlungskonzept der documenta nicht nur an menschliche Besucher_innen, sondern bot u.a. sogenannte Multispecies-Führungen für Menschen mit Hunden an – u.a. mit kaniden Führer_innen.

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Da die documenta nicht nur den Anspruch erhebt, relevante Strömungen der zeitgenössischen Kunst zu reflektieren, sondern erfahrungsgemäß auch wichtige Impulse für die weitere Entwicklung im globalen Kontext setzt, darf diese kuratorische Entscheidung als ein gewichtiges Zeichen gewertet werden. Die Fragestellung der Human-Animal Studies (HAS) ist ohne Zweifel in der zeitgenössischen Kunst angekommen, wie auch zahlreiche weitere Ausstellungen im internationalen Kunstbetrieb seit der Jahrtausendwende belegen (vgl. Abschnitt 3). Im Vergleich dazu zeigt die wissenschaftliche Kunstgeschichte dieser Fragestellung gegenüber ein nur langsam wachsendes Interesse. Die quantitative Leistung der Wissenschaft sowohl in Forschung und Lehre als auch hinsichtlich der Publikationslage wird der künstlerischen Produktion nicht gerecht. Im universitären Diskurs zählen die HAS eindeutig zu den marginalen Bereichen, die an keiner Hochschule im europäischen Raum über Denominationen oder Curricular verankert, vielerorts nicht behandelt oder gar unbekannt sind, zumeist nicht ernst genommen, als sentimental belächelt oder gelegentlich dezidiert abgelehnt werden. In der Kunstgeschichte dominieren nach wie vor offenbar – oftmals unausgesprochen oder unreflektiert – anthropologische Modelle der Kulturtheorie, die den Menschen für das exklusiv kulturfähige Wesen halten und insofern künstlerische und kreative Leistungen per definitionem dem Tier nicht zukommen können. In Betrachtung der Kunsttheorie lässt sich allerdings feststellen, dass zumindest seit der Renaissance in der Aufklärung, in romantischen, modernen und avantgardistischen Theorien dieser Bezug durchaus komplexer gedacht worden ist. Schon Giorgio Vasari beispielsweise lobt in seinen Viten, dem erstmals 1550 erschienenen Gründungswerk der akademischen Kunstgeschichtsschreibung, besonders die Tierbilder und Mensch-Tier-Hybriden, die Piero di Cosimo oder Leonardo da Vinci erfunden hatten. Darüber hinaus wird eine Animalität des Künstlers entworfen und als Qualität gelobt, die der Kreativität durchaus zuträglich sein kann. So heißt es dort etwa über Piero: »[E]r lebte mehr wie ein Tier als wie ein Mensch. […] Er hatte eine Freude daran, alles so wild zu sehen, wie er selbst war. Er pflegte zu sagen, man müsse alles der Natur überlassen und nichts hinzutun. Er ging oft aus, um Tiere, Kräuter oder irgendwelche Seltsamkeiten, die die Natur aus Laune oder Zufall hervorbringt, zu betrachten« (Vasari 1904: 185).

Dieser Topos der Künstlerlegende hält sich bis in die Bohemienkultur der Avantgarden. Ein anders geartetes Beispiel findet sich in einer Auseinandersetzung zwischen dem romantischen Kunsttheoretiker August Wilhelm Schlegel mit der aufklärerischen Instanz philosophischer Ästhetik, Immanuel Kant. In der Frage, wie es um das künstlerische Genie bestellt sei, erklärt der Romantiker dem Auf-

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klärer in einer 1804 gehaltenen Vorlesung, dass nach dessen Definition auch den Tierprodukten ein Kunststatus einzuräumen sei: »Seine [Kants] Definition kann fast ohne Veränderung auf die Kunsttriebe der Thiere angewandt werden: in den Erzeugnissen dieser giebt die Natur der Kunst wirklich die Regel; die Regelmäßigkeit der Bienenzellen, der Biberwohnungen, der Cocons von Seidenwürmern ist nicht das Werk dieser Thiere, als freythätig gedacht, sondern der Natur in ihnen.« (Schlegel 1989: 242).

Wenn die Genialität der Kunstschaffenden eine nicht bewusste, nicht kalkulierbare Dimension der Schöpferkraft darstellt, die sich einer Naturgesetzmäßigkeit und nicht einer individuellen Willkürlichkeit verdankt, wie könne man dann animalische Produktionen von menschlichen unterscheiden, außer durch Willensfreiheit? Der Vergleich zwischen Tier und Künstler_in funktioniert demnach doppelseitig: Das Verständnis des Tieres als eines rein instinktgesteuerten Automaten wird hinterfragt und die Option freier Entscheidung auch für nichtmenschliche Wesen in Betracht gezogen, und gleichzeitig die künstlerische Produktion als eine nicht ausschließlich auf einem freien Willen beruhende Tätigkeit erkannt, die viele Entscheidungen instinktiv und intuitiv fällt. Just in der Beschäftigung mit dem scheinbar exklusiv menschlichen Bereich der Kunst fällt der Philosophie auf, dass eine absolute Scheidung zwischen Mensch und Tier nicht haltbar ist. Derartige Diskurse über das Tier-Mensch-Verhältnis im Hinblick auf ästhetische und kunsttheoretische Fragestellungen werden in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts aufgenommen und weitergeführt. Im Surrealismus beispielsweise werden antirationale kreative Strategien erkundet, die sich auch verschiedene Tiere zum Vorbild nehmen und als animalisch begriffene Energien als einen positiv besetzten Antrieb nutzen, etwa das sexuelle Begehren oder das Ausscheiden von Abjekten.1 Darauf aufbauend wird im Poststrukturalismus ganz explizit in dekonstruktivistischen, postmodernen, posthumanistischen und in weiteren Formulierungen dem Animalischen eine wesentliche Position innerhalb der Kunsttheorie eingeräumt. Die Poststrukturalisten Gilles Deleuze und Félix Guattari beschreiben die Kunstproduktion als einen Modus des »Tierwerdens« (Deleuze/Guattari 1997: 327) und die Körperlichkeit der Darstellung als Aspekt der Animalität: »Anstatt durch formale Korrespondenzen wird die Malerei Bacons durch eine Zone der Ununterscheidbarkeit, Unentscheidbarkeit zwischen Mensch und Tier

1

Vgl. zum Surrealismus z.B. Weltzien (2012). Aufbauend auf den Begriff der Abjektion bei Kristeva (1980) werden darunter jene Dinge begriffen, die aus dem Schönheitskanon aussortiert werden, etwa weil sie Abscheu oder Ekel hervorrufen.

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konstituiert, der Mensch wird Tier, aber er wird es nicht, ohne dass das Tier zugleich Geist wird.« (Deleuze 1995: 19). Der Philosoph Jacques Derrida entwickelt ebenfalls Gedanken zur Beziehung zwischen Menschen und Tieren in ästhetischer Hinsicht (Derrida 1999: 251-302), womit er zugleich auch den Posthumanismus mit Autor_innen wie Donna Haraway oder Cary Wolfe stark beeinflusst hat (Haraway 2008).2 Bereits in antiken und mittelalterlichen sowie in außereuropäischen Theorien der Phantasie und der schöpferischen Produktion (auch wenn diese keinen ausgewiesenen Kunstbegriff verwenden) ist das Tier nicht durchgängig als Gegenmodell menschlicher Tätigkeit, sondern häufig als kooperativer Partner, inspirierendes Gegenüber oder auch nachahmenswerte Überlegenheit (bis hin zu bionischen Motiven) ausgewiesen. Auch als Kunstrichter tauchen Tiere immer wieder auf. In der von Plinius dem Älteren im 35. Buch seiner naturalis historia geschilderten Episode des Kunststreites zwischen den Malern Zeuxis und Parrhasios, während dessen Vögel die von Zeuxis gemalten Trauben aufpicken wollten, bis zu dem 1889 von Gabriel von Max angefertigten Ölgemälde »Affen als Kunstrichter«, heute in der Neuen Pinakothek in München, findet sich dieses Motiv. Tatsächlich existieren eine ganze Reihe von Arbeiten, in denen Tiere explizit als Koautoren fungieren, wie etwa William Wegmans Videos der 1970er Jahre, in denen Mann und Hund gemeinsam vor der Kamera auftreten, aufeinander reagieren und so Werke mit einer wiedererkennbaren »Rudelästhetik« schaffen, die in einer anderen Tier-Mensch-Konstellation so nicht möglich gewesen wären.3 Diese Tradition wurde von Joseph Beuys initiiert, der 1975 für seine Aktion »I like America and America likes me« in der New Yorker Galerie René Block mehrere Tage mit einem Kojoten hinter Gittern verbrachte und laut eigener Aussage sein spezifisches performatives Agieren immer nach den Vorgaben des Tieres entwickelte (Tisdall 1976). Bei genauer Beobachtung der Aktion, die als Videomitschnitt existiert, könnte man jedoch argumentieren, dass sich der halbzahme Kojote in mindestens ebensolchem Maße auf seinen menschlichen Zimmergenossen einstellte. Beuys ist also bei der Realisierung seiner Performance, die zu seinen Hauptwerken zählt, auf die Mitwirkung eines nichtmenschlichen Akteurs angewiesen, und das ästhetisch rezipierbare Ergebnis hängt in ebenso hohem Maße von den Handlungen des Menschen wie des Kaniden ab.

2

Weitere Literatur, die ebenfalls kunsttheoretische oder kunstphilosophische Aspekte in dieser Hinsicht enthält, bieten u.a.: Atterton/Calarco (2005); Kalof/Fitzgerald (2007); Rainwater/Pollack (2005); Calarco (2008); Lemm (2009).

3

Susan McHugh (2001) hat den Begriff der pack aesthetics geprägt.

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Eine andere, heute wieder sehr beliebte künstlerische Strategie erschöpft sich im bloßen Ausstellen von Tieren im Ausstellungsraum. Hier kann Jannis Kounellis‫ ތ‬Aktion »Untitled (12 Horses)« von 1969 als Gründungsakt einer Kunstform genannt werden, die sich z.B. mit dem »Haus für Schweine und Menschen«, 1997 von Rosemarie Trockel und Carsten Höller auf der documenta X gezeigt, und Carsten Höllers Rentierausstellung Soma 2010 im Hamburger Bahnhof in Berlin fortsetzt. Hier besteht die künstlerische Setzung in der Zurschaustellung von lebendigen Tieren in einem Umfeld, in dem sonst keine Tiere erwartet werden. Zuweilen erschöpfen sich solche Darbietungen im Überraschungseffekt, im besten Fall wecken sie ein Bewusstsein für die verschiedenen ästhetischen und ethischen Implikationen der leiblichen Anwesenheit eines lebendigen Wesens und damit für dessen intrinsischen Wert. Verhandelt wird in solchen Arbeiten die (Un-)Unterscheidbarkeit von Kunst und Alltag oder Natur und Kultur. Eine wieder andere Richtung, die weder als Kunst mit Tieren bezeichnet werden kann, noch mit Tieren als Kunst argumentiert, ist die Produktion von Kunst für Tiere. Zunächst sind hier keine anwaltschaftlich motivierten Kunstwerke gemeint, die in ihrer Motivik oder Aussage für Tiere Partei ergreifen, sondern tatsächlich Kunstwerke, die von Tieren rezipiert bzw. genutzt werden sollen. Das können, vor allem in jüngster Zeit, beispielsweise bewohnbare Objekte mit starken Anklängen an angewandte Kunst und Design sein wie etwa Jeremy Dellers »Bat House Project« von 2006 oder auch Filme wie Rachel Mayeris »Primate Cinema. Apesas Family« von 2011. Dieser Film wurde von der Künstlerin unter Mitwirkung von Ethologen entwickelt und dann Affen in einem Zoo zu Unterhaltungszwecken vorgespielt. So betrachtet findet innerhalb der akademischen Kunstgeschichte eine Unterbewertung der HAS im Hinblick auf die Bedeutung innerhalb der Kunstpraxis, aber auch im Hinblick auf Kunsttheorie und Kunstphilosophie statt.

K UNSTHISTORISCHE F RAGESTELLUNGEN IN DER B ERÜCKSICHTIGUNG NICHTMENSCHLICHER T IERE Als Motiv spielen Tiere schon seit Anbeginn des menschlichen Kunstschaffens eine zentrale Rolle. Die ältesten künstlerischen Zeugnisse menschlicher Produktivität und die frühesten erhaltenen Artefakte des Neolithikums, die bis zu 40.000 Jahre alt sind, bieten in überragender Mehrheit bildliche Darstellungen von Tieren. Innerhalb steinzeitlicher Kulturen in Afrika, Asien und Europa werden in Malerei und Schnitzerei vor allem Tiere dargestellt, entweder erhoffte Jagdbeute,

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gefürchtete Raubtiere oder magische Wesen, nur relativ selten menschliche Figuren. Ungeachtet der archäologischen Zeugnisse rangiert im historischen Bereich der Kunstgeschichte in der klassischen Hierarchie der Kunstgattungen die Tiermalerei und Tierplastik (bei aller historischen und interkulturellen Bandbreite) gleichwohl auf einem niederen Rang, der innerhalb der Salonmalerei etwa dem des Stilllebens entspricht. Repräsentierte Tiere in der Kunst werden seit der Antike traditionellerweise als ikonographische Zeichen gelesen und primär auf ihren symbolischen, heraldischen oder emblematischen Wert reduziert. Tierdarstellungen repräsentieren zumeist keine Individuen, sondern ihre Spezies, die wiederum gleichnishaft oder illustrativ für so unterschiedliche Werte wie Treue, Königswürde oder Wollust einsteht. Schon in antiker bildender Kunst wie auch in Literatur und Poesie, die sie häufig illustrierend ins Bild setzt, funktionieren Tiere in allegorischen Darstellungen als Sinnbilder. Im christlichen Mittelalter und zunehmend in der Renaissance finden sich emblematische Tierdarstellungen, wie etwa der Pelikan, der sich mit dem Schnabel die eigene Brust aufreißt, um mit seinem Blut die Küken zu füttern. Im Emblem wird hierin die selbstlose Liebe veranschaulicht, auch wenn sie sich auf die vermeintlich naturkundliche Illustration eines von Aristoteles behaupteten biologischen Tatbestandes berufen mag. Die Fabel als Bildmotiv in Illustration und Bilderzählung arbeitet ähnlich, indem hier Tiere zur Personifikation bestimmter menschlicher Eigenschaften genutzt werden, etwa der Fuchs für die Listigkeit, die Eule für Weisheit oder der Esel für Leichtgläubigkeit oder Starrsinnigkeit. Tiere als Personifikationen bleiben in der Tradition der Bildergeschichte bis in den modernen Comic und den Animationsfilm bedeutsam. Von Walt Disney bis zu Art Spiegelman wird dieses Stilmittel genutzt. Im japanischen Anime erscheint darüber hinaus die Hybridisierung von Tier- und Menschenfiguren als nicht zuletzt erotischer Stimulus. Die Verwendung von Tieren in der Heraldik, auf Wappen und Hoheitszeichen, vertraut auf ausgebildete Sehgewohnheiten, die mit einem Löwen, einem Adler oder einem steigenden Pferd überlegene Körperkraft, scharfäugige sensorische Fähigkeiten oder unbezähmbare Willensstärke assoziieren. Tierdarstellungen können gleichermaßen Göttliches und Dämonisches verkörpern: die Taube als Symbol des Heiligen Geistes und die Christusfiguration als Hirsch oder die Schlange als teuflische Inkarnation. Sie bilden Konzeptionen ab, die den menschlichen Vermögen entweder überlegen sind oder auf einer niedrigeren Stufe stehen. Tiere in der Kunst können das Humane unterstreichen oder Chiffren für das Naturhafte im Menschen, das Fremde, Erschreckende, Grausame, Vernunft- und Kulturlose abgeben. Insofern dient die mimetische Wiedergabe von Tieren oder die abstrakte Anmutung des Tierlichen in der bildenden Kunst

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sowohl der Versinnbildlichung ausgesprochen menschlicher Werte und Verhaltensmaßstäbe als auch im Gegensatz dazu der Sichtbarmachung des Außermenschlichen, Nicht- oder Unmenschlichen, des Über- oder Untermenschlichen. Gerade Chimären, zusammengesetzte Wesen wie Sphingen, Kentauren oder Sirenen, Phantasietiere wie Einhörner oder Drachen, Teufelsgestalten mit Fledermausflügeln, Stierhörnern, Ziegenhufen, Reißzähnen oder Eidechsenschwänzen, all jene Figurationen der Unreinheit und der Übertretung von Speziesgrenzen, werden in der abendländischen Kultur zumeist als Marker der Gefahr, des Unheils, kurz: des Bösen eingesetzt. Die beinlosen Tiere (im Gegensatz zu solchen, die schwimmen, laufen oder fliegen können) und jene, die unterirdisch leben oder nachtaktiv sind, stehen in der antiken und christlichen Vorstellung der Sphäre des Höllischen stets am nächsten: Schlangen und Kröten, Echsen, Salamander, Würmer und andere Aasfresser, Mäuse und Ratten, Fliegen, Motten und Fledermäuse: ein Bestiarium, wie es in Francesco Goyas Radierung »El sueño de la razón produce monstruos« von 1799 auftaucht. In Weltkarten der Antike stehen merkwürdige Tiere an den Grenzen der bekannten Welt für das Fremde und Unzivilisierte. Allerhand Seeungeheuer, die von Narwalen oder Riesenkraken inspiriert sein mögen, treten hier in Nachbarschaft zu Tierfigurationen aus außereuropäischen Kulturen, etwa dem asiatischen Drachen, dem präkolumbianischen Quetzalcoatl oder afrikanischen Plastiken. In diesem Kontext lässt sich die kunstwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Tier auch als Ansatzpunkt einer Kritik eurozentrischer Perspektivierung nutzen. In der Moderne liest Joseph Beuys Tiere als Träger bestimmter Energiefunktionen und Vermittler zwischen Menschen und Göttern. Paul Klee schafft sich mit der Vogelfigur Loplop, die immer wieder in seinen Bildern auftaucht, ein spirituelles Alter Ego, während für Louise Bourgeois die Spinne als Symbol der Mutter fungiert. Tiere dienen als universell gültige Referenz, wissenschaftliche Beglaubigung oder fabelartiger Idealtypus, als Abschreckung rohen, ungebildeten, triebgesteuerten Verhaltens oder Vorbild unverbildeter Natürlichkeit. Tierporträts, die ein Individuum darstellen, existieren zwar, müssen aber als Ausnahme gelten – so etwa Pferde- und Hundeporträts beispielsweise bei George Stubbs oder Edward Landseer innerhalb der englischen Maltradition oder Beispiele künstlerischer Tierfotografie u.a. bei William Wegman oder Britta Jaschinski. Als eigenständige Lebewesen mit einem intrinsischen Wert werden sie selten wahrgenommen, selbst dann nicht, wenn u.a. Künstler_innenäußerungen, Namensbeischriften oder Inszenierungsformen darauf schließen lassen, dass in der Darstellung ein spezifisches Tier und nicht ein bloßes Gattungsexemplar gemeint ist. Steve Baker weist z.B. darauf hin, dass David Hockneys Zusatz »These two little creatures are my friends« unter einem Gemälde seiner Dackel vor allem

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für den Künstler, weniger aber für die/den Betrachter_in Bedeutung hat (Baker 2000: 179). Es gibt aber dennoch Ausnahmetiere, die als Individuen Eingang in die Kunstgeschichte gefunden haben wie etwa Picassos Dackel Lump, der zur Hauptfigur nicht nur von Kunstwerken, sondern auch von Monographien geworden ist (Duncan 2006). Lump bestätigt aber ähnlich wie William Wegmans Weimaraner Man Ray eher die Regel, als dass die individualisierte Rezeption von Tieren in der Kunstgeschichte als üblich bezeichnet werden kann. Hier ist, unter Vorbehalt der Pauschalisierung, ein grundlegender Unterschied zu den Sehgewohnheiten und Darstellungspraktiken im Hinblick auf die menschliche Figuration zu konstatieren, die heute im westlichen Kulturkreis umgekehrt zunächst und zumeist als Individuum begriffen wird und erst sekundär als Repräsentant einer Funktion oder einer Bedeutung außerhalb der bestimmten einzelnen Person. Freilich ist auch die Repräsentierung des menschlichen Körpers einer symbolischen oder emblematischen Überschreibung gegenüber offen, wie beispielsweise das Bild der Frau, das Bild des Kindes, das Bild des Wilden und dergleichen mehr deutlich macht (in Personifikationen, Verkörperungen, allegorischen Darstellungen und Ähnlichem). Die Berücksichtigung nichtmenschlicher Tiere bzw. des Mensch-TierVerhältnisses in der Kunstgeschichte kann eine Sensibilität für Mechanismen der Repräsentation und Funktionalisierung erzeugen, für die eine anthropozentrische Perspektive blind sein muss. Sie führt damit methodisch, theoretisch, inhaltlich und politisch emanzipatorische Ansätze weiter, wie sie seit mehreren Dezennien schon durch feministische, queer- und gendertheoretische oder postkolonialistische Ansätze in die Kunstgeschichte eingebracht wurden. Unter dem Eindruck von menscheninduzierten ökologischen Veränderungen erzeugt diese Berücksichtigung auch eine neue Dringlichkeit in der Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Natur, der Betonung von Interdependenzen und gegenseitiger Abhängigkeit anstelle von anthropologischer Dominanz und Hegemonie, von Machtverhältnissen, die über den sozialen Raum im Sinne zwischenmenschlicher Beziehungen hinausgehen. Im Hinblick auf rassistische Ideologien, die eine Animalisierung des Menschen zu propagandistischen Zwecken systematisch ausnutzte, wie es vielleicht zuerst der jüdische Philologe Victor Klemperer in aller Klarheit erkannt hat, liegt hier allerdings auch ein gefährliches antidemokratisches Potential verborgen (Klemperer 1998: 182). Die Entmenschlichung von militärischen Feind_innen und politischen Gegner_innen dient dabei immer wieder auch einer Tötungslegitimation oder der Argumentation zum Entzug von humanitären Grundrechten. Gerade im Hinblick auf eurozentristische Strategeme kann und muss die Kunstgeschichte die HAS auf heikle Implikationen hinweisen. Die Perforierung der Grenze zwischen den Definitionen von Mensch und Tier darf nicht

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zu einer Preisgabe von Errungenschaften und Erkenntnissen etwa postkolonialer Forschung führen, die die Kunst- und Kulturwissenschaften bislang erbracht haben. Gleichwohl erhalten in den HAS produktionsästhetische Fragestellungen der kunstwissenschaftlichen Forschung Nachdruck, die sich mit den Bedingungen der Herstellung von Kunst beschäftigen, insbesondere sofern Stichworte des Intuitiven, Unbewussten, des Instinktiven und Unwillentlichen, des Wilden oder Unkonventionellen, des Nichtzweck- oder -zielgerichteten und andere rationalitätskritische Perspektivierungen von Kunst angesprochen sind. Ein Beispiel hierfür bietet eine Anekdote, die von Katsushika Hokusai überliefert ist, dem 1849 verstorbenen Meister des japanischen Farbholzschnitts, des Ukio-e: »Eines Tages wurde [Hokusai] vom Shogun, dem stellvertretenden Machthaber des Kaisers, aufgefordert, vor seinen Augen ein Bild zu malen. Als er den großen Saal des Shoguns betrat, der voll von Fürsten und Hofherren war, ließ er einen großen Papierballen kommen, den er auf dem Boden ausbreitete. Dann nahm er eine Bürste mit blauem Farbstoff in die Hand und zog einen breiten Strich auf dem Papier. Nun holte er einen Hahn, dessen Füße in rote Farbe getaucht waren und jagte ihn über den blauen Streifen. Und Hokusai sagte zum Shogun: ›Das ist ein Bild vom Tatsuta-Fluss mit Herbstlaub, Euer Hoheit [...]‹« (Juyo 1937, o.P.).

In der Erforschung künstlerischer Arbeitsprozesse verhilft der Fokus auf tierliche Helfer dazu, alternative Konzepte zu einem planvollen, rationalen Vorgehen zu denken. Kooperative Strategien der Kunstproduktion, die ein Werk nicht nur als Produkt einer einzigen Hand begreifen, geraten dabei ebenso in den Fokus wie rezeptionsästhetische und wahrnehmungstheoretische Fragen. Die Bedeutung einer Umwertung der Hierarchie der Sinne (der Geschmacksoder der Gleichgewichtssinn sind für die Herstellung von Kunst unter Umständen ebenso bedeutsam wie die sogenannten höheren Sinne von Gesicht und Gehör), einer individuellen Ausstattung des Sinnenapparates oder gar das Fehlen oder Hinzutreten völlig unterschiedlicher Sensibilitätsspektren (Geruchssensorien, Farbrezeptoren, Ultraschallgehör und dergleichen) oder Sinnesorganen (Wahrnehmung von elektrischen Feldern, Erdmagnetismus etc.) tritt hervor. So ließ etwa der deutsche Künstler Wolf Kahlen 1976 Hunde in seinem »Dog Territory« in einer Warschauer Galerie eine Duftinstallation erschnüffeln. Aktuell experimentieren David Pye und Lars Chittka mit Bienen, denen sie berühmte Gemälde von Blumen wie van Goghs Sonnenblumen vorlegen, um die ästhetischen Präferenzen der Insekten zu erforschen.

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Nicht zuletzt in produktions- und rezeptionsästhetischen Fragen kann innerhalb der HAS die Verknüpfung von geistes- und naturwissenschaftlichen Forschungen neu angegangen werden. Interdisziplinarität erscheint dabei als Herausforderung und notwendiger Anspruch. In diesem Zusammenhang erhält zudem der Ansatz des artistic research zusätzliche Strahlkraft – der Vorstellung, dass auch künstlerisches Arbeiten eine Form der Forschung und der Wissensgenerierung darstellt. Tatsächlich arbeiten viele Künstler_innen mit Naturwissenschaftler_innen zusammen, um ihre Werke zu entwickeln: Bärbel Rothhaar etwa, die Bienenvölker heranzieht, um Wachsskulpturen zu generieren, kooperiert mit Entomolog_innen und Imker_innen, und Rainer Maria Matysik recherchiert ethologische Fachliteratur und Forschungsfilme und interviewt Primatolog_innen, um Videoarbeiten vorzubereiten, die das Verhältnis Mensch-Affe thematisieren. Die deutlich ethische Färbung der Perspektive der HAS stellt in der Kunstgeschichte zudem die alte Frage nach den Grenzen von Autonomie und Kunstfreiheit auf neue Weise. Die umfassende Verantwortung künstlerischer Tätigkeit wird beispielsweise angesichts des Einbezugs lebender oder toter Tiere in Kunstwerken virulent. Ein Feld, das in den letzten Jahren eine wahre Konjunktur erlebt, ist die Produktion, Ausstellung und Analyse von Tierpräparaten in der Gegenwartskunst (Lange-Berndt 2009; Poliquin 2012). Zu den bekanntesten Künstler_innen, die sich in weiten Teilen ihres Werks, wenn nicht sogar ausschließlich, mit Taxidermie, Nasspräparaten oder anderen Techniken der Haltbarmachung von Tierkörpern beschäftigen, gehören u.a. Wim Delvoye, Thomas Grünfeld, Damien Hirst, Iris Schieferstein, Deborah Sengl oder Angela Singer. Die Arbeiten befinden sich oft an der Schnittstelle zur Naturwissenschaft und rufen die Ästhetik von Wunderkammern auf, thematisieren aber auch aktuelle bio- oder gentechnologische Forschungen oder sind als Kritik an kolonialistischer Ausbeutung oder tierquälerischen Jagdpraktiken zu lesen. Die Abwägung des Wertes einer Würde des Lebewesens gegen die Freiheit künstlerischen Ausdrucks wird innerhalb einer so informierten Wissenschaft anders vorgenommen als außerhalb. Während es noch in den 1970er Jahren kaum einen Tabubruch darstellte, Tiere im Rahmen performativer Kunstwerke zu schädigen oder zu töten, ist die Sensibilität für vergleichbare Arbeiten heute offenbar ungleich stärker ausgeprägt. So erregte im Jahr 2000 eine Installation wie »Helena« von Marco Evaristti, in der lebende Goldfische in funktionstüchtigen Haushaltsmixern ausgestellt wurden, nicht nur Aufmerksamkeit, sondern führte auch zur Zerstörung der Geräte durch Tierrechtler_innen. Die grundsätzliche moralisch motivierte Frage, ob Werke, die mit dem Sterben von Tieren argumentieren, tatsächlich Kunst sein können, wird dabei allerdings vor allem von einem Lai_innenpublikum gestellt.

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Der aktuelle Diskurs der HAS, der Tiere um ihrer selbst willen ernst nehmen möchte, ist häufig stark emotional besetzt. Dadurch wird über das Verhältnis von Affekt und Reflektion nicht nur die Möglichkeit eines vollkommen neuen Adressatenkreises von Kunstwerken (Kunst für Tiere) eröffnet, sondern auch für die kunsthistorische Lehre und kunstpädagogische Vermittlung die Option einer Türöffnerin geboten, um Studierende und Lai_innen an theoretische, philosophische oder konzeptuelle Dimensionen von Kunst heranzuführen und sie für ihre Erforschung zu interessieren.

B EITRÄGE

DER

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ZUR

HAS

Bislang sind vor allem im angelsächsischen Sprachraum kunsthistorische Studien im Umfeld der HAS entstanden. Insbesondere die Bücher von Steve Baker stellen bedeutende Pionierleistungen dar (vgl. Baker 2000; ders. 2013). Jüngst hat Giovanni Aloi eine knappe, aber wertvolle Überblicksbetrachtung zur zeitgenössischen Kunst im HAS-Diskurs vorgelegt und die wesentlichen Protagonisten zumindest der angelsächsischen animal artists benannt (Aloi 2011). Wichtige Einzelstudien von Jonathan Burt zum Film (Burt 2009: 163-223), von Susan McHugh zur Videokunst (McHugh 2001: 229-251), von Cary Wolfe zur bio art (Wolfe 2003), von Petra Lange-Berndt zur Taxidermie (Lange-Berndt 2009), von Ralph Ubl zu Delacroix’ Tieren (Ubl 2007), von Norberto Gramaccini (Gramaccini 1985: 198-226) zu Tieren und Naturabguss in der Frühen Neuzeit, von Johannes Tripps zu Giottos Tieren (Tripps 2003), von Annett Reckert zum Pferd in der zeitgenössischen Kunst (Reckert 2002), von Diana Donald zu Tieren im England des 19. Jahrhunderts (Donald 2008) oder von Ellen Spickernagel zur Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts (Spickernagel 2009) haben ein reiches Feld eröffnet, das bei weitem noch nicht ausgeforscht ist. Neben diesen eher monographisch angelegten und thematisch recht eingegrenzten Studien geben Zeitschriftenprojekte wie Antennae. The Journal for Nature in Visual Culture4 oder Tierstudien5 wertvolle Impulse in die Debatte. Hierzu gesellen sich Sammelbände, die oftmals Kunstgeschichte mit Kulturwissenschaften, Philosophie und anderen Nachbardisziplinen in Kontakt bringen (vgl. Böhme et al. 2004). Hier sind etwa die Studien der Kulturwissenschaftler Thomas Macho (Macho 2014) oder Christoph Wulf,

4 5

Vgl. http://www.antennae.org.uk (vom 1. 8. 2014). Tierstudien ist im Gegensatz zu Antennae ein interdisziplinäres Journal, beinhaltet aber immer auch kunsthistorische Beiträge sowie eine Künstlerstrecke, vgl. http:// www.neofelis-verlag.de/animal-studies/tierstudien (vom 1. 8. 2014).

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der Filmwissenschaftlerinnen Claire Molloy (Molloy 2011), Sabine Nessel (Nessel et al. 2012) und Akira Lippit (Lippit 2008), der Literaturwissenschaftler Roland Borgards oder Bernd Hüppauf (Hüppauf 2011), der Theaterwissenschaftlerin Lourdes Orozco (Orozco 2013), der Historiker_innen Aline Steinbrecher und Claus Wischermann, der Anthropologin Jane Desmond (Desmond 2012) oder der Medientheoretiker Vilém Flusser (Flusser, Bec 1993) und Jussi Parikka (Parikka 2010) anschlussfähig für die Kunstgeschichte. Aber auch Carol Gigliotti, Beatriz da Costa oder Donna Haraway mit ihrem Fokus auf technoscience und Biotechnologie zeigen auf fruchtbare Weise Bezüge zur bildenden Kunst auf (vgl. Gigliotti 2011; Costa/Philip 2008). Ein wichtiges Territorium, das die Verknüpfung von HAS mit kunsthistorischer und kunstwissenschaftlicher Arbeit erlaubt, bieten Ausstellungen und Katalogpublikationen, begleitende Vortragsreihen und Filmscreenings sowie internationale Tagungen und Workshops. Zu den wichtigen Ausstellungen, die das Thema auch in nachlesbaren Begleitveröffentlichungen diskutieren, zählten in den vergangenen Jahren BecomingAnimal. Contemporary Art in the Animal Kingdom (Thompson 2005), Herausforderung Tier – von Beuys bis Kabakov (Rödiger Diruf 2000), Tier-Werden, Mensch-Werden (Ullrich/Weltzien 2009a), Tiersperspektiven (dies. 2009b), Das Tier in mir (Bilstein/Winzen 2002), Zoo (Brogi/Wessely 2011), Animal Influence,6 TierARTen – das Tier in Kunst und Kulturgeschichte (Küster/Fansa/Gäßler 2006), Betes-off (D‫ތ‬Anthenaise 2012), Im Reich der Tiere (Andratschke/Eichler 2012) oder Beauté animal7. Richtungsweisend war die Konferenz »Representing Animals« im Jahr 2000 an der University of Wisconsin-Milwaukee, die einen Meilenstein in den HAS darstellt und einen Fokus auch auf der Kunst hatte (Rothfels 2002). An der Londoner Metropolitan University findet alle drei Jahre das Symposium »Animal Gaze« statt, ein Forum für Künstler_innen und Kunsthistoriker_innen, das darüber hinaus eine vielbeachtete Ausstellung beinhaltet. Auf den internationalen, interdisziplinären »Minding-Animals«-Konferenzen (2009 in Newcastle, 2012 in Utrecht und 2015 in Delhi) ist stets die Sektion »Animals and Art« sowie ein begleitendes Kunstprogramm vorgesehen.8 Aber auch im osteuropäischen oder lateinamerikanischen kunsthistorischen Diskurs sind die HAS angekommen: Die Universität Warschau richtet 2014 mit »Animals and their people« erstmalig eine Konferenz mit einem

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Für diese Ausstellung, die 2011 in Vancouver stattfand, existiert zwar kein Katalog, aber die Zeitschrift Antennae widmete ihr eine ganze Ausgabe. Vgl. http://www. antennae.org.uk/ANTENNAE%20ISSUE%2021.pdf (vom 1. 8. 2014).

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Beauté animale, Grand Palais, Paris 2012. Vgl. Héran (2012).

8

Vgl. http://mindinganimals.com (vom 1. 8. 2014).

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Schwerpunkt auf Tieren und den Künsten aus, um die HAS in den Kunstwissenschaften zu implementieren.9 Ebenfalls 2014 richtet die Nürnberger Hochschule für Musik eine Tagung von »Minding Animals Germany« aus, die Tiere in den Kunst- und Geisteswissenschaften fokussiert. Und an der Universität Sao Paulo findet bereits zum zweiten Mal das Symposium »Arte e natureza« statt, die Universidad Nacional Autónoma de México richtet 2014 die internationale Tagung »Animalísticas« aus.10 Diese Veranstaltungen beinhalten ebenfalls jeweils Kunstausstellungen. Auffällig ist, dass sich insbesondere Künstler_innen zu Gruppen oder Interessengemeinschaften zusammenfinden, wie etwa die Justice for Animals Art Guild in Minnesota.11 Der Impuls geht hierbei vielfach eher von der künstlerischen Produktion als von der Theorie aus. So bedarf die artistic research von Lisa Jevbratts »Interspecies Collaboration«12 oder der gegenwärtige Zusammenschluss von Künstlergruppen, die sich explizit gegen die Ausbeutung von Tieren in Kunstwerken richten, noch der kunstwissenschaftlichen Aufarbeitung. Im deutschen Sprachraum beschäftigt sich die Forschungsgruppe »Animalität und Ästhetik« mit diesen und anderen Fragen mit einem reichen wissenschaftlichen und kuratorischen Output (Ullrich/Weltzien 2009a und b). In Großbritannien ist die British Animal Studies bzw. das British Animal Studies Network ein Forschungszusammenschluss mit vergleichbarer Ausrichtung.13 Es lässt sich beobachten, wie theoretische Modelle und Kunstproduktion sich gegenseitig inspirieren, bestärken und dirigieren. Ohne den von Peter Singer angeregten Tierrechtsdiskurs der animal liberation und juristische Debatten der Tierethik wäre die Entstehung von »Tierrechtskunst«, etwa wie bei Sue Coe oder Hartmut Kiewert, kaum zu erklären. Diese beiden Künstler_innen sind wie Angela Singer oder Yvette Watts außerhalb der Tierrechtsszene kaum bekannt. Ähnliches gilt für das Künstlerpaar Olly und Suzi, das vor allem durch Steve Bakers Rezeption zu großer Popularität im HAS-Umfeld gekommen ist, aber von der Mainstreamkunstgeschichte kaum wahrgenommen wird. Eine HAS-inspirierte Kunstgeschichte, wie die von Steve Baker, wird dann ihrerseits zum Stichwortgeber und Agenten. Auf diese Weise bieten die HAS ein Exempel für die grundsätzliche Interaktion von Theorie und Praxis in allen künstlerischen Formen, die selbst wieder kunstwissenschaftlicher Forschungsgegenstand werden kann.

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http://animalstudies.ibl.waw.pl/uk/international-conference-animals-and-their-peoplethe-fall-of-the-anthropocentric-paradigm (vom 1. 8. 2014).

10 http://www.seminarioartenatureza.com/; http://www.esteticas.unam.mx 11 Vgl. http://www.brittonclouse.com/jaag.htm (vom 1. 8. 2014). 12 http://www.interspeciescollaboration.net (vom 1. 8. 2014). 13 http://www.britishanimalstudiesnetwork.org.uk (vom 1. 8. 2014).

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F ORSCHUNGSFELDER In der zeitgenössischen Performancekunst oder in der bio art, in der Künstler_innen zuweilen mit lebenden Tieren umgehen, diese ausstellen, manipulieren oder gar töten (oder Ausstellungsbesucher_innen die Tötung anheimstellen), wäre es dringend nötig, das Tier-Mensch-Verhältnis unter ethischen Gesichtspunkten in die Rezeption einzubeziehen. Hier müssten neben den ästhetischen Aspekten eines Kunstwerks auch tierschutz- bzw. tierrechtsrelevante Fragen in den Diskurs und in die kunsthistorische Forschung einbezogen werden. Noch besteht wenig Sensibilität bei Kunstschaffenden oder Rezipient_innen für das ethische Problem, das mit der weit verbreiteten Verwendung von Farben, Pigmenten und Bindemitteln, mit Malgründen, Pinseln und anderen Werkzeugen tierlichen Ursprungs verbunden ist. Nur vereinzelt suchen oder entwickeln Künstler_innen wie Hartmut Kiewert vegane Alternativen. Denkbar ist auch eine eine dezidiert historisch ausgerichtete Kunstwissenschaft des Tieres. So wäre es etwa im Hinblick auf Jagddarstellungen oder Haustierporträts lohnend, den Status der dargestellten Tiere zu hinterfragen oder die porträtierten Tiere zu identifizieren, um ein vollständigeres Bild historischer TierMensch-Beziehungen rekonstruieren zu können. Ein besonders gelungenes Beispiel für ein solches Vorgehen ist das Artistic-research-Projekt »nanoq: flat out and bluesome. A Cultural Life of Polar Bears« von Bryndís Snæbjörnsdóttir und Mark Wilson (Snæbjornsdóttir/Wilson 2006). Das isländisch-britische Künstlerpaar recherchierte hierfür zwischen 2001 und 2006 die Biographien bzw. die Vorgeschichten von sämtlichen in Großbritannien als taxidermische Präparate auffindbaren Eisbären und gab diesen so postum in gewisser Weise ein Stück ihrer Identität zurück. In einem breiteren Verständnis der Kunstwissenschaft als Bildwissenschaft könnten auch soziologische, design- oder medientheoretische Studien zur Darstellung von Tieren in den populären Medien, in der Werbung oder in Computerspielen befruchtend auf eine HAS-inspirierte Kunstgeschichte wirken. Hier besteht ebenfalls noch ein Forschungsdesiderat. Repräsentationen von Tieren lassen Rückschlüsse auf die historisch oder kulturgeographisch spezifisch vorherrschende Einstellung gegenüber Tieren zu und können direkte oder mittelbare Auswirkungen auf das Verhalten diesen gegenüber zeitigen. Innerhalb der Disziplin stellen sich zudem methodische Fragen: Produktionsästhetisch ist relevant, inwieweit Rationalität, Kontrolle, Planbarkeit zur Erzeugung ästhetischer Erfahrungen notwendig sind. Hier kann diskutiert werden, ob nicht einige individuelle Tiere ähnlich wie manche Menschen künstlerische Kompetenzen oder Gestaltungskraft besitzen, im Gegensatz zu anderen

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Individuen, die hier desinteressiert sind. Agency wäre dann nicht grundsätzlich an Angehörige oder Vertreter_innen einer bestimmten Gruppierung oder Ordnungskategorie verteilt, sondern immer an Einzelwesen, die sich diese Handlungsmacht unter dieser Voraussetzung auch selbst verschaffen könnten. Wenn Kunst zu den anthropologischen Kriterien zählt – wie u.a. die Sprache, der Werkzeuggebrauch oder der aufrechte Gang –, nun aber Tiere als kunstfähig anerkannt werden, so hat das weitreichende Folgen nicht nur für das Verständnis von Tieren, sondern auch für die Definition des Menschen, aber ebenso einschneidend für die Definition von Kunst. Es existieren bereits eine Reihe von Studien zu einer tierlichen Ästhetik u.a. von dem Philosophen Wolfgang Welsch, dem Musiker David Rothenberg, dem Zoosemiotiker Dario Martinelli und dem Professor emeritus für animal architecture Mike Hansell, die für die Kunstgeschichte nutzbar gemacht werden könnten (Welsch 2004; Rothenberg 2013; Martinelli 2006; Hansell 2005). Die Anerkennung des Anderen, die Emanzipation von Minoritäten, die Akzeptanz des Heterogenen ist in den Kunst- und Kulturwissenschaften nach 1945 besonders intensiv absorbiert worden. Hier zwingen die HAS zu einem Überdenken hergebrachter Konsenshaltungen und einer Erweiterung des Begriffs des Sozialen in die Interspeziesrelationen hinein. Kritisch zu hinterfragen ist hier aber auch die mögliche Funktionalisierungen der HAS für rassistische, fundamentalistische oder dogmatische Lehren, die zu einem kanonischen oder regelästhetischen Katalog an Vorschriften und Verboten führen können. Die Kunstgeschichte kann hier helfen, über den Schutz von Freiheiten der Kunst einer heiklen Preisgabe humanistischer Ideale vorzubeugen. Ein Beispiel bietet die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den provokativen Aktionen des russischen Künstlers Oleg Kulik. Der Eingang von Ansätzen der HAS stärkt die Tendenz, die akademische Kunstgeschichte in Richtung Bildwissenschaften und Kulturwissenschaften, beispielsweise auch mit aktuellen Materialitätsdiskursen, generell einer gravierenden Interdisziplinarität auszuweiten. Damit erwächst der Kunstgeschichte eine zusätzliche Relevanz. In der ästhetisch perspektivierten Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Welt, zur Natur, zu seinen Mitwesen, kann die Kunstgeschichte, sofern sie sich nicht zur Hilfswissenschaft der Wissenschaftsgeschichte macht, darauf hinweisen, dass sich eine ästhetische Wahrnehmung der Welt eben nicht an biologisch definierten Speziesgrenzen orientiert. Kunstgeschichte kann auf diesem Wege das Gewicht des Fachs für konkrete Problemlösungen aufzeigen, auf die Politik und Gesellschaft in Zukunft vermehrt hinarbeiten werden müssen (Umweltschutz, Klimafolgenproblematik, Nachhaltigkeit und Ressourcenmanagement, Gentechnik etc.). Ästhetische Weisen des Weltzugangs, die in den

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Kunstwissenschaften erforscht werden, eröffnen innovative und effiziente Steuerfunktionen und bieten innerhalb globaler interkultureller Kommunikation eine bedeutsame Ergänzung zu naturwissenschaftlich, ingenieurstechnisch oder ökonomisch informierten Perspektiven. In der Außenwirkung kann Kunstgeschichte mit den HAS zu einem Stichwortgeber und Vorreiter alternativer Denkmodelle avancieren.

T IERPERSPEKTIVEN Ein Forschungsziel wäre eine Zusammenarbeit der Kunstgeschichte mit den Naturwissenschaften auf Augenhöhe. Dabei ließe sich mehr über ästhetisches Empfinden oder Kapazitäten von Tieren lernen und wie dieses gegebenenfalls für die Kunst nutzbar gemacht werden oder unser Verständnis von Kunst verändern kann. Die künstlerische Forschung bietet hierzu ein Fundament, das der Kunstgeschichte einen Aufbau ermöglicht. Ein Profit für naturwissenschaftliche Disziplinen (etwa die Ethologie) läge hierbei in einer Adaption kunstwissenschaftlicher Methodik. Im Umgang mit offenen Komplexen, polysemantischen Äußerungen und nicht abschließend beantwortbaren Fragen kann die Kunstgeschichte eine produktive Ergänzung zum Paradigma der exakten Wissenschaften anbieten, das nach wie vor einem Konzept von Faktizität und Wahrheit verpflichtet ist. Ein weiteres Forschungsdesiderat stellt die historische Beschäftigung mit dem Problem, wie Tiere jeweils beurteilt wurden oder welche Rolle sie in bestimmten künstlerischen Prozessen spielten. Hier gilt es, sowohl den realen als auch den metaphorischen Einsatz von Tieren innerhalb der Kunsttheorie und der philosophischen Ästhetik wie auch der Kunst- und Kulturgeschichte zu untersuchen. Keinesfalls darf dabei vergessen werden, dass sich jede Repräsentation eines Tieres auf reale Tiere und die Vorstellungen, die sich Menschen von ihnen machen, auswirkt – und umgekehrt. Wünschenswert ist darüber hinaus eine zunehmende Differenzierung. So müssten die Gattungen der Disziplin in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden: Die Architektur hat etwa ein anderes Verhältnis zu und eine andere Wirkung auf Tiere als die Landschaftskunst, Malerei eine andere als performative Formen. Eine radikale Formulierung besteht in dieser Hinsicht etwa in gastrosophischen Kunstaktionen, deren Variantenreichtum von der eat art etwa Daniel Spoerris oder Diether Roths aus den 1960er und 70er Jahren bis hin zu den Essenssituationen reicht, die der Künstler Rirkrit Tiravanija aktuell inszeniert. Nicht nur, dass das Kochen als eine Kulturleistung gilt, die den Menschen vom Tier unterscheidet: Auch und gerade in den Ernährungsformen wird eine konkrete Haltung des

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Menschen zum Tier manifest, die derzeit von veganer Ernährung bis zur Paläodiät diskutiert und praktiziert wird. Die Kunst tritt auch auf diesem Feld an, die scheinbar animalisch-notwendige Praktik des Hungerstillens als kulturelle Praxis erfahrbar macht. Einzelne Tiere unterscheiden sich gegebenenfalls drastischer untereinander, als sie sich von einem Menschen unterscheiden. Ebenso könnte im Sinne von Max Ernsts histoire naturelle die Kunst als eine Art »unendliche Naturgeschichte« konzipiert werden (Klee 1971). Künstlerische Formulierungen müssen sich nicht an biologische Definitionen halten. Gegen wissenschaftliche Kriterien kann ein Naturverständnis, das sich an anderen Merkmalen orientiert, durch die Begriffe der Kunst gestützt und gefördert werden. In diesem Sinne wäre es legitim, eine Schlange als Wurm zu beschreiben, weil sie sich ähnlich sehen, oder eine Hündin als Freundin, weil sie als solche empfunden wird. Für den Aufbau einer affektiven Beziehung oder die Einrichtung einer produktiven Situation sind Kriterien ästhetischer Maßgabe unter Umständen relevanter als übereinstimmende Gensequenzen oder morphologische Verwandtschaftskonstruktionen durch vergleichende Anatomie. Eine Übermacht wissenschaftlicher Weltbilder, die nach Theodor Adorno und Max Horkheimer in einer »Dialektik der Aufklärung« zu fatalen Entwicklungen führen kann und eine Vernachlässigung von lebenswerten Facetten des Daseins nach sich ziehen mag, wird womöglich durch eine solche ästhetische Naturlehre bereichert. Die Änderung von Sehgewohnheiten, die zu Verhaltensänderungen führt, kann ganz im Sinne einer kritischen Theorie auch im Verhältnis zu Tieren von der Kunstgeschichte mitbetrieben werden. Als Ausblick ließe sich hier eine Koevolution erhoffen, in der eine kunsthistorische Kultur der Gemeinschaftlichkeit den Respekt vor der Individualität fördert.

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Linguistik Das Tier in der Sprache R EINHARD H EUBERGER

Menschliche Wahrnehmung ist nicht absolut oder objektiv, sondern gefiltert. Sprache ist dabei ein wichtiger Filter, denn Sprachbereiche wie Vokabular oder Grammatik beeinflussen unsere Wahrnehmung mitunter gravierend. Um den Linguisten Michael Halliday zu zitieren: »language does not correspond; it construes« (2001: 185). Sprache bildet die Wirklichkeit also nicht nur ab, sondern konstruiert diese mit. Halliday war es auch, der die Verantwortung der Linguistik innerhalb der ökologischen Debatte einmahnte: »Classism, growthism, destruction of species, pollution and the like are not just problems for the biologists and physicists. They are problems for the applied linguistic community as well« (ebd.: 199). Die Rolle der Sprache, sei es als Problemverursacher oder als Problemlöser, darf somit auch beim Umgang mit Tieren nicht übersehen werden. Ein Beispiel für den Einfluss der Sprache auf unsere Wahrnehmung bringt folgender Zeitungsartikel: »Australian rat-like animals may soon be given new names to help save them from extinction. Their image problems stem from being called rats and mice when they are actually not related to the varieties which Europeans introduced with settlement more than 200 years ago. Scientists are worried that names like ›black-footed tree rat‹ have little or no appeal to the average Australian. They say this attitude has resulted in many of the animals being exterminated as pests. In response, CSIRO wildlife and ecology division researchers have suggested replacement names drawn from a list of 2,000 Aboriginal words.« (O. A. 1995)

Der kurze Artikel veranschaulicht nachvollziehbar, wie die Benennung von Tieren einen direkten Einfluss auf unser Verhalten haben kann. Beinhaltet ein Tier-

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name den Begriff »Ratte«, droht den Nagern die Vernichtung durch den Menschen, selbst wenn es sich biologisch um eine andere Gattung handelt. Als Gegenmaßnahme haben Wissenschaftler in diesem konkreten Fall eine Umbenennung mit Tiernamen aus Aboriginesprachen vorgeschlagen. Sprache beeinflusst also nach Meinung vieler Expert_innen unser Denken und folglich unser Handeln. Die Akzeptanz dieser Prämisse führt notwendigerweise zu einer Sprachkritik, wie sie in bestimmten Disziplinen (z.B. in der feministischen Linguistik) bereits seit Jahrzehnten betrieben wird. Innerhalb der Human-Animal Studies ist die Bedeutung unseres Sprachgebrauchs für das Mensch-Tier-Verhältnis bisher einigermaßen vernachlässigt worden. So findet sich beispielsweise in Margo DeMellos Bibliographie HumanAnimal Studies (2012) kein eigenständiges Kapitel zu Sprache bzw. Sprachgebrauch/Sprachkritik. Auch das am ehesten relevante Kapitel »English/ Literature« listet fast ausschließlich Publikationen mit literaturwissenschaftlichem Hintergrund. In Marc Bekoffs umfangreicher Encyclopedia of Animal Rights and Animal Welfare (2009) spielt linguistische Sprachkritik ebenfalls eine untergeordnete Rolle. Immerhin widmet sich der Beitrag von Tema Milstein (mit dem Titel »Human Communication‫ތ‬s Effects on Relationships with Animals«) diesem Problemfeld. Dennoch gibt es bereits zahlreiche wissenschaftliche Studien zum Themenfeld »Sprache und Umwelt« bzw. »Sprache und Tiere«, nämlich aus dem Bereich der sogenannten Ökolinguistik1. Dieser relativ junge Zweig der Linguistik beschäftigt sich schon seit den späten 1980er Jahren intensiv damit, wie Menschen über Tiere sprechen2 – seit jeher zumeist unabhängig von den HumanAnimal Studies. Es wäre wünschenswert, die Ökolinguistik mehr als bisher in die Human-Animal Studies zu integrieren bzw. diese Disziplinen stärker zu verknüpfen, um fächerübergreifend Synergieeffekte nutzen zu können. Ökolinguisten fordern wie erwähnt, dass wir Sprache auch in Bezug auf unsere nichtmenschliche Umwelt kritisch hinterfragen sollen. Welche Rolle hat Sprache bei der Entstehung und Lösung von Umweltproblemen? Wie sprechen

1

Pioniere der Ökolinguistik waren der US-Amerikaner Einar Haugen sowie der Engländer Michael Halliday, aber auch der Österreicher Alwin Fill hat mit zahlreichen einschlägigen Publikationen einen wichtigen Beitrag zur Etablierung der Ökolinguistik geleistet.

2

Zu nennen wäre beispielsweise Alwin Fills Monographie Wörter zu Pflugscharen. Versuch einer Ökologie der Sprache (1987). Eine Bibliographie zu ökolinguistischen Publikationen findet sich online unter http://www.ecoling.net/#/bibliography/4563 132828 (vom 13. 03. 2014).

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wir in der Alltags-, aber auch in der Fachsprache über Tiere? Und noch konkreter: Inwieweit ist der Sprachgebrauch vom Nützlichkeitsdenken des Menschen geprägt, also anthropozentrisch? Diese wichtigen Fragestellungen sollen im Folgenden beantwortet werden.

ANTHROPOZENTRIK : B EGRIFFSDEFINITION Es ist zunächst sinnvoll und notwendig, zwischen zwei Hauptformen der Anthropozentrik zu unterscheiden – der primären und der utilitaristischen. Die primäre Form der Anthropozentrik ist unvermeidbar, da unsere Sprache in einem absoluten Sinne immer anthropozentrisch ist. Als Menschen können wir die Welt immer nur aus menschlicher Sicht wahrnehmen und benennen, selbst wenn wir uns bemühen würden, eine andere – neutrale – Position einzunehmen. Die utilitaristische Form hingegen hat eine moralische Komponente: Sie sieht den Menschen als das wichtigste Element einer Ethik, sozusagen als das »Maß aller Dinge«. Der nichtmenschlichen Umwelt kommt nur insoweit Bedeutung zu, als dass sie direkt oder indirekt menschlichen Interessen dient. Tiere werden dabei als untergeordnet und minderwertig eingestuft (vgl. Milstein 2007: 1048). Diese zwei Formen der Anthropozentrik stehen in keinem kausalen Verhältnis und bedürfen auch unterschiedlicher ethischer Bewertung. Die Tatsache, dass wir alles nur aus menschlicher Sichtweise betrachten können, bedingt keineswegs, dass wir Tieren einen geringeren Wert beimessen. Die utilitaristische Anthropozentrik kann also im Bewusstsein überwunden werden. Gibt es aber überhaupt Alternativen zu einer anthropozentrischen Weltsicht? Ein kurzer Exkurs in die Philosophie soll diese Frage beantworten. Als Ethikmodell dem Anthropozentrismus gegenübergestellt ist beispielsweise der Physiozentrismus. Moralischer Wert wird darin nicht nur dem Menschen, sondern in verschiedenen Ausprägungen auch der weiteren Natur beigemessen. Es lassen sich etwas vereinfacht folgende Ausprägungen des Physiozentrismus unterscheiden: • Pathozentrismus: Als Kriterium gilt die Leidensfähigkeit. Moralisch »relevan-

te« Objekte sind daher Menschen und höher entwickelte Tiere, bei denen die Leidensfähigkeit offensichtlich ist, wie z.B. bei Säugetieren, Reptilien, Fischen und Vögeln. • Biozentrismus: Hier hat jedes Lebewesen einen moralischen Eigenwert, unabhängig vom Entwicklungsgrad oder der vermuteten Leidensfähigkeit.

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• Holismus: Moralisch relevantes Kriterium ist das Sein an sich. Daher sind für

das ethische Handeln nicht nur Lebewesen von Bedeutung, sondern auch die unbelebte Natur ist relevant (beispielsweise ein Stein). Im Folgenden wird sich dieser Beitrag aber auf die Anthropozentrik konzentrieren und versuchen, die wichtigsten Spielarten von Anthropozentrismen in der Sprache darzustellen. Ökolinguisten haben anthropozentrischen Sprachgebrauch als vorrangiges Problem im verbalen Umgang mit Tieren identifiziert (vgl. Fill 1993: 105). Wird der Begriff etwas weiter gefasst, lässt sich darunter ein breites Spektrum an sprachideologischen Manifestationen subsumieren. Utilitaristische Anthropozentrik Die häufigste Form der Anthropozentrik in unserem Sprachgebrauch ist sicherlich der utilitaristische Anthropozentrismus. Dabei wird die Natur mit einer Ressource für menschliche Bedürfnisse gleichgesetzt. Diese Form der Anthropozentrik ist so häufig, dass wir sie zumeist gar nicht bemerken, geschweige denn in Frage stellen. Abhängig von der Funktion, welche wir beispielsweise Tieren zugedacht haben, bezeichnen wir sie als »Nutztiere«, »Haustiere«, »Pelztiere«, »Versuchstiere« etc. »Nutztiere« können weiter unterteilt werden in »Legehennen«, »Mastschweine«, »Milchkühe« oder »Zuchtstiere«. Wir unterscheiden zwischen »Jagdhunden«, »Spürhunden«, »Blindenhunden« etc. Oftmals werden auch gefährliche oder unerwünschte Eigenschaften von Tieren in deren Benennung betont, wie z.B. in den Begriffen »Schädling«, »Ungeziefer« oder »Menschenfresser«. Der Begriff »Ungeziefer« ist nicht nur anthropozentrisch, sondern zugleich auch noch speziesistisch, d.h. vorurteilsbeladen3. Anthropozentrische Begriffe wie die eben genannten sind zugegebenermaßen angenehm für uns. Sie erlauben uns, die Natur kurz und prägnant in potentiell nützlich oder schädlich einzuteilen. Da Sprache ein Produkt unserer Evolution darstellt, ist nur zu erwarten, dass sprachliche Kategorisierungen ökonomisch sind, d.h. auf den größtmöglichen Nutzen unserer Spezies ausgerichtet (Fill 1993: 104). Als Nebeneffekt reduziert Sprache die Natur auf ein bloßes Mittel für unsere Zwecke und es wird ihr kein intrinsischer Wert zugestanden, außer

3

Der australische Philosoph Peter Singer hat Speziesismen wie folgt definiert (Singer 1996: 35): »Speziesismus ist ein Vorurteil oder eine Haltung der Voreingenommenheit zugunsten der Interessen der Mitglieder der eigenen Spezies und gegen die Interessen der Mitglieder anderer Spezies.«

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eben jenem als Ressource. Diese Situation ist aus ethischer Sicht und ihre Konsequenzen sind aus ökologischer Sicht problematisch, zumal es vielen Menschen diesbezüglich an Bewusstsein fehlt. Dazu später noch mehr. Distanzierung Eine besonders entlarvende Erscheinungsform der Anthropozentrik in unserer Sprache ist jene der Distanzierung. Unsere Sprache unterscheidet häufig lexikalisch zwischen menschlichen und tierischen Konzepten, auch wenn diese inhaltlich gleich oder analog sind. Der unterschiedliche Wortschatz suggeriert unterschiedliche Eigenschaften oder Verhaltensformen und schafft oder fördert eine emotionale Distanz zwischen Mensch und Tier. Oder mit anderen Worten ausgedrückt: Der Mensch hält sich Tiere auf Distanz, indem er die Umstände ihres Lebens und Sterbens anders benennt als bei sich selbst (ebd.: 107). Einige Beispiele sollen diese Form der Anthropozentrik verdeutlichen. Menschen »bewohnen« ein bestimmtes Gebiet, während Tiere dort nur »vorkommen«. Die menschliche »Bevölkerung« entspricht der tierischen »Population«. Menschen »essen«, während Tiere »fressen«. Diese Distanzierung endet auch nicht beim Tod. Menschen »sterben«, Tiere »verenden«. Ihre toten Körper sind keine »Leichen«, sondern »Kadaver«. Hier einige weitere Beispiele: Nur Tiere »paaren« sich oder sind »läufig« bzw. »brunftig«. Auch würde man eine Frau kaum fragen, ob sie schon »geworfen« hat. Manche Begriffe wie »schlachten« werden wertfrei für Tiere verwendet, implizieren aber extreme Grausamkeit, wenn sie für Menschen verwendet werden (vgl. ebd.). Besonders gut lässt sich Distanzierung am Beispiel der Jäger_innensprache darstellen. Die Körperteile des gejagten Tieres (»Wildes«) werden häufig verdinglicht, was es dem Jäger vereinfacht, das Tier zu töten, also »zur Strecke zu bringen«. »Augen« werden zu »Lichtern«, »Ohren« zu »Lauschern« oder »Löffeln«, »Beine« zu »Läufen« und »Münder« zu »Äsern«. Das »weidwund« geschossene Tier »blutet« nicht, es »schweißt«, und am Ende der Jagd werden nicht die »Tierkadaver« gezählt, sondern es wird die »Strecke ausgelegt«. Ökolinguisten sehen in der Versachlichung des Tieres in der Jägersprache wie gesagt vor allem den Zweck, der/dem Jäger_in das Töten des Tieres zu erleichtern (vgl. ebd.: 108). Aus ähnlichen Gründen erfolgt eine Distanzierung auch im Bereich der tierischen Nahrungsmittel. Manche Körperteile von Tieren werden beim Verzehr umbenannt und somit quasi unkenntlich gemacht – sie werden zu »Schnitzeln«, »Stelzen«, »Speck« oder »Schinken«. »Das Verzehren von anderen Lebewesen muss sprachlich dem Bereich der Emotionen entzogen werden, damit die Reali-

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tät des Tötens nicht zu Bewusstsein kommt und Appetit und Geschmack nicht darunter leiden« (ebd.). Interessant erscheint an dieser Stelle die Frage, ob diese Art der Anthropozentrik auch in anderen westlichen Sprachen derart weit verbreitet ist. Die Situation im Englischen – um nur einen konkreten Vergleich zu ziehen – ist aus ökolinguistischer Sicht teilweise sogar noch unbefriedigender. Die wichtigsten Begriffe für Fleischarten stammen nämlich aus dem Französischen, welche im Gegensatz zu den deutschen Entsprechungen weder den Namen des Tieres noch das Wort »Fleisch« beinhalten: Tabelle 1: Beispieltabelle Kalbfleisch

vs.

veal

(statt calf meat)

Rindfleisch

vs.

beef

(statt cow meat)

Schweinefleisch

vs.

pork

(statt pig meat)

Schaffleisch

vs.

mutton

(statt sheep meat)

Wild

vs.

venison

(statt deer meat)

Durch diese Trennung zwischen lebendem Tier und seinem toten Fleisch werden Konsument_innen wie erwähnt vor unangenehmen Assoziationen geschützt. Dies war soziohistorisch zwar nicht intendiert, erfüllt heutzutage aber indirekt diese Funktion. So ist es beispielsweise für Kinder schwieriger, eine direkte gedankliche Verknüpfung zwischen Tier und Fleisch herzustellen. Aber auch für Erwachsene ist dieser Bezug in der Alltagssprache weniger präsent. Tatsachenverschleierung durch Euphemismen Euphemismen haben im Umweltdiskurs ebenfalls eine große Bedeutung, und linguistische Euphemismuskritik überschneidet sich gelegentlich mit der Kritik an Distanzierung. Wie bei der Distanzierung werden durch – teils absichtlich gewählte – verniedlichende Begriffe unangenehme Fakten verschleiert, was es dem Menschen wiederum erleichtert, die Natur für seine Zwecke zu nutzen. Ein ökologisches Umdenken wird dadurch behindert. Statt »Gift« verwenden wir lieber »Pestizid« – oder noch besser »Pflanzenschutzmittel«. Nach einer »Schädlingsbehandlung« sind die behandelten Insekten in der Regel tot (vgl. Trampe 1991: 146). Tiere »sterben aus« – in vielen Fällen wäre aber »ausrotten« der ehrlichere Begriff, da der Mensch nicht selten dazu beiträgt. »Zuchtbetriebe« werden zu »Veredelungsbetrieben«, was einer durchaus fragwürdigen Melioration gleichkommt. Der Begriff »Tierversuch« ist schließlich ebenfalls ein Euphe-

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mismus, welcher für das oftmals grausame Quälen oder Töten von Tieren für den Zweck der Wissenschaft steht. Euphemismen sind, zusammenfassend, eine weitere wichtige Spielart der Anthropozentrik auf lexikalischer Ebene, welche – gewollt oder ungewollt – die Funktion erfüllen, dem Menschen die Verwendung der Natur für seine Zwecke zu erleichtern. Metaphorik Ein interessantes Forschungsgebiet für die Ökolinguistik ist auch die Metaphernforschung. Metaphern – wie Sprache generell – erlauben tiefere Einblicke in unsere ideologische Haltung gegenüber Tieren (vgl. Mühlhäusler 2003: 131). Sie weisen utilitaristische, distanzierende und speziesistische Züge auf und implizieren menschliche Dominanz und Hierarchisierung (ebd.: 140). Wenn Tierbegriffe sich metaphorisch auf Menschen beziehen, ist deren Bedeutung zumeist negativ, d.h. sie werden oftmals in beleidigender Absicht eingesetzt. Indem Tiere als dumm, feige oder falsch dargestellt werden, ist ein solcher Sprachgebrauch zugleich speziesistisch (vgl. Milstein 2007: 1045). Tabelle 2: Beispieltabelle

4

Tiername

auf den Menschen bezogene Eigenschaft

Schwein

unsauber, faul, dumm

Esel

stur, dumm

Huhn

feige,4 dumm

Ratte

unrein, durchtrieben

Glucke

überfürsorglich

Schlange

falsch

Affe

albern

Aasgeier

opportunistisch

Rabeneltern

nicht fürsorglich

Es soll an dieser Stelle – auch stellvertretend für andere fälschlich unterstellte Eigenschaften innerhalb von Tiermetaphern – darauf hingewiesen werden, dass Hühner keineswegs feige agieren, sondern im Gegenteil ihre Küken mutig verteidigen.

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Daneben gibt es zahllose Sprichwörter und Redensarten, in denen Tiere schlecht wegkommen. »Flatterhaft wie ein Schmetterling« (unstet), »ein Wolf im Schafspelz« oder »zur Schnecke machen« sind nur einige Beispiele hierfür. Positive metaphorische Verwendungen von Tiernamen gibt es zweifelsohne ebenfalls in großer Zahl – erwähnt seien »Biene« (fleißig), »Bär« (stark) und »Löwe« (tapfer) – dennoch scheinen die negativen deutlich zu überwiegen. Und schließlich sind auch Verniedlichungen wie die metaphorische Verwendung von Tierbezeichnungen als Kosenamen (»Maus«, »Spatz« etc.) streng genommen Ausdruck vermeintlicher menschlicher Überlegenheit, die das Tier auf einen Aspekt (in diesen Fällen »klein, zart«) reduzieren. »Positive« Metaphorik führt demnach nicht zwingend zu einer Aufwertung, sondern in vielen Fällen zu einer Reduktion, einer Ungleichwertigkeit des Tieres. Metaphorik spielt auch jenseits der Tiermetaphern eine große Rolle in der alltagssprachlichen Mensch-Tier-Beziehung. In Begriffen wie »Fleischproduktion« und »Fleischbedarf« werden Tiere versachlicht – als Konsumgüter, die produziert, optimiert und verbraucht werden (Trampe 1991: 147). Wörterbuchdefinitionen Die bisherigen Beispiele haben sich alle auf die Wortebene bezogen. Anthropozentrik lässt sich aber auch auf übergeordneten Ebenen, konkret auf Satzebene, nachweisen.5 Wörterbuchdefinitionen sind hierbei ein interessantes Studienobjekt, da Wörterbücher ihrem Selbstverständnis nach objektiv sind. Die Vorurteile, die sie nichtsdestotrotz aufweisen, sagen somit viel über allgemeine Vorurteile einer Gesellschaft aus (Landau 1993: 303). Für deutschsprachige Englischlerner_innen – um von einem konkreten Beispiel auszugehen – sind insbesondere englische Lerner_innenwörterbücher relevant, welche im Folgenden exemplarisch analysiert werden.

5

Man könne auch zwischen einer systematischen Wortebene (langue) und einer textlichen Ebene (parole) unterscheiden.

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Tabelle 3: Beispieltabelle sardine dog mink

»a young pilchard or a similar fish, cooked and eaten fresh or preserved in tins in oil or tomato sauce« (OALD 1995) »a very common animal that people keep as a pet or to guard a building« (LDOCE 1995) »Mink is a very expensive fur used to make coats or hats« (CCSD 1996)

Die Definitionen für »sardine« und »dog« sind insofern anthropozentrisch, als dass sie sich praktisch ausschließlich auf die Nützlichkeit dieser Tiere für den Menschen konzentrieren. Intrinsische Eigenschaften wie das Aussehen werden hingegen ausgespart. »Perfektioniert« wird utilitaristische Anthropozentrik im Wörterbucheintrag zu »mink«. Der Nerz als Tier findet hier überhaupt keine Erwähnung mehr, lediglich auf das Luxusgut, welches wir von Nerzen beziehen, wird Bezug genommen. Die folgenden beiden Definitionen betreffen wiederum andere Spielarten der Anthropozentrik. Die Definition für »vulture« geht von einem rein menschlichen Schönheitsideal aus, gemäß welchem Geier als hässlich empfunden werden. Der Eintrag zu »locust« porträtiert Heuschrecken als Vandalen, die scheinbar mutwillig Pflanzen und Ernten zerstören. Tabelle 4: Beispieltabelle

vulture

locust

»a large ugly bird with an almost featherless head and neck, which feeds on dead animals. In jokes and humorous drawings, vultures often fly or sit above a person who is dying, esp. in a desert« (LIED 1996) »a type of African and Asian insect that flies in huge groups, destroying all the plants and crops of a district« (OALD)

Hier kommt im scheinbar objektiven Wörterbuch deutlich die geringe Wertschätzung zutage, welche diesen Tieren oftmals entgegengebracht wird. Die folgenden beiden Definitionen zeigen abschließend, dass durchaus mehr Objektivität und weniger Anthropozentrik möglich wäre. In den Wörterbucheinträgen zu »pig« und »frog« werden die intrinsischen Merkmale dieser Tiere betont, ohne groß auf deren Nützlichkeit für uns Menschen einzugehen.

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Tabelle 5: Beispieltabelle pig frog

»a domestic or wild animal with pink or black skin, short legs, a broad nose and a short tail that curls« (OALD 1995) »a small tailless amphibious animal with smooth moist skin, webbed feet and long back legs used for jumping« (ENCARTA 2001)

Passiv Als letztes Beispiel für Anthropozentrik in der Sprache soll kurz auf die Rolle von Passivkonstruktionen eingegangen werden – ein Abstecher ins Reich der Grammatik. Innerhalb der linguistischen Diskursanalyse gibt es zahlreiche Studien zu Texten über Tierversuche. Diese Texte zeichnen sich häufig nicht nur durch eine hohe Zahl an Euphemismen aus, sondern auch durch einen überdurchschnittlichen Gebrauch des Passivs. Durch die Passivkonstruktion wird das Objekt zum (grammatischen) Subjekt: x tut y > y wird getan; x (der Täter) verschwindet aus dem Satz. Diese bewusst gewählte Formulierung ermöglicht es, die_den Verantwortliche_n für die Schmerzen, welche den Tieren zugefügt werden, nicht zu nennen: »Five coyotes were administered doses (oral gavage) that simulated those a coyote could possibly receive from field use of 1080 for predator control […] Upon death, coyotes were skinned, eviscerated, and myectomized. All muscle tissues were combined and ground in a commercial meat grinder […] The test animals were fasted for about 24 hours before being presented with 100 or 200 g of ground tissue […] The animals‫ ތ‬reactions were monitored every 4 hours until death or recovery, which was, for the purpose of this study, considered complete when [those alive] showed no clinical signs of 1080 intoxication and had returned to […] normal feeding habits by the end of a 4-day observation period. Acknowledgements – We thank T. Blankenship for aid in dosing animals and L. Robinson for processing coyotes« (Kahn 2001: 242).

Die Passivkonstruktionen ersetzen die_den menschliche_n Akteur_in durch Taten. Wissenschaftliche Texte dieser Art erzeugen wiederum eine emotionale Distanz zwischen Mensch und Tier und schützen Wissenschaftler_innen vor moralischer Verantwortung für ihre Handlungen. Menschen werden allenfalls noch in den Danksagungen erwähnt. Somit dienen diese Texte anthropozentrischen Interessen.

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S CHLUSSBETRACHTUNGEN Als wohl wichtigste Kritiker_innen anthropozentrischen Sprachgebrauchs sind Ökolinguist_innen darauf bedacht, nicht dieselben Fehler zu machen wie einst die Vertreter_innen der Political-Correctness-Kampagne: Es soll nicht primär darum gehen, bestimmte Begriffe komplett zu meiden oder zu verdammen, sondern vor allem um eine Bewusstseinsschaffung für diese Problematik. Ökologische Sprachkritik, wie sie beispielsweise von Alwin Fill propagiert wird, ist nur bedingt dogmatisch und präskriptiv. Das Ziel ist nicht ein Unmöglichmachen von Denk- und Sprechweisen, wie in George Orwells Roman 1984, sondern »das Bewusstmachen der inhärenten und nur selten intendierten Anthropozentrik unserer Sprache und unseres Denkens« (Fill 1993: 116). Es wäre auch gar nicht sinnvoll oder wünschenswert, dass jegliche Anthropozentrik aus der Sprache verbannt wird. Das Benennen der Wirklichkeit durch die Sprache ist für ein Zurechtfinden in der Welt notwendig. Aber Wörter können immer nur einen Teil der Wirklichkeit wiedergeben. Gelegentliche lexikalische Innovationen könnten für manche Menschen deshalb einen wichtigen Denkanstoß bedeuten. So wäre beispielsweise der Begriff »Tiermuskelstück« wesentlich transparenter als »Schnitzel«, und statt des distanzierenden »trächtig« würde »schwanger« ebenso bei Tieren Anwendung finden können. Speziesistische Termini wie »Ungeziefer« oder »Schädling« könnten vermieden werden, indem die Tiergattungen konkret genannt würden, z.B. »Küchenschabe« oder »Heuschrecke«. Ein solches »ökologisches Umbenennen« bietet sich als didaktisches Verfahren an, um Aha-Effekte auszulösen, es sollte aber aus Sicht der Ökolinguistik wie erwähnt nicht dogmatisch betrieben werden. In modernen Schulbüchern wird häufig auf die Problematik von Sexismen und Rassismen eingegangen; analog dazu könnte auch anthropozentrischer und speziesistischer Sprachgebrauch Berücksichtigung finden. Leider ist ein solcher Ansatz in heutigen Schulbüchern und Lehrplänen noch kaum verankert und es obliegt zu einem großen Teil den Lehrpersonen, sprachökologische Gedanken in den Unterricht zu integrieren. Anthropozentrik in der Sprache ist ein Phänomen, das selbst in gebildeteren Schichten eher unbekannt ist. Auch Menschen mit hohem Bildungsstand, welche eine sexistische oder rassistische Wortwahl bewusst zu vermeiden versuchen, sind oftmals in anthropozentrischen Strukturen gefangen, ohne ein Problem darin zu erkennen. Hier liegt vermutlich die wichtigste Aufgabe für die Ökolinguistik bzw. den linguistischen Bereich der Human-Animal Studies – Bewusstseinsschaffung für diesen bisher vernachlässigten Aspekt sprachlicher Wahrnehmungsfilterung. Denn wie bei Sexismen kann der Hinweis auf Sprachliches

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teilweise zu einer Wende im ökologischen Denken und Handeln führen und so langfristig die Lebensbedingungen von Tieren verbessern. Schließen soll dieser Beitrag mit einem Zitat der Autorin Heather Steel (2014), die sich von eben solchen Änderungen im Sprachgebrauch positive Auswirkungen auf die Mensch-Tier-Beziehung erhofft: »It was not that long ago that many found it perfectly acceptable that women couldn’t vote or that Black people sat at the back of the bus or that countless other injustices could occur. Yet as we continue to evolve as a species, we change our individual and societal perceptions and beliefs about how others are treated. History has shown us that things once believed to be fair are actually oppression or abuse. It is possible that society will extend this realization to those of other species as well and will eventually frown upon speciesism in the same way it does racism, sexism and other injustices. Small changes in how we talk about animals can be an initial step towards large changes in how we treat animals.«

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Literaturwissenschaft Die Befreiung ästhetischer Tiere G ABRIELA K OMPATSCHER

E INLEITUNG Nichtmenschliche Tiere bevölkern – weltweit und seit Beginn der Schriftlichkeit – die Seiten von Büchern,1 weil sie Felder, Wälder, Gärten, Ställe, Teller, Töpfe und Köpfe menschlicher Tiere bevölkern. Diese Verquickung der Räume zeitigt eine Verquickung der Kulturen, wie sie z.B. in der Geschichtswissenschaft besonders deutlich wird, wenn man vom Prinzip der animal agency ausgeht, welches wiederum auch zu einem wichtigen Begriff in der Literaturwissenschaft gemacht werden kann: Tiere als Akteur_innen mit Wirkungsmacht, die zum Entstehen von Literatur beitragen. »Literarische« Tiere treten in verschiedenster Funktion auf: als Figuren, die sich selbst präsentieren, also in eigentlicher Verwendung, und als Figuren, die etwas oder jemand Anderen präsentieren, also in uneigentlicher Verwendung, etwa als Metaphern. Der Literaturwissenschaftler Roland Borgards belegt diese beiden Arten mit entsprechenden Begriffen aus der Narratologie bzw. der Semiotik und spricht von diegetischen und semiotischen Tieren: Die einen bezeichnet er treffend als »Objekte der literarischen Rede«, als »Lebewesen«, die

1

In vorliterarischer Zeit gilt das für die erzählenden Darstellungen der Menschen (vielleicht auch nichtliterarische Texte wie Gesetzestexte etc.?). Lange Perioden der Schriftlichkeit hindurch bildeten Teile von Tieren sogar Teile von Textträgern (z.B. Pergamentseiten und Buchdeckel aus Leder). Freeman (2012) nähert sich in ihrem Aufsatz dieser Tatsache unter dem Blickwinkel der Human-Animal Studies.

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anderen als »Mittel der literarischen Rede«, als »Träger von Bedeutungen«, als »Zeichen« (Borgards 2012: 89). Tiere also einmal mehr als »Objekte«, als »Mittel« – ein Abbild lebensweltlicher Realität? Durchaus. Dazu bedenke man, dass es sich nicht nur bei den literarischen Tieren um Konstrukte handelt, sondern – kulturell und gesellschaftlich bedingt – auch bei den realen Tieren (vgl. DeMello 2012: 44-55). Mehrere Filter, die bereits das biologische Tier2 sehr oft überlagern, liegen also auch über dem literarisierten Tier: jene, mit denen es vom Menschen belegt wird, sobald es ihm gegenübertritt, und die einem kulturellen und historischen Wandel unterworfen sein können (»Kuscheltier«, »Lebensmittel«, »Labortier« etc.),3 jene Bedeutungen, die ihm die Autor_innen verleihen, und schließlich die Interpretationen durch die Leser_innen. Eine die Literaturen dieser Welt umfassende methodische Dokumentation literaturwissenschaftlicher Ansätze und Arbeitsweisen kann hier nicht erfolgen. Stellvertretend sollen die Entwicklungen im anglophonen und germanophonen Raum skizziert werden.4

2

Der Singular »Tier« soll hier lediglich der sprachlichen Einfachheit wegen verwendet werden. Ansonsten stimme ich Derrida (2008: 32) sowie jenen Biolog_innen zu, die sich dagegen verwehren, alle Arten von Tieren in ihrer Vielfalt unter diesen Begriff zu subsumieren und dem einen Tier »Mensch« gegenüberzustellen. Dementsprechend wird hier der Begriff »Mensch« zwar kontrastiv gebraucht (»Mensch« als Gegensatz zum Begriff »Tier«), soll aber nicht kontrastiv, sondern – im Sinne einer zoologischen Wende – inklusiv verstanden werden (der Mensch als Tier) (vgl. dazu Wild 2013, 6466).

3

Bernd Hüppauf (2011) zeichnet diesen Wandel eindrucksvoll am Beispiel des Frosches nach. Dieser wurde, so Hüppauf, zum Totemtier der Ökologie, und die Prinzessin, so formuliert der Autor in einem Interview das Märchen vom Froschkönig um, würde den Frosch nicht mehr an die Wand werfen, sondern ihn als Froschschützerin behutsam über eine viel befahrene Straße tragen (Mensch und Frosch: Nachrichten von einer rätselhaften Beziehung, SWR2, 28.03.2011).

4

Soweit es die Entwicklung der Literary Animal Studies betrifft, ist eine Beschränkung auf die genannten Bereiche deshalb naheliegend, weil Human-Animal Studies im erstgenannten ihren Ausgang nehmen und sich dort bisher am besten etabliert haben und sich im zweitgenannten seit einigen Jahren eine rege Beschäftigung mit dieser Disziplin beobachten lässt. Nichtsdestotrotz soll weiter unten ein Seitenblick auch auf Projekte außerhalb der genannten Bereiche geworfen werden, da sich Human-Animal Studies und damit auch die Literary Animal Studies mittlerweile in den verschiedensten Ländern entfalten.

L ITERATURWISSENSCHAFT

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T IERE IN DER L ITERATURWISSENSCHAFT VOR E NTSTEHUNG DER H UMAN -ANIMAL S TUDIES /L ITERARY ANIMAL S TUDIES In welchem Gewand treten uns literarische Tiere entgegen? Keine literarische Textsorte versperrt sich Tieren als Akteur_innen,5 lassen sie sich doch multifunktional einsetzen, wie auch folgende Beispiele deutlich werden lassen. ›Literarische‹ Tiere begegnen uns (als Leser_innen, aber auch als diegetischen Figuren – in beiden Fällen lässt sich von Mensch-Tier-Beziehungen sprechen) quer durch Zeiten und Kulturen in Liebesgedichten (Catulls passerGedichte, † 54 v. Chr.), Verwandlungssagen (Ovid, Metamorphosen, † ca. 17 n. Chr.), fingierten Vegetarierreden (ders., Rede des Pythagoras, in: Metamorphosen XV), Fabeln (Gaius Iulius Phaedrus, † ca. 50 n. Chr.; Panchatantra, zwischen 200 v. Chr. und dem 6. Jahrhundert entstanden), naturwissenschaftlichen Werken (Plinius, † 79, Naturalis Historia),6 Tiergedichten (Luxorius, 6. Jahrhundert n. Chr., auf ein Schoßhündchen), Trauergedichten (Anyte von Tegea, 3. Jahrhundert v. Chr., z.B. auf einen Vogel; Theoderich, 11. Jahrhundert, auf einen Hund), Tierepen (Ysengrimus, 12. Jahrhundert), Heiligenlegenden (z.B. über die irischen Heiligen, vgl. Kompatscher/Classen/Dinzelbacher 2010: 37-62), Versromanen (Chrétien de Troyes, † um 1190, Yvain), Heiligenviten (z.B. über Franziskus von Assisi, z.B. bei Thomas von Celano, † 1260), Verserzählungen (Geoffrey Chaucer, † 1400, z.B. über einen an Liebeskummer leidenden Falken), fiktiven Briefen und Streitgesprächen, in denen Tiere sich gegen Menschen zur Wehr setzen (Antijagdbrief der Tiere Apuliens, 13. Jahrhundert, vgl. Kompatscher/Classen/Dinzelbacher 2010: 151f.; Epistel 8 aus den RasƗ’il IkhwƗn alsafƗ’, den Briefen der Brüder der Reinheit, 10. Jahrhundert; Anselm Turmeda, † 1423, Disputa de l’Asne), Novellen (Miguel de Cervantes Saavedra, El Coloquio de los Perros, 1613), Märchen (Jacob und Wilhelm Grimm, † 1863 bzw. 1859), Erzählungen (Franz Kafka, Ein Bericht für eine Akademie, 1917), surrealen Romanen (Marlene Haushofer, Die Wand, 1963; Peter Høeg, Kvinden og aben, 1996), kurz: in allen gebräuchlichen literarischen Genera, als Objekte oder als Subjekte, als Individuen oder als Stereotype, als reale Tiere oder als Symbole,

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»Die schöne Literatur ist schlechterdings auf die Tiere angewiesen. In allen Sprachen,

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In der Klassischen Philologie ist der Literaturbegriff weiter gefasst, sodass auch Wer-

in allen Kulturen.« (Schumacher 1977: 9) ke dieser Art dazu gezählt werden.

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theriothym oder anthropothym, theriomorph, anthropomorph7 oder metamorph, oft auch nur als Requisiten, als »milieumalendes Beiwerk zu Personen und Schauplätzen« (Schumacher 1977: 8) und »absent referents«8, geprägt vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext der Autor_innen. Doch weniger, welchen Umgang die Literatur, sondern vielmehr, welchen die Literaturwissenschaft mit dem Tier pflegt, soll hier dargelegt werden. Schon früh wurden Tiere zu beliebten Forschungsobjekten der Literaturwissenschaft: Gotthold Ephraim Lessing († 1781) etwa schreibt nicht nur selbst Fabeln, sondern ist auch Fabeltheoretiker: Tiere dienen dem Fabeldichter zur knappen Charakterisierung der handelnden Figuren, da die Leser_innen diese Chiffren mühelos entziffern können; eine naturalistische Darstellung soll dabei nicht angestrebt werden (vgl. Göpfert 1973: 389ff.). Wie bei Lessing so stehen Tiere auch bei anderen Literaturtheoretiker_innen lange Zeit fast ausschließlich als Bedeutungsträger_innen, stets aus menschlicher Perspektive (»to speak of and for the human«, McHugh 2006: 4), und nicht als reale Lebewesen (und wenn, dann meist ohne Geltung als Individuum) im Fokus; man interessiert sich für Symbolik, Metaphorik, Allegorik und Motivgeschichte;9 man untersucht Tiere als »Referenzpunkte« (McHugh 2006: 2) und unter dem Aspekt ihrer moralisierend-paränetischen, parodierenden oder satirisierenden Funktionen. Ansonsten

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»Anthropothym« steht hier für »anthropomorph« gemäß Lorenz’ (1990: 5) Vorschlag, statt von »Anthropomorphismus« besser von »Anthropothymismus« zu sprechen, wenn ausgedrückt werden soll, dass einem Tier menschliche Charakterzüge zugesprochen werden; »anthropomorph« heißt eigentlich menschengestaltig (aus griech. anthropos [Mensch] und morphe [Gestalt]; in dieser Bedeutung wird es hier auch verwendet), während »anthropothym« sich aus griech. anthropos (Mensch) und thymos (Charakter) zusammensetzt (entsprechend leitet sich »theriothym« von griech. ther [Tier] und thymos [Charakter], »theriomorph« von griech. ther [Tier] und morphe [Gestalt] her, und »metamorph« bezieht sich auf die Verwandlungen, die Texttiere und menschen durchmachen).

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Vgl. Adams (1990: 13): »Behind every meal of meat is an absence: the death of the animal whose place the meat takes. The ›absent referent‹ is that which separates the meat eater from the animal and the animal from the end product. The function of the absent referent is to keep our ›meat‹ separated from any idea that she or he was once an animal, to keep the ›moo‹ or ›cluck‹ or ›baa‹ away from the meat, to keep something from being seen as having been someone.«

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Mitunter werden auch solche Tiere, die von den Autor_innen als reale Wesen eingesetzt wurden, symbolisch überfrachtet.

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aber fristen sie im Theoriegebäude der Literaturwissenschaft höchstens ein Fußnotendasein. Einen Schritt Richtung Literary Animal Studies haben etwa die Herausgeber_innender Anthologie Tiere als Freunde im Mittelalter (Kompatscher/ Classen/Dinzelbacher 2010) unternommen: Noch fernab jeder Human-AnimalStudies-Theorie geben sich die Autor_innen nicht mit dem üblichen literaturwissenschaftlichen Interpretationsinstrumentarium zufrieden, sondern versuchen mittels mentalitätsgeschichtlicher Betrachtungen Einblicke in eine reale Welt der Mensch-Tier-Beziehung zu erhalten. Als weitere hybrida kann etwa der Aufsatz für den Band zum Philosophicum 2012 in Lech von Daniela Strigl gelten, der hier stellvertretend für tierfokussierte, aber (noch) nicht tierzentrierte Literaturanalyse kurz charakterisiert werden soll. Nach dem pointierten Auftakt des Beitrages (»Die Weltliteratur ist ein einziger Zoo, nebenbei ist sie auch ein Tierfriedhof.« Strigl 2013: 97) stellt die Autorin klar: »Nicht das Tier als Behübschung von Erzählstoffen, als narratives Füllmaterial, ist hier von Interesse, sondern als Element archetypischer Konstellationen, als Sehnsuchtsträger, Projektionsfläche und Medium der Verständigung des Menschen über sich selbst.« (Strigl 2013: 97). Die Funktionen der Tiere als »Mittel der literarischen Rede« im Sinne Borgards (2012: 89) fasst Strigl in vier Kategorien: »Das Tier als Tool«, »Das Tier als Freund«, »Das Tier als Symbol«, »Das Tier als der bessere Mensch«. Dass im Jahr 2012 im Rahmen eines einschlägigen Symposiums10 die Literaturwissenschaft zwar Mensch-Tier-Beziehungen und auch etwa das Konstrukt der Mensch-Tier-Grenze thematisiert, sich das Tier dabei aber als Mittel und Objekt zu Diensten macht, kann als symptomatisch für die tierfokussierte Literaturanalyse im deutschsprachigen Raum gelten.

E INE N EUBETRACHTUNG ANIMAL S TUDIES

DER

T IERE

IN DEN

L ITERARY

Um von Literary Animal Studies im Sinne der Human-Animal Studies sprechen zu können, bedarf es eines »tierzentrierten« oder besser »theriozentrischen« Ansatzes. Welch vielfältige Zugangsweisen Literaturwissenschaftler_innen in den letzten Jahrzehnten erarbeitet haben, soll im Folgenden dargestellt werden. Aufgrund der gebotenen Kürze und der Tatsache, dass Publikationen zu HumanAnimal Studies zur Zeit stark im Zunehmen begriffen sind, kann hier kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden.

10 Tiere. Der Mensch und seine Natur. Lech am Arlberg, 19.-23. September 2012.

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Der angloamerikanische Raum Im angloamerikanischen Raum ist die Geburtszeit der Literary Animal Studies in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts zu legen, in denen eine Aufbrechung traditioneller literaturwissenschaftlicher Methoden erfolgt. Neben feministischen und anderen kritischen Interpretationsweisen werden nun auch Verfahren entwickelt, die den Blick – weg von einer Deutung, die Tiere auf bloße Symbole oder andere menschengemachte Konstrukte und »Verwendungsmöglichkeiten« reduziert – (wieder) auf das reale Tier lenken:11 »as an individual with some measure of autonomy, agency, voice, character, and as a member of a species with a nature that has certain typical capabilities and limitations« (Shapiro/Copeland 2005: 344). Im Folgenden soll daher ein Streiflicht auf die grundlegende angloamerikanische Forschung geworfen werden. Der Anglist Randy Malamud (2000: 3) formuliert seine Herangehensweise bei der Analyse von Tierdichtung folgendermaßen: »When I read animal poetry, I ask what it reveals about people’s relationship to animals and about how human culture frames our relation to animals.« Er versucht dementsprechend, den anthropozentrischen Zugang seiner Vorgänger_innen überwindend, eine Neuinterpretation des mexikanischen Dichters José Emilio Pacheco († 2014) und sieht in dessen Werk eine respektvolle Annäherung an das reale Tier unter Bewahrung von dessen intrinsischer Würde, fern jeder Kontrollsucht, und das Potential, eine erzieherische Funktion auf die Leserschaft auszuüben. Tiere würden in der Literatur üblicherweise wie in der Industrie, der Landwirtschaft, der Wissenschaft und Zoos zweckgebunden verwendet, das poetische »Ich« erweise sich als ausbeuterisch den Tieren gegenüber, als den Tieren überlegen, als speziesistisch (»It is a segregationist I, speaking for people to people and essentially about people, albeit with a cast of hundreds of minor characters from other species.« (Malamud 2000: 5); selbst einer feinfühligen Autorin wie Mary Oliver (*1935) gelänge es nicht, den Rubikon »from sympathy to empathy« (Malamud 2000: 5) zu überschreiten. In Pachecos Haltung hingegen kann Malamud keine unterjochenden, domestizierenden oder ästhetisierenden Tendenzen erkennen, sondern vielmehr eine Beziehung zwischen Dichter-Ich und tierlichem Subjekt auf Augenhöhe. In seinem Buch Poetic Animals and Animal Souls (2003) vertieft und strukturiert Malamud seine Überlegungen zu einer tiergerechten Poetik:

11 Pearson/Weismantel (2010: 379) bezweifeln, dass wir dazu fähig seien: »Können die Wissenschaftler, die zwischen der Szylla des Anthropomorphismus und der Charybdis des Anthropozentrismus gefangen sind, das Tier jemals als mehr denn ein Symbol betrachten?«.

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»In my own small field of proficiency, I have tried to resist and reverse the hegemonic subordination of animals: to identify the destructive representations of animals – derogatory and demeaning, encouraging disrespect and trivialization – that pervade our culture and that certainly impact our real world conception and treatment of animals. The countervailing aesthetic that I propose should inspire people to work to rescue animals from degradations, the manipulations and decontextualizations that they suffer in so many of our cultural processes and products.« (Malamud 2003: 43)

Als Ziele einer »ecocritical aesthetic« nennt Malamud, der im Umweg über die Kunst eine Interaktion mit Tieren sucht, u.a. das Verständnis für Tiere innerhalb ihres eigenen Umfeldes, Unterrichtung über Lebensräume, Wesen und Gefühle von Tieren, Befürwortung einer respektvollen Haltung gegenüber Tieren und die Etablierung von Kontaktzonen zwischen Menschen und anderen Tieren, um auf ethisch und ökologisch vertretbare Weise (auch unvollständiges) Wissen über letztere zu gewinnen (Malamud 2003: 44f.). Kenneth Shapiro und Marion W. Copeland, die für eine »animal-based interpretative theory« votieren, formulieren für die neuen Literary Animal Studies drei Ziele bzw. Herangehensweisen: die einseitigen und respektlosen Darstellungsweisen nichtmenschlicher Tiere zu dekonstruieren, das Maß, bis zu welchem die Autor_innen das Tier als solches darstellt, zu bestimmen und die dargestellten Mensch-Tier-Beziehungen kritisch zu analysieren und im Universum möglicher Beziehungen zu verorten (Shapiro/Copeland 2005: 345). 2012 zieht Copeland eine Bilanz der Aktivitäten und Bemühungen um eine Theoriebildung12 im Bereich der Literary Animal Studies seit dem Erscheinen jenes Artikels und verzeichnet eine exponentielle Zunahme von Lehrveranstaltungen, Konferenzbeiträgen und Aufsätzen in speziellen Ausgaben von Zeitschriften und Bücherreihen. Laut Copeland (2012: 94-96) können und sollen die Literary Animal Studies dazu beitragen, die Mensch-Tier-Grenze zu sprengen und die anthropozentrische Barriere westlicher Kultur zu durchbrechen; unsere Vorstellungskraft lasse uns nämlich die Perspektive der nichtmenschlichen literarischen Protagonist_innen einnehmen, sodass wir Zugang zur realen Tierwelt erreichten; da unser Gehirn keinen Unterschied zwischen realen und imaginierten Ereignissen mache, würden diese Erfahrungen von »otherness« unsere seelische Landkarte umgestalten. Diese sogenannte »metamorphic imagination«, die Fähigkeit, sich bei der Lektüre in der Phantasie in eine andere, auch nichtmenschliche Per-

12 Copeland bezieht in ihren Forschungsbericht die Theorien einer Reihe von Wissenschaftler_innen mit ein, von denen ich hier nur einige beispielsweise nennen kann: Brown 2010, Fudge 2004, Malamud 2003.

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son zu verwandeln bzw. uns in sie hineinzuversetzen, könne helfen, Speziesgrenzen zu überwinden und Empathie für andere Lebewesen zu entwickeln (vor allem, wenn man in Betracht zieht, dass Menschen ebenfalls Tiere sind). Copeland (2012: 97-100) verweist in diesem Zusammenhang auf Untersuchungen schamanischer Tiermaskentänze sogenannter Naturvölker, die dazu dienen, in das Tierreich einzutreten und sogar Tier zu werden, als Analogon zu »animalcentric literature«, deren Verfasser_innen, die Rolle der Tiermaskentänzer_innen einnehmend, ihrer Leserschaft ebenfalls Zutritt ins Tierreich verschaffe. »Embodiment«13 und Synchronisation – mittels Maske und Tanz bzw. schriftlicher Darstellung – also als Weg und Mittel zur Transformation. Literary Animal Studies haben nach Copeland (2012: 97) die Aufgabe, Kraft und Potential dieser virtuellen Tiere herauszustreichen sowie eine kritische Theorie zur Verfügung zu stellen, mit deren Hilfe Leser_innen messen können, welche dieser Tiere die reellen Tiere am besten spiegeln. In den Literary Animal Studies geht es nun nicht darum, dem literarischen Tier kategorisch jeden symbolischen Gehalt abzusprechen, sondern das Instrumentarium der Interpretationsmöglichkeiten im Sinne der Human-Animal Studies zu erweitern. Malamud (2003: 59) plädiert sogar für eine Rehabilitierung der Metapher u.a. als literarischen Zugang zur Welt der Tiere sowie als Instrument für eine moralische Reform. Manche Texte versperren sich zudem einer eindeutigen Auslegung, man denke etwa an Heiligenviten, speziell die Franziskusviten etwa des Thomas von Celano (13. Jahrhundert): Ist es die Liebe zu Tieren als Gottes Geschöpfe, ist es die Verehrung für Jesus Christus oder ist es Mitleid mit einem Wesen in Not, wenn Franziskus Lämmer, Symbole Christi, freikauft?14 Karen Seago und Karla Armbruster veröffentlichen 2005 ein Sammelwerk mit dem Titel Literary Beasts: The Representation of Animals in Contemporary Literature. Die darin vorgestellten unterschiedlichen Ansätze und Methoden eröffnen neue Herangehensweisen an das Thema. Kate Soper etwa vertritt die Meinung, Tiere würden niemals schlicht als sie selbst in Texten auftreten (Soper 2005: 303); sie verweist auf die verschiedenen Arten der Darstellung von Tieren in Texten und geht insbesondere auf die drei bemerkenswertesten ein: die natura-

13 Man geht in der Psychologie davon aus, dass nicht nur die Psyche den Körper beeinflusst, sondern auch umgekehrt Körperhaltungen auf die Psyche einwirken (vgl. etwa Pfeifer/Bongard 2006; zum Thema in den Human-Animal Studies siehe Dutton 2012). 14 »Als der selige Franziskus die Lämmer blöken hörte, berührte ihn dies sehr; er näherte sich ihnen und streichelte sie, wie eine Mutter ein weinendes Kind, und zeigte tiefes Mitgefühl.« (Kompatscher/Classen/Dinzelbacher 2010: 192f.)

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listische, die allegorische und die anteilnehmende (»compassionate«); letztere, »namely the use of fiction as a way of meditating or bringing us to think about our treatment of animals« (ebd.: 307) sei trotz einiger Vorläufer ein jüngeres Phänomen, als Beispiel wird etwa John Maxwell Coetzees The Lives of Animals genannt. Und um auf einen weiteren Artikel aus diesem Band zu verweisen: Gillian Beer (2005) stellt die brisante Frage, ob die menschliche Sprache die Erfahrungen von Tieren, als »inhabitants of sensezones beyond human capacities«, erfassen könne; embodiment und Sprache, die Körper erschafft bzw. Leser_innen in andere Körper versetzt,15 sind auch hier, wie bei Copeland 2012, Themen, die an Hand eines Zitates aus Coetzees Novelle Elizabeth Costello, in welcher sich der Hauptcharakter mit Fragen der Literary Animal Studies auseinandersetzt, erläutert werden: »By bodying forth the jaguar Hughes shows us that we too can embody animals – by the process called poetic invention that mingles breath and sense in a way that no one has explained and no one ever will. He shows us how to bring the living body into being within ourselves. When we read the jaguar poem, when we recollect it afterwards in tranquility, we are for a brief while the jaguar. He ripples within us, he takes over our body, he is us.« (Coetzee 2004: 98)16

Zu den berufenen Forscher_innen aus dem Bereich der Literary Animal Studies ist auch die Literaturwissenschaftlerin Kari Weil zu zählen. Ihr sehr vielschichtiger Zugang zum Thema kann hier nicht in extenso erörtert werden, es mögen stattdessen nur einige wenige Stichworte genügen: Sichtbarmachung der Tiere in Geschichte und Gegenwart,17 Emanzipation der Tiere aus menschenzentrierten Darstellungsweisen (im Bewusstsein, dass die eigenen geistigen Ressourcen begrenzt sind18 und dass jedes Lebewesen sich eine eigene subjektive Umwelt konstruiert, die von außen zu betreten für ein anderes Lebewesen eine Rekonfiguration dessen ursprünglicher Umwelt zeitigt19), Uminterpretation von Heideggers Unterstellung der »Weltarmut« (»zoo animals […] have been robbed of their world and are held in ours instead«, Weil 2012: 46), Analyse der Funktionalisierung von Heimtieren (»pets«) u.a. als literarische und »emotionale Nutztiere«

15 Vgl. Deleuzes und Guattaris devenir-animal (z.B. in Deleuze/Guattari 1980). 16 Zitiert nach Beer 2005: 317. 17 Vgl. dazu das Kapitel »Seeing Animals« in Weil 2012: 25-50. 18 Hier zitiert Weil (2012: 29) Thomas Nagels berühmt gewordenen Essay »What is it like to be a bat« (1974: 2f.). 19 Hier greift Weil (2012: 31) auf von Uexküll (2010: 43) zurück.

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(Ullrich/Weltzien 2013: 8), all dies konkretisiert an literarischen Beispielen wie etwa Flush von Virginia Woolf oder Rainer Maria Rilkes achter Duineser Elegie. Als weiteres Beispiel für einen in großen Teilen gelungenen Ertrag aus der Beschäftigung mit Literary Animal Studies kann etwa der Sammelband Rethinking Chaucerian Beasts (Van Dyke 2012) genannt werden, dessen Autor_innen sich u.a. eines nichtspeziesistischen Sprachgebrauches (e.g. »nonhuman animals«, passim) bedienen und einen biozentrischen Standpunkt einnehmen (»from a position of assumed human superiority«, Palmer Browne: 213, Herv. GK). Sie widerlegen die bislang tradierte Annahme, dass Chaucer Tiere lediglich als Stellvertreter_innen für menschliche Haltungen sehe, weisen weiterhin nach, dass Chaucer Tiere auch losgelöst von anthropozentrischer Überfrachtung, etwa durch Anthropomorphisierung und/oder Metaphorisierung gesehen hat, und zeichnen Grenzaufweichungen zwischen Mensch und Tier, antizipierte Formen moderner ethics of care sowie animal agency bei Chaucer nach, geben insgesamt also Literaturwissenschaftler_innen wertvolle und innovative Anregungen, wie ein rethinking literarischer Tiere geschehen könne. Ein eigenes literaturwissenschaftliches Kapitel bilden Texte, die Tiere sprechen lassen. Einige der Kerngedanken aus dem Band Speaking for Animals. Animal Autobiographical Writing (2013) von Margo DeMello, die sich mit ihren Einführungen zu den Human-Animal Studies bereits einen Namen gemacht hat (DeMello 2010; 2012), sollen diesen Unterabschnitt abrunden. Die Autor_innen untersuchen anhand unterschiedlicher Textsorten, u.a. auch literarischer, auf welche Art und Weise und aus welchen Gründen wir Tiere darin sprechen lassen, was dies für Folgen für die Tiere selbst hat und wie man sich solchen Texten annähern kann. Der Wunsch, einen Zugang zu den Gedanken und Gefühlen von Tieren zu bekommen, könne ein Grund für diese Art der literarischen Darstellung sein, dessen Erfüllung jedoch die Schwierigkeiten entgegenstünden, die sich bei einer jeden »cultural translation« ergäben, u.a. die einer unterschiedlichen Sprache20 (Hediger, in: DeMello 2013: 4f.). So bleibe Verfasser_innen von Literatur manchmal nur die Interpretation, durch welche sie oft zu bloßen Bauchredner_innen und die Tierfiguren zu deren Puppen gemacht würden. Literatur könne jedoch durchaus einen Weg zum Tier zeigen, etwa wenn ihr eine direkte Begegnung mit dem Tier vorausginge und dessen Sein und dessen Erfahrung angemessen rezipiert würde: Die Schriftsteller_innen stellten Sprache und

20 Wir sind wohl nicht einmal fähig, mittels unserer Sprache Mitgliedern unserer eigenen Spezies und Sprachengemeinschaft unsere Geisteswelt und unsere Erfahrungen zu kommunizieren (vgl. Hediger, in: DeMello 2013: 35).

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Stimme, das reale Tier, das Eingang in ihr Werk findet, Ideen, Handlung und sogar Hauptfigur (Armbruster, in: DeMello 2013: 28), sodass wir von animal agency sprechen könnten; auch der Begriff »shared authorship« wäre passend, eine Junktur, die Nancy Babb (in: DeMello 2013: 80) verwendet, wenn es um erzählende und schreibende Texttiere geht. Übrigens muss selbst eine anthropomorphisierte Darstellung nicht zu einer anthropozentrischen Interpretation führen, wie Naama Harel (in: DeMello 2013: 49) anmerkt. Die Anthropomorphisierung von Tieren ist ein Aspekt, der nicht nur in diesem Band immer wieder thematisiert wird. Dazu möchte ich anmerken, dass der Anthropomorphismus mittlerweile von Seiten moderner Verhaltensforscher_in nen eine Rehabilitierung erfährt. Frans de Waal, der für einen wissenschaftlich approbierten Anthropomorphismus (im Gegensatz zu einer »Bambification«, de Waal 2001: 74) eintritt, meint: »Consequently, anthropomorphism is not only inevitable, it is a powerful tool« (ebd.: 40), und auch Volker Sommer bekennt sich nachdrücklich dazu, Tiere zu anthropomorphisieren und Menschen zu zoomorphisieren, dies »seien gute Denkübungen für Evolutionsbiologen« (Mayer 2008). U.a. damit wird einer Aufweichung der Mensch-Tier-Grenze Vorschub geleistet, und auch anderen Disziplinen, so auch der Literaturwissenschaft, wertvolle Impulse zu einer Neubetrachtung der Mensch-Tier-Beziehungen geliefert. Der deutschsprachige Raum Im Vergleich zu den oben besprochenen Entwicklungen und Ansätzen im angloamerikanischen Raum nehmen sich jene aus dem deutschsprachigen Raum noch recht zaghaft aus, doch kann man in Anbetracht des steigenden Interesses am Thema (wie man etwa auch an den Vortragstiteln auf Kongressen sieht) davon ausgehen, dass Literary Animal Studies in Zukunft auch hier zur Blüte kommen und reichen Ertrag bringen werden. Hier ist bisher vor allem Roland Borgards anzuführen, der sich theoretisch und praktisch mit den Human-Animal Studies in der Literaturwissenschaft auseinandersetzt und dessen Überlegungen daher an dieser Stelle in aller gebotenen Kürze dargelegt werden sollen. Ausgehend von der Frage, wo die Tiere sind, kann eine Theriotopie (griech. ther [Tier], topos [Ort]) entworfen werfen, aus der Rückschlüsse auf die jeweilige Kultur gezogen werden, je nachdem, wo wir die Tiere in unserer Gesellschaft – im ursprünglichen Sinn des Wortes – verorten (im Schlachthaus, im Zoo etc.). Borgards (2012: 96-103) stellt für die Interpretation von Tiertexten drei Techniken vor: Kontextualisieren (das literarische Tier aus der Perspektive der verschiedenen Disziplinen und lebensweltlichen Berei-

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che betrachten, z.B. der Biologie oder der Landwirtschaft), Historisieren (eine Auswahl der Kontexte gemäß ihrer historischen Nähe zum untersuchten Text) und Poetisieren (jeder Tiertext – auch ein zoologischer oder juristischer – wird als Literatur betrachtet, da sogar wissenschaftliche Texte »diegetische Universen« [ebd.: 100] erschaffen). Für die Literaturwissenschaft spielen bei der Erforschung der Tiere also auch nichtliterarische Texte eine wegweisende Rolle. Tiere sind »biokulturelle Mischlinge«, sie figurieren zwischen »biologischer Natur und kulturellem Konstrukt«, sie sind »Zeichen und Lebewesen zugleich – in der Welt wie in der Literatur« (ebd.: 105); sie können als Objekte, Subjekte und agents im Sinne der Agency-Theorie dargestellt werden; sie beeinflussen Literatur bei ihrer Entstehung,21 die Literatur wiederum prägt unser Wissen von den Tieren und beeinflusst so unser Verhalten gegenüber Tieren. In einem Atemzug mit Borgards ist das Würzburger Nachwuchsforschernetzwerk CLAS (Cultural and Literary Animal Studies) mit Alexander Kling und Esther Köhring zu nennen, das ebenfalls am Institut für deutsche Philologie der Universität Würzburg angesiedelt und im Team mit Borgards aktiv ist. CLAS will Nachwuchsforscher_innen vor allem aus den Geisteswissenschaften eine Möglichkeit zu Vernetzung und Austausch sowie eine »Plattform für Tierdenker« bieten. Als wesentlich für die Theoriebildung der CLAS wird der Poststrukturalismus mit Gilles Deleuze/Félix Guattari, Jacques Derrida/ Giorgio Agamben sowie die Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours genannt.22 Bereits hohen Bekanntheitsgrad innerhalb der Human-Animal-Studies-Community haben die seit 2012 stattfindenden »Summer Schools« (»Summer School for Cultural and Literary Animal Studies: Nature, Culture, Agency« [2012]/»Politische Zoologie« [2013]) erlangt. Die Tatsache, dass mittlerweile bereits etwa 100 Doktorand_innen und Postdoktorand_innen bei CLAS vernetzt sind,23 lässt auf einen enormen Zuwachs an Forschenden im Bereich HumanAnimal Studies hoffen.

21 Vgl. McHugh (2009: 490): »[A]nimals are being reconceptualized as active participants in all cultural productions, and that participation has material and methodological consequences for literary scholarship.« Die Beleuchtung der Mensch-TierBeziehung im Leben der Autor_innen gewinnen daher mehr und mehr an Bedeutung. 22 http://www.ndl1.germanistik.uni-wuerzburg.de/forschung/nachwuchsnetzwerk_cultural _and_literary_animal_studies/ vom 25.09.2013. 23 Laut Aussage auf der Homepage: http://www.ndl1.germanistik.uni-wuerzburg. de/forschung/nachwuchsnetzwerk_cultural_and_literary_animal_studies/ vom 25.09. 2013.

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Publikationen, Kongresse, Projekte, Zentren Die wichtigsten maßgebenden Monographien und Artikel in Reihen, Zeitschriften und Sammelbänden sind im Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag genannt. Gesondert erwähnt seien die Tierstudien, eine interdisziplinäre Zeitschrift, die seit 2012 erscheint und in ihren bisherigen Bänden stets auch kritische Beiträge zu Tieren in der Literatur veröffentlich hat. Einen Hinweis verdienen auch die zahlreichen Essays der Studierenden im Rahmen der ersten Innsbrucker Ringvorlesung zu Human-Animal Studies24 sowie die Tatsache, dass an der Universität Innsbruck mittlerweile auch Abschlussarbeiten zu Literary Animal Studies eingereicht werden. Neben eigenen Kongressen zu Literary Animal Studies, wie etwa jener an der Universität Sheffield (»Reading Animals: An International English Studies Conference«, 17.-20. Juli 2014) bieten die meisten Human-Animal-StudiesKongresse eigene Literatursektionen, wie etwa die »Human-Animal-StudiesKonferenz. Im Spannungsfeld zwischen ethischen Werten und wissenschaftlicher Objektivität« an der Universität Innsbruck (06.-08. Februar 2013) oder widmen der Literatur breiten Raum (»Affective Animals. An International Symposium«, 14.-15. November 2013, University of Eastern Finland, Joensuu). Forschungsprojekte zu Human-Animal Studies werden in Zukunft auch im europäischen Raum mehr und mehr initiiert werden. Als spezielles Projekt zu Literary Animal Studies kann hier die Zusammenarbeit von Tua Korhonen (Klassische Philologie) und Erika Ruonakoski (Philosophie) genannt werden (»Empathising with the Non-Human Other in Ancient Greek Literature«). An dieser Stelle ist auch noch einmal auf das Würzburger Nachwuchsforschernetzwerk CLAS und seine »Summer Schools« hinzuweisen. Literary Animal Studies und die Gesellschaft Da Tiere kaum mittels hinterlassener Erzeugnisse (unter Ausnahme vielleicht von Tierarchitektur, Knochen und sonstigem archäologischen Material) fassbar sind und direkte Interaktionen mit den meisten von ihnen auch zu deren Lebzeiten nicht praktikabel sind, erfolgt eine Annäherung an sie oftmals über menschliche Erzeugnisse; dies zu durchleuchten, kann eine der Aufgaben der Literatur-

24 Universität Innsbruck, WS 12/13: Human-Animal Studies: Perspektiven der MenschTier-Beziehung (Gabriela Kompatscher/Reinhard Margreiter/Max Siller/Karin Schachinger/Alejandro Boucabeille).

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wissenschaft sein. Die damit verbundenen Implikationen bringt das Nachwuchsforschernetzwerk CLAS auf den Punkt: »In einem wissensgeschichtlichen Rahmen stellt sich damit die Frage, wie verschiedene Medien, verschiedene Kunstformen und verschiedene Textgattungen Wissen über Tiere hervorbringen, wie dieses Wissen den Gegenstand, auf den es zugreift, selbst formt und wie dieses Wissen popularisiert wird. So narrativiert die Literatur im Modus des ›als ob‹ Begegnungsgeschichten zwischen Mensch und Tier und beeinflusst auf diese Weise die Wahrnehmung von Tieren. Literarische Texte (und auch Filme, Bilder, Musik, Theateraufführungen) sind also am Aufbau und der Vermittlung des Wissens über Tiere mit beteiligt. Das hat für die Wissenschaften von den Künsten eine doppelte Konsequenz: Einerseits prägen künstlerische Artefakte durch ihre Darstellungsverfahren den Umgang mit tatsächlichen Tieren, andererseits ist durch eine solche Hypothese die Wissenschaft selbst aufgerufen, sich der Wirkmacht des eigenen Gegenstandes zu stellen. Damit thematisieren die CLAS neben historischen auch systematische Problemstellungen.«25

Literatur ist eine Linse, durch die – nach Identifizierung der ästhetischen Filter, die darüber gelegt wurden – Mensch-Tier-Beziehungen betrachtet und analysiert werden können; dabei rücken Tiere auch dann ins Zentrum, wenn sie sich nur am Rande des narrativen Blickfeldes bewegen, denn auch als Nebenfiguren können sie Aufschlüsse über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier geben. Nun kann man es bei einer neutralen Befundung belassen oder noch einen weiteren fundamentalen Aspekt berücksichtigen. Human-Animal Studies werden, wie in anderen Fächern, auch in der Literaturwissenschaft aus unterschiedlichen Perspektiven betrieben: neutral-deskriptiv oder kritisch-politisch.26 Um den Übergang von der traditionellen Literaturwissenschaft über unkritische Literary Animal Studies zu einer kritisch-politischen und somit »tiersensib-

25 http://www.ndl1.germanistik.uni-wuerzburg.de/forschung/nachwuchsnetzwerk_cultural _and_literary_animal_studies/ vom 25.08.2013. 26 Dazu Best (2009), der das Agieren von Wissenschaftler_innen wie McHugh (2006) innerhalb des »funhouse of theory«, ohne Auswirkungen auf die Welt außerhalb des Elfenbeinturms zu beabsichtigen, auf das Schärfste kritisiert: »[T]he concrete realities of animal suffering, violence and exploitation, economic crisis and social power, and the rapidly worsening planetary ecological catastrophe are entirely muted and virtually barred from the hermetically-sealed chambers of theory-babble. […] Little different from the television or video game, theory is just another form of distraction in which individuals can immerse themselves, as they detach themselves from the real and pressing issues of society, animals, and the environment.«

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len« Literaturwissenschaft zu vollziehen, bedarf es einer ideellen Basis, die menschlichen und nichtmenschlichen Tieren einen intrinsischen Wert zugesteht, Wissenschaft um eine ethische Komponente erweitert sehen will und – durch eine Auflösung der Mensch-Tier-Grenze – nach einer Gleichstellung der verschiedenen Spezies27 strebt. Dabei ist diese Mensch-Tier-Grenze ja schon in der Literatur selbst in vielen Fällen durchlässig, man denke an die Verwandlungen von Menschen in Tiere in Ovids Metamorphosen, an den großen shape-shifter Zeus im antiken Mythos, an Franz Kafkas Gregor Samsa oder Viktor Pelevins Werfüchsin A Huli. In der Literaturwissenschaft bedurfte es jedoch der Impulse aus Philosophie und Naturwissenschaft;28 auch würde die Literaturwissenschaft weiterhin aus einem Zusammenspiel aus Natur- und Kulturwissenschaft und Ethik gewinnen. Motivation und Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, also zur Analyse der Literatur aus tiernaher Perspektive sind weitere wichtige Voraussetzungen, um von tiersensibler Literaturwissenschaft im Sinne der Critical Animal Studies sprechen zu können. Wie in vielen anderen aus social movements hervorgegangenen wissenschaftlichen Disziplinen finden sich auch unter den Wissenschaftler_innen der Human-Animal Studies, so auch unter den Literaturwissenschaftler_innen, activist intellectuals, die mit ihren Forschungsergebnissen bewusst die soziale Bewegung, von der sie geprägt sind, in diesem Fall die Tierrechtsbewegung, unterstützen und dem herrschenden mastery discourse im Bereich der Mensch-Tier-Beziehung einen counterdiscourse (Milstein 2007: 10481052) entgegenstellen wollen. Und wenn Starre (2010: 27) schreibt, dass Literatur für den ecocriticism »selten nur Forschungsgegenstand, sondern oft auch zielführendes Werkzeug« sei, kann dies mutatis mutandis auch für die tiersensible Literaturwissenschaft gelten: Wie ecocritics eine umweltorientierte Didaktik einsetzen, um künftige Generationen zu sensibilisieren, bemühen sich auch Literaturwissenschaftler_innen29 um eine tier-(schutz- bzw. -rechts-)orientierte Didaktik.30

27 Vgl. dazu auch das von Kaplan (2000: 59) auf der Basis von Singer (1994: 39) postulierte Gleichheitsprinzip: »Ähnliche Interessen sollen ähnlich gewichtet werden«. 28 Vgl. dazu auch Bodenburg (2012a). 29 Das gilt etwa für mich selbst. 30 Vgl. hierzu die ausgezeichnete Analyse des ecocriticism von Starre (2010: etwa 27), die zahlreiche Parallelen zu Entstehung und Entwicklung der Literary Animal Studies erkennen lässt.

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Tiertexte und Texttiere im Licht der Didaktik Und dass es Forscher_innen im Bereich der Human-Animal Studies tatsächlich gelingt, ihren Enthusiasmus für dieses Fach auch ihren Schüler_innen und Studierenden zu vermitteln, davon legt die Existenz von mittlerweile unzähligen meist gut besuchten Kursen und Collegeprogrammen Zeugnis ab. Im deutschsprachigen Raum ist diese Begeisterung ebenfalls schon spürbar, etwa wenn sich in Innsbruck über 1.000 Studierende für eine Vorlesung zu Human-Animal Studies, in deren Rahmen auch die Literaturwissenschaft vertreten war, anmelden.31 Als Anbieter_innen von Lehrveranstaltungen rein zu literarischen HumanAnimal Studies sind hier – nach den englischsprachigen Kolleg_innen (siehe unten) – wieder die Würzburger Wissenschaftler_innen zu nennen, etwa Roland Borgards und Esther Köhring. Wie eine Umsetzung literaturwissenschaftlicher Theorie im Rahmen der Human-Animal Studies und umgekehrt, eine Umsetzung von Erkenntnissen aus den Human-Animal Studies im Rahmen des Literaturunterrichts, praktisch und konkret erfolgen kann, soll durch einige wenige im Folgenden beispielhaft genannten Kursziele, Themen und Forschungsfragen gezeigt werden; inspiriert sind diese Kataloge u.a. durch die Syllabi, die an der Humane Society University, auf http://www.h-net.org/~animal/ und in anderen Netzwerken von Fachgrößen wie etwa Susan McHugh zur Verfügung gestellt werden.32

31 Universität Innsbruck, WS 12/13: Human-Animal Studies: Perspektiven der MenschTier-Beziehung

(Gabriela

Kompatscher/Reinhard

Margreiter/Max

Siller/Karin

Schachinger/Alejandro Boucabeille) sowie WS 14/15: Human-Animal Studies: Kritische Betrachtungen der Mensch-Tier-Verhältnisse (Gabriela Kompatscher/Reingard Spannring/Karin Schachinger). 32 Teresa Mangum, University of Iowa: »Literature and Society: Capturing Animals Service Learning Course with the Iowa City Animal Care and Adoption Center« (http://www.h-net.org/~animal/syllabi/mangum.pdf vom 28.08.2013). Susan McHugh, University of New England: »Animals, Literature and Culture« (http://www.h-net.org/~animal/syllabi/mchugh.pdf vom 28.08.2013). Boria Sax, Mercy College, New York: »Animals in Literature« (http://www. academia.edu/1734770/Animals_in_Literature vom 28.08.2013). Humane Society University: »Promoting Critical Thinking through Humane Literature«

(http://humanesocietyuniversity.org/academics/cas/humaneleadership/courses/

hl670.aspx vom 28.08.2013).

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Mögliche Kursziele: • Erkenntnis darüber, wie wir Tiere bewerten und dementsprechend nutzen (als

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Kumpantiere, als Metaphern etc.), welche Annahmen und kulturellen Konstrukte dabei zugrunde liegen und wie diese von der Tierrechtsphilosophie in Frage gestellt werden; Befähigung zur Identifikation der verschiedenen Techniken, die in der Literatur zur Darstellung von Tieren verwendet werden; geschärftes Bewusstsein für die philosophischen, sozialen und psychologischen Fragen, die sich aus dem Versuch, Tiere in der Literatur darzustellen, ergeben; Sensibilisierung für die Zusammenhänge zwischen Tierliteratur und der Intersektion von Speziesgrenzen und historischer Konstruktion von Gender, Geschlecht, Ethnizität; Vertrautheit mit den wichtigsten Textsorten der Tierliteratur, wie Fabeln und Märchen; Kompetenzen in der Analyse der Beiträge aus der Literatur zu Weiterentwicklungen im Tierschutz- und Tierrechtsbereich; Verbesserung des kritischen Denkens.

Mögliche Themen und Forschungsfragen: • Welchen Zwecken dienen Tiere in der Literatur und in unserer Gesellschaft? • Finden sich Beispiele in der Literatur, in denen Tiere für Tiere und nicht für

Menschen stehen? • Auf welche Weise wecken formelle Elemente von Tiererzählungen (sei es in

der Literatur, sei es in Alltagstexten), wie etwa Erzählperspektive, Stil, Textsorte etc., unsere Sympathie oder führen uns zu einem bestimmten Urteil? • Wie rezipieren diese Erzählungen soziale, politische und kulturelle Anliegen und Standpunkte sowie deren Änderungen?

Humane Society University: »The Literary Animal: Raising Consciousness Through Fiction«

(http://humanesocietyuniversity.org/academics/cas/animalstudies/courses/

as606.aspx vom 28.08.2013). Carry Rohman, Lafayette College, Easton/Pennsylvania: »Humans and Other Animals in Twentieth Century Literature and Culture« (http://www.animalsandsociety.org/ pages/has-courses-in-english-literature vom 28.08.2013).

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• Welche Arten von Mensch-Tier-Beziehungen werden dargestellt und auf wel-



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che verschiedenen Weisen können sie interpretiert werden? Welche Rolle spielt dabei die Einstellung der Rezipient_innen? Welche Rückschlüsse lassen sich aus den Handlungen der intradiegetischen Figuren bzw. den Äußerungen des (extra-)diegetischen Erzählenden auf die Einstellung der Autor_innen zu Tieren ziehen? Dienen die eingesetzten Tiere dazu, das herrschende Konzept des Menschseins zu konsolidieren oder zu destabilisieren (vgl. DeMello 2012: 328)? Welche Effekte auf die Rezipient_innen ergeben sich aus einer Anthropomorphisierung der dargestellten Tiere? Und sind diese Effekte von den Autor_innen intendiert? Welche Implikationen haben erzählende Tiere für die Leser_innen? Warum gehören Tierfiguren vor allem in Kinderbüchern zum bevorzugten Erzählpersonal? Welche Unterschiede lassen sich in der Darstellung von Tieren in Büchern für Kinder und solchen für Erwachsene feststellen? Welche Unterschiede lassen sich zwischen der Rezeption von literarischen Tieren durch Kinder und jener durch Erwachsene feststellen? Wie können Tierschutz und Tierrechte im Zuge einer kritischen Lektüre von Tiertexten thematisiert werden? In welchen Texten lassen sich, je nach Epoche und Kultur, Anzeichen für eine geänderte Wahrnehmung von Tieren erkennen? Und wie ist diese geänderte Wahrnehmung bedingt? Wie kann, umgekehrt, Literatur zu einer geänderten Wahrnehmung von Tieren führen?

Der letzte Punkt war eine der Motivationen für Regan und Linzey (2010), beide im Übrigen keine Literaturwissenschaftler, eine Anthologie von Tiertexten (deren Autor_innen – von Ernest Hemingway bis Isaac Bashevis Singer oder Alice Walker – die unterschiedlichsten moralischen Standpunkte vertreten) zu veröffentlichen. Im Rahmen der Frage »What can literature offer?« setzen sie einen Akzent auf die Eignung von Literatur, zur Ausbildung moralischer Sensibilität beizutragen und Einsichten zu vermitteln, die über jene hinausgehen, die uns Psychologie und Biologie gewähren: »What literature can do – as can probably no other discipline – is to reconnect us with the world of animals.« (Ebd.: xviii) Denn Kunst, und insbesondere Literatur, hat die Freiheit, mittels Vorstellungskraft und Emotionen Grenzen zu überschreiten und fremde Welten zu perzipieren, um auf diese Weise zu einem besseren Verständnis derselben zu gelangen.

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Wie die Praxis zeigt, sind es tatsächlich in erster Linie Dozent_innen mit einem tiefer gehenden Interesse an Mensch-Tier-Beziehungen und dem Anliegen, durch ihren Unterricht sensibilisierend zu wirken, die Kurse zu Human-Animal Studies bzw. Literary Animal Studies anbieten. Zudem sind zahlreiche bereits etablierte Kurse theoretisch und praktisch ausgelegt, sodass als Unterrichtsmaterial neben ausgewählter Literatur auch eigene Erfahrungen herangezogen werden, die im Rahmen von kursbegleitenden Praktika in Tierheimen etc. gewonnen werden.

AUSBLICK Die Entwicklung der Literary Animal Studies von ihren Anfängen bis heute konnte an dieser Stelle nur grob nachgezeichnet werden. Gleichwohl können die vielfältigen hier präsentierten innovativen Ansätze der Literary Animal Studies interessierten Studierenden und Forschenden Impulse für eine »tiergerechte«/»tiersensible« Literaturwissenschaft geben. Zu den Hauptaufgaben einer solchen postanthropozentrischen bzw. theriozentrischen Literaturwissenschaft gehören ein Sichtbarmachen von Tieren in Texten und eine Neuinterpretation derselben durch eine Untersuchung des Tierbildes, das Autor_innen jeweils entwerfen, u.a. seiner Ursprünge und seiner Auswirkungen auf die Gesellschaft. Und da eine Berücksichtigung der nichtmenschlichen Tiere bzw. des Mensch-Tier-Verhältnisses innerhalb der Literaturwissenschaft unter Umständen eine Auseinandersetzung mit dem Thema Tierethik zeitigt, ist es naheliegend, dass die Literaturwissenschaft um eine ethische Dimension erweitert wird, sodass auch folgende tief greifenden Aspekte und Themen Eingang finden können: Infragestellung sozialer und literarischer Konstrukte hinsichtlich der Ästhetisierung und sonstiger »Verwendungsmöglichkeiten« von Tieren, Aufbrechung der Mensch-Tier-Grenze, Sensibilisierung von Studierenden und Forschenden, politische Stellungnahme sowie Anerkennung eines intrinsischen Wertes von Tieren.33

33 Ich bedanke mich bei Dunja Brötz sowie bei meinen Kolleg_innen aus dem Herausgeber_innen-Team für ihre äußerst hilfreichen Kommentare sowie Ergänzungsund Korrekturvorschläge.

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Philosophie Tierethik und die Human-Animal Studies K LAUS P ETRUS

E INLEITUNG Die Human-Animal Studies sind ein noch junges, aber boomendes Forschungsprogramm. Es befasst sich mit der kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Rolle der Tiere und analysiert die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen und anderen Tieren (DeMello 2012: 4; vgl. auch Roscher 2012; Petrus 2015b; Ferrari/Petrus 2015).1 Ungeachtet der thematischen und methodischen Vielfalt besteht ein – wenn nicht sogar das – Charakteristikum der HumanAnimal Studies darin, Tiere nicht länger als Objekte oder Statisten in einem überwiegend anthropozentrischen Weltbild zu konzeptualisieren, sondern als Individuen und eigenständige Akteure wahrzunehmen, die mit anderen Lebewesen interagieren und mit ihnen Gemeinschaften bilden. An diesem Paradigmenwechsel beteiligen sich so unterschiedliche Disziplinen wie die Anthropologie, Soziologie, Psychologie, Pädagogik, die Geschichts- und Kulturwissenschaften oder die Politik- und Rechtswissenschaften. Eine besondere Rolle kommt der Moralphilosophie zu.2 Der Grund ist dieser: Zwar ist unser Verhältnis zu Tieren ausge-

1

Ich verwende in der Folge statt des (sachlich korrekten) Begriffs »nichtmenschliche Tiere« auch die Ausdrücke »Tiere« oder »andere Tiere«. – Dank an Roger Furrer und Martina Späni.

2

In diesem Artikel geht es (fast) nur um Ethik. Die Philosophie kann natürlich noch anders zu den Human-Animal Studies beitragen, so etwa in Gestalt einer Tierphilosophie, die sich u.a. mit dem Geist der Tiere befasst (vgl. Wild 2008; Petrus 2012;

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sprochen vielfältig, doch gibt es eine Beziehung, die namentlich in abendländischen Kulturen alle anderen zu überschatten scheint und die in unserem Nutzungsanspruch auf Tiere besteht: Tiere sind für uns da, sie existieren, um von uns gebraucht zu werden! Aber ist dem wirklich so? Wenn ja, wieso eigentlich? Haben Tiere denn nicht ihre eigenen Rechte? Und falls sie keine Rechte besitzen: Sollten wir ihnen nicht wenigstens schlimmstes Leid ersparen, sie »human« behandeln? Fragen des moralischen Umgangs mit Tieren wurden schon im antiken Griechenland (hin und wieder) aufgeworfen (Steiner 2005: Kap. 2-4), sie haben im frühen 19. Jahrhundert zu den ersten Tierschutzgesetzen geführt (Roscher 2009: Kap. 2) und sind ab Mitte der 1970er Jahre in den Kanon einer separaten Disziplin der praktischen Philosophie mit separatem Namen eingeflossen: der Tierethik (Petrus 2013d: Kap. 1).3 Wenn der besagte Nutzungsanspruch die Mensch-Tier-Beziehungen maßgeblich mitprägt und wenn die Tierethik diesen Anspruch kritisch hinterfragt, dürfte also klar sein: keine Human-Animal Studies ohne Tierethik. Doch welche Tierethik brauchen die Human-Animal Studies? Um genau diese Frage wird es jetzt gehen.

H ABEN

WIR

T IEREN

GEGENÜBER

P FLICHTEN ?

Fast alle Tierethiker_innen sind heutzutage der Ansicht, dass Tiere keine Automaten sind, sondern empfindungsfähige Lebewesen, für die es einen Unterschied macht, ob man sie gut oder schlecht behandelt (wo nicht anders vermerkt, wird ab jetzt nur von empfindungsfähigen Tieren die Rede sein). Deswegen seien wir moralisch verpflichtet, auch auf nichtmenschliche Tiere Rücksicht zu nehmen. Doch können damit Pflichten sehr unterschiedlicher Art gemeint sein. So dürfen wir Tiere womöglich deswegen nicht quälen oder töten, weil wir damit das Eigentum anderer Menschen schädigen oder weil Gewalt an Tieren unseren Charakter verdirbt. In diesem Sinne sind unsere Pflichten gegenüber Tieren bloß indirekte Pflichten. Sie betreffen nämlich nicht die Tiere selbst, sondern sind letztlich dem Menschen geschuldet. Dieser anthropozentrische Tierschutz hat das abendländische Denken lange Zeit dominiert, er wurde von einflussreichen Denkern wie Thomas von Aquin oder Immanuel Kant vertreten und findet auch heute noch bisweilen Anklang (z.B. Carruthers 1992: 146 ff.). Doch ist das offenbar

ders./Wild 2013), oder im Rahmen der Erkenntnistheorie, moralischen Psychologie, Anthropologie, Religions- oder Rechtsphilosophie (vgl. Engel/Jenni 2010: 42 ff.). 3

Ich werde systematisch vorgehen und bin nicht so sehr an einem Überblick über die Tierethik interessiert; dazu z.B. Wolf 2007; Beauchamp/Frey 2011; Schmitz 2014.

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die Ausnahme. Für gewöhnlich ist nämlich zu lesen, der anthropozentrische Tierschutz sei durch einen ethischen Tierschutz überwunden worden, der direkte Pflichten gegenüber Tieren fordert: Als empfindungsfähige Lebewesen seien sie nämlich »um ihrer selbst« zu schützen und hätten damit einen, wie es in der Ethik heißt, »moralischen Status«. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, wie viel Tiere moralisch zählen – so vor allem im Vergleich zum Menschen. Für einige zählt tierliches Leid grundsätzlich immer weniger als das Leid von uns Menschen – sei es, weil wir besondere Fähigkeiten besitzen, die uns wertvoller machen als alle übrigen Tiere (wie z.B. Sprachvermögen, Autonomie oder Selbstbewusstsein), oder sei es, weil wir halt Menschen sind – und sie eben nur Tiere (z.B. Cohen 2007). Andere lehnen diese Art von Speziesismus, der auf einer Bevorzugung bzw. Benachteiligung von Individuen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit beruht, entschieden ab. Sie plädieren stattdessen für ein Gleichheitsprinzip. Es besagt, dass ähnliche Interessen auch ähnlich berücksichtigt werden sollten – und zwar einerlei, ob es die Interessen von menschlichen oder von nichtmenschlichen Tieren sind. Das gilt vor allem für das Interesse, Leid zu vermeiden, wie Peter Singer, der wohl bekannteste Tierethiker unserer Zeit, meint (Singer 1996: 32 ff.). Doch läuft ein solcher Pathozentrismus nicht zwingend auf den Grundsatz »Alle Tiere sind gleich« hinaus. Gerade Singer, von dem dieser Slogan stammt (ebd.: Kap. 1), macht – wie viele andere Tierethiker_innen – durchaus einen Unterschied zwischen Lebewesen, die »bloß« empfindungsfähig sind, und solchen, die noch weitere kognitive Merkmale besitzen wie Selbstbewusstsein sowie die Fähigkeit, über die eigene Zukunft zu sinnieren. Singer – wie im Übrigen schon Jeremy Bentham (1970: 282 f.) im 18. Jahrhundert – hält diese Differenz für moralisch bedeutsam. Anders als bloß empfindungsfähige Tiere hätten Wesen mit Selbst- und Zukunftsbewusstsein – sie werden »Personen« genannt – nämlich nicht nur ein Interesse daran, Leid zu vermeiden, sondern auch ein Interesse am Überleben. Deshalb sei die (selbst schmerzfreie) vorzeitige Tötung für sie ein größeres Übel (Singer 2013: 174 ff.). Dieser »hierarchische« Ansatz hat Singer ordentlich Kritik eingebracht. Weil er für die Begründung seiner These, nicht alle Leben seien gleich wertvoll, menschenähnliche Merkmale wie Selbst- oder Zukunftsbewusstsein herbeizitiert, wurde ihm ein verkappter Speziesismus vorgeworfen (z.B. Dunayer 2004). Zudem ergeben sich aus seiner Position ausgesprochen fragwürdige Konsequenzen auch für uns Menschen: Zwar mögen die meisten von uns empfindungsfähige Wesen sein. Was aber die Merkmale angeht, die eine selbst »humane« Tötung angeblich unproblematisch machen, ist es keinesfalls so, dass wir alle über sie verfügen (dazu Wolf 2005: 103 ff.). Heißt das nun, dass die (schmerzfreie) Tötung von Menschen ohne Selbstbewusstsein und Zeitbezug moralisch

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legitim ist?4 Dass der Rekurs auf Empfindungsfähigkeit als moralisch relevante Eigenschaft keineswegs zu einer Hierarchisierung des Lebens führen muss, ist auch die Ansicht von Francione (2014). Für ihn ist Empfindungsfähigkeit schon biologisch gesehen ein Mittel zum Zweck, »der darin besteht, die eigene Existenz aufrechtzuerhalten«. Von einem Wesen zu sagen, es sei zwar empfindungsfähig, habe aber kein Interesse am Weiterleben, sei »ausgesprochen seltsam« (ebd.: 170). Noch eine weitere Unterscheidung ist für die Frage der moralischen Verpflichtung gegenüber Tieren von Belang, nämlich jene zwischen negativen und positiven Pflichten. Negative Pflichten sind Normen, die uns etwas verbieten – so z.B., Tiere leiden zu lassen oder sie zu töten. Sie werden auch »Unterlassungspflichten« genannt und machen üblicherweise den Kern der Moral aus (vgl. Wolf 2012: 97). Dagegen sind positive Pflichten solche, die von uns etwas verlangen – so etwa, Tieren in akuten Notsituationen zu helfen (wenn sie z.B. verletzt oder zu verhungern drohen; dazu mehr im Abschnitt »Ganz vielfältige Beziehungen«). Ob es sich bei diesen »Hilfspflichten« tatsächlich um Pflichten handelt, ist umstritten. Manche Ethiker_innen meinen, diese Art von Hilfeleistung sei bloß ein moralisch verdienstvolles (supererogatorisches) Tun, für das man bestenfalls Applaus erntet oder bewundert wird. Wer darin aber eine Pflicht sieht, vertritt typischerweise auch die Ansicht, positive Pflichten seien anspruchsvoller als negative Pflichten, da jene von uns ja »nur« verlangen, etwas

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Zu diesen Menschen – sie werden unschön »menschliche Grenzfälle« (marginal cases) genannt – zählen Säuglinge, geistig schwer behinderte oder demente Menschen. Üblicherweise wird das Argument der »menschlichen Grenzfälle« dazu benutzt, um egalitäre Ansprüche im Umgang mit menschlichen wie auch nichtmenschlichen Tieren geltend zu machen. Demnach wäre es inkonsistent und speziesistisch, würde man manche nichtmenschliche Tiere moralisch weniger gewichten als Menschen, weil sie über bestimmte mentale Eigenschaften (wie Selbst- oder Zukunftsbewusstsein) nicht verfügen, während man manche menschliche Tiere (wie eben Säuglinge oder Schwerstbehinderte) besser behandelt als Tiere, obschon ihnen diese Merkmale ebenfalls fehlen (dazu Pluhar 1995; Garner 2005: 55 ff.). Hinzu kommt, dass niemand von uns unter allen Bedingungen und in sämtlichen Augenblicken oder Lebensphasen die von Singer & Co. genannten Merkmale aufweist. Jeder Versuch, den Wert eines Lebens an den Besitz von Eigenschaften wie z.B. Rationalität, Autonomie oder Selbstbewusstsein zu binden, sollte also dieses berücksichtigen: Derlei Eigenschaften können nicht nur von Spezies zu Spezies variieren, sondern auch »zwischen Individuen innerhalb einer Spezies und zwischen verschiedenen zeitlichen Stadien ein und desselben Individuums« (Donaldson/Kymlicka 2013: 67).

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Bestimmtes zu unterlassen (z.B. Palmer 2010: 35). Das gilt vor allem unter der Voraussetzung, dass sich unsere Pflichten gegenüber Tieren auf sämtliche (empfindungsfähige) Tiere erstrecken sollten. So mag es durchaus im Bereich des Machbaren sein, die (negative) Pflicht zu erfüllen, keinem Tier unnötigerweise Leid anzutun – so namentlich in Bezug auf sogenannte Nutztiere und in Wohlstandsländern, wo im Prinzip ausreichend Alternativen zur Nutzung von Tieren etwa zum Zwecke der Ernährung, Bekleidung oder Unterhaltung verfügbar sind. Wären wir (darüber hinaus) aber verpflichtet, immer und überall allen Tieren zu helfen, würde uns das wohl überfordern. Weil aber die Erfüllung moralischer Pflichten für den Menschen zumutbar sein müsse, sei es strategisch klüger, »den Bezugspunkt der Zumutbarkeit […] eher niedrig anzusetzen«, d.h. bei negativen Pflichten (Wolf 2012: 91).5

H ABEN T IERE R ECHTE ? Bis dahin ging es um Pflichten, die wir nichtmenschlichen Tieren allenfalls schulden. Wenden wir uns jetzt der zweiten wichtigen Frage der zeitgenössischen Tierethik zu: Haben Tiere Rechte? Das ist eine ziemlich umstrittene Sache (vgl. Birnbacher 2009; Petrus 2013d: Kap. 3.2). So ist Scruton (2000) davon überzeugt, dass nur jene Wesen Rechte besitzen dürfen, die auch Pflichten haben können. Dazu seien nichtmenschliche Tiere aber schlicht nicht in der Lage. Cohen (2007) meint, das Besondere an Rechten bestehe gerade darin, dass sie von Menschen für Menschen geschaffen wurden. Sie seien weder gott- noch naturgegeben, sondern das Resultat von Verhandlungen und Verträgen. Deshalb könnten nur Wesen Rechte haben, die auch fähig seien, an solchen Verträgen teilzuhaben (vgl. Carruthers 1992; kritisch Rowlands 1997). Auch Singer (2013: 153) hält die Rede von »Rechten« – außer in einem rhetorischen oder appellativen Sinne – für wenig »hilfreich oder sinnvoll«. Wie für viele Utilitarist_innen typisch, ist seine Ethik durch das Ziel moralischen Handelns bestimmt, und das besteht in der Minimierung des Gesamtleids auf der Welt bzw. der Vermehrung des Gesamtglücks. In einer solchen Theorie werden Individuen ausschließlich als Träger_innen von Lust, Leid oder Interessen gesehen – oder wie das Regan (1986: 38) in seiner Kritik an Singer formuliert hat: als »Behälter« mit positiven

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Das bedeutet keineswegs, dass Tiere keine begründeten moralischen Ansprüche auf Hilfeleistung haben. Nur handelt es sich hierbei um Ansprüche, die in der Regel nicht an Individuen, sondern an die Allgemeinheit gerichtet sind (mehr dazu im Abschnitt »Tierethik, soziale Praxis und politische Gerechtigkeit«).

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und negativen Werten (i. e. Lust und Leid). Als solche sind sie gar nicht in der Lage, dem Handeln anderer Menschen Grenzen zu setzen, und können grundsätzlich immer dem Gesamtnutzen geopfert werden. Nun besteht der Witz von Rechten aber gerade darin, dass sie eine Art »Trümpfe« sind (Dworkin 1984: 433), die Individuen für sich in Anspruch nehmen dürfen, falls ihre grundlegenden Interessen den Interessen Anderer oder dem Gesamtwohl geopfert werden sollen. Dabei ist zwischen moralischen und juridischen Rechten zu unterscheiden. Während juridische Rechte vom Staat geschaffen und von ihm z.B. durch Erlass neuer Gesetze wieder aufgehoben werden dürfen, können moralische Rechte vom Staat höchstens verletzt werden. Diese Rechte werden Lebewesen aufgrund gewisser Eigenschaften, Fähigkeiten oder Bedürfnisse verliehen. Ist in der Tierethik von »Tierrechten« die Rede, sind primär solch moralische Ansprüche gemeint. Allerdings gibt es auch Positionen, denen zufolge die Verleihung von moralischen Rechten letztlich nur dann Sinn ergibt, wenn diese auch gesetzlich verankert werden und einklagbar sind (Francione 1994). Vergleichsweise unstrittig ist dagegen die These, dass Rechte häufig mit Pflichten korrelieren, also die Rechte der/des Einen die Pflichten der/des Anderen sind. Das würde in diesem Fall bedeuten: Falls Tiere Rechte haben, haben Menschen entsprechende (direkte) Pflichten. Dabei kann es sich um positive oder aber negative Pflichten handeln. So mag uns z.B. das Recht der Tiere auf Leben dazu verpflichten, sie nicht zu töten (negative Pflicht). Wir könnten aber auch verpflichtet sein, sie vor tödlichen Gefahren zu schützen bzw. am Leben zu erhalten (positive Pflicht). Im ersten Fall hätten Tiere demnach ein negatives Recht auf Leben, im zweiten Fall hätten sie ein positives Recht auf Leben. Wie weiter oben ausgeführt, sind sich viele Tierethiker_innen darin einig, dass negative Pflichten dem Menschen eher zumutbar seien als positive Pflichten. Dies dürfte einer der Gründe sein, weshalb in der klassischen Tierrechtsphilosophie überwiegend von negativen Tierrechten die Rede ist, also von Rechten, die seitens des Menschen mit negativen Pflichten korrelieren. Wenn negative Pflichten zumutbar(er) und damit weniger leicht zurückzuweisen sind, mag es strategisch tatsächlich klüger sein, (zunächst) für negative anstatt (bereits) für positive Tierrechte zu votieren. Dazu gehören typischerweise das schon erwähnte Recht auf Leben bzw. (in der »negativen« Lesart) das Recht, nicht getötet zu werden, sodann das Recht auf Unversehrtheit bzw. das Recht, nicht geschädigt zu werden, und schließlich das Recht auf Freiheit bzw. das Recht, in der Ausübung der natürlichen oder arttypischen Verhaltensweisen nicht eingeschränkt zu werden (dazu DeGrazia 2002). Man könnte diese negativen Grundrechte auch im Recht der

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Tiere zusammenfassen, dass ihr Wohlergehen durch den Menschen nicht beeinträchtigt werden darf (Petrus 2015a). Bis heute gibt es eine rege Debatte darüber, wie sich derlei Rechte philosophisch begründen lassen (dazu ders. 2013d: Kap. 3.2). In einem ist man sich aber mehrheitlich einig: Moralische Rechte sind Ansprüche, die Individuen aufgrund bestimmter intrinsischer Eigenschaften erheben dürfen – also aufgrund von Merkmalen, die sie sozusagen von Haus aus besitzen. Aber welche Eigenschaften sind das? Einige Tierrechtsphilosoph_innen sind überzeugt, Empfindungsfähigkeit sei sowohl notwendig als auch hinreichend dafür, dass ein Wesen Grundrechte besitzt (z.B. Sapontzis 1987; Francione 2000; Donaldson/Kymlicka 2013). Für andere haben nur solche Wesen Anspruch auf Grundrechte, die über die Empfindungsfähigkeit hinaus weitere kognitive Merkmale aufweisen wie z.B. Erinnerungsvermögen, Intentionalität, Autonomie oder Selbstbewusstsein (z.B. Regan 1983; DeGrazia 1996; Wise 2000).6 Schließlich gibt es nicht wenige, die diese beiden Ansätze gewissermaßen kombinieren, indem sie »bloß« empfindungsfähigen Tieren z.B. das Recht einräumen, nicht leiden zu müssen, und kognitiv »höheren« Tieren darüber hinaus z.B. ein Recht auf Leben attestieren (dazu Birnbacher 2009). Ob Tiere über Rechte – oder nur schon: über moralischen Status – verfügen, hängt hier also nicht davon ab, um welche »Art« von Tieren es sich dabei handelt (ob z.B. um »Haustiere« oder »Wildtiere«) oder in welcher Beziehung wir zu ihnen stehen. Es geht allein darum, welche moralisch relevanten, intrinsischen Merkmale sie haben. Alle Tiere, die das relevante Merkmal XY aufweisen, be-

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Allerdings vertritt der hier in Klammern an erster Stelle erwähnte Tom Regan inzwischen wohl eine andere Position. In seinem für die akademische Tierrechtsdebatte zentralen Buch The Case for Animal Rights (1983) war Regan grob gesagt dieser Meinung: Das Recht auf Respekt, Gerechtigkeit und Rücksicht ist im »Eigenwert« (inherent value) eines Individuums begründet; Eigenwert besitzen aber nur Wesen, die »Subjekte-eines-Lebens« (subject-of-a-life) sind, und die wiederum müssen u.a. kognitive Eigenschaften wie Meinungen, Wünsche, Absichten, Wahrnehmungen, Gefühle, Erinnerungsvermögen sowie einen Sinn für die Zukunft besitzen (ebd.: 243). Unterm Strich läuft das, wie Regan (ebd.: 81) selbst sagt, darauf hinaus, dass nur solche (menschliche wie nichtmenschliche) Tiere Grundrechte haben, welche die geistigen Fähigkeiten eines »normal« entwickelten Säugetiers im Alter von einem Jahr oder mehr besitzen; zur Kritik an Regans »Subjekte-eines-Lebens«-Kriterium vgl. Flury 1999: 186 ff.; Wolf 2013: 48 ff. In neuen Arbeiten benutzt Regan dieses Kriterium mehr oder weniger als Abkürzung für »Lebewesen-mit-Empfindungsfähigkeit« (z.B. Regan 2007).

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sitzen dieselben negativen Grundrechte, und zwar im selben Maße. Ob ein Wesen moralischen Status oder Rechte besitzt, lässt sich so gesehen von einem unparteiischen Standpunkt entscheiden. Dabei müssen diese Rechte unverletzlich und allgemeingültig sein. Dass sie allgemeingültig sind, heißt (wie im Fall der Menschenrechte): Die Vorstellung, dass Tiere – als verwundbare Wesen, die sie sind – Anspruch auf Schutz haben, ist kein kulturspezifisches Konstrukt, sondern in den meisten Gesellschaften angelegt (vgl. ausführlich Donaldson/Kymlicka 2013: 97 ff.). Und dass sie als unverletzliche Rechte gelten, soll eben bedeuten, dass sie »Trümpfe« von Individuen sind, die nicht dem Gesamtwohl geopfert werden dürfen. Damit ist übrigens nicht gemeint, es sei keine Situation denkbar, in der das Recht eines Individuums verletzt werden muss. So kann es sein, dass ich von einem Tier angegriffen werde und ich keine andere Möglichkeit habe, mein Leben zu retten, als dadurch, dass ich es verletze oder gar töte. In einer solchen Notwehrsituation kann das unverletzliche Recht des Tieres außer Kraft gesetzt werden, wenn es für das unverletzliche Recht einer/eines Anderen eine unmittelbare Gefahr darstellt (vgl. ebd.: 51). Dass ich unter solchen Umständen ein Tier verletze oder gar töte, ist also notwendig und damit moralisch zulässig. Genau genommen sind alle oben genannten negativen Grundrechte also immer um den Zusatz »unnötig« zu ergänzen, so z.B.: Tiere haben ein Recht darauf, dass wir deren Wohlergehen nicht unnötig beeinträchtigen. Es ist wichtig zu betonen, dass unsere Pflicht gegenüber Tieren damit keineswegs relativiert wird. Falls mein Leben nicht auf dem Spiel steht oder für mich Alternativen verfügbar sind und ich ein Tier trotzdem in seinem Wohlergehen beeinträchtige, so ist das unnötig – und also eine Verletzung meiner Pflicht bzw. ein Verstoß gegen das Tierrecht. Mit dem Hinweis, Unverletzlichkeit sei nicht etwas Absolutes, soll vielmehr daran erinnert werden, dass (mit Rawls 1979: 148 ff. gesprochen) die »Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit« von historischen und situativen Begebenheiten abhängen: Nicht immer können wir tun, was wir tun sollten.7

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Mir ist bewusst, dass die Sache mit diesem »unnötig« zu Missverständnissen führen kann – dies erstens, weil der Grundsatz der Vermeidung unnötigen Tierleids zum Inventar des traditionellen Tierschutzes gehört und traditioneller Tierschutz mit Tierrechten nur wenig bis überhaupt nichts zu tun hat, und zweitens, weil die Frage, welches Maß an Tierleid unnötig oder notwendig sei, normalerweise in utilitaristische Güterabwägungen gehört und derlei Kalküle wiederum schlecht zu Tierrechten passen. In Petrus (2015a) versuche ich solche und andere Missverständnisse auszuräumen und zu zeigen, dass unsere Pflicht, tierliches Wohlergehen nicht unnötig zu beeinträchtigen, durchaus mit einem starken Tierrechtsansatz vereinbar ist.

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M ERKMALE

DER KLASSISCHEN

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T IERETHIK

Welche Pflichten haben wir gegenüber Tieren? Haben Tiere Rechte, und falls ja: Welche Tiere haben welche Rechte? Das sind die zentralen Fragen der Tierethik. Die bisherigen Antworten darauf lassen sich grob zwei Theorien zuordnen, die in den 1970er und 80er Jahren die Debatte dominiert haben und auch heute noch ziemlich einflussreich sind, nämlich Utilitarismus (vertreten von Singer 1996) und Deontologie (vertreten von Regan 1983). Bei allen Unterschieden, die zwischen den bisher diskutierten Positionen zweifelsohne bestehen, weist diese – wie ich sie nennen werde – »klassische Tierethik« doch eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf: 1. Sentientismus/Pathozentrismus: In der klassischen Tierethik ist Empfindungsfähigkeit (im Minimum) eine notwendige Bedingung, um Lebewesen moralisch zu berücksichtigen (Sentientismus). Einige Autor_innen vertreten eine noch engere Auffassung und sehen im Schmerzempfinden oder in der Leidensfähigkeit das moralisch relevante Merkmal (Pathozentrismus). 2. Intrinsische Eigenschaften: Ob Lebewesen moralischen Status besitzen, hängt in der klassischen Tierethik davon ab, ob sie bestimmte, ihnen innewohnende – also intrinsische – Merkmale aufweisen (wie eben z.B. Empfindungsfähigkeit). Damit verbunden ist die Idee, der moralische Standpunkt müsse ein möglichst unparteiischer Standpunkt sein, der z.B. nicht dadurch getrübt wird, dass uns ein bestimmtes Tier (unser Hund) näher steht als ein anderes (irgendein Mastschwein). 3. Negative Pflichten bzw. Grundrechte: Die klassische Tierethik beschränkt sich weitgehend auf Normen, die uns im Umgang mit anderen Tieren etwas verbieten, also auf negative Pflichten. Sofern es sich dabei um eine Tierrechtsposition handelt, fordert sie entsprechend unverletzliche negative Grundrechte. 4. Universalismus: Negative Pflichten bzw. unverletzliche negative Grundrechte, so die klassische Tierethik, müssen allgemeingültig sein. Ist z.B. Empfindungsfähigkeit sowohl notwendig als auch hinreichend dafür, dass ein Tier ein Recht darauf hat, nicht als Mittel zu menschlichen Zwecken gebraucht zu werden, haben ausnahmslos alle empfindungsfähigen Lebewesen dieses Recht. 5. Individualethik:. Einerlei, ob die klassische Tierethik auf dem Begriff des moralischen Handelns oder dem der moralischen Pflicht aufbaut, es geht praktisch immer um individuelles Handeln oder individuelle Pflichten. Wer darüber hinaus eine Tierrechtsposition vertritt, geht davon aus, dass die moralischen Ansprüche von Tieren an einzelne Menschen gerichtet sind (wenngleich diese nicht immer eindeutig als Peter oder Tom identifizierbar sein müssen). Deshalb geht

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es in der klassischen Tierethik fast immer um moralisches Fehlverhalten von uns und unseresgleichen, das sich idealerweise mit einer Portion rationaler Argumente angehen lässt (z.B. Singer 1996: 35; Regan 2007: 82). Soweit eine Handvoll Merkmale der klassischen Tierethik. In den verbleibenden Abschnitten dieses Artikels soll es nun um die Frage gehen: Ist eine so charakterisierte Tierethik geeignet, um einen sinnvollen Beitrag zu den Human-Animal Studies zu leisten? Dabei werde ich von einem sehr groben, dafür aber weitgehend unkontroversen Verständnis der Human-Animal Studies ausgehen: Dieses multidisziplinäre, methodisch offene Forschungsprogramm versucht Tiere in ihrer Ganzheit in den Blick zu nehmen, es analysiert die Vielfalt der Mensch-TierBeziehungen und achtet dabei immer auch auf die sozialen, historischen und politischen Deutungs- und Handlungsmuster, die den Mensch-Tier-Beziehungen zugrunde liegen.8 Dann lautet die Frage der verbleibenden Abschnitte: Kann die Tierethik etwas Sinnvolles zu den so charakterisierten Human-Animal Studies beisteuern? Und meine Antwort darauf ist: Ja – aber nur dann, wenn sie hinsichtlich der fünf oben genannten Merkmale erweitert wird.

D AS W OHL

DER

T IERE

Eine solche Erweiterung der klassischen Tierethik betrifft die moralisch relevante Eigenschaft, aufgrund derer wir direkte Pflichten gegenüber Tieren haben bzw. Tiere Rechte besitzen (ich beginne also mit dem ersten der oben aufgelisteten Merkmale: »Sentientismus/Pathozentrismus«). Der entscheidende Punkt ist nämlich dieser: Um Tiere – wie das die Human-Animal Studies vorhaben – in ihrer Ganzheit in den Blick zu bekommen, reicht es nicht aus, sie als empfin-

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Damit will ich keineswegs suggerieren, es gebe keine Unstimmigkeiten bezüglich der methodischen, inhaltlichen oder politischen Ausrichtung der Human-Animal Studies. So hat sich inzwischen (vor allem in den USA) mit den Critical Animal Studies eine eigene Disziplin herausgebildet, die sich von den Human-Animal Studies abgrenzt. Vertreter_innen der Critical Animal Studies wollen u.a. nicht bloß als wissenschaftliche, sondern auch als politische Akteur_innen auftreten, indem sie sich z.B. mit der Tierrechts- bzw. Tierbefreiungsbewegung solidarisieren und in ihren Beiträgen die Tierausbeutung offen anprangern (vgl. z.B. Chimaira 2011: 27; Nocella II et al. 2013). Ich persönlich sympathisiere mit Teilen der Critical Animal Studies, doch spielt das fürs Folgende keine Rolle. Wie sich zeigen wird, gibt es für die Tierethik ohnehin sehr viel zu tun, und zwar einerlei, wie sie sich politisch positioniert.

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dungsfähige Wesen zu betrachten. Auch gehört zu Tieren weit mehr als ihr Interesse, Leid zu vermeiden (vgl. Petrus 2010). Was sie (und im Übrigen auch uns) wesentlich ausmacht, ist das Streben nach Wohlergehen oder einem guten Leben, das nicht als momentaner Zustand aufzufassen ist, sondern als Vollzug unterschiedlicher Aktivitäten, durch die ein Wesen dauerhaft sein Leben realisiert (vgl. Wolf 2012: 124). Man wird einwenden, dass sich auch die klassische Tierethik um das, wie schon Schopenhauer (1988: 562) sich ausdrückte, »Wohl und Wehe« der Tiere kümmert. Tatsächlich ist der Begriff des Wohlergehens nicht nur in der Tierschutzforschung (animal welfare science), dem Tierschutzrecht und der Nutztierethologie vergleichsweise gut etabliert, sondern auch in Teilen der Tierethik und, wie man ergänzen muss, in der Tierindustrie, wo der Begriff des Tierwohls häufig im Zusammenhang mit »artgerechter Haltung« auftaucht und primär propagandistischen Zwecken dient (vgl. Haynes 2010). Vor allem der Utilitarismus begreift sich selbst durchaus als »Wohlergehenstheorie« (vgl. Schmidt 2013: 90 f.). Allerdings ist hier ein äußerst enges Verständnis von »Wohlergehen« im Spiel. Um das zu sehen, lohnt es sich, auf die Unterscheidung zwischen Vorbedingungen und unverzichtbaren Grundbestandteilen des Wohlergehens zurückzugreifen (dazu Wolf 2012: 87 ff., 92 ff.). Zu den Vorbedingungen gehört u.a., dass ein Wesen überhaupt am Leben ist, dass sein Organismus biologisch funktioniert bzw. gedeiht und dass es über die notwendigen materiellen Güter verfügt (wie Nahrung, Behausung etc.). Zu den Grundbestandteilen tierlichen Wohlergehens zählen sowohl positive affektive Zustände (wie Freude, Lust oder Behaglichkeit) als auch negative affektive Zustände (wie Schmerz, Angst oder Langeweile) sowie die Möglichkeit, das arttypische Verhaltensrepertoire möglichst ungehindert ausüben zu dürfen (wie z.B. Sexual-, Sozial-, Bewegungs- und Nahrungsverhalten). Damit ist das Wohlergehen von Tieren natürlich noch nicht vollständig beschrieben. Doch wird bereits anhand dieser Unterscheidung deutlich, dass es zwei Aspekte tierlichen Wohlergehens gibt: Das objektive Wohl wird von biologischen Komponenten bestimmt, die zum arttypischen Funktionieren und Gedeihen des eigenen Organismus beitragen (vgl. Broom 2011). Für ein Wesen mit einem objektiven Wohl macht es also einen Unterschied, ob wir z.B. in sein arttypisches Sexualleben eingreifen und es kastrieren, sterilisieren oder künstlich besamen. Dabei muss es gar nicht in der Lage sein, diesen Unterschied bewusst zu erfahren. Das ist anders, wenn es zudem über ein subjektives Wohlergehen verfügt, das sich in psychologischen Komponenten wie Freude, Lust, Schmerz oder Leid ausdrückt. Dann kann dieses Wesen nämlich den Unterschied auch bewusst als solchen erleben, so z.B. als Schmerzempfindung (Schmidt 2013:

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85 f.). Spätestens jetzt wird klar, weshalb die klassische Tierethik – sofern sie sentientistisch oder pathozentrisch ausgerichtet ist – auf einem verkürzten Verständnis von »Wohlergehen« beruht. Erstens geht es ihr nur ums subjektive Wohl und zweitens bloß um eine bestimmte Sorte subjektiv-psychologischer Komponenten, nämlich Empfindungs- und Leidensfähigkeit.9 Wenn dagegen – wie hier vorgeschlagen – tierliches Wohlergehen das moralisch bedeutsame Merkmal ist, gilt es möglichst alle Aspekte zu berücksichtigen, die zum Tierwohl beitragen, und zu »diesen Aspekten gehören auch, aber nicht nur Empfindungen« (Schmidt 2008: 551; dazu auch Petrus 2010, 2013c). Mit einem umfassenden Verständnis tierlichen Wohlergehens geraten weitere Facetten in den Blick, die in der klassischen Tierethik oft unberücksichtigt oder zumindest unerwähnt bleiben. So haben Tiere nicht bloß negative Empfindungen (wie z.B. Schmerzempfinden), sondern – je nach Tierart und Umständen, unter denen sie leben – eine Vielzahl an positiven Wahrnehmungen, Bedürfnissen und Gefühlen: Sie freuen sich am Sex, haben Lust am Rennen und Herumtollen, mögen Scheinkämpfe, verbringen viel Zeit beim Suchen der Nahrung, ruhen sich gerne aus, pflegen ihr Sozialleben, sie lieben es, einander auszutricksen, und vieles andere mehr (vgl. z.B. Masson 2003). Sicher, die klassische Tierethik beschäftigt sich aus naheliegenden Gründen überwiegend mit negativen affektiven Zuständen wie eben Leid, Schmerz, Angst oder Stress (vgl. aber z.B. Nussbaum 2010 528 ff.). Doch kann dies leicht zu einer verkürzten Perspektive führen. Denn als leidensfähige Wesen werden namentlich Tiere, die unter der »Obhut« des Menschen leben, oft einseitig als Objekte (für menschliche Zwecke) oder als Opfer (von menschlicher Gewalt) konzeptualisiert. Damit wird nahezu vollständig ausgeblendet, dass Tiere selbst unter den schlimmsten, moralisch wie politisch nicht zu rechtfertigenden Bedingungen des »tierindustriellen Komplexes« (Noske 2008: 55 f.) aktive Wesen sind, die z.B. in Massentierhaltungen, Versuchslabors oder Zoos als Arbeitende maßgeblich zur menschlichen Ökonomie beitragen, sich mitunter aber auch verweigern oder gar Widerstand leisten (vgl. Hribal 2003; 2007; 2010) – alles Aspekte, die für die Human-Animal Studies im Zusammenhang mit der Analyse tierlicher Handlungsfähigkeit (animal agency) höchst bedeutsam sind (vgl. McFarland/Hediger 2009), von der klassischen Tierethik aber weitgehend ausgeblendet werden. Eng mit der tierlichen Handlungsfähigkeit hängt die Tatsache zusammen, dass die meisten Tiere auf

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In gewisser Hinsicht ist hier die Tierrechtsposition von Regan (1983) auszunehmen. Er plädiert nämlich für ein »harm principle«, dem zufolge Tiere nicht geschädigt werden dürfen, und vertritt dabei ausdrücklich die These, dass ein Lebewesen auch dann zu Schaden kommen kann, wenn ihm das nicht bewusst ist (ebd.: 94 ff.).

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sehr enge und spezifische Weise auf ihr Umfeld bezogen sind. Anders als in vielen Ansätzen der klassischen Tierethik wird diesem Punkt im Rahmen einer umfassenden Wohlergehenstheorie durchaus Rechnung getragen. Denn zu den Komponenten, die tierliches Wohlergehen fördern (oder beeinträchtigen) können, gehört selbstverständlich auch das Umfeld im Sinne eines Lebensraums, in dem Tiere in Interaktion mit anderen Wesen ihr arttypisches Verhalten entwickeln und ausleben können (oder daran gehindert werden). Bei diesen Interaktionspartner_innen kann es sich um unterschiedliche Lebewesen handeln, so freilich um Artgenossen, aber je nachdem – wie bei domestizierten Tieren – auch um Menschen. Auch die Lebensräume können sehr unterschiedlich sein; im Fall wild lebender Tiere sind es Habitate oder Territorien, bei »Kulturfolgern« ist es die Stadtnatur, bei »Heimtieren« sind es menschliche Haushalte und bei »Nutztieren« vom Menschen speziell errichtete Komplexe wie Massentierhaltungen, Versuchslabors oder Pelzfarmen. Unterscheidungen dieser Art verweisen auf ausgesprochen dichte und komplexe Interaktionsmuster zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren. Davon, dass derlei Muster nicht bloß zum Gegenstand deskriptiver Disziplinen der Human-Animal Studies gehören, sondern auch moralphilosophisch relevant sind, wird gleich noch die Rede sein (vgl. Abschnitt »Ganz vielfältige Beziehungen«). Fassen wir zusammen: Geht es im Sinne der Human-Animal Studies darum, Tiere in ihrer Ganzheit in den Blick zu bekommen, und will die Tierethik an einem solchen Projekt teilhaben, tut sie gut daran, ihren eingeschränkten Fokus auf die Empfindungs- oder gar Leidensfähigkeit in Richtung »Gesamtwohlergehen« (Schmidt 2008: 552) zu erweitern.

G ANZ VIELFÄLTIGE B EZIEHUNGEN Falls Tiere in moralischer Hinsicht überhaupt zählen, so deshalb, weil sie gewisse intrinsische Eigenschaften wie z.B. Empfindungsfähigkeit, Rationalität oder Selbstbewusstsein besitzen. Diese Merkmale lassen sich begrifflich sowie empirisch leidlich klar umschreiben und zuordnen, weshalb die Verleihung des moralischen Status an die entsprechenden Wesen idealerweise unparteiisch erfolgen kann – und im Übrigen auch sollte. So jedenfalls sieht das die klassische Tierethik (damit beziehe ich mich auf das zweite der weiter oben aufgelisteten Merkmale: »Intrinsische Eigenschaften«). Diese Position ist aber durchaus umstritten. Sie wurde bereits zu einem Zeitpunkt kritisiert, als die Human-Animal Studies in dieser Form noch nicht existierten. So gab Midgley (1983) zu bedenken, dass die spezifischen Beziehungen, die wir mit Tieren unterhalten, außer

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Acht blieben, wenn wir uns zu sehr auf intrinsische Eigenschaften fixierten.10 Sie würden erst dann (wieder) in den Blick geraten, wenn wir uns der Nähe bewusst werden, die wir zu unterschiedlichen (menschlichen wie nichtmenschlichen) Tieren haben. Auch andere haben die Wichtigkeit von Beziehungen hervorgehoben und dabei betont, dass die moralische Bewertung unseres Umgangs mit Tieren nicht allein von rationalen Argumenten oder empirischen Studien über den Geist der Tiere abhängen darf. Vielmehr seien wir immer auch auf moralische Gefühle wie z.B. Empathie oder Mitleid angewiesen (z.B. Adams 1990; Donovan 1996). Klassische Tierethiker wie Singer (1994: 108) sehen das anders: »Ethik fordert von uns […], die moralischen Ansprüche derer, die von unseren Handlungen betroffen sind, unabhängig von unseren Gefühlen ihnen gegenüber abzuschätzen«. Hier schwingt offenbar die Unterstellung mit, dass moralische Gefühle nur punktuell auftreten, von Person zu Person verschieden stark ausgeprägt sind, von unzähligen situativen Faktoren beeinflusst werden und also keine zuverlässige Ratgeber für moralisches Handeln sein können. Allerdings dürfte kaum jemand im Ernst behaupten, moralisches Handeln bestehe darin, sich vom momentanen, faktischen Auftreten moralischer Gefühle leiten zu lassen (vgl. Wolf 2012: 75 ff.). Auch trifft es nicht zu, dass der Rekurs auf unsere Beziehungen mit Tieren zwangsläufig auf eine psychologisierende und damit womöglich willkürliche Theorie des moralischen Umgangs mit ihnen führt. Ein gutes Beispiel dafür ist das Projekt »Zoopolis« von Donaldson/Kymlicka (2013). Sie sind ebenfalls überzeugt, dass unsere Beziehungen zu Tieren moralisch relevant sind, und zwar je nach »Kategorie«, der sie angehören (dazu gleich mehr). Doch glauben sie nicht, dass sie sich angemessen in Begriffen der Nähe oder Verwandtschaft (à la Midgley 1983) beschreiben lassen. Stattdessen schlagen sie vor, diese Beziehungen mit Hilfe politischer Theorien zu analysieren. Konkret sind sie der Meinung, man müsse domestizierte Tiere als Mitglieder einer von uns geteilten Gesellschaft und damit als Träger von Bürgerrechten – also gewissermaßen als Staatsbürger – betrachten. Dagegen sollten wir wild lebende Tiere als Wesen anerkennen, die auf ihrem Territorium eigene souveräne Gemeinschaften bilden. Wieder andere Tiere – nämlich »Grenzgängertiere« wie Spatzen, Tauben oder Eichhörnchen – seien zwar nicht domestiziert; und doch würden sie unter uns leben (z.B.

10 Seit den 1990er Jahren wurde dieser mehr relationale Ansatz weiter ausgebaut, wobei einige Theoretiker_innen der Ansicht sind, er müsse die klassische Tierethik vollständig ersetzen (z.B. Palmer 1995; Luke 2007), wohingegen andere meinen, er habe sie lediglich zu ergänzen (z.B. Burgess-Jackson 1998; Palmer 2010; Donaldson/Kymlicka 2013); ich werde mich dem zweiten Lager anschließen.

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in Städten), ohne damit schon Bürgerrechte in Anspruch nehmen zu dürfen, weshalb sie Migrant_innen oder Einwohner_innen ähneln (vgl. auch Donaldson/Kymlicka 2014). Einerlei, ob unsere Beziehungen zu anderen Tieren eher psychologisch oder aber politisch analysiert werden: Relationale Ansätze beinhalten unweigerlich eine Kritik an der einseitigen Ausrichtung der klassischen Tierethik auf negative Pflichten bzw. ebensolche unverletzliche Rechte (damit komme ich zum dritten der weiter oben aufgelisteten Merkmale: »Negative Pflichten bzw. Grundrechte«). Die meisten Vertreter_innen einer relationalen Tierethik sind nämlich überzeugt, dass aus unseren unterschiedlichen Beziehungen zu anderen Tieren je unterschiedliche Pflichten erwachsen und diese Pflichten vornehmlich positive Pflichten sind – also Normen, die von uns etwas Bestimmtes verlangen (dazu u.a. Palmer 2010 Kap. 3, 5). Dabei geht es insbesondere um den Unterschied zwischen domestizierten und wild lebenden Tieren, von dem behauptet wird, er sei moralisch relevant (vgl. u.a. Callicott 1989). Was domestizierte Tiere wie »Nutz-« und »Heimtiere« angeht – so die These –, haben wir sie durch Domestizierung von uns abhängig gemacht, weshalb sie häufig gar nicht mehr in der Lage sind, für sich selber zu sorgen. Daher haben wir ihnen gegenüber nicht bloß die negative Pflicht, deren Wohlergehen nicht zu beeinträchtigen, sondern auch eine positive Pflicht zur Fürsorge (vgl. Wolf 2012: 96). Im Falle landwirtschaftlicher »Nutztiere« könnte diese Pflicht z.B. darin bestehen, sie mit Nahrung zu versorgen, ihnen Unterkunft zu gewähren und für ihre Gesundheit zu sorgen. Gegenüber »Heimtieren« bestehen darüber hinaus womöglich noch spezielle Verpflichtungen, die sich aus unserer besonderen Nähe zu ihnen ergeben. Sie bestehen z.B. darin, auf die Bedürfnisse des eigenen Hundes zu achten, ihn zu loben, mit ihm zu spielen oder ihn zu streicheln (ebd.: 95 f.). Geht es um wild lebende Tiere, sieht die Situation im Urteil der meisten Autor_innen anders aus. Gerade klassische Tierethiker_innen gehen davon aus, dass »Wildtiere« für sich selbst sorgen könnten und im Normalfall also eine Einmischung seitens des Menschen weder notwendig noch erwünscht sei. Damit bestehe unsere einzige – negative – Pflicht gegenüber wild lebenden Tiere darin, sie »in Ruhe zu lassen« (Regan 1983: 357; ähnlich Francione 2000: 185; 2008: 13; vgl. ausführlich zu dieser Laisser-faire-Intuition Palmer 2010: Kap. 4). Auch wenn man (anders als z.B. Horta 2010) weit reichende Interventionen zum Zwecke der Minimierung des Leids wild lebender Tiere ablehnt, heißt das keinesfalls, dass man sie »sich selbst überlassen sollte« (Singer 1975: 251). Neben der positiven Pflicht zur Hilfe in akuten Notsituationen – so etwa, wenn Tiere auf dünnem Eis einbrechen und zu ertrinken drohen –, kann man sich durchaus Formen der Intervention vorstellen, die darauf angelegt

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sind, die Souveränität wild lebender Tiere zu gewährleisten, indem man ihre Lebensräume schützt und so ihre Unabhängigkeit sicherstellt (ausführlicher dazu Donaldson/Kymlicka 2013: 397 ff.). Wir haben also sowohl gegenüber domestizierten als auch wild lebenden Tieren eine Reihe positiver Pflichten – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Davon ist, wie gesagt, in der klassischen Tierethik kaum die Rede. Dort geht es vor allem um negative Pflichten bzw. um negative unverletzliche Grundrechte wie das Recht der Tiere, nicht in ihrem Wohlergehen beeinträchtigt zu werden, nicht leiden zu müssen oder nicht getötet zu werden. Ich habe weiter oben gesagt, einer der Gründe, weshalb sich die klassische Tierethik vor allem auf negative Pflichten oder Rechte beschränke, sei insofern strategischer Art, als derlei Pflichten oder Rechte weniger anspruchsvoll seien als positive. Es dürfte allerdings noch einen anderen Grund geben: Viele klassische Tierethiker_innen, die einen dezidiert tierrechtlerischen Standpunkt vertreten und die Abschaffung der industriellen Nutztierhaltung fordern (z.B. Regan 1986; Francione 2000), sehen in der Domestikation der Tiere etwas inhärent Ausbeuterisches. Vor diesem Hintergrund sind sie verständlicherweise nicht daran interessiert, unsere Beziehungen zu domestizierten Tieren mittels positiver Pflichten neu zu gestalten oder nur schon aufrechtzuerhalten. Ihrer Ansicht nach muss die Abschaffung der Nutztierhaltung in letzter Konsequenz zur Aufhebung dieser Beziehungen führen, indem z.B. Zuchtprogramme eingestellt werden – oder wie Francione (2007) meint: »Wir sollten verhindern, dass domestizierte nichtmenschliche Tiere auf die Welt kommen«. Für Donaldson/Kymlicka (2013: 31) ist dies mit ein Grund, weshalb die Tierrechtsbewegung bisher politisch weitgehend wirkungslos geblieben ist. Um sie »in Gang zu bringen, muss gezeigt werden, dass aus dem Verbot ausbeuterischer Beziehungen zu Tieren keineswegs folgt, dass man sich von bedeutungsvollen Formen der Interaktion zwischen Tier und Mensch lossagt«. Dabei stellen sie – wie andere Vertreter_innen einer relationalen Tierethik auch – die Notwendigkeit negativer unverletzlicher Grundrechte keineswegs in Frage. Was für Menschenrechte gilt, gilt nämlich auch für Tierrechte: Dass alle Tiere Anspruch auf Schutz bestimmter unverletzlicher Güter (wie ein gutes Leben, Freiheit, Unversehrtheit etc.) haben sollten, stellt die unverzichtbare Basis der Gerechtigkeit dar. Es geht, mit anderen Worten, also gar nicht darum, diese Grundrechte durch Rechte zu ersetzen, denen seitens der Menschen positive Pflichten entsprechen. Der Punkt ist ein anderer: Eine Tierethik, die ausschließlich auf negative Pflichten oder Rechte baut, kann der moralischen Vielfalt und Komplexität unserer Beziehungen zu anderen Tieren nicht gerecht werden – dies schon deshalb, weil sie zu ignorieren scheint, dass wir in gemischten MenschTier-Gesellschaften leben. Damit wird die Tierethik, so Donaldson/Kymlicka

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(ebd.: 29), »einer positiven Vorstellung von der Interaktion zwischen Mensch und Tier beraubt«. Dabei sei es gerade ihre Aufgabe, die Bedingungen festzulegen, unter denen möglich ist, »diese Interaktionen respektvoll, wechselseitig bereichernd und ausbeutungsfrei« zu gestalten (ebd.: 31). Wird die klassische Tierethik um relationale, positive Pflichten oder Rechte ergänzt, hat dies natürlich auch Auswirkungen auf ihren universalistischen Anspruch (damit komme ich auf das vierte der im vorigen Abschnitt aufgelisteten Merkmale zu reden: »Universalismus«). Wie Burgess-Jackson (1998: 159) richtig betont, sind Tiere keine »undifferenzierte Masse«. Deshalb könne man auch gar nicht fordern, dass »die Verpflichtungen, die man gegenüber diesen oder jenen Tieren hat, auf alle Tiere übertragen werden müssen«. In eine ähnliche Richtung zielt Palmer (1995: 7), wenn sie fragt, ob es angesichts der Vielfalt unserer Beziehungen zu Tieren überhaupt Sinn ergibt, von Pflichten oder Rechten zu reden, die »uneingeschränkt« gelten. Auch jetzt geht es nicht darum, den universalistischen Anspruch der klassischen Ethik gänzlich aufzugeben. Vielmehr gilt es unsere negativen Pflichten gegenüber allen empfindungsfähigen Wesen durch positive Pflichten zu ergänzen, die aus unseren spezifischen Beziehungen zu ganz bestimmten Tieren (oder Kategorien von Tieren) erwachsen und dementsprechend nur für sie gelten. Fassen wir erneut zusammen: Eine wichtige Aufgabe der Human-Animal Studies ist es, die Vielfalt der Mensch-Tier-Beziehungen aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Eine dieser Perspektiven ist die moralphilosophische. Allerdings wird es einer Tierethik, die von einem vermeintlich unparteiischen Standpunkt allen empfindungsfähigen Tieren ausschließlich unverletzliche und universelle negative Rechte einräumt, kaum gelingen, diese Vielfalt in ihrer empirischen wie auch moralischen Komplexität in den Blick zu bekommen. Dazu muss sie durch eine mehr kontextuelle Tierethik ergänzt werden – eine Tierethik, die ausdrücklich auf unsere unterschiedlichen Beziehungen zu anderen Tieren Bezug nimmt und sie in Begriffen positiver Pflichten oder Rechte zu erfassen versucht.

T IERETHIK , SOZIALE P RAXIS G ERECHTIGKEIT

UND POLITISCHE

Das Nachdenken über den moralischen Umgang des Menschen mit anderen Tieren ist in der klassischen Tierethik immer auch ein Reflektieren über die Handlungsmacht von Individuen: Wie sollen wir uns gegenüber Tieren verhalten und was heißt das für unsere Lebensführung? Der Grund besteht darin, dass die klas-

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sische Tierethik das Augenmerk vor allem auf Pflichten oder Konsequenzen des Handelns legt, und diese Pflichten und Handlungen stets die Pflichten und Handlungen von Individuen sind. Entsprechend ist hier viel von individuellem moralischen Fehlverhalten die Rede (damit komme ich zum letzten der weiter oben aufgelisteten Merkmale der klassischen Tierethik: »Individualethik«). Dahinter steht auch die Idee, dass Moraltheorien aus einigen wenigen Prinzipien bestehen, aus denen sich logisch einwandfrei ableiten lässt, wie jeder und jede von uns mit anderen Tieren umgehen sollte. Mit anderen Worten ist die klassische Tierethik von dieser Vorstellung geprägt: Wir überdenken unser moralisches Verhältnis zu den Tieren, indem wir zuerst eine Handvoll Moralprinzipien entwickeln bzw. akzeptieren, anhand derer wir dann unser Handeln bewerten und dementsprechend korrigieren (dazu Petrus 2013b). Auf diese Weise geraten aber leicht Dinge aus dem Blick, die für eine Analyse der sozialen Dimension der Mensch-Tier-Beziehungen durchaus von Bedeutung sein können. Ein gutes Beispiel ist der Speziesismus. Für Singer (1996: 35) – und damit steht er keineswegs allein da – handelt es sich bei dieser Form von Diskriminierung primär um ein persönliches »Vorurteil« oder um eine »Haltung der Voreingenommenheit«, die allein auf der Spezieszugehörigkeit eines Individuums beruht. Er ist überzeugt, dass sich dieses Vorurteil auf rationalem Weg angehen lässt, indem man z.B. an den Menschen appelliert, er möge das Prinzip der gleichen Berücksichtigung von Interessen anerkennen. Andere klassische Tierethiker_innen erinnern uns unter Hinweis auf »menschliche Grenzfälle« (siehe oben) an die Durchlässigkeit der Speziesgrenzen (z.B. Pluhar 1995) oder sie werben dafür, dass wir alle Wesen mit »Eigenwert« gleichermaßen respektieren sollten (Regan 1983). Diesem eher individualistischen Verständnis von Speziesismus als persönliche Voreingenommenheit steht die Auffassung gegenüber, es handle sich hier primär um eine Ideologie, die sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt hat und inzwischen tief in unserer Gesellschaft verankert ist (vgl. Nibert 2002: Kap. 6). Dabei wird immer wieder auf die für das westliche Weltbild angeblich typische Idee einer hierarchischen und zugleich zweckgerichteten Naturordnung verwiesen, der zufolge alles Dumpfe, Trieb- und Instinkthafte – also »das Tier« – ausschließlich zum Nutzen des Vernünftigen – also »des Menschen« – existiert (vgl. Thomas 1983). Für Mütherich (2003) ist es vor allem das jüdisch-christliche Weltbild, das die kategoriale Trennung zwischen dem »Eigenen« und dem »Anderen« bzw. »Fremden« als Herrschaftsinstrument gegen nichtmenschliche Tiere einsetzt. Dabei hätten Postulate wie die Gottesebenbildlichkeit (imago dei) oder die biblische Aufforderung, der Mensch solle sich die Erde untertan machen, eine besondere Rolle gespielt (ebd.: 11 ff.). Tatsächlich spricht einiges dafür, dass

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solche Deutungsmuster zu einer reichlich stereotypen – und auch abwertenden – Wahrnehmung von Mitgliedern anderer Spezies führen. Um diese Muster aufrechtzuerhalten, ist es vonnöten, die speziesistische Ideologie als natürlich, notwendig und normal darzustellen. Von daher ist jeder Vergleich zwischen uns und »dem Tier« bereits anrüchig oder gar beleidigend. Vor diesem kulturhistorischen Hintergrund liegt es nahe, dass der Speziesismus nicht einfach ein individuelles Vorurteil ist, das sich mit einer ordentlichen Portion an akademischer Ethik aus der Welt schaffen lässt. Vielmehr haben wir es mit einem kulturspezifischen Deutungs- und Handlungsmuster zu tun, das auf eine gesellschaftliche Legitimation der Abwertung und Ausbeutung nichtmenschlicher Tiere zielt. Dass die Instrumentalisierung der Tiere eine soziale Praxis darstellt, ist für ein tieferes Verständnis vieler Bereiche der Mensch-TierBeziehungen unabdingbar. Die klassische Tierethik dagegen interessiert sich dafür – wenn überhaupt – nur am Rande. Ihr geht es aufgrund ihrer individualistischen Ausrichtung nämlich nicht so sehr um die Analyse und Kritik eines Systems, das die Nutzung von Lebewesen ermöglicht und begünstigt, sondern um unser Fehlverhalten im Sinne eines Verstoßes gegen ganz bestimmte Moralprinzipien. Man könnte einwenden, dass eine solche Analyse und Kritik nicht Sache der Moralphilosophie sei, sondern z.B. der Soziologie. Doch geht es hier erstens durchaus um das angestammte Terrain der Tierethik. Immerhin ist die MenschTier-Beziehung, die hier thematisiert wird, maßgeblich durch unseren Nutzungsanspruch auf andere Tiere bestimmt, und dieser Nutzungsanspruch wird seit jeher auch unter moralischen Gesichtspunkten gesehen. Zweitens ist es nicht so, dass eine soziale Praxis keinerlei normative Implikationen aufweist. An anderer Stelle habe ich am Beispiel der Verdinglichung von Tieren aufzuzeigen versucht, dass es sich hierbei – ähnlich wie beim Speziesismus – um eine kulturspezifische Praxis innerhalb eines Systems von Einstellungen und Gewohnheiten handelt, in das Menschen hineinsozialisiert werden (Petrus 2013a). Und doch ist die Verdinglichung ein moralisches Unrecht. Schon Georg Lukács (1968) war der Meinung, sie verstoße gegen eine »bessere« Form des Zusammenlebens. Er hat dies auf Menschen bezogen, doch lässt sich der Grundgedanke durchaus auf die Verdinglichung der Tiere übertragen: Auch diese soziale Praxis verstößt gegen eine – im moralischen Sinne gemeinte – »bessere« Form des Umgangs mit Tieren, und zwar gegen eine, die auf Solidarität beruht ( dazu Petrus 2013a.: 57 ff.). Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der in einer vorwiegend auf Individuen bezogenen Tierethik zu kurz kommt, für die politische Dimension der MenschTier-Beziehungen aber bedeutsam ist. Geht es bloß um individuelle Pflichten, bleiben nämlich all jene Ansprüche unberücksichtigt, die nicht an einzelne Per-

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sonen gerichtet sind, sondern an die Allgemeinheit. Bisweilen wird hier eine Grenze gezogen zwischen individueller Moral und politischer Gerechtigkeit (dazu Wolf 2012: Kap. 5). Doch ist diese Grenze – wenn es sie denn überhaupt gibt – sehr durchlässig. Denn häufig geht es bei Ansprüchen an die Allgemeinheit um die (weiter oben schon erwähnten) »Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit« und damit um die Frage, wer eigentlich dafür zu sorgen hat, dass wir auch wirklich tun können, was wir tun sollten. Obschon diese Frage nicht an einzelne Menschen, sondern z.B. an politische Akteur_innen gerichtet ist und damit zu einer Frage der politischen Gerechtigkeit wird, hat sie durchaus normative Implikationen. Nehmen wir als Beispiel die Tiernutzung zum Zwecke unserer Ernährung, die bekanntlich eine lange und in unserer Gesellschaft tief verankerte Tradition hat. Sie zu verändern oder gar abzuschaffen kann unmöglich allein in der Handlungsmacht einzelner Menschen liegen (ebd.: 155). Sicher, immer mehr Menschen mögen sich dazu entscheiden, keine tierlichen Produkte mehr zu konsumieren und vegan zu leben. Doch ist fraglich, ob es jemals genügend Einzelpersonen geben wird, die ihren Bewusstseinswandel konsequent genug in die Tat umsetzen (dazu Balluch 2009: 43; Petrus 2013d: 45 ff.). Was es darüber hinaus braucht, ist eine nachhaltige Veränderung der Strukturen und Mechanismen der Tiernutzung. Und hier ist, wie gesagt, die Allgemeinheit gefragt. Man mag als Adressaten am ehesten an eine politische Einheit wie z.B. den Staat denken. Zu dessen Aufgaben gehörten dann z.B. eine konsequentere Umsetzung bestehender Tierschutzbestimmungen bzw. eine Verschärfung der Gesetze. Auch müsste die Tierindustrie zu (mehr) Transparenz verpflichtet werden – dies nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die Konsument_innen häufig nicht genau wissen, was hinter den Türen von Zuchtanlagen, Labors oder Schlachthäusern mit »Nutztieren« eigentlich passiert. Entsprechend müsste der Staat alle undemokratischen Maßnahmen unterbinden, mit denen die Tierindustrie über die Realität des Nutztierdaseins hinwegzutäuschen versucht, wie z.B. irreführende Werbung oder das mutwillige Zurückhalten von Informationen, die für das öffentliche Bewusstsein oder für politische Entscheidungen relevant sind. Im Gegenzug müssten staatliche Medien und Informationskanäle für umfassende und ungeschönte Berichterstattungen z.B. aus Tierfabriken geöffnet werden. Auch hier hätte der Staat eine aufklärerische Verantwortung wahrzunehmen und unvoreingenommen, umfassend sowie fundiert über Alternativen zum Konsum tierlicher Produkte zu informieren.11

11 Man mag bezweifeln, ob der Staat – selbst wenn man ihn als Herrschaftsinstanz anerkennt – hierfür der geeignete Kandidat ist. Immerhin ist er ein fester Bestandteil jener Maschinerie, welche die Ausbeutung der Tiere z.B. gesetzlich legitimiert und damit

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Spätestens jetzt mag der Verdacht aufkommen, es gehe hier nicht mehr um Tierethisches, sondern um gesellschaftspolitische Belange. Aus Sicht der klassischen Tierethik mag dem so sein. Sie legt nämlich den Fokus auf individuelle Pflichten, die wir Tieren gegenüber haben, und lässt damit außer Acht, dass Tiere Ansprüche haben, die an die Allgemeinheit gerichtet – und somit eine Sache der politischen Gerechtigkeit sind. Genau in diesem Kontext sind die obigen Ausführungen zu verstehen: Es handelt sich um eine Handvoll Hinweise, was ein_e politische_r Akteur_in tun kann, damit die »Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit« im Umgang mit Tieren gegeben sind – so z.B., indem sie oder er mit gezielten politischen Maßnahmen dafür sorgt, dass der Konsum tierlicher Produkte für eine Gesellschaft (oder zumindest große Teile) vermeidbar wird und keine Notwendigkeit darstellt, sondern ein moralisch nicht weiter zu rechtfertigendes Privileg ist.12 Eine Tierethik, die solche Ansprüche seitens der Tiere ausklammert (oder an andere Disziplinen delegiert), wird entsprechend auch nicht in der Lage sein, die politische Dimension jener Mensch-Tier-Beziehungen zu erfassen, die von unserem Nutzungsanspruch auf andere Tiere geprägt ist.

am Laufen hält. Damit dürften es derzeit wohl eher Gruppierungen, Vereinigungen und NGOs sein, die dafür zu sorgen haben, dass die Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit im Umgang mit anderen Tieren überhaupt erst zu einem politischen Thema werden. 12 Womöglich wird man einwenden, dass diese Vorschläge, was z.B. ein Staat für ein gerechteres Verhältnis zu nichtmenschlichen Tieren beitragen kann, nicht weit genug gehen. Das stimmt – zumal aus Sicht einer »Idealtheorie« der Moral. Doch darf man Politik nicht mit Ethik verwechseln (das gilt auch dann, wenn man Politik als angewandte Ethik auffasst): Wieso sollte ein Staat z.B. per Gesetz Zuchtprogramme für »Nutztiere« einstellen, wenn daraus doch nur Konsequenzen erwachsen, die (zumindest derzeit) von einer großen Mehrheit der Leute nicht akzeptiert werden? Politik muss nun mal realistisch sein. Was eben auch bedeutet, dass sie nicht primär von der Frage ausgehen sollte, wie Menschen idealerweise handeln sollten, sondern davon, was sie dazu bewegt, unter den gegebenen Bedingungen so zu handeln, wie sie eben handeln. Man beachte aber auch, dass sich die obigen Vorschläge für Gerechtigkeit für Tiere gerade nicht damit begnügen, Tierleid auf ein offenbar notwendiges Maß zu minimieren. Das unterscheidet sie von gängigen Reformen zum »Schutze der Tiere«, die mehr oder weniger stillschweigend davon ausgehen, dass wir ein Recht darauf haben, Tiere für unsere Zwecke zu nutzen, und ein gewisses Maß an Tierleid schlicht unvermeidbar ist. Vielmehr geht es darum, genau diese Voraussetzung zu thematisieren: Ist es wirklich notwendig, dass Tiere unseretwegen leiden müssen? Oder geht es auch anders? (Mehr dazu findet sich in Petrus 2015a.)

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S CHLUSS Die Human-Animal Studies brauchen eine Tierethik, so viel dürfte unbestritten sein. Doch welche Art von Tierethik soll das sein? Ich habe in diesem Aufsatz die These vertreten, dass die klassische Tierethik keine besonders gute Kandidatin ist. Nicht, weil sie grundsätzlich verfehlt wäre. Doch weist sie einige gravierende Mängel auf. Im Wesentlichen krankt die klassische Tierethik nämlich daran, dass sie einen allzu eingeschränkten Blick auf unsere Beziehungen zu anderen Tieren hat – sei es, weil sie Tiere auf einige wenige (moralisch relevante) Merkmale reduziert oder weil sie sich zu sehr auf das moralische Fehlverhalten einzelner Menschen versteift oder weil es ihr im Grunde nur darum geht, dass wir Tieren gewisse Dinge nicht antun dürfen oder sie ganz in Ruhe lassen sollten. Auf diese Weise gelingt es der klassischen Tierethik nicht, Tiere in ihrer Ganzheit in den Blick zu nehmen sowie die Vielfalt der Mensch-TierBeziehungen in ihrer historischen, sozialen wie politischen Dimension zu erfassen. Sicher, die Tierethik kann sich mit all dem nicht bis ins letzte Detail befassen. Aber das muss sie auch nicht. Denn genau diese Themen sind Teil jenes Forschungsprogramms namens Human-Animal Studies, an dem sich u.a. auch die Geschichts- und Politikwissenschaft sowie die Soziologie beteiligen. Im Minimum hat sich die klassische Tierethik aber derlei Fragen und Problemen zu öffnen, will sie an diesem Forschungsprogramm partizipieren. Das aber gelingt nur, wenn sie ergänzt wird durch eine mehr »kontextuelle« Tierethik, die sich der historischen sowie sozialen Vielfalt und Komplexität unserer moralisch bedeutsamen politischen Beziehungen mit anderen Tieren bewusst ist. Es wäre dies dann eine Tierethik, die sich nicht mehr damit zufrieden gibt, als »ideale« Moral aufzutreten und universelle Verhaltensregeln aufzustellen, sondern eine, die erkennt, dass Ethik im Wesentlichen darin besteht, die sozioökonomischen, ökologischen oder politischen Folgen unseres Handels innerhalb eines Gesellschaftssystems zu reflektieren und auf dieser Grundlage konkrete moralische Entscheidungen zu treffen. Nur so wird die Tierethik – zusammen mit anderen Disziplinen der Human-Animal Studies – in der Lage sein, Szenarien zu entwerfen, wie sich unsere Beziehungen zu anderen Tieren auf neue und hoffentlich gerechte Art und Weise gestalten lassen.13

13 Nebenbemerkung: Es spricht einiges dafür, dass sich die moderne Tierethik – HumanAnimal Studies hin oder her – ohnehin in diese Richtung entwickelt. Jene Positionen, die ich hier mit dem Label »klassische Tierethik« versehen habe, werden mitunter der ersten Generation moderner Tierethiker_innen zugeordnet (vor allem Singer 1975;

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Psychologie Von Mensch zu Tier T AMARA P FEILER /M ARIO W ENZEL

E INLEITUNG Die Beziehung zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren ist vielseitig, komplex und ambivalent. Einige Tiere1 leben als Begleiter mit den Menschen und werden häufig als Familienmitglieder angesehen (Joy 2010). Der Großteil der Tiere wird allerdings so behandelt, als existierten sie hauptsächlich für die Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen (Beatson/Loughnan/Halloran 2009). So werden Tiere zur Herstellung von Lebensmitteln, Medikamenten und Kosmetik oder als Unterhaltungsmedium in Zirkus und Zoo benutzt. Im Leben des Menschen sind Beziehungen zum Tier daher allgegenwärtig, ob direkt (Tier als Begleiter) oder indirekt (Tier als Nahrungsmittel). Dabei ist der menschliche Umgang mit Tieren überwiegend in gewalttätige Kontexte eingebunden, wie das Einsperren (Tierhaltung, Zoo), Trennen vom Nachwuchs (Milchindustrie), Schmerzen zufügen (Tierversuche) oder Töten (Fleischindustrie). Die Psychologie hat das »Verhalten, Erleben und Bewusstsein des Menschen, deren Entwicklung über die Lebensspanne und deren innere (im Individuum angesiedelte) und äußere (in der Umwelt lokalisierte) Bedingungen und Ursachen« zum Gegenstand (Zimbardo 1992: 1). Eine psychologische Perspektive

1

Menschen gehören biologisch gesehen zu den Tieren, da sie ebenso wie Gorillas, Schimpansen, Bonobos und Orang-Utans zur Familie der Menschenaffen zu rechnen sind (Tomasello/Vaish 2012; siehe auch den Beitrag von Volker Sommer in diesem Band). Zur vereinfachten Besprechung wird in diesem Kapitel zwischen Mensch und Tier unterschieden.

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auf die Beziehung des Menschen zu Tieren kann daher sowohl innere (z.B. Kognitionen und Emotionen) als auch äußere (z.B. sozial akzeptierte Gewaltformen gegen Tiere) Bedingungen des menschlichen Umgangs mit Tieren beschreiben und Ursachen für das Verhalten und Erleben von Menschen aufzeigen. Von der psychologischen Wissenschaft wurde die Mensch-Tier-Beziehung allerdings bislang nur am Rande behandelt. Da die Psychologie jedoch sowohl das intra- und interindividuelle Erleben und Verhalten als auch Einstellungen und Gruppenprozesse von Menschen zum Gegenstand hat, kann sie zum Verständnis des Verhältnisses von Mensch und Tier beitragen. Im Speziellen kann psychologische Forschung kognitive, emotionale und verhaltensbasierte Prozesse auf Seiten des Menschen beschreiben, die im Kontext von Gewalt gegen Tiere zum Tragen kommen. Historisch gesehen haben Tiere in der psychologischen Wissenschaft – trotz ihrer grundsätzlich anthropozentrischen Ausrichtungen – durch die lange Tradition der Tiermodelle schon immer eine zentrale Rolle gespielt, um das Erleben und Verhalten des Menschen zu erklären (Kwan/Gosling/John 2008). Melson (2002) unterscheidet zwei historische Strömungen, wie das Tier dabei bislang in der Psychologie betrachtet wurde. Die erste Strömung – der Behaviorismus – fokussierte auf die Parallelen zwischen Mensch und Tier und versuchte gemeinsame Prinzipien im Verhalten von allen Tieren, menschlichen wie nichtmenschlichen, abzuleiten (ebd.). Dabei reduziert der Behaviorismus mentale Konzepte auf beobachtbare Verhalten-Umwelt-Kontingenzen. Heutzutage werden jedoch mentale Konzepte zur Erklärung von menschlichem Verhalten und Erleben als unabdinglich angesehen und die Annahmen des Behaviorismus gelten daher wissenschaftlich als überholt. Der neueren Tradition, mentale Konzepte als notwendig für das Erklären von menschlichem Verhalten anzusehen, folgt auch die zweite Strömung – die komparative Psychologie. Diese untersucht die Psychologie von Tierverhalten und sucht nach Eigenschaften von Tieren, die sie mit Menschen teilen, um ein tiefer gehendes Verständnis der menschlichen Psychologie zu erhalten. Grundsätzlich nehmen also beide Strömungen speziesübergreifend grundlegende Prinzipien an und versuchen durch die Forschung am Tier Rückschlüsse auf den Menschen zu ziehen, auch wenn der Fokus jeweils ein anderer ist. Tierversuche dienen dabei bis heute als eine Methode, um grundlegende Prinzipien bei Mensch wie Tier zu untersuchen. Menschen fungieren in der Psychologie zwar ebenso wie Tiere als Untersuchungsobjekte, allerdings nur über einen kurzen Zeitraum, wobei invasive Eingriffe, die eine psychische oder physische Verletzung nach sich ziehen würden, grundsätzlich verboten sind (vgl. World Medical Association 2013). Daher werden Tiere für solche Untersuchungen genutzt, bei denen sie meist ihr Leben lang festgehalten, eingesperrt und so-

P SYCHOLOGIE

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wohl psychisch als auch physisch geschädigt werden, da diese Methoden beim Menschen nicht genutzt werden dürfen. Aus einer kritischen Perspektive erscheint es überraschend, dass einerseits angenommen wird, Tiere seien aufgrund ähnlicher Eigenschaften mit dem Menschen vergleichbar, während andererseits ihre artspezifischen und individuellen Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden, wenn sie als Forschungsobjekte benutzt werden (Knight et al. 2009). So bestehen auch für die psychologische Forschung ethische Überlegungen zu Tierversuchen, deren Darlegung und Bewertung jedoch nicht Inhalt dieses Kapitels ist (z.B. Plous 1996; Shapiro 1990; American Psychological Association 2012). Ziel des Buchkapitels ist es, einen Überblick über die bestehende psychologische Literatur zu verschiedenen Arten von Mensch-Tier-Beziehungen zu geben und deren Befunde kritisch zu diskutieren. Dabei liegt der Hauptfokus auf Beziehungsformen zwischen Mensch und Tier, die in einem gewalttätigen Kontext stehen. Hierbei nehmen wir vor allem eine sozialpsychologische Perspektive ein. Das Buchkapitel ist in drei Teile untergliedert. Der erste Teil des Kapitels zum Tier als Interaktionspartner fasst die bisherige Literatur zu direkten Beziehungen von Menschen zu verschiedenen Kategorien von Tieren, wie das Tier als Begleiter oder als Therapeut, kurz zusammen. Zudem werden fachfremde Studien mit psychologischen Fragestellungen zur Interaktion mit sogenannten Nutztieren kurz dargestellt. Des Weiteren wird ein Forschungsbereich erläutert, der die Misshandlung von Tieren im privaten Kontext untersucht. Im zweiten Teil wird jene Forschung dargestellt, die sich der indirekten Beziehung von Mensch und Tier widmet. Diese überwiegend sozialpsychologische Forschung untersucht sowohl innere psychologische Prozesse im Kontext der Wahrnehmung und Bewertung von Tieren als auch den Einfluss der sozialen Akzeptanz von Gewalt gegen Tiere auf diese Prozesse. In diesem Abschnitt werden generelle psychologische Prozesse, die der Diskriminierung und Marginalisierung von anderen Individuen und sozialen Gruppen zugrunde liegen, beleuchtet und auf das Verhältnis von Mensch und Tier angewandt. Darüber hinaus wird im Speziellen auf die Forschung zum Essen von Tieren eingegangen. Der dritte Teil des Buchkapitels beinhaltet einen Ausblick auf psychologische Fragestellungen, die bisher noch nicht untersucht wurden und interessante Anknüpfungspunkte für die Human-Animal Studies bieten.

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D AS T IER

ALS I NTERAKTIONSPARTNER

Im Leben des Menschen beschränkt sich die direkte Interaktion mit (lebenden) Tieren überwiegend auf domestizierte Tierarten. Die Domestizierung von Tieren begann vor über 8000 Jahren zu Nahrungszwecken. Ebenso alt ist die Geschichte des Haustieres (DeMello 2012). Das Haustier (engl. pet) ist durch seine enge Beziehung zum Menschen definiert und wurde bzw. wird allein für die menschliche Freude und Begleitung gehalten (Grier 2006). In den letzten hundert Jahren explodierte gerade im Westen die Anzahl an Haustieren2 und damit verbunden auch eine multimilliardenschwere Industrie (DeMello 2012). Auch in der Psychologie ist in den letzten Jahrzehnten das Interesse an der Beziehung zwischen Mensch und (Haus-)Tier und am Nutzen dieser Beziehung für den Menschen gestiegen. Die Besitzer_innen von Haustieren werden nicht mehr wie früher als Herr_in über ihre Tiere, sondern als menschliche Begleiter_innen, Beschützer_innen oder Betreuer_innen beschrieben, die die Pflicht haben, sich um eine angemessene Behandlung und das Wohlbefinden der Tiere zu sorgen. Diese veränderte Bedeutung und der Rollenwechsel im Leben mit einem Tier spiegelt sich auch in dem in der Wissenschaft bevorzugten Begriff »companion animal« wider, welcher die psychologische Verbindung und gegenseitige Beziehung hervorheben möchte (Walsh 2009). Während das Haustier im Gegensatz zum sogenannten Nutztier nicht explizit durch seinen Nutzen für den Menschen definiert ist, zeigt die im Folgenden behandelte psychologische Forschung auf, dass auch das Haustier einen besonderen Nutzen für den Menschen hat. Das Tier als Begleiter und Therapeut Die psychologische Literatur zu Beziehungen mit Haustieren zeigt, dass Haustiere sich generell positiv auf die Gesundheit des Menschen auswirken können (Headley/Grabka 2007). So wird u.a. ein positiver Einfluss auf physiologische Variablen wie Blutdruck und Cholesterin (Walsh 2009; Wells 2009), das Immunsystem (Charnetsky/Riggers/Brennan 2004) und die Überlebenswahrscheinlichkeit nach einem Herzinfarkt (Friedmann et al. 1980) betont. Psychologische Variablen werden durch die Interaktion mit Haustieren ebenso positiv beeinflusst. Chronische Krankheiten wie Herzerkrankungen, Demenz und Krebs (Friedmann/Tsai 2006; Johnson et al. 2005) werden funktionaler bewältigt und Symptome von Depression und Angst (Geisler 2004) sowie andere psychische

2

In Deutschland lebt mindestens ein Tier in 15 der insgesamt 40 Millionen Haushalte (Schütte/Breer 2014).

P SYCHOLOGIE

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Störungen wie Schizophrenie und Aufmerksamkeitsdefizit-HyperaktivitätSyndrom (Barker/Dawson 1998; Beck 2005) verbessern sich. Der kurze Abriss zu Forschungsergebnissen zum Tier als Begleiter zeigt, dass Tiere auch auf die psychische Gesundheit einen Einfluss haben können. Ein daran anschließendes Forschungsfeld untersucht daher den therapeutischen Nutzen von Tieren für die menschliche physische und psychische Gesundheit (Fine 2006). In tiergestützter Therapie bzw. tiergestützten Aktivitäten werden Tiere gezielt eingesetzt, um den therapeutischen Prozess zu unterstützen und positive Veränderungen anzustoßen (Walsh 2009). Studien bestätigen die Wirkung von tiergestützter Therapie und zeigen einen positiven Effekt bei physischen und psychischen Erkrankungen (für einen Überblick siehe Walsh 2009). Diverse randomisierte kontrollierte Studien belegen z.B. den Nutzen von Interaktionen mit Delphinen in der Depressionsbehandlung (Antonioni/Riveley 2005). Die Forschungsergebnisse verdeutlichen, dass das Tier eine therapeutische Funktion bei psychischen sowie physischen Störungsbildern übernehmen kann. Anhand der Studienlage drängt sich jedoch die Frage auf, warum Menschen von der Anwesenheit bzw. Interaktion mit dem Tier profitieren. Der exemplarisch-psychologische Erklärungsansatz von Virues-Ortega und Buela-Casal (2006) nimmt an, dass langfristige Beziehungen mit Tieren eine stresspuffernde Wirkung und Interaktionen mit Tieren auch indirekte Effekte auf die Gesundheit von Menschen z.B. durch Spazierengehen mit dem Hund haben könnten. Begründet wird dies durch die nichtkritische soziale Unterstützung von Haustieren sowie durch das Streicheln von Tieren, wodurch Entspannung ausgelöst werden könnte (ebd.). Bei dem Versuch, die positive Wirkung von Beziehungen zu Tieren auf den Menschen zu erklären, tritt das Tier als Subjekt in den Hintergrund. Auch werden generell die Konsequenzen von Mensch-Tier-Interaktionen auf das Tier bzw. aus Sicht des Tieres nur in wenigen Arbeiten berücksichtigt (Kienzle/ Bergler/Mandernach 1998; Kienzle/Bergler 2006). Die Forschung zur tiergestützten Therapie und tiergestützten Aktivität ist unter diesem Gesichtspunkt ebenfalls kritisch zu bewerten. Zwar können diese Arbeiten Menschen für die Bedeutung und das Potential von Mensch-Tier-Beziehungen sensibilisieren, allerdings wird deutlich, dass auch diese Forschung einen menschzentrierten Fokus einnimmt und aufrechterhält (Fine 2006). Das Tier als Therapeut wird zwar als Subjekt betrachtet, jedoch nur fragmentiert, da sein Wert an dem gemessen wird, den das Tier für den Menschen und dessen Gesundheit hat. Obwohl die Forschung zum Tier als Begleiter und Therapeut per definitionem ihren Fokus auf die Interaktion von Mensch und Tier legt, wird die Gegenseitigkeit dieser Beziehung tatsächlich kaum untersucht. Dadurch bleibt diese Forschung bisher

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eher einseitig, da z.B. Fragestellungen, inwiefern Persönlichkeitseigenschaften von Mensch und Tier miteinander assoziiert sind (Gosling 2008) oder wie Emotionen und Verhaltensweisen von Mensch und Tier wechselseitig miteinander zusammenhängen, außer Acht gelassen werden. Gerade der Zusammenhang zwischen menschlicher Persönlichkeit, Einstellungen und dem direkten Verhalten gegenüber Tieren und den Konsequenzen für das Tier könnten von großem psychologischem Interesse sein. Die psychologische Forschung kann diese Fragestellungen zwar nicht allein untersuchen, da sie durch ihr Selbstverständnis grundsätzlich eine anthropozentrische Ausrichtung hat, allerdings kann sie im Rahmen der interdisziplinären Erforschung der direkten Mensch-Tier-Beziehung eine wichtige Rolle spielen. Das Tier als Produktionseinheit/Nutztier Bislang lässt sich Forschung zu den Auswirkungen der Mensch-Tier-Beziehung auf das Tier überwiegend in der Veterinärmedizin und Verhaltensforschung finden. Diese Arbeiten sollen exemplarisch kurz erläutert werden, da sie aufzeigen, dass psychologische Variablen auf Seiten des Menschen die Interaktion mit dem Tier und das Tier direkt beeinflussen können. Ein Bereich dieser Forschung ist die Untersuchung der menschlichen Interaktion mit sogenannten Nutztieren in der Fleisch- und Milchindustrie, in denen das Tier zur Produktion von Nahrungsmitteln dient. Dabei wird zwar das Wohlergehen des Tieres thematisiert, allerdings liegt diesem Interesse auch der Nutzen des Tieres zugrunde, da von einem positiven Zusammenhang zwischen Wohlergehen und Produktivität des Tieres ausgegangen wird. Zu den verschiedenen Einflussfaktoren auf das Wohlergehen des Tieres gehören seitens des Tieres die sensorische Wahrnehmung und der Kontakt zum Menschen, dessen visuelle Präsenz, Bewegen des Tieres und aversiver physischer Kontakt (Waiblinger et al. 2006). Seitens des Menschen werden vor allem Persönlichkeit und Einstellung als Determinanten der Interaktion mit dem Tier beschrieben (ebd.; Waiblinger/Menke 1999; Waiblinger/Menke/Coleman 2002). Studien zeigen, dass das gezeigte Verhalten des Menschen mit den Einstellungen gegenüber einer Tierart oder gegenüber einem bestimmten Tier assoziiert ist und somit auch einen Einfluss auf das Wohlergehen der Tiere haben kann (Breuer et al. 2000; Coleman/Hemsworth/Hay 1998; Hemsworth et al. 1989; Hemsworth et al. 2000; Waiblinger/Menke/Coleman 2002). So wird ein Mensch, der eine negative Einstellung gegenüber dem Tier hat, dieses auch schlechter behandeln. Ebenso kann sich jedoch auch eine anfangs positive Einstellung gegenüber dem Tier zum Negativen verändern, wenn z.B. das Tier vom Umfeld wie eine Maschine behandelt wird (Seabrook 2001).

P SYCHOLOGIE

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Darüber hinaus lassen sich auch persönliche Faktoren beschreiben, die einen Einfluss auf die Interaktion des Menschen mit dem Tier haben können, wie Arbeitszufriedenheit, Verhalten von Arbeitskolleg_innen, wahrgenommene Konsequenzen des eigenen Verhaltens sowie psychologische Belastungen im Privatleben (Coleman et al. 2003; Hemsworth/Coleman 1998; Lensink/Boissy/Veissier 2000; Seabrook 2001). Dieser kurze Überblick zeigt auf, dass verschiedene psychologische Faktoren auf Seiten des Menschen im direkten Zusammenhang mit dem Verhalten gegenüber dem Tier stehen und somit einen Einfluss auf die Mensch-Tier-Interaktion sowie auf das Wohlergehen von Tieren haben. Die psychologischen Konsequenzen, die der gewalttätige Umgang in der Tierindustrie (z.B. gewaltsames Bewegen von Tieren bis hin zum Betäuben, Töten und Schlachten) mit sich bringt, wurden bislang von der Psychologie nicht thematisiert. Bisher findet sich nur ein kleiner Forschungsbereich, der Gewalt an Tieren untersucht. Das Tier als Opfer von Gewalt Ein kritischer Blick auf die Beziehung des Menschen zum Tier wurde in der Psychologie bisher im Zusammenhang mit Gewalt unter Menschen und Gewalt gegen Tiere eingenommen. Eine Definition von Misshandlung von Tieren wurde von Ascione und Shapiro (2009) vorgeschlagen: Misshandlung von Tieren wird als beabsichtigtes, sozial nicht akzeptiertes Verhalten definiert, das Schmerz, Leid oder Qual bei einem Tier oder den Tod eines Tieres verursacht. Der Einschub, dass Gewalt an Tieren nur dann als Misshandlung definiert wird, wenn diese nicht sozial akzeptiert ist, ist wichtig, da sonst auch sozial akzeptierte Gewaltformen gegen Tiere im Rahmen von Tierversuchen und der Herstellung tierlicher Produkte als Misshandlung definiert wären. Die Literatur zur Misshandlung von Tieren umfasst drei Bereiche: Tiermissbrauch, Sodomie3 und das Horten von Tieren. Dabei wird von einem Zusammenhang zwischen Gewalt unter Menschen und der Misshandlung von Tieren ausgegangen, welcher als the link beschrieben wird (Potts 2010). Die Erforschung von the link legt ihren Fokus auf die körperliche Misshandlung von Tieren im Kontext von verschiedenen Gewaltformen innerhalb der Familie wie der Missbrauch von Kindern, Partner_innen und älteren Erwachsenen (Ascione/Shapiro 2009). Doch auch der sexuelle Missbrauch von Tieren – So-

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Sodomie beschreibt den Geschlechtsverkehr des Menschen mit einem anderen Tier und ist definiert als die Penetration sowohl eines Tieres mit dem menschlichen Penis als auch eines Menschen mit einem Tierpenis (DeMello 2012).

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domie – erfährt im Zuge der Erforschung von the link mehr Aufmerksamkeit (Beetz/Podberscek 2005). Trotz der langen Historie von Sodomie in vielen Kulturen (DeMello 2012) sind Studien zum sexuellen Missbrauch von Tieren rar, wobei methodische Schwierigkeiten wie soziale Erwünschtheit4 als Ursache diskutiert werden (Ascione/Shapiro 2009). Neben dem körperlichen und sexuellen Missbrauch von Tieren stellt das Horten von Tieren (engl. animal hoarding) eine weitere Form der Misshandlung von Tieren dar. Das Horten von Tieren umfasst die Vernachlässigung und die Misshandlung von einer großen Anzahl von Tieren, wobei die Vernachlässigung häufig verleugnet wird (Patronek/Nathanson 2009). Zur Erklärung dieses Phänomens ziehen Patronek und Nathanson (ebd.) das Modell der obsessiven Zwangsstörung heran, bei dem Probleme wie soziale Isolation und Angst vor Verlust durch eine Anhäufung von Tieren kompensiert werden. Forschung zur Misshandlung von Tieren diskutiert menschliche Gewalterfahrungen als Ursache (Ascione/Arkow 1999) sowie als Konsequenz (Ascione 2001) von Tiermissbrauch. Jüngere Studien legen dar, dass der körperliche Missbrauch von Tieren einerseits mit dem Erleben von häuslicher Gewalt in der Kindheit im Zusammenhang steht (Ascione et al. 2007; Baldry 2003; Currie 2006; Henry 2004; Pagani/Robustelli/Ascione 2007; Thompson/Gullone 2006). Andererseits wird berichtet, dass Personen, die sexuellen Missbrauch von Tieren vollziehen, häufiger selbst Opfer von sexuellem Missbrauch waren (Ascione et al. 2003). Zudem belegen die retrospektiven Berichte von Strafgefangenen, dass Gewalt gegen Menschen mit körperlichem und sexuellem Missbrauch von Tieren zusammenhängt (Hensley/Tallichet/Singer 2006). Darüber hinaus werden Missbrauch von Frauen und Mobbing als Korrelate von körperlichem Missbrauch von Tieren diskutiert (Ascione 2007; Robertson/Gullone 2008; Strand/ Faver 2005). Als verbindende Ursache für den berichteten Zusammenhang zwischen den verschiedenen Missbrauchsformen wird ein Mangel an Empathie und abgestumpftes Emotionserleben angenommen (Ascione/Shapiro 2009; Dadds/ Fraser 2006). Die Forensische Psychologie und Psychiatrie hat daher Misshandlungen von Tieren als Merkmal bestimmter Psychopathien bereits anerkannt (Ascione/Shapiro 2009), wobei dem Defizit im Empathieempfinden eine besondere psychopathologische Bedeutung beigemessen wird. Die Forschung zur Misshandlung von Tieren legt offen, dass Gewalt gegen Tiere kein isoliertes Phänomen darstellt, sondern meist in zwischenmenschliche

4

Soziale Erwünschtheit beschreibt die Tendenz, eher von sozial erwünschtem Verhalten zu berichten, und im Gegenzug Verhalten, dass sozial abgelehnt wird, in Befragungen nicht anzugeben.

P SYCHOLOGIE

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Gewalterfahrung eingebunden ist. Zudem verweist sie auf einen gewaltverstärkenden Effekt von Gewalt an Tieren. Die Arbeiten zu the link legen dar, dass Gewalt gegen Individuen – ob menschliche oder nichtmenschliche – gemeinsame psychologische Mechanismen beinhalten kann, wie am Beispiel des Empathiedefizits aufgezeigt wurde. Während die Arbeiten zu Tiermissbrauch das Tier als leidensfähiges Subjekt anerkennen, sind andere Formen von Gewaltausübung von Menschen gegen Tiere und deren Konsequenzen, z.B. im Rahmen der Tierindustrie oder Tierversuche, in der Psychologie kaum untersucht worden. Dabei kann angenommen werden, dass diese Gewaltformen häufig nicht als Gewaltausübung wahrgenommen oder bewertet werden. Gängigen Gewaltdefinitionen ist jedoch gemein, dass sie die physische Verletzung oder Schädigung als Minimalkriterium zugrunde legen (Buschka/Gutjahr/Sebastian 2013). Da Tiere einen Schmerz körperlich empfinden und sich Schmerzen entziehen wollen, weil sie verletzbar sind und ihr Leben durch eine absichtsvolle menschliche Handlung beendet werden kann, müssen Gewaltdefinitionen auch auf Tiere angewendet werden (Buschka/Gutjahr/Sebastian 2014). Buschka und Kolleg_innen (ebd.) beschreiben zwei distinkte Ebenen von Gewalt: private Gewalt (individuelle Gewaltausübung) und institutionalisierte Gewalt (ein System von professionalisierter, organisierter, meistens staatlich subventionierter Gewalt). Während die private Misshandlung von Tieren als Gewalt wahrgenommen, sozial geächtet und rechtlich sanktioniert wird, wird die institutionalisierte Gewalt selten als Gewalt bewertet und ist rechtlich legitimiert (siehe dazu das Kapitel zu den Legal Studies). Letztere findet soziale Akzeptanz und wird durch die Mehrheit der Gesellschaft durch ihr (Konsum-)Verhalten unterstützt (z.B. finanziell durch den Kauf von Produkten, die vom Tier stammen oder an Tieren getestet wurden). Dabei kann die Unterstützung von institutionalisierter Gewalt gegen Tiere als eine Form der Diskriminierung von Tieren beschrieben werden. Eine psychologische Perspektive auf diese distinkten Ebenen von Gewalt gegen Tiere wirft die Frage auf, welche psychologischen Prozesse mit der Wahrnehmung von Tieren und der Unterstützung von institutionalisierter Gewalt gegen sie einhergehen und warum diese nicht ebenso als Gewalt bewertet und abgelehnt wird wie private Gewalt gegen Tiere.

T IERE

ALS

F REMDGRUPPE

Der soziale, rechtliche sowie moralische Status von Tieren beruht auf einer eindeutigen Abgrenzung zwischen Mensch und Tier und einer mit dieser Grenzziehung verbundenen Diskriminierung. Tiere sind dem Menschen nicht gleichge-

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stellt, sondern dem menschlichen Nutzen untergeordnet. In einer psychologischen Auseinandersetzung mit dieser strukturellen Asymmetrie im Verhältnis von Mensch und Tier ist es hilfreich, sich an der existierenden sozialpsychologischen Forschung über psychologische Prozesse zu orientieren, die mit der Abund Ausgrenzung von Gruppen verbunden sind. Hierbei werden soziale Ungleichheiten und Diskriminierungen vor allem im Kontext von Vorurteilen thematisiert, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll. In der Psychologie wurde die Abgrenzung zwischen Gruppen anhand des Eigengruppe-Fremdgruppe-Phänomens (Brewer/Brown 1998) beschrieben. Die Eigengruppe ist dabei definiert als die soziale Gruppe zu der sich das Individuum zugehörig fühlt. Die Fremdgruppe hingegen wird anhand von biologischen (Geschlecht, Alter, Ethnie, Sexualität) oder historisch-kulturellen (Staatsangehörigkeit, Kultur, Religion) Merkmalen von der Eigengruppe abgegrenzt. Reicher (2012) führt aus, dass jede Aussage über eine Fremdgruppe eine vergleichende ist und somit etwas über die Urteilenden aussagt. Wenn ein Mitglied anhand eines spezifischen Merkmals (z.B. schwarze Hautfarbe) beschrieben wird, drückt dies die Relevanz eines bestimmten Kategoriensystems (z.B. Ethnie) für das eigene Selbst aus (»Ich bin weiß«; siehe Reicher 2012). Das EigengruppeFremdgruppe-Phänomen kann auch auf das Verhältnis von Mensch und Tier angewendet werden, da alle nichtmenschlichen Tiere aufgrund ihrer jeweiligen Artzugehörigkeit vom Menschen abgegrenzt werden. Der Mensch definiert sich über die Abgrenzung zum Tier als Mensch, wodurch wiederum die Relevanz des Kategoriensystems Spezies hervorgehoben wird. Alle nichtmenschlichen Individuen werden als Tiere und damit als Fremdgruppe kategorisiert. Die Forschung zum Eigengruppe-Fremdgruppe-Phänomen verdeutlicht, dass bei der Abgrenzung zu anderen Gruppen die wahren Unterschiede häufig überschätzt werden und es daher zu einer inakkuraten Stereotypisierung von Fremdgruppen kommen kann (Allport 1979). Kognitive Stereotypisierungen reduzieren das Individuum auf ein »relevantes Merkmal« (z.B. Spezies), anstatt sein gesamtes Sein zu betrachten, und können mit Vorurteilen einhergehen. Vorurteile sind Einstellungen, die neben diesen vereinfachenden kognitiven Stereotypisierungen (Fiske/Cuddy/Glick/Xu 2002) negative bis feindselige Emotionen (Harris/Fiske 2007) und diskriminierende Verhaltensweisen (Cuddy/Fiske/Glick 2007) aufweisen. Kommt es zur Diskriminierung von Fremdgruppen, wird diese durch legitimierende Überzeugungen aufrechterhalten, welche eine ungerechte Behandlung von Mitgliedern der Fremdgruppe rechtfertigen (Jost/Banaji 1994). Legitimierende Überzeugungen können anhand der Theorie der sozialen Dominanz (SDT; Sidanius/Pratto 1999) erklärt werden, welche die psychologischen und sozialen Bedingungen für die Formierung und den Erhalt von sozialen

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Ungleichheiten formuliert. Soziale Ungleichheiten basieren auf hierarchischen Gruppen- und Gesellschaftsstrukturen, die eine hegemoniale Gruppe an der Spitze der Hierarchie und eine negative Referenzgruppe am unteren Ende beinhalten. Während die dominante Gruppe einen hohen sozialen Wert hat, ist die sozial schwache Gruppe nahezu wertlos. Ziel der dominanten Gruppe ist die Sicherung der Überlegenheit und die Macht der eigenen Gruppe. Dies geschieht durch die Etablierung legitimierender Mythen, die auf Diskriminierungen beruhen (Sidanius/Devereux/Pratto 1992). Im Gegensatz zur Sicherung der Macht in der dominanten Gruppe geht es der untergeordneten Gruppe um existentielle Bedürfnisse wie körperliche und seelische Unversehrtheit, Autonomie sowie rechtliche und soziale Gleichstellung. Wendet man die SDT auf das Verhältnis von Mensch und Tier an, kann festgehalten werden, dass Tiere auf der untersten Ebene in der sozialen Hierarchie stehen, wobei die sogenannten Nutztiere die sozial schwächste Gruppe darstellen. Zwar wird dem Tier laut §1 des Tierschutzgesetzes (TierSchG) als Mitgeschöpf in seinem Wohlbefinden und Leben ein gewisser Schutz eingeräumt, dennoch bewegen sich vor allem Nutztiere als »Eigentum« in einem eigentlich schutzlosen sozialen Raum, da Gewalt gegen sie – wenn ein nicht näher definierter vernünftiger Grund vorliegt (§17 TierSchG) – legal ist. Da Tiere gefangen gehalten und getötet werden dürfen, um sie zu essen, gilt das Interesse des Menschen am Konsum von Tierfleisch als »vernünftiger Grund«. Überzeugungen und Einstellungen, welche das Interesse des Menschen über das Interesse von Tieren stellen und die Ausbeutung der Tiere mithilfe von Vorurteilen rechtfertigen, können im Sinne der SDT als legitimierende Überzeugungen eingestuft werden. Ebenso wie menschenbezogene Diskriminierungen Überzeugungen zugunsten der Eigengruppe umfassen, enthält auch die Diskriminierung von Tieren Überzeugungen und Vorurteile gegenüber Tieren und die Tendenz, die Interessen des Menschen über die Interessen von Mitgliedern anderer Spezies zu stellen (Singer 1975). Speziesismus »Prejudice […] reveals to us something about its author, but not about its target.« REICHER 2012: 29

Die Diskriminierung von Tieren aufgrund ihrer Spezies wurde erst in den letzten Jahrzehnten in der wissenschaftlichen Psychologie beschrieben und mit dem Begriff »Speziesismus« (engl. speciesism) bezeichnet (Ryder 1975). Ryder defi-

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niert Speziesismus als die Diskriminierung von Lebewesen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Spezies. Psychologische Vorurteilsforschung kann auch auf die Diskriminierung von Tieren übertragen werden und hier deutlich machen, dass Speziesismus – analog zu Rassismus oder Sexismus – auf speziellen Vorurteilen gegenüber Tieren beruht, die mit vereinfachten Stereotypisierungen (z.B. alle Tiere einer Art sind gleich) und Kategorisierungen (z.B. der Kategorisierung als essbare Tiere, Haustiere, Zootiere etc.) einhergehen. Vorurteile der dominanten Gruppe sind häufig mit falschen Annahmen sowie fehlerhaften Wahrnehmungen über die Mitglieder der Fremdgruppe verbunden (Reicher 2012), und so sagen Vorurteile über Tiere mehr über die verzerrte menschliche Wahrnehmung von Tieren aus als über die tatsächlichen Eigenschaften und Fähigkeiten dieser Individuen. Dabei spielt die a priori gezogene Grenzlinie zwischen Mensch und Tier für die Wahrnehmung von und fehlerhaften Annahmen über Tiere eine große Rolle. Wie stark der Mensch-TierDualismus sozial konstruiert ist, zeigt auch die komparative und ethologische Forschung. Diese belegt, dass einige Eigenschaften (z.B. Kommunikation, Moral, Persönlichkeit), die lange Zeit als einzigartig menschlich angenommen wurden, auch Tiere innehaben und nicht ausschließlich dem Menschen inhärent sind (Burghardt 2009; Waal 2009; Gosling 2008; Gosling/John 1999; Nettle 2006; Premack 2007; Tomasello/Vaish 2012). Eine Studie von Marcu, Lyons und Hegarty (2007) konnte zudem zeigen, dass die psychologische Grenzziehung zwischen Mensch und Tier Ausdruck von speziesistischen Überzeugungen ist, die aufgrund von Dilemmata im Zusammenleben zwischen Mensch und Tier zur Rechtfertigung der Priorisierung von menschlichen Interessen herangezogen werden. Somit ist die Grenzziehung zwischen Menschen und Tier anhand von bestimmten Eigenschaften beeinflusst durch speziesistische Überzeugungen. Speziesismus kann als eine spezielle Form der sozialen Wahrnehmung verstanden werden, die mit fehlerhaften Wahrnehmungen von tierlichen Individuen einhergeht und weder wissenschaftlich fundiert ist noch über die tatsächlichen Fähigkeiten und Eigenschaften von verschiedenen Tierspezies etwas aussagen kann. Die psychologische Abgrenzung zwischen Mensch und Tier sollte daher getrennt von der Frage nach den gegebenen Grenzen zwischen Spezies behandelt werden (Waytz/Cacioppo/Epley 2010), da für den Umgang des Menschen mit dem Tier vor allem die psychologische Abgrenzung von Bedeutung ist. Um psychologische Mechanismen bei der Grenzziehung des Menschen zum Tier genauer zu betrachten, ist es hilfreich, das laienpsychologische Verständnis von Menschlichkeit in den Fokus zu rücken. Lai_innen beschreiben Menschlichkeit (engl. humanness) anhand von zwei unabhängigen Dimensionen: die »menschliche Einzigartigkeit« (engl. human uniqueness) und die »menschliche

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Natur« (engl. human nature, siehe Haslam et al. 2005). Dabei beschreibt die Dimension der menschlichen Einzigartigkeit die angenommene Grenze zwischen Mensch und Tier (Haslam 2006). Unter einzigartig menschlichen Merkmalen werden z.B. Intelligenz, Empathie, manche Persönlichkeitseigenschaften, Sprache, Kultur und Moral sowie sekundäre Emotionen (z.B. Liebe, Scham, Schuld) verstanden (ebd.). Die Dimension der menschlichen Natur hingegen umfasst vor allem primäre Emotionen (z.B. Wut, Freude, Schmerz) sowie Mitgefühl und Wärme und beschreibt die angenommene Grenze zwischen Lebewesen und nichtlebendigen Dingen (Bilewicz/Imhoff/Drogosz 2011). Ein ähnliches psychologisches Konstrukt ist der »wahrgenommene Geist von Lebewesen« (engl. mind perception, Gray/Gray/Wegner 2007), das im Gegensatz zum Konstrukt von Menschlichkeit keinen anthropozentrischen Schwerpunkt hat und verschiedene Spezies nicht schon durch seine Begrifflichkeit trennt. Auch in der Zuschreibung von geistigen Fähigkeiten finden sich zwei unabhängige Dimensionen: Erleben und Handlungsfähigkeit (ebd.; Haslam et al. 2008; Loughnan/Haslam/Bastian 2010). Unter der Erlebnisdimension (engl. experience) finden sich ähnliche Eigenschaften wie unter der (menschlichen) Natur von Lebewesen und sie beschreibt Emotionen, aber auch Persönlichkeit und Bewusstheit. Unter die Dimension der Handlungsfähigkeit (engl. agency) werden höhere kognitive Prozesse wie Denken, Moral, Planen und Kommunikation subsumiert. Diese Dimension weist Überschneidungen mit der menschlichen Einzigartigkeit auf. Allerdings sind die beiden Konstrukte nicht absolut deckungsgleich und es finden sich Unterschiede in der Zuordnung von primären und sekundären Emotionen. Für die Wahrnehmung und Bewertung von Mensch und Tier sind beide Dimensionen von Bedeutung, da die Zuschreibung sowohl von subjektivem Erleben als auch von Handlungsfähigkeit ein wesentlicher Faktor für den zugeschriebenen moralischem Status von Anderen, die empfundene moralische Verpflichtung und das moralische Verhalten ist (Gray/Gray/Wegner 2007; Haslam/ Loughnan/Holland 2013). Diese moralische Relevanz impliziert, dass der empfundene Wert eines Lebewesens und sein Recht auf eine gerechte Behandlung psychologisch durch den zugeschriebenen Geist und »menschliche« Eigenschaften vermittelt werden. Bemerkenswert ist nun, dass die Zuschreibung von »menschlichen« Eigenschaften bei Tieren häufig als eine verzerrte, anthropomorphe Wahrnehmung von Tieren be- und abgewertet wird, wobei mit Anthropomorphismus eine soziale Wahrnehmungsform gemeint ist, die nichtmenschlichen Individuen oder Dingen »menschliche« Eigenschaften zuschreibt (Waytz/Cacioppo/Epley 2010) bzw. das menschliche Selbstbild auf Tiere projiziert (Kwan/Gosling/John 2008).

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Allerdings konnte die Arbeit von Kwan und Kolleg_innen (2008) zeigen, dass Menschen ihr Selbstbild generell auf ihr Gegenüber projizieren – ob Hund oder Mensch – und diese Projektion sich in ihrem Ausmaß nicht unterscheidet. Diese Arbeit macht deutlich, dass »menschliche« Eigenschaften speziesübergreifend wahrgenommen und beschrieben werden können. Die Beschreibung von »menschlichen« Eigenschaften bei Tieren und Menschen ist demnach gleichermaßen durch das eigene Selbstbild verzerrt, nur scheint es bei der Wahrnehmung von anderen Menschen keinen Grund zu geben, die grundsätzliche Zuschreibung von »menschlichen« Eigenschaften anzuzweifeln. Daraus kann abgeleitet werden, dass eine anthropomorphe Wahrnehmung von Tieren kein spezielles Phänomen darstellt und die Zuschreibung von »menschlichen« Eigenschaften bei tierlichen Individuen angemessener ist, als es der Begriff »Vermenschlichung« suggeriert. Dehumanisierung und Objektifizierung Vorurteile gegen und Diskriminierung von Fremdgruppen sind mit der Abwertung bzw. dem Leugnen von Menschlichkeit und Geist verbunden – sowohl bei Menschen (Haslam/Loughnan/Holland 2013) als auch bei Tieren (Bastian et al. 2012; Bilewicz/Imhoff/Drogosz 2011). Die Abwertung von Erleben und Handlungsfähigkeit kann als eine kognitive Komponente von Vorurteilen beschrieben werden und wird in der Psychologie durch »Dehumanisierung« und »Objektifizierung« konzeptualisiert (Gray et al. 2011; Haslam 2006) Das Konzept der Dehumanisierung beschreibt die Abwertung von menschlichen Eigenschaften und wird traditionell als eine extreme Form von Vorurteilen verstanden (Haslam et al. 2007). Dehumanisierung ist als ein motivierter psychologischer Prozess definiert, welcher der Rechtfertigung von individueller, interpersonaler oder intergruppaler Gewalt dient (Haslam 2006). Aktuelle Studien zeigen auf, dass das Leugnen von »menschlichen« Eigenschaften bei Tieren ebenfalls eine motivierte Strategie von »moralischem Disengagement« (Bandura 2002) sein kann, die dazu dient, Gewalt an Tieren zu rechtfertigen (Bilewicz/ Imhoff/Drogosz 2011; Bastian et al. 2012). Moralisches Disengagement ist als eine moralische Selbstentlastung definiert, die eine moralische Distanzierung zur Diskriminierung und Gewalt gegen Fremdgruppen ermöglicht sowie Überlegenheit der Eigengruppe und soziale Dominanz über die Fremdgruppe schafft (Haslam/Loughnan/Holland 2013). In Abhängigkeit von den zwei beschriebenen Dimensionen von Menschlichkeit (menschliche Natur, menschliche Einzigartigkeit) werden zwei Formen von Dehumanisierung beschrieben: Lebewesen, deren menschliche Natur und damit subjektives Erleben geleugnet wird, werden mit

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einer Maschine gleichgesetzt (engl. mechanistic dehumanization). Lebewesen, deren menschliche Einzigartigkeit und somit kognitive Fähigkeiten abgewertet werden, werden mit Tieren gleichgesetzt (engl. animalistic dehumanization). Die animalistische Dehumanisierung kann erklären, warum Speziesismus auch bei der Diskriminierung von menschlichen Fremdgruppen relevant ist und Tiere nicht nur selbst von Abwertungen und Diskriminierungen betroffen sind, sondern zudem eine negative Referenzgruppe bei der Diskriminierung von anderen Menschen darstellen. Der zugeschriebene Wert eines menschlichen Individuums ist derart von seiner Zugehörigkeit zur Spezies Mensch abhängig, dass die Gleichsetzung mit einem Tier die Herabsetzung seines moralischen Status und damit Diskriminierung bedeutet (Haslam/Loughnan/Sun 2011). So wurden z.B. Jüdinnen und Juden mit Ungeziefer, Frauen mit Beutetieren und afrikanische Sklav_innen mit Affen gleichgesetzt. In der Abwertung dieser Gruppen spielt die Gleichsetzung des Menschen mit dem Tier jedoch nur deshalb eine so große Rolle, weil Tieren generell ein geringerer Wert zugesprochen wird als dem Menschen (Plous 1993a). Der Vergleich des Tieres mit dem Menschen bringt hingegen überwiegend eine Aufwertung des Tieres mit sich (Allen/ Blascovich/Mendes 2002; Opotow 1993; Plous 1993b). Dabei werden dem Tier mehr menschliche Eigenschaften zugesprochen und speziesistische Einstellungen werden reduziert (Bastian et al. 2011). Ein ähnliches Konzept wie Dehumanisierung ist die Objektifizierung, die bisher überwiegend im Kontext von sexueller Objektifizierung von Frauen thematisiert wurde (Gray et al. 2011). Die Philosophin Nussbaum definiert Objektifizierung wie folgt: »Objectification entails making into a thing […] something that is really not a thing« (1999: 218). Sie stellt sieben universelle Verhaltenskriterien auf, die eine Objektifizierung anzeigen: Instrumentalität (Subjekt wird genutzt), Leugnen von Autonomie (fehlende Selbstbestimmung), Leugnen von Subjektivität, Verletzbarkeit (Subjekt wird verletzt, zerstört), Übertragbarkeit (Subjekt ist austauschbar), Eigentum (Subjekt gehört Anderen) und Unterstellung von Trägheit (Subjekt ist passiv) (dies. 1995). Werden diese Kriterien auf Tiere angewandt, wird deutlich, dass alle Tierarten, die einen Nutzen für Menschen haben, teilweise objektifiziert werden bzw. sind. Von einigen Autor_innen wird angenommen, dass die Objektifizierung durch einen einseitigen Fokus auf den Körper vermittelt wird, da das Erleben von Emotionen unmittelbar an den Körper gebunden ist und objektifizierten Individuen das Erleben von Emotionen abgesprochen wird (Gray et al. 2011). Ein Fokus auf den Körper ist überwiegend mit einer reduzierten Zuschreibung von subjektivem Erleben (Cikara/ Eberhardt/Fiske 2010; Heflick/Goldenberg 2009; Heflick et al. 2011; Loughnan et al. 2010), aber auch von kognitiven Fähigkeiten assoziiert (Gray et al. 2011).

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Da jedoch nicht jeder einseitige Körperfokus negative Folgen für die Bewertung einer Entität hat, scheint es naheliegend, dass (diskriminierende) Überzeugungen eine moderierende Funktion haben könnten (ebd.). Eine Studie zur Objektifizierung von Frauen konnte diese Annahme bestätigen und fand den negativen Effekt des Körperfokus nur bei Personen, die feindselige sexistische Überzeugungen teilten (Cikara/Eberhardt/Fiske 2010). Psychologische Arbeiten belegen, dass auch Tiere, die Opfer von institutionalisierter Gewalt werden, objektifiziert werden, indem ihr subjektives Erleben und ihre kognitiven Fähigkeiten verleugnet werden (Bastian et al. 2012; Knight, et al. 2004; Knight et al. 2009). Ebenso wie bei objektifizierten Frauen besteht auch bei den sogenannten Nutztieren ein einseitiger Fokus auf den Körper. So existieren z.B. Nutztiere in der Fleischindustrie nur deshalb, weil aus ihren Körpern Nahrungsprodukte für den menschlichen Konsum hergestellt werden, oder Nutztiere in der wissenschaftlichen Forschung nur deshalb, um mit ihren Körpern zu experimentieren. Im Folgenden wird gesondert auf die Objektifizierung von Tieren im Kontext des Fleischessens eingegangen. Karnismus Die Produktion von tierlichen Nahrungsmitteln stellt eine Form von institutionalisierter Gewalt gegen Tiere dar. Das Ausmaß dieser Form von Gewalt an Tieren ist enorm. Global betrachtet fallen jährlich über 65 Milliarden Tiere5 für die Fleisch-, Milch- und Eierindustrie institutionalisierter Gewalt zum Opfer6. Von der psychologischen Forschung wurde das Essen von Tieren bisher überwiegend als ein individuelles Phänomen (siehe den Abschnitt »Das Fleischparadox«) beschrieben und selten als eine Form von institutionalisierter Gewalt gegen eine soziale Gruppe betrachtet, die mit Diskriminierungen verbunden ist und Parallelen mit anderen diskriminierenden Ideologien aufweist. Überzeugungen und Vorurteile, die das Konsumieren von Körperteilen von Tieren (Fleisch) sowie deren Ausscheidungen (Milch und Eier) unterstützen und aufrechterhalten, können als eine Unterform von Speziesismus beschrieben werden (Monteiro/ Patterson/Milburn 2013).

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Nicht mit eingerechnet sind erjagte Tiere und Meerestiere.

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Zur Veranschaulichung: »In den dreißig größten Kriegen der Menschheit sind insgesamt etwa 600 Millionen Menschen umgekommen. Jemals auf der Erde gelebt haben seit der Steinzeit gut 100 Milliarden Menschen. Wir schlachten in anderthalb Jahren also mehr Tiere, als je Menschen auf der Welt gelebt haben –ein wahres Gemetzel.« (Sezgin 2014: 54)

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Joy (2003) prägte für diese spezielle Form von Speziesismus den Begriff »Karnismus« (»Karn« von engl. carn [Fleisch]; »-ismus« als die Bezeichnung eines Überzeugungssystems). Ihr zufolge kann Karnismus als eine dominante, gewalttätige und verborgene Ideologie beschrieben werden (dies. 2010). Die Dominanz von Karnismus zeigt sich daran, dass Tiere zu essen weit verbreitet und die karnistische Überzeugung in allen sozialen Institutionen (vom Staat bis zur Familie) fest verwurzelt ist. Die Mehrheit der Menschen wird kulturübergreifend karnistisch sozialisiert, und Überzeugungen, Verhalten, Normen sowie Gesetze sind auf das Essen von Tieren ausgerichtet. Karnismus ist eine gewalttätige Ideologie, denn um Tierfleisch zu essen, wird ein Lebewesen getötet. Die Tierindustrie zeichnet sich durch systematische Gewalt an Tieren aus. Tierquälerei ist dabei nicht die Ausnahme, sondern das System ist ein grundlegend gewalttätiges (ebd.). Die Produktion von Tierfleisch nimmt eine Sonderstellung in der Gesellschaft ein: Sie ist die einzige legale Gewaltanwendung gegen Individuen mit Todesfolge, die nicht nur gesellschaftlich akzeptiert ist, sondern zudem durch die Gesellschaft finanziell gefördert wird (vom Staat über Subventionen und von der Bevölkerung über den Fleischeinkauf). Die Verborgenheit des Karnismus spiegelt sich darin wider, dass der Konsum von Fleisch und anderen tierlichen Produkten als selbstverständlich und gegeben betrachtet wird, ohne die existentiellen Folgen für andere Lebewesen kritisch zu hinterfragen. Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass Fleisch zu essen ebenso eine Überzeugung ist, wie kein Fleisch zu essen (Vegetarianismus) oder generell den Konsum von tierlichen Produkten abzulehnen (Veganismus). Karnistische Überzeugungen implizieren, dass Fleisch zu essen normal, natürlich und notwendig ist. Doch diese Annahmen sind keine Tatsachen, sondern ebenfalls Einstellungen, die den Konsum von tierlichen Produkten rechtfertigen (ebd.). Auf die drei bekanntesten Rechtfertigungen für Fleischkonsum soll im Folgenden kurz eingegangen werden. Normalität als Rechtfertigung von moralisch relevantem Verhalten ist von anderen diskriminierenden Ideologien bekannt (z.B. Diskriminierung von Frauen und Minderheiten wie Homosexuellen). Was in einer Kultur oder Gesellschaft als »normal« betrachtet wird, spiegelt die sozialen Normen der dominanten sozialen Gruppe wider. Mit dem Natürlichkeitsargument verhält es sich ähnlich, denn die Definition von Natürlichkeit wird ebenso von der dominanten Kultur vorgegeben und als Tradition geprägt. Die Notwendigkeit als Rechtfertigung für den Konsum von Körperteilen und Ausscheidungen von Tieren ist wissenschaftlich mittlerweile überholt. Fleisch und andere tierliche Produkte zu essen ist zum Erhalt der menschlichen Gesundheit nicht notwendig (Craig/Mangels 2009). Im Gegenteil, die American Dietetic Association hält in einem 2009 veröffentlichten

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Artikel fest, dass »appropriately planned vegetarian diets, including total vegetarian or vegan diets, are healthful, nutritionally adequate, and may provide health benefits in the prevention and treatment of certain diseases« (ebd.: 1). Weiter führen Craig und Mangels (2009) auf, dass eine wohlgeplante vegetarische und vegane Ernährung für alle Lebensabschnitte (von Schwangerschaft über Stillzeit, Kleinkind- und Kindesalter bis hin für Erwachsene und Sportler_innen) angemessen sei. Trotz dieser wissenschaftlichen Belege ist der Glaube, der menschliche Körper brauche tierliches Protein und Kalzium für seine Gesundheit, weit verbreitet (Monteiro/Patterson/Milburn 2013). Die kurzen Erläuterungen zu den Überzeugungen, die das Essen von Tieren rechtfertigen und die damit verbundene Diskriminierung von Tieren, machen deutlich, dass Karnismus in einen Kontext von sozialen Hierarchien eingebettet ist und daher anhand der SDT näher untersucht werden kann. Wendet man die SDT auf Karnismus an, können karnistische Überzeugungen als legitimierende Mythen eingeordnet werden. Im Sinne der SDT dienen diese Mythen dazu, das Essen von Tieren zu legitimieren und zu rechtfertigen sowie die Macht und Gewalt über Tiere zu erhalten. Eine erste Studie konnte zeigen, dass karnistische Überzeugungen hoch mit sozialer Dominanz und anderen diskriminierenden Überzeugungen (z.B. Sexismus, rechtsorientierten politischen Einstellungen) korrelieren und zudem negativ mit Einstellungen gegenüber Tierrechten und der wahrgenommenen Ähnlichkeit von Mensch und Tier zusammenhängen (Monteiro et al. 2013). Schon frühere Arbeiten haben auf die Verknüpfung verschiedener diskriminierender Ideologien hingewiesen und gezeigt, dass der Konsum von Fleisch mit kulturellen Konzepten von Maskulinität und Macht zusammenhängt (Adams 1990; Rozin et al. 2012; Ruby/Heine 2011; Sobal 2005). Somit können erste Studien die theoretische Annahme bestätigen, dass Karnismus ein überwiegend nichtbewusstes Überzeugungssystem ist, das der Diskriminierung von Tieren zugrunde liegt und die institutionalisierte Gewalt gegen Tiere unterstützt und aufrechterhält (Monteiro/Patterson/Milburn 2013; Bastian et al. 2012). Für eine wissenschaftliche Etablierung des Karnismuskonzeptes bedarf es weiterer empirischer Arbeiten, die diese Ergebnisse replizieren und erweitern können. Das Fleischparadox Aus einer psychologischen Perspektive auf das Essen von Tieren fällt auf, dass Tiere von Kategorisierungen betroffen sind. So werden bestimmte Tierarten in Abhängigkeit vom kulturellen Umfeld entweder als ess- oder nicht essbar kategorisiert (Joy 2010). In westlichen Kulturen ist es z.B. völlig normal, das Fleisch von Kühen zu essen, während in einigen Religionen die Kuh als heilig gilt und

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Kuhfleisch daher traditionell nicht als essbar gilt.7 Demgegenüber wäre das Essen von Hundefleisch in westlichen Kulturen ein Skandal, während es in China traditionell zur kulturellen Praxis gehört. Mithilfe der Kategorisierungen und sozialen Normen gibt jede Kultur vor, welche Tiere für sie zum Verzehr geeignet sind. Die Einteilung in ess- und nichtessbare Tierarten kann als eine Form von Vorurteil angesehen werden. Daher werden moralisch relevante Eigenschaften von Tieren in Abhängigkeit von ihrer »Essbarkeit« bewertet. Eine australische Studie von Bastian und Kolleg_innen (2012) zeigt, dass die zugeschriebenen kognitiven und erlebnisbezogenen Fähigkeiten von 32 domestizierten und wilden Tierarten mit ihrer Essbarkeit negativ zusammenhängen. So wurden nichtessbaren Tierarten wie Primaten, Katzen, Hunde und wild lebenden Säugetieren die höchsten geistigen Fähigkeiten zugeschrieben, während als essbar kategorisierte Tierarten geringere geistige Fähigkeiten attestiert wurden. Darüber hinaus war die Essbarkeitskategorie aufgrund der als geringer eingeschätzen geistigen Fähigkeiten negativ mit dem moralischem Status assoziiert: Je höher die kognitiven und erlebnisbezogenen Fähigkeiten eines Tieres eingeschätzt wurden, umso größer war das schlechte Gefühl bei der Vorstellung, das Tier zu essen, und umso höher war die Einschätzung, dass es moralisch falsch wäre, das Tier zu essen (ebd.). Eine andere Studie konnte diese Ergebnisse bestätigen und zeigt, dass die Essbarkeitskategorisierung des Tieres (im Vergleich zu nichtessbar) auch bei einem völlig unbekannten Tier dazu führt, dass sowohl die zugeschriebenen geistigen Fähigkeiten als auch der moralische Status vermindert wird (Bratanova/Loughnan/Bastian 2011). Dieser Zusammenhang zwischen der Zuschreibung von Geist und dem moralischen Status impliziert, dass das Leugnen von subjektivem Erleben und kognitiven Fähigkeiten bei Tieren ein motivierter Prozess ist, der dazu dient, das Essen von Tieren und die damit verbundene Gewalt zu rechtfertigen und sich dadurch moralisch zu entlasten. Ein weiterer psychologischer Forschungsbereich beschäftigt sich daher mit moralischem Disengagement im Kontext von Gewalt gegen Tiere und deren Ursachen. Wie im ersten Abschnitt des Kapitels angeführt, gehen Menschen einerseits emotionale Bindungen mit Tieren ein, wobei private Gewalt gegen einzelne Tiere sozial nicht akzeptiert ist. Andererseits ist Fleisch von Tieren häufig ein zentraler Bestandteil der menschlichen Ernährung und steht im Fokus kulinarischer Freude (Fiddes 1991). Dieser paradoxe Umgang mit Gewalt gegen Tiere wirft

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Diese traditionelle Sichtweise wird allerdings zunehmend durch die Globalisierung aufgelöst, so gibt es einen großen Ledermarkt mit Kuhleder in Indien und auch der Fleischkonsum in dem traditionell vegetarischen Land nimmt durch den westlichen Einfluss zu.

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die psychologische Fragestellung auf, warum Menschen private Gewalt gegen einzelne Tiere verurteilen, institutionalisierte Gewalt gegen bestimmte Tierarten jedoch unterstützen. Im Kontext des Essens von Tieren formulierte eine sozialpsychologische Arbeitsgruppe das Fleischparadox (Loughnan et al. 2010): Die meisten Menschen essen sehr gerne Fleisch, aber nur die wenigsten haben Freude daran, ein empfindungsfähiges Lebewesen zu quälen oder zu töten. Gerne Fleisch zu essen (Fleischmotiv) und Tiere gleichzeitig nicht verletzten zu wollen (Tiermotiv), stellen jedoch zwei Motive dar, die miteinander in Konflikt treten können (ebd.). Dem Tiermotiv liegt die Annahme zugrunde, dass der Mensch gegenüber anderen Lebewesen grundsätzlich empathisch ist und das moralische Empfinden durch Gewalt gegen Tiere verletzt wird. Diese Empathieannahme wird durch Forschungsergebnisse unterstützt, die zeigen, dass das Wohl von Anderen ein genuin menschliches Anliegen ist (Hepach/Vaish/Tomasello 2012). Allerdings ist die empfundene Empathie abhängig von wahrgenommener Ähnlichkeit mit Menschen (Plous 1993a), was z.B. auch der Umgang mit Fischen verdeutlicht, die selten als empfindungsfähige Lebewesen anerkannt werden (Joy 2010). Studien zum Fleischparadox8 zeigen, dass Menschen tatsächlich einen psychologischen Konflikt erleben, wenn sie mit den gewalttätigen Hintergründen von Tierfleisch konfrontiert sind (Bastian et al. 2012; Loughnan/Bastian/Haslam 2014; Loughnan/Haslam/Bastian 2010). Dieser Konflikt wird als kognitive Dissonanz9 beschrieben, deren Auflösung durch die Abwertung von kognitiven Fähigkeiten und vor allem des subjektiven Erlebens und somit der Leidensfähigkeit bei Tieren erfolgt. Dabei dient das Leugnen der Fähigkeiten von Tieren dazu, den moralischen Status des Tieres zu reduzieren, um dadurch das eigene moralische Empfinden anzupassen. Die Abwertung von Tieren kann als psychologischer Prozess eingeordnet werden, um die institutionelle Gewalt an Tieren moralisch zu rechtfertigen und sich moralisch davon zu distanzieren.

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Alle genannten Studien untersuchten ausschließlich fleischessende Personen untereinander und verglichen zwei Gruppen von als essbar kategorisierte Tierarten mit oder ohne Assoziation zu Essen und Fleisch.

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Kognitive Dissonanz kann nach einer Entscheidung oder gezeigtem Verhalten entstehen, wenn Emotionen, Einstellungen oder moralisches Empfinden nicht dem Verhalten entsprechen. Kognitive Dissonanz zieht einen inneren unangenehmen Spannungszustand (negativer Affekt) nach sich und das Bedürfnis, die empfundene Dissonanz wieder aufzulösen. Die Auflösung von Dissonanz kann an jedem ihrer Entstehungspunkte erfolgen. So kann entweder das Verhalten, die Emotionen, die Einstellungen oder das moralische Empfinden gegenüber dem Verhalten verändert werden.

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In der psychologischen Literatur zum Essen von Tieren werden verschiedene Prozesse beschrieben, wie sich Menschen moralisch von der Gewalt gegen Tiere im Kontext der Fleischproduktion distanzieren (Bilewicz/Imhoff/Drogosz 2011). Neben den oben beschriebenen Prozessen von Dehumanisierung und Objektifizierung finden sich räumliche und sprachliche Prozesse sowie kognitive, emotionale und verhaltensbasierte Distanzierungsmechanismen, die im Folgenden näher ausgeführt werden. Eine räumliche Distanzierung von der Gewalt gegen Tiere wird durch die geographische Auslagerung der Orte vollzogen, an denen Gewalt gegen Tiere ausgeübt wird. Die Tötung von Tieren ist heutzutage keine öffentliche Handlung, sondern geschieht hinter verschlossenen Türen, meist ohne Kontrollinstanz (Joy 2010). Schlachtfabriken sind meist völlig abgeschottet und somit auch nicht psychologisch präsent. Die Verwendung von Euphemismen in der Sprache (z.B. Geflügel statt Huhn, Produktionsprozess statt Schlachtung, Fleisch statt Körperteil) ist ein weiterer Distanzierungsmechanismus, welcher die psychologische Bewusstheit über institutionalisierte Gewalt unterbindet. Die euphemistische Beschreibung der Produktion von Tierfleisch maskiert dabei die Gewaltausübung und degradiert Tiere zu leblosen Objekten (Plous 1993a; Joy 2010; siehe auch den Beitrag von Reinhard Heuberger zur Linguistik in diesem Band). Die zuvor beschriebene Abwertung von subjektivem Erleben und kognitiven Fähigkeiten von Tieren kann als ein kognitiver Prozess angesehen werden, der dazu dient, sich moralisch von der Gewalt gegen Tiere zu distanzieren (Bilewicz/Imhoff/Drogosz 2011). Ein weiterer kognitiver Distanzierungsmechanismus ist die verzerrte Wahrnehmung von Fleisch. Diese kognitive Verzerrung zeigt sich darin, dass Fleisch und Tier voneinander dissoziiert sind (Hoogland/de Boer/Boersema 2005) und Fleischteile bevorzugt werden, die nicht mehr an die tierliche Anatomie erinnern (Plous 1993a). Eigentlich enthält das Fleisch von Tieren die drei stärksten Auslöser für Ekel10: Diese sind der Kontakt oder die Konfrontation mit Tieren, dem Tod und der Verletzung von Körpern (Fallon/Rozin 1983). Die psychologische Literatur nimmt einen starken Zusammenhang zwischen Ekel und moralischem Empfinden an und diskutiert Ekel als einen Ausdruck von moralischem Empfinden (Haidt et al. 1997; Rozin/ Haidt/Fincher 2009). Obwohl Tierfleisch die drei stärksten Ekelauslöser beinhaltet, löst es bei den meisten Menschen weder Ekel noch moralische Überlegungen aus. Da moderne Methoden der Fleischproduktion Hinweise und die Erinnerung an das Tier eliminieren oder mindern (Beardsworth/Keil 1991b; Fessler et al.

10 Nach (Rozin/Fallon 1987) wird Ekel definiert als die Ablehnung von einem prospektiven (oralen) Kontakt mit einem anstößigen Objekt.

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2003; Fiddes 1991), ist den meisten Menschen im Moment des Konsums nicht bewusst, dass es sich bei Fleisch und Wurst um Muskeln, Gedärme und andere Teile vom Körperinneren eines Lebewesens handelt (Joy 2010). Menschen sind mit Tierfleisch zwar häufig in Kontakt (Supermarkt, Werbung), jedoch selten mit den Hintergründen der Tierfleischproduktion (Tierhaltung, Tötung, Schlachtung) konfrontiert. Die verzerrte Wahrnehmung von Tierfleisch und der mangelnde Ekel sind jedoch mit dem Fleischkonsum assoziiert. So berichten Menschen, die kein Tierfleisch essen, von erhöhtem Ekel vor Tierfleisch. Hierbei stellt sich die Frage, ob diese Menschen generell eine höhere Ekelsensitivität aufweisen (Fessler et al. 2003) und es sich bei Ekel vor Tierfleisch um ein differentielles Phänomen handelt. Eine Studie konnte diese Annahme jedoch nicht bestätigen: Das Ergebnis zeigt, dass Personen, die sich vor Tierfleisch ekeln und es daher nicht essen, nicht grundlegend eine höhere Ekelsensitivität aufweisen als Personen, die Tierfleisch essen (ebd.). Fessler und Kolleg_innen (ebd.) schlussfolgern aus dem Ergebnis, dass Personen nicht vegetarisch werden, weil sie sich generell mehr vor Tierfleisch ekeln als andere, sondern dass Menschen vegetarisch werden, weil sie ein moralisches Prinzip auf das vorher neutrale Objekt (Tierfleisch) anwenden und dadurch z.B. Tierfleisch als Körperteil eines Lebewesens wahrnehmen. Durch das veränderte moralische Empfinden folge dann das Empfinden von Ekel vor Tierfleisch. Offen bleibt bis dato die Frage, ob ursprünglich Ekel vor Tierfleisch besteht und dieser durch wiederholte Exposition abtrainiert wird oder ob Ekel vor Fleisch erst durch das Bewusstsein entsteht, dass es sich dabei um ein Lebewesen handelt. Dabei kann z.B. die Untersuchung von Kleinkindern, die das erste Mal in ihrem Leben Tierfleisch schmecken, oder von Kindern, die früh von Ekel vor Tierfleisch berichten, aufschlussreich sein. Aus der bisherigen Studienlage zu Ekel im Kontext von Tierfleisch kann abgeleitet werden, dass Ekel vor Tierfleisch eher ein unbewusstes und automatisches (implizites) moralisches Empfinden ausdrückt. Dieses automatische Empfinden weist einen Zusammenhang mit der angenommenen Intelligenz auf und wird eher durch die äußere Erscheinung des Tieres beeinflusst (Ruby/Heine 2012). Dahingegen scheint die kontrollierte und reflektierte moralische Bewertung von Tieren eher durch das zugeschriebene subjektive Erleben des Tieres beeinflusst (Bastian et al. 2012). Zukünftige Arbeiten sollten das implizite und explizite moralische Empfinden im Kontext von Gewalt an Tieren näher untersuchen. Während die Wahrnehmung von Fleisch und die Bewertung von Tieren kognitive Distanzierungsstrategien umfassen, werden auch emotionale Strategien beschrieben, sich von der Gewalt gegen Tiere moralisch zu distanzieren. Ein emotionaler Mechanismus, sich von der Gewalt gegen Tiere zu distanzieren, ist,

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das Empathieempfinden gegenüber Tieren zu reduzieren. Wie bereits im ersten Abschnitt des Buchkapitels beschrieben, belegen Studien einen Zusammenhang zwischen dem Mangel an Empathie und der direkten Ausübung von Gewalt gegen einzelne Tiere. Auch im Rahmen des Essens von Tieren zeigen Studien, dass fleischessende Personen im Selbstbericht weniger emotionale Empathie gegenüber Tieren und Menschen angeben als vegetarisch lebende (Filippi et al. 2010; Preylo/Arikawa 2008). Darüber hinaus konnte die Studie von Filippi und Kolleg_innen (2010) verdeutlichen, dass fleischessende im Vergleich mit vegetarisch und vegan lebenden Menschen in bildgebenden Verfahren (fMRT) eine geringere Aktivität in empathiebezogenen Arealen des Gehirns zeigen (Anterior Insula, Basalganglien und Thalamus), wenn sie ein Video über Gewalt an Tieren sahen, sowie auch, wenn ein Video zu Gewalt an Menschen angesehen wurde. Diese erste Forschung verdeutlicht die speziesübergreifende Bedeutung von Empathie im Kontext von Gewalt und zeigt auf, dass auch die psychologischen Reaktionen auf Gewalt kein isoliertes Phänomen darstellen, das allein bei Tieren zum Tragen kommt. Stattdessen scheinen sowohl die zugrunde liegenden psychologischen Prozesse im Kontext von Gewalt und Diskriminierung als auch die beschriebenen Distanzierungsprozesse auf Gewalt unabhängig von der Spezies der Opfer gültig zu sein. Eine offene Frage ist hierbei, ob diese Distanzierungsmechanismen bewusst angewandte Strategien sind oder ob es sich um eher unbewusst ablaufende Prozesse handelt. Eine bewusste Strategie, um sich von der Gewalt an Tieren zu distanzieren, ist das Verhalten zu verändern und aufzuhören, Tierfleisch und andere tierliche Produkte zu konsumieren, wie es vegetarisch oder vegan lebende Menschen praktizieren. Schon griechische Philosophen wie Pythagoras und Plato lehnten aufgrund von ethischen und spirituellen Überlegungen das Essen von Tierfleisch ab (Ruby 2012). Heutzutage ernähren sich generell mehr Frauen als Männer vegetarisch (ebd.) und verschiedene, demographische Variablen wie Bildungsgrad, Einkommen und Alter sind negativ mit der Höhe des Fleischkonsums assoziiert (Rimal 2002). Da in westlichen Ländern die meisten Menschen nicht als Vegetarier_innen erzogen werden, stellen Menschen erst später im Leben auf eine vegetarische Ernährung um (Beardsworth/Keil 1991b). Die Motive sind dabei nicht statisch und können sich über die Zeit verändern (Beardsworth/Keil 1991a), wobei ethische Überlegungen zu Haltung, Tötung und Schlachtung von nichtmenschlichen Tieren an erster Stelle stehen (Beardsworth/Keil 1991b; Fox/Ward 2008; Hussar/Harris 2009; Jabs/Devine/Sobal 1998; Neale et al. 1993). Danach folgen Sorgen über die persönliche Gesundheit, gefolgt von Umweltauswirkungen des Fleischkonsums, spirituelle Reinheit und – wie im vorherigen Abschnitt beschrieben – Ekel vor Tierfleisch als Motive, vegetarisch zu leben (Ruby 2012).

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Vegetarisch lebende Personen haben im Vergleich mit Personen, die Fleisch essen, negativere Assoziationen mit Tierfleisch wie das Töten eines Tieres, Grausamkeit und die Aufnahme von Blut (Barr/Chapman 2002). Auch in impliziten Messungen zeigen sich die negativeren Einstellungen gegenüber Tierfleisch von vegetarisch lebenden Personen (Barnes-Holmes/Murtagh/Barnes-Holmes 2010; De Houwer/De Bruycker 2007). Darüber hinaus kommen verschiedene Studien zu dem Ergebnis, dass Einstellungen gegenüber Tieren mit Einstellungen bezüglich des Umgangs mit anderen Menschen zusammenhängen. So zeigte sich, dass Vegetarismus eher mit liberalen und das Essen von Tieren eher mit konservativen Werten zusammenhängt (White/Seymour/Frank 1999). Zudem vertreten vegetarisch lebende Menschen häufiger Antigewalteinstellungen (Hamilton 2006), bekräftigen seltener soziale Hierarchien oder rechte Autoritäten (Allen et al. 2000) und vertreten eher altruistische Werte wie Umweltschutz, Gleichheit oder soziale Gerechtigkeit (Dietz et al. 1995; Kalof et al. 1999). Die Forschung zum Essen von Tieren verdeutlicht, inwiefern institutionalisierte Gewalt gegen Tiere – am Beispiel des Essens von Tieren – psychologische Prozesse auf Seiten des Menschen beeinflusst. Die Arbeiten zum Fleischparadox implizieren, dass durch das Essen von Tierfleisch das moralische Empfinden und die Empathie von Menschen gegenüber Tieren verletzt werden kann. Darüber hinaus kann festgehalten werden, dass die Abwertung von als essbar kategorisierten Tieren ein motivierter Prozess ist, der dem moralischen Disengagement dient und das eigene Verhalten, nämlich Tiere zu essen – und damit die Gewalt an Tieren zu unterstützen –, rechtfertigen soll. Dass Menschen allerdings erst dann einen psychologischen Konflikt empfinden, wenn ihnen die Gewalt in der Tierindustrie bewusst gemacht wird, spricht für die theoretischen Annahmen zum Karnismus. Neben der räumlichen und sprachlichen Distanzierung können verschiedene psychologische Prozesse beschrieben werden, um sich von der institutionalisierten Gewalt gegen Tiere moralisch zu distanzieren. Dabei kann das Leugnen von »menschlichen« und geistigen Eigenschaften wie subjektives Erleben und kognitive Fähigkeiten sowie die verzerrte Wahrnehmung von Tierfleisch als eine kognitive Distanzierungsstrategie beschrieben werden. Sowohl die erläuterten Distanzierungsstrategien als auch die Überzeugungen, welche dem Essen von Tieren zugrunde liegen, können dabei als psychologische Auswirkungen der institutionalisierten Gewalt gegen Tiere angesehen werden.

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Zusammenfassung Die institutionalisierte Gewalt gegen Tiere als eine soziale Fremdgruppe ist in einen Kontext von Diskriminierung und moralischer Entwertung eingebettet. Der Diskriminierung von Tieren liegen die gleichen psychologischen Prozesse zugrunde wie der Diskriminierung von Menschen. Die dargestellten psychologischen Arbeiten verdeutlichen, dass ebenso wie Anthropomorphismus auch Karnismus und Speziesismus als eine Form von sozialer Wahrnehmung angesehen werden, die mit der Objektifizierung und Diskriminierung von Tieren und einem geringeren moralischen Status zusammenhängen. Speziesismus bietet die generelle Rechtfertigung für den gebräuchlichen und gewalttätigen Umgang mit Tieren, der die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten von Tieren leugnet und somit das Gefangenhalten, Verletzen und Töten von Tieren ermöglicht. Als eine Unterform von Speziesismus liegt dem Karnismus institutionalisierte Gewalt gegen als essbar kategorisierte Tieren zugrunde. Karnismus enthält Rechtfertigungen für die Ausübung dieser speziellen Gewaltform gegen Tiere. Im Rahmen des speziesistischen Umgangs mit als essbar kategorisierten Tieren kann ein psychologisches Paradox grundlegend angenommen werden. Während die private Ausübung von Gewalt an einzelnen Tieren sozial geächtet ist, findet der Lustgewinn durch den Konsum von Tieren und die damit verbundene Gewalt gegen sogenannte Nutztiere eine breite gesellschaftliche Unterstützung. Obwohl es bei Menschen durch das Aufzeigen der damit verbundenen Gewalt zu einem psychologischen Konflikt kommen kann, wird nicht das Verhalten verändert, sondern es lassen sich verschiedene Strategien finden, um sich von der Gewalt gegen Tiere moralisch zu distanzieren. Dieser – speziell anhand des Fleischparadoxes beschriebene – psychologische Konflikt kann durch moralisches Disengagement umgangen bzw. aufgelöst werden. Dabei dienen sowohl kognitive Prozesse wie Objektifizierung und Dehumanisierung als auch emotionale Prozesse wie ein reduziertes Empathieempfinden der Auflösung des empfundenen Konflikts. Die empirisch gefundenen kognitiven und emotionalen Distanzierungsprozesse verdeutlichen, dass die Gewalt gegen Tiere das moralische Empfinden von Menschen verletzen kann, sodass diese versuchen, sich von der Gewalt moralisch zu distanzieren. Sowohl Speziesismus als auch Karnismus unterstützen diese Distanzierungsstrategien, da sie den gebräuchlichen Umgang mit Tieren rechtfertigen und z.B. die empfundene Empathie gegenüber dem Tier unterbinden. Die aufgezeigten Parallelen zwischen der Diskriminierung von Mensch und Tier verdeutlichen die Relevanz sowohl von Speziesismus als auch Karnismus für die psychologische Wissenschaft. Die Etablierung dieser beiden Konzepte in der Vorurteilsforschung und die Integration von Gewalt gegen Tiere

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als ein Teilbereich von menschlicher Gewalt kann dabei hilfreich sein, psychologische Mechanismen bei der Wahrnehmung von privater sowie institutionalisierter Gewalt zu erforschen.

AUSBLICK – P SYCHOLOGISCHE H UMAN -ANIMAL S TUDIES »Science can advance ethics by revealing the hidden inner workings of our moral judgments, especially the ones we make intuitively. Once those inner workings are revealed we may have less confidence in some of our judgments and the ethical theories that are (explicitly or implicitly) based on them.« GREENE 2014: 2

Aufgrund des Selbstverständnisses der psychologischen Forschung ist es grundsätzlich schwierig, moralische und normative Ansätze in der Psychologie zu etablieren (ebd.). Diese Problematik trifft auch auf die kritischen Human-Animal Studies zu, da sie sich mit moralisch relevanten Themen beschäftigt. Andererseits ist die Psychologie in vielen Punkten eine normative wie z.B. die klinische Psychologie, die normatives Verhalten festlegt und davon abweichende psychische Störungen beschreibt, oder die Sozial- und Rechtspsychologie, in der definiertes nonnormativen Verhalten untersucht wird. Festzuhalten bleibt jedoch, dass auch die Psychologie eine Wissenschaft ist, die das Erleben, die Wahrnehmung und Bewertung von normativen Themenkomplexen erforschen kann. Da die Psychologie den Menschen zum Forschungsgegenstand hat, hat sie generell eine anthropozentrische Ausrichtung, wobei auch speziesistische Sichtweisen auftreten können (Joy 2002). Nach unserer Einschätzung ist es jedoch möglich, einen Fokus auf den Menschen innerhalb der Mensch-Tier-Beziehung zu haben und gleichzeitig eine speziesistische Perspektive zu vermeiden und zu kritisieren. Mit Blick auf den jungen Forschungszweig der Human-Animal Studies ist es bemerkenswert, dass die Psychologie bisher kaum explizit als Disziplin in der Erforschung des Verhältnisses von Mensch und Tier eine Rolle gespielt hat. Innerhalb der Human-Animal Studies kann die Psychologie vor allem dazu beitragen, den menschlichen Anteil der Mensch-Tier-Beziehung zu beschreiben und zu erklären sowie die Beziehung des Menschen zum Tier zu verändern. Des Weiteren kann die psychologische Methodenvielfalt eine Bereicherung für die Human-Animal Studies sein: In der existierenden Literatur überwie-

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gen Korrelationsstudien, welche zwar eine Aussage über Zusammenhänge, jedoch nicht über deren Kausalität ermöglichen. Die Kausalität von Zusammenhängen kann durch Experimente beantwortet werden, die traditionell in der Psychologie verwendet werden. Somit können zugrunde liegende Ursachen und Bedingungen auf Seiten des Menschen im Umgang mit Tieren analysiert werden. Psychologische Human-Animal Studies finden einige Anknüpfungspunkte zur Sozial- und Moralpsychologie aufgrund deren Fokus auf Wahrnehmung, Bewertung, Diskriminierung sowie Vorurteilen gegenüber anderen Individuen und Gruppen. Psychologische Erforschung von Parallelen und Interdependenzen zwischen diskriminierenden Ideologien kann dabei unterstützen, grundlegende Marginalisierungsprozesse aufzuklären. Die Annahme, dass Diskriminierung, soziale Ausgrenzung und verschiedene Formen von Vorurteilen komplex miteinander verbunden sind, findet sich auch in der feministischen Psychologie und ihrer Erforschung von Intersektionalität11 wieder (Twine 2010; siehe auch den Beitrag von Karin Schachinger zu Gender Studies in diesem Band). Auch eine ökofeministische Perspektive kann hier miteinbezogen werden, da diese Systeme und Praktiken kritisch untersucht, die Menschen wie Tiere ausbeuten und mit Kapitalismus, Industrialisierung und Globalisierung eng zusammenhängen. Beispiele hierfür sind der moderne Fleischkonsum als Ausdruck des gegenwärtigen globalen Kapitalismus (Adams 2010) oder dass die Konvertierung zum Vegetarismus und Veganismus geschlechtsspezifisch ist (Potts 2010). Grundsätzlich sollten die im Rahmen der psychologischen Beziehung zwischen Mensch und Tier auftretenden Paradoxe systematischer untersucht werden. Ähnlich wie das Fleischparadox (Loughnan/Haslam/Bastian 2010) wurde von Joy (2010) ein Empathieparadox definiert, dem ebenso zugrunde liegt, dass Empathie gegenüber anderen Lebewesen dem Menschen inhärent ist. Das Empathieparadox beschreibt nun, dass Menschen karnistische Überzeugungen deshalb verinnerlicht haben, weil Gewalt gegen Tiere ihr empathisches Empfinden grundlegend verletzt. Joy nimmt an, dass sowohl Karnismus als auch Veganismus oder Vegetarismus dasselbe Motiv zugrunde liegt: das Empfinden von Empathie gegenüber Tieren (Joy 2010). Die genannten Paradoxe lassen sich nach unserer Einschätzung unter einem Gewaltparadox subsumieren, das die konträre Wahrnehmung und den paradoxen Umgang mit individueller und institutionalisierter Gewalt an Tieren beschreibt. Dabei wird angenommen, dass die Gewalt gegenüber Tieren im Widerspruch mit der Zuneigung zu Tieren, der empfundenen Empathie oder dem Mitgefühl steht. Die Forschungsergebnisse zum

11 Intersektionalität von Vorurteilen fokussiert auf die Schnittmenge von verschiedenen Diskriminierungsformen einer Person.

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Fleischparadox implizieren zwar den theoretisch angenommenen positiven Affekt gegenüber Tieren, allerdings wurde diese Annahme bislang nicht explizit untersucht. Zudem ist mit dem Modell eines generellen Gewaltparadoxes die Fragestellung verbunden, warum Menschen individuell ausgeführte Gewalt als solche wahrnehmen und als Tierquälerei bewerten, die Wahrnehmung und Bewertung von Gewalt im Kontext von institutionalisierter Gewaltausübung an Tieren jedoch überwiegend fehlt. Bisher hat die Forschung zu den beschriebenen Distanzierungsstrategien interessante Annahmen geliefert, die in zukünftigen Arbeiten weiterführend untersucht werden sollten. Darüber hinaus können in der Untersuchung der Bewertung von Tieren andere psychologische Faktoren wie genetische und emotionale Nähe, konkreter Inhalt von Vorurteilen und Stereotypisierungen sowie die in diesem Buchkapitel erläuterten psychologischen Prozesse wie Kategorisierung, Marginalisierung und Distanzierungsstrategien eingehender analysiert werden. Dabei können auch assoziierte moralisch- und handlungsrelevante Emotionen und differentielle Persönlichkeitseigenschaften in die Betrachtung einbezogen werden. Bisher ist die Frage unbeantwortet, welche Rolle diese psychologischen Variablen bei der Bewertung von Tieren spielen und ob diese eher die Ursache, eine Folge oder eine Begleiterscheinung darstellen. Bei der Untersuchung der moralischen Beurteilung von Tieren wäre es zudem von Interesse, sich auf Erkenntnisse der psychologischen Forschung zu Moral zu stützen. Wie bei anderen Formen der Informationsverarbeitung wird hier von einer Zwei-Prozess-Theorie ausgegangen (Greene et al. 2001). Moralische Urteile sind demnach zum einen von automatischen emotionalen Reaktionen und zum anderen von kontrollierten bewussten Schlussfolgerungen beeinflusst. Wie von Greene (2014) dargelegt, kann Wissenschaft, indem sie moralische Urteile hinterfragt, analysiert, offenlegt, zu einem ethischen Verständnis beitragen und moralische Urteile der bewussten Reflexion zugänglich machen. Auch im Rahmen der Diskriminierung von sozialen Gruppen und Individuen scheint es von besonderer Bedeutung, moralische Urteile zu hinterfragen, da angenommen werden kann, dass diese von überwiegend automatischen und damit unreflektierten Prozessen beeinflusst werden. Um die moralische Beurteilung von Tieren und die damit assoziierten Prozesse besser zu verstehen, wäre es daher wichtig, automatische und bewusste Prozesse getrennt voneinander zu beschreiben und ihre Verbindung untereinander zu untersuchen. Ein weiterer inhaltlicher Bereich, der bisher selten von der Psychologie untersucht wurde, sind die Parallelen zwischen traumatischem Stress und dem Bewältigungsverhalten von Menschen, die institutionalisierte Gewalt gegen Tiere ausüben (DeMello 2012). Stresssymptome können in diesem Zusammenhang sowohl beim Menschen in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung

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(Eisnitz 1997) als auch bei Schweinen in Form des Porcine-Stresssyndroms in der Tierindustrie beschrieben werden (Joy 2010). Zudem können auch bei Personen, die Gewalt gegen Tiere indirekt miterleben, Symptome einer sekundären posttraumatischen Belastungsstörung (Figley 1995) ausgelöst werden (Joy 2010). Dass sowohl direkte als auch indirekte Erfahrungen von Gewalt gegen Tiere zu traumatischen Stresssymptomen führen können, verdeutlicht einerseits die Bedeutung dieser Thematik. Andererseits kann im Zuge der psychologischen Gewaltforschung von Interesse sein, inwiefern die beschriebenen Abwertungsprozesse auch im Kontext von direktem gewalttätigem Verhalten gegenüber Tieren und anderen Individuen zum Tragen kommen. Bislang fehlen hierzu jedoch quantitative Arbeiten, daher sind die angenommenen Zusammenhänge von theoretischer Art und es bedarf empirischer Studien in diese Richtung. Zusammenfassend können psychologische Human-Animal Studies ein Bewusstsein dafür schaffen, dass (auch) Tiere als soziale Gruppe Opfer von Diskriminierungen und Ausbeutungen sind. So können Forschungserkenntnisse über die beschriebenen psychologischen Distanzierungsmechanismen im menschlichen Umgang mit Gewalt aufzeigen, dass Menschen diese einsetzen, weil ihnen Gewalt gegen andere Individuen grundsätzlich etwas ausmacht. Diese Aufklärungsarbeit ist im Besonderen wichtig, um ein öffentliches Bewusstsein für die Belange von Tieren zu schaffen. Des Weiteren kann psychologische Forschung zu Speziesismus und Karnismus auch innerhalb der akademischen Welt von Bedeutung sein. Die laienpsychologisch zugeschriebene Grenze zwischen Mensch und Tier wurde bisher überwiegend unreflektiert von der wissenschaftlichen Community übernommen, ohne die verzerrten Wahrnehmungen von Tieren zu thematisieren. Die zwar psychologisch relevante, jedoch wissenschaftlich nicht fundierte Grenze zwischen Mensch und Tier sollte unserer Meinung nach Gegenstand kritischer Forschung sein. Daher bedarf es auch einer Reflexion karnistischer und speziesistischer Überzeugungen, um eine kritischere Forschung z.B. im Bereich der Ernährung oder Nutztierhaltung anzustreben. Kritische Human-Animal Studies umfassen eine wissenschaftliche Analyse des (Herrschafts-)Verhältnisses von Mensch und Tier, die damit verbundene Ausbeutung und Diskriminierung von Tieren, die Dekonstruktion der sozialen Wahrnehmung des Tieres und die Bewusstseinsbildung für die Belange von Tieren. Kritische Human-Animal Studies können als eine Fortsetzung der wissenschaftlichen Behandlung von sozial relevanten Fragestellungen angesehen werden, in der auch psychologische Prozesse von Bedeutung waren und sind (wie die Erforschung des Rassismus und Sexismus in Gleichstellungsbewegungen). Die aufgezeigten Parallelen zwischen Speziesismus, Karnismus und anderen diskriminierenden Überzeugungen bieten dabei einige Anknüpfungspunkte und

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ermöglichen, bereits bestehende Erkenntnisse über psychologische Prozesse im Rahmen der Marginalisierung von sozialen Gruppen auf das Verhältnis von Mensch und Tier anzuwenden. Darüber hinaus kann die Untersuchung von grundlegenden psychologischen Prozessen, die bei der Wahrnehmung und Diskriminierung von Fremdgruppen – unter der speziellen Berücksichtigung von Tieren als eine soziale Gruppe – die wissenschaftliche Fundierung der HumanAnimal Studies unterstützen. Das Verständnis von psychologischen Prozessen und deren ethisch relevanten Auswirkungen kann dazu beitragen, moralische Urteile über Tiere kritisch zu betrachten sowie den Umgang des Menschen mit Tieren zu hinterfragen und damit Veränderungen im Mensch-Tier-Verhältnis anzustoßen.

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Rechtswissenschaft Vom Recht über Tiere zu den Legal Animal Studies M ARGOT M ICHEL /S ASKIA S TUCKI 1

Im Laufe des letzten Jahrzehnts haben Tiere in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen vermehrt Aufmerksamkeit erhalten und sind deshalb zunehmend Gegenstand unterschiedlicher Debatten. Der Fokus ist dabei je nach Disziplin ein anderer. Auch in der Rechtswissenschaft spielten und spielen Tiere traditionellerweise eine Rolle: Im klassischen Tierschutzrecht sind sie primär Schutzobjekte, in anderen Rechtsgebieten aber vor allem Gegenstand von Eigentumsrechten und Kaufverträgen, bisweilen gar Gegenstand von Sachmängelrechten, wenn beispielsweise ein gekaufter Rassehund eine erbliche Gesundheitsstörung aufweist und die/der Käufer_in wegen dieses »Mangels« gegen den/die Verkäufer_in vorgehen will. Tiere sind »etwas«, über das Rechtssubjekte – die Menschen – verfügen. Stellenweise scheint aber auch in der gegenwärtigen Rechtskonzeption die Erkenntnis auf, dass Tiere mehr sind als das; dass sie Lebewesen mit eigenen Interessen, Empfindungen und einem eigenen Zweck sind: Sie sind »jemand«, und aus dieser Subjekthaftigkeit fließen Ansprüche, die auch von Menschen zu berücksichtigen sind. Wie geht das Recht mit diesen Ansprüchen um? Wie und in welcher Form lassen sie sich ins Recht übersetzen und welche Besonderheiten sind dabei zu beachten? Und an welche Grenzen stößt die gegenwärtige Konzeption von Tieren im Recht? Viele Impulse für eine neue und den gewandelten gesellschaftlichen Anschauungen Rechnung tragende Analyse, Kritik und Neuordnung des rechtlichen Mensch-Tier-Verhältnisses bezieht die Rechtswissenschaft aus der Philosophie,

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Die Autorinnen danken Dr. phil. und lic. iur. Birgit Christensen für die kritische Durchsicht des Textes und wertvolle Hinweise.

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vor allem aus dem Bereich der Tierethik. In jüngster Zeit werden aber auch erste Einflüsse aus anderen Geistes- und Sozialwissenschaften erkennbar, welche die Frage nach »dem Tier« stellen und sich umfassend mit dem Mensch-TierVerhältnis auseinandersetzen. Was unter dem Oberbegriff der Human-Animal Studies zusammengefasst werden kann, ist eine noch junge, aber intensiv transund teilweise interdisziplinär geführte und bereits äußerst verästelte Debatte zu den Mensch-Tier-Verhältnissen, die sich durch einen gemeinsamen methodischtheoretischen Zugang auszeichnet: Tiere werden qualitativ anders wahrgenommen und konzeptualisiert, als dies traditionell getan wurde (vgl. Ritvo 2007: 119). Die spezifischen Impulse der Human-Animal Studies auf gegenwärtige rechtliche Diskurse und ihre Perspektiven für die Rechtswissenschaft wurden erst vereinzelt und vor allem in der englischsprachigen Literatur thematisiert (Deckha 2012: 208-235). In der deutschsprachigen Literatur ist eine Strukturierung der Forschungsansätze bislang ebenso ausstehend wie eine Begriffsbildung. In Anlehnung an die Legal Gender Studies, mit denen das hier vorgestellte Forschungsfeld unseres Erachtens viele Berührungspunkte aufweist und an denen wir uns zur Strukturierung der Diskussionsachsen orientiert haben, führen wir für den spezifisch rechtsbezogenen Diskurs den Begriff der Legal Animal Studies ein, den wir im Folgenden verwenden. Viele Autor_innen der Human-Animal Studies greifen in Anlehnung an die englischsprachigen Forschungsarbeiten zur Thematik die Terminologie der »menschlichen« und der »nichtmenschlichen Tiere« auf, um damit die bestehende starre Dichotomie zwischen Menschen und anderen Tieren sichtbar zu machen, zu kritisieren und aufzubrechen (Chimaira 2011: 32 f.). Ebenso wie es die Terminologie »nichtmännlich« für »weiblich« wäre, scheint uns diese Begrifflichkeit problematisch, denn sie transportiert einen anthropozentrischen Referenzrahmen: Mit der Bezugnahme auf »menschlich« als Norm und der Definition des Anderen als das »Nichtmenschliche« wird letztlich zementiert, was gerade aufgelöst werden soll. Die Wahrnehmung von Tieren in ihrer Individualität, Eigen- und Andersartigkeit erfordert unseres Erachtens, dass sie auch begrifflich von einem menschlichen Bezugspunkt getrennt werden, um ihnen damit im wahrsten Sinne des Wortes ge-recht werden zu können. Aus diesem Grund verwenden wir dennoch das Begriffspaar Menschen und Tiere – freilich im Bewusstsein, dass Tiere keineswegs eine homogene Gruppe von Lebewesen bilden, sondern eine höchst heterogene Gruppe von Individuen, die unterschiedlichen Spezies angehören.

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B EGRIFF UND G EGENSTAND DER L EGAL ANIMAL S TUDIES Für eine erste Begriffsbestimmung bietet es sich an, die rechtlichen HumanAnimal Studies – die Legal Animal Studies – zunächst von den allgemeinen Human-Animal Studies her zu erschließen. Dieses trans- und interdisziplinäre Forschungsfeld widmet sich der übergreifenden Analyse des Mensch-TierVerhältnisses, d.h. der Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen Menschen und Tieren sowie der kulturell, sozial und ökonomisch determinierten Stellung und Bedeutung, die Tiere in von Menschen gestalteten Gesellschaften einnehmen (vgl. DeMello 2012: 4 ff.; Chimaira 2011: 20 f.). Obwohl sich die HumanAnimal Studies aufgrund ihrer Trans- und Interdisziplinarität und großen Bandbreite bereits vielseitig ausdifferenziert haben, können einige wesentliche Charakteristika identifiziert werden, welche den gesamten Forschungsbereich durchziehen. Zunächst beschäftigen sich die Human-Animal Studies nicht mit dem Tier per se2 (DeMello 2012: 5), sondern untersuchen vielmehr das (historisch kontingente und wandelbare) Verhältnis zwischen Menschen und Tieren. Qualitativ neuartig und konstitutiv für die Human-Animal Studies ist das zugrunde liegende Tierbild: Tiere sind nicht länger bloße Objekte (vermeintlich) wertfreier Erforschung, bloße Instrumente, Modelle oder Metaphern einer anthropozentrischen Wissenschaft (»physische oder theoretisch-analytische Vivisektion«, Nocella II et al. 2014b: xxiv), sondern treten in einem nichtinstrumentellen Sinne als erlebnisfähige Subjekte mit eigenen Wünschen, Bedürfnissen und eigener Perspektive in der Forschung auf (vgl. Flynn 2008b: xvi f.; DeMello 2012: 5 f.). Ein weiteres Kennzeichen, das in der Forschungsrichtung der »kritischen Human-Animal Studies« (Critical Animal Studies)3 eine besondere Ausprägung erfahren hat, ist die Verabschiedung von der Illusion einer wertfreien, rein deskriptiven Wissenschaft und die Positionierung als ein dezidiert auch normativ und kritisch tätiges Forschungsfeld (vgl. Chimaira 2011: 29; Shapiro 2008: 4). Dieser

2

Anzumerken ist hier allerdings, dass die Wissenschaften, welche sich mit Tieren als solchen und der Frage, wie Tiere sind, befassen (z.B. Biologie, kognitive Ethologie, Tierphilosophie etc.), unerlässliches Grundlagenwissen generieren, auf das die Human-Animal Studies zurückgreifen.

3

Die Critical Animal Studies bilden einen abgrenzbaren Teilbereich der HumanAnimal Studies. Kennzeichnend für diesen Forschungszweig ist der Fokus auf das Mensch-Tier-Verhältnis als ein Gewalt- und Herrschaftsverhältnis und das explizit formulierte Ziel, dieses zu überwinden. Zu den Critical Animal Studies und ihrem Verhältnis zu den Human-Animal Studies grundlegend Deckha 2012; Best 2009; Nocella II et al. 2014a, passim.

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kritisch-normative Standpunkt kulminiert in den Critical Animal Studies in der eindeutigen und konstitutiven Ablehnung der etablierten Praxis der auf vielfältigen Formen der Gewalt beruhenden Tiernutzung (vgl. Chimaira 2011: 27; Deckha 2012: 213), wobei die Begrifflichkeiten der »Gewalt« und »Herrschaft« bewusst gewählt werden und in der Theoriebildung eine wesentliche Rolle spielen (vgl. Fischer 2001: 172-175). Eine Konkretisierung der breit angelegten Human-Animal Studies für die Rechtswissenschaft ergibt hiernach folgende, soweit ersichtlich erstmalige Begriffsbestimmung der Legal Animal Studies:

Unter dem Oberbegriff der Legal Animal Studies firmieren unterschiedliche Zugänge zur theoretischen Auseinandersetzung mit dem rechtlichen MenschTier-Verhältnis. Dieses junge Forschungsgebiet mit starken trans- und interdisziplinären Bezügen untersucht das Verhältnis »Tier und Recht« und befasst sich mit allen Aspekten des gesellschaftlichen und des damit in Wechselbeziehung stehenden rechtlichen Umgangs mit Tieren. Kennzeichnend sind dabei insbesondere das analytische Nachdenken darüber, wie das Recht die Subjekthaftigkeit von Tieren unsichtbar macht bzw. aufnimmt oder angemessen aufnehmen könnte und sollte, an der Konstruktion bzw. Dekonstruktion der Mensch-Tier-Binarität mitwirkt und welche Prämissen der rechtlichen Konzeptualisierung von Tieren konstitutiv zugrunde liegen. In der kritisch-politischen Ausprägung des Ansatzes geht es sodann um mögliche rechtspolitische Impulse für eine grundlegende Neudefinition des rechtlichen Mensch-Tier-Verhältnisses und nachhaltige Verbesserung des Tieren zukommenden (Rechts-)Schutzes.

Die Legal Animal Studies beschäftigen sich somit mit dem rechtlich normierten und konstruierten Mensch-Tier-Verhältnis, d.h. mit dem gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnis, wie es im Recht rezipiert und (re-)produziert wird. Der Forschungsgegenstand umfasst zum einen im Sinne einer Rechtskritik die Untersuchung von vergangenem und geltendem Recht im Hinblick auf dessen Bedeutsamkeit für die rechtliche Gestaltung des Mensch-Tier-Verhältnisses und zum anderen die Entwicklung von Perspektiven für die Ausgestaltung zukünftigen Rechts unter normativen Gesichtspunkten. Methodologisch übernehmen die Legal Animal Studies für die (normativ-kritische) Analyse des rechtlichen MenschTier-Verhältnisses vermehrt auch Konzepte der Sozial- und Geisteswissenschaften und wenden sie auf die Tierfrage im Recht an (vgl. Deckha 2012: 224). Insbesondere die bereits in den Legal Gender Studies erkannte Rolle des Rechts als

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Machtfaktor und Herrschaftsinstrument (Baer 2008: 547) spielt bei diesem Zugang eine wichtige Rolle wie auch die Frage, nach welchen Kriterien Recht Inklusion und Exklusion aus der Rechtsgemeinschaft, d.h. aus dem Kreis der Rechtsträger_innen, determiniert. Dies beinhaltet u.a. eine ganz grundlegende Analyse von zentralen Begriffen der Rechtswissenschaft wie etwa von Rechten überhaupt, von Person und Würde sowie der ihnen zugrunde liegenden theoretischen und methodischen Annahmen.

E INBLICK IN DAS F ORSCHUNGSFELD L EGAL ANIMAL S TUDIES

DER

Die Legal Animal Studies thematisieren und erschließen Fragen und Problemfelder, die in der traditionellen Rechtswissenschaft bisher kaum auftauchten. Im Folgenden sollen einige dieser zentralen Themenkomplexe beleuchtet werden, ohne allerdings den Anspruch zu erheben, das Forschungsfeld der Legal Animal Studies in seiner Gesamtheit darzustellen, zumal es sich auch um ein sich erst entwickelndes Forschungsgebiet handelt. Die Stellung von Tieren im Recht in Vergangenheit… Wenn wir der Frage nachgehen, wie Tiere in der Vergangenheit im Recht und in der Rechtswissenschaft aufgetreten sind bzw. aus dem Recht geschwiegen wurden, finden wir zwei Hauptlinien: Zum einen die traditionelle, an die römischrechtliche Tradition anknüpfende Trennung zwischen Sachen und Personen (res und personae) und die Konzeptualisierung von Tieren als Eigentum in ihrem Gefolge, welche deren Rechtsstellung bis heute nachhaltig beeinflusst und nur schwer aufzubrechen ist, zumal der Rechtsdiskurs strukturell konservativ ist. Anzumerken ist jedoch, dass die »Anerkennung« von Tieren als Sachen und damit als Rechtsobjekte trotz ihrer problematischen Auswirkungen zunächst als Prozess der Inklusion von Tieren ins Recht zu verstehen ist: Hatten sie bis dahin nämlich gänzlich außerhalb der Rechtsordnung gestanden, erlangten sie mit den Ädilischen Edikten (367 v. Chr.) immerhin den gleichen, freilich fragwürdigen Status wie menschliche Sklav_innen (Erbel 1986: 1240). Zum anderen lassen sich Ansätze einer partiellen Subjektivierung von Tieren im (Straf-)Recht des deutschsprachigen Raumes vor der Rezeption des römischen Rechts im Mittelalter aufzeigen (Fischer 2007: 142-155), die aber im Zuge eines cartesianischen Naturverständnisses und einer stark auf dem kantischen Rechtsverständnis auf-

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bauenden Konzeption von Recht und Rechten vollständig aus dem Recht verschwanden. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurden Tiere langsam wieder ins Recht inkludiert, sowohl in England als auch in den deutschsprachigen Gebieten (Deutschland, Österreich, Schweiz). Dabei wandelten sich die Begründungsmuster für den Schutz der Tiere von ausschließlich anthropozentrischen zu mehr und mehr auf die Tiere selbst fokussierten. Wurden Tierquälereien zumindest im deutschsprachigen Raum anfangs primär als Sittlichkeitsdelikte wahrgenommen, welche zur Verrohung des Täters oder der Täterin bzw. zur Erregung öffentlichen Ärgernisses führen können und deshalb pönalisiert wurden (Fischer 2001: 180), rückten – zunächst in England – Tiere selbst ins Zentrum der Argumentation, was nach längeren ergebnislosen Bemühungen schließlich zum Erlass des ersten modernen Tierschutzgesetzes im Jahr 1822, dem sogenannten Martin’s Act führte (Radford 2001: 38 ff.). Kriterium für den Einschluss ins Recht und zum zentralen Begründungskonzept für die Notwendigkeit tierschutzrechtlicher Regelungen wurde schließlich auch im deutschsprachigen Raum, beeinflusst von der englischen Rechtsentwicklung und von utilitaristischem Gedankengut, die Leidensfähigkeit von Tieren. … und Gegenwart Der gegenwärtige Rechtsstatus von Tieren ist im deutschsprachigen Rechtsraum weitgehend vergleichbar und wird deshalb im Folgenden zusammenfassend dargestellt. Die Rechtsstellung von Tieren ist zum einen gekennzeichnet durch deren Objektstatus. Tiere sind nach geltendem Recht nicht Rechtssubjekte, d.h. Träger von Rechten, sondern Rechtsobjekte, d.h. Gegenstand von Rechten. Mit der Stellung als Rechtsobjekt verbunden ist insbesondere auch der Eigentumsstatus. Als Eigentum unterstehen Tiere grundsätzlich der Verfügungsmacht der Eigentümerin/des Eigentümers, soweit diese durch Rechtsnormen nicht eingeschränkt wird. Tiere können demnach im Rahmen der Eigentumsausübung erworben, verkauft, verschenkt, ersessen und »vernichtet«, d.h. getötet, werden.4 Einige für die Tierhalter_innen deutlich wahrnehmbare Einschränkungen der Eigentümerstellung finden sich allerdings im Tierschutzrecht – in einem liberalen Rechtssystem keine Selbstverständlichkeit.

4

Für eine grundlegende theoretische Kritik am rechtlichen Eigentumsstatus der Tiere aus US-amerikanischer Sicht siehe Francione 2007a.

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Konstitutiv für die Rechtsstellung von Tieren im deutschsprachigen Rechtsraum ist zum anderen die Aufhebung des Sachstatus durch die explizite Abgrenzung von den Sachen. So statuieren die jeweiligen Zivilrechtskodifikationen unisono:

»Tiere sind keine Sachen.« § 90a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB, D), § 285a Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB, Ö), Art. 641a Zivilgesetzbuch (ZGB, CH).

Diese »Entsachlichung« der Tiere wirkt zwar aus rechtsdogmatischer Sicht in erster Linie deklaratorisch, da dieselben Gesetzesbestimmungen zugleich eine weitgehend analoge Anwendbarkeit des Sachenrechts auf Tiere vorsehen,5 sodass Tiere rechtlich nunmehr statt als Sachen wie Sachen betrachtet werden (vgl. Stucki 2012: 146). Rechtsstrukturell bilden Tiere aufgrund dieser sachenrechtlichen Sonderstellung dennoch eine eigene zivilrechtliche Kategorie: Sie sind Rechtsobjekte sui generis (vgl. Gruber 2006: 22 f.). Als fühlende Lebewesen werden Tiere weitergehend und anders geschützt als leblose Sachen, was nun seinen unmissverständlichen Ausdruck in einer verbesserten Rechtsstellung findet, welche auf die gesamte Rechtsordnung ausstrahlt. Am deutlichsten manifestiert sich die rechtliche (An-)Erkenntnis, dass Tiere keine Sachen, sondern empfindende Lebewesen sind, in den speziellen Tierschutzgesetzgebungen, welche Tiere um ihrer selbst willen und nicht – wie etwa im Falle von denkmalgeschützten Bauten – aus instrumentellen Gründen schützen (sogenannter »ethischer Tierschutz«6). Modernes Tierschutzrecht ist nicht mehr ausschließlich pathozentrisch konzipiert, sondern beruht auf der grundsätzlichen Anerkennung eines tierlichen Eigenwerts7 und dient dem Schutz tierlicher

5

Sowohl § 90a BGB, § 285a ABGB als auch Art. 641a ZGB schränken den Grundsatz, dass Tiere keine Sachen sind, sogleich wieder erheblich ein. So ergänzt Art. 641a Abs. 2 ZGB: »Soweit für Tiere keine besonderen Regelungen bestehen, gelten für sie die auf Sachen anwendbaren Vorschriften.« § 90a BGB und § 285a ABGB normieren sinngemäß gleiche Vorbehalte.

6

Siehe zum ethischen Tierschutz statt vieler Teutsch 1987: 59 f.

7

In der schweizerischen Tierschutzgesetzgebung ausdrücklich als »Würde der Kreatur« (Art. 120 Abs. 2 Bundesverfassung) bzw. »Würde des Tieres« (Art. 1 Tierschutzgesetz) verankert; in Deutschland wird der Eigenwert des Tieres aus dem Terminus der »Mitgeschöpflichkeit« (§ 1 Tierschutzgesetz) abgeleitet; ebenso in Österreich, wo § 1 des Tierschutzgesetzes bestimmt: »Ziel dieses Bundesgesetzes ist der Schutz des Le-

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Eigeninteressen, wobei in der Regel auf die Schutzgüter der Würde, des Lebens, des Wohlergehens und der Unversehrtheit des Tieres verwiesen wird (vgl. Teutsch 1987: 209). Ambivalenzen des rechtlichen Mensch-Tier-Verhältnisses Den zentralen Untersuchungsgegenstand der Legal Animal Studies mit Bezug zum geltenden Recht bilden ferner die zahlreichen Inkonsistenzen, welche den gesamten rechtlichen Umgang mit Tieren durchziehen und – in Spiegelung der gesellschaftlichen Zustände – das Bild eines hochgradig ambivalenten verrechtlichten Mensch-Tier-Verhältnisses zeichnen. Im Folgenden soll diese Ambivalenz anhand einiger symptomatischer Widersprüchlichkeiten veranschaulicht werden. Ungleichbehandlung gleicher oder vergleichbarer Tiere oder Tierarten: Das Recht baut nicht nur ganz grundlegend auf einer fundamentalen Differenz zwischen Menschen und anderen Tieren auf (»external inconsistency«, O’Sullivan 2011: 10-24), sondern normiert auch Grenzziehungen zwischen verschiedenen Tieren (»internal inconsistency«, ebd.: 31 ff.). Die Andersbehandlung von Tieren ist dabei Resultat der rechtlichen Zuordnung von Tierindividuen zu verschiedenen Kategorien (Heimtiere, Nutztiere, Versuchstiere, Wildtiere etc.), welche vom Recht nach menschlichen Gesichtspunkten konstruiert werden. Die entscheidende Trennlinie verläuft zwischen den rechtlich und faktisch privilegierten Heimtieren, die aus Interesse am Tier oder als Gefährten im Haushalt gehalten werden, und den entindividualisierten Nutztieren, die aus ökonomischen oder wissenschaftlichen Interessen genutzt werden. Hinsichtlich ihrer Haltung und Tötung bestehen erheblich abweichende Schutzniveaus, d.h. der einem individuellen Tier gewährte Schutz kann, je nachdem, ob es als Heim- oder Nutztier kategorisiert wird, beträchtlich variieren (Maier 2012: 128). Das Schutzniveau bestimmt sich also nicht vom Tier und seinen Bedürfnissen, sondern von seinem »Verwendungszweck« her und ist dadurch ausgesprochen kontextabhängig (vgl. Michel 2012b: 620). So kann das (hypothetisch) gleiche Kaninchen als Heimtier, Versuchstier, fleischlieferndes Nutztier oder wildlebender Schädling stark divergierende rechtlich determinierte Lebensrealitäten und Schutzansprüche haben, die nicht mit seinen (kontextbeständigen) grundlegenden Bedürfnissen zusammenhängen, sondern auf seine Funktionalität und Bedeutung für den menschlich

bens und des Wohlbefindens der Tiere aus der besonderen Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf.«

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gesetzten Zweck zurückzuführen sind (siehe zu dieser Kontextabhängigkeit des Status und Schutzes individueller Tiere statt vieler Schaffner 2013: 1 ff.). In der Regel werden Grenzen zwischen Tieren also nicht pauschal entlang gewisser Speziesgrenzen gezogen, sondern vom jeweiligen Kontext und menschlicher Zweckbestimmung variabel definiert. Nur selten ist eine Andersbehandlung von Tieren direkt und ohne weiteres an die Spezieszugehörigkeit geknüpft. Exemplarisch für die Privilegierung spezifischer Tierarten schlechthin sind z.B. Sonderbestimmungen zum Schutz von Hunden und Katzen, wie etwa § 6 Abs. 2 des österreichischen Tierschutzgesetzes, der speziell die Tötung von Hunden und Katzen zur Gewinnung von Nahrung oder anderen Produkten verbietet. Ähnlich liegt Art. 14 Abs. 2 des schweizerischen Tierschutzgesetzes die Wertung zugrunde, dass Hunde und Katzen nicht als Pelze oder Felle verwendet werden dürfen, wohl aber vergleichbare Tiere wie Füchse oder Nerze. Der Grund für derartige Spezialbestimmungen insbesondere für Hunde und Katzen ist einzig in der im westlichen Kulturkreis vorherrschenden emotionalen Bindung des Menschen zu diesen Tierarten zu suchen (Binder 2010: 31).8 Ungleichbehandlung gleicher oder vergleichbarer schmerzhafter und schädigender Handlungen und Praktiken: Auch hinsichtlich der rechtlichen Beurteilung und Sanktionierung von Gewaltakten gegen Tiere sind ausgeprägte Inkonsistenzen festzustellen. Institutionalisierte (kollektive, normale) Gewalt an Tieren,9 die im Rahmen der etablierten Praktiken der Tiernutzung stattfindet, wird aufgrund ihrer »Sozialadäquanz« oder »ökonomischen Notwendigkeit« nicht als strafrechtlich relevante Tierquälerei erfasst, sondern rechtlich reguliert, damit legitimiert und als Normalität zementiert (vgl. Maier 2012: 126 f.; Francione 2007a: 142 ff.). Kriminalisiert wird vornehmlich individuelle (deviante, anomale) Gewalt an Tieren, welche von der als normal definierten gesellschaftlichen Praxis abweicht und sodann als »unnötige« Zufügung von Schmerzen oder Leiden als verwerflich beurteilt wird.10 Damit ist die pönalisierte Tierquälerei in ers-

8

Siehe zur kulturspezifischen Andersbehandlung von verschiedenen Tierarten wie Hunden, Kühen und Katzen grundlegend Joy 2010.

9

Zur institutionalisierten Gewalt an Tieren grundlegend Buschka/Gutjahr/Sebastian 2013.

10 Bei der widersprüchlichen Pönalisierung von Gewalthandlungen und -praktiken ist im Übrigen auch eine (insgesamt freilich minder bedeutsame) »kulturimperialistische« Dimension auszumachen. So wird fremdkulturspezifische Gewalt an Tieren als eine weitere Form der von der gesellschaftlich normalen Praxis abweichenden Gewalt rechtlich eher als Tierquälerei erkannt als die eigenkulturspezifische Gewalt. Siehe dazu Kymlicka/Donaldson 2014: 120 ff. und DeMello 2012: 240 ff.

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ter Linie als sittliches Versagen und privates Fehlverhalten des Individuums zu werten (z.B. aufgrund von Sadismus oder Rohheit) und somit in besonderer Weise täter- und nicht tatbezogen (Teutsch 1987: 203; Maier 2012: 126 f.). Die große Zahl der Schmerzen und Leiden verursachenden Handlungen wird allerdings in der industriellen Tiernutzung, ohne sadistische oder sonstige persönliche Motive und manchmal sogar ohne unmittelbare menschliche Täterschaft, sondern etwa durch Maschinen vermittelt, begangen – diese zweckrationale und oftmals strukturelle Gewalt an Tieren stellt im Recht weitgehend einen blinden Fleck dar (Maier 2008: 170 f.; Teutsch 1987: 203 f.). Objektiv vergleichbare, Schmerzen, Leiden und Angst verursachende Handlungen – beispielsweise die »Homogenisierung« (d.h. die Zerstückelung) von lebenden männlichen Küken aufgrund ihrer wirtschaftlichen Nutzlosigkeit als institutionalisierte landwirtschaftliche Praxis und das Zerquetschen von Kleintieren mit High Heels aus sexuellen Motiven (crush videos) – unterliegen damit einer markant differenten rechtlichen Beurteilung (vgl. Sullivan 2013: 216).11 Dies bedeutet, dass die strafrechtlich relevante Tierquälerei wiederum nicht vom Tier her (d.h. durch die Verursachung von Schmerzen, Leiden, Schäden oder Angst für das betroffene Tier) und der Tat selber bestimmt wird, sondern sich maßgeblich aufgrund äußerer Umstände – und hier besonders gesellschaftlicher Wertungen – konstituiert, wobei die Straflosigkeit sozialadäquaten Verhaltens durch die Schlüsselfigur der »Rechtfertigung« (»Notwendigkeit«, »vernünftiger Grund«)12 rechtstechnisch operationalisiert wird (vgl. Michel 2012b: 620). Dissonanz zwischen Tierschutzrechtsethik und -praxis: Auffallend ist weiter die Diskrepanz oder »moralische Schizophrenie« (Francione 2007b: 1 ff.) zwischen der rechtlichen Konzeption des Tieres als empfindungsfähiges Mitgeschöpf mit Eigenwert und schutzwürdigen Interessen sowie den dem Tierschutzrecht zugrunde liegenden Werten einerseits und der faktischen und rechtlich normierten Behandlung von Tieren andererseits (Stucki 2012: 147). Die ambitionierten ethischen Ansprüche des Tierschutzrechts, die in Begriffen wie »Würde des Tieres«, »ethischer Tierschutz« oder »Mitgeschöpflichkeit« zum Ausdruck kommen sollen, stehen in augenscheinlichem Kontrast zur (rechtlich gebilligten) Praxis der industriellen Tiernutzung, in der Tiere systematisch verdinglicht wer-

11 »The difference in treatment is not attributable to any differences in the quality of treatment« (Francione 2007a: 26). 12 So wird typischerweise nur die »ungerechtfertigte« Zufügung von Schmerzen, Leiden oder Schäden gesetzlich verboten und sanktioniert (siehe z.B. § 5 Abs. 1 des österreichischen Tierschutzgesetzes oder Art. 4 Abs. 2 des schweizerischen Tierschutzgesetzes).

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den und der jegliche Achtung vor dem tierlichen Eigenwert und Tierinteressen abgeht (Harbou 2012: 587; Maier 2012: 127). Tiere sind zwar formal keine Sachen mehr, tatsächlich aber insbesondere als »Nutztiere« einer zunehmenden und sich verschärfenden realen und legalen Objektifizierung preisgegeben. Die prima facie als Widerspruch anmutende weit reichende Verdinglichung von Tieren in der Tiernutzungspraxis findet also nicht im rechtsfreien Raum, sondern in Einklang mit rechtlicher Regulierung statt (vgl. Buschka/Gutjahr/Sebastian 2013: 77), weshalb kontemporäres Tierschutzrecht zuweilen auch als »Tiernutzrecht« bezeichnet und kritisiert wird (vgl. Stucki 2012: 149; Caspar 1999: 177). Unter diesem Aspekt fungiert das Recht als wirkmächtige normative Struktur zur Institutionalisierung und Konsolidierung der normalisierten Gewalt gegen Tiere im Rahmen ihrer »ordentlichen« Nutzung (vgl. Beirne 1999: 129), wobei die zentrale Leistung des Tierschutzrechts gemäß der ernüchternden Analyse Fischers darin besteht, Schädigungen der Tiere »in einem eigenständigen Gesetz abzuhandeln, ihre Ausführung zu regeln und mit dem Verweis auf nicht näher bestimmte vernünftige Gründe zu legitimieren« (Fischer 2001: 181). Tierschutzrecht kann somit als Spannungsfeld zwischen tierlichen Schutzund menschlichen Nutzungsinteressen charakterisiert werden, die es über das Scharnier der Güterabwägung zu balancieren gilt. Freilich ist die Interessenabwägung strukturell anthropozentrisch prädisponiert, sodass existentielle Tierinteressen regelmäßig selbst hinter triviale menschliche Interessen zurückstehen müssen (Michel 2012b: 620). Die rechtliche Konstruktion von Tieren Die rechtliche Konstruktion von Tieren verläuft auf zwei Ebenen. Zum einen werden Tiere fundamental und kategoriell vom Menschen unterschieden und zum anderen werden normative Grenzen zwischen verschiedenen Tieren konstruiert (Fox 2004: 473; zu Letzterem siehe bereits vorne, Kapitel »Ambivalenzen des rechtlichen Mensch-Tier-Verhältnisses« S. 244). Tiere als »die Anderen«: Das Recht zieht eine strikte Grenze zwischen Menschen und Tieren. Diese Dichotomie steht im Gefolge einer stark anthropozentrisch geprägten westlichen Philosophietradition und ist für die auf einer kantischen Rechtsphilosophie basierenden deutschsprachigen Rechtssysteme geradezu grundlegend. Kriterium für das Innehaben von Rechten soll nach dieser Tradition die »Vernunftfähigkeit« der Menschheit sein. Der Rekurs auf die Vernunft- bzw. Moralfähigkeit oder auf andere Eigenschaften – vielfach angeführt wird etwa auch die Fähigkeit zur Selbstachtung – wird verschiedentlich herangezogen, um die Schwäche dieses Konzepts zu verdeutlichen. Sobald nämlich be-

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stimmte, als ausschließlich menschlich gedachte Eigenschaften zur Begründung der Rechtssubjektivität herangezogen werden und dabei angesichts des mittlerweile immerhin theoretisch zunehmend verpönten Speziesismus nicht auf Gattungseigenschaften rekurriert werden darf, entsteht immer das Problem, dass es Menschen gibt, die über diese Eigenschaften nicht verfügen, während es fraglich ist, ob nicht wenigstens bestimmte Tiere sie aufweisen. In einem Rechtssystem, das grundlegend auf der Idee der Menschenwürde basiert, ist es aber schlechterdings undenkbar, einzelnen Menschen den Personenstatus und die damit verbundenen Rechte abzusprechen. Die Suche nach trennenden Merkmalen bzw. Eigenschaften zur Begründung der privilegierten Stellung des Menschen führt demnach in einem rechtlichen Kontext ins Leere und muss insofern auch als nicht abschließbar betrachtet werden, als diese für den Status als Rechtssubjekt eben gerade nicht konstitutiv sind: Menschen sind nämlich als Menschen, d.h. ohne weitere Voraussetzungen oder Bedingungen (statt aller Hausheer/Aebi-Müller 2012: 5) Subjekte des Rechts, damit auch Träger_innen von Rechten und Pflichten. Tiere dagegen sind Objekte des Rechts und haben als solche keine Rechte und Pflichten inne. So bestimmt etwa Art. 11 des schweizerischen ZGB:

Art. 11 Schweizerisches ZGB »1 Rechtsfähig ist jedermann. 2 Für alle Menschen besteht demgemäß in den Schranken der Rechtsordnung die gleiche Fähigkeit, Rechte und Pflichten zu haben.«

Die Kategorie »Mensch« im Recht bestimmt sich vordergründig einfach: Als Mensch gilt, wer von einem Menschen abstammt (Büchler/Christensen 2013: Rz 23). Aufgrund der engen Verwandtschaft des Menschen mit anderen Tieren einerseits und der Zunahme der biomedizinischen Möglichkeiten sowie der damit einhergehenden Grenzverschiebungen andererseits ist aber diese vermeintlich natürliche, eindeutige und unüberwindbare Grenze zunehmend brüchig geworden. Mittels rechtlicher Regelungen wird deshalb versucht, die dichotome und für das westliche Recht so konstitutive Trennung zwischen Menschen und Tieren aufrechtzuerhalten. So finden wir beispielsweise in der schweizerischen Bundesverfassung folgende Vorschrift, welche den Umgang mit den modernen Verfahren der Fortpflanzungsmedizin betrifft:

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Art. 119 Abs. 2 lit. b Schweizerische Bundesverfassung »b. Nichtmenschliches Keim- und Erbgut darf nicht in menschliches Keimgut eingebracht oder mit ihm verschmolzen werden.«

Das damit ausgesprochene Verbot von Interspeziesmanipulationen bezweckt, »die Integrität des menschlichen Keimguts als Grundlage des menschlichen Lebens unangetastet zu lassen« (Reusser/Schweizer 2008: 1843). Denn, so die unmissverständliche Begründung: »Die Vermischung von Mensch und Tier kann nicht nur die Würde der Menschheit, sondern auch die Menschenwürde und Persönlichkeit des individuellen, einmaligen Menschen verletzen« (ebd.: 1843). Über diese Grenze zwischen Mensch und Tier wird auch dann noch sorgsam gewacht, wenn sich die Nähe zwischen beiden zum Vorteil des Menschen auswirken soll. So wird etwa die Xenotransplantation nicht verboten, sondern als ein möglicher Ausweg aus dem konstatierten »Organmangel« rechtlich reglementiert, obwohl sie bewirkt bzw. sogar bezweckt, dass lebende tierliche Zellen, Gewebe oder Organe in den menschlichen Körper eingebracht werden. Die Transplantation von Organen oder Zellen der nächsten tierlichen Verwandten des Menschen sind aber verboten:

Art. 18 Schweizerische Xenotransplantationsverordnung, Umgang mit Spendertieren »1 Primaten dürfen nicht als Spendertiere verwendet werden. Ausnahmen sind zulässig für die Xenotransplantation von Primatenzellen, wenn sie aus Zelllinien stammen. Für Menschenaffen gilt diese Ausnahme nicht.«

Die Vorschrift wird mit der engen Verwandtschaft des Menschen mit nichtmenschlichen Primaten begründet, die das Risiko für die Übertragung von Krankheitserregern durch die Xenotransplantation stark erhöht.13 Die Herstellung bzw. Fortschreibung einer strikten Dichotomie zwischen Menschen und Tieren knüpft wie gesehen unmittelbar und ausschließlich an der Spezieszugehörigkeit an. Das ergibt sich bereits daraus, dass alle Menschen, ungeachtet ihrer konkreten Eigenschaften und Fähigkeiten, als Rechtssubjekte und damit auch als Personen anerkannt sind, und findet ihren Ausdruck in der strengen Verteidigung und damit Stabilisierung der brüchig gewordenen Demarkationslinie »Mensch« im Recht. Was sich biologisch und philosophisch im zweiten

13 Erläuternder Bericht Xenotransplantationsverordnung, 13 f.

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Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nicht mehr ernsthaft verteidigen lässt, bildet nach wie vor eine zentrale Konstruktionslinie des Rechts: Das Abstellen auf die Spezieszugehörigkeit als Kriterium der Zugehörigkeit zum Kreis der Rechtsträger_innen. Ob unter diesen Prämissen eine Verbesserung der Rechtstellung von Tieren möglich ist, wird von Marie Fox grundlegend bezweifelt: »[M]y aim in this paper has been to show that working within an unsatisfactory legal paradigm is unlikely to produce real gains for animals, or cause us to radically re-think our relationship with them in ways which transcend property. In a very real sense it illustrates Audre Lorde’s adage that ›the master’s tools cannot dismantle the master’s house‹. […] Thus, I am concerned to argue, not for an expanding circle of creatures to whom law grants entitlements or protections, but rather for law to recognise animals as our kin.« (Fox 2004: 489, 492)

Ansätze zur Dekonstruktion der strikten Mensch-Tier-Dichotomie im Recht lassen sich dennoch finden: So hat in der schweizerischen Rechtswissenschaft etwa die Auseinandersetzung mit dem in der Verfassung verankerten Begriff der »Würde der Kreatur« neben einer vor allem das Trennende betonenden Literatur auch zu einem vertieften Nachdenken darüber geführt, was denn das Verbindende des Begriffs zu der die kontinental-europäische Rechtstradition konstituierenden Menschenwürde ist: »Die Würde der Kreatur verleiht dieser aber einen Eigenwert, der sich nicht in der Nützlichkeit für die Menschheit erschöpft. Der Würdebegriff schützt sowohl den Menschen als auch die Tier- und Pflanzenwelt vor ausschliesslicher Instrumentalisierung für fremde Zwecke. Menschenwürde und Würde der Kreatur treffen sich in ihrem Programmgehalt, der eine Lebensform anstrebt, in welcher alles Leben geachtet und geschützt werden soll […]. Die Verpflichtung des Menschen, auf die Würde der Kreatur Rücksicht zu nehmen, bezieht sich m.E. zwar auf das einzelne Tier und die Pflanze, richtet sich aber auf die Grundsatzgehalte des Würdegebots: den achtungsvollen und schützenden Umgang mit dem Andern in Anerkennung seines Selbstwerts. […] Menschenwürde und Würde der Kreatur decken sich somit auf der Stufe ihrer Programm- und Grundsatzgehalte, unterscheiden sich aber auf der Ebene der individuellen Rechtspflichten.« (Mastronardi 2008: 167 f.)

Die Ebene der individuellen Rechtspflichten macht allerdings den Unterschied der rechtlichen Stellung aus. Insofern lässt sich konstatieren, dass sich der Programmgehalt der »Würde der Kreatur« bislang nur ganz vereinzelt in der Rechtsordnung niedergeschlagen hat, was bis jetzt eher noch zu einer Verstär-

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kung der bestehenden Wertungswidersprüche und Divergenzen geführt hat. Soll dem Prinzip umfassende Wirkungverschafft werden, wäre eine fundamentale Neuordnung des rechtlichen Umgangs mit Tieren, wie ihn Marie Fox fordert, unumgänglich. Gleichheit im Verhältnis Recht und Tiere Ein zentraler Themenkomplex der Legal Animal Studies betrifft die Frage danach, welches Verständnis von Gleichheit im Verhältnis Mensch und Tier theoretisch und rechtlich angemessen ist. Das für einen liberalen Rechtsstaat zentrale Prinzip der Rechtsgleichheit fordert, dass Gleiches nach Maßgabe seiner Gleichheit gleich, Ungleiches aber nach Maßgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt werden soll. Die Forderung nach Gleichheit und Gleichbehandlung mit einer privilegierten Gruppe war und ist denn auch ein grundlegendes Postulat einer jeden Emanzipationsbewegung, so auch für die erste Ära der Frauenbewegung (dazu ausführlich Büchler/Cottier 2012: 57 ff.). Auch in der Diskussion um die gerechte rechtliche Rahmung des Mensch-Tier-Verhältnisses kommt dem Gleichheitstopos ein zentraler Stellenwert zu (vgl. Bryant 2007: 207 f.). Die Bedeutung der Gleichheitsforderung für Tiere eröffnet sich in erster Linie vor dem Hintergrund der bis in die Gegenwart wirkmächtigen ideengeschichtlichen Tradition der Ungleichbehandlung von Mensch und Tier aufgrund ihrer postulierten »natürlichen Ungleichheit«. Der vermeintlich fundamentale und kategorielle Unterschied zwischen Mensch und Tier diente dabei als biologische Grundlage zur Rechtfertigung der realen Unterwerfung und schonungslosen Nutzung der Tiere und zu ihrer ideologischen Abwertung zur Sache, Ressource und zum minderwertigen Naturwesen (vgl. Mütherich 2014: 446 ff.; vgl. auch Heinzelmann 1999: 17 ff.). Die Idee einer grundsätzlichen Wesensverschiedenheit von Mensch und Tier wird auch im Recht reflektiert, wo sie sich in einem kategorialen Statusunterschied äußert: Tiere sind keine Rechtssubjekte und könnten naturgemäß keine Rechte haben; und wo Tieren, wie in der Schweiz, eine Würde zugesprochen wird (siehe Art. 120 Abs. 2 Bundesverfassung und Art. 1 Tierschutzgesetz), ist diese doch nicht umfassend mit der Menschenwürde gleichzusetzen.14 Die Begründungen für diese Ungleichbehandlung sind allerdings unterschiedlich; anschaulich ist etwa diejenige des Verwaltungs-

14 Siehe dazu das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts vom 7. Oktober 2009, 2C_422/2008, Erw. 4.6.1; der wohl gravierendste Unterschied zwischen Menschenund Tierwürde ist, dass erstere als absoluter und letztere als relativer, einer Güterabwägung zugänglicher Wert konzipiert ist (ausführlich Michel 2012a: 104-107).

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gerichts Hamburg in einem Beschluss aus dem Jahre 1988 betreffend die sogenannte Robbenklage (ausführlich dazu Weber 1990: 9-22):

»Natürliche Personen sind nach geltendem deutschen Recht die Menschen […]. Dies entspricht dem Verständnis des Gemeinen Rechts, das die Begriffe ›rechtsfähig oder Rechtssubjekt oder Personen‹ gleichsetzt und als (natürliche) Person – nur – den Menschen ansieht […]. Tragender Grund dafür, dass die Rechtsordnung die Rechtsfähigkeit und damit insbesondere die Befähigung, Träger von Rechten zu sein, nur dem Menschen zuordnet, liegt in der Erkenntnis, dass nur ihm die besondere Personenwürde eigen ist, ›Kraft seines Geistes, die ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewusst zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten‹ [...], die ihn von allen anderen Lebewesen der Natur abhebt.« (Verwaltungsgericht Hamburg, Beschluss vom 22. September 1988 – 7 VG 2499/88, Erw. 3.b.aa)

Hinsichtlich des Mensch-Tier-Verhältnisses wurde das Gleichheitsprinzip namentlich von Peter Singer15 aufgegriffen und popularisiert, der ferner zur Bezeichnung der systematischen Ungleich- und Schlechterbehandlung von Tieren den von Richard Ryder in einem Flugblatt geprägten Begriff des »Speziesismus« bekannt machte. Die für das Mensch-Tier-Verhältnis (historisch und aktuell) konstitutive Ungleichbehandlung aufgrund Ungleichheit, die streng genommen gar mit dem Gleichheitssatz vereinbar ist (Ungleiches soll ungleich behandelt werden, vgl. MacKinnon 2007: 318), wird von Gleichheitstheoretiker_innen auf der Tatsachenebene umzukehren versucht:16 Das bedeutet, dass nicht die Logik des Gleichheitsprinzips bestritten wird, sondern die empirischen Grundlagen, aus denen die gleichheits- bzw. ungleichheitsbegründenden Folgerungen gezogen werden. Nicht die (lediglich graduellen) Unterschiede, sondern die Gleichheit von Mensch und Tier in relevanten Aspekten wird betont und auf dieser Basis – mit Verweis auf die konsequente Anwendung des Gleichheitsprinzips – Gleich-

15 Siehe Singer 2013: 52, dort als »Prinzip der gleichen Interessenabwägung« expliziert. 16 Obwohl das Gleichheitspostulat gemäß Singer ein präskriptives Prinzip und keine Tatsachenbehauptung ist und somit keine faktische Gleichheit, sondern Gleichbehandlung ungeachtet (irrelevanter) Unterschiede verlangt (Singer 2013: 51), bleibt in der Regel dennoch ein residualer empirischer Bezugspunkt bestehen hinsichtlich jener Eigenschaft, welche die Gleichheit von Mensch und Tier begründet.

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behandlung nach Maßgabe der Gleichheit eingefordert (vgl. Bryant 2007: 207 ff.). Das Gleichheitsargument nimmt im Allgemeinen folgende Form an: »The similarity argument […] claims that animals are like humans in the capacities that are relevant to legal entitlements and, therefore, that a just society would provide speciesappropriate legal entitlements that mirror the entitlements society gives humans.« (ebd.: 211)

Zur Kardinalfrage wird in diesem Ansatz also, welches Kriterium zur Feststellung von Gleichheit herangezogen wird: In welchen Aspekten müssen Tiere gleich sein wie Menschen, damit eine Gleichbehandlung aus Gründen der Gerechtigkeit geboten ist? Angesichts der traditionellen vernunftrechtlichen Begründung des privilegierten Rechtsstatus des Menschen als Rechtsträger_in wird die für rechtliche Gleichbehandlung entscheidende Gleichheit von Tieren überwiegend in deren menschenähnlicher geistigen Konstitution gesucht. In dieser Ausprägung bezieht sich das Gleichheitsargument als Referenzwert auf den rationalen, autonomen Menschen, der Rechtssubjekt ist und mit dem Tiere in wesentlicher Hinsicht vergleichbar sein müssen. Als aussichtsreiche Kandidaten für eine solcherart gefasste Gleichheit werden in der Regel nur wenige Tierarten verhandelt, die nachweislich ausgesprochen komplexe kognitive Fähigkeiten aufweisen, so etwa Große Menschenaffen, Wale und Delfine. Den Anstoß zur kontroversen Debatte um »Menschenrechte für Menschenaffen« bzw. für menschenähnliche Tiere gab das »Great Ape Project«, das in einer Deklaration von 1993 forderte, die Großen Menschenaffen (Schimpansen, Gorillas und OrangUtans) in die »Gemeinschaft der Gleichen« aufzunehmen (Cavalieri/Singer 1993: 4). Untermauert wird diese Forderung mit einem wissenschaftlich ab gestützten Gleichheitsverweis: »The chimpanzee (including in this term both Pan troglodytes and the pygmy chimpanzee, Pan paniscus), the gorilla, Gorilla gorilla, and the orang-utan, Pongo pygmaeus, are the closest relatives of our species. They also have mental capacities and an emotional life sufficient to justify inclusion within the community of equals.« (Cavalieri/Singer 1993: 5)

Ein prominenter Vertreter der an menschlicher Vernunftfähigkeit orientierten Gleichheitsforderung ist ferner Steven Wise, der mit seinem »Nonhuman Rights Project« auf der Basis des Kriteriums der »praktischen Autonomie« für die Rechtspersönlichkeit von intelligenten Tieren (in erster Linie Schimpansen) argumentiert (siehe dazu Wise 2000: 247 ff.; ders. 2002: 35 ff.). Zu nennen ist in diesem Zusammenhang weiter Thomas White, der untersucht, ob Tiere die um

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menschlich-kognitive Qualitäten zentrierten Personenmerkmale aufweisen und somit als Personen zu behandeln sind (White 2007). Der Gleichheitsdiskurs in der Tierrechtstheorie wird zuweilen – und unseres Erachtens zu Recht – durchaus auch kritisch betrachtet. Ein inhärentes Problem der Gleichheitsforderung ist nämlich, dass sie sich auf eine privilegierte Vergleichsgruppe bezieht. Als Vergleichswert und Norm dient dabei der Mensch, wodurch von vornherein ein anthropozentrischer Maßstab angelegt sowie reproduziert und damit die in diesem Wertesystem angelegte Hierarchie bestätigt wird, wie etwa Taimie Bryant ausführt: »In the hierarchy created by the similarity argument, humans would occupy the top position in the hierarchy because humans are the standard against which other animals are measured.« (Bryant 2007: 216) Der Gleichheitsgrundsatz greift also nur bei Vergleichbarkeit mit der Norm und bedingt insofern die Menschenähnlichkeit von Tieren, wohingegen Differenz unverändert negativ belegt ist. Dabei wird die grundlegendere Frage ausgespart, warum Tiere überhaupt wie Menschen sein müssen, um im Recht angemessenen Schutz zu finden (MacKinnon 2007: 320 f.). Diese Kritik an der (Über-)Betonung von Menschenähnlichkeit und Abwertung von Differenz trifft in erster Linie auf den Gleichheitsdiskurs im aktuellen Tierrechtsmainstream zu, der auf eine menschenähnliche Vernunftfähigkeit rekurriert. Aus einer spezifisch rechtlichen Perspektive ist zudem anzumerken, dass der Ansatz, wonach bestimmte Eigenschaften ursächlich dafür sein sollen, Rechte zu haben und somit Rechtssubjekt zu sein, nicht nur die Gefahr birgt, die bestehende Hierarchie weiter zu festigen, sondern ganz grundsätzlich die rechtliche Grenze zwischen Menschen und den meisten Tieren weiter zu zementieren. Indem bislang nicht ausdrücklich verrechtlichte Grundlagen für das Innehaben von Rechten (z.B. Vernunftfähigkeit, Selbstbewusstsein etc.) aus dem philosophischen Diskurs herausgelöst und explizit ins Recht übertragen werden, wird die Messlatte für Tiere höher gelegt als für Menschen. Deidre Bourke fasst dies so zusammen: »Clear dangers exist in employing classification schemes that create artificial hierarchies. It may be that a ›rational‹, ›scientific‹ approach is able to yield positive results for certain highly intelligent species. The risk, however, is that the wall currently separating humans and animals will merely be shifted into a new, but firmer position, leaving those animals on the other side in an even more vulnerable position. This approach also necessarily rejects the idea that all animals have inherent value and so conflicts with the traditional, more universal, basis on which rights are allocated. Human rights discourse, for example, moved past such notions, to develop a concept of rights based on the ›inherent dignity‹ of all humans, regardless of their age, sex, ›race‹ or mental capacity. […] Where advocates

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require that animals have a specific cognitive capacity in order to qualify as right holders, they set the bar higher than it is for humans, and the concept of inherent value is undermined.« (Bourke 2009: 148)

Ob diese Kritik auch auf inklusivere Kriterien wie jenes der bei Menschen und Tieren grundsätzlich gleichen Empfindungsfähigkeit zutrifft, d.h., ob auch solche Kriterien auf einen anthropozentrischen Bezugspunkt verweisen (so kritisch Bryant 2007: 207, 224), oder ob der Empfindungsfähigkeit eine vom Menschen unabhängige, intrinsische Bedeutung zukommt (so Donaldson/Kymlicka 2011: 33), wird uneinheitlich beurteilt. Berücksichtigung tierlicher Differenz Differenzorientierte Ansätze betonen die Eigen- oder Andersartigkeit von Tieren im Vergleich zu Menschen, ohne dass daraus allerdings ihre Minderwertigkeit abgeleitet werden dürfte. Sie hinterfragen das Postulat, dass anthropozentrisch gewachsene Rechte ohne Modifizierung der ihnen zugrunde liegenden Annahmen, Traditionen und transportierten Wertungen auf Tiere übertragen werden können. Kritisch beurteilt wird aus dieser Perspektive beispielsweise die Orientierung des aktuellen Tierrechtsmainstreams an einem als autonom und vernünftig konstruierten, in der Rechtswissenschaft auch ursprünglich männlich gedachten Subjekt (Emmenegger 1999: 114-115; Baer 2001: 14). Dies führt nicht nur wie oben beschrieben zur Gefahr einer Überbetonung der Rationalität, sondern auch zu einer Blindheit gegenüber anderen und spezifischen Eigenschaften und Bedürfnissen von Tieren und tierlichen Individuen bzw. zur Abwertung von solchen Eigenschaften, die nicht in das partikular konstruierte Bild von Subjektivität und Autonomie passen. Problematisiert wird vor diesem Hintergrund etwa die Ansicht, die Abhängigkeit bzw. die Interdependenz zwischen Menschen und Tieren sei unnatürlich und begründe zwangsläufig Ausbeutungsverhältnisse, weshalb anzustreben sei, sie aufzugeben. Das führt letztlich zur Abwertung der Natur von domestizierten Tieren wie etwa Hunden, die seit Jahrhunderten mit Menschen zusammenleben, wie wir es etwa bei Gary Francione beobachten können: »Domestic animals are dependent on us for when and whether they eat, whether they have water, where and when they relieve themselves, when they sleep, whether they get any exercise, etc. Unlike human children, who, except in unusual cases, will become independent and functioning members of human society, domestic animals are neither part of the nonhuman world nor fully part of our world. They remain forever in a netherworld of vulner-

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ability, dependent on us for everything that is of relevance to them. We have bred them to be compliant and servile, or to have characteristics that are actually harmful to them but are pleasing to us. We may make them happy in one sense, but the relationship can never be ›natural‹ or ›normal.‹ They do not belong stuck in our world irrespective of how well we treat them.« (Francione 2007c)

Die negative Konnotierung von Abhängigkeit, Beziehung und Interdependenz ist eine kulturell bedingte und lässt sich in dieser Form nicht unbesehen von dem als Maßstab genommenen Subjekt westlich-männlicher Prägung auf Tiere übertragen. Freilich ist bei dieser Diskussion zu beachten, dass faktische Abhängigkeiten zum einen keineswegs hierarchische Über- und Unterordnungsverhältnisse rechtfertigen und zum anderen die künstliche und gewollte Herstellung von Abhängigkeiten durch nutzenorientierte Überzüchtung von Tieren der Idee von Beziehung genauso diametral zuwider läuft wie etwa »beziehungsinterne« Gewalt. Die Überbetonung von Autonomie in diesem Kontext allerdings, die letztlich dazu führt, domestizierten Tieren abzusprechen, ein Leben in Würde führen zu können, wird von Donaldson/Kymlicka scharf kritisiert. Sie führen aus, dass eine solche Sicht nicht nur domestizierten Tieren unrecht tue, sondern auch die jüngeren Entwicklungen in den Debatten um die Rechte von behinderten Menschen und von Kindern vernachlässige. Insbesondere dürfe aus faktischer Abhängigkeit nicht der Verlust von Würde abgeleitet werden: »In our view, this entire way of understanding domesticated animals is misguided, and indeed morally perverse. There is nothing inherently undignified or unnatural about either neotony or dependency, and to condemn domesticaed animals on these bases is not only unjustified, but would have pernicious consequences for humans as well. […] Dependency doesn’t intrinsically involve a loss of dignity, but the way in which we respond to dependency certainly does. If we despise dependency as a kind of weakness, then when a dog paws his dinner bowl, or nudges us winningly to remind us it is walk time, we will see ingratiation or servility. However, if we don’t view dependency as intrinsically undignified, we will see the dog as a capable individual who knows what he wants and how to communicate in order to get it – as someone who has the potential for agency, preferences, and choice.« (Donaldson/Kymlicka 2001: 83 f.)

Die Betonung von (gewaltfreier, nicht der Tiernutzung dienender) Beziehung statt der Fokussierung auf Autonomie und Ablehnung der negativen Bewertung von Abhängigkeit ist etwas, was dieser Ansatz der Legal Animal Studies mit differenzorientierten Ansätzen in den Legal Gender Studies teilt. Differenztheoretikerinnen wie Maneesha Deckha bringen noch einen weiteren Aspekt in die De-

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batte ein: Sie argumentiert, dass die Überbetonung von Rationalität und Autonomie tief in die Tradition des auf dem Liberalismus fußenden westlichen Rechts eingelassen sei. In diesem Diskurs seien Ansprüche benachteiligter Gruppen immer auf die Behauptung gestützt worden, sie seien im Wesentlichen gleich wie die privilegierte Gruppe. Tiere könnten aber, so ihre Einschätzung, von diesem Gleichheitsargument nicht im selben Maße profitieren, denn zum einen sehe ein Großteil der Gesellschaft Tiere noch immer als physisch und mental deutlich und kategoriell von Menschen unterschieden und zweitens vermöchten gerade solche Tiere, die sich stark von Menschen unterscheiden, von diesen Ansätzen nicht zu profitieren. Der liberale Rechtsrahmen sei deshalb grundsätzlich ungeeignet, eine umfassende Subjektivität von Tieren zu fassen (Deckha 2012: 231, 235). Als einen weiteren Versuch, Differenz zu berücksichtigen, lässt sich der auf Tiere übertragene Fähigkeitenansatz (capabilities approach) von Martha Nussbaum charakterisieren, den sie in ihrem Buch Frontiers of Justice (Grenzen der Gerechtigkeit) entwickelt. Sie argumentiert, dass Tiere je eigene Formen des Gedeihens (flourishing) und der Würde (dignity) haben und diese Pluralität möglicher Lebensformen und Würde rechtlich anzuerkennen sei. Wichtig für Nussbaum ist, dass Würde nicht auf Eigenschaften wie etwa Vernunft basiert, und sie weist die Vorstellung zurück, dass nur ungefähr Gleiche auch Mitglieder einer Gerechtigkeitsgemeinschaft sein könnten. Indem sie Tiere explizit in die Gerechtigkeitsgemeinschaft einschließt, gesteht sie ihnen elementare Ansprüche zu (Nussbaum 2006: 337). Deren Missachtung wird so zu einem Gerechtigkeitsproblem. Nussbaum lehnt das besonders das kontinentaleuropäische Rechtssystem prägende kantische Personenkonzept ab und betont, dass letztlich auch die Moralität und Vernünftigkeit des Menschen in seiner Animalität verankert seien. Diese Perspektive ermögliche die Berücksichtigung tierlicher Differenz, und zwar sowohl zwischen verschiedenen Spezies als auch zwischen verschiedenen Individuen einer Spezies; jedes soll als das, was es ist, gedeihen können (ebd.: 349). »The fact that the human maker of principles is imagined as a needy, often dependent animal being prepares the way for that extension. People who see themselves in this way, and who do not pride themselves on an allegedly unique characteristic, are more likely than is the contractarian to see themselves as making principles for an interlocking world that contains many types of animal life, each with its own needs, each with its own dignity. Thus the conception of the creature as a subject of justice is exactly that: the conception of a world in which there are many different types of animals striving to live their

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lives, each life with its dignity. It is not a single conception at all, because the plurality of forms of life is very important to the whole idea.« (ebd.: 356)

Der Ansatz von Martha Nussbaum wird breit diskutiert und verschiedentlich kritisiert. In einem rechtlichen Kontext zu Ende gedacht bedeutet er, dass Tierrechte nicht nur negative Rechte im Sinne von Abwehrrechten beinhalten müssten (Recht auf Leben, psychische und physische Integrität), sondern – zumindest bei domestizierten Tieren – das positive Recht auf die Sicherung derjenigen Ressourcen, Fürsorge und Möglichkeiten zur Beziehung, die für ein gedeihliches Leben notwendig sind – und dies unter Berücksichtigung der tierlichen Differenz und ohne Bezugnahme auf einen Gleichheitsmaßstab zum Menschen. Es ist das Verdienst der auf Differenz statt Gleichheit fokussierenden Ansätze, dass sie die Problematik und die inhärenten Gefahren des Gleichheitsdiskurses offenlegen. Differenzorientierte Ansätze sind allerdings – und dies ist sicherlich ihre Schwäche – zumindest auf den ersten Blick schwieriger ins Recht zu überführen als gleichheitsorientierte, da sie nicht direkt an bereits bestehende rechtliche Konzepte und Diskurse anschließen können. Dennoch vertritt etwa Taimie Bryant dezidiert die Meinung, dass ein nichtdiskriminatorischer Ansatz auch für eine rechtliche Ordnung der Mensch-Tier-Beziehung dem Gleichheitsansatz vorzuziehen sei, auch weil er die Begründungslast für die Exklusion oder Diskriminierung von Tieren auf diejenigen verschiebe, die dies befürworten. Ansätze hierzu sieht sie teilweise in gesetzlichen Regelungen, die Wildtiere schützen. Dieser Weg sei konsequent weiterzuverfolgen, denn eine gerechte Gesellschaft würde Differenz schützen und bestärken und dadurch letztendlich verändern, was es bedeutet, anders zu sein: »Whatever else may be required of a just society, a just society should operate from a basis of respect for diversity and inclusion of differently situated entities to the greatest extent possible. In fact, a just society would seek ever greater levels of inclusion and accommodation of difference, and, in so doing, just practices that require inclusion and respect would increasingly ›naturalize‹ difference. This is a core aspect of the antidiscrimination approach.« (Bryant 2007: 250)

P ERSPEKTIVEN DER L EGAL ANIMAL S TUDIES R ECHTSWISSENSCHAFT

FÜR DIE

Das Forschungsspektrum der Legal Animal Studies ist mannigfaltig und reichert die traditionelle Rechtswissenschaft durch vielseitige und teilweise neuartige

R ECHTSWISSENSCHAFT

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Ansätze und Theoriekonzepte in Bezug auf das Verhältnis Recht und Tier an. So können die Legal Animal Studies einerseits zur Offenlegung, Sichtbarmachung und Kritik der gesellschaftlichen und rechtlichen Normalität der exploitativen Tiernutzung beitragen, indem sie den ambivalenten rechtlichen Umgang mit Tieren normativ-kritisch analysieren und in Bezug zu den dahinter stehenden Konzeptionen und Konstruktionen setzen. Andererseits bieten die Legal Animal Studies ein vielseitiges Potential für eine (angemessene und selbstkritische Fassung der) Subjektivierung von Tieren in der Rechtswissenschaft und im Recht, etwa durch Rechtssubjektivität oder quasisubjektiven Schutz. Eine weitere grundlegende, hier aber ausgeklammerte Frage, welche die Legal Animal Studies beschäftigen sollte, ist jene, ob das Recht zur Überwindung der realen Benachteiligung von Tieren überhaupt das geeignete Instrument ist, d.h. ob mit den Instrumenten der dominanten Rechtswissenschaft das herrschende, stark auf Menschen ausgerichtete und entlang den Speziesgrenzen aufgebaute Rechtssystem aufgelöst werden kann bzw. Tiere mitsamt ihrer Differenzen adäquat einbezogen werden können. So zeigt denn auch eine Analyse des historischen und gegenwärtigen rechtlichen Umgangs mit Tieren die Abhängigkeit der rechtlichen Tierschutzkonzeptionen von politisch-gesellschaftlichen Machtverhältnissen und damit die Spannung zwischen den verschiedenen Funktionen des Rechts deutlich auf: Einerseits Schutz der Schwächeren vor den Mächtigen, andererseits Absicherung und rechtliche Legitimation von geltenden Herrschafts- und Machtverhältnissen. Aufgrund dieser ambivalenten Ausgangsposition – Recht zugleich als Machtmittel wie auch als Schutzmittel vor Macht – sollten die Legal Animal Studies als rechtswissenschaftliches Forschungsfeld letztlich nicht nur kritischnormativ hinsichtlich ihres Inhalts, sondern ein Stück weit auch selbstreflexiv hinsichtlich ihrer Mittel vorgehen.

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Soziologie Humansoziologische Tiervergessenheit oder das Unbehagen an der Mensch-Tier-Sozialität R AINER E. W IEDENMANN

»Kein Platz für Tiere« – unter diesem Titel publizierte der Volkskundler/Europäische Ethnologe Andreas Bimmer vor mehr als 20 Jahren einen Essay, der die im Westen seit dem 19. Jahrhundert zu beobachtende »Verdrängung von Tieren aus der Öffentlichkeit« (Bimmer 1991: 195) mit dem Befund in Beziehung setzt, dass in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Literatur nur selten die soziale Qualität der Mensch-Tier-Beziehungen thematisiert wird. Diese Tiervergessenheit fällt nun besonders in der Soziologie ins Auge, einem Fach, das sich lange Zeit erfolgreich gegen humananimalische Forschungsperspektiven abgeschottet hat. Dieses Nichtthematisieren der wechselseitigen Korrelativität von menschlichen und tierlichen Sozialbeziehungen geht einher mit einer meist stillschweigend vorgenommenen Identifizierung von Soziologie und Humansoziologie. An der vor 35 Jahren von Clifton Bryant (1979: 400) abgegebenen Diagnose hat sich, so scheint es, kaum etwas geändert: »Sociologists […] unfortunately have not taken into account the permeating social influence of animals in our larger cultural fabric, and our more idiosyncratic individual modes of interaction and relationships, in their analyses of social life. With very few exceptions, the sociological literature is silent on this topic.«

Etliche Jahre später beurteilt Arnold Arluke (2002: 370) die Lage für die englischsprachige Soziologie kaum anders. Im Sonderheft zum zehnjährigen Bestehen von Society & Animals schreibt er: »Sociologist have not acknowl-

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edged the importance of the animal studies; indeed some have belittled it as a mere ›boutique‹ sociology«. Im Ausdruck »boutique sociology« klingt etwas an, was man aus zwei Gründen als eine Variante der soziologischen Tiervergessenheit ansehen kann: Einmal (a) wird suggeriert, dass diese Studien lediglich »modische« Vorlieben des Zeitgeschmacks bedienen, zum anderen (b), dass sie eine Art Luxusveranstaltung darstellen, von der keine substantiellen bzw. wegweisenden Impulse für das Fach insgesamt zu erwarten sind. Beide Suggestionen verfehlen die Besonderheiten und Möglichkeiten einer Soziologie der Mensch-Tier-Beziehungen. Zum ersten Punkt: Es ist sicher zutreffend, dass die in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende soziologische Thematisierung von Mensch-Tier-Beziehungen nicht unabhängig vom langfristigen Wachstum der internationalen Tierrechtsbewegung zu sehen ist, zumindest, was die Zahl der diesbezüglichen Unterstützer_innen angeht. Als symptomatisch kann man hier wohl das Wachstum der Tierrechtsorganisation PETA anführen: So gab PETA 2013 auf ihrer Homepage bekannt, sie sei mit »über drei Millionen Unterstützern« die weltweit größte Tierrechtsorganisation. Zum Vergleich: 1990 hatte PETA weltweit nur etwa 300.000 Mitglieder bzw. registrierte Unterstützer_innen, im Jahre 2007 wird diese Zahl aber bereits mit 1,6 Millionen veranschlagt.1 Parallel dazu haben in den letzten Jahrzehnten Studien zum MenschTier-Verhältnis besonders in der englischsprachigen Soziologie erhebliche Zuwächse zu verzeichnen. Will man sich einen groben, nur annähernden Überblick über diese Entwicklung verschaffen, genügt es, sozialwissenschaftliche Fachbibliographien zu konsultieren. Hier ein einschlägiger Befund aus den vergleichsweise zuverlässigen und breit angelegten Sociological Abstracts: Zeitraum Zahl der Einträge2

1980-89

1990-99

2000-2009

(2010-2013)

17

110

133

(21)

Die Aufstellung zeigt, dass sich zwischen 1980 und 2010 die Zahl der Fachbeiträge, die auch oder sogar vorwiegend unter soziologischen Aspekten Tier-

1

Vgl. zu diesen Angaben Wiedenmann (2009: 23) sowie die PETA-Homepage vom 07.06.2014: http://www.peta.de/ueberpeta.

2

Angaben nach http://search.proquest.com.sociologicalabstracts.han.ku.de/socabs/ vom 07.06.2014. Erfasst wurden alle Beiträge aus Fachzeitschriften, die unter der Filterrubrik »Schlagwörter« sowohl dem Bereich »animal human relations« als auch dem Bereich »sociology« zugeordnet wurden.

S OZIOLOGIE

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Mensch-Beziehungen behandeln, vervielfacht hat – wobei noch offen ist, ob sich dieser langfristige Trend im laufenden Jahrzehnt (2010-2019) tatsächlich abschwächt.3 In der Regel handelt es sich hier um Texte, bei denen auch die – im engeren Sinne – »sozialen« Beziehungsaspekte zwischen Menschen und Tieren zur Sprache kommen. Das ist z.B. dann der Fall, wenn im Zusammenhang mit Tierrechtsfragen die moralischen Implikationen der Subjektivität eines Tieres diskutiert werden oder aber wenn (relativ unabhängig von solchen moralischen Fragen) überhaupt die kommunikativen Aspekte im direkten Umgang mit Tieren untersucht werden, die davon beeinflussten wechselseitigen »Verständnisniveaus« und humanimalischen4 Interaktionsmuster. Für solche Texte ist dann oft eine gewisse »tier-(sozial-)psychologische« Tendenz kennzeichnend. Das soll heißen: Sie thematisieren Tiere als wahrnehmende, mit Willen ausgestattete Lebewesen, als individuelle Kommunikations- und Interaktionspartner, als »gesellige Subjekte« (Geiger 1931), und zwar bevorzugt in Situationen, »wo zwischen Tier und Mensch eine gewisse Intimität, eine Vertrautheit entsteht« (Hediger 1984: 21).

3

Das hat einmal damit zu tun, dass die Häufigkeitsschwankungen zwischen den einzelnen Jahren doch recht stark ausfallen können, zum anderen damit, dass bei der Erfassung und Auswertung der Fachbeiträge nicht unerhebliche zeitliche Verzögerungen auftreten können. Zum dritten gibt es natürlich bestimmte Ceteris-paribus-Bedingungen, die das Ergebnis für die laufende Dezennie verzerren könnten, z.B. die Konstanz der einschlägigen Klassifikationskriterien bei der Schlagwortzuordnung oder die jeweils zugrunde gelegte Zeitschriftenauswahl. Schon von daher erscheint es angebracht, die Einträge für 2010 bis 2013 mit einem Vorbehalt zu versehen und sie in Klammern zu setzen.

4

Das Akjektiv »humanimalisch« wird hier verwendet, um die enge und muliple Verschränkung humaner und animalischer Sozialitätsaspekte herauszustreichen. Gemeint ist ein wechselseitiges Durchdringungsverhältnis – im Gegensatz zum bloßen Nebeneinander humaner und animalischer Sozialbezüge (vgl. dazu eingehender Wiedenmann 2002: 9ff. sowie Wiedenmann 2009: 15ff.). In einem ähnlichen Sinne schreiben z.B. die Herausgeber_innen der seit 2009 erscheinenden Online-Zeitschrift Humanimalia – journal of human/animal interface studies in ihrem Editorial, dem Humanimalifesto (2009): »Our title aims to signify the many ways that humans and animals are connected: as the experience of animals is shaped by human constructions of them, so is our experience of humanity shaped by non-human animals’ constructions of us. Humans and animals have co-evolved, so that neither can be understood discursively or materially without the other.«

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Auch wenn man ein breiteres Spektrum an Disziplinen ins Auge gefasst, drängt sich der Eindruck auf, dass das Forschungsfeld der Human-Animal Studies (HAS) expandiert.5 So haben Soziolog_innen der Stanford University 2001 eine Untersuchung zu einschlägigen US-Dissertationen durchgeführt, die zu dem Ergebnis kommt, dass die Anzahl dieser Studien in zwei Jahrzehnten nicht nur absolut, sondern auch relativ, d.h. anteilig an der Gesamtzahl der angefertigten Dissertationen, deutlich zugenommen hat.6 Eine isolierte Betrachtung solcher Befunde könnte nun die Vermutung begünstigen, dass die HAS bereits ein im Wesentlichen etablierter wissenschaftlicher Forschungsbereich sind – und so die These von der Tiervergessenheit der Soziologie eigentlich ins Leere läuft. Doch dieser Schein trügt: Erstens darf nicht vergessen werden, dass die absolute Anzahl der Publikationen sich im Promillebereich bewegt: Ihr Anteil an der gesamten soziologischen Forschung ist zwar angestiegen, bleibt aber quantitativ unbedeutend – jedenfalls verglichen mit den Anteilen, die andere neuere Forschungszweige der letzten Jahrzehnte erreichen konnten (z.B. die Frauen- und Geschlechterforschung). Außerdem verteilten sich die HAS auf Publikationsplattformen, die im Fach selbst oftmals als eher randständig eingestuft werden. So war und ist es immer noch die Ausnahme, dass eine soziologisch einschlägige Arbeit zum Mensch-Tier-Verhältnis überhaupt in einer führenden bzw. renommierten Fachzeitschrift abgedruckt wird. Ähnliches

5

Symptomatisch für diese Entwicklung sind auch neue einschlägige Journale wie Humanimalia (seit 2009) oder das Journal for Critical Animal Studies (seit 2003), auch Übersichten wie die von DeMello (2013) oder Arluke/Sanders (2009) sind hier wohl kennzeichnend. Mit Blick auf die zunehmende Anzahl von HAS-relevanten Konferenzen, Zeitschriften, Lehrangeboten resümiert DeMello (2013) auf Seite zwei des Preface sogar (allzu?) enthusiastisch: »Clearly, interest in HAS is exploding.«

6

Vgl. Gerbasi et al. (2002). Die Forscher_innen durchforsteten die Titel und die Abstracts auf sprachliche Wendungen hin, von denen anzunehmen ist, dass sie unterschiedliche Aspekte sozialer Beziehungen zwischen Menschen und Tieren anzeigen (z.B. »animal-assisted therapy«, »bereavement and pets«, »human-companion animal bond«). Dabei zeigte sich, dass die Zahl der Dissertationen, die Themen aus den HAS bearbeitet haben, in den 90er Jahren (gegenüber den 80ern) um etwa das Zweieinhalbfache angestiegen ist. Im Vergleichszeitraum hat die Gesamtzahl der von den Dissertation Abstracts International erfassten Dissertationen nur um etwas weniger als ein Viertel zugenommen.

S OZIOLOGIE

| 261

gilt für fachwissenschaftlich relevante Kongresse, Tagungen, Schriftenreihen usw.7 Bemerkenswert an der Studie von Gerbasi et al. ist zudem die unausgewogene fachliche Verteilung der Forschungsbeiträge. Im Vergleich mit anderen Sozial- und Humanwissenschaften waren im HAS-Bereich genuin soziologische Dissertationen eher selten anzutreffen. Im Unterschied etwa zur Psychologie, zur Pädagogik oder zu sprach- und literaturwissenschaftlichen Fächern sind soziologische Dissertationen, die thematisch Mensch-Tier-Beziehungsaspekte fokussieren, eher die Ausnahme. So ließen sich nur 4% (!) der zwischen 1980 und 1999 fertiggestellten HAS-Dissertationen dem Fach Soziologie zurechnen (zum Vergleich: psychology – 27%, education – 17%, literature – 10%, anthropology – 7%, agriculture – 4%, philosophy – 3%, social work – 3%). Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht auch als symptomatisch anzusehen, dass in einem für die HAS einschlägigen Werk, der von Marc Bekoff (2010) editierten Encyclopedia of Animal Rights and Animal Welfare, nur ein Eintrag zu finden ist, der im Titel einen klaren fachsoziologischen Bezug zu erkennen gibt.8 Alles in allem ist also festzustellen, dass das Fach Soziologie nach wie vor eine bemerkenswerte und beharrliche Indifferenz gegenüber den – nicht zuletzt ja auch sozialtheoretisch brisanten – Problemen der Mensch-Tier-Sozialität an den Tag legt. Für dieses Fach scheint besonders zu gelten, was Munro (2012: 166) kürzlich so zusammengefasst hat: »the rare appearance of human-animal topics in social science texts. Work in the field of Human-Animal Studies (HAS) has mainly been confined to specialist journals and more recently to edited anthologies«.9 Dass diese Marginalisierung gerade im soziologischen Schrifttum so deutlich zutage tritt, dafür lassen sich mehrere Gründe nennen, von denen hier nur zwei angeführt werden sollen.

7

Von daher hat das ernüchternde Resümee, das Gerbasi et al. (2002: 345) über ihre Untersuchung zu HAS-Dissertationen formulierten, gerade im Hinblick auf die Soziologie wenig an Aktualität eingebüßt: »[T]he field [HAS, RW] is lacking support and recognition from key academic and professional institutions«.

8

Gemeint ist der Eintrag »Sociology of Animal Rights Movement«. Das schließt aber natürlich keineswegs aus, dass viele Artikel dieser Enzyklopädie gerade auch für fachsoziologische Fragestellungen hochrelevante Informationen und Anregungen bieten.

9

Leider symptomatisch ist in diesem Zusammenhang, was auch in der Einleitung zu einem 2011 publizierten HAS-Sammelband des Arbeitskreises Chimaira festgestellt wird: »Im deutschsprachigen Raum ist dieses Forschungsfeld [HAS, RW] bislang jedoch nur marginal vertreten« (Chimaira 2011a: 20).

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Der erste Aspekt kann mit Robert Hettlage (1988: 14) als die »industriesoziologische Schlagseite« des soziologischen Gesellschaftsbildes bezeichnet werden; der zweite Grund, der damit eng zusammenhängt, betrifft das wissenschaftliche Selbstverständnis des soziologischen Mainstreams. Hier zeigt sich, dass bestimmte grundbegriffliche und methodologische Vorentscheidungen eine Art Immunisierung gegenüber »tiersoziologischen« Problemen begünstigt haben. 1. Die industrialistische Schlagseite soziologischer Konzepte: Soziologische Konzeptionen der modernen Industriegesellschaft sind meist so angelegt, dass sie auf eine bloße Überwindung bzw. Umkehrung der Merkmale traditionaler Gesellschaften hinauslaufen (vgl. Lepsius 1977). Im Hinblick auf die Tierwelt bedeutet dies z.B., dass besondere Verhaltensnormen gegenüber »Totemtieren« oder heiligen Tieren in modernen bzw. »aufgeklärten« Religionsformen keinen Platz mehr finden (oder allenfalls als traditionalistische Relikte fortdauern). Der Entzauberungsprozess, der die Entstehung der modernen Gesellschaft begleitet, wird hier mit dem Vorrücken einer diesseitsorientierten Weltauffassung zusammengedacht. Mancherlei »dämonische Tiere«, die noch in frühmoderner Zeit auch in unseren Breiten heimisch waren (wie z.B. der im 17. Jahrhundert förmlich hingerichtete »Ansbacher Werwolf«), verschwinden so aus dem Inventar der gesellschaftlichen Ethnozoologie (vgl. Wiedenmann 2002: 30f.). Eine weitere Facette dieses Prozesses kommt in den Blick, wenn man berücksichtigt, dass die moderne Gesellschaft weithin mit »Industriegesellschaft« identifiziert wurde (bzw. wird), mit der Gesellschaft des Maschinenzeitalters, das eine fortschreitende »Machbarkeit« und Verwaltung von »Sachen« (Freyer 1955: 15f.) mit sich bringt. Und in der Tat ist es ja nicht zu leugnen, dass die Wandlungsprozesse, die mit derartigen Begriffen umschrieben werden, tiefgreifende Veränderungen der Mensch-Tier-Beziehungen anzeigen. So lässt sich z.B. auf dem Gebiet des Transportwesens seit dem späten 19. Jahrhundert ein Trend zur bereits erwähnten Exilierung von Zugtieren aus der Öffentlichkeit (Bimmer 1991) feststellen.10 Auch in der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung lassen sich ähnliche Tendenzen ausmachen: In dem Ausmaß, in dem die Industrialisierung der Landwirtschaft einen deutlichen Anstieg der Nutztierbestände mit sich bringt, werden die Tiere in separaten, als hocheffizient angepriesenen »Produktionsanlagen« zusammengefasst, in Anlagen, die die Tiere den Augen der Öffentlichkeit weitgehend entziehen.

10 Siehe dazu vor allem die Arbeit von Buchner-Fuhs, die z.B. die Rolle der Pferde im Straßenverkehr des 19. Jahrhunderts beleuchtet oder auch die damalige »Schlachthausbewegung«, die nicht zuletzt von der zunehmenden Peinlichkeit öffentlicher Schlachtungen begünstigt wurde (Buchner 1996: 9ff., 76ff.).

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Von daher ist es nicht überraschend, dass Kritiker_innen wie Luke Martell (1994: 16ff., 21ff., 86ff.) von einer modernen »Soziologie des Industrialismus« sprechen: Diese Soziologie habe nicht nur die Umwelt- und Naturbezüge gesellschaftlicher Prozesse aus den Augen verloren, sie habe gerade Tiere auf bloße Objekte im Rahmen humansozialer Funktionsbezüge reduziert, z.B. auf ökonomisch relevante Ressourcen.11 Noch symptomatischer für diese Tiervergessenheit ist vielleicht, dass selbst in umweltsoziologischen Arbeiten, die explizit das Verhältnis Natur – Gesellschaft behandeln (wie z.B. Groß 2001), Tiere ausgeblendet oder nur als vereinzelte Randnotiz erwähnt werden – und vor allem nicht als soziale Akteure in den Blick kommen. Und es ist schließlich auch charakteristisch für diese Tiervergessenheit, dass die wenigen, zum Teil prominenten Stimmen, die diese modernistisch-industrialistische Ausgrenzung der Tiere aus der Gesellschaftstheorie problematisierten (wie schon Mitte der 40er Jahre Max Horkheimer und Theodor W. Adorno), in diesem Punkt vom soziologischen Mainstream der Nachkriegszeit kaum beachtet wurden.12 2. Kommen wir nun zu den fachimmanenten Barrieren und Vorbehalten, die dafür verantwortlich sind, dass der soziologische Mainstream sich gegenüber »tiersoziologischen« Problemen (bislang) so weitgehend hat immunisieren können. Ich vermute, dass die soziologische »Verdrängung« der Tiere unmittelbar mit der Gegenstandsdefinition der Soziologie zusammenhängt. Genauer gesagt: Mit dieser Abgrenzung sind grundbegriffliche Vorentscheidungen verknüpft, die dazu führen, dass besonders höher organisierte Tiere klassifikatorisch in eine mehrdeutige, ambivalente Grenz- oder Zwischenposition geraten. Diese Übergangs- oder Zwischenstellung scheint vor allem dafür verantwortlich zu sein, dass der soziologische »Umgang« mit ihnen sich so oft »schwierig« und »unbehaglich« gestaltet. Diese soziologischen Schwierigkeiten beginnen oft schon damit, dass Probleme, die im Grunde Mensch-Tier-Beziehungen entspringen, mit einer naturwissenschaftlichen Sicht von »Tiersoziologie« vermengt werden. Gemäß einem bekannten soziologischen Wörterbuch ist Tiersoziologie jener Forschungszweig der Zoologie und Ethologie, der nach Erklärungen für »artspezifische Formen des ›sozialen‹ Zusammenlebens von Tieren« (Hillmann 1994: 873) sucht. Als Beispiele werden dann genannt: Fortpflanzungs- und Brutpflegeverhalten von

11 Hinzu kommt, dass eine derart industrialistische Fixierung schon für sich betrachtet eine fragwürdige Blickverengung bedeutet, da hier die Tiere vor allem des familialen und Freizeitbereichs ausgeblendet werden. 12 Vgl. Horkheimer/Adorno (1980), zur Problematisierung der Mensch-Tier-Sozialität in der Kritischen Theorie auch die eingehende Diskussion von Mütherich (2000: 147ff.).

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Tieren, Formen der Herdenbildung, Rangordnungen. Eine so abgegrenzte Tiersoziologie hat mit der »eigentlichen« Soziologie – verstanden als Humansoziologie, die eine exklusiv menschliche oder durch Menschen ermöglichte Sozialität zum Gegenstand hat – nur wenige oder gar keine Berührungspunkte. Man übertreibt wohl nicht, wenn man die Festlegung der Soziologie auf Humansoziologie als eine im Fach immer noch weithin unhinterfragte Selbstverständlichkeit charakterisiert. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Blick in die soziologische Einführungs- und Lehrbuchliteratur. Ich greife als Beispiel nur die viel benutzten »Schlüsselbegriffe der Soziologie« von Hans Paul Bahrdt (1997) heraus. Soziales Handeln, heißt es da zu Beginn des gleichnamigen Kapitels, sei immer als das »Handeln von Menschen« zu begreifen (Bahrdt 1997: 30f.). Begründet wird die Gleichsetzung von Soziologie und Humansoziologie vor allem im Kapitel über »soziale Normen«, wo zu lesen ist (Bahrdt 1997: 50f.): »Nur der Mensch als instinktreduziertes, nicht festgelegtes und weltoffenes Wesen kann Normen kennen und sich an ihnen orientieren. […] Zu dieser Weltoffenheit der Existenz ist der Mensch, und nur der Mensch, fähig, weil er über das Symbolsystem der Sprache verfügt. […] Tiere haben keine Normen. Ein Hund, der gehorcht, folgt nicht einer Norm.«

Man merkt diesen und vergleichbaren Äußerungen das Bemühen an, den Gegenstandsbereich der Soziologie möglichst eindeutig, klar und »sauber« vom Animalischen abzugrenzen. Menschen handeln, Tiere verhalten sich: Der Hiatus, der sie trennt, wird vertieft durch einen tief sitzenden Argwohn gegen jedweden biosoziologischen oder soziobiologischen Reduktionismus. Fast allgegenwärtig ist die Sorge, dass Soziologie (salopp gesagt) »auf den Hund« kommen könnte, wenn sie die (sozio-)biologischen Grundlagen humaner Sozialität sozialtheoretisch und methodologisch ernst nimmt. Die Resultate sind, wie bereits Walter L. Bühl (1974a: 79) feststellte, »große Verständigungsschwierigkeiten zwischen Ethologie und Soziologie« und eine unzureichende Integration dieser Sozialwissenschaften. In der Konsequenz führte dies dann zu einer »schwer revidierbaren Horizontverengung der Soziologie« – und vielleicht auch zu einer Horizontverengung der Ethologie, nämlich dort, wo es »um die Erklärung des Verhaltens höher organisierter Tiere geht« (Bühl 1974: 79). Die von Bühl beklagten Verständnisschwierigkeiten haben natürlich auch damit zu tun, dass z.B. die Trieb- und Instinktkonzepte mancher (Popular-)Ethologien einer kausal-mechanizistischen Reifizierung der Mehr-Ebenen-Komplexität menschlicher Sozialität Vorschub geleistet haben und insofern zu Recht von soziologischer Seite abgelehnt wurden. Umgekehrt sollte man aber auch

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nicht übersehen, dass auf soziologischer Seite gerade das alte Schreckgespenst des Sozialdarwinismus mit all seinen eugenischen und rassistischen Konnotationen eine unbefangene Rezeption ethologischer Befunde behindert hat (vgl. dazu bereits Corning 1974: 266ff.). Es scheint heute, dass der soziologische Mainstream lange Zeit allzu bemüht war, das soziologische (Émile Durkheim [1965] zugeschriebene) »Reinheitsgebot«, Soziales nur aus Sozialem zu erklären, nicht durch die Rezeption ethologischer Befunde zu verwässern. Gerade die Thematisierung tierlicher Sozialität wurde in dieser Hinsicht als eher abwegig abgewehrt: Dabei mag die Befürchtung mitgespielt haben, dass über die »tiersoziologische Hintertür« soziobiologische Konzepte eindringen und das humansoziologische Terrain kontaminieren könnten. Selbst Erving Goffman, der in seinen Texten immer wieder auf die soziologische Relevanz und »inspirierende« Bedeutung human- und tierethologischer Befunde aufmerksam macht (vgl. z.B. Goffman 1974: 19f.), hat solche Abschottungsbemühungen des humansoziologischen Mainstreams nicht wirklich irritieren können. Im Lichte dieser Überlegungen hat die Tiervergessenheit der Humansoziologie nicht zuletzt damit zu tun, dass der moderne soziologische Diskurs fortlaufend bemüht war, für seine Basiskonzepte (insbesondere Handlung, Kommunikation) das durchzusetzen, was man mit Bruno Latour (1998) die moderne »große Trennung« zwischen Natur und Kultur/Gesellschaft nennen kann, mit Zygmunt Bauman (1995; 1997): das typisch modernistische (aber letztlich doch unerfüllbare) Streben nach Klarheit und Eindeutigkeit dieser dualen Klassifizierung. Wenn die soziologische Trennungsarbeit dabei immer wieder auf bestimmte Topoi der Sonderstellungsanthropologie13 rekurrierte (wie z.B. auf die typisch menschliche Weltoffenheit oder Instinktreduktion), so ist das vielleicht weniger symptomatisch als die Tatsache, dass man dabei an Plausibilitäten und »Evidenzen« anschließt, die auch im Common Sense des westlichen Alltagsdenkens zu Hause sind – die dort aber sehr viel weniger rigide und konsequent durchgehalten werden. Dieser Punkt soll anhand des »Rahmen«-Konzepts von Goffman kurz plausibilisiert werden. Goffman zufolge lassen sich in der westlichen Gegenwartskultur (aber nicht nur dort) zwei grundlegende Organisationsmuster von Erfahrung unterscheiden, die er »primäre Rahmen« nennt: den »natürlichen« und den »sozialen« Primärrahmen:

13 Vgl. zur Kritik der Sonderstellungsanthropologie und ihrer dualistischen »MenschTier-Metaphysik« näher Bühl (1982: besonders 2ff., 54f., 202ff.).

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»Natürliche Rahmen identifizieren Ereignisse, die als nicht gerichtet, nicht orientiert, nicht belebt, ›rein physikalisch‹ gesehen werden; man führt sie vollständig auf ›natürliche Ursachen‹ zurück. Man sieht keinen Willen, keine Absicht als Ursache am Werke, keinen Handelnden, der ständig auf das Ergebnis Einfluss nimmt« (Goffman 1980: 31).

Innerhalb des natürlichen Rahmens wird den subjektiven und situativen Verhaltensspielräumen von (Tier-)Akteuren kaum Beachtung geschenkt, wenn doch, dann werden sie durch »externe«, d.h. nichtintentionale, Bedingungen erklärt. Im Extremfall bedienen sich solche Tierkonzepte einer Maschinenmetaphorik oder der Black-Box-Konstrukte isolierter Reiz-Reaktions-Ketten. Demgegenüber sind soziale Rahmen Deutungsschemata für Ereignisse, an denen »Wille, Ziel und steuerndes Eingreifen einer Intelligenz, eines ›intelligenten‹ Lebewesens, in erster Linie eines Menschen, beteiligt sind. Ein solches Wesen ist alles andere als unerbittlich; man kann ihm gut zureden, schmeicheln, trotzen, drohen« (Goffman 1980: 32). Im Lichte dieser Leitunterscheidung unserer Wahrnehmungs- und Wissensorganisation ist es nicht überraschend, dass zahlreiche Verhaltensmuster von Tieren hybrid erscheinen und sich einer klaren und eindeutigen Primärrahmung entziehen. Anders gewendet: Solchen Verhaltensmustern haftet eine genuine Ambivalenz an, die prinzipiell nach beiden Seiten hin aufgelöst werden kann: Man kann versuchen, diese Mehrdeutigkeit im Kontext eines natürlichen oder eines sozialen Primärrahmens zu typisieren. Bemerkenswert ist nun, dass unsere alltagsweltliche »Spontansoziologie« – ganz anders als die etablierte Humansoziologie – oft eher dazu neigt, bei Tieren ein sinnhaft »orientiertes« Verhalten anzunehmen und entsprechend soziale Beurteilungsmaßstäbe (wie Vertrauen, Kampf, Kooperation, Rückzug, Zuneigung usw.) anzulegen. So beruhen alltägliche Praktiken des direkten Umgangs mit Tieren nicht selten auf der fraglosen Hintergrundannahme, dass dem tierlichen Gegenüber bestimmte Absichten und Motive (Merkmale eines handlungskompetenten Alter Ego) zugeschrieben werden können. In westlichen Gesellschaften neigen z.B. besonders Heimtierbesitzer_innen dazu, die ihnen vertrauten Tiere in einem sozialen Primärrahmen wahrzunehmen, d.h. mit individuellen mentalen und »charakterlichen« Merkmalen, wie sie im Kontext familialer Beziehungen häufig sind (vgl. z.B. Stallones et al. 1990). Nun ist kaum zu leugnen, dass sich die Humansoziologie heute immer noch schwer damit tut, solche – oft als »anthropomorph«14 abgewerteten – lebenswelt-

14 Die methodologischen Chancen, aber auch die Grenzen und Gefahren anthropomorph geprägter Tierkonzepte können an dieser Stelle nicht diskutiert werden (vgl. dazu

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lichen »Konstruktionen ersten Grades« (Schütz 1971) zu ihrem sozialtheoretischen Recht zu verhelfen. Verflogen scheint heute das Unbehagen zu sein, das wir noch bei Max Weber spüren, wenn er über die Sozialität der Tiere nachdenkt und die Möglichkeit erörtert, ob wir tierisches Verhalten überhaupt als sinnhaft verstehen können – und sich dann letztlich doch dafür entscheidet, diese Frage »völlig unerörtert« zu lassen.15 Zwar konzediert Weber (1980: 7) manchen Tieren Sinnorientierung und Verstehensleistungen: »Viele Tiere«, so Weber, »›verstehen‹ Befehl, Zorn, Liebe, Angriffsabsicht und reagieren darauf vielfach nicht ausschließlich mechanisch-instinktiv, sondern irgendwie auch bewusst sinnhaft und erfahrungsorientiert.« Doch im Unterschied zum »Naturmenschen« seien hier die subjektiv gemeinten Sinnintentionen nicht hinreichend klar festzustellen: Für die verstehende Handlungssoziologie Webers ergibt sich daraus als Konsequenz eine methodologisch begründete Exklusion der Tiere aus der Sozialwelt. Sofern im Rahmen soziologischer Theorien und Konzepte Tiere als Akteur_innen in die Sozialwelt inkludiert werden, dann oft mit Blick auf vormoderne, insbesondere einfache (Stammes-)Gesellschaften. Für viele dieser Gesellschaften ist eine ausgesprochen »soziomorphe« Kosmologie typisch, ein Weltbild, das, wie Thomas Luckmann (1980) gezeigt hat, nicht selten auch bestimmten Tieren oder auch Pflanzen Intentionen und soziale Kompetenzen zutraut. Solche Wesen werden dann neben den lebenden Menschen ganz selbstverständlich als kommunikativ erreichbare Gesellschaftsangehörige behandelt, als We-

Wiedenmann 2009: 123-140). Mehrere schlüssige Argumente gegen eine »übertriebene Angst vor dem Anthropomorphismus« (de Waal 2002: 41ff.) enthält eine komparativ angelegte Arbeit, in der de Waal (2002) ethologische Forschungen zu Tierkulturen analysiert. 15 Selbst ein Sozialtheoretiker wie Niklas Luhmann tut sich schwer bei der Thematisierung einer sinnhaft begründeten Sozialität tierlichen Verhaltens. So führt er in einer Vorlesung zum Konzept Sinn aus: »Schwierig wird es, wenn man an Tiere denkt. Ob man die Sinnkategorie für Tiere anwenden könnte, ist eine Frage, die […] ich für unentscheidbar halte, weil wir, wenn wir Tiere beobachten, diese Tiere in einer sinnhaften Welt beobachten und deshalb Mühe haben, uns die Welt vom Standpunkt der Fledermaus, des Buchfinken oder der Kuh vorzustellen und zu überlegen, wie solche Tiere ihre für sie zweifellos erkennbare Wahrnehmungsumwelt, den Raum, den sie außer sich sehen, ordnen. Es spricht ja viel dafür, dass es auch etwas mit sinnhaften Übergängen oder mit Protosinn zu tun hat, wenn man die Flüssigkeit und Eleganz sieht, mit der Tiere sich von Situation zu Situation schwingen. Man hat den Eindruck […] dass das nicht nur eine sporadische oder Ad-hoc-Affäre ist« (Luhmann 2003: 234f.). Vgl. zu Luhmanns Position die Anmerkungen von Wiedenmann (2009: 180ff.).

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sen, die einer primären Sozialrahmung (im Sinne Goffmans) unterliegen. Tiere können hier also in einem recht diesseitigen, mundanen Sinne als Akteure und Adressaten sinnvoller Kommunikation betrachtet werden – was aber nicht ausschließt, dass die Genealogie des tierlichen Gegenübers auf die menschliche Sozialsphäre zurückverweisen kann.16 In einer solchen Welt sind Mensch und Tier Elemente eines sozialen Kollektivs, dessen Ontologie man mit Philippe Descola (2011) in einem nichtpejorativen Sinne »animistisch« nennen kann: Für diesen ontologischen Erfahrungsstil ist kennzeichnend, dass Wesen mit unterschiedlichen physischen Erscheinungsformen dennoch gleichartige »Interioritäten« (Bewusstseins- und Subjektivitätsmerkmale) haben – mit der in sozialer Hinsicht wichtigen Konsequenz, dass die Beziehungen zwischen menschlichen und tierlichen Wesen nach dem Muster von Beziehungen zwischen Menschen aufgefasst werden.17 Beide sind sie »Ansprechpartner_innen«, die innerhalb der Grenze der eigenen Sozialwelt angesiedelt werden. Das Konzept der kommunikativ erreichbaren Person weist hier also eine beträchtliche Offenheit für soziale Zurechnungen auf. Die Grenzen der Sozialwelt18 werden damit weit in einen Bereich vorgeschoben, den die dualistische Kosmologie der westlichen Moderne recht summarisch der Kategorie der entseelten, verobjektivierten »Natur« (als der Gegenkategorie zu Kultur, Geist usw.)19 zuschlägt. Im Rahmen einer solchen anthropozentrischen Sozialontologie werden die Interioritäten der Tiere, ihre Wahrnehmungen, Empfindungen, Denkprozesse usw. – sofern sie überhaupt thematisch werden – dann im Gegenteil als wesensverschieden von denen der Menschen angesehen.20 Im Rahmen der Weber‫ތ‬schen Handlungstheorie führt diese konzeptionelle Aufspaltung in eine tierliche und eine menschliche Interiorität zu einer grundbegrifflich forcierten Exklusion tierlicher Sozialität: Das leitende, im Vollsinn

16 Das ist etwa dann der Fall, wenn ein Tier als die Inkarnation eines Ahnen klassifiziert wird, vgl. dazu am Beispiel der westafrikanischen Tallensi Stichweh (1994: 94f.). 17 Vgl. dazu näher Descola (2011: 197ff.), zur Diskussion dieses Ansatzes Bogusz (2013) sowie Wiedenmann (2013). 18 Luckmann (1980: 84f.) bemerkt zu derartigen, »quer« verlaufenden Abgrenzungen der Sozialwelt: »Diese Grenze – das sei betont – trennt nicht zwischen ›Mensch‹ und ›Tier‹ in unserem Verständnis dieser Begriffe. Sie verläuft so, dass Sprecher einer Sprache, zum Beispiel Stammesangehörige und vielleicht besondere Tiere, mit denen rituelle Kommunikation hergestellt werden kann, zur Sozialwelt zählen, während alle anderen außerhalb bleiben«. 19 Vgl. zur historischen Genese dieses Naturkonzepts Merchant (1987). 20 Vgl. zu den Merkmalen dieser »naturalistischen« Ontologie Descola (2011: 259ff.).

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sinnstiftende Handlungsmodell, von dem her Weber die anderen Handlungstypen im »Abstandsmessverfahren« definiert (wertrationales, affektives und traditionales Handeln), ist nämlich das Schema des zweckrationalen Handelns – ein Handlungstypus, der wegen seiner vorausplanenden, immanent ziel- und zweckorientierten Rationalität lange Zeit als ein exklusiv menschlicher Handlungstyp angesehen wurde. Nicht zuletzt diese methodologische Privilegierung zweckrationalen Handelns führt dazu, dass bei Weber die Grenzen der Sozialwelt vorschnell mit den Grenzen einer auf menschliche Sozialbeziehungen reduzierten Sozialwelt identifiziert werden: Soziologie verkümmert so zur Humansoziologie. Im Unterschied zu Webers handlungstheoretischer Zurückhaltung gegenüber einer »Tiersoziologie« ist Theodor Geigers früher Versuch, einige begriffliche Grundpfeiler einer Mensch-Tier-Soziologie zu skizzieren, vom soziologischen Mainstream fast durchweg ignoriert worden.21 Im Lichte der gegenwärtigen Bemühungen um eine soziologische Konzeptualisierung von Mensch-TierInteraktionen erscheint Geigers Vorstoß aber insofern heuristisch, als er versucht, der sozialwissenschaftlich ambivalenten, subjektiv-objektiven Doppelnatur der Tiere nicht auszuweichen, sondern sie mikrosoziologisch in den Griff zu bekommen. Die zentrale Einsicht Geigers ist die Annahme, dass die von der älteren Sozialphänomenologie ausgearbeitete Idee der »Du-Evidenz« im Prinzip auch auf Mensch-Tier-Beziehungen übertragbar ist. In Mensch-Tier-Verhältnissen gebe es immer wieder Beispiele, in denen sich beide Seiten wechselseitig als »Du« evident sind. Dann gehen beide Seiten davon aus, dass der Andere eine mir »formal entsprechende Ichheit (Subjekt-Struktur)« aufweist, wobei hervorzuheben ist, dass dieses Wissen (und zwar nicht nur auf der tierlichen Seite!) nicht »per Analogieschluss« hergeleitet wird, sondern »in unmittelbarer erlebnishafter Evidenz bekannt« ist (Geiger 1931: 286). Für eine methodisch kontrollierte Empathie, den Versuch einer »einfühlenden Haltung«, ist demnach das Bemühen unverzichtbar, »das fremde Subjekt nicht aus uns, sondern aus ihm zu begreifen« (Geiger 1931: 306). Hier klingt ein Grundmotiv an, das in transformierter Form noch in Donna Haraways Beschreibung der »significant otherness« von Hunden anklingt (vgl. Haraway 2007: bes. 5ff., 11f.). Geiger (1931: 306) konzediert, dass wir das Verhalten in manchen

21 In fachlicher Hinsicht eher randständige soziologische Arbeiten wie die von Teutsch (1975) sind im deutschsprachigen Raum die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Symptomatisch ist z.B., dass die Arbeit Geigers selbst in Meyers kultursoziologischer Monographie (Meyer 1975), einer erweiterten Fassung seiner Habilitationsschrift, nicht erwähnt wird.

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Aspekten nicht verstehen können, dass wir häufig dem »äußeren Verhalten keine bestimmten inneren Vorgänge mit Sicherheit zuzuordnen imstande sind«. Eine wechselseitige Du-Evidenz zwischen Mensch und Tier schließt die Möglichkeit eines Missverstehens des tierischen Subjekts und seines Verhaltens also keineswegs aus. Geiger (1931: 301) erwähnt hier die »beliebten Erzählungen von Beweisen ›menschlichen Verstandes‹ bei Hunden und dergleichen. Wenn der Hund ›Verstand‹ hat, woran ich nicht zweifle, so hat er ganz gewiss einen völlig anderen Verstand als wir, d.h. die ›Gesetze der Hundelogik‹ sind nicht die unseren.« Geigers Überlegungen zur Mensch-Tier-Sozialität sind in der Folge besonders von dem Soziologen Gotthard Teutsch aufgegriffen und in seinen Entwurf einer »interspezifischen Soziologie« eingebracht worden (vgl. Teutsch 1975: besonders 16ff.).22 Geiger wie Teutsch sensibilisieren dafür, dass eine Soziologie der Mensch-Tier-Beziehung keineswegs auf verstehende Verfahren zu verzichten braucht – ohne sich damit gleich einer zweifelhaften Vermenschlichung des Tieres ausliefern zu müssen. Heute könnte eine (Wieder-)Entdeckung und interaktionstheoretisch orientierte Erforschung tierlicher Du-Evidenz ein wichtiger Schritt sein, um auch nichtsoziologische Traditionen von Tiervergessenheit zu überwinden. So hat mit Blick auf die Tiergeschichtsschreibung Mieke Roscher (2011) darauf hingewiesen, dass das methodische Primat einer Vertextlichung, das Tiere allenfalls als nonverbale bzw. »stumme«, als überdies meist auswechselbare Forschungsgegenstände angeht, kaum in der Lage ist, das Tierindividuum als einen konkreten sozialen Akteur zu erfassen. In dieser Hinsicht könnte eine Rückbesinnung auf Geigers Konzept helfen, der individuellen und körperbasierten Performativität tierlichen Verhaltens auf die Spur zu kommen23 – und darüber vielleicht auch das (soziosemiotisch) zu präziseren,24 was im schillernden Konzept der animal agency oft nur vage anklingt.

22 Einen anderen hellsichtigen Vorstoß findet man in Schelskys (1950) Versuch, die Voraussetzungen und Möglichkeiten einer direkten Erlebbarkeit der »tierischen Subjektivität« zu bestimmen. 23 In diesem Zusammenhang benennt Roscher (2011: 137) denn auch »eins der größten Hindernisse für die bisherige Tiergeschichtsschreibung« so: »Tiere werden nicht als Individuen wahrgenommen, sondern als auswechselbare Objekte.« 24 Als ein früher Versuch, am Beispiel von Mensch-Hund-Beziehungen die wechselseitigen Bedingungszusammenhänge zwischen (verbaler wie nonverbaler) Kommunikation und speziesübergreifender Interaktivität semiotisch aufzuschlüsseln, kann Fleischers (1987) Abhandlung angeführt werden. Ein Manko dieser Arbeit ist freilich, dass sie besonders den körpersemiotischen Aspekten einer tierindividuellen Performativität kaum Beachtung schenkt.

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Weitere Varianten der humansoziologischen Exklusion der Tiere finden sich vor allem in verschiedenen kommunikationstheoretischen Ansätzen. Für diese Ansätze ist insgesamt charakteristisch, dass sie Sprache (a) als ein exklusiv menschliches Alleinstellungsmerkmal unterstellen und dass sie gleichzeitig (b) annehmen, dass Sozialität im Vollsinn des Wortes nur auf der Basis sprachlicher Verständigung möglich sei. Der klassische Vertreter dieser Exklusionsvariante ist George H. Mead. Er unterscheidet den Gestenaustausch zwischen Tieren (wie z.B. Hunden) scharf vom Austausch »signifikanter Symbole«, der für die menschliche Sprache charakteristisch ist (Mead 1978: 100ff.). Die Abfolge der Gesten, die bei kämpfenden oder spielenden Hunden zu beobachten ist, zeige zwar, dass diese Tiere sehr wohl eine körperliche Geste (etwa ein Fletschen der Zähne) als Zeichen für einen bevorstehenden Angriff verstehen können: Das ließe sich schon an der Reaktion des anderen Hundes ablesen, der dann z.B. ebenfalls die Zähne fletscht, ausweicht oder die Flucht ergreift. Die Reaktion des zweiten Tieres wird von Mead in sozialbehavioristischer Manier als »Sinn« des Reizes gedeutet, als eine Geste, die die Geste des ersten Tieres (das Fletschen der Zähne) gewissermaßen beantwortet. Im Unterschied zur menschlichen Sprache, die auf vokalen Gesten beruht, setzt für Mead der Gestenaustausch zwischen Tieren keine komplexeren mentalen Aktivitäten voraus (wie z.B. Ausdrucksabsichten, planende Überlegung). Vor allem seien Tiere nicht in der Lage, ein signifikantes Symbol (d.h. ein Symbol mit einem den situativen Kontext transzendierenden Sinngehalt) zu verstehen oder zu benutzen. So seien sie nicht oder allenfalls ansatzweise (so z.B. Vögel) in der Lage, die Bedeutung ihrer Gesten auch in sich selbst auszulösen, sich selbst zu vergegenwärtigen. Für Mead entfällt bei Tieren daher die zentrale Voraussetzung einer symbolisch vermittelten Interaktion, wie sie für Menschen typisch ist: Tiere besitzen keine reflexive Intelligenz, die der Gebrauch signifikanter Symbole voraussetzt, sie benützen keine intersubjektiv sinnhaften Zeichen, die bei Ego mental dieselbe Haltung bzw. Bedeutung hervorrufen wie bei Alter. Da Mead diese symbolische Kompetenz als unverzichtbar für die Entwicklung einer reflexiven Ich-Identität unterstellt, ist es nicht überraschend, dass er den Tieren ein Selbstbewusstsein ebenso abspricht wie ein Zeitbewusstsein. Tiere haben in Meads Augen keine sozialen und kognitiven Fähigkeiten, wie sie für sprachbegabte, selbstbewusste Personen typisch sind: Vor allem könnten sie keinen sozialen Perspektivenwechsel vornehmen, sich nicht in die Rolle des Gegenüber hineinversetzen, um daran ihr Verhalten zu orientieren. Mead zufolge ist es diese Unfähigkeit zur „Übernahme der Rolle anderer“ (Mead 1978: 300), die dazu führt, dass Tiere in sozialen Situationen lediglich distanzlos, quasi me-

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chanisch reagieren. So könnten sie auch keine diesbezügliche »Verantwortung« übernehmen, was Mead dann zu der fatalen Folgerung verleitet, ihnen kurzerhand auch Rechte abzusprechen, wie sie für menschliche Personen selbstverständlich sind. Mead (1978: 226) fasst diese Position eines humansoziologischen Anthropozentrismus an einer zentralen Stelle einmal wie folgt zusammen: »Natürlich neigen wir dazu, unseren Haustieren eine Persönlichkeit zuzuschreiben; wenn wir uns aber ihre Voraussetzungen näher ansehen, dann können wir erkennen, dass es keinen Platz für dieses Hereinnehmen des gesellschaftlichen Prozesses in das Verhalten des einzelnen Tieres gibt. Es hat nicht den dafür notwendigen Mechanismus: die Sprache. […] Der Mensch hingegen identifiziert sich mit dieser gesellschaftlichen Situation. Er reagiert darauf, und obwohl seine Reaktion darauf nicht nur Zustimmung, sondern auch Kritik sein kann, setzt sie voraus, dass die durch die Situation geschaffene Verantwortung übernommen wird. Bei den Tieren gibt es keine solche Übernahme der Verantwortung. Wir schreiben den Tieren gern Persönlichkeit zu, doch gebührt sie ihnen nicht, und letztlich erkennen wir auch, dass sie keine Rechte haben.«

Wie steht es nun heute um die argumentative Plausibilität und empirische Belastbarkeit dieser dezidiert humansoziologischen Sozialitätsauffassung? Vor allem die kognitive Ethologie25 hat in den letzten Jahrzehnten Zusammenhänge aufgedeckt, die die meisten der von Mead ins Feld geführten Argumente als falsch oder stark anfechtbar erscheinen lassen. So kann die These, dass Tiere ohne menschliche Sprache generell kein Selbstbewusstsein und keine komplexen kognitiven Fähigkeiten (z.B. Verhaltensplanung, Perspektivenwechsel) ausbilden können, als falsifiziert gelten. Um hier nur wenige Punkte aufzugreifen: 1. In seinerzeit aufsehenerregenden Spiegelexperimenten konnte schon vor Jahrzehnten Gordon Gallup (z.B. Gallup 1982) aufzeigen, dass Schimpansen in der Lage sind, sich selbst als einen Gegenstand ihrer intentionalen Aufmerksamkeit zu erkennen. Sie waren fähig, ihr Spiegelbild als das ihre zu identifizieren und dadurch entsprechende selbstbezogene Aktivitäten an sich auszuführen (z.B. einen ohne den Spiegel nicht sichtbaren Farbfleck zu entfernen). In der Zwischenzeit scheint es zuverlässige Indizien dafür zu geben, dass auch andere Primaten (z.B. Orang-Utans, vereinzelt auch Gorillas26), Delphine (vgl. Marten/Psarakos

25 Vgl. als klassische Abhandlung zu diesem Forschungsfeld Griffin (1991), als Überblick Dawkins (1994). 26 So z.B. das Gorillaweibchen Koko (Hauser 2001: 136).

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1994) oder bestimmte Vögel27 solche Spiegeltests erfolgreich absolvieren können. In diesen Fällen kann wohl zu Recht angenommen werden, dass eine ursprüngliche, d.h. vor- bzw. nichtsprachlich verfasste, Reflexions- und Selbstbewusstseinsform vorliegt, ein »Wissen eines Individuums um seine Existenz, seine Identität und seine personale Kontinuität« (Sommer 1994: 116). Gallup/ Anderson/Shillito (2002: 11) urteilen über die enorme kognitions- und sozialwissenschaftliche Tragweite solcher Befunde wie folgt: »Species that fail to recognize themselves in mirrors should likewise fail to show evidence of introspectively based social strategies. Because of their inability to take into account what other individuals may know, want, or intend to do, intentional instances of deception, gratitude, grudging, sympathy, and empathy, should be absent in organisms that are not self-aware. Monkeys, for example, which fail to show self-recognition, seem incapable of taking into account mental states in other monkeys […] The same holds true for humans. People who fail to recognize themselves in mirrors are often deficient in their ability to infer what other people are thinking.«

2. Sehr zu bezweifeln ist auch Meads These, dass Tiere generell nicht in der Lage sind, signifikante bzw. sprachliche Symbole zu verstehen und zu verwenden.28 Es gibt sogar Hinweise, dass auch das Verstehen einfacher syntaktischer Zusammenhänge keine exklusiv menschliche Leistung darstellt. Pro multis dazu ein Befund aus der Primatenforschung: Duane Rumbaugh (1995: 727) äußert sich zum Sprachverständnis von Affen wie folgt: »Research data clearly indicate that nonhuman primates, and notably the great apes, are competent in several, though not all, of the essential dimensions of language and other complex pro-

27 So zeigten z.B. auch Elstern im Spiegeltext »selbstbezogenes Verhalten« (vgl. Prior/ Pollok/Güntürkün 2000). Einige Versuchstiere konnten offenbar sogar die Objektpermanenz-Aufgabe erfolgreich lösen (Nachvollziehen der Ortsveränderung eines Objekts, das zwischenzeitlich nicht zu sehen war). Die Elster zählt zur zoologischen Familie der Rabenvögel (corvidae), der auch die Gattung Corvus (Raben und Krähen) zugerechnet wird. Über die Intelligenz von (Kolk-)Raben (Corvus corax) resümierte bereits der Ornithologe Heinrich (1994: 128): »Es scheint, dass Raben ein für Vögel ungewöhnliches Bewusstsein dessen haben, was sowohl die Konsequenzen ihrer eigenen Handlungen wie die voraussehbaren Handlungen ihrer Partner und Konkurrenten betrifft.« 28 Vgl. dazu aus primatologischer Sicht den Überblick bei Paul (1998: 221ff.). In diesem Zusammenhang sind auch die zahlreichen Belege zu erwähnen, die die kulturellen Fähigkeiten von Tieren dokumentieren; vgl. dazu die Ausführungen bei de Waal (2002).

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cesses.«29 Andere Forschungen zeigen, dass zentrale Merkmale einer kognitiven Konstruktion signifikanter Symbole – wie das sozusagen hypothetische Erschließen von Wortbedeutungen aus situativen Kontexten heraus – auch bei Hunden möglich sind.30 3. Ein weiterer Kritikpunkt hängt damit eng zusammen: Er betrifft Meads Annahme, dass Tiere nicht zu einem sozialen Perspektivenwechsel fähig sind. Befunde aus der kognitiven Ethologie deuten freilich darauf hin, dass ein zweckgerichtetes und die mentalen Zustand einer Beobachterin oder eines Beobachters in Rechnung stellendes Täuschen oder Belügen anderer Lebewesen keine menschliche Besonderheit ist, sondern auch bei höher organisierten Tieren (wie Primaten, Hunden oder Rabenvögeln) vorkommt.31 Ein Beispiel: Ein Tier realisiert einen bestimmen Zweck (z.B. Futter zu verstecken) dadurch, dass es (a) eine mentale Vorstellung davon entwickelt, dass und wie sein eigenes Verhalten durch die Beobachtung eines Anderen mental registriert wird. Es nimmt dabei (b) außerdem an, diese Fremdbeobachtung durch ein Gegenüber sei an bestimmte »Interessen« und Verhaltensoptionen des Anderen gekoppelt (z.B. an ein ähnlich er-

29 Mit Blick auf das passive Sprachverständnis meint Rumbaugh (1995: 722), »that apes can come to understand even the syntax of human speech, at a level that compares favorably with that of a 2-1/2 year old child – if they are reared from shortly after birth in a language-structured environment«. Vgl. zu den diesbezüglichen »protosyntaktischen Kompetenzen« auch die Forschungen, die Savage-Rumbaugh und Lewin (Savage-Rumbaugh/Lewin 1995: 190ff.) mit dem Bonobo Kanzi durchgeführt haben. 30 So hat vor einigen Jahren eine Forschungsgruppe des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie durch Experimente mit dem Border Collie Rico zeigen können, dass dieses Tier Schlussfolgerungen ziehen konnte, wie sie ähnlich bei Kleinkindern angenommen werden: Rico praktizierte fast mapping, d.h. er konnte nach dem Ausschlussprinzip zutreffende »Hypothesen« darüber entwickeln, wie ihm unbekannte menschliche Worte bestimmten – ihm ebenfalls unbekannten – Objekten zuzuordnen waren (vgl. dazu Kaminski/Call/Fischer 2004). Haraway (2008: 372) kommentiert Ricos fast mapping so: »And this news may have been more novel to scientists than to many agility trainers. Cayenne [Haraways Hündin, RW] is not exceptional, and I have evidence that she reliably knows about 150 until 250 words or phrases in a great variety of circumstances«. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass bereits Lorenz (1994: 97f.) vermutete, dass Hunde nicht nur einzelne Worte erfassen, sondern auch über ein einfaches (passives) Satzverständnis verfügen könnten. 31 Vgl. dazu die grundlegende Abhandlung von Sommer (1994: besonders 74ff., 191ff.), ergänzend Paul (1998: besonders 214f., 239f.).

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lebtes und motiviertes »Interesse« am Futter), die es dann (c) durch gezielt ausgewählte eigene Ausdrucks- und Verhaltensweisen zu durchkreuzen versucht (z.B. dadurch, dass es das Verstecken des Futters simuliert oder dieses erst dann versteckt, wenn keine Fremdbeobachtung mehr angenommen wird). Im Gegensatz zu den nach wie vor dominierenden Spielarten humansoziologischer Tiervergessenheit gibt es in der Soziologie seit einigen Jahrzehnten aber auch »heterodoxe«, gegenläufige Theoriebildungs- und Forschungstendenzen, Arbeiten, die dazu beitragen, die Mensch-Tier-Sozialität als ein neues soziologisches Themenfeld zu etablieren (vgl. als knappen Überblick Wiedenmann 2014). Viele dieser Neuorientierungen favorisieren (a) eine interdisziplinär offene Erforschung humanimalischer Sozialität und zudem (b) eine Forschungsorientierung, die auf der – mehr oder minder stark ausgeprägten – Implementierung tierethischer Kriterien basiert. Im Lichte dieser beiden Kriterien ist es plausibel, diese neuen, »posthumansoziologischen« Ansätze dem Feld der HAS zuzuordnen. Diese Ansätze erproben auf verschiedenen, oft forschungspraktisch angeregten Wegen eine mehr oder weniger konsequente Inklusion der Tiere in den soziologischen Gegenstandsbereich, und sie versuchen, dieser Herausforderung auf methodologisch und sozialtheoretisch unterschiedliche Weise gerecht zu werden. Gestaffelt nach den analytischen Sozialebenen Makro, Meso und Mikro können derartige Versuche, die humansoziologische Tiervergessenheit zu überwinden, grob in drei Gruppen unterteilt werden. 1. Zunächst sind soziologische Ansätze zur Mensch-Tier-Sozialität zu erwähnen, die die Makroebene der Gesellschaft nicht nur rhetorisch, sondern auch in nennenswerter Weise systematisch-analytisch einbeziehen. Solche gesellschaftstheoretischen Bezüge sind historisch-soziologisch hergestellt worden, etwa durch Rekurs auf Norbert Elias’ Zivilisationstheorie (Lindemann 2001, Wiedenmann 1996; Tester 199232). Auch sozialtheoretische Bezugskonzepte wie das Konzept der reflexiven Modernisierung (Franklin 1999) oder der vor allem von Zygmunt Bauman (1992) ausgearbeitete ambivalenztheoretische Ansatz sind hier zu er-

32 Zu Testers Arbeit ist freilich kritisch anzumerken, dass sein diskursanalytischer Sozialkonstruktivismus insofern humansoziologisch befangen bleibt, als er gerade die sozialen Implikationen der tierlichen Subjektivität und im Gefolge damit auch das punctum saliens der Tierrechtsfrage verfehlt (vgl. Wiedenmann 1993: 77f.; Martell 1994: 132f., 172ff.). »Yet in the determination to lay out the functions of animal rights for humans […] Tester sociologizes away the concern for animals in its content«, so das zutreffende Resümee von Martell (1994: 132).

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wähnen (vgl. z.B. Wiedenmann 2002: 15-39). Ich selbst habe vor einigen Jahren versucht, einige Leitmotive einer gesellschaftstheoretisch inspirierten Analyse der Mensch-Tier-Sozialität(en) zusammenzuführen (vgl. Wiedenmann 2009). Es handelt sich dabei um einen systemtheoretisch angelegten Ansatz, der den sozialen Mehrebenencharakter humanimalischer Sozialverhältnisse fokussiert und den Wandel dieser Sozialverhältnisse auf die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse bezieht. Es ist ein Leitgedanke dieses Ansatzes, dass langfristige Veränderungen der Mensch-Tier-Sozialverhältnisse sowohl auf der Mikroebene (der unmittelbaren humanimalischen Interaktionen) wie auch auf der Mesoebene (Organisationen, Netzwerke) erst dann hinreichend verständlich werden, wenn sie in den Kontexten der horizontalen und vertikalen gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse analysiert werden. Auch die jeweiligen Moralen humanimalischer Sozialverhältnisse sind auf die jeweils wirksamen (a) horizontalen und (b) vertikalen Bedingungszusammenhänge rückzubeziehen. Das sind einmal (a) die funktionalen Bedingungskontexte spezifischer gesellschaftlicher Teilbereiche (wie Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Politik, familiale/partnerschaftliche Sozialbeziehungen usw.), zum anderen (b) die jeweils vorherrschenden Muster sozialer Ungleichheit (z.B. in Form von Klassen, Schichten, Milieus) (vgl. auch Wiedenmann 2013). Der differenzierungstheoretische Ansatz eröffnet vielfältige Möglichkeiten der empirischen Erforschung humanimalischer Sozialverhältnisse, z.B. können damit auch wissenssoziologische Themen (Wiedenmann 1997) oder sozioonomastische Spezialprobleme untersucht werden (vgl. etwa zum Wandel von Tiereigennamen Wiedenmann 2015). 2. Nicht wenige soziologische und ethnosoziologische Arbeiten zu Mensch-TierBeziehungen haben ihren thematischen und/oder methodischen Schwerpunkt in Bereichen der sozialen Mesoebene: Facetten humanimalischer Sozialität werden hier meist in begrenzten Sozialsegmenten gesellschaftlicher Teilbereiche und/oder im Rahmen spezifischer Organisationskontexte oder Netzwerke behandelt. Diese Forschungen sensibilisieren dafür, dass funktional differenzierte, moderne Gesellschaften eine enorme Bandbreite divergierender und widersprüchlich normierter Mensch-Tier-Beziehungsmuster aufweisen. Als Beispiele für solche Arbeiten lassen sich land- und agrarsoziologischen Forschungen anführen (z.B. Inhetveen 2001; Jürgens 2003; 2009), aber auch Arbeiten, die MenschTier-Verhältnisse in Forschungslabors (z.B. Lynch 1988), in Zoos (Acampora 2005), in den Medien (z.B. Kalof/Fitzgerald/Baralt 2004), in Schlachthäusern (Vialles 1994) oder im Rahmen familialer Lebensformen (Alger/Alger 1997; Anderson 2003) untersuchen. Auch mehrere Arbeiten über Tierschutzinitiativen

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oder die Tierrechtsbewegung (vgl. als Überblick Munro 2012) fokussieren Fragen, die im Wesentlichen die Mesoebene humanimalischer Sozialität betreffen. 3. Schließlich sind die für andere HAS-Disziplinen wohl besonders anschlussfähigen mikrosoziologischen Arbeiten zur Mensch-Tier-Sozialität anzuführen. Hier haben sich vor allem Arbeiten aus dem Umfeld des symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie und der Sozialphänomenologie hervorgetan. Im deutschsprachigen Bereich ist diese Entwicklung z.B. durch eine konversationsanalytische Untersuchung über »Haustiere als kommunikative Ressourcen« (Bergmann 1988) vorbereitet worden. Als wegweisende Studien haben sich dann Arbeiten herauskristallisiert, die Tierindividuen stärker oder ganz explizit als Interaktionspartizipanten in den Blick nehmen. Es handelt sich hier um Arbeiten, die die situativen Besonderheiten unmittelbarer Mensch-Tier-Begegnungen thematisieren, besonders die Dimension der interkorporalen, »zwischenleiblichen« Kommunikation. Solche Arbeiten loten z.B. aus, was Analysekategorien wie self/Selbst (Irvine 2007; Myers 2003), Intersubjektivität (Taylor 2007) oder »kinästhetische Empathie« (Shapiro 1990) zu einem vertieften Verständnis humanimalischer Interaktionen beisteuern können. Anregende Arbeiten zu diesem Problemkreis sind schon früh von Clinton Sanders und Arnold Arluke vorgelegt worden. Beide entwickelten ein Konzept interspezifischer Interaktion, das sich den nonverbalen Aspekten intersubjektiver Situationsdefinition und Perspektivenübernahme zuwendet und so einen Interaktionismus jenseits der Mead’schen Humansoziologie in Aussicht stellt.33 Anvisiert wird hier ein Interaktionismus, der sich von einer allzu einseitigen, d.h. sprachzentrierten Auffassung mentaler Leistungen lossagt: »In contrast, examination of animal-human interactions leads to a far more social perspective on mind; it is reconceived as a product of interaction in which intimates are actively involved in contextualizing, identifying, understanding, and responding to the defined subjective experience of the nonverbal other.« (Sanders/Arluke 1993: 384; alle Herv. RW).

Der Zugang zur tierlichen Sozialität kann hier z.B. über die soziologische Kategorie des Fremden34 hergestellt werden, der interpretative Zugang rekurriert dann auf Grundannahmen, die »qualitative reseachers make when they investigate other alien – though knowable – minds and worlds« (Sanders/Arluke

33 Weitere exemplarische Arbeiten sind hier Wieder (1980), Myers (2003), Alger/Alger (1997) und Sanders (1999). 34 Vgl. zum Thema »tierliche Fremdheit« auch Wiedenmann (1997).

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1993: 384). Sanders und Arluke gehen in diesem Zusammenhang wohl zu Recht davon aus, dass die humanimalische Interaktionsforschung auch innovative Rückwirkungen für die soziologische Methodologie in Aussicht stellt (z.B. hinsichtlich der teilnehmenden Beobachtung) – und langfristig wohl auch für die soziologische Theoriebildung, so darf man hinzufügen. Abschließend noch ein Wort zu einem soziologischen Forschungsansatz, der seit einigen Jahren nicht nur im deutschsprachigen Raum Aufmerksamkeit beansprucht, die von Bruno Latour mitentwickelte Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Dieser Ansatz versucht die herkömmliche Mikro-Makro-Unterscheidung sozialer Ebenen zu unterlaufen und Mensch-Tier-Beziehungsmuster als Verflechtungen von menschlichen und nichtmenschlichen Akteur_innen – als Kollektive – zu konzipieren.35 Ähnlich wie Donna Haraway diagnostiziert Latour an der Moderne das Ineinandergreifen zweier Prozesse: (a) eine auf »reinliche« Abgrenzung bedachte Dichotomisierungsarbeit (Reinigungspraktiken, die Kultur/Gesellschaft und Natur trennen) und (b) eine damit korrespondierende Produktion hybrider Mischwesen, die als solche aber unthematisch bleibt und das perpetuiert, was die moderne Trennung von Menschheit und Nichtmenschheit (»Dinge oder Objekte oder Tiere«, Latour 1998: 22) kennzeichnet: die inhärente Asymmetrie dieses Dualismus und die mannigfachen asymmetrischen Verteilungen zwischen Dingen, Objekten und Lebewesen, die damit zwangsläufig einhergehen. Latour geht es um eine soziologische Rehabilitierung der Objekte, genauer: um die soziale agency nichtmenschlicher Wesen: Von daher ist es nur plausibel, wenn er fordert, die einseitige Fixierung auf eine humanzentrierte Intersubjektivität, die den soziologischen Mainstream kennzeichnet, zu überwinden – und zwar durch eine systematische Einbeziehung der »interobjektiven« Übersetzungs- und Vermittlungsprozesse (Latour 2001: 237ff.), durch die die unterschiedlichen nichtmenschlichen Wesen (die unbelebten Objekte, die technischen Artefakte, die Pflanzen, aber auch Tiere wie Jakobsmuscheln oder Hunde) in weit verzweigten Aktionsnetzwerken miteinander verknüpft sind. Den Begriff der »Interobjektivität« platziert Latour dabei wie eine anthropologische Konstante: Er soll verhindern, dass wir Sozialität nach dem Modell einer Pavianhorde missverstehen. Die Primatensoziologie erscheint in dieser Sicht als ein »Paradies des Interaktionismus« (Latour 2001: 237), sie erforsche eine Sozialwelt, in der

35 Mit Blick auf die HAS sind hier z.B. von Latour inspirierte Beiträge im Sammelband von Taylor/Signal (2011) zu nennen, aus dem geschichtswissenschaftlichen Bereich z.B. Eitler/Möhring (2008).

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die für die menschliche Gesellschaft typischen interobjektiven Vermittlungen und Übersetzungen keinen Platz haben.36 Für die soziologische Konzeptualisierung humanimalischer Sozialität könnte Latours ANT-Ansatz langfristig zwiespältige Effekte zeitigen: Auf der einen Seite ist kaum von der Hand zu weisen, dass man durch die systematische Einbeziehung nichtmenschlicher Akteure besser rekonstruieren kann, was sich in Kollektiven tut und verändert, wenn tierliche Akteure auf die »Skripte« (Aktionsprogramme), Spielräume und Delegationen von Aktionsoptionen Einfluss nehmen.37 In dieser Hinsicht könnte die ANT einen wichtigen Beitrag zur Überwindung soziologischer Tiervergessenheit leisten. Auf der anderen Seite ist aber nicht zu übersehen, dass gerade die spezifischen Aktions- und Interaktionskompetenzen tierlicher Akteure in der ANT (bislang) oft allzu schemenhaft bleiben bzw. vernachlässigt werden. Das liegt wohl (auch) daran, dass die von Latour als quasi anthropologische Konstante behandelte Interobjektivität suggeriert, dass genuine Aspekte humanimalischer Interaktion allenfalls in technikfernen, naturhaft konnotierten Sozialsettings wie dem »Pavianparadies«38 relevant sind. Abgesehen davon, dass sich hier durch die Hintertür der (konzeptionell als obsolet deklarierte) Natur-Kultur-Dualismus zurückmeldet, verweist dieser Ansatz auf ein grundlegendes Problem der ANT: Die Entgrenzung des Sozialen wird durch ein »reduziertes Verständnis von Handlungsträgerschaft« (Keller/Lau 2008: 325) erkauft. Daraus resultiert ein Konzept extensiver Machtdispersion, das gerade in seinen humanimalischen Aspekten problematisch erscheint. Denn die vertikalen, massive Ungleichheiten re-

36 Im Unterschied zu Menschen, die durch allerlei Unterteilungen (wie Wände, Wandschirme, Postschalter, Schneisen usw.) ihre Interaktionen auch materiell rahmen/abgrenzen, sind bei den Pavianen »alle Akteure […] kopräsent und in Face-to-faceHandlungen involviert, deren Dynamik kontinuierlich von der Reaktion der anderen abhängig ist« (Latour 2001: 237). 37 Um hier ein Beispiel Latours (2001: 249) zu variieren: Wenn die Aufgabe, eine Schafherde zusammenzuhalten, von Hunden an einen Zaun delegiert wird (oder vice versa), kann man den Modifikationen nachspüren, die dann in den Interaktionen Schäfer-Hunde, Hunde-Schafe und Schäfer-Schafe auftreten – und vielleicht auch in den Interaktionen Schafe-Wölfe (falls in der betreffenden Gegend Wölfe vorkommen). 38 Abgesehen davon ist es sehr fraglich, inwieweit das Fehlen interobjektiver Bezüge und Verknüpfungen für Wildtiere überhaupt anzunehmen bzw. zu generalisieren ist. Man denke etwa an die handfesten, materiell vermittelten »Rahmungspraktiken«, wie sie bei den sogenannten staatenbildenden Insekten oder z.B. auch bei einem Nagetier wie dem Biber (Biberburgen, Biberdämme) gang und gäbe sind.

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produzierenden Macht- und Ausbeutungsbeziehungen zwischen Menschen und Tieren werden durch diese »Macht-Entgrenzung« (Keller/Lau 2008: 329) eher kaschiert als aufgedeckt.39 Vor diesem Hintergrund kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Latours »symmetrische Anthropologie« die strukturellen Asymmetrien humanimalischer Sozialität leicht aus den Augen verliert – und dass sie insofern den Sackgassen soziologischer Tiervergessenheit nicht wirklich entgeht.

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39 Auf diese Schwäche der ANT machen ganz dezidiert Keller/Lau (2008: 329) aufmerksam: »Aus dem Blick geraten die Ausbeutung der Natur ebenso wie die Herrschaft von Menschen über Menschen, Tiere, Artefakte oder der Ausschluss von Individuen aus soziotechnischen Netzwerken.«

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Theologie Ambivalenzen einer Beziehung – und ein Plädoyer für eine antispeziesistische Theologie1 J ULIA E VA W ANNENMACHER »Winde wiegen die mir umgetane Schlange, innen in des Baums Gerüst. Sieh, ein Lächeln, spitz durchzückt vom Zahne und beleuchtet vom Gelüst, wagt sich in den Garten wie zur Jagd, und aus meinem Dreieck von Smaragd schlüpft die Doppelzunge, fädig, fein ... Ich bin Tier, doch keins ist scharf wie ich, und mein Gift, obzwar gemein, läßt des Schierlings Weisheit hinter sich …«

RAINER MARIA RILKE, ENTWURF EINER SCHLANGE2

E XPOSITIO : T HEOLOGIE

UND

H UMAN -ANIMAL S TUDIES ?

»Ich träumte davon, eine unerhörte Grammatik und eine unerhörte Musik zu erfinden, um eine Szene zu machen, die weder menschlich noch göttlich noch tierlich wäre, um all die

1

Der Kürze und leichteren Lesbarkeit halber ist in diesem Text auch von ›Mensch‹ und ›Tier‹ die Rede, statt ausschließlich von menschlichen und nichtmenschlichen Tieren, wie es allerdings der Sache nach zutreffender wäre. – Ich danke Prof. Dr. Jean-Claude Wolf für kritische Lektüre und hilfreiche Hinweise.

2

Valery (1997: 377f.)

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Diskurse über das besagte Tier, all die anthropo-theomorphen oder anthropo-theozentrischen Logiken oder Axiomatiken, die Philosophie, die Religion, die Politik, das Recht, die Ethik anzuprangern, um in ihnen, just im menschlichen Sinne des Wortes, animalische Strategien zu erkennen, Strategeme, Listen und Kriegsmaschinen, Verteidigungs- oder Angriffsmanöver, Operationen des Jagens, Beutemachens oder Verführens, ja der Auslöschung in einem unerbittlichen Kampf zwischen vorausgesetzten Arten. Als ob ich, in aller Unschuld, von einem Tier träumte, das dem Tier nichts Böses wollen würde.« (Derrida 2010: 101)

Wir alle sind Tiere, die Grenze zwischen uns und ihnen ist nicht nur fließend, sie ist inexistent – spätestens seit Jacques Derridas nachgelassenem Text Das Tier, das ich also bin ist die anthropologische Differenz, die in der Geschichte der Neuzeit von Charles Darwin grundsätzlich relativiert wurde und von der Biologie bis heute täglich weiter minimiert wird, nun auch philosophisch eine Nonentity geworden. Aber was hat die Theologie zur Frage nach dem Tier, oder neuerdings auf dem Feld der Human-Animal Studies beizutragen? Am Ende des 20. Jahrhunderts gaben zwei Theologen darauf ganz unterschiedliche Antworten. Einer sprach der gegenwärtigen Theologie und ihren Vertreter_innen von Grund auf jede Voraussetzung dazu ab: »Alle christliche Theologie scheint noch heute notwendig auf der Voraussetzung zu beruhen, daß ausgerechnet wir, die Vertreter der Spezies homo sapiens sapiens, die unüberbietbare Kumulation aller Entfaltungsmöglichkeiten der Evolution darstellen; der Grund: nur in der Gestalt dieser Spezies ist der Christus erschienen. Dieselben Theologen, die aus der Auferstehung Christi die großartigsten Visionen über das Schicksal einer kommenden Menschheit herauslesen, scheinen nicht zu merken, daß sie bei all ihren Wunschphantasien, die sie ›Verheißungen‹ nennen und mit ›Glauben‹ verwechseln, im Grunde völlig statisch das jetzige Bild der Evolution festschreiben. Wer werden wir Menschen, sollten wir uns nicht selber den Garaus bereiten, in zwei Millionen Jahren sein? – Bei dem heutigen Tempo geschichtlicher Entwicklung eine unbeantwortbare, aber absolut notwendige Frage! Sicher ist nur, dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Evolution den Tieren noch weit näher stehen als der Ahnung des Menschlichen, die wir bereits in uns tragen. ›Das missing link zwischen Affe und Mensch sind wir selber‹, meinte zu Recht Konrad Lorenz. Die eigentliche Menschwerdung hat kaum erst begonnen [...] Es ist nicht anders möglich: der Glaube an die Unsterblichkeit des Menschen müsste uns Theologen zu der Bereitschaft nötigen, ins Unendliche dazuzulernen und die dogmatischen Grundsätze des Christentums zu erweitern.« (Drewermann 1990: 39-41)

T HEOLOGIE

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So zeichnet Eugen Drewermann das Bild einer in Selbstherrlichkeit erstarrten Disziplin, der ihre Lernfähigkeit, die das eigentliche Kennzeichen eines idealen Menschseins ist, abhandengekommen ist. Gleichzeitig schreibt er selbst traditionelle Kategorien von Mensch und Tier fest, wobei das Tier als Ausgangspunkt einer Entwicklung vorgestellt wird, während am Ziel und Ende des Prozesses ein idealer Mensch steht, von dem die gegenwärtige Menschheit noch weit entfernt ist. Das Spiegelbild wird zum Ideal, das Tier zum Zerrbild des Menschen; in seiner Kritik am Anthropozentrismus beschwört Drewermann gleichzeitig den idealen Menschen oder den Menschen, so wie er sein könnte, als Nonplusultra irdischer Existenz – als Anthropozentrismus through the backdoor; gleichzeitig, in seiner Darstellung des Status quo, ein nur allzu getreues Abbild der Verhältnisse, oder des prekären Verhältnisses, in das menschliche Hybris den vermeintlich klügsten aller Primaten gebracht hat. Ein anderer zeitgenössischer Theologe meinte im Gegenteil, dass die Theologie zur Frage nach dem Tier sehr viel beizutragen habe oder sogar unabdingbar sei, indem nämlich die Tierrechtsbewegung ohne die Theologie Gefahr laufe, in einer philosophischen Zwangsjacke zu enden, die Moralismus und Selbstgerechtigkeit heißt. Moralische Vorschriften ohne das grundlegende Bewusstsein der unbedingten eigenen Fehlbarkeit führen unabwendbar in die Sackgasse eines moralischen Triumphalismus, meint Andrew Linzey,3 und er rät: »When we reach strongly held principles that are implicitly critical of the actions of our fellow humans, then we always need to look at ourselves and take stock.« (Linzey 1994: 112) Denn, gibt Linzey zu bedenken, wir alle profitieren in so vielfältiger Weise von Missbrauch und Ausbeutung der Tiere, dass niemand von uns frei von Schuld ist, einfach indem wir konsumieren oder auch nur Steuern zahlen. Aus Sicht der Theologie wiederum ist zu fragen, warum sich Theologie mit Human-Animal Studies beschäftigen sollte? Das ist zunächst eine Frage an die theologische Ethik. Geht es bei ethischen Fragen nicht auch ohne Theologie? Karl Barth erklärte zwar, dass Ethik »nicht von Haus und nicht selbstverständlich gerade theologische Ethik« sein müsse (Barth 1973: 30). Für ihn ist Ethik »die wissenschaftliche Selbstprüfung der christlichen Kirche hinsichtlich der Frage, wie sie in ihrem Tun und in ihrer Ordnung dem Inhalt der eigentümlichen Rede von Gott entsprechen kann« (Ficker Stähelin 2006: 135). Theologie geht

3

»Theology provides a way in which animal rights theory can be released from its current philosophical straightjacket. Perhaps it is not going too far to say that the contemporary animal rights movement needs theology to help save itself from its own degeneration into moralism and self-righteousness, the second of which in particular strikes me as very serious indeed.« Linzey (1994: ix)

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also nicht ohne Ethik. Aber geht es nicht bei der Theologie und damit auch bei der theologischen Ethik zuerst und vor allem oder gar einzig und allein um den Menschen – und nicht um das Tier? Wer diese Frage erwägt, muss in Betracht ziehen, dass der Mensch schlichtweg nicht umhin kann, mit Tieren Umgang zu haben, ob tot oder lebendig. Ohne Zweifel: Die Frage nach dem rechten Umgang mit dem Tier ist gegenwärtig aktueller denn je. Wenn Theologie, wie Karl Barth meinte, von der Frage angetrieben wird »Was sollen wir tun«, dann kann Theologie gar nicht umhin, sich der Frage nach dem Verhältnis zwischen Mensch und Tier zu stellen (Clough 2012: x): »Lieber soll [die christliche Gemeinde] dreimal zu viel für die Schwachen eintreten, als einmal zu wenig, lieber unangenehm laut ihre Stimme erheben, wo Recht und Freiheit gefährdet sind, als angenehm leise!« (Barth 1945: 329) Theologie verfehlte ihre Aufgabe, entzöge sie sich den Fragen und Anforderungen der Human-Animal Studies und der Aufforderung, ihren Beitrag auf diesem Gebiete zu leisten. Dabei gibt es nach Barth weder zeitlose Wahrheiten noch ein festgeschriebenes Programm für eine theologische Ethik; vielmehr geht es um das richtige Handeln im Hier und Jetzt, für das der Theologe »in der […] konkreten Situation neue und mögliche Konsequenzen des Evangeliums« fordert (Ficker Stähelin 2006: 144).

T IERE

ALS

S UBJEKTE

UND

O BJEKTE

DER

T HEOLOGIE

Ambivalenzen ... die Beziehung zwischen Gott und dem Tier, oder dem menschlichen Denken von Gott und demselben sind voll davon. Meine Überlegungen werden sich auf das letztere Paar beschränken: Tiere als Objekte der Theologie, nicht als Subjekte. Das heißt, sie werden vorsichtshalber nicht von der Beziehung zwischen Gott und dem Tier handeln, sondern es den beiden selbst überlassen, ob es sie gibt – die Beziehung, natürlich. Allerdings gibt es in der Theologie seit langem auch Versuche, von Tieren als Subjekten der Theologie zu sprechen, von Tieren also, die in irgendeiner Form Religion ausüben. Tiere als religionsausübende Subjekte sind dabei zum ersten Mal nicht mehr nur Objekt einer wissenschaftlichen Disziplin, die sie erforschend und beschreibend vergegenständlicht. Indem nichtmenschliche Tiere selbst Religion praktizieren, werden sie zu Subjekten ihres eigenen Handelns. Die Möglichkeit, Tiere nicht mehr als nur als Forschungsobjekt, sondern als handelnde Subjekte in der Theologie zu sehen, demonstrierte bereits in den

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1970er Jahren eindrucksvoll der britische Theologe Stephen Clark.4 Er stellte sie damit gleichauf mit dem Menschen und zog sogar die Möglichkeit in Betracht, dass das Praktizieren von Religion den Tieren im Vergleich mit dem Menschen sogar wesentlich näher liegen könne als dem Menschen, und nichtmenschliche Tiere möglicherweise nicht nur ebenso religiös sind wie Menschen, sondern sogar in höherem Maß.5 Die Geschichte von nichtmenschlichen Tieren als Subjekten der Theologie ist vermutlich so alt wie die Geschichte dieser Tiere selbst. Wir beginnen nur gerade erst, sie in dieser Rolle in den Blick zu nehmen, ja deren Existenz zu erahnen, und sollten uns dabei hüten, erneut in der Falle der Verdinglichung zu tappen und Tier und Mensch in den je alten Rollen als Objekt und Subjekt jeder wissenschaftlichen Disziplin festzuhalten. Das würde das zarte Pflänzchen einer wahrhaft antispeziesistischen Theologie im Keim ersticken, wo doch die Schwierigkeit der Nicht-Verdinglichung, wenn menschliche von und nicht mit nichtmenschlichen Tieren reden, mit den gegenwärtigen Mitteln der Forschung und Kommunikation kaum zu überwinden ist. Doch während die Biologie nur beschreibt, dass bei verschiedenen nichtmenschlichen Tieren Verhaltensweisen beobachtet wurden, die in menschlichen Kulturen mit Religionsausübung gleichgesetzt werden,6 wie Totengedenken, Altruismus etc. (wobei zuerst zu klären wäre, welches Verhalten als Religionsausübung angesehen werden kann und welches nicht, mithin also die Frage nach einer tragfähigen Definition von Religion),7 geht die Theologie mit Stephen Clark

4

Eine der alttestamentlichen Schlüsselstellen, die die Schöpfungsunmittelbarkeit und Gottesnähe der nichtmenschlichen Tiere betont, ist außer Bileams Eselin im vierten Buch Mose auch diese im Buch Hiob: »Frage doch das Vieh, das wird dich‫ތ‬s lehren, und die Vögel unter dem Himmel, die werden dir‫ތ‬s sagen; oder rede mit der Erde, die wird dich‫ތ‬s lehren, und die Fische im Meer werden dir‫ތ‬s erzählen. Wer erkennte nicht an dem allem, daß des HERRN Hand solches gemacht hat?« (Hi. 12:7-9)

5

Zuletzt etwa in Clark 2013: 15-34.

6

Vgl. etwa dieses Interview mit Jane Goodall: http://www.zeit.de/2011/34/ForschungJane-Goodall/seite-3 (abgerufen am 30.08.2014).

7

Tatsächlich war es mit Michel de Montaigne ein Philosoph, der lange vor der modernen Biologie solche Verhaltensweisen beschrieb, wobei er sich allerdings auf Beobachtungen des antiken Philosophen Plutarch bezieht: »Ja, wir können auch sagen, daß die Elephanten etwas von einer Religion haben, weil sie, wenn sie sich erst verschiedentlich gewaschen und gereiniget haben, den Rüssel, wie wir die Arme empor heben, die aufgehende Sonne steif ansehen, und gewisse Stunden des Tages gleichsam nachdenkend und betrachtend stehen. Dieses thun sie aus eigenem Triebe, ohne Anweisung, und ungeheissen. Bemerken wir nun gleich bey den andern Thieren nichts

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und anderen bereits einen Schritt weiter und stellt fest, dass nicht nur nichtmenschlichen Tieren ebenso wie menschlichen die Fähigkeit zur Ausübung von Religion zumindest grundsätzlich zugesprochen werden muss, sondern dass diese Religionsausübung nichtmenschlicher Tiere möglicherweise nicht weniger vollkommen oder sogar in vollkommenerer Weise geschieht als es menschlichen Individuen möglich ist. So ist ironischerweise gerade die Theologie von allen wissenschaftlichen Disziplinen diejenige, die die anthropologische Differenz am nachhaltigsten aus den Angeln hebt. Denn nachdem alle vermeintlichen oder tatsächlichen Unterschiede, die wir zwischen nichtmenschlichen Tieren und uns zu konstatieren meinten, von Werkzeuggebrauch bis hin zu verfeinerten Kulturtechniken, Lachen, Altruismus oder der Fähigkeit zur Sprache als Unterscheidungsmerkmale weggefallen sind, blieb uns nur noch dieses eine Alleinstellungsmerkmal: Nur Menschen haben Religion, glauben an ein Jenseits. Biolog_innen haben nun im 21. Jahrhundert erneut erkannt, was Plutarch und Montaigne in den Jahrtausenden vor ihnen bereits beschrieben haben: Soweit wir Menschen es beurteilen können, müssen wir es anhand unserer Beobachtungen für möglich halten, dass auch Tiere Religion ausüben. Aber indem die Theologie nichtmenschlichen Tieren ermöglicht, ihrerseits zu Subjekten zu werden, die selbst Religion ausüben, statt sie nur nach wie vor als Gegenstand der Betrachtung zu verobjektivieren, hebt sie diese letzte Grenze auf, die uns noch sicher schien, und bereitet zugleich der Objektivierung der Tiere ein Ende. Nur in der Theologie werden nichtmenschliche Tiere der Möglichkeit nach vom Gegenstand wissenschaftlichen Interesses zum ausübenden Subjekt. Das muss ihr die Biologie, oder jede andere Naturwissenschaft, erst einmal nachmachen. Doch letzten Endes wird gerade an diesem Punkt eine Grenze deutlich, über die wir nicht hinauskönnen: die unseres Redens über Tiere, das auf absehbare Zeit nicht durch das theologische Reden der Tiere oder unseres Redens mit den Tieren ersetzt werden kann. Der Verobjektivierung ist noch lange kein Ende.8

dergleichen: so können wir doch deswegen nicht gewiß sagen, daß sie ohne Religion sind, und nicht über das Verborgene urtheilen.« Montaigne (1992: 65) Montaigne beschreibt auch Verhaltensweisen bei Ameisen, die sich als Lösegeldzahlung und Totenritual für den Leichnam einer der ihren beschreiben lassen (ebd.: 65 f.). 8

Allerdings gibt es bereits erste Ansätze dazu, wobei jeweils die nichtmenschlichen Tiere es sind, die die menschliche Sprache erlernt haben und sich ihrer bedienen, nicht aber umgekehrt, und so nichtmenschliche Tiere ihren menschlichen Gesprächspartner_innen in deren Sprache ihre Vorstellungen von Tod und Jenseits mitteilen können. Ein Beispiel ist die Goriallafrau Koko, die wie etliche andere Menschenaffen

T HEOLOGIE

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Kann daher je von der Überwindung des Speziesismus gesprochen werden – in der Theologie, oder überhaupt? Oder genauer: Ist nichtspeziesistisches Denken überhaupt möglich?

D IE G RENZEN

DES

ANTISPEZIESISMUS

Wenn Naturwissenschaftler_innen wähnen, Geistes- und Kulturwissenschaften seien aufgrund ihrer mangelnden Selbstreflexion bei starker Selbstreflexivität ihrer Disziplin nicht in der Lage, den Speziesismus zu überwinden, übersehen sie, dass nur der oder die in der Lage ist, eine falsche oder problematische Haltung zu überwinden, der oder die die Problematik erkennt und sich ihrer bewusst wird. Um Speziesismus zu überwinden, muss klar sein, worum es sich dabei überhaupt handelt, erst dann kann nach einer Lösung des Problems gesucht werden. Im Grunde ist das Problem bereits einige Jahrhunderte vor Richard Ryder beschrieben worden, der 1970 das Wort Speziesismus prägte9 – nämlich von Michel de Montaigne (1533-1592): »Wir müssen beobachten, daß jedem Dinge nichts lieber und nichts werther ist, als sein Wesen; (der Löwe, der Adler, der Delphin, schätzen nichts höher als ihre Art) und daß jedes die Eigenschaften aller andern Dinge mit seinen eigenen vergleicht. Wir können diese zwar ausdehnen und zusammen ziehen: allein dieses ist es auch alles. Ohne diese Vergleichung und diesen Grundsatz, kann unsere Einbildung nicht fort, und keine andere errathen; es ist ihr unmöglich, darüber hinaus und weiter zu gehen. Daher entspringen die alten Schlüsse: ›Unter allen Gestalten ist die menschliche die schönste. Also hat Gott diese Gestalt. Ohne Tugend kann keiner glücklich seyn. Die Tugend aber kann nicht ohne Vernunft seyn; und die Vernunft kann nicht anders als in menschlicher Gestalt wohnen. Also ist Gott mit einer menschlichen Gestalt bekleidet.‹ Daher sagte Xenophanes im Scherze, daß die unvernünftigen Thiere, wenn sie sich Götter dichten, wie sie dann wahrscheinlicher Weise thun, dieselben ganz gewiß sich gleich dichten, und sich eben so viel einbil-

in Gefangenschaft gelernt hat, in menschlicher Gebärdensprache zu kommunizieren. Die Wochenzeitung DIE ZEIT schrieb über sie: »So lässt Koko uns hoffen, wir könnten die Welt aus der Sicht der Tiere betrachten. ›Wohin gehen Gorillas, wenn sie sterben?‹, fragte die Trainerin einmal. Koko überlegte, dann antwortete sie: ›Gemütlich – Höhle – auf Wiedersehen‹.« http://www.zeit.de/zeit-wissen/2014/04/lebenserwartungtiere-alter/seite-3 (abgerufen am 30.08.2014). 9

Über Speziesismus, wie es zu diesem Begriff kam und was er darunter verstand, vgl. Ryder (2005).

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den, als wir. Warum sollte eine junge Gans nicht auch sagen können: ›Alle Theile der Welt beziehen sich auf mich, die Erde dient mir zum Gehen, die Sonne mir zu leuchten, die Sterne mir ihre Einflüsse mitzutheilen. Ich habe den Nutzen von den Winden, und den von dem Wasser. Keinem ist dieses Gewölbe vortheilhafter, als mir. Ich bin der Liebling der Natur. Schafft mir nicht der Mensch Futter und Wohnung, und dient mir? Für mich säet und mählt er. Frißt er mich gleich: so macht er es doch wohl auch mit dem Menschen, seinem Gesellen, nicht anders; und dafür bringe ich Würmer hervor, die ihn tödten und fressen‹ Auf eben diesen Fuß ist das Schicksal und die Welt unserwegen da. Unser wegen leuchtet und donnert es. Der Schöpfer und die Geschöpfe, alles ist unserwegen. Dieses ist das Ziel und der Zweck, worauf dieses Ganze gerichtet ist. Man betrachte einmal das Verzeichniß, welches die Weltweisheit zweytausend Jahre, und noch länger, über die Himmelsbegebenheiten gehalten hat.« (Montaigne 1992: 224-6)

So beschreibt Michel de Montaigne hellsichtig die Ausgangslage menschlichen Denkens und Speziesismus als natürliche Folge des Anthropozentrismus, indem er der_dem menschlichen Leser_in einen Spiegel vorhält. Denn wenn es uns lachhaft und unangemessen anmutet, wenn eine junge Gans von sich verkündet, dass das Universum um ihretwillen da sei, so wird ein_e nachdenkliche_r Leser_in in einem zweiten Schritt darüber nachdenken, ob unsere eigene menschliche Haltung in Bezug auf die uns umgebende belebte und unbelebte Natur nicht ebenso unangemessen sei wie die der Gans, und vielleicht als Konsequenz einen bisher selbstverständlichen Anthropozentrismus und den Speziesismus als Folge desselben mindestens in Frage stellen können. Doch nicht nur die menschliche Existenz als solche, auch das menschliche Erkenntnisvermögen in Bezug auf die uns umgebende Natur erweist Montaigne wenig später als anthropozentrisch limitiert: »Wir wollen einmal sehen, ob wir etwas mehr Licht in der Erkenntniß der menschlichen und natürlichen Dinge haben. Ist es nicht ein lächerliches Unternehmen, daß wir denjenigen Dingen, welche unsere Wissenschaft, wie wir selbst bekennen müssen, nicht erreichen kann, einen andern Körper andichten, und ihnen eine falsche Gestalt von unserer eigenen Erfindung zuschreiben? So schreiben wir der Bewegung der Planeten, ungeacht unser Verstand nicht so weit reichen, und sich ihren natürlichen Lauf nicht vorstellen kann, aus unserm Gehirne materialische, grobe, und körperliche Treibfedern zu: Man sollte glauben, wir hätten Kutscher, Zimmerleute, und Maler gehabt, die dort oben Maschinen, von verschiedentlichen Bewegungen verfertiget, das Räderwerk und die Zusammensetzung der Himmelskörper in Ordnung gebracht, und bunt angestrichen hätten. Alles dieses sind Träume, und schwärmerische Possen. Warum gefällt es doch nicht einmal der Natur, uns ihren Busen zu öffnen, uns die eigentlichen Mittel und die Ausfüh-

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rung ihrer Bewegungen sehen zu lassen, und unsere Augen dazu geschickt zu machen? Großer Gott, was für Falschheit, was für Irrthümer, würden wir in unserer armen Wissenschaft finden! Ich müßte mich sehr irren, wenn sie eine einzige Sache bey dem rechten Punkte faßt; und ich will, wenn ich von hier gehe, ehe alle andere Dinge, als meine Unwissenheit, nicht wissen.« (Ebd. 233 f.)

Was nun die Grenzen der Art und den Speziesismus betrifft, so ist interessanterweise zu beobachten, dass die Biologie und die sie umgebenden Naturwissenschaften sich selbst in eine aporetische Situation gebracht haben: Mit Darwin halten sie fest, dass die Grenze zwischen Mensch und Tier nur quantitativ, nicht aber qualitativ oder gar grundsätzlich sei; wie kann es also eine Haltung geben, aufgrund derer eine Art die andere verachtet, wenn es die Grenzen zwischen den Arten, die zur Aufrechterhaltung dieser Verachtung notwendig sind, gar nicht gibt? Oder vielmehr: Wie kann eine Naturwissenschaft behaupten, etwas überwunden zu haben, was es gar nicht gibt?10 Hier handelt es sich, ähnlich wie in der Theologie, um Gegenstände des Glaubens. Nur dass Theologie dies für ihre Gegenstände bereits seit einigen Jahrhunderten erkannt hat, während die Naturwissenschaftler_innen, die doch längst erfahren haben und auch wiederholen, dass es diese Grenze zwischen den Arten tatsächlich gar nicht gibt, faktisch immer noch so handeln, als wäre diese Grenze nicht nur nach wie vor existent, sondern als sei sie sogar ehern, grundsätzlich und unumstößlich. Das wird immer dann besonders deutlich, wenn auch nur der zaghafteste Versuch, diese Differenz in Abrede zu stellen (etwa wenn kritisiert wird, dass bestimmte Versuche an Tieren ohne jeden Zweifel als moralisch akzeptabel gelten, während die gleichen Versuche an Menschen als zutiefst unmoralisch angesehen würden), als ein Verbrechen wider die Menschenwürde tabuisiert und geahndet wird. Den grundsätzlichen Unterschied zwischen der einen Art, der der Menschen, und allen anderen Tieren erhalten Vivisektor_innen besonders gern aufrecht, wenn es um die Rechtfertigung ihrer Tätigkeit geht, und betonen gern die Höherwertigkeit des Menschen, ohne jedoch eine naturwissenschaftliche oder anderweitig sachlich begründete Herleitung dieser Höherwertigkeit bieten zu können oder zu erläu-

10 Allerdings gab und gibt es auch in den Naturwissenschaften Postulate, Theorien oder Annahmen, die zwar jedes Beweises entbehren, dennoch aber als naturwissenschaftliche Erkenntnisse behandelt werden, nicht selten dennoch mit absolutem Geltungsanspruch, trotz ihrer jederzeit möglichen Widerlegbarkeit. Deutlich wurde diese Arbeitsweise an der im Jahr 2013 neu aufgeflammten Diskussion in der Physik um das Higgs-Teilchen, das tatsächlich wohl nicht gefunden, sondern nur dem Beweis seiner seit einem halben Jahrhundert behaupteten Existenz um ein Kleines näher gerückt ist.

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tern, welche moralische Rechtfertigung für das Töten eines nichtmenschlichen Tieres im Dienste der Wissenschaft herangezogen werden kann, während diese Möglichkeit, ginge es um einen Menschen, auf gar keinen Fall diskutiert werden darf. Doch wie das, wenn es eine scharfe Grenze, die die eine Art von allen anderen trennt, gar nicht gibt? Mit welcher Begründung, wenn nicht der eines blanken Speziesismus, der das Nichtvorhandensein dieser Grenzen ignoriert? In der Vergangenheit wurde die anthropozentrische, kategorisch unterschiedliche Sichtweise von Mensch und Tier oft mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen begründet, mithin mit religiösen Kategorien. In der Gegenwart fehlt diese Begründung meist völlig, noch in keinem Fall wurde bekannt, dass Tierversuche oder andere Formen der Tierausbeutung mit einer christlich-theologisch begründeten Höherwertigkeit des Menschen gerechtfertigt wurden.11 Anthropozentrismus und Speziesismus funktionieren inzwischen längst auch ohne religiöse Unterfütterung. Ganz im Gegenteil sind es nachgerade sogar häufig religionsbasierte oder philosophische, kaum aber naturwissenschaftliche Begründungen, mit denen oft von Einzelpersonen gegen die Ausbeutung anderer Lebewesen und der Natur überhaupt argumentiert wird.12 Wie konnte es zu diesem erstaunlichen Wandel kommen? Welche Positionen bezieht – und bezog – die christliche Theologie? Und wie sieht es in anderen Religionen aus?

AMBIVALENZEN R ELIGION ?

ODER :

W IE

SPEZIESISTISCH IST

Das Verhältnis zu Tieren ist in vielen Religionen durchaus ambivalent. Für das Weltbild des antiken China war es beispielsweise kennzeichnend, dass es zwischen Menschen und übrigen Lebewesen keine scharfe Grenze gab; es gibt sogar

11 Eine erstaunliche Ausnahme ist die Aussage eines muslimischen Ministers in Malaysia, der 2010 den geplanten Bau eines Tierversuchslabors in seinem Land mit der gottgewollten Verwendung der Versuchstiere zum Nutzen des Menschen begründet hat; ob das Labor angesichts der internationalen Proteste seither tatsächlich errichtet wurde, ist unbekannt. Vgl. http://www.theguardian.com/world/2010/may/31/malaysiaminister-animal-testing (abgerufen am 30.08.2014). 12 Ebenso wenig gibt es bisher allgemeine Verlautbarungen der beiden großen Kirchen, in denen sie sich gegen Tierqual und -ausbeutung aussprächen, wenn sich auch die Stimmen derer mehren, die sich innerhalb der Kirchen für einen respektvollen Umgang mit Mitgeschöpfen oder auch Vegetarismus stark machen.

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nicht einmal ein Wort, das – im Gegensatz zum Menschen – alle tierlichen Lebewesen in eins zusammenfassen würde, sodass schon sprachlich »der« Mensch und »das« Tier einander nicht gegenübergestellt sind, sondern zusammengehören.13 Andererseits resultiert daraus weder in der Vergangenheit Chinas und seiner Nachbarn, die von der chinesischen Kultur geprägt wurden, noch in der chinesischen Gegenwart eine besondere Wertschätzung nichtmenschlicher Tiere – ein Kontrast, der auch von Religions- und Kulturwissenschaftler_innen schwer zu erklären ist. In der langen Tradition des Buddhismus sind Verallgemeinerungen naturgemäß schwierig, doch scheint dem bekannten Konzept der Achtsamkeit vor dem Leben, der Vermeidung von Tiertötungen und der Abstinenz von Fleisch nicht prinzipiell eine besondere Achtung tierlichen Lebens zugrunde zu liegen. Denn während allgemein eine erneute Wiedergeburt überhaupt als etwas Negatives gesehen wird, gilt die Wiedergeburt als Tier (oder, in etwas geringerem Maß, als behinderter Mensch) als Folge von Fehlverhalten (Waldau 2002: 153). Die bloße (Fort-)Existenz als Tier gilt als traurig, sie wird für einen Menschen zur Strafe (ebd.: 154). Auch verurteilt der Buddhismus Fleischkonsum weder grundsätzlich noch gar um der Eigeninteressen der Tiere willen, sondern vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, im Interesse spiritueller Reinheit des Menschen und aus Achtung vor den Seelen Verstorbener, die möglicherweise in den Tieren weiterleben, und akzeptiert ansonsten Tierleid durch Menschen, wenn es den Menschen nutzt (ebd.: 155). Antispeziesistisch scheint das nicht. Die traditionelle Gegenüberstellung von Mensch und allen anderen Tieren ist eine Besonderheit der abendländischen Kultur, die nicht allein den monotheistischen Religionen zu eigen ist, sondern in der griechischen Philosophie ihren Anfang nimmt.14 Doch auch in den monotheistischen Religionen ist die Haltung ge-

13 Vgl. z.B. Sterckx (2002: 241): »The animal world was subsumed within a moral cosmos that constituted the habitat of humans and animals. The notion that both realms were separated and functioned according to internal and mutually incompatible principles was firmly denied. Instead of seeking to delimit its boundaries within the fixity of ontological definition, the early Chinese primarily sought to explain what animals meant and signified to the human observer. However, the fact that the Chinese did not insist on developing a theory of animals and the living species did not imply a humanistic disinterest toward everything nonhuman: rather it reflected a willingness to discuss animals as a part of a larger natural world of which humans themselves constituted but one unstable part.« 14 Möglicherweise ist diese Zweiteilung auch im altägyptischen Weltbild vorhanden, zumindest ist die Vorstellung, dass die Welt mit allen Geschöpfen um des Menschen willen erschaffen sei, auch hier anzutreffen, vgl. Störk (1998: 91): »Wohlversorgt sind

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genüber dem Tier oder den Tieren durchaus vielfältig. Für verwirrende Ambivalenzen sorgten mitunter die größten Theologen – nicht nur im Christentum: Mohammed, so heißt es, liebte seine Katze,15 und Tierliebe ist im Koran und den Hadithen durchaus positiv konnotiert (vgl. Baghajati 2012: 191 f.). Dennoch hat das Fleischessen im Islam aus der Sicht vieler Muslim_innen sogar den Charakter einer religiösen Vorschrift,16 und der Himmel ist exklusiv den Menschen vorbehalten.17 Ähnlich hierarchisch dachte im hohen Mittelalter der gelehrte Dominikaner Thomas von Aquin, der den Tieren den Verstand und die Gottesebenbildlichkeit ab- und die Tiere selbst darum dem freien Gebrauch des Menschen zusprach. Zur Begründung beruft er sich interessanterweise nicht auf eine Stelle der Heiligen Schrift, sondern auf Aristoteles (Thomas von Aquin 1888: pars prima, quaest. 96, art. 1). Ambivalenzen gibt es auch bei Martin Luther, der, selbst ehemaliger Mönch, dem Fleischessen nicht abgeneigt war,18 seinen Haustieren hingegen, wie es heißt, im Himmel wieder zu begegnen erwartete.19 Aber galt

die Menschen, das Vieh Gottes. Um ihretwillen hat er Himmel und Erde geschaffen und für sie den Gierigen des Wassers vertrieben. Er hat die Luft geschaffen, damit ihre Nasen leben können. Seine Abbilder sind sie, aus seinem Leibe gekommen. Er geht um ihretwillen am Himmel auf, für sie hat er die Pflanzen geschaffen, Vieh, Vögel und Fische, um sie zu ernähren.« 15 So berichtet etwa eine bekannte Legende, dass der Prophet, um den Schlaf seiner Katze nicht zu stören, lieber den Ärmel seines Mantels abschnitt, als er sich zum Gebet begab, als dass er zu diesem Zweck die Katze geweckt hätte, vgl. etwa Schimmel (1984: 8). 16 Gewöhnlich abgeleitet aus Sure 20,81: »Eßt von den guten Dingen, mit denen Wir euch versorgt haben, und lehnt euch dabei nicht (durch Undankbarkeit) auf, sonst bricht Mein Zorn über euch herein; denn derjenige, über den Mein Zorn hereinbricht, wird sicherlich stürzen.« 17 Mehr über Tiere und Islam findet sich in Foltz (2006). 18 An vielen Stellen der Werke Luthers werden Nutztiere, vor allem Schweine, aber auch Kühe, Gänse, Hühner, Fische etc. ohne weiteres als Nahrungsquellen erwähnt. 19 Der Satz, mit dem Martin Luther dieser Erwartung Ausdruck gegeben haben soll, ist inzwischen zum geflügelten Wort geworden, vgl. Brüllmann (1983: 173): »Ich glaube, daß auch die Belferlein in den Himmel kommen und jede Kreatur eine unsterbliche Seele hat.« Auch Skriver (1967: 73) zitiert Martin Luther ebenso, gleichfalls ohne Quellenangabe. Allerdings ist dieser Satz weder wörtlich noch sinngemäß bei Luther selbst zu finden; lediglich die Wortbildung »belfern« ist bei Luther belegt, vgl. Luther (1929: WA 22, 100, 24).Auch die in Frage kommenden Wörterbücher kennen für Lu-

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das nur für den Hund, nicht für das Schwein – oder wie wollte der große Reformator sich dort sonst bei letzterem entschuldigen?20 Haben die beiden, Thomas und Martin, das etwa nicht recht durchdacht? Wie sieht es in der Theologie aus? Wo beginnen in der langen Geschichte, die, wie manche meinen, ein einziger langer Verrat an den Tieren sei21 – und damit zumindest die Möglichkeit andeuten, dass dieser Verrat im Grunde eine Verdrehung einer ursprünglich anderslautenden Botschaft gewesen sei? Könnte das sein?

D IE S CHÖPFUNG Doch wo beginnen in dieser langen Geschichte? Am besten am Anfang. Bereschit bara Elohim et hashamayim veҲet haҲaretz. So beginnt das Alte Testament mit der Beschreibung der Erschaffung von Himmel und Erde. Danach die der unbelebten und der belebten Natur, Pflanzen und Tiere: Fische, Vögel, Säugetiere und der Menschen, in dieser Reihenfolge – nicht umgekehrt. Die antiken griechischsprachigen Kommentatoren hatten ihre Probleme damit, der jüdische Autor Philo von Alexandrien (Clough 2012: 6-9) ebenso wie die frühen christlichen Exegeten (ebd.: 10-13). Denn das Alte Testament selbst interpretiert diese Reihenfolge nicht, und es stellt auch die den Menschen umgebende und vor ihm geschaffene Natur in keinerlei definierte Beziehung zu ihm, schon gar nicht in eine Herrschaftsbeziehung, die sie ihm unterordnet.

ther wohl die Wortbildung »belfern«, nicht aber das Substantiv »Belferlein«, vgl. Goebel/Reichmann (2002) und Dietz (1870); https://archive.org/stream/wrterbuch zudrma00dietgoog#page/n347/mode/1up (abgerufen am 05.09.2014). – Woher das Zitat tatsächlich rührt, das spätestens seit Baranzke (2002: 96 und ebd., Anm. 29) immer wieder in eben dieser Form, meist unter Berufung auf Brüllmann, zitiert wird, ist unklar; bei Luther belegbar ist es anscheinend nicht. 20 Über Luthers »resolutely anthropocentric« (Clough 2009: 42) Stellung zu Tieren, bei der er durchaus ambivalent war und auch ein Fortleben der Tiere im Himmel nicht grundsätzlich ausschloss, wenn auch nicht ernsthaft diskutierte, vgl. ebd.: 41-60. 21 So etwa der evangelische Theologe Skriver (1967: 32, Herv. i. O.): »Der Versuch, das Tier wirklich vor dem Menschen zu schützen und zu retten, führt zum Zusammenstoß mit allen Jägern, Fischern, Tierzüchtern, Schlachtern, Pelz- und Lederhändlern, Ärzten, Klein- und Großhändlern und den Milliarden süchtigen Fleischkonsumenten, so daß die Kirche von vornherein kapituliert vor der Riesenmacht des Heidentums. Das ist natürlich kein Maßstab und keine Abhilfe, sondern der große V e r r a t, die Preisgabe der Tierbrüder an die Hölle.«

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Für diese Beziehung hatte jemand anders gesorgt: Aristoteles.22 Im aristotelischen Weltbild waren nicht nur Mensch und Natur klar voneinander geschieden, Aristoteles definiert auch ihre wechselseitige Beziehung. So ist für ihn das Dasein der Tiere durch den Menschen bestimmt. Der Zweck der Tiere, vereinfacht ausgedrückt, ist der Mensch. Und während das Ziel des einzelnen Tiers die Erhaltung seiner Art ist, so dient doch die Art dem Menschen, der als einziges Lebewesen nicht nur wahrnehmungsfähig, sondern auch mit einem nous, also vernunftbegabt ist. Nur der Mensch ist im geschlossenen System des Aristoteles selbstreflexiv, seine möglichst glückliche Existenz Selbstzweck. Das Schöpfungsverständnis der jüdischen und christlichen Exegeten bricht zwar diese Selbstgenügsamkeit auf, nicht jedoch den aristotelischen Anthropozentrismus (ebd.: 10-15). Das Streben des Menschen nach Glückseligkeit, zu welchem Zweck er nach der Darstellung des Aristoteles den Staat erfunden hatte, ist nun zielgerichtet und definiert als das Streben nach Erlösung, der Vereinigung mit dem Schöpfergott. Obwohl Gott alles geschaffen hat und »sah, dass es gut war« (Gen. 1:25), nimmt sich nach der Definition der Philosophen bald auch die Theologie heraus, die Gottesbeziehung an den Vernunftbesitz zu knüpfen und sie damit – da nach Auskunft der Philosophie nur der Mensch Vernunft besitzt – exklusiv auf den Menschen zu beschränken.23 Der biblische Schöpfungsbericht gibt diese Interpretation eigentlich nicht her. Eher im Gegenteil. Denn wir wissen, wie die Geschichte mit dem Paradies endete: Gerade das nur vom Menschen betriebene Streben nach mehr Erkenntnis war Ursache für die Vertreibung aus dem Garten Eden. Lange Zeit begründete man die Leiden der Tiere in der Welt mit ihrem Anteil an der Erbsünde, ohne eigenes Zutun, doch in einer Art »mitgegangen, mitgefangen«. Von Philo von Alexandrien über Thomas von Aquin bis hin zu Martin Luther sah man die Tiere als an der Sünde unbeteiligt (Clough 2012: 112). Dass sie trotzdem aus dem Paradies vertrieben wurden, dass sie statt friedlicher Koexistenz nun der Einteilung in Raubtier und Beute unterworfen wurden, statt im paradiesischen Tierfrieden zu verharren, erklärte man einhellig anthropozentrisch mit ihrer Existenz als bloßer Staffage des Menschen. Sie sind, so war man überzeugt, um des Menschen willen da, sie mussten also um seinetwillen das Paradies verlassen, Seele oder nicht.24 Eine neue Nuance erfuhr diese In-

22 Aristoteles kann sich hier auf Platon berufen, der ein ebenso anthropozentrisches Weltbild vertritt, z.B. im Timaios (vgl. Clough 2012: 7). 23 So Plato, Aristoteles, die Stoiker (passim). 24 Allerdings meint etwa Rainer Hagencord, dass die Tiere genau aus diesem Grund das Paradies tatsächlich nie verlassen hätten, sondern sich noch dort befänden (vgl. Ha-

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terpretation erst in der Frühen Neuzeit, und der Zeit der Aufklärung, in der man den Tieren entschiedener als je zuvor eine Seele absprach. Nun, da die Tiere nicht mehr nur – wie schon seit Aristoteles – keinen Verstand, sondern auch keine Seele mehr hatten und schon gar keinen Anteil an der Erbsünde und darum auch keinen Anteil mehr am Leiden, das durch die Erbsünde in die zuvor paradiesisch schmerzfreie Welt gekommen sei, konnten Tiere auf einmal gar nicht mehr leiden. In der Wissenschaftsbegeisterung des 17. und 18. Jahrhunderts wurde ihnen ihre Unschuld zum Verhängnis: Sie konnten ja gar nicht leiden, denn unschuldiges Leiden lässt Gott nicht zu. Auch nicht etwa in Vivisektionen. Keine Seele, kein Leid. Wer schreit, hat Unrecht – bzw. ist nur ein Automat. Die Unschuld der Tiere, vereint mit dem Postulat der Güte und Gerechtigkeit Gottes, der kein Wesen schuldlos leiden lässt, wurde nun zur Rechtfertigung von Tierqual in Tierversuchen: denn die Tiere litten ja nicht wirklich. Natürlich war es nicht René Descartes selber, auf den diese spitzfindige Schlussfolgerung der Erbsündenfreiheit zurückgeht. Aber von seinem Nachfolger Nicolas Malebranche wurde die wesensmäßige Unschuld der Tiere als Freibrief für Tierqual durchaus so aufgefasst (Wild 2007: 208). Die Ethikkommissionen der Aufklärung hatten ganze Arbeit geleistet, die im Sinn der jungen Naturwissenschaften war. Doch ich greife vor. Die im Schöpfungsbericht genannte Gottesebenbildlichkeit des Menschen, die im Hinblick auf den körper- und geschlechtslosen Gott der christlichen Theologie Probleme aufwarf, wurde von Augustinus, seinen Zeitgenossen und Lesern bald als Vernunftbegabung des Menschen definiert, die er und nur er mit Gott teilt.25 In Verbindung mit der Naturphilosophie und Anthropologie, die die

gencord 2010: 21-37). Leider ist niemand von uns in der Lage im Paradies nachzusehen; dass die Tiere allerdings denselben irdischen Lebensbedingungen wie wir, von den Schmerzen der Mütter bei der Geburt bis zu der Mühsal des Nahrungserwerbs, unterworfen sind, von Fehlbarkeit, Leiden und Tod ganz zu schweigen, dazu für die Tiere vom Zwang des Beutemachens oder -werdens, steht zumindest aus meiner Perspektive außer Frage. Hagencord bezieht sich mit seiner Behauptung, die Tiere hätten das Paradies nie verlassen, auf die Vorstellung einer kreatürlichen Unschuld der Tiere, die ihn, ähnlich wie der Anblick von kleinen Kindern, an das verlorene Paradies erinnere (ebd. 27); aber ist diese Interpretation der Fähigkeit der Tiere, im und für den Moment zu leben, nicht auch selbst etwas, das wir mangels genauerer Kenntnis in Tiere hineininterpretieren und sie für uns zum Symbol werden lassen? 25 Augustinus, Enarrationes in Psalmos, Psalm 29, CCSL 38, Enarratio 2, Par. 2: »Nam et pecora animam habent, et animalia uocantur; non enim uocarentur animalia nisi ab anima; et uidemus quia et ipsa uiuunt. sed quid habet amplius homo, unde factus est

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christlichen Denker aus der griechisch-römischen Philosophie kannten, wurde daraus eine klare Ordnung, die es ihnen erlaubte, die bisher ambivalenten biblischen Quellen nun eindeutig zu interpretieren. Für Augustinus war daher klar, dass sich das alttestamentliche Tötungsverbot nicht auch auf Tiere erstrecken könne, weil sie keine Vernunft haben und allein um des Menschen willen geschaffen seien.26 Ein Kurs, den viele Theologen jahrhundertelang beibehielten. Wenn daher der Prophet Jesaja sagte: »Wer einen Ochsen schlachtet, ist eben, als der einen Mann erschlüge« (Jes. 66:3), dann konnte man das als bloßen Schaden am Besitz eines anderen Menschen interpretieren, nicht jedoch als Schaden, der dem Tier selbst zugefügt wird.27 Wenn darauf hingewiesen wurde, dass sowohl am Anfang des Alten Testaments im Garten Eden als auch an seinem Ende, als die späten Propheten den paradiesischen Tierfrieden beschrieben, von Früchten als Speise die Rede ist, für Mensch und Tier, dann konnte dies ohne weiteres als Beschreibung eines außerirdischen Zustands gewertet werden, der mit der realen Welt nichts zu tun haben brauchte. Besonders die Texte Jesajas und Tritojesajas erinnern sehr an das Ende des Neuen Testaments, die Beschreibung des Neuen Jerusalem, das am Ende der Weltzeit vom Himmel herabkommen wird.

ad imaginem dei? quia intellegit et sapit, quia discernit bonum a malo; in hoc factus est ad imaginem et similitudinem dei. habet ergo aliquid quod non habent pecora.« 26 Augustinus, De civitate Dei, lib. I, cap. 20, CCSL 47: »num igitur ob hoc, cum audimus: non occides, uirgultum uellere nefas ducimus et manichaeorum errori insanissime adquiescimus? his igitur deliramentis remotis cum legimus: non occides, si propterea non accipimus hoc dictum de frutectis esse, quia nullus eis sensus est, nec de inrationalibus animantibus, uolatilibus natatilibus, ambulatilibus reptilibus, quia nulla nobis ratione sociantur, quam non eis datum est nobis cum habere communem (unde iustissima ordinatione creatoris et uita et mors eorum nostris usibus subditur): restat ut de homine intellegamus, quod dictum est: non occides, nec alterum ergo nec te.«. 27 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, pars secunda, II, quaest. 64: »Ad primum ergo dicendum quod ex ordinatione divina conservatur vita animalium et plantarum non propter seipsam, sed propter hominem. Unde ut Augustinus dicit, in I de Civ. Dei, iustissima ordinatione creatoris et vita et mors eorum nostris usibus subditur. Ad secundum dicendum quod animalia bruta et plantae non habent vitam rationalem, per quam a seipsis agantur, sed semper aguntur quasi ab alio, naturali quodam impulsu. Et hoc est signum quod sunt naturaliter serva, et aliorum usibus accommodata. Ad tertium dicendum quod ille qui occidit bovem alterius peccat quidem, non quia occidit bovem, sed quia damnificat hominem in re sua. Unde non continetur sub peccato homicidii, sed sub peccato furti vel rapinae.«

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Für das Mittelalter gab es mehrere Paradiese, das verlorene des Alten Testaments und ein neues, in dem die gottseligen Toten auf ihre Auferstehung warten.28 Die Rückkehr ins Paradies und das himmlische Jerusalem sind in mittelalterlichen Texten nahe verwandt, und zu beiden gehört die Vorstellung des paradiesischen Tierfriedens. Doch in einem ist die christliche Theologie sich sicher: Erst durch den Sühnetod Christi und erst bei seiner zweiten Ankunft wird dieser paradiesische Zustand für alle Wirklichkeit. Der paradiesische Tierfrieden wird zum Projektionsziel einer Sehnsucht nach einem Zustand wie am Anfang, ohne Tod und Gefahr. Kein reales Szenario ist hier angedacht, zu dessen Zustandekommen die Menschen je etwas beitragen sollten oder könnten. Und die Tiere sind im verlorenen Garten von Eden wie im himmlischen Paradies der ewigen Seligkeit allemal nur Statisten. Mit dem eigentlichen Geschehen haben sie nichts zu schaffen – sie sind einfach nur da.

V ERNUNFT

UND

S EELE

Darin, dass nur Menschen, nicht aber Tiere über Vernunft verfügen, hat Augustinus kaum jemand widersprochen. Als entscheidendes Kriterium, das den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet, findet sie sich in allen einschlägigen Texten von Aristoteles über Thomas von Aquin bis in die Neuzeit. Bei dem zweiten Kriterium und möglichen Unterscheidungsmerkmal war man sich längst nicht so sicher. Die kritische Frage, um die es dabei geht, ist in ihrer ausdrucksvollsten Form im alttestamentlichen Buch Kohelet formuliert, einem Teil der sogenannten Weisheitsliteratur, die zu den späten Schriften des Alten Testaments zählt und von griechischer Philosophie nicht mehr unbeeinflusst ist, nämlich die Frage nach der Seele. Sie ist selbst bereits eine Definitionsfrage – für Aristoteles ist sie das sterbliche, an die Organismen der Lebewesen gebundene Prinzip des Lebens, während es bei Platon Vorstellungen einer Weltseele und der Seelenwanderung gibt, wobei nicht nur Menschen, Tiere und sogar der Kosmos selbst beseelt sein können, sondern die Seelen von Menschen und Tieren ihrer Wesensart nach gleich sind (psyche für die Einzelseele, pneuma für die Weltseele). Auch im Alten Testament ist die Begrifflichkeit zunächst nicht immer eindeutig. Die beiden Begriffe des Alten Testaments, die mit Seele übersetzt wurden, ruach und nefesch, sind weder eindeutig dem Menschen zugehörig noch

28 Vgl. Luk. 23:42-43; über die mittelalterlichen Paradies- und Höllenvorstellungen vgl. Wannenmacher (2005: 47-63).

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eindeutig begrenzt. Gott verfügt darüber ebenso wie die Tiere, und erst in der spätjüdischen Zeit beginnen sich die Vorstellungen von einer das Leben überdauernden, individuellen Seele durchzusetzen. In dieser Zeit schreibt Kohelet: »Ich sprach in meinem Herzen von dem Wesen der Menschen, darin Gott anzeigt und läßt es ansehen, als wären sie unter sich selbst wie das Vieh. Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem; und der Mensch hat nichts mehr denn das Vieh; denn es ist alles eitel. Es fahret alles an einen Ort; es ist alles von Staub gemacht und wird wieder zu Staub. Wer weiß, ob der Odem der Menschen aufwärts fahre und der Odem des Viehes unterwärts unter die Erde fahre?« (Koh. 3:19)

Die Meinung, dass Tiere eine Seele haben, wenn auch keinen Verstand, überlebte bis in die Frühe Neuzeit, und es gab im Mittelalter sogar äußerst entschiedene Verfechter dieser Theorie, so wie im 9. Johannes Scotus Eriugena.29 So stellt Adelard von Bath in seinen Quaestiones naturales fest: ein Hund hat Urteilskraft, er kann gehorchen oder nicht. Er folgt Gerüchen und Spuren. Während die Elemente sich immer nur in eine Richtung bewegen, ein Hund sich aber in alle, auch wechselnde Richtungen bewegen kann, lässt sich diese Fähigkeit des Hundes nicht aus den Elementen ableiten. Die Ursache für sie muss eine ewige Seele sein.30 Doch vorherrschend blieb die im frühen Christentum übernommene aristotelische Kategorienlehre, der zufolge nur Menschen vernunftbegabt sind, Tiere zwar wie Menschen Sinneseindrücke wahrnehmen und darauf reagieren können, jedoch keine Vernunft haben, während Pflanzen mit beiden nur das Leben an sich, das Werden, Wachsen und Vergehen gemeinsam haben. In dieser Tradition, verstärkt noch durch die stoische Philosophie, sprach die Mehrheit der Christ_innen zugleich mit der Vernunft auch die Seele exklusiv dem Menschen zu. Durch den sich verstärkenden Einfluss der Summa des Thomas von Aquin, der Tieren Vernunft und Seele absprach, und erst recht durch Descartes, der den Tieren nicht nur Vernunft und Seele, sondern dessen Nachfolger den Tieren nun

29 Vgl. etwa Iohannes Scotus (1999: S. 169). An Tierseelen glaubte, in Anlehnung an neuplatonische Vorstellungswelten, auch Augustinus, der sich zur Belegung dieser Ansicht explizit auf Koh. 3:19 stützt, wenn er auch mit Aristoteles den entscheidenden Unterschied zwischen Mensch und Tiere nicht im Vorhandensein einer Seele, sondern dem eines Verstandes. 30 Vgl. Adelard von Bath, Quaestiones naturales 13, ed. Charles Burnett, zitiert nach Köhler (2008: 176f. und ebd. Anm. 43.

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auch jedes Gefühl absprachen, war die Reduzierung der Tiere auf bloße Automaten, Produktionsmaschinen im Dienst des Vernunftwesens Mensch, nicht nur möglich, sondern scheinbar sogar alternativlos geworden.31 Und wer keine Seele hat, muss auch nicht erlöst werden.

D IE E RLÖSUNG ... Von der Seele spricht Paulus selten, weder des Menschen noch des Tiers, und dennoch findet sich im Römerbrief, einem der unzweifelhaft authentischen Paulusbriefe und einem der ältesten und zugleich »theologischsten« Texte des Neuen Testaments, eine der Schlüsselstellen über die Frage der Unsterblichkeit. Auch dort spricht Paulus nicht explizit von der Seele, sondern noch viel konkreter von der Erlösung des Körpers: »Ich bin aber davon überzeugt, dass unsere jetzigen Leiden bedeutungslos sind im Vergleich zu der Herrlichkeit, die er uns später schenken wird. Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf jenen Tag, an dem Gott offenbar machen wird, wer wirklich zu seinen Kindern gehört. Alles auf Erden wurde der Vergänglichkeit unterworfen. Dies geschah gegen ihren Willen durch den, der sie unterworfen hat. Aber die ganze Schöpfung hofft auf den Tag, an dem sie von Tod und Vergänglichkeit befreit wird zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt, wie unter den Schmerzen einer Geburt. Und selbst wir, obwohl wir im Heiligen Geist einen Vorgeschmack der kommenden Herrlichkeit erhalten haben, seufzen und erwarten sehnsüchtig den Tag.« (Röm. 8:18-23)

Ist die Erlösung nur für Menschen, weil Christus Mensch wurde – und nicht etwa Kranich? Karl Barth behauptet diese Exklusivität noch (vgl. Clough 2012: 16-19). Für den englischen Theologen David Clough ist das ebenso unsinnig wie die Behauptung, Jesus sei nur für Juden oder Männer in die Welt gekommen, weil er selbst als jüdischer Mann lebte und starb (ebd.: 83). Gott kam als Mensch, als Mann, als Einwohner Palästinas, im 1. Jahrhundert zur Welt – aber

31 Dass auch diese Formulierung eine grobe und eigentlich unzulässige Vereinfachung darstellt, die der Fülle der Denkmöglichkeiten über Tiere vom 14. bis ins 18. Jahrhundert eigentlich Hohn spricht, bewiesen zuletzt eindrucksvoll Muratori/Dohm (2013) vgl. dazu meine Rezension auf http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ (abgerufen am 03.09.2014).

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die bekannte Formulierung des Johannesevangeliums ist nicht »Gott wurde Mann«, sondern »das Wort ward Fleisch« (Ioh. 1:33) – wie alle Geschöpfe. Für Clough ist die Schöpfung so wenig exklusiv um des Menschen willen geschehen wie die Erlösung, und die Zusammenhänge sind deutlich. Aber mindert es nicht die Bedeutung des Menschen, wenn die Tiere nicht um seinetwillen geschaffen sind? Der jüdische Philosoph Moses Maimonides fand dafür bereits im Mittelalter ein passendes Bild, mit dem er den Anthropozentrismus kritisiert: »Für diejenigen, die sich der Wohltaten der Schöpfung erfreuen, mag es scheinen als ob die göttliche Macht, die ihnen Güte und Liebe erweist, nur um ihretwillen da sei. So mag ein Bürger einer Stadt sich vorstellen, dass der König nur deshalb gewählt wurde, um sein Haus in der Nacht vor Dieben zu schützen. Bis zu einem gewissen Grad stimmt das sogar: denn wenn sein Haus geschützt wird und er sich dieses Schutzes dank des Königs erfreut, den das Land gewählt hat, dann scheint es, als sei es das alleinige Ziel des Königs, das Haus dieses Mannes zu schützen.« (Moses Maimonides 1995: pars III, cap. 13).

... VON

DEM

B ÖSEN

Die Schöpfung und die Bedeutung des Menschen darin verlieren nicht an Wert durch die Annahme, dass nicht alles allein um des Menschen willen geschehen sei. Das Argument, dass Tiere darum allein um des Menschen willen aus dem Paradies vertrieben worden seien, der paradiesische Tierfriede allein um des Menschen willen beendet worden und auch die Sintflut nur um der Verderbnis des Menschen willen gekommen sei, erledigt sich damit von selbst. Ebenso wie im Fall der Schöpfung wird auch bei der Sintflut eine kritische Lektüre des Textes die anthropozentrische Interpretation kippen. Die Begründung für die Sintflut liegt nicht allein in der Schlechtigkeit der Menschen, so wenig wie die Schöpfung um ihretwillen allein geschah. In Gen. 6:13 kündigt Gott das Ende aller Wesen aus Fleisch an, durch die die Erde voller Gewalttat ist. Doch nicht nur Gewalttat, auch aktive Buße teilen Tiere mit Menschen – so in Jona 3:7. Auch das Verhalten der Tiere als positive Beispiele, das sich im Alten wie im Neuen Testament findet, spricht eine ähnliche Sprache. Diese Überlegung impliziert jedoch auch, dass Tiere wie Menschen die Wahl haben, sich gut oder böse, richtig oder falsch zu verhalten. Die Möglichkeit dazu wurde bereits in der Sintflutgeschichte angedeutet und von manchen Theologen

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auch diskutiert.32 Martin Luther wies dies zurück: Die Zerstörung von Mensch und Tier in der Sintflut sei lediglich ein Beleg dafür, wie vollständig die Zerstörung des Menschen gedacht war – eine höchst anthropozentrische Erklärung (Clough 2009: 42 und ebd., Anm. 8). Dass diese Erklärung und die Feststellung von der Sündlosigkeit der Tiere nicht zu allen Zeiten überzeugend war, dafür legen möglicherweise auch die mittelalterlichen und neuzeitlichen Tierprozesse Zeugnis ab, die Tiere vor weltlichen wie geistlichen Gerichten für ihre Taten zur Verantwortung zogen und die Schuldfähigkeit der Tiere damit grundsätzlich voraussetzten. Doch auch moderne Verhaltensforscher_innen beschreiben bei Tieren Verhaltensweisen, die sich nicht nur durch Instinkt oder Notwendigkeit erklären lassen. Sie beschreiben Altruismus ebenso wie Mord, und längst nicht immer gibt es für beide zwingende Gründe, lässt sich das Verhalten der Tiere durch Instinkt oder evolutionsbedingte Vorteile erklären – ebenso wenig wie bei einem_einer menschlichen Dieb_in oder Mörder_in. Die neutestamentliche Definition von Sünde als Verfehlung eines Ziels, die augustinische als Abwesenheit des Guten – sie lässt sich in tierischem Handeln ebenso feststellen wie in menschlichem. Die Zuschreibung eines individuellen Charakters an Tiere, mit je verschiedenen persönlichen Eigenschaften, wie sie allen Menschen selbstverständlich ist, die Tiere als individuelle Lebewesen kennenlernen, macht diese Schlussfolgerung zwingend. Tiere haben nicht zufällig mit uns gemein, Teil der auf Erlösung hoffenden Schöpfung zu sein. Sie sind genau wie wir Teil dieser Schöpfung – mit allen Konsequenzen. Die alttestamentlichen Texte der Propheten, die den paradiesischen Tierfrieden beschreiben, machen das ebenso deutlich wie die neutestamentlichen, die die Erlösungssehnsucht thematisieren – neben der Stelle aus dem Römerbrief vor allem diese: »Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand. Er ist das Haupt des Leibes, der Leib aber ist die Kirche. Er ist der Ursprung, der Erstgeborene der Toten; so hat er in allem den Vorrang. Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus füh-

32 Zahlreiche Beispiele dafür, dass in der hoch- und spätmittelalterlichen Philosophie diskutiert wurde, ob Tiere Willensentscheidungen treffen, zweckfrei handeln, zu Erkenntnisleistungen in der Lage sein oder gar Gut und Böse unterscheiden könnten, gibt Köhler (2008: 174-6).

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ren, der Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut. [...] In der ganzen Schöpfung unter dem Himmel wurde das Evangelium verkündet; ihr habt es gehört, und ich, Paulus, diene ihm.« (Kol. 1:15-23)

U NSCHULDIGE S EELEN ? Auch nach Descartes gab es noch vereinzelte Theologen, die von der Unsterblichkeit der Tiere überzeugt waren. Kein Grund aber, ihnen als Mitgeschöpf Respekt zu erweisen, gar sie nicht auszubeuten, nicht zu töten – das Jenseits konnte an den Tierseelen wiedergutmachen, was die unschuldigen Kreaturen hier hatten erleiden müssen. Auch heute noch vertreten manche Theolog_innen und Laien die Meinung, das moralische Problem des schuldlosen Leidens von Tieren könne durch eine Kompensation im Jenseits gelöst werden. Die Unsterblichkeit ihrer Seelen wird so für die Tiere zur Lösung des Theodizeeproblems – und schlimmstenfalls zur Rechtfertigung der von Christ_innen geduldeten, von ihnen genutzten oder sogar in Auftrag gegebenen Tierausbeutung. Kann das die Antwort auf die Frage nach der Vernunft und gar den unsterblichen Seelen der Tiere sein – dass die Aufgabe der Theologie in Bezug auf die Tiere die ist, mit der Hoffnung auf ein Jenseits unsere unschuldigen Opfer zu versöhnen, indem wir ihnen das, was wir ihnen im Diesseits vorenthalten, nämlich Leben, Freiheit, Glück und Selbstbestimmung, im Jenseits (natürlich in abgeschwächter Form) versprechen? Wenn dem so wäre, handelte es sich nicht um mehr als um einen Freibrief dafür, Tiere weiter als seelen- und gefühllose Geschöpfe zu behandeln, die nicht zählen und deren Leben, Glück und Freiheit wir ohne schlechtes Gewissen nehmen können. Nein, es ist mehr als Luthers himmlische Belferlein, oder die Annahme C. S. Lewis‫ތ‬, dass Tiere in den Himmel kämen, damit ihre irdischen Besitzer_innen sie dort nicht vermissten.33 Es ist die konsequente Durchführung einer Lesart der biblischen Texte, die bei genauerem Hinsehen deutlich werden lässt, dass diese Erde von Anfang an nie für uns allein gedacht war, dass es weder unsere Schlechtigkeit noch unsere Güte oder Genialität ist, die unser Alleinstellungsmerkmal ausmacht. Das von Albert Schweitzer gewählte Bild ist deutlich: »Wie die Hausfrau, die die Stube gescheuert hat, Sorge trägt, dass die Türe zu ist, damit ja der Hund nicht herein komme und das getane Werk durch die Spuren seiner Pfoten ent-

33 Über Lewis‫ ތ‬Vorstellungen vom Weiterleben der Tierseelen in The Problem of Pain vgl. Camosy (2012: 115 f.).

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stelle, also wachen die europäischen Denker darüber, dass ihnen keine Tiere in der Ethik herumlaufen. Was sie sich an Torheiten leisten, um die überlieferte Engherzigkeit aufrechtzuerhalten und auf ein Prinzip zu bringen, grenzt ans Unglaubliche.« (Schweitzer 1971: 362 f.)

Doch von solchen Versuchen scheint auch die gegenwärtige Theologie nicht frei. Der evangelische Theologe Erich Gräßer kommentiert: »Was wir heute erleben, ist ein mit dem Rechenstift ausgeklügeltes schreckliches Höllenspiel, in dem wir unsere Nutztiere in der Massentierhaltung zu Tiermaschinen herabstufen. Die Übermenge an Eiern, Fleisch und Butter, die die westlichen Wohlstandsgesellschaften auf diese Weise produzieren, ist mit menschenunwürdiger Tierquälerei bezahlt. Gegenüber dieser überall straflos praktizierten Ungeheuerlichkeit liest sich Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben wie eine Botschaft von einem anderen Stern. Und eine Kirche, die zu dem allem schweigt, erklärt damit den Bankrott ihrer Barmherzigkeitspredigt! Dabei ist die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben biblisch. Die Bibel Alten und Neuen Testamentes ist voller Zeugnisse von Gottes Fürsorge für alle Geschöpfe. Weil das Gutsein zu den Tieren eine Selbstverständlichkeit ist, darum hat man das Zentrum des christlichen Glaubens, die Dahingabe des Lebens Jesu für die Sünden der Menschen, mit dem Bilde vom guten Hirten umschrieben: ›Ich bin der gute Hirte, der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe‹.« (Gräßer 2007: o. S.)

Paradoxerweise führt so gerade die behauptete kreatürliche Unschuld nichtmenschlicher Tiere, die im Diesseits ausschließlich schuldlos leiden, weil sie nach der Meinung der modernen Theologie gänzlich schuldunfähig seien, zu einer erneuten Abwertung der Tiere. Wir gestehen ihnen eine Seele zu, sogar die Unsterblichkeit, und wir sind bereit, ihnen ein Eckchen des auf uns wartenden jenseitigen Paradieses oder Himmels zuzuweisen, wo sie dann endlich, von uns(erem) Bösen erlöst, sich der ewigen Seligkeit erfreuen dürfen, wobei sie jedoch, anders als wir, nicht von eigener Sünde, sondern nur von unseren, an ihnen begangenen Sünden befreit sind. Das letzte, was wir für uns behalten und nicht mit den Tieren teilen wollen, ist die Fähigkeit zur Sünde. Denn dann wäre Christus am Ende nicht mehr nur für uns allein gestorben, und wir nicht mehr Alleindarsteller_innen und unangefochtener alleiniger Mittelpunkt des Heilsgeschehens. So wie die Tiere unserer Meinung nach nicht der Erlösung teilhaftig werden müssen, so dürfen sie dafür zuvor auch nicht an unserer Sünde teilhaftig geworden sein, es sei denn als leidendes Objekt unseres sündhaften Handelns. Wo kämen wir hin, wenn der Heilsplan Gottes auf einmal nicht mehr nur uns Men-

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schen, sondern auch den Tieren gelten sollte – vielleicht in ein bunteres himmlisches Paradies?

D IE F RAGE NACH DER M ORAL ANTHROPINON

ODER :

D AS

LETZTE

Tatsächlich erscheint in dieser Sichtweise die Sünde als das letzte Alleinstellungsmerkmal des Menschen, das wir noch nicht mit den Tieren teilen wollen. Ein Anzeichen davon, dass dies vielleicht nicht immer so war, können wir vielleicht aus der Erinnerung an die Tierprozesse des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit erkennen, bei denen Tiere teils vor weltlichen, teils vor geistlichen Gerichten angeklagt wurden, geladen wurden, einen Beistand bekamen und sowohl schuldig als auch freigesprochen werden konnten. Ganz sicher ist diese Interpretation der Tierprozesse allerdings nicht. Denn Strafprozesse gegen Tiere,34 die einen Menschen verletzt oder getötet haben, erinnern an mosaische Gebote,35 bei denen bereits die Tötung eines Menschen durch ein Tier die Todesstrafe für den Ochsen zur Folge hatte – nicht etwa die Schlachtung, denn der gesteinigte Ochse sollte ausdrücklich nicht zur Nahrung dienen. Ein ähnliches Urteil scheint es zu sein, wenn noch in diesem Jahrzehnt in Spanien bei einem für den Matador tödlich ausgehenden Stierkampf nicht nur der Stier, der den Matador getötet hat, sondern auch dessen Mutter getötet wird.36 Unmoralisches, gar verbrecherisches Verhalten traut man Tieren noch heute ebenso zu wie der mittelalterliche Volksglaube die Heiligkeit oder Dämonie, hohe Moral oder moralische Schuldfähigkeit der Tiere für möglich hielt.37 Selbst wenn wir, wie einige Theolog_innen bereit sind zu tun, die Tiere als um ihrer selbst willen und nicht um unseretwillen geschaffen erklären, gilt das nicht für alles, was nach der Schöpfung kommt. Die Vertreibung der Tiere aus

34 Über Tierprozesse vgl. Fischer (2005); Dinzelbacher (2006); Evans (1906). 35 Exod. 21:28: »Wenn ein Ochse einen Mann oder ein Weib stößt, dass sie sterben, so soll man den Ochsen steinigen und sein Fleisch nicht essen; so ist der Herr des Ochsen unschuldig.« 36 »Sollte jedoch ein Stier einen Torero verletzen oder gar töten, so wird nicht nur der Toro selbst in der Arena noch getötet, sondern auch die Mutterkuh«, http://www. jugendundwirtschaft.de/schuelerartikel/archiv/donnerstag-9.-juni-2011/manche-stiere -haben-schwein-gehabt (abgerufen am 03.09.2014). 37 Für ein eindrückliches Beispiel eines »heiligen« Tieres im Spätmittelalter vgl. Schmitt (1979).

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dem Paradies und ihre Unterwerfung unter Leid und Tod, die Vernichtung der Tiere in der Sintflut und schließlich die Wiedergutmachung des menschenverursachten Leidens der Tiere im Paradies: All dies, so sind wir gewohnt zu glauben, geschieht um unseretwillen. Dabei fällt uns gar nicht auf, wie inkonsequent dieser milde Anthropozentrismus ist, so sehr ist diese Haltung uns in Fleisch und Blut übergegangen. Denn warum sollte ein liebender und gerechter Gott, wenn er die Tiere wirklich nicht um unseretwillen, sondern um ihrer selbst willen erschaffen hat, sie dann schuldlos die Folgen der von uns allein verursachten Sünde tragen lassen? Die biblischen Texte sprechen eine andere Sprache. So wenig wie bei der Begründung der Sintflut unterschieden wird zwischen der von Menschen und Tieren ausgehenden Gewalt, sondern schlicht von der Gewalt aller Lebewesen aus Fleisch die Rede ist, so wenig wird bei der Rede von der Erlösung im Neuen Testament zwischen der Erwartung von Mensch und Tier unterschieden, die Erlösungsbedürftigkeit beider unterschiedlich begründet oder gar eine Erlösung in zwei Klassen auch nur angedeutet. Auch wenn die biblischen Texte, die sich an menschliche Leser_innen richten, die Sünde der Menschen thematisieren, kann daraus nicht abgeleitet werden, dass Tiere aus Sicht der Bibel sündlos seien; mit Gen. 6:13 wird vielmehr das Gegenteil deutlich. Doch welcher Art sind nun die Sünden der Tiere? Menschliche Sünden wider Gott, wie mangelnde Gottesliebe, wird man ihnen nicht attestieren können, denn diese zu diagnostizieren gehört in den Bereich der religiösen Subjektivität der Tiere, der uns nicht einsehbar ist. Wenn wir mit Stephen Clark und anderen Theologen von Tieren als Subjekten der Theologie sprechen, so muss die Ausgestaltung dieser Religiosität den Tieren selbst überlassen werden. Wir können sie allenfalls vermutend beobachten, jedoch nicht beurteilen. Wie sieht es mit möglichen Sünden der Tiere wider andere Lebewesen aus? David Clough beschreibt angesichts der Betrachtung einer Katze, die einen Vogel beobachtet, seine Vorstellung eines jenseitigen Tierfriedens, in dem kein Tier mehr einen Jagdtrieb verspüren und es weder Jäger noch Gejagte mehr geben wird (Clough 2012: 162). Warum erachten wir den Jagdtrieb der Tiere als etwas Selbstverständliches und Unhinterfragbares, über das keinerlei moralische Urteile zulässig sind, während wir doch andererseits nichtmenschlichen Tieren einen ebenso individuellen Charakter wie uns zugestehen, sie an unserer Schöpfungsunmittelbarkeit wie an unserer Erlösungsbedürftigkeit teilhaben lassen – doch Erlösungsbedürftigkeit wovon? Natürlich wäre es abwegig, nichtmenschlichen Tieren menschliche Begriffe von Moral aufzuoktroyieren, wie die Tötung einer Maus als akzeptabel und lobenswert, die Tötung eines Singvogels aber als verwerflich anzusehen,

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zumal die jagende Katze die erstere wie den letzteren als Nahrung ansieht und verwendet, während wir Menschen Mäuse als Schädlinge und damit als Freiwild, Singvögel hingegen als schützenswert ansehen. Mit einer menschengemachten Moral kommen wir hier nicht weiter. Was hindert uns jedoch daran zuzugestehen, dass es für die nichtmenschlichen Tiere in ihrer Schöpfungsunmittelbarkeit ebenso wie für uns einen Begriff von Moral geben kann, der ihnen je spezifisch ist und von unsren notwendigerweise verschieden? Ist nicht auch die menschliche Moral nicht überall und zu allen Zeiten gleich gewesen und ist es auch heute noch nicht? Wie viel haben heutige Moralvorstellungen noch mit der bürgerlichen Moral des 19. Jahrhunderts gemein oder mit der anderer Völker und Kulturen? Wie sehr also muss unser Begriff von Moral mit dem anderer Spezies identisch sein? Moralbegriffe, und damit auch das, was in der Theologie als Sünde oder Verfehlung angesehen wird, sind durchaus nicht gottgegeben und zeitlos, nicht für Menschen und womöglich auch nicht für Tiere. Es gibt Beispiele, bei denen Raubtiere als Freunde ihrer Beutetiere geschildert werden, Freundschaften unter Tieren über Artgrenzen hinweg, und Erzählungen von Tieren, die mit menschlichen und nichtmenschlichen Tieren zusammenlebend ihren Jagdtrieb eingeschränkt oder zumindest nicht auf nichtmenschliche Mitbewohner_innen ausgedehnt haben, ohne dass er ihnen jedoch grundsätzlich abhanden gekommen sei. So viele Beispiele gibt es, in denen sich Tiere altruistisch und damit nach menschlichen Begriffen hochmoralisch verhalten, und andere, die über Raub und Mord unter nichtmenschlichen Tieren berichten,38 dass es letzten Endes künstlich und aufgesetzt erscheint, wenn wir uns beharrlich weigern einzugestehen, dass auch nichtmenschliche Tiere zu so etwas wie ethischem oder unethischem Handeln in der Lage sind – auch wenn wir die Grundlagen tierlicher Ethik (nicht zu verwechseln mit Tierethik) nicht kennen, und sie vermutlich nur teilweise Überschneidungen mit unseren menschlichen Ethiken aufweisen. Aber das letzte Anthropinon, die Sünde, und damit auch die gottgegebene Verantwortung für das eigene Handeln, die Erlösungsbedürftigkeit, aber auch die vollumfängliche Erlösung selbst gehören längst nicht mehr nur uns Menschen allein – und haben es, bei Licht besehen, vermutlich auch nie. Nur treten die nichtmenschlichen Tiere erst jetzt langsam aus dem langen Schatten unserer menschlichen Sünde und Erlösungssehnsucht heraus, und indem wir sie ansehen, können wir erkennen, dass

38 Über derartige Verhaltensweisen bei Schimpansen berichtet etwa Jane Goodall im Interview, http://www.zeit.de/2011/34/Forschung-Jane-Goodall/seite-3 (abgerufen am 30.08.2014) »Es war furchtbar zu sehen, wie ähnlich sie uns sind. Die jungen Männchen waren fasziniert von dem Morden. Sie wollten zusehen, wenn ein anderer starb.«

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unsere Schuld, unsere Sünde, nicht nur uns allein bedrückt, sondern dass sie auch dieses letzte mit uns teilen, und doch unsere Schuld und Sünde, ebenso wie vorher unsere Würde, darum keineswegs kleiner wird, sondern eher größer, und ebenso wenig auch der Himmel, der auf die Erlösten aller Spezies wartet. Damit entfällt auch die Verpflichtung, uns nichtmenschlichen Tieren gegenüber einfach wohl zu verhalten, um so die Zahl der Leiden, für die sie im Himmel Wiedergutmachung erfahren, zu mindern und so den Himmel möglichst rasch wieder für uns allein zu haben, für uns, die wir seine einzigen rechtmäßigen Bewohner_innen sind. Nichtmenschliche Tiere, die nur darum den Himmel bevölkern dürfen, um uns dort zur Gesellschaft zu dienen oder damit die ihnen von uns angetanen Leiden wiedergutgemacht werden, wären Himmelsbewohner zweiter Ordnung, Untermieter des Paradieses, und indem wir uns ihnen gegenüber zu Lebzeiten wohl verhalten, mindern wir sowohl die Zahl der Leiden, für die sie im Himmel Wiedergutmachung erfahren sollen, wie wahrscheinlich auch die Verweildauer in diesem himmlischen Krankenstift der Tierseelen und die schiere Zahl der Tiere, die mit uns den Himmel teilen, tumber Kreaturen, die zur Sünde nicht fähig sind und damit, anders als wir, auch nicht wirklich im Vollsinn einer Erlösung teilhaft werden könnten. Dass Tiere nicht um ihrer selbst willen, sondern nur darum in den Himmel kommen, damit wir dort nicht allein sind oder damit ihnen dort die von uns auf Erden angetanen Leiden vergolten und wiedergutgemacht werden können, ist eine zutiefst anthropozentrische Sichtweise, die den Tieren die Schöpfungs- wie die Erlösungsunmittelbarkeit vorenthält. Das wäre eine allzu einfache Lösung für das Theodiezeeproblem, mindestens soweit es Tiere betrifft, um deren Leid auf Erden wir uns dann keine Gedanken mehr zu machen brauchten. Und wenn Tiere, anders als wir, nicht um ihrer selbst willen erlöst werden müssen und in den Himmel kommen, sondern nur zur Lösung des Theodizeeproblems,39 dann müssten wir Menschen uns keine Sorgen machen, unsere Einzigartigkeit in theologischer Hinsicht, unsere uns und nur uns eigentümliche Gottesebenbildlichkeit und unseren theologischen Anthropozentrismus auch nur im Geringsten zur Diskussion stellen zu müssen – wir müssen stattdessen einfach nur gut zu den Tieren sein. Aber lässt sich diese Exklusivität der menschlichen Schöpfungsunmittelbarkeit, der menschlichen Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit in irgendeiner Weise exegetisch stichhaltig begründen? Ist es nicht vielmehr reiner Speziesismus, an der Exklusivität unserer Sündhaftigkeit, unserer Erlösung und damit auch unserer Aufenthaltsberechtigung im

39 Zu diesem Thema erschien neuerdings Dougherty (2014); das Buch war mir leider bisher nicht zugänglich.

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Himmel festzuhalten – und sie sich notfalls mit ein wenig Gutsein zu den vermeintlichen schuld- und erlösungsunfähigen Tieren zu erkaufen?

S CHLUSS In der Lesart einer Theologie ohne anthropozentrische Scheuklappen ist es mit diesem Gutsein gegenüber Tieren nicht mehr getan. Wir haben nicht gute Verwalter einer wohlausgestatteten Erde zu sein, die Gott den Menschen zu treuen Händen übergab, einer Immobilie, deren lebendes Inventar wir gut zu pflegen haben, um dem Herrn wohl zu gefallen. Es reicht nicht, in paternalistischer Manier Barmherzigkeit zu üben an den Tieren, sich nach vollbrachter Tat im Glanz unserer erhabenen Menschlichkeit zu sonnen und so die Tiere erneut zu instrumentalisieren, diesmal nicht durch materielle Ausbeutung, sondern als Objekt unserer Barmherzigkeit, das uns passiv zur Erhaltung der uns eigenen Gottebenbildlichkeit verhilft und so wieder nur Mittel zum Zweck ist. Wenn wir vor der Lektüre der biblischen Texte die anthropozentrische Brille ablegen, können wir nicht umhin zu erkennen: Nichtmenschliche Tiere teilen mit uns die gleiche Schöpfungsunmittelbarkeit, die gleiche Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit. Sie sind nicht um unseretwillen geschaffen, wurden nicht um unseretwillen aus dem Paradies vertrieben und werden nicht um unseretwillen erlöst, sondern um ihrer selbst willen. Vor diesen Erkenntnissen die Augen zu schließen heißt die biblischen Texte Lügen zu strafen. Es ist Zeit, die Augen zu öffnen, Zeit für eine unvoreingenommene Lektüre und Zeit für eine Begegnung aller Geschöpfe auf Augenhöhe. Und wer weiß, vielleicht eröffnen sich aus dieser unvoreingenommenen Begegnung ja auch ganz neue Perspektiven, deren Ergebnisse die Human-Animal Studies wie die Theologie bereichern könnten. Nicht ohne Grund: Religionswissenschaft, Philosophie und Theologie von Philo von Alexandrien über Augustins und Luther bis zu Mircea Eliade oder Karl Barth und ihren Nachfolgern40 haben als eine ihrer Prämissen, dass die Grenze zwischen Menschen und den anderen Lebewesen grundlegend und unüberwindbar sei. Vom alten Ägypten über die griechische und römische Antike und das Mittelalter bis in die Neuzeit galt, dass es in allen Religionen von Anfang an, in der christlichen von der Schöpfung bis zur Erlösung, nur um den Menschen und sein Gottesverhältnis geht, während Tieren von vornherein jede Fähigkeit oder Neigung zur Ausübung von Religion abgesprochen wurde. Doch nun haben Philosophen wie Jacques Derrida, Anthropologen wie Tim Ingold und

40 Ingold (2008); vgl. auch Gross (2013).

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Theologen wie David Clough dazu aufgefordert, unser Blickfeld zu erweitern, neue Perspektiven in den Blick zu nehmen und die anthropozentrischen Scheuklappen abzunehmen. Was können nun Human-Animal Studies zur Theologie, was Theologie zu Human-Animal Studies beitragen? Durch diese neue Perspektive der HumanAnimal Studies kann in der Theologie manches neu positioniert oder gar zurechtgerückt werden, der Mensch kann nicht mehr nur wie bisher höchstens von den Tieren lernen, sie auch hier wieder instrumentalisierend, sondern sie in diesem Lernprozess als seine Brüder und Schwestern auf Augenhöhe erkennen. Der heillose und scheinbar unheilbare Gegensatz, ja Kampf zwischen Mensch und allem, was wir als Natur bezeichneten, kann aufgehoben werden. Und was kann der Beitrag der Theologie zu den Human-Animal Studies sein, in einer inzwischen weitgehend säkularen Welt? Spielt es noch eine Rolle, wenn die schweigende Mittäterschaft, die Carl Anders Skriver gar als »Verrat« an den Tieren bezeichnete, ermöglicht durch die anthropozentrische Perspektive der Theologie und des abendländischen Denkens an sich, dadurch abgelöst würde, dass Theologie, Theolog_innen, sich solidarisch mit den Tieren erklärten, statt weiter unsere gottgegebene Exklusivität im Heilsplan Gottes zu behaupten? Würde sich das Abendland neu denken, wenn diese Prämisse endlich aufgegeben würde, mit der Philosophie und der Anthropologie nun auch von der Theologie? Die Grundlagen dafür sind – dank Gelehrten wie zuerst Peter Singer, Andrew Linzey und Erich Gräßer und zuletzt Stephen Clark, David Clough, Aaaron Gross, Tim Ingold und anderen – geschaffen. Wir werden sehen.

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Volkskunde/Europäische Ethnologie Zur kulturwissenschaftlichen Erforschung des Mensch-TierVerhältnisses und der Mensch-Tier-Beziehungen J UTTA B UCHNER -F UHS »There are many subjects in the history of biology and anthropology that could sustain the themes discussed in this introduction, so why has this book chosen to explore primate sciences in particular? The principal reason is that monkeys and apes, and human beings [...], exist on the boundaries of so many struggles to determine what will count as knowledge.« HARAWAY 1989: 13

V ORBEMERKUNG Der Aufsatz stellt die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit Mensch-TierVerhältnissen und -Beziehungen als Teil der Fachgeschichte der Volkskunde und ihrer wissenschaftlichen Neupositionierungen dar. Die zu beobachtende tendenzielle Ausblendung der Tiere sowie die Anthropozentrik, die das Vielnamensfach trotz aller Heterogenität eint, sind insofern bemerkenswert, als zur klassischen Volkskunde, die sich mit bäuerlicher Kultur in vormodernen Zeiten befasste, Tiere stets dazugehörten. Spezifisch für die hier untersuchte Kulturwissenschaft ist, dass Tier-Mensch-Beziehungen in lebensweltlichen Kontexten sichtbar waren, auch wenn sie, wie der Beitrag nachweist, marginalisiert wurden. Die fortschrittsorientierte Wende hin zur Untersuchung technischer Lebenswelten bestärkte die Distanz zu tierbezogenen Themen.

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Gleichwohl lässt sich in den 1990er Jahren ein kulturwissenschaftlicher Aufbruch der Untersuchung von Mensch-Tier-Verhältnissen und -Beziehungen feststellen, der in anderen Fächern erst in jüngster Zeit vollzogen wird (vgl. Brantz/Mauch 2010). Die Kulturwissenschaft verfügt also über fachgeschichtliche Potentiale, die genutzt werden könnten. Fachliche Entwicklungen, die anhand ausgewählter Volkskundekongresse für den Beitrag untersucht werden, zeigen, welcher Stellenwert Tierthemen eingeräumt wurde und wird. Die Aufbrüche und das Potential der volkskundlichen Tier-Mensch-Forschungen wurden aber vom Fach selbst nicht erkannt, nur so ist zu erklären, dass der Kongress zum Thema »Natur – Kultur« (1999) tierbezogene Arbeiten nur am Rande zur Kenntnis nahm. Nach der Skizzierung und Bewertung der historischen Fachentwicklung wendet sich der Aufsatz am Ende den aktuellen tierbezogenen Arbeiten zu. Es wird deutlich, dass nach dem Aufbruch der 1990er Jahre fachliche Kontinuitäten sowie Bündelungen im Sinne kulturwissenschaftlicher HumanAnimal Studies fehlen. Der Beitrag stellt einzelne Studien in Teilen ausführlicher vor, um die fachliche Beschäftigung mit Tieren transparent zu machen. Dies ist notwendig, weil die verstreuten Erträge kulturwissenschaftlicher Mensch-Tier-Forschungen bisher nur unzureichend wahrgenommen wurden. Dorothee Brantz und Christof Mauch etwa erwähnen die Beschäftigung mit Tieren in der Kulturwissenschaft zwar löblich, aber nennen nur eine Publikation, der sie wiederum den Platz einer Fußnote zuweisen (vgl. ebd.: 11, Fußnote 15). Das Ziel des Aufsatzes besteht darin, den kulturwissenschaftlichen Umgang mit Tieren, der stets auf Mensch-Tier-Beziehungen und -Verhältnisse gerichtet ist, als Teil der Fachgeschichte darzustellen, auf Marginalisierungen und Ausblendungen aufmerksam zu machen, was auch heißt, die Anthropozentrik der Kulturwissenschaft anhand aktueller Veröffentlichungen zur Kultur aufzuzeigen, und fachbezogene Kulturdefinitionen – wie entgrenzt sie auch sein mögen – kritisch zu beleuchten. Das Vorgehen ist wie folgt: Es wird grundsätzlich von einer (für Außenstehende verwirrenden) Vielfalt des Faches ausgegangen.1 Es ist eine neue Pluralität mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen entstanden, die jedoch – trotz aller Heterogenität – eint, dass die Auseinandersetzung mit der Lebenswelt einen fachspezifischen Zugang zur Analyse von kulturellen Prozessen in historischer und aktueller Perspektive darstellt. In drei Schritten wird nach Bündelungen ge-

1

Vgl. http://www.euroethno.hu-berlin.de/institut/fach/fragen-antworten vom 09.02. 2014.

V OLKSKUNDE/E UROPÄISCHE E THNOLOGIE

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sucht, um die Frage nach der Behandlung oder Nichtbehandlung der Tiere im Fach zu beantworten: Erstens wird auf die (gemeinsame) Geschichte der Volkskunde geschaut. Zweitens werden ausgewählte Kongressbände, die sich jeweils als disziplinäre Vergewisserung über die aktuelle Fachidentität verstehen lassen, dahingehend untersucht, ob und wie Tiere Gegenstand von Vorträgen waren. In einem dritten Schritt erfolgt eine eigene kleine empirische Erhebung. Das Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, das sämtliche Abschlussarbeiten nennt, wird auszugsweise daraufhin untersucht, ob Arbeiten vorhanden sind, die sich mit Mensch-Tier-Verhältnissen oder Mensch-Tier-Beziehungen befassen.

E INLEITUNG : N EUES N ACHDENKEN

ÜBER

T IERE

Ein Blick in die Geschichte des Faches, das früher Volkskunde hieß und das in den letzten Jahrzehnten einen intensiven und kontroversen Prozess der Re- und Neuformulierung, der Umbenennung und Umgestaltung, der Öffnung und Entgrenzung hinter sich gebracht hat, zeigt, dass Tiere im Verlauf der Entwicklung der wissenschaftlichen Erforschung der unterschiedlichsten Kulturen im Kontext deutschsprachiger Gesellschaftsformen immer wieder thematisiert worden sind. In der Tat lassen sich schon in den Anfängen des Faches vielfältige Bezüge zu Tieren finden, etwa wenn Wilhelm Heinrich Riehl 1869 den Niederrhein in seinem Wanderbuch beschreibt und die Haltung der Kühe in eingezäunten Weideflächen als typisch für Landschaft und Kultur kennzeichnet (Riehl 1869: 113). Auf ihren Wegen durch die (Volks-)Kulturen sind die Volkskundler_innen immer wieder – wie schon Riehl – auf Tiere gestoßen, und diese Begegnungen haben in den Texten, in der Sach- und Erzählforschung vielfältige Spuren hinterlassen. Auch wurden einzelne Tierarten im Kontext volkskundlich relevanter Forschungsgegenstände über die letzten 150 Jahre immer wieder in den Blick genommen. Als Beispiel seien hier die Bienen angeführt, deren kulturelle Bedeutung Siegfried Becker (1991) in seinem profunden Aufsatz »Der Bienenvater« untersucht hat. Dabei verweist Becker u.a. auf volkskundlich zu rezipierende Publikationen zur Bienenzucht aus den Jahren 1869, 1897, 1900, 1926, 1929, 1935, 1939, 1946, 1952, 1954, 1963, 1977, 1980, 1987 und 1990 hin. Eine solche kontinuierliche Beschäftigung mit einer Tierart im volkskundlichen Kontext findet sich auch bei den Hunden (Buchner 1991) oder auch, um ein weiteres Beispiel zu nennen, Pferden. Eine genauere Überprüfung zeigt indes, dass die Tiere nicht als Tiere thematisiert werden, sondern stets im Kontext menschlicher Kultur, sei

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es bei der Arbeit, sei es als Verkehrsmittel, als Nahrungsmittel oder sei es als Erzählgut oder illustrativ in Abbildungen. Diese Behandlung weist auf eine distanzierte Betrachtung der Auseinandersetzung der Kulturwissenschaften mit den Tieren hin. Tiere waren immer wieder an vielen Stellen präsent, ohne dass sie als Tiere sichtbar wurden. Diese eigentümliche Ambivalenz lässt sich etwa in der Illustrierten Alltagsgeschichte des deutschen Volkes. 1550-1810 von Sigrid und Wolfgang Jacobeit (1986) nachweisen. Das gesamte Buch ist eine reichhaltige Fundgrube für Tierabbildungen, ohne dass ein einziges Tier im Register genannt wird. Und statt der Tiere finden wir ganz volkskundlich Stichworte wie: Butter, Fischerei, Honig, Jagdwesen, Milch, Molke, Viehhaltung (ebd.: 302 ff.). Die Veröffentlichung ist der Volkskunde in der DDR zuzuordnen, was freilich eigenständig zu deuten wäre.2 Doch auch in einschlägigen westdeutschen Veröffentlichungen sieht es nicht anders aus. Auch die Einführungen in die Volkskunde von Herman Bausinger (1971b) und Rolf W. Brednich (1988) weisen weder als Kapitelüberschriften noch in den Stichwortregistern Verweise zu Tieren auf. Dass bis spät in den 1980er Jahren weder das Stichwort Tier noch Verweise auf einzelne Tiere, die für die Kultur wichtig waren, in den Einführungen vorkommen, ist kein Zufall, sondern offensichtlich Teil einer Fachidentität, die es zu klären gilt.3 Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist deshalb auch nicht, das Verhältnis der Kulturwissenschaft zum Tier umfassend zu klären, sondern grundlegende Perspektiven auf den kulturwissenschaftlichen Umgang mit Tieren zu entwickeln. Da sich in den letzten Jahren unter der Perspektive der HumanAnimal Studies ein neuer Zugang zu Tieren etabliert hat, der die »gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen« untersucht und neue Fragen zum wissenschaftlichen Umgang mit Tieren stellt (Chimaira 2011), ist zu klären, wie Tiere in der Geschichte und als Akteure in der kulturwissenschaftlichen Disziplin behandelt wurden und werden. Mensch-Tier-Verhältnisse, das hat schon Donna Haraway (1989: 13) betont, bewegen sich an der Grenze dessen, was als Kulturwissen definiert wird, und stehen damit im Mittelpunkt des Kulturbegriffes. Das Fach Volkskunde/Europäische Ethnologie/Empirische Kulturwissen-

2

Hier besteht Forschungsbedarf und in diesem Kontext soll darauf hingewiesen werden, dass aktuell Dorothee Brantz zu einer Konferenz zu Mensch-Tier-Verhältnissen in der DDR für den Februar 2015 an die Technische Universität Berlin eingeladen hat.

3

In der dritten, überarbeiteten und erweiterten Auflage des Grundrisses, die im Jahr 2001 erscheint, gibt es das Stichwort Mensch und Tier. Bezeichnenderweise stammt der Hinweis von Andreas C. Bimmer, der gemeinsam mit Siegfried Becker den Marburger Mensch-und-Tier-Band herausgegeben hat (vgl. Becker/Bimmer 1991b).

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schaft/Kulturanthropologie hat von dieser Neubestimmung der Kultur(-forschung), die sich nicht mehr bloß zwischen menschlichem Tun und der materiellen und immateriellen Kultur bewegt, bisher nur wenig wahrgenommen. Aktuelle Entwicklungen zeigen aber, dass die Aufbruchstimmung, die z.B. vom Chimaira Arbeitskreis ausgeht, auch in kulturwissenschaftlichen Kreisen ankommt. Es besteht also begründete Hoffnung, dass in die Praxis der disziplinären Marginalisierung und Ausblendung des Mensch-Tier-Verhältnisses und der Mensch-Tier-Beziehungen, die im folgenden Beitrag dargelegt und nachgewiesen werden, Bewegung kommt. Das Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien plant (gemeinsam mit dem Forschungsschwerpunkt der historisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Uni Wien) eine Tagung zum Thema »Ökonomien tierischer Produktion. Mensch-Nutztier-Beziehungen in industrialisierten Kontexten«, die im Mai 2015 stattfinden wird. »Ziel der Tagung ist es, die blinden Flecken der Tierproduktion sichtbar zu machen und die unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und methodischen Zugänge zu einem vernachlässigten Forschungsfeld zusammenzubringen« (Tagungsankündigung Universität Wien, Forschungsschwerpunkt WiGi 20144 vom 30.7.2014). Dass im aktuellen Call auf Norbert Elias und auf das Verstecken der Tiere im Prozess der Fleischproduktion aufmerksam gemacht wird, kann als Anknüpfung an kulturwissenschaftliche Untersuchungen zur industrialisierten Tierschlachtung im ausgehenden 19. Jahrhundert (vgl. Buchner 1996: 76-96; dies. 1997: 87-104) verstanden werden. Ganz so blind ist der von den Tagungsplaner_innen konstatierte Fleck der Mensch-Nutztier-Beziehungen wohl doch nicht. Die geplante Tagung zeigt jedenfalls, dass Belange der Human-Animal Studies in kulturwissenschaftlichen Kontexten derzeit aufgegriffen werden, was sehr zu begrüßen ist, auch wenn die Konsequenzen für eine tiersensible Kulturwissenschaft bisher noch offen sind. Die folgenden Überlegungen sind vor dem Hintergrund der Bitte der Herausgeber_innen dieses Bandes entstanden, herauszuarbeiten, wie Tiere bisher im eigenen Fach »behandelt […], fokussiert bzw. ausgeblendet worden« sind. Bevor aber diese Fragen, die zur Vorbereitung an die Autor_innen verschickt wurden, angegangen werden können, muss als Erstes geklärt werden, um welches Fach es sich bei den folgenden Überlegungen handelt und handeln soll.

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http://fsp-wi-ge.univie.ac.at/uploads/media/CfP_Ökonomien_tierischer_Produktion.pdf

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E IN F ACH –

VIELE

N AMEN

»Von Landesstellen für Volkskultur über Institute für Europäische Ethnologie oder solchen für Kulturanthropologie bis hin zum klassischen Volkskundlichen Seminar und noch darüber hinaus reicht die Facettenvielfalt in der Namensgebung kulturwissenschaftlicher Einrichtungen. Oftmals sind einer solchen Namensfindung lange und z.T. heftige Diskussionen vorangegangen«.

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Während bis in die 1980er Jahre hinein die Frage nach der Volkskunde als ein Fach relativ leicht beantwortet werden konnte und auch in Einführungen zum Fach gute Orientierungshilfen vorliegen, kommt es mit dem Abschied von der traditionellen Volkskunde mit ihren kanonisch definierten Gegenständen und Methoden zu einer vielgestaltigen, eher unklaren Entwicklung des Faches, die es schwer macht, von einer Disziplin und ihrem Verhältnis zu Tieren zu sprechen. Mit Hinweis auf den Psychologen Marcia könnte von einer »diffusen Identität« gesprochen werden, die um 1990 die disziplinäre volkskundliche Landschaft prägte. Neuorientierungen und -ausrichtungen setzten ein. Die Deutsche Gesellschaft für Volkskunde behielt zwar ihren Namen, aber an den universitären Standorten gibt es inzwischen recht heterogene Zuschnitte, gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Namensgebungen. So wird auf der Münsteraner Homepage von der »Fachrichtung Volkskunde/Europäische Ethnologie/Kultur anthropologie/Empirische Kulturwissenschaft im deutschsprachigen Raum« gesprochen.6 Ich selbst habe in den 1980er Jahren am Institut für Europäische Ethnologie und Kulturforschung in Marburg studiert (das heute Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft heißt), am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie in Hamburg habilitiert, am Seminar für Europäische Ethnologie/Volkskunde in Kiel und am Fachgebiet Volkskunde/Kulturgeschichte in Jena gearbeitet. Die gewünschte disziplinäre Verortung des Tierverständnisses im eigenen Fach ist also für die ehemalige Volkskunde und ihre Nachfolger kein leichtes Unterfangen, sie erweckt den Eindruck von Einheit, wo Vielfalt und Abgrenzungen Realität sind.

5

Ankündigung des Buches Namen und was sie bedeuten, http://www.amazon.de/ Namen-was-sie-bedeuten-Namensdebatte/dp/3926920343 vom 27.07.2014. Vgl. Bendix/Eggeling 2004.

6

http://www.uni-muenster.de/Volkskunde vom 01.02.2014.

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V OLKSKUNDLICHE S ICHTWEISEN

AUF

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T IERE

Die volkskundliche Welt des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts war in weiten Teilen eine bäuerliche und als solche bis zur Mechanisierung im 20. Jahrhundert eine Welt, die durch und durch von Tieren geprägt war. In der volkskundlichen Bestimmung des Forschungsgegenstandes aber haben die Tiere keinen Platz: »Der Bauer ist seit langem der Volkskunde liebstes Kind. Man sah in ihm den Bewahrer alter Sitten und Gebräuche, den Träger bunter Trachten und den Besitzer gediegenen Hausrats selbstgefertigter oder handwerklicher Produktion« (Museum für Deutsche Volkskunde Berlin 1978: 5). Es ist kein Zufall, und andere Veröffentlichungen könnten hier problemlos an die Seite gestellt werden, dass Tiere in der menschen- und sachorientierten Forschung keine Bedeutung hatten. »In den bisherigen sozialwissenschaftlichen und vor allem volkskundlichen Studien«, so Siegfried Becker und Andreas Bimmer 1991, »zum Tier, z.B. in der Brauch-, Erzähl- oder Geräteforschung, spielten Tiere immer nur eine sachbezogene Rolle am Rande des Interesses, selten wurde die soziale Qualität der Beziehungen zum Menschen hinterfragt und dargestellt. Der Dreiklang Mensch-TierUmwelt, der gerade in letzter Zeit zunehmend an kultur- und sozialpolitischer Bedeutung gewinnt, ist volkskundlich nahezu völlig unbeachtet geblieben« (Becker/Bimmer 1991a: 7).

Wir haben es mit einer paradoxen Situation zu tun, dass in der Beschäftigung mit der bäuerlichen Welt Tiere allgegenwärtig sind, also wahrgenommen wurden, und gleichzeitig wissenschaftlich marginalisiert und ausgeblendet werden. Einige Hinweise mögen genügen: Um 1800 waren »75 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig« (Museum für Deutsche Volkskunde Berlin 1978: 79), was konkret Handarbeit und Arbeit mit Tieren bedeutete. Eine dem Text beigefügte Ständetreppe aus dem Jahr 1860 zeigt einen pflügenden Bauern als Fundament, der (in den 1970er Jahren moderne) Fokus richtet sich auf den arbeitenden Bauern und auf das Ausgeliefertsein des niedrigsten Standes und seine Abhängigkeit von adligen Grundbesitzern. Das Bildmaterial, das zwei Pferde zeigt, die den Pflug ziehen, bleibt unkommentiert. Vermutlich war die Botschaft auch ohne nähere Erläuterungen verständlich: Es gehörte zum Wissenskanon in volkskundlichen Kontexten, dass die bäuerliche Welt hierarchisch gegliedert war, dass nicht nur Pferde, sondern auch Ochsen, Kühe oder auch Ziegen als Zugtiere Verwendung fanden, und etwa Pferdebauern vermögender als Kuhbauern waren. Tiere wurden in subtiler

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Weise ausgegrenzt. Historische Fotos wurden in den Erhebungen in der Regel anthropozentrisch benannt: »Der Beliebtheit und Häufigkeit von Motiven wie ›Bauer beim Pflügen‹ oder ›Bauer beim Eggen‹ entsprechend stellt der landwirtschaftliche Transport ein Motiv dar, das recht häufig vertreten ist« (Schlimmgen-Ehmke 1988: 11). Die Tiere werden also nicht erwähnt und haben in der Bestimmung von Kultur keine Bedeutung an sich – so etwa in der Darstellung der »Wagen und Karren in Minden-Ravensberg« (ebd.), in der die Fahrzeuge zwar eingehend untersucht wurden, die Tiere aber, Pferde und Kühe, nur en passant auf den Bildern erscheinen und wie Beiwerk wirken. Tiere kommen nur in den Blick, wenn sie Bedeutung für den Menschen haben, etwa in der Unterscheidung von arm und reich. Die Statusfrage hierarchisierte die Zug- und Reittiere und richtete das Augenmerk auf die quantitative Erfassung der Nutztiere, z.B. die Zahl der Schweine, der Milchkühe. Die bäuerliche Lebenswelt war untrennbar mit Tieren verbunden, die vor allem der Nahrung(-sproduktion) und der Erleichterung der menschlichen Arbeit dienten. Entsprechend wurden Tiere auch in Veröffentlichungen berücksichtigt, sie wurden erwähnt, und zwar an der bäuerlichen Arbeit und am wirtschaftlichen Nutzen orientiert. In den 1980er Jahren richtete sich der volkskundlich-wissenschaftliche Aufbruch auch auf Frauen und ihren Alltag – der Umgang mit Tieren in der Landwirtschaft gehörte zu den weiblichen Aufgabenbereichen. Wegweisend war die Veröffentlichung von Ingeborg Weber-Kellermann Frauenleben im 19. Jahrhundert (1983). Die untergeordnete Stellung von Frauen wurde durch die Untersuchung von Machtverhältnissen unübersehbar. Allerdings waren Tiere aber auch aus diesen Deutungskontexten ausgeblendet. Am Rande lassen sich jedoch Spuren finden, wie das Beispiel des folgenden Spruches zum Landleben im 19. Jahrhundert veranschaulicht. »›Es ist bloß meine Frau ertrunken, sagte der Bauer, ich dachte schon, es wär ein Kalb in den Teich gefallen!‹ Solche scherzhaften Redensarten«, so die Deutung von Weber-Kellermann, »belegen den Stellenwert, den die Frau im bäuerlichen Gefühlshaushalt einnahm – logisch innerhalb agrarisch-wirtschaftlichen Denkens, doch darum nicht weniger abwertend für die Frau als Person« (ebd.: 84). Aus heutiger Perspektive der etablierten Gender Studies erscheint der kritisch gedachte Kommentar recht milde, und die Diskriminierung durch sexistische Scherze ist nicht tiefer gehend herausgearbeitet. Seinerzeit aber war es ein wichtiger Schritt aufzuzeigen, dass und wie hierarchische Verhältnisse in bäuerlichen Familien vorherrschten. Im Zuge dieser Sichtbarmachung konnte die untergeordnete Stellung der Frauen kritisiert werden. Die hierarchische Stellung der Menschen zu Tieren blieb jedoch unberücksichtigt. Gänserupferinnen etwa

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werden bei ihrer Arbeit anhand einer Abbildung gezeigt, die toten Tiere auf dem Schoß und fest im Griff (vgl. ebd.: 89). Visualisiert werden körperlich arbeitende Frauen; ob und wie Frauen in die Schlachtung der Tiere eingebunden waren, solche und ähnliche Fragen, die die Nutztiere in den Blick genommen hätten, wurden nicht gestellt. In diesem Kontext soll daran erinnert werden, dass es eine eigene Geschichte bäuerlichen Lebens und Wirtschaftens ist, die Nähe und Distanz zu Tieren unter der Perspektive des Wohnens und der Stallungen zu betrachten. Das niederdeutsche Hallenhaus z.B. beherbergte Mensch und Vieh unter einem Dach.7 Wärmeaspekte etwa machten das räumlich nahe Beisammensein von Mensch und Tier sinnvoll. Zivilisatorisch bedeutsam sind jedoch die zunehmende Trennung und die Distanz zu den Tieren, die sich im Wunsch nach freistehenden Wohnhäusern (und im Wechsel der Kleidung) ausdrückt. Zunehmend wurde der Geruch zum Problem. Die bäuerliche Lebenswelt zeichnet sich heutzutage durch eine scharfe Grenzziehung der Menschen zu den Nutztieren aus. Diese Grenze ermöglicht es, in großer körperlicher Nähe mit Nutztieren umzugehen, ohne sie in den Wohnbereich aufzunehmen, wie es zur typischen Heimtierhaltung bürgerlicher Provenienz gehört. D.h. freilich nicht, dass etwa frisch geschlüpfte Küken nicht bei Bedarf in der bäuerlichen Küche hätten Schutz finden können. Aus Erinnerungsinterviews zur Kindheit in Wiesbaden um 1900 geht hervor, dass Küken am Herd gewärmt wurden und der Backofen sogar als Schlüpfort der Küken genutzt wurde. Die Interviews zeugen von einem emotionalisierten Verhältnis zu Nutztieren und von Hygienestandards, die die Reinlichkeit der Heimtiere nicht unbedingt erforderte (vgl. Buchner 1990: 227-232). In der traditionellen Volkskunde war das Wissen um die Bedeutung der animalischen Arbeitsleistung selbstverständlich: »Anspannen, Pflügen, Schlachten, Aberglaube, der Wolf im Märchen, Tiersegen […] waren die Themen, die gerne und regelmäßig behandelt wurden« (Bimmer 1991: 200). Die Tiere aber spielten in der disziplinären Reflexion keine Rolle. Diese Ausblendung von Tieren war kein Zufall, sie war auch nicht einzelnen Autor_innen zuzuschreiben, sondern fand auf breiter Ebene statt. Die Hinwendung zu technisierten Lebenswelten musste sich von der klassischen Erforschung bäuerlicher Kultur abwenden. »Der industrialisierte Mensch«, so der Titel des 28. Deutschen Volkskunde-Kongresses in Hagen (1991), bündelte die unterschiedlichen Zugänge. Die Positionierungen zeigen, dass das Ausblenden von

7

Weitere Informationen sind zu finden unter http://www.fachwerk.de/lexikon/ hallenhaus.html vom 01.07.2014.

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Tieren programmatisch war. Im Eröffnungsvortrag erfolgte ein kritischer Zugang zum Thema (Industrie-)Arbeit, zu Arbeitsbedingungen und Veränderungen etwa mit Bezug auf die zunehmende Individualisierung. »Kultur als Ganzes zu verstehen«, erläuterte im weiteren Carola Lipp, »hieße die Kultur der modernen Industriegesellschaft als das zu begreifen, was sie ist, als eine im Alltag der Menschen von diesen erzeugte industriegesellschaftlich geprägte Lebenswelt, die sich einerseits in plurale Kulturstile auffächert, andererseits ihr gemeinsames Fundament in der Spezifik der historischen Entwicklung der Industriegesellschaft findet, die den Mensch und seine symbolischen Ordnungen modelliert und von diesen modelliert ist«(Lipp 1993 37).

Es gehe um soziale und kulturelle Distinktion sowie um materielle Ressourcen und Macht. Mechanismen der kulturellen Hervorbringung von sozialen Ungleichheiten und Hierarchien gelte es zu untersuchen. Die einem weiten Kulturbegriff geschuldete Aussage, Kultur als Ganzes zu begreifen, führte allerdings nicht dazu, dass Tiere im Kontext der Industrie- und Technikgeschichte berücksichtigt worden wären. Diese Ausblendung ist insofern aufschlussreich, als sie verdeutlicht, dass der Anspruch des postulierten umfassenden Kulturbegriffs nicht wirklich eingelöst wurde.

T IERE

UND

(F REILICHT -)M USEUM

Während die Volkskunde mit den Tieren ein theoretisches Problem hatte und sie in der Regel instrumentell im Kontext menschlicher Kultur wahrgenommen hat (eher die Milch als die Kuh, eher das Kummet als das Pferd), erhielten die Tiere auf der Ebene der Vermittlung von Kultur im Verlauf der Entwicklung der Freilichtmuseen eine besondere Bedeutung. Aber auch hier sind die Tiere in den Schriften zunächst als kulturelles Beiwerk zu sehen und damit marginalisiert. Die technische Entwicklung auf dem Land stellt der Band Vom Klepper zum Schlepper in den Mittelpunkt, der 1994 als Teil der kulturwissenschaftlichen Schriftenreihe der Museen Cloppenburg, Hohenheim, Kiekeberg, Schleswig und Bad Windsheim erschien (vgl. Fok/Wendler/Wiese 1994). Tiere werden als Antriebskräfte, als Vorstufe zur motorbetriebenen Landwirtschaft behandelt. Die Zugkraft von Pferden – so ist etwa zu erfahren – wurde nicht nur zur Feldarbeit, sondern auch stationär zum Antrieb von landwirtschaftlichen Maschinen genutzt, die ohne Elektrizität oder Verbrennungsmotoren betrieben wurden: Mittels Tieren, die eingespannt in Göpeln waren, wurde die Zugkraft in eine drehende

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Bewegung umgewandelt (vgl. Klocke 1994: 37), d.h., die Tiere mussten in einem stetigen Rundgang die mechanischen Göpel antreiben. Genaue Berechnungen, wie die Göpeltechnologie beschaffen sein musste, damit die Tiere die beste Leistung erbringen konnten, erfolgten. Zu erfahren ist, dass auch Hunde zur Arbeit genutzt wurden – von Hunderädern und Hundetretgöpeln ist die Rede. Die dinglichen Artefakte stehen im Zentrum, sie sind überliefert und in den musealen Bestand eingegangen. Es wäre eine eigene kleine Untersuchung wert, wie in volkskundlichen Museen die Verbindung von Objekt und Tier ausgeblendet, kaschiert oder auch präsentiert wird. Im Beitrag von Klocke jedenfalls spielte die Behandlung der Tiere keine Rolle. So ist weder etwas darüber zu erfahren, wie lange die Pferde oder auch Hunde arbeiten mussten, noch, wie sie vor Druckstellen und Fehlbelastungen geschützt wurden oder was z.B. gemacht wurde, wenn die Arbeitsleistung eines Tieres dringend benötigt wurde, aber das entsprechende Tier zu diesem Zeitpunkt krank war. Die Maximierung des Nutzens unter der Einbeziehung der Kosten bestimmte den Umgang mit dem Tier. Ein Hund war freilich leichter und kostengünstiger zu ersetzen als ein Pferd. Das aktuelle Beispiel der digitalen Darstellung des Cloppenburger Hundegöpels bestätigt, dass die museale Präsentation nach wie vor gut ohne eine Reflexion der Mensch-Tier-Artefakt-Verhältnisse auskommt. Das Freilichtmuseum hat eine Internetseite des Hofes Wehlburg, der in Bild und mit kurzem Text vorgestellt wird. Es heißt: »Hundegöpel zum Betrieb der Butterkarne, ein frühes Beispiel für die Mechanisierung der Landwirtschaft«.8 Dargestellt wird demnach ein Ausschnitt aus der technischen Entwicklung der Landwirtschaft. Dass es sich um einen Hund handeln musste, der durch seine beständige Laufkraft den Antrieb gewährleistete, mutiert zum technischen Kuriosum. Stets verfügte die an den Dingen orientierte museale Volkskunde über Objekte, für deren Einsatz und Verwendung Tiere unverzichtbar waren. Tiere waren somit nie ganz vergessen, und die volkskundlichen Museen haben heutzutage Potential, Tiere und ihren Stellenwert in historischen bäuerlichen Lebenskontexten präsenter werden zu lassen. Über Dinge und ihre Verbindung zu animalischen Lebewesen in historischen Kontexten wäre also weiter nachzudenken. Dieses Argument darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass Tiere in

8

http://www.zum.de/Faecher/G/BW/Landeskunde/w2/nsachsen/museen/cloppenburg/ hundegoepel.htm vom 11.03.2014.

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volkskundlichen Museen keine Rolle spielen. Im Gegenteil: Gerade Freilichtmuseen bieten »tierischen Museumsbewohnern« neue Formen von Lebensraum.9 Hermann Kaiser (2008: 11) hat auf die Bedeutung von Stallbauten, also auf die »Klärung der Beziehungen zwischen dem Baugefüge und der permanenten Entwicklung der dort untergebrachten Tierrassen und dem Wandel zeitspezifischer Haltungsbedingungen« hingewiesen. So berichtet er von einem Versuch, wo in alte Ställe auf dem Gelände des Museumsdorfs Cloppenburg lebendes Vieh einziehen sollte. »Doch die gecharterten Pferde weigerten sich, in die dunklen und engen Tiefställe überhaupt zu gehen« (ebd.: 11 f.). Moderne Pferde haben also in Auseinandersetzung mit ihren Haltungsbedingungen einen Eigensinn entwickelt, der sie davon abhielt, die alten Ställe zu betreten. Diese Beobachtung ist mehr als eine kuriose Anekdote, sie lässt sich vielmehr als Hinweis verstehen, dass Pferde eine eigene Lerngeschichte haben können und damit aktiver Teil historischer Kultur sind. Forschungsbedarf besteht, den Kaiser vor allem für die Freilichtmuseen formuliert (vgl. ebd.: 39 f.). In heutigen Freilichtmuseen haben Tiere vor allem Schauwert, und sie fügen sich in die Hauslandschaften ein. Felder werden z.B. mit Ochsen- und Pferdegespannen bewirtschaftet, einzelne Schweine oder auch Hühner, Gänse und Enten werden gezeigt oder an besonderen Schautagen wird ein Pferd beschlagen oder ein Schäfer ist bei der Arbeit zu beobachten.10 Hervorzuheben sind museale Konzepte, die Tiere in die Erhaltung vergangener Lebenswelten einbeziehen. Zur Darstellung der Landwirtschaft in der Geschichte werden ausgewählte Tiere präsentiert, wobei deren Nutzungscharakter im Zentrum steht. Der Hessenpark etwa setzt sich für alte und gefährdete Nutztierrassen ein und hat eine eigene kleine Infobroschüre erstellt. So heißt es, dass »unseren Besuchern ein möglichst authentisches Bild vermittelt [werden soll. Die] alten Rassen [sind] aufgrund veränderter Nutzungs- und Leistungsansprüche verdrängt worden. Als zertifizierter Archepark bemühen wir uns um den Erhalt oder die Rückkreuzung von bedrohten Nutztierrassen, damit die besonderen Eigenschaften dieser Tiere nicht unwiederbringlich verloren gehen«11.

9

http://www.freilichtmuseum.de/index2.php?navi=3&inc=03_lim_ma_19# vom 25.05. 2014.

10 http://www.tourismus-triefenstein.de/freizeit/museen--ausstellungen/freilandmuseumbad-windsheim.html vom 25.05.2014. 11 http://www.hessenpark.de/index.php?id=396 vom 25.05.2014.

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Der Rettungsgedanke verbindet z.B. Tiere wie das namentlich vermutlich weniger, aber in Bildern des typischen »Bauernhofhahns« sehr bekannte Vorwerkhuhn mit historischen Gebäuden. Tiere verlebendigen das Ensemble, sie zeugen von tierlicher Repräsentation, die in zweifacher Hinsicht gedeutet werden kann: zum einen als »symbolisches Beiwerk« (Roscher 2011: 137) und zum anderen als inkludierter Teil menschlicher Gesellschaften. Es stellt sich die Frage, wie »interactions and relationsships with animals« (Knight 2005, zitiert in Roscher 2011: 183) zum Tragen kommen. Generell lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass unter der disziplinären Perspektive das bäuerliche Nutztier dahingehend betrachtet wird, welche Kosten es verursacht, welchen Ertrag es erbringt und wie es zur Arbeitserleichterung des Menschen beiträgt. Eine historische Dimension ist in Projekte zur Erhaltung bedrohter Tierrassen eingeschrieben, inwieweit Tiere aber eine individuelle Geschichte haben, das blendet in der Regel die Fokussierung auf den wirtschaftenden Menschen aus.

S YMBOLISIERUNGEN VON T IEREN F ORSCHUNGSGEGENSTAND

ALS

Während reale Tiere vor allem in der Museumspraxis wichtig sind und waren, oftmals aber Tiere nur im Schatten menschlicher Kultur erscheinen (ein markantes Beispiel sind etwa museale Präsentationen von Pferdegeschirr, bei denen die Pferde nur in ihren Körperumrissen schematisch dargestellt sind), gibt es einen weiteren Bereich in der Volkskunde, der sich intensiv mit Tieren beschäftigt. Da Tiere für Menschen in der Geschichte immer eine herausragende Bedeutung hatten, finden sich in der Erzählforschung zahlreiche Spuren von Erfahrungen mit Tieren und von menschlichen Zuschreibungen. Insbesondere das Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens (Hoffmann-Krayer/Bächtold-Stäubli 19271942) zeigt schon im Stichwortverzeichnis zahlreiche Verweise auf Tiere. Immer aber steht die Bedeutung der Tiere in einer magischen Welt im Mittelpunkt. Auch in der Enzyklopädie des Märchens (Brednich et al. 1977 ff.) finden sich Tiere in vielfältiger Form, da Tiere im Märchen eine wichtige Rolle spielen können und spielen. Tiere in einen symbolischen Weltzusammenhang zu stellen hat eine lange Geschichte,12 und die Volkskunde hat in ihrer germanistischen Tradition diese Forschung aufgenommen und (vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus ideologisch pervertiert) fortgeschrieben und weiterentwickelt.

12 Vgl. etwa Physiologus, erste Fassungen 2.- 4. Jahrhundert n. Chr.

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In der Zeitschrift für Volkskunde (gegründet 1891) finden sich frühe Beispiele für einen fachbezogenen Zugang zur Symbolik der Tiere, so etwa den Aufsatz von Negerlein aus dem Jahre 1910 zum »Pferd im Seelenglauben und Totenkultur«. Auch in der Namenforschung sind die Tiere in symbolischer Form prominent vertreten. Selbst wenn die realen Tiere in solchen Zusammenhängen keine Rolle spielen, gibt es vereinzelt Publikationen, die das besondere Verhältnis von Menschen und Tieren wenigstens thematisieren und damit die Richtung einer möglichen Forschung aufweisen. Der Aufsatz »Tierzucht und Namensgebung. Zu den Eigennamen des Zuchtviehs« von Hermann Bausinger (1971a), der in einer Zeit erscheint, in der Tiere noch in gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Wissenschaftskontexten eine Leerstelle darstellten, soll hier exemplarisch etwas näher betrachtet werden. Der Autor »outete« sich keineswegs als Tierfreund, seine Beweggründe waren andere. Er suchte sich einen Gegenstand, der den »orthodoxen« Gegenstand der Namenforschung überschreitet (ebd.: 170) und damit zwar leicht exotisch, aber trotzdem an disziplinäre Verortungen anschlussfähig war. Nicht ohne Ironie stellte Bausinger heraus, dass der überwiegende Teil der Kühe seinerzeit weibliche menschliche Vornamen erhielten, bei männlichen Tieren war dies nur bei 18 % der untersuchten Tiernamen der Fall. Der alltägliche Umgang mit den weiblichen Tieren sei dafür verantwortlich (vgl. ebd.: 176). Generell weise die Namengebung auch auf die »positive gefühlsmäßige Beziehung zum einzelnen Tier« (ebd.: 180) hin, die der Autor leider, da er keine Befragungen durchführte, in Bezug auf die gelebte Qualität der Beziehung nicht näher darlegt. Da seinerzeit auch viele Kühe anderweitige Namen erhielten, spricht er von einer »Barriere« – die »volle Stufe der Zuwendung« sei nicht erreicht (ebd.). Aus heutiger disziplinärer Sicht zeigt sich hier exemplarisch das Potential volkskundlich-kulturwissenschaftlicher Analyse, die nicht nur das Heimtier, sondern auch das Nutztier und die Beziehung des Menschen im Zusammenhang von Individualisierung und Personalisierung begreifen könnte (vgl. zu Tierfriedhöfen Kolbe 2014). Dieser kurze Blick auf die volkskundliche Beschäftigung mit Tieren zeigt die zu Beginn festgestellte Ambivalenz in großer Deutlichkeit. Es gibt also – mit unterschiedlicher Qualität – eine ganze Reihe von Studien, in denen Tiere vorkommen oder auch zum Thema gemacht werden, und trotzdem werden Tiere in einer Weise in die menschliche Kultur eingeordnet und eingepasst, dass sie vollständig an den Rand gedrängt werden oder gar als Lebewesen mit eigenen Bedürfnissen nicht auftauchen. Der Kulturbegriff ist dementsprechend anthropozentrisch und lässt zwischen Menschen und der materiellen Kultur eine ungefüllte Lücke der Tiere als Akteure im kulturellen Prozess. Diese Verdinglichung der

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Tiere wurde in der Volkskunde bis in die 1980er Jahre weitgehend nicht in Frage gestellt. Damit blieb das Fach hinter dem gesellschaftlichen Diskurs um Tiere und Tierschutz und um die Sicht der Tiere als Lebewesen mit eigenem Recht zurück. Erst in den 1980er und 1990er Jahren ist ein Aufbruch im Fach zu verspüren, und die Tiere geraten auf eine neue Weise in den Blick.

E IN NEUER B LICK AUF T IERE – AUFBRÜCHE IM F ACH IN DEN 1990 ER J AHREN Im Jahr 1991 erscheint der zentrale Band Mensch und Tier. Kulturwissenschaftliche Aspekte einer Sozialbeziehung, herausgegeben von der Hessischen Vereinigung für Volkskunde durch Siegfried Becker und Andreas C. Bimmer, die programmatisch Tiere als »Teil des menschlichen Sozialsystems« (Becker/Bimmer 1991a: 7) betrachteten und sich damit von vorherrschenden zoologischen oder ethologischen Zugängen abwandten. Der Band betrat Neuland; er kann als Wegbereiter weiterer Arbeiten gelten. Um die Art und Weise der Beschäftigung mit Tieren aus disziplinärer Perspektive deutlich zu machen, erfolgt an dieser Stelle eine ausführlichere Vorstellung einzelner Aufsätze aus dieser wegweisenden Publikation. In volkskundlichen Studien, so die Herausgeber mit Hinweis auf die Erzähl-, Brauch- oder Geräteforschung, spielten Tiere – wie schon anfangs erwähnt – kaum eine Rolle (vgl. ebd.). Die Beziehung und ihre qualitative Gestaltung sowie das Zusammenwirken von »Mensch-Tier-Umwelt« seien volkskundlich nicht beachtet worden. Der Band setzt hier an und widmet sich folgenden Themen: der Jagd, der Symbolik des Hirsches und der Bedeutung von Jagdtrophäen (Mentges 1991), dem (sogenannten) Schädling am Beispiel des Sperlings und seiner Verfolgung im historischen Kontext, wobei auch auf die Durchsetzung der Spatzenvertilgung in Österreich und auf Bemühungen um den Tierschutz überzeugend eingegangen wird (Gasser 1991), ideologischen Zurichtungen von Tieren am Beispiel des Deutschen Schäferhundes (Buchner 1991) und der Bienen (Becker 1991). Imkerei entfaltet sich hier als ein Stück volkskundlicher Wissenschaftsgeschichte, und die Geschichte des Deutschen Schäferhundes wird kulturwissenschaftlich zum ersten Mal bearbeitet. Darüber hinaus beschäftigt sich der Beitrag zur städtischen Hundehaltung um 1900 mit der Zurichtung und Einpassung der Vierbeiner in die wilhelminische Klassengesellschaft (Buchner 1991). Wenn in aktuelleren Veröffentlichungen die Geschichte des Deutschen Schäferhundes so entworfen wird, dass »man sich […] an die NSDAP erinnert fühlen

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mag« (Wippermann/Berentzen 1999: 62), dann ist dieser Eindruck nachvollziehbar, und es stimmt, dass »ideologische Übereinstimmungen zwischen Hitler und von Stephanitz« (ebd.: 62 f.) nachzuweisen sind. Allerdings ist eine genauere historische Analyse notwendig, um nicht schnellen Verkürzungen zu erliegen. Grundlage der oben genannten Parallelen sind spätere Auflagen der Standardschrift Der deutsche Schäferhund in Wort und Bild, die von Stephanitz, dem Nestor der Schäferhundezucht, verfasst wurde und erstmals 1901 erschien. Nationalistische und an den Nationalsozialismus anschlussfähige Argumentationen kommen in späteren Auflagen hinzu, was auf die Wichtigkeit eines differenzierten Quellenstudiums verweist. Im Zuge reger Vereinstätigkeit hat sich der Umfang des Buches enorm erweitert: 72 Seiten umfasst die erste Auflage, in der siebten Auflage aus dem Jahr 1923, um ein Beispiel zu nennen, ist der Seitenumfang auf 828 angestiegen. In der ersten Auflage aus dem Jahr 1901 tauchen nationale Argumente nur vereinzelt auf: Stephanitz ging es, wie im Band der Hessischen Blätter anhand der Ausführungen zu »Hunden und Nationalismus«, zum »Schäferhund als deutschem Hund« und zum »Deutschen Schäferhund als Gebrauchshund (Buchner 1991: 129-136) dargelegt ist, im Jahr 1901 in erster Linie um die Verbreitung der Hunde und um die Demonstration der Leistungen und Konkurrenzfähigkeit der deutschen Hundezuchtkultur im Vergleich zu anderen nationalen Zuchten. Erst in der späteren Auflage wird Deutschsein zur zentralen Voraussetzung einer guten Schäferhundezucht. Der deutsche Schäferhund wurde zunächst unter Verweis auf seine Tätigkeit des Hütens als Gebrauchshund entworfen, der an ein hartes Leben gewohnt sei. Zwei Aspekte lassen sich festhalten: 1. Die Anfänge der Züchtung sind mit nationalen Aufladungen und Wünschen

im Wilhelminischen Kaiserreich verbunden, und 2. ist die geplante und mit Wesenswunschmerkmalen aufgeladene Züchtung ein Ergebnis der Vereinsbestrebungen seit Ende des 19. Jahrhunderts (ebd.: 134). Erst im weiteren Verlauf kann er zum nationalsozialistischen Symbol transferiert werden (für bekannte Deutungen vgl. Skabelund 2010, Wippermann/Berentzen 1999 wären hier zu ergänzen). Um Nutzvieh geht es im Beitrag von Ruth-E. Mohrmann (1991). Ihr Thema ist die »Errichtung öffentlicher Schlachthäuser im 19. Jahrhundert«, wobei sie die Schlachtung und Betäubung der Tiere sowie die Arbeit der Schlachter in den Blick nimmt. Pferde als unverzichtbarer Bestandteil des Straßenverkehrs werden im Zuge seiner Technisierung obsolet, was Martin Scharfe (1991) in seiner Konfrontation

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des Pferdekutschers mit dem Automobilisten herausarbeitet. Im Zuge des technischen Wandels wird die Tiernutzung peinlich, und der moderne (männliche) Automobilist ist der Pferde und anderer Zugtiere überdrüssig. Arbeitspferde, die im Bergbau unter Tage eingesetzt wurden, behandeln Vera Steinborn und Brigitte Wetzel (1991). Bereits der Titel »Hafermotor« deutet den Stellenwert der Tiere an. Doch auch die ruhigsten Tiere konnten ausschlagen und sich damit wehren, wenn sie geärgert, gequält oder misshandelt wurden, was in Lebenserinnerungen oder in Berichten zur Unfallverhütung thematisiert ist. Der Abschied von den Tieren verlief nicht nur rational und rein an der neuen Technik orientiert, sondern war von romantisierenden Erzählungen über eine schöne Zeit mit den Tieren verbunden. Der Band bündelt historische und (seinerzeit) aktuelle Zugänge. So wird ein Projektseminar zur Tierhaltung in Marburg vorgestellt und durch ein Essay zu Tieren in der Öffentlichkeit ergänzt (Bimmer 1991). Die damalige Feststellung, dass »Tierhaltung in der Stadt ein Verstoß gegen zentrale soziale Normen unserer Gesellschaft ist: gegen öffentliche Sauberkeit, Ruhe, Ordnung und Sicherheit« (ebd.: 201), könnte zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit neuen empirischethnografischen Studien überprüft werden. Für ein kulturwissenschaftliches Buch zu Beginn der 1990er Jahre ist es nicht verwunderlich, dass nicht nur alltagsbezogen von Lebendtieren, sondern auch von Fabeltieren in Erzählungen die Rede ist (Girtler 1991a). Die Herausgeber orientierten sich an der Breite eines modernisierten volkskundlichen Fachverständnisses, das sozialgeschichtliche Zugänge mit Beiträgen aus der volkskundlichen Erzähl- und Brauchforschung verband und mit kleinen empirischen Erhebungen ergänzte. Die Herausgeber wollten Denkanstöße geben, was hieß, dass das Mensch-Tier-Verhältnis »unter kulturellen, sozialen und historischen Aspekten« beleuchtet wurde (Becker/Bimmer 1991a: 7). Insgesamt zeigt sich, dass seinerzeit ein eigener Band zu Mensch und Tier entstand, der Mensch-Tier-Beziehungen erstmals dezidiert ins Zentrum rückte und damit deutlich das disziplinäre Themenspektrum weitete. Doch die Annäherung an Tiere als Forschungsgegenstand – so lässt sich aus heutiger Sicht zusammenfassen – war nur zum Teil wirklich gelungen, da der programmatische Anspruch nur in Ansätzen umgesetzt werden konnte. Tendenziell gehen die Tiere wieder in den anthropozentrischen Kulturanalysen verloren, auch wenn der Anspruch ein anderer war. Zwei Beispiele sollen angeführt werden: So nimmt etwa der Beitrag zur illegalen Gebirgsjagd vor allem den Wilderer als Rebellen in den Blick (Girtler 1991b). Unter dem missverständlichen und verharmlosenden Titel »Menschen spielen mit Tieren« werden sogenannte Quälspiele (De Vroede 1991) behandelt, womit Handlungen mit enthaupteten Tieren oder auch

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die Enthauptung selbst gemeint sind. Der Autor nennt verschiedene Formen und bemüht sich – ganz in der Tradition der Brauchforschung – vor allem um regionale und zeitliche Einordnungen. Ergänzend soll an dieser Stelle auf den spanischen Stierkampf (vgl. Braun 1991, vgl. auch ders. 1997) verwiesen werden. Dieser besondere Beitrag stellt eine deutliche Erweiterung des Ansatzes von De Vroede dar, indem er nicht nur viel Wissenswertes über Stiere zusammenfasst, sondern auch den kontroversen Diskurs von Stierkampf und Tierschutz reflektiert. Ein genauer Blick auf diesen kenntnisreichen und sehr sorgfältig erarbeiteten Beitrag zum Stierkampf bringt einen fachlichen Zugang zutage, der die Belange des Tieres dem Verstehen des menschlichen Rituals unterordnet: Von Interesse ist der toro bravo vor allem aufgrund seiner Symbolik. Das ist nicht zu kritisieren, da es das Anliegen war, den Stierkampf (also menschliche Handlungspraktiken) zu analysieren. Würde auf den Stier fokussiert werden, so kämen etwa Fragen der Rinderhaltung (in europäischen Kontexten), der Domestikation, blutiger und unblutiger Stierkämpfe oder auch der Praxis von Tierkämpfen (Hahnenkämpfe, Hundekämpfe) im Kontext von Männlichkeit und (nationalen) Identitäten zur Sprache. So unterschiedlich die Beiträge sind, zeigen sie doch in ihrer Ausrichtung auf den Menschen und seine Deutungskontexte Gemeinsamkeiten: Auch wenn es eine Reihe von Aufsätzen und Ansätzen gibt, die sich um Tiere aus kulturwissenschaftlicher Perspektive bemühen, wird ersichtlich, dass vielfach die Tiere im Zuge der Beschäftigung mit dem gewählten Thema durch die normative Fokussierung der Theorie auf den Menschen und sein Werk allmählich oder rasch in den Hintergrund geraten. Gleichwohl: Der zentrale von Becker und Bimmer herausgegebene Band (1991b) hat wichtiges Neuland betreten. Deutlich wird der Bedarf an Theorieentwicklung in einer Kulturwissenschaft, die sich als menschliche Herrschaftswissenschaft über die Natur verstehen lässt: Zu Beginn der 1990er Jahre spielen indes die Human-Animal Studies in Deutschland noch keine Rolle, und sich mit Tieren zu befassen war – trotz der Vielfalt volkskundlicher Forschungsgegenstände – im Rahmen einer reinen Menschenwissenschaft noch zu rechtfertigen. Die reine Fokussierung auf Tiere (jenseits der Biologie) war damit in der Geschichte der Kulturwissenschaft stets von disziplinärer Ausgrenzung bedroht: Die Wissenschaftlichkeit und die fachliche Einschlägigkeit standen zur Debatte, wenn Tiere nicht aus der hegemonial menschlichen Sicht etwa als nützlich, wertvoll oder für Menschen bedeutsam klassifiziert wurden. Ein Tierthema als Forschungsgegenstand ist bis heute in Gefahr, dem Bereich der Kuriositätenthemen zugeordnet zu werden. Aufgrund dieser historischen Gemengelage lässt sich erahnen, dass der Marburger Auf-

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bruch sich nicht fest im Fach verankern konnte. Wesentlich dazu beigetragen hat auch, wie noch gezeigt wird, der Volkskundekongress »Natur – Kultur«. Einen eigenen Forschungszugang entwickelte die Dissertation Kultur mit Tieren. Zur Formierung des bürgerlichen Tierverständnisses im 19. Jahrhundert (Buchner 1996 erschienen, 1993 bereits abgeschlossen). Seinerzeit existierten nur vereinzelte Veröffentlichungen, die sich mit der Geschichte der MenschTier-Beziehung befassten. Vorzufinden waren populärwissenschaftliche Schriften, für die charakteristisch war, dass beispielsweise ein wissenschaftlicher Anmerkungsapparat fehlte, die Texte unterhaltsam gestaltet waren und die Literatur für ein breites Publikum aufbereitet war (vgl. ebd.: 2). Eine kulturwissenschaftliche Sicht auf Tiere, die einer fachlichen Verortung standhielt, war also erst zu entwickeln. Die Arbeit beschäftigt sich mit städtischen und bürgerlichen Formen der Mensch-Tier-Begegnungen und nimmt grundsätzlich ambivalente und paradoxe Verhaltensweisen sowie Genderdiskurse in den Blick, wenn Zugtiere, das idealisierte Kriegspferd, Schlachttiere oder der Polizeihund und die militärischen Prinzipien seiner Erziehung ebenso behandelt werden wie etwa Hunde für Frauen, der vornehme Reiter und sein Pferd, die Zootiere als Handels- und Wissenschaftsobjekte und die gefangenen Wildtiere, der deutsche Vorsteh- und Gebrauchshund, das angeschossene Wild und die weidmännischen Leidenschaften. Einzelne Fallstudien entstanden, die kontrastiv gesellschaftlich relevante Handlungsfelder repräsentierten. Zusätzlich zu den in der Marburger Universitätsbibliothek vorhandenen Veröffentlichungen wurden seinerzeit über 100 Fernleihen bearbeitet, um zeitgenössische Schriften zu Tieren aus nichtbiologischer Perspektive zu erhalten: So wurden etwa Zeitschriften, Droschkenordnungen und -chroniken, ein Schlachthofführer aus Berlin, historische Festschriften ebenso ausgewertet wie Militärschriften, Jagdliteratur, Reit- und Fahranleitungen oder Lehr- und Handbücher für Züchter_innen. Die Autoren_innen stammten in der Regel aus mittleren und gehobenen bürgerlichen Kreisen, zuweilen adliger Herkunft (mit bildungsbürgerlichen Ambitionen), sodass deren Tierkonstruktionen und mit ihnen verbundene Praxen sowie Normen und Werthaltungen herausgearbeitet werden konnten. Mit Bezug auf Pierre Bourdieu konnten Mensch-Tier-Beziehungen als Teil der Integrations- und Distinktionsmechanismen der Klassengesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert untersucht werden. Die Arbeit zeigt z.B. auch, dass Pferde und Reiten, was heutzutage gerne mit Mädchenkultur gleichgesetzt wird, einer differenzierten und historisierten Betrachtung bedürfen. Erträge kulturwissenschaftlicher Forschung, die das Reiten als männliche Praxis in der Kavallerie oder auch als kaiserliche Reputationsform behandeln, lassen stereotypisierte Mädchen-Pferd-Metaphern fraglich werden. Ein wichtiger Beitrag aus der Kul-

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turwissenschaft, der für die Dissertation eine theoretische Orientierung gab, ist der Aufsatz von Orvar Löfgren »Natur, Tiere und Moral. Zur Entwicklung der bürgerlichen Naturauffassung« (Löfgren 1986). Die Dissertation richtete sich auf eine Reflexion des Mensch-TierVerhältnisses und der Mensch-Tier-Beziehungen in lebensweltlicher Perspektive mit der These, dass erst eine Zusammenführung verschiedener Praxen zu einem umfassenden Verständnis von historischen Mensch-Tier-Kulturen führt, sodass die Ambivalenzen der Mensch-Tier-Beziehungen durch die Kombination unterschiedlicher Deutungsmuster von Tierarten und Handlungspraxen (Nutz- und Heimtierhaltung) in den Fokus geraten. Tiere lassen sich nicht einfach in die menschliche Kulturanalyse ein- und unterordnen, und aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist Lebenswelt als gemeinsame von Menschen und Tieren zu begreifen. Bereits der Titel der Dissertation, Kultur mit Tieren, zeigt diese Dimension an. Abschließend zu diesem Punkt sollen noch volkskundlichkulturwissenschaftliche Veröffentlichungen genannt werden, die jeweils eine Tierart ins Zentrum rücken. Als ein positives Beispiel ist hier besonders auf Hermann Kaiser (1993) hinzuweisen, der mit seinem Band Ein Hundeleben. Von Bauernhunden und Karrenkötern. Zur Alltagsgeschichte einer geliebten und geschundenen Kreatur ein zentrales Buch zur Hundekultur vorgelegt hat, zur »Unterschicht«, wie der Autor feststellt, der Bauernhunde und Dorfköter. »Ihr Leben als Teil der Alltagsgeschichte vor dem Vergessen zu bewahren, ist Ziel der Darstellung« (ebd.: 9). Wurde oben über den ausgestellten Hundegöpel im Museum berichtet, so kann auf Kaiser verwiesen werden, der sich für das Leben der arbeitenden Hunde interessiert, weiter geforscht hat und feststellt, dass es wohl von der Einstellung der Tierbesitzer_innen abhängig gewesen sei, wie die Hunde behandelt wurden. Es gibt nur wenige Belege. Kaiser berichtet von einer Befragung alter Landleute im Jahr 1970, die sehr Unterschiedliches zum Vorschein brachte: Hunde seien durchaus auch zur Leistung gezwungen worden. So sei etwa auf einem Hof in der Nähe Vredens »der Rollbandgöpel steiler gestellt worden. Dann band man den Hund vorn kurz an und befestigte hinter ihm ein Brett, aus dem spitze Nägel hervorstanden. Wenn er in der Leistung nachließ, rutsche er nach hinten ab gegen die Nägel, und der Schmerz trieb ihn wieder nach vorn. Er mußte also laufen, wenn er sich nicht verletzen wollte« (ebd.: 133).

Diese Quälerei sei aber nicht die Regel gewesen, und Kaiser berichtet von anderen Hunden, die für ihre Arbeit mit Leberwurst oder Butterbrot belohnt worden

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seien. Die Einstellung der Menschen habe letztlich entschieden, ob es zur »Quälerei und Schinderei« gekommen sei oder nicht. Dass die tierbezogenen Aufbrüche der Kulturwissenschaften Wirkung entfalteten, das lässt sich an unterschiedlichen Publikations- und Ausstellungsprojekten der Zeit erkennen. So entstand etwa Ende der 1990er Jahre ein Begleitbuch zu einer Ausstellung mit dem Titel Katz und Maus. Tierisch-menschliche Beziehungsgeschichten (Spessartmuseum o.J.). Die traditionelle Volkskundeprogrammatik präsentierte sich teilweise in neuem Gewand: Da ist von Mythos und Aberglauben, von europäischer Malerei und volkskundlichen Bedeutungen, von Kunst, Kitsch und Kommerz und randständig vom Umgang mit den Tieren die Rede. So gerät der Ansatz, der das Thema als Ganzes erschließen möchte, wieder sehr anthropozentrisch und Themen wie Mäuse als Labortiere, Mäuse als Haustiere werden nur im Vorübergehen erwähnt. Auch ist der Ton – etwa bei der Haltung von Katzen im Haus – eher ironisch und distanziert. Noch gelingt es nicht, Katzenliebe, Sentiment, moderne Katzenhaltung und den Wandel der Emotionskultur in eine verstehende Kulturanalyse der Mensch-Tier-Beziehungen zu überführen. Auch andere Veröffentlichung der 1990er Jahre zeigen, dass die anthropozentrische Sicht auf Tiere sich wie ein roter Faden durch die Kulturwissenschaft zieht. Eine schöne Publikation, die die Symbolgeschichte der Tiere in einer sehr informierten Weise aus der Tradition der Faches entwirft, findet sich bei Schenda (1995), der durch alle Zeiten und Räume, Kulturen und Tierarten ein modernes Panoptikum der Bedeutung der Tiere in den Erzählungen der Menschen liefert, leider mit den bekannten Unarten der populären, unterhaltsamen Tierliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts. Das ABC der Tiere. Märchen, Mythen und Geschichten von Rudolf Schenda (ebd.), seinerzeit Ordinarius für Europäische Volksliteratur an der Universität Zürich, wird hier gesondert erwähnt, da der Autor einen weiten Bogen schlägt, den Adler ebenso behandelt wie die Heuschrecke, die Ratte, den Skorpion, die Wanze oder die Ziege. Versammelt sind Geschichten (leider nur mit einer ausführlichen Literaturliste, aber nicht immer mit direkten Nachweisen versehen), die »seit der Antike über die Lehren des Mittelalters, der frühen Neuzeit und des Aufklärungszeitalters bis in unsere Gegenwart hinein in Lese- und Lehrbüchern aller Art überliefert worden sind« (ebd.: 13). Wie also ist der Aufbruch der kulturwissenschaftlichen Mensch-TierForschung in den 1990er Jahren zu werten, in einer Zeit, in der in der Disziplin gleichzeitig eine Kontinuität etablierter anthropozentrischer Tierbilder fortgeschrieben wurde? Wie ging das Fach mit der Diskussion um Tiere um? Hier soll ein Blick auf die Volkskundekongresse gelenkt werden, die als Ort der Bestim-

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mung von Fachidentität gesehen werden können. Festzuhalten bleibt: In den 1990er Jahren lagen erste wichtige Schriften zum Verhältnis Mensch-Tier vor: Arbeiten, die im Kontext von Museen erstellt wurden, die Hessischen Blätter für Volks- und Kulturforschung, die von der Hessischen Vereinigung für Volkskunde herausgegeben wurden, und eine Dissertation zur Kultur mit Tieren, die der Historiker Paul Münch (1998) wertschätzte. Das alles war vorhanden, als im Jahr 1999 der 32. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Halle zum Thema »Natur – Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt« stattfand (Brednich/ Schneider/Werner 2001). Das Thema »Natur – Kultur« scheint aus heutiger Sicht geradezu prädestiniert, den Blick neu auf die Tiere zu richten. Es zeigt sich aber, dass die neueren Ansätze nicht ins Fach gingen und sich im Verlauf der weiteren Umwandlungen des Faches fast vollständig verlieren. Das anthropozentrische Kulturverständnis erweist sich hier als deutlich resistenter, als dies damals von den Forscher_innen des Aufbruchs eingeschätzt wurde. Dies wird besonders deutlich, wenn man aus der Sicht der Human-Animal Studies auf die damalige Entwicklung und den Kongressband schaut. Aus heutiger Perspektive der Human-Animal Studies lässt sich sagen, dass seinerzeit der innovative Gehalt der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Mensch-Tier-Verhältnissen und Mensch-Tier-Beziehungen nicht gesehen wurde. Nur so ist zu erklären, dass der Kongress »die kulturelle, soziale und gesellschaftliche Bedeutung nichtmenschlicher Tiere, ihre Beziehungen zu Menschen sowie die gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse« (Chimaira 2011: 20) höchstens am Rande bemerkte. Im Eröffnungsvortrag von Konrad Köstlin ist zwar viel von Natur die Rede, so etwa von Naturritualen des Menschen in Städten oder mit subtilem Hinweis auf die Geschichte der Jugendbewegung von der »Verrucksackung der Deutschen« (Köstlin 2001: 3), aber der wissenschaftliche Gehalt von Tierthemen bleibt gänzlich unerkannt. Nur fünf Autor_innen beschäftigen sich mit Tieren: Siegfried Becker (2001) mit der Tierzucht, Friedemann Schmoll mit Singvögeln, wobei er schon im ersten Satz darlegt, dass es ihm nicht um das Aussterben von Singvögeln in der Natur gehe, sondern um deren Aussterben in den »Kochtöpfen mitteleuropäischer Küchen […] ein Phänomen der Nahrungstabuisierung« (Schmoll 2001: 213, trotzdem enthält der Beitrag aufschlussreiche Bemerkungen über den Vogelfang), Helena Ruotsala (2001), die über Rentiere, ihre Zucht in Lappland im Kontext eines Konflikts mit dem Umweltschutz schreibt, Jutta Buchner-Fuhs, die Zootiere und die Geschichte der Zoologischen Gärten im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit kulturellen Bildern von Wildheit, Zähmung und Stadtnatur behandelt, und zuletzt Arne Steinert, der sich mit dem Zookonzept Hagenbecks befasst. Die Beiträge waren

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nicht etwa in einer Sektion zusammengefasst, sodass Tiere im Zentrum gewesen wären, sondern den getrennten Sektionen »Domestizierte Natur« und »Musealisierte Natur« zugeordnet, die – das zeigt die Bearbeitung des Kongressbandes aus heutiger Sicht – so gestaltet waren, dass ein Gespräch oder ein vertieftes Nachdenken über Tiere nicht geplant war. Menschliche Körper, die weibliche Brust oder z.B. das Konzept des Écomusée bildeten weitere Vorträge, die in diesen beiden Sektionen gehalten worden sind, sodass eine Bündelung der kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Tieren unterblieb. Dorothee Brantz und Christof Mauch, die knapp zehn Jahre später das Buch Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne herausgeben, schreiben über die »kategorische […] Trennung von Kultur und Natur« (Brantz/ Mauch 2010: 9 f.): Die »meisten Tiere, mit denen wir im Alltag in Berührung kommen, können weder der Kategorie Kultur noch der Natur zugeordnet werden. Sie existieren vielmehr in einem Zwischenbereich. Schweine, Pferde, Hunde, Katzen, Zootiere etc. sind Teil der menschlichen Gesellschaft und haben deren Werdegang maßgeblich mitgeprägt«. (Ebd.: 9)

Es gelte, nicht nur die »Sichtweise auf die Vergangenheit [zu] erweitern, sondern auch […] einige der epistemologischen, ethischen und methodischen Grundprinzipien der Geschichtswissenschaft kritisch [zu] hinterfragen« (ebd.). Diese Analyse lässt sich ohne Einschränkung auf die historisch arbeitende Kulturwissenschaft übertragen. Gerade der Volkskundekongress »Natur – Kultur« hätte indes ein innovativer Wegbereiter sein können. Er hätte eine fachliche Bewusstheit für die Relevanz der »gesellschaftlichen Natur von Mensch-TierVerhältnissen« voranbringen oder zumindest anstoßen können. Doch das Gegenteil passierte. Das Thema »Tiere in der Geschichte« wurde in doppelter Weise marginalisiert, indem erstens Tiere kaum Fachgegenstand des breit gefächerten Kongresses waren und zweitens, was das Verbindende der fünf oben skizzierten dezidierten Tierbeiträge ist: Diese Beschäftigung fand nicht auf professoraler Ebene statt und war individualisierten Ausrichtungen der jeweiligen Autor_innen geschuldet.

M ENSCH -T IER -V ERHÄLTNISSE UND -B EZIEHUNGEN IN DER AKTUELLEN F ACHDISKUSSION Wo steht das Fach heute, nach dem verpassten Aufbruch und der weltweiten Diskussion in den Human-Animal Studies zur »Entkolonisierung« der Mensch-

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Tier-Beziehungen? Der neue Kongressband der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde gibt hier einen ersten Eindruck. Rund 630 Seiten umfasst der Band, der hier abschließend kurz vorgestellt werden soll, um Aussagen über den fachbezogenen Zugang des Vielnamensfaches im Kontext der Human-Animal Studies zu treffen. Unter dem Titel Kultur_Kultur. Denken. Forschen. Darstellen (Johler et al. 2013) wäre genügend Spielraum, den anthropozentrischen Kulturbegriff erneut in Frage zu stellen. Doch ein solches Nachdenken über Kultur und den Kulturbegriff unterbleibt. Seit vier Jahrzehnten sei Kultur die »zentrale Kategorie der Volkskunde und ihrer disziplinären Fortentwicklungen« und »weiterhin eine der wirkmächtigsten Ordnungsvorstellungen der Moderne« (Johler 2013: 13), wie bereits im Vorwort zu erfahren ist. 72 Beiträge sind versammelt, die sich neben theoretischen Aufsätzen zur Bestimmung des Forschungsfeldes z.B. mit Technik, dem Erzgebirge, museologischen Praktiken, der Schwäbischen Alb, der Migrationsforschung, mit Kunst und Ethnographie, mit der Visualisierung, mit Rassismus, Bewegungsstilen, Briefen oder Klangerinnerungen befassen. Zentral ist der Schlussvortrag von Walter Leimgruber »Entgrenzungen. Kultur – empirisch« (Leimgruber 2013), da hier Positionierungen vorgenommen werden, die es erlauben, die fachliche Expertise der Kulturwissenschaft darzulegen und nach den Anschlussmöglichkeiten zu den Human-Animal Studies zu fragen. Zunächst ist allerdings festzuhalten, dass die Beharrlichkeit, Tiere auszublenden, weiterhin Bestand hat. Auch die aktuelle breit aufgestellte Kulturwissenschaft ist anthropozentrisch, in Anlehnung an den Chimaira Arbeitskreis ließe sich von einer logozentrischen Struktur des Faches sprechen, die den Menschen Handlungsmächtigkeit zugesteht und sich mit »der Analyse und Deutung gesellschaftlicher Wirklichkeit« (ebd.: 75) befasst, aber Tiere aus kulturtheoretischen Überlegungen eskamotiert. Der Chimaira Arbeitskreis macht auf die »zentrale Stellung der Metapher des ›Tieres‹ als Ausgeschlossenem im logozentrischen Diskurs« (Chimaira 2011: 13) aufmerksam, was sich ohne Weiteres auf das kulturwissenschaftliche Fachverständnis beziehen lässt. Leimgruber (2013: 75) tritt für einen »entgrenzten Kulturbegriff« ein mit dem Ziel, »die symbolischen Ordnungen und kulturellen Codes, die Sinngebungs- und Sinndeutungsprozesse der Menschen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten zu verstehen und zu erklären«. Es erscheint müßig, über die Verwendung des weiten Kulturbegriffs kritische Worte zu verlieren (vgl. dagegen ebd.), denn auch die Vorstellungen des Autors zur Entgrenzung könnten – zumindest von Vertreter_innen anderer Fachdisziplinen – als »weit« bestimmt werden. Für hiesige Kontexte erscheint es jedenfalls sinnvoll, von einem weiten Kulturbegriff auszugehen, der allen Eingrenzungen und Ausschließungskonzep-

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tionen kritisch gegenübersteht. Der praxeologische Ansatz, den Leimgruber als grundlegend für die (entgrenzte) Kulturwissenschaft, gewissermaßen als Kern des Faches, versteht, bietet – auch wenn dies nicht vom Autor formuliert wird – Anschlussmöglichkeiten an die Human-Animal Studies. Wenn alle gesellschaftlichen Praxen gemeint sind und nicht Teilaspekte unterschieden oder auch hierarchisiert werden, dann wäre dieser Anspruch der Kulturanalyse nicht umgesetzt, wenn Tiere in der Gesellschaft nicht einbezogen wären. Insgesamt gesehen hinterlässt der umfangreiche Fachband zur Kultur einen zwiespältigen Eindruck: Zugespitzt könnte von einer wissenschaftlichen Haltung gesprochen werden, die in ihrem unreflektierten Anthropozentrismus zur Exklusion der tierlichen Lebewesen aus der modernen Kulturanalyse beiträgt. Ausgewiesene Fachvertreter_innen, das könnte ebenfalls festgehalten werden, blenden den aktuellen Diskurs um die Human-Animal Studies aus. Unter der Perspektive von Öffnungen und Neuerungen fragt sich, wie junge Fachvertreter_innen mit dem neuen Forschungsgegenstand umgehen. Im Folgenden wird ein kurzes Schlaglicht auf Examensarbeiten geworden, um die aktuellen kulturwissenschaftlichen Beschäftigungen mit Tieren in den Blick zu nehmen.

AKTUELLE Z UGÄNGE E XAMENSARBEITEN

JUNGER

AUTOR _ INNEN :

Examensarbeiten können als ein guter Indikator für Entwicklungen in einem Fach verstanden werden. Es wurde eine kleine empirische Bestandsaufnahme der Beschäftigung mit Tieren an allen universitären Standorten unternommen. Grundlage waren dabei die dgv Informationen, die, als Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, die Themen der Abschlussarbeiten regelmäßig veröffentlichen. Die Arbeiten, gekennzeichnet als Habil., Diss., Mag. (M.A.), B.A., ZA, Dipl. oder Liz., sind den jeweiligen universitären Standorten zugeordnet. Diese Übersicht ist für die hiesige empirische Bestandsaufnahme hervorragend geeignet, da sie einen Einblick in die aktuellen Themenfelder gibt, die von jungen Absolvent_innen bearbeitet werden. Die Themenübersicht zeigt, dass das Fach vielfältige Zugänge und Themenstellungen entwickelt hat, die Tiere im Titel nennen. Das empirische Vorgehen ist wie folgt: Es wurden die gemeldeten Examensarbeiten seit 2010 gesichtet (zum Zeitpunkt der Bearbeitung des Aufsatzes war die aktuelle Ausgabe 2014 noch nicht erschienen) und daraufhin untersucht, ob die angegebenen Titel einen direkten Tierbezug aufweisen oder zumindest einen Zusammenhang mit Tieren herstellen. Ein erstes Ergebnis

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kann vorweg genannt werden: Angesichts der großen Fülle der Abschlussarbeiten (ich habe auf die genaue Auszählung verzichtet, aber allein die Meldungen für 2012, die im 1. Quartal 2013 erschienen sind, nehmen 30 Seiten ein), sind die Abschlussarbeiten, die sich mit Tieren in der Kultur/Gesellschaft befassen, nur beim genauen Lesen zu entdecken. Zur genaueren Übersicht sollen im Folgenden die Themen und die universitären Standorte genannt werden (auf die namentliche Nennung der Verfasser_innen sowie auf die Unterscheidung »neu vergeben« und »abgeschlossen« wird verzichtet): Tierbezogene Examensarbeiten im Jahr 2010 (gemeldet 2011) Salamander, Hunde und Exzesse. Eine Untersuchung studentischer Kultur an der Universität Bonn 1818-1840 (Mag.) (Bonn) Biobauern im Schwarzwald – zu Geschichte, Selbstverständnis und Motivation eines Berufsstandes (Diss.) (Freiburg i. Br.) From Bauhaus to Birdhouse. Vogelhäuser in der Stadt (Mag.) (Hamburg) Über Wölfe und Menschen. Eine kulturwissenschaftlich volkskundliche Analyse einer Mensch-Tier-Beziehung mit besonderer Berücksichtigung Vorarlbergs und seiner Umgebung (Diss.) (Innsbruck) »Zur fröhlichen Wiederkunft«. Geschichte und Nutzung eines Jagdschlosses in Wolfersdorf (Diss.) (Jena) Der Hund als Haustier – entwicklungsfördernde Aspekte der Kind-HundBeziehung (Mag.) (Jena) Der Löwe im Zoo – Faszination und Bedrohung (Mag.) (Jena) Der Tierfriedhof. Eine kulturwissenschaftliche Exploration (Mag.) (Jena) Was ein Leben rettet, kann nicht falsch sein. Bewusstsein und erzählte Erfahrungen von Tierrechtlern (Mag.) (Kiel) Die Lebenswelt der Hochseefischer. Alltag und Wahrnehmung eines maritimen Berufsstandes aus biographischer Perspektive (Diss.) (Münster) Imkerei im Münsterland. Arbeits- und Lebenswelt von Imkern in lebensweltlicher Perspektive (Mag.) (Münster) Transformation des Wiener Fleischhauerhandwerks im Kontext von Industrialisierung und Urbanisierung: Der Fall des Schlachthofes zu St. Marx (18511914). (Diss.) (Wien)

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Tierbezogene Examensarbeiten im Jahr 2011 (gemeldet 2012) Geschichte der Falkenjagd unter besonderer Berücksichtigung der Falkenbücher (Mag.) (Augsburg) Das »lebendige« Museum. Kulturwissenschaftliche Betrachtung der Nutztierhaltung im Freilichtmuseum (Mag.) (Bamberg) Muscheln, Möwen und mehr – maritime Symbole in zwei ostfriesischen Küstenstädten (Mag.) (Hamburg) Coleurhunde in Jena im 19. und 20. Jahrhundert (Mag.) (Jena) Mensch-Tier-Beziehung in Deutschland und Frankreich am Beispiel der Tierschutzgesetzgebung (Mag.) (Münster) Vegetarismus zwischen Tierliebe und Gesundheitsbewusstsein. Eine empirische Analyse (Mag.) (Münster) Blick-Kontakte. Eine empirische Studie über die Beziehung von Heimtierhaltern zu ihren Aquarienfischen (Mag.) (Tübingen) Fotografien von Metzgern in der Schweiz im 20. Jahrhundert (Liz.) (Zürich) Tierbezogene Examensarbeiten im Jahr 2012 (gemeldet 2013) Der Viehscheid von Obermaiselstein – Tradition oder Touristenattraktion? (Mag.) (Augsburg) Das Tiermotiv in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (Mag.) (Bonn) Natur und Kind. Eine Untersuchung am Beispiel von »Erlebnis-Bauernhöfen« in Schleswig-Holstein (Text und Film) (M.A.) (Hamburg) »Axel bringt die Frische« – eine kulturwissenschaftliche Analyse von Verpackungsmaterial tierischer Lebensmittel (Mag.) (Kiel) Interrollenkonflikte im studentischen Alltag mit Tieren? Eine empirische Annäherung (Mag.) (Mainz) Höfische Alltäglichkeit der französischen Renaissance. Die königliche Hetzjagd unter Franz I. aus kulturhistorischer Sicht (Mag.) (Münster) Zunächst fällt auf, dass tierbezogene Abschlussarbeiten von 13 Standorten gemeldet wurden, was genau der Hälfte der in den dgv Informationen angeführten 26 universitären Standorte entspricht.13 In der Regel wurde nur eine Arbeit pro

13 Das sind Augsburg, Bamberg, Basel, Berlin, Bonn, Bremen, Eichstätt-Ingolstadt, Frankfurt/M., Freiburg, Göttingen, Graz, Hamburg, Innsbruck, Jena, Kiel, Mainz,

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Standort aufgeführt (Ausnahmen: Jena, Münster, Hamburg, Kiel, Augsburg). Die Mehrzahl der tierbezogenen Abschlussarbeiten sind Magisterarbeiten. Hier gibt es eine bunte Mischung aus historischen und aktuellen Themen, die Anbindungen an klassische Fachdiskurse erkennbar werden lassen: Tiere im Kontext von Tourismus, Erzählstoffen, Landwirtschaft, Imkerei, Kindheit, Museum sowie empirisch-ethnografischen Forschungen. Vereinzelt geht es um Tierschutz, eine bestimmte Tierart oder um Tierindividuen: der Löwe im Zoo, Fische im Aquarium, der Hund als Haustier, als Couleurhund. Die Sichtbarmachung der verbindungsstudentischen Hundehaltung etwa, die Christina Ludwig in ihrer Magisterarbeit vornimmt, gelingt u.a. in der Arbeit mit Bildmaterial, das interpretiert wird. Dass Barbara Krug-Richter den wegweisenden Aufsatz »Hund und Student. Eine akademische Mentalitätsgeschichte« (2007) vorgelegt hat, der der Masterstudentin zur Vorlage diente, weist darauf hin, wie wichtig es ist, eine Fachkultur Kulturwissenschaft-Tiere / Volkskunde-Tiere / KulturanthropologieTiere zu etablieren, die jungen Studierenden Orientierung und auch Sicherheit im Umgang mit tierbezogenen Arbeiten gibt. Der wissenschaftliche Nachwuchs ist zurückhaltend, wenn es um Dissertationen zu Tieren geht. In der oben genannten Aufzählung finden sich Arbeiten zur Jagd, zu Hochseefischern, Biobauern und zur Geschichte der Schlachtung in Wien sowie zur Mensch-Wolf-Beziehung, die regional in Vorarlberg verortet wird. Die Titel lassen vermuten, dass Tiere manchmal nur am Rande vermerkt werden, wenn etwa die Lebenswelt der Hochseefischer behandelt wird. Es wäre zu wünschen, dass Fische und andere Lebewesen des Meeres (auch der Umgang mit Leben und Tod) sichtbar gemacht werden. Trotz der Diversität der Themen und der Auseinandersetzung mit Tieren lässt sich als Gemeinsamkeit festhalten, dass es sich um Mensch-Tier-Kontakte mit Lebendtieren handelt, die erforscht werden. Die jeweiligen Ausrichtungen, also die adlige Kultur, berufsbezogene Kontexte oder der regionale Bezug, liefern inhaltliche Rahmungen, die letztlich tierbezogene Dissertationsthemen absichern. Es bleibt den einzelnen Autor_innen überlassen, ob sie sich vor allem mit der höfischen Kultur, mit der Entwicklung der Schlachthofarchitektur und der Verdrängung des Fleischerhandwerks, dem biologischen Verständnis von Landwirtschaft befassen oder etwa das menschliche Herrschaftsverhältnis zu Tieren herausarbeiten und in die jeweiligen Kontexte einbetten. Die gewählten Themen legen jedenfalls nahe, dass Tiere und ihre Indienstnahme für menschliche Verwertungsinteressen und Herrschaftsansprüche be-

Marburg, München, Münster, Passau, Regensburg, Rostock, Tübingen, Wien, Würzburg und Zürich.

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handelt werden können. Fragen der orts- und raumbezogenen Interaktion von Mensch und Tier, der berufsbezogenen Ethik und des Tierschutzes wären ebenfalls zu stellen. Es bleibt auf jeden Fall zu wünschen, dass tierbezogene Qualifikationsarbeiten, die den Tieren einen zentralen Platz in der Erforschung historischer und aktueller Lebenswelten einräumen, auch die Tür für eine wissenschaftliche Karriere öffnen.

F AZIT Tiere sind in der Volkskunde und in ihren Nachfolgefächern ein wichtiges Thema, das seit der Gründung des Faches bis heute ein fester Bestandteil im Nachdenken über Kultur ist. Entstanden sind eine unübersichtliche Anzahl an Forschungszugängen und eine beeindruckende Vielfalt an Arbeiten, in denen Tiere eine Rolle spielen. Leider zeigt sich aber auch, dass das Fach in seinem Kulturverständnis bis heute in großen Teilen anthropozentrisch ist und Tiere nur als »das Andere« definiert. Gleichwohl ist kulturgeschichtlich nicht zu übersehen, dass das Schicksal von Menschen eng mit Tieren verbunden war. Die traditionelle Volkskunde hat dies in der Erzähl-, Bild-, Sach- oder Glaubensforschung beeindruckend dokumentiert, auch wenn die Forschung in der Regel die Normen und Werte etwa der bäuerlichen Kultur nicht reflektiert oder gar in Frage stellt. Der Beitrag zeigt vielmehr, dass in der fachspezifischen Beschäftigung mit vorindustriellen Welten Tiere in eigentümlicher Weise ausgegrenzt wurden. Mit der Technisierung im 20. Jahrhundert verschwand die alte Kultur, deren Praxen in allen Bereichen mit Tieren verbunden waren. Die Mechanisierung der Landwirtschaft, die zum Verschwinden der Tiere als Antrieb geführt hat, hat die Ausblendung der Tiere in der kulturwissenschaftlichen Forschung noch verstärkt. Im Zuge der Modernisierung des Faches zu Beginn der 1960er Jahre, die die Technisierung der Lebenswelt in den Blick nahm und bei der die Natürlichkeit des Technischen (vgl. Bausinger 1961: 35) für einen fortschrittsorientierten Neubeginn stand, mutierten tierbezogene Kontexte, was hier als These formuliert werden soll, zu den abgelegten oder zu überwindenden Themen. Während die Erforschung der bäuerlichen Kultur die Tiere, die einen wesentlichen Anteil an der menschlichen Kultur hatten, mit Blick auf die Arbeit und die menschlichen Sichtweisen und Wertungen systematisch nicht nur marginalisiert, sondern oft auch gänzlich ausgeblendet hat, erhalten die Tiere im Zeitalter der Maschinen und Technik gerade im Freilichtmuseum als besondere Attraktionen einen neuen Stellenwert (z.B. Arche). Wie dargelegt, sind Museen geradezu prädestiniert, den gemeinsamen Alltag von Menschen und Tieren in historischer

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Dimension zu bearbeiten. Hinsichtlich der Fachgeschichte können, was ein erstes Ergebnis der hiesigen Ausführungen ist, vier Phasen unterschieden werden: 1. die Marginalisierung von Tieren in der Erforschung der traditionellen bäuerli-

chen Kultur, 2. die Neuausrichtung auf die technische Lebenswelt und die damit verbundene

Ausblendung der Tiere in den ersten Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs, 3. der Aufbruch: Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zu Mensch-TierVerhältnissen und -Beziehungen in den 1990er Jahren, und 4. die verpasste Chance und die Grenzen eines entgrenzten Kulturbegriffs. Im Konzert anderer Wissenschaften war die Kulturwissenschaft, und das darf hier trotz aller kritischen Einwände keinesfalls vergessen werden, sehr früh, was der Historiker Paul Münch, den ich vor kurzem zu seiner Einschätzung befragte, wie folgt beschrieben hat: »Die Volkskunde hat sich früher als die Geschichtswissenschaft für das Zusammenleben von Menschen und Tieren interessiert.« Er erinnert an den vorgestellten zentralen Sammelband Becker/Bimmer (1991b) und an die Dissertation Kultur mit Tieren (Buchner 1996), die er als »Meilenstein« beschreibt. Anknüpfungspunkte für aktuelle Forschungen sind also gegeben, und die oben erwähnte Arbeit von Karl Braun (1991) ist in diesem Kontext ebenfalls zu nennen, die aus heutiger kulturwissenschaftlicher Perspektive der Human-Animal Studies den Stier neu ins Zentrum der Betrachtung rücken könnte. Leider brachen – wie im vorliegenden Aufsatz deutlich geworden sein dürfte – die innovativen Ansätze der 1990er Jahre ab, die jeweiligen Autor_innen beschäftigten sich mit anderen Themen, die näher am Fortschrittsdiskurs der sich verändernden Disziplin standen. Wie gezeigt, wurde die historische Chance, eine kulturwissenschaftliche Tierforschung einzurichten, die angesichts des Kongresses »Natur – Kultur« bestanden hätte, nicht erkannt. Die Beschäftigung mit Natur und Kultur hat indes dazu geführt, dass tierbezogene Themen als Randthemen behandelt wurden. Doch ganz vergessen wurden die Tiere nicht: Die Zeitschrift für Volkskunde widmet sich im Jahr 2003 den Grabinschriften für Tiere, der Kuhverkultung, dem Fremden in der Natur und auch den Zeitungstieren. Friedemann Schmoll (2003) beschäftigt sich mit Natur und wieder (vgl. Schmoll 2001) enthält der Beitrag viele Hinweise zu Tieren. Das aktuelle plurale Fach hat, wie aus Kongressen ersichtlich wird, indes keinen Kulturbegriff gefunden, der den neuen Diskussionen um Tiere gerecht wird.

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Dass das Thema für junge Vertreter_innen des Faches nicht ganz unwichtig ist, dürfte ebenfalls deutlich geworden sein. Im Hinblick auf die Human-Animal Studies hat die Kulturwissenschaft noch Nachholbedarf, was nicht heißt, dass es nicht Potential und Möglichkeiten gäbe, die aufgezeigten Forschungszugänge und Traditionen weiterzuentwickeln. Für die Erforschung der kulturellen Mensch-Tier-Verhältnisse und -Beziehungen sind die neuen Human-Animal Studies eine notwendige Voraussetzung. Nur so gelingt es, einen Kulturbegriff zu entwickeln, der den Tieren gerechter wird, und Forschungsdesigns zu entwerfen, die tiersensibel sind (vgl. aktuell Reckwitz 2013: 35, der Tiere als »nichtmenschliche Aktanten« und als Teilelemente des Sozialen begreift und in diesem Sinne in die Kulturanalyse einordnet, die Tiere aber leider dann doch verdinglicht und parallel zu Kleidung oder Kunstwerken setzt). Es ist eine Herausforderung, die »Tiere« nicht nur als ein kleines Sonderthema begreift, sondern mit Donna Haraway gesprochen, danach fragt, was wir überhaupt wissen können und wissen dürfen (vgl. Eingangszitat). Ein Kulturbegriff, der den Tieren – jenseits der Sachkultur – einen eigenen Status und eine eigene Qualität in den kulturellen Prozessen einräumt, wäre hier dringend nötig. Wie aber könnte eine kulturwissenschaftliche Kulturtheorie und Forschungspraxis aussehen, die tiergerecht und tiersensibel traditionelle Formen der unreflektierten wissenschaftlichen Gewalt (durch Ausgrenzung und Eingrenzung in anthropozentrische Perspektiven) gegen Tiere überwindet? Es geht darum, kulturwissenschaftliche Forschungsperspektiven zu ermöglichen, die die Herausforderungen der Human-Animal Studies produktiv für das eigene Fach annehmen und eigene Perspektiven für die Mensch-Tier-Kulturen entwickeln. Die Kulturwissenschaft sollte sich als eine Wissenschaft verstehen, die Tiere nicht vereinnahmt, sondern als Gegenüber mit Würde und einer eigenen Lebenslogik in Mensch-Tier-Verhältnissen und -Beziehungen sieht, was in der Forschung zum gegenwärtigen Zeitpunkt erst ausgelotet werden muss. Kulturelle MenschTier-Verhältnisse wären so etwa mit Bezug auf Theorielagen der Ungleichheit zu untersuchen. Gewaltverhältnisse wären sichtbar zu machen, was das klassische volkskundliche Feld der Landwirtschaft, das Tieren allenfalls einen Objektstatus zuweist, radikal verändern würde. Gesellschaftliche Diskurse, die auf der politischen Ebene das Mensch-Tier-Thema in den Mittelpunkt rücken, wären zu reflektieren, sei es auf der Ebene der Tierrechte, des Schutzes von Arten und Lebensräumen, sei es auf dem Gebiet der Ernährung, der Tierhaltung, der Tierexperimente, der Sicht auf die Tiere in den Medien, was auch bedeuten würde, sie als Teil sozialer, ökonomischer und kultureller Wandlungsprozesse zu würdigen. Anknüpfend an die Geschichte der Volkskunde könnten die Landwirtschaft und das weite Gebiet der sogenannten Nutztiere reichlich Stoff bieten, Tiere

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nicht länger zu marginalisieren. In der kulturwissenschaftlichen Analyse von gemeinsamen und dennoch unterschiedlichen Lebenswelten von Menschen und Tieren geht es auch darum, Tiere in ihrem Eigensinn sichtbar werden zu lassen. Hier handelt es sich um einen ersten Schritt, der die Einbeziehung der Tiere in die kulturwissenschaftliche Forschung voranbrächte und die oben beschriebene anthropozentrische disziplinäre Ausrichtung des Vielnamensfaches etwas verringerte. Theoretisch ist die historische kulturwissenschaftliche Forschung bestens geeignet, gängige Erklärungsmuster der Mensch-Tier-Verbundenheit zu hinterfragen. Studierende, so meine Beobachtung, verweisen gerne auf die Biophiliethese des Soziobiologen Edward O. Wilson, um einen wissenschaftlichen Beleg für die enge Nähe des Menschen zum Lebendigen (vgl. hierzu kritisch BuchnerFuhs 2012: 312) zu liefern. Doch solche Argumentationen werden unscharf, ahistorisch und vermögen somit theoretisch nicht zu überzeugen. Mit Bezug auf Bourdieu und seine Ausführungen zur sozialen Distinktion bieten kulturwissenschaftliche Arbeiten zur Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts einen theoretischen Rahmen, der die gemeinsamen Lebensformen von Menschen und Tieren im Zusammenhang mit Distinktionspraxen bringt. An einem konkreten Beispiel soll ein solches Vorgehen abschließend noch kurz skizziert werden. Christina Schröder, die gerade ihre Bachelorarbeit am Fachbereich Sozialwesen (an der Hochschule Fulda) zur Hundehaltung von Wohnungslosen geschrieben hat, hat in sehr überzeugender Weise herausgearbeitet, wie soziale Distinktionsmechanismen heutzutage wirksam sind. Wohnungslose und ihre Hunde sind in doppelter Weise von Ausgrenzung und Stigmatisierung betroffen: »Straßenköter« und ihre Menschen gelten einzeln und als Paar als unrein. Sie sind von der reichen Tierkonsumwelt, die die hundeaffine deutsche Gesellschaft pflegt, ausgeschlossen. Es finden sich, wie Schröder aufzeigt, aufschlussreiche Parallelen zu historischen Deutungsmustern der Klassengesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert. In historischer Perspektive ist festzuhalten, dass der Tierkontakt immer ein Ausdruck sozialer Ungleichheit war (vgl. Buchner-Fuhs 2012). Zugtiere und Reittiere, die im Stadtraum um 1900 stets präsent waren, waren Teil der Distinktionsmechanismen der plutokratischen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Menschen und Tiere als Gespann waren ebenfalls in städtischen Kontexten anzutreffen, und in der gemeinsamen Arbeit von Mensch und Tier formten sich beider Körper. Körperlich arbeitende Menschen und die Zughunde waren der sozialen Degradierung ausgesetzt (vgl. ebd.: 316 ff.) – ein Deutungs- und Interpretationsmuster, das Schröder überzeugend auf die Situation heutiger Wohnungsloser und ihrer Hunde bezieht. Diese kulturwissenschaftliche lebensweltliche Verortung einer Mensch-Tier-Beziehung,

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die Handlungen und Deutungsmuster untersucht, die beide Beteiligten als Subjekte erfahren, erleben, reproduzieren und auch produzieren, ergreift im Sinne von Thiersch (2005: 35) eine anwaltschaftliche Position, und zwar (und das geht über Thiersch hinaus) für menschliche und tierliche Akteur_innen. Dieser theoretische Bezugsrahmen, der Lebenswelten historisch-kulturwissenschaftlich zur Positionierung von Mensch-Tier-Beziehungen begreift, vermag transdisziplinäre Bezüge herzustellen, so etwa Verbindungen zur Sozialen Arbeit. Im Hinblick auf die tierbezogenen Alltagspraxen wäre weitergehend zu fragen, wie Straßenhunde als Akteure Wirksamkeit entfalten. Das wäre als ein Beispiel zu verstehen, Tiere nicht nur in ihrer Funktion für den Menschen zu betrachten, sondern Tieren Handlungsmächtigkeit zuzugestehen. Konzeptionen von agency wären also kulturwissenschaftlich zu fassen und in ihren Reichweiten auszuloten. In Anbetracht des Erfolgs der Human-Animal Studies ist zu vermuten, dass auch das »Vielnamensfach« in naher Zukunft Tiere und Menschen untersucht. Vielfältige Themen sind vorhanden, und die erwähnte Wiener Tagung wird sicherlich zu tierbezogenen Arbeiten anregen.

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Zoologie Von »Mensch und Tier« zu »Menschen und andere Tiere« V OLKER S OMMER

Tiere spielen in zahlreichen akademischen Disziplinen des Abendlandes eine Rolle – typischerweise über einen Mensch-Tier-Dualismus (Sommer 2011). So werden beispielsweise in Psychologie, Soziologie, Theologie oder Philosophie intellektuelle oder ethische Alleinstellungsmerkmale des Menschen postuliert und die Literatur- und Kunstwissenschaft analysiert symbolische Darstellungen von Tieren, die menschliche Charakterzüge verdeutlichen sollen. Die Zoologie (von griech. zǀon [Tier], und logos [Wissen]) unterscheidet sich von diesen Disziplinen zumindest insofern, als jene, die sie praktizieren, mit ihren Studienobjekten in einer direkten, oft haptischen Beziehung stehen (Storch/Welsch 2012). Für zeitgenössische Zoologen ist es zudem unproblematisch, auch Menschen als eine Art von Tier zu begreifen. Das löst den in den Geisteswissenschaften oft fortbestehenden Dualismus prinzipiell auf. Katalysator dieser integrativen Perspektive war die Evolutionsbiologie (Dunbar 2014). Der vorliegende Essay zur Zoologie1 zeichnet einige Stationen dieser langsamen paradigmatischen Annäherung an andere Tiere nach. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Verhaltensbiologie (Kappeler 2012), da diese Subdisziplin besonders relevant erscheint für ein rapide wachsendes interdisziplinäres Feld,

1

Überarbeitet und erweitert nach Sommer 2013; 2014. – Bei der Verwendung umgangssprachlicher Konstrukte folgt dieser Essay der Auffassung, dass Zuordnungen von Genera zu Wörtern willkürlich sind (z.B. der Löffel, die Gabel, das Messer; der Hund, die Katze, das Pferd; die Sonne, der Mond, das Sternbild) und dass scheinbar natürlichen Kategorien (z.B. Mann, Frau; Tier, Mensch; Hetero-, Homosexualität) keine biologische Essenz innewohnt.

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das die komplexen und multidimensionalen Beziehungen zwischen Menschen und Tieren analysiert: Human-Animal Studies (DeMello 2010).

D ER D UALISMUS

DES

D ESCARTES

Wie andere Denkansätze der frühen Aufklärung (zum Folgenden vgl. Walach 2009) transportierte die Zoologie zunächst traditionelle theologische und gesellschaftliche Dogmen. Demgemäß hatte ein Schöpfer alle Lebensformen komplett neu erschaffen. Diese Inkarnationen waren unveränderlicher Ausdruck göttlicher Gedanken, und Menschen als Krone der Schöpfung besaßen einen Herrschaftsauftrag. Entsprechend wurden wesensmäßige Unterschiede zwischen »Mensch und Tier« postuliert. Dieser Dualismus ist in westlicher Denktradition vor allem verknüpft mit dem Namen René Descartes (1596-1650). Der französische Philosoph und Mathematiker begründete die Dichotomie innerhalb des seinerzeitigen historischen Kontextes durchaus logisch. Descartes leitete das Zeitalter der Moderne maßgeblich ein, indem er das kritische und denkende Ich zum Anker seiner Überlegungen machte. Dafür unterschied seine Philosophie streng zwischen einer denkenden Sache (res cogitans) – gemeinhin auch als »Geist« umschrieben – und einer ausgedehnten Sache (res extensa) – der Materie. Der Geist, mehr oder weniger identisch mit der Seele, ist immateriell, nicht lokalisiert und unterliegt deshalb nicht den Naturgesetzen. Nur Menschen besitzen Geist, Seele und Gefühle – während Tieren diese Dimensionen fehlen. Descartes argumentierte, dass sämtliche Lebewesen durchaus den gleichen natürlichen Regeln unterliegen, wenn es um ihre materiehaften Körper geht. Unter anderem davon inspiriert, dass Uhren seinerzeit der Höhepunkt mechanischen Handwerks waren, verstand Descartes Lebewesen deshalb als Maschinen: Die Körper von Tieren wie von Menschen sind Automaten, die das feine Räderwerk der Naturgesetze illustrieren. Descartes analysierte damit als einer der ersten Denker biologische Vorgänge unter dem Gesichtspunkt der Mechanik. Ähnlich Wechselwirkungen zwischen den genau eingestellten Teilen eines Uhrwerks sind auch biologische Prozesse ununterbrochene Sequenzen von Ursache und Wirkung. Dieser Denkansatz ist von kaum zu überschätzender Bedeutung für die späteren praktischen Erfolge der westlichen Wissenschaft in Technologie, Physiologie oder Medizin. Dass Descartes aufklärerisch dachte, jedoch zugleich einem Dualismus anhing, beruht darauf, dass in seinem Konzept der res cogitans das Konstrukt einer »Seele« unentwirrbar verbunden war mit Aspekten des Denkens und Fühlens,

Z OOLOGIE

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wie sie traditionell unter dem Dach des Konstruktes »Geist« vereint sind. Gemäß Descartes kann man sich wohl einen halben Arm vorstellen – während eine »halbe Seele« keinen Sinn ergibt. Nur Menschen waren deshalb beseelt, »Tiere« hingegen unbeseelt. Da aber res cogitantes auch Intellekt und Emotionen umfassten, konnten Tiere zudem weder denken noch empfinden. Das Konzept gefühl- und gedankenloser Tiere war geboren. Zoologen konnten entsprechend unbekümmert Tiere lebendigen Leibes aufschneiden und sezieren. Denn wenn Körper sich auch wanden – es sah nur aus, als empfänden diese Maschinen etwas. Tiere waren in diesem Narrativ vor allem Studien-»Objekte«. Wer ihre Anatomie und Physiologie verstehen wollte, tat dies mithin gewöhnlich invasiv und damit kompartimentalisierend, d.h., im wahrsten Wortsinn »zerstückelnd«. Entsprechend wurden Tiere als Eigentum in Besitz genommen, gesammelt, getötet, seziert, präpariert und aufbewahrt.

D IE G EDANKEN G OTTES

LESEN

Museen der Naturkunde und Zoologie illustrieren dieses Vorgehen heute noch. Solche Sammlungen entstanden nicht zuletzt, weil aufstrebende Kolonialmächte wie Großbritannien oder Frankreich erkannten, das sie ökonomisch nützlich sind – und ihr oft exotisches Inventar glänzendes Zeugnis globaler Machtentfaltung darstellt. Auch wenn diese Entwicklung typisch ist für eine gern als Humanismus bezeichnete Weltanschauung, so spiegelten zoologische Sammlungen zugleich den früheren Ansatz des Divinismus wider, der alles in Bezug zum Göttlichen setzt. Imperiale Visionen göttlicher Sendung mischen sich so mühelos mit aufklärerischen Gedanken (vgl. Hösle/Illies 2005). Das trifft auch zu auf Carl von Linné (1707-1778), der die binomiale Bezeichnung von Spezies durch vorangestellten Gattungs- und nachfolgenden Artnamen in seinem Systema Naturae einführte (Linné 1735). Als gläubiger Christ war es dem schwedischen Naturforscher dadurch zumindest implizit möglich, sich in das Denken Gottes zu versetzen – repräsentierte doch jede Lebensform gleichsam einen Gedanken des Schöpfers. Zoologie war damit auch Gottesdienst. Linnés Taxonomie ist ein hierarchisches System (Stamm, Klasse, Ordnung, Familie, Gattung, Art, Rasse), das auf abgestufter Ähnlichkeit zwischen Lebewesen beruht. Der Ansatz war durchaus geeignet, den Mensch-TierDualismus in Frage zu stellen. Zur Gattung Homo (Mensch) zählte er unter wechselnden Namen nicht nur die zeitgenössischen Menschen, sondern auch weitere Formen, in denen sich mehr oder weniger korrekte Merkmale von Menschenaffen, Menschenvölkern und Fabelwesen vereinten. Ab der zehnten Aufla-

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ge stellte Linné den Menschen in die Ordnung der Primates (»Vorrangigen« oder »Herrentieren«). Linné begründete Einordnungen von Tiergruppen durch Beschreibungen des Körperbaus, der sie von anderen Gruppen unterschied. Für die Spezies Mensch konnte er kein entscheidendes anatomisches Merkmal vortragen, das sie von verwandten Formen eindeutig abgrenzte. Eben deswegen wird unsere Spezies als Homo sapiens bezeichnet. Denn statt sich auf Anatomie zu kaprizieren, wählte Linné hingegen die Worte »nosce te ipsum«. Das »Erkenne dich selbst« des Delphischen Orakels sollte deutlich machen, dass es nicht körperliche, sondern geistige Merkmale waren, die menschliche Andersartigkeit begründeten. Trotz dieses Abgrenzungsversuchs brach der durchaus fromme Linné Tabus, gruppierte er doch die Krone der Schöpfung letztendlich mit Tieren. Diesem vermeintlichen Angriff auf menschliche Würde folgten entsprechend hastige Revisionen der Einordnung, um den sakrosankten Unterschied zwischen Mensch und Affe wiederherzustellen. Eifrig wurden weiter unterscheidende Humana definiert. Der deutsche Zoologe Johann Christian Daniel von Schreber (17391810) hob hervor, der Mensch habe im Gegensatz zu übrigen Primaten zwei statt vier Hände. Der Göttinger Anatom und Anthropologe Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840) plädierte für die formalen Namen Bimana (Zweihänder) und Quadrumana (Vierhänder). Im Jahre 1775 benannte Blumenbach den Schimpansen um, in Simia troglodytes. Der deutsche Naturforscher Lorenz Oken (17791851) erfand schließlich 1816 die heute verwendete Gattung Pan. Unsere allernächsten Verwandten waren damit erfolgreich aus der Gattung Homo verbannt – nicht wegen zoologischer, sondern weltanschaulicher Argumente.

E VOLUTION VON K ÖRPER UND P SYCHE Kriterien grundsätzlicher Unterscheidung von Mensch und Tier sollten in dem Maße unhaltbar werden, wie sich die Evolutionstheorie entwickelte (zum Folgenden vgl. Wuketits 2007). Deren revolutionäre Gedanken nährten sich ab Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst über eine »Archäologie der Tierwelt«, die sich mit ausgestorbenen Formen befasste. So entstand ein gigantisches Puzzle von Fossilfunden – was zur Rekonstruktion des historischen Ablaufs von Veränderungen im Körperbau führte, bei der auch die »Hominisation« nicht ausgespart werden konnte, die »Menschwerdung«. Theoretische Unterfütterung dieser neuen Sicht lieferten die englischen Naturforscher Charles Darwin (1809-1882) und Alfred Russel Wallace (18231913). Sie verstanden erstmals, dass Artenwandel den Regeln »Überproduktion

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– Variation – Selektion« unterliegt. Evolution findet statt, so die Grunderkenntnis, weil alle Lebewesen mit Anforderungen der physikalischen oder innerartlichen Umwelt konfrontiert sind. Das zieht entsprechend Prozesse der »natürlichen« bzw. »geschlechtlichen Auslese« nach sich (Darwin 1871). Obwohl die Übergänge fließend sind, wird »natürliche Auslese« dabei von Faktoren wie Klima, Nahrungsverteilung, Raubfeinden und Krankheitserregern bestimmt. Hingegen wird bei der »geschlechtlichen Auslese« Druck entweder von Geschlechtsgenossen ausgeübt (intrasexuelle Konkurrenz; oft als male competition zwischen Männchen um Zugang zu fruchtbaren Weibchen) oder von Mitgliedern des Gegengeschlechts (intersexuelle Konkurrenz; oft als female choice, indem Weibchen sich bevorzugt mit Männchen paaren, deren Merkmale auf gute erbliche Konstitution hindeuten). Nicht nur anatomische Studien belegten die Ähnlichkeit zwischen Menschen und anderen Tieren, sondern auch solche über »geistige« Verwandtschaft – die Verwandtschaft im Gefühlsleben. Darwin hatte sein anfängliches Medizinstudium nicht zuletzt deshalb abgebrochen, weil er die »Vivisektion« unerträglich fand. Es fiel dem jungen Studenten schwer, die Descartes‫ތ‬sche Lehrmeinung zu akzeptieren, Tiere könnten lebendig seziert werden, da sie keinen Schmerz empfinden. Seine These stammesgeschichtlicher Kontinuität auch mentaler Qualitäten sollte Charles Darwin 13 Jahre nach seinem bahnbrechenden Werk Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (Darwin 1859) entfalten – in seiner Studie Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren (ders. 1872). In der Untersuchung scheut Darwin nicht vor »Vermenschlichung« zurück, sondern berichtet über aufgebrachte Löwen, enttäuschte Schimpansen, feige Kampfhähne, ungeduldige Schlangen, verärgerte Chamäleons und zornige Elche. Darwin konstatierte dabei klipp und klar, dass »der Unterschied im Denken zwischen dem Menschen und höheren Tieren, groß wie er sein mag, gewiss nur einer von Graden ist, und nicht einer im Wesen« (»the difference in mind between man and the higher animals, great as it is, certainly is one of degree and not of kind«). Denn für den Pionier der Evolutionstheorie machte die Natur keine Sprünge – weder in der Anatomie noch in der Psychologie. Gemäß dieser Weltanschauung wurden Menschen zunehmend »vertierlicht« (zoologisiert), während andere Tiere je nach Maßgabe ihrer Verwandtschaft mit Menschen »vermenschlicht« (anthropomorphisiert) wurden. Gradualisten betonen also fließende Übergänge im Sinne eines »Mehr oder Weniger« – während Essentialisten nach unüberbrückbaren Unterschieden im Sinne eines »Alles oder Nichts« suchen, also davon ausgehen, dass Mitglieder der Gattung Mensch einen unveränderlichen inneren Wesenskern besitzen, der anderen Arten überlegen ist.

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Belege zur Historizität der Evolution wurden ab Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend erdrückender. Selbst Zweifler sahen sich mit dem Faktum konfrontiert, dass sie mit Tieren eine mehr oder minder lange gemeinsame Abstammungsgeschichte teilten und in dem Sinne selbst Tiere sind. Diese vereinigende Perspektive blieb traditionellen Denkern gleichwohl suspekt. Da sie das Faktum stammesgeschichtlicher Entwicklung zumindest im Körperbau schlecht ablehnen konnten, eröffnete ein Rückbezug auf den Dualismus des Descartes die Möglichkeit, weiterhin allerlei Alleinstellungsmerkmale des Menschen im »Geistigen« behaupten zu können – obwohl Darwin solchen Essentialismus deutlich abgelehnt hatte. So intensivierte sich paradoxerweise auch und gerade wegen des Siegeszugs der Evolutionstheorie die Suche nach Kriterien, mittels deren sich die herausragende Einmaligkeit der Menschen belegen ließ. Zugleich wuchs dadurch das Interesse an jenen Tieren, die uns phylogenetisch am nächsten stehen, mithin der Ordnung Primaten (Halbaffen, Affen, Menschenaffen). Behauptete menschliche Alleinstellungsmerkmale reflektierten dabei einerseits Kulturoptimismus, dass also Menschen über der Natur stehen und sie gezähmt und verbessert haben (z.B. Werkzeuggebrauch, Sprachfähigkeit, Religion, Kunst). Interessanterweise wurde im Zuge dieser mittlerweile 150 Jahre alten Debatte aber auch genau das Gegenteil behauptet – und Sonderstellung manifestierte sich über Kulturpessimismus; während Tiere als »edle Wilde« in einem unschuldigen Naturzustand leben, galten und gelten Menschen dabei als durch Zivilisation korrumpiert (z.B. Kriegsführung, Artgenossentötung, Selbstmord, Diebstahl, Homosexualität, Umweltzerstörung).

V ERGLEICHENDE P SYCHOLOGIE Darwins Ansatz einer Ähnlichkeit der kognitiven Mechanismen zwischen Menschen und anderen Tieren im Sinne einer »Vergleichenden Psychologie« (zum Folgenden vgl. Byrne 1995; Wynne/Udell 2013) wurde von dem britischen Evolutionsbiologen George John Romanes (1848-1894) fortgeführt. Ähnlich Darwin schreibt Romanes in seinem Buch Animal Intelligence: »Genau wie eine physiologische, so durchzieht eine psychologische Kontinuität das Tierreich« (»There must be a psychological, no less than a physiological, continuity extending throughout [...] the animal kingdom«) (Romanes 1883). Darwin wie Romanes stützten sich oft auf Geschichten, die ihnen Laien wie Offiziere und Hobbynaturforscher erzählt hatten – einschließlich Berichten über Hunde und Pferde, die aus Trauer über den Verlust ihrer Herren Selbstmord begingen. Zwar versuchten

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Darwin und Romanes, ihren Schlussfolgerungen Filter der Überprüfbarkeit voranzusetzen. Doch fiel ihr anthropomorph-psychologischer Ansatz bald in Ungnade, weil er keine konkreten materiellen Belege über das Innenleben von Tieren lieferte, sondern lediglich Spekulation. Um den Tier-Mensch-Vergleich auf eine solidere Grundlage zu stellen, führte der britische Psychologe Conwy Lloyd Morgan (1852-1936) in seinem Buch Eine Einführung in die vergleichende Psychologie deshalb »Morgans Regel« (»Morgan‫ތ‬s Canon«) ein: »Führe Verhalten nicht auf höhere psychische Fähigkeiten zurück, wenn es als Resultat einer niederen gedeutet werden kann« (Morgan 1895). Der deutsche Psychologe Oskar Pfungst (1874-1933) belegte die Nützlichkeit der Morgan‫ތ‬schen Regel bei seinen Untersuchungen zum »Klugen Hans«. Das russische Pferd gelangte zu Ruhm, weil es nicht nur Deutsch lesen, sondern auch rechnen konnte, indem es Lösungen mit seinem Huf tappte. Durch Experimente belegte Pfungst, dass Hans nicht so clever war, wie ein begeistertes Publikum gerne glaubte. Vielmehr »rechnete« der Kluge Hans nur, wenn er zugleich Menschen sehen konnte, die die Antwort wussten – also seinen Besitzer von Osten oder das Publikum. Somit las der Vierbeiner die Körpersprache der eigentlich Wissenden – die sich der Wirksamkeit dieses »Interviewereffekts« selbst nicht bewusst waren. Statt zu denken, hatte Hans also gelernt, subtile Bewegungen mit dem korrekten Verhalten zu assoziieren (Pfungst 1907). Der Versuch, »höhere« kognitive Prozesse wie Einsicht oder planerisches Denken möglichst nicht als Erklärungen für Tierverhalten zu verwenden, wenn sich auch »einfachere« Mechanismen wie Reflexe, Konditionierung oder Lernen über Versuch und Irrtum heranziehen lassen, führte über das nächste halbe Jahrhundert hinweg zu einer starken Ablehnung subjektivistischer Interpretationen bei der Deutung von Verhalten – ganz gleich, ob es sich um nichtmenschliche Tiere oder um Menschen handelte. In dem methodologischen Reduktionismus waren sich sogar bitter konkurrierende Schulen einig. So experimentierten die amerikanischen Behavioristen um John Broadus Watson (1878-1958) und Burrhus Skinner (1904-1990) mit Puzzlekästen und Lauflabyrinthen, um zu belegen, wie alles Verhalten durch simple Mechanismen wie Versuch und Irrtum erlernt ist (Skinner 1974). Nach Ansicht der europäischen Ethologen um den Niederländer Nikolas Tinbergen (19071988) und den Österreicher Konrad Lorenz (1903-1989) bestimmten hingegen angeborene Programme tierliches Verhalten weitgehend. Was allerdings Tinbergen in seiner Instinktlehre formulierte, hätten Behavioristen aber wohl auch unterschrieben: »Weil subjektive Phänomene nicht objektiv in Tieren beobachtet

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werden können, ist es Zeitverschwendung, ihre Existenz zu behaupten oder zu verneinen« (Tinbergen 1951).

E MOTIONEN

UND

G EFÜHLE

An dieser Stelle gilt es, einige Definitionen vorzunehmen (Stamp Dawkins 2011). Denn bereits Darwin unterschied hinsichtlich »Gemütsbewegungen« zwischen dem äußeren Ausdruck einerseits und den damit einhergehenden subjektiven Empfindungen andererseits. Der Einteilung in objektiv messbare vs. lediglich subjektiv erfahrbare Komponenten folgen heute noch viele Wissenschaftler, die jene psychophysiologischen Prozesse untersuchen, die wir als Emotionen bezeichnen. Als objektive Komponente gilt einerseits die Physiologie, die sich in körperlichen Zustandsänderungen manifestiert wie steigender Pulsrate, Hormonausschüttung oder Erröten. Andererseits kann Verhalten registriert werden, also ob wir die Mundwinkel nach unten ziehen oder lachen. Die subjektive Komponente der Emotion – das eigentliche Gefühl – bleibt hingegen privat. Nur ich selber weiß, wie es sich in mir und für mich anfühlt, wenn ich traurig, fröhlich oder verliebt bin. Allerdings besteht nicht einmal für Menschen Einigkeit darüber, welche und wie viele Empfindungen wir besitzen und inwieweit diese angeboren oder kulturell bedingt sind. Manche Theorien kommen mit vier Gefühlen aus (Furcht, Ärger, Freude, Trauer), andere ergänzen den Katalog auf sieben (durch Ekel, Verachtung, Überraschung), auf zehn (durch Interesse, Scham, Schuldgefühl) oder nennen weitere Kandidaten (Schmerzempfinden, Wohlbehagen, Liebe, Geborgenheit, Glücklichsein etc.). Umstritten ist zudem, ob und wie Gefühle mit anderen nur privat erfahrbaren Zuständen verwandt sind, speziell mit Wollen und Denken. Wer Gefühlen nachforscht, richtet damit automatisch auch Augenmerk auf das »Bewusstsein« – eine weitere komplexe Kategorie, deren realer Inhalt umstritten bleibt. Gleichwohl: Die innerliche Welt anderer Menschen kann ich dialogisch rekonstruieren – indem mein Gegenüber mir darüber in Worten erzählt, die mir verständlich sind. Inwieweit diese Erzählungen mit der Realität korrespondieren, ist selbstverständlich im Einzelfall wiederum zweifelhaft. Aber zumindest ist es plausibel, dass private Wahrnehmungen existieren. Das ist selbstverständlich auch für andere Tiere eine plausible Annahme. Doch weil Tiere nicht in unserer Sprache mit uns reden, bleiben Mutmaßungen über deren Gefühlsleben problematischer.

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ANTHROPOMORPHISMUS , ANEKDOTE , ANALOGIE Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass Emotionen lebensverlängernde Orientierung in der Umwelt bieten. Angenehmes verleitet, Verhalten fortzusetzen – etwa, wenn meine Katze süße Milch schleckt und sich wohlig in der Morgensonne räkelt. Unangenehmes veranlasst Mieze, ihre Situation zu ändern – etwa, schlecht schmeckende Milch zu verschmähen, Schatten aufzusuchen, wenn die Sonne brennt, und vor dem Hund ängstlich wegzuspurten. In diese Schilderung beobachtbaren Verhaltens sind zahlreiche Vokabeln gemischt, die auf das kätzische Innenleben anspielen – von süß über wohlig bis schlecht schmeckend und ängstlich. Ob wir derlei Zuschreibungen verwenden, hängt davon ab, inwieweit wir jene drei »A« akzeptieren, die in Verhaltenswissenschaften traditionell kritisiert werden: Anthropomorphismus, Anekdote, Analogie. Die drei großen »A« repräsentieren zugleich eine intellektuelle Scheidelinie zwischen Gradualisten und jenen, die auf grundsätzlichem Tier-MenschDualismus beharren. Akademischer Widerstand gegen das erste »A«, nämlich über Vermenschlichung ein Fenster ins tierliche Innenleben zu öffnen, zerbröselte vor allem durch die Forschungen von Jane Goodall (geb. 1934) (Goodall 1971; 1986). Sie begann vor gut 50 Jahren, wilde Schimpansen zu beobachten. Erst in den letzten 100 Jahren wurden solche eher ganzheitliche Studien populärer, bei denen es um Ökologie, Verhalten oder geographische Verbreitung geht. Sogenannte »Freilandstudien« versuchen, die Lebenswelten von Tieren in ihren natürlichen Heimaten zu verstehen. Damals galt Werkzeugbenutzung als menschliches Spezifikum. Als die britische Primatologin entdeckte, wie Schimpansen mit Angeln aus Stöckchen oder Gras Termiten in ihren Höhlen erbeuteten, war das klassische Sonderstellungsmerkmal hinfällig. Gleichzeitig erfuhr Darwins Postulat einer »geistigen« Kontinuität eine Renaissance. Goodall gab ihren Studien-»Objekten« zudem Namen statt Nummern und beschrieb Schimpansen nicht sächlich als »es«, sondern als »sie« und »er«. Fachzeitschriften druckten ihre Beiträge sogar, als sie den Menschenaffen Empfindungen zuschrieb. Denn Goodall formulierte im Konjunktiv: »Wären Schimpansen Menschen, würden wir dieses Verhalten als Ausdruck von Eifersucht und Trauer bewerten.« Tiere wurden so allmählich zu Gefühlswesen. Schützenhilfe bekam die Primatologin vom amerikanischen Zoologen Donald Griffin (1915-2003). Wegen weithin anerkannter Forschungen zu Echoortung und Vogelzug konnte dessen leidenschaftliches Werk Die Frage tierlicher Bewusstheit nicht als sentimentale Spinnerei abgetan werden (Griffin 1976). Griffin läutete damit ein, was rückblickend als »kognitive Wende« der Verhal-

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tensforschung gilt: die neuerstarkte Auffassung, tierliches Erleben könne durchaus wissenschaftlich untersucht werden. Seit Descartes sind dreieinhalb Jahrhunderte vergangen – in denen sich das Konzept einer immateriellen, monolithischen Seele weitgehend auflöste. Den meisten zeitgenössischen Zoologen erscheint die Frage, ob Tiere Gefühle haben, mittlerweile absurd. Für manche, wie Mark Bekoff (geb. 1945), stellt sie sich gar nicht. Denn, so der US-amerikanische Evolutionsbiologe in Das emotionale Leben der Tiere: »Mit einem Hund zu leben geht mit dem Wissen einher, dass Tiere Gefühle haben. Das ist einfach so« (Bekoff 2007). Für Bekoff sieht es nicht nur aus, als ob Tiere fühlen würden. Wenn er mit ihm spielt, gilt ihm sein Hund nicht lediglich in Anführungszeichen als »glücklich«; der Vierbeiner ist wirklich glücklich. Gemäß Bekoff können wir tierliches Empfinden ohne weiteres erkennen. Ganz in der Tradition der Anekdotensammler Darwin und Romanes führt er beispielsweise an, was ihm Frau Harris aus Texas schrieb. Um einer Nagerplage vorzubeugen, blockierte das Ehepaar Harris ein Loch im Dachboden. Kurz darauf schaute ein Eichhörnchen fiepend durchs Zimmerfenster, richtete sich langsam auf und hob die Arme. Offenbar, so Frau Harris, wollte das Hörnchen sein milchgefülltes Gesäuge zeigen und verzweifelt auf seine im Dachboden eingesperrten Jungen hinweisen. Mark Bekoff glaubt, dass Frau Harris die Empfindungen des Eichhörnchens korrekt deutete. Diese Interpretation geht den meisten Verhaltensbiologen vermutlich zu weit – obwohl das Sammeln von Anekdoten durchaus eine Rehabilitierung erfahren hat.

T IERE

ALS

G EDANKENLESER ?

Anekdotische Evidenz wird speziell in der Primatologie akzeptiert, einer Disziplin, die den Minimalismus von klassischer Ethologie und Behaviorismus stetig weiter hinterfragt hat. So wollten die schottischen Psychologen Richard Byrne und Andrew Whiten wissen, ob auch nichtmenschliche Primaten Probleme durch Einsicht lösen können. Solche »wilden Denker« würden damit weder auf angeborene Instinkte zurückgreifen – à la Lorenz und Tinbergen – noch auf erlernte Konditionierung – à la Watson und Skinner. Byrne und Whiten kaprizierten sich dabei auf die taktische Täuschung von Artgenossen. Ähnlich wie Falschgeld müssen Lug und Trug allerdings rar sein, weil sonst niemand mehr darauf hereinfällt. Bei einer Datenlage wie dieser schlägt die Stunde der Anekdote. Whiten und Byrne setzten deshalb auf das verpönte zweite »A« und baten andere Affenforscher, ihnen jene seltenen Geschich-

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ten mitzuteilen, die auf »machiavellische Intelligenz« hindeuten – darauf, dass auch Tiere Sozialpartner eigennützig manipulieren. In einem von ihnen herausgegebenen Sammelband entfalteten sie diese Theorie als »Machiavellian Intelligence« (Byrne/Whiten 1988). Eine typische Anekdote berichtet über falschen Alarm bei Languren. Bei diesen indischen Tempelaffen wurde beobachtet, wie Rangniedere eine Fußverletzung des dominanten Affen auszunutzen versuchten, indem sie ihm beliebte Nahrung streitig machten: von einer Akazie herabgefallene reife Früchte. Während einer solchen Rempelei stieß der Alphaaffe unvermittelt kehlige Laute aus, die sonst nur zu hören sind, wenn Gefahr droht, von Hunden etwa oder Leoparden. Als der Alarm ertönte, flüchteten denn auch alle schnurstracks auf die Bäume. Nur Alpha blieb ruhig am Boden und verzehrte seine Schoten – während weder Hundemeute noch Raubkatze auftauchten. Ähnliche Episoden wurden bei verschiedensten Primatenarten beobachtet. Eine Täuschung gelingt umso wahrscheinlicher, wenn wir uns in Gegenspieler hineinversetzen und berücksichtigen, was sie wissen und wollen. Wer das leistet, verhält sich wie ein Gedankenleser. Der Alphaaffe der Languren mag demnach gedacht haben: »Ich denke, du wirst glauben, ein Raubfeind sei in der Nähe, wenn ich einen Alarmlaut ausstoße.« Solche Anekdoten werden interessanterweise umso häufiger beobachtet, je größer der Anteil des Neocortex am Gesamtgehirn ausfällt – also, je menschenähnlicher eine Spezies ist. Hätte sich die Szene unter Menschen abgespielt, fänden wir eine auf »Gedankenlesen« beruhende Erklärung jedenfalls plausibel. Schließlich sind wir tagtäglich, im richtigen Leben wie in Kino und Romanen, mit Betrugsgefahr konfrontiert (Sommer 1992). Dummerweise sind aber – unter Anwendung von Morgans Prinzip – auch »nonmentalistische« Deutungen möglich. Unser Alphaaffe müsste sich demnach gar nichts denken, sondern hätte durch schlichte Konditionierung gelernt, Alarmlaute mit flüchtenden Gruppengenossen und entsprechend mehr Nahrung zu assoziieren. Selbst Hunderte von Anekdoten können somit das Vorliegen taktischer Täuschung nicht eindeutig belegen. Denn auch ein vielfach vorgeführter Zaubertrick liefert nicht mehr Beweise für »Magie« wie ein einzelner. Daher die ironische Redewendung: »›Daten‹ ist nicht der Plural von Anekdote.«

G EFÜHLE

OHNE

B EWUSSTSEIN ?

Besondere Skepsis gegenüber qualitativen Beschreibungen von Tierverhalten äußert Marian Stamp Dawkins (geb. 1945). In ihrem Buch Warum Tiere wichtig

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sind mahnt sie an, Anekdoten und Anthropomorphismen möglichst sparsam einzusetzen, gerade weil sie sich für das Tierwohl engagiert (Stamp Dawkins 2011). Die Professorin für Tierverhalten an der Universität Oxford fordert solidere Belege ein, als anrührende Geschichten von Goodall, Griffin, Bekoff & Co. Stamp Dawkins will Tieren Bewusstsein und Gefühle durchaus nicht prinzipiell absprechen. Sie hält es – gerade im Rahmen der Tierschutzdiskussion – lediglich für klüger, die Frage tierlichen Bewusstseins auszuklammern und sich auf besser messbare Aspekte zu konzentrieren, etwa auf Experimente, in denen Tiere ihre Bedürfnisse signalisieren können. Außer Anthropomorphismus und Anekdoten hält Stamp Dawkins auch das dritte »A« für wenig aussagekräftig: die Analogie (vgl. ebd. zum Folgenden). Denn was ähnlich aussieht, muss keine ähnlichen Ursachen oder Folgen haben. Als physiologische und neuronale Prozesse stetig besser gemessen werden konnten, wuchs zunächst die Hoffnung, Gefühle über spezifische Korrelate identifizieren zu können. Aktive Hirnareale verbrauchen mehr Sauerstoff, was bildgebende Gehirnscanner in eingefärbte »Landkarten« unseres Denkapparates übersetzen. Versuchspersonen berichteten überdies, was sie angesichts bestimmter Reize empfanden. Wenn in entsprechenden Regionen tierlicher Gehirne die gleichen Lämpchen aufleuchten, so die Schlussfolgerung, dürfen wir ziemlich sicher sein, dass sie fühlen wie wir. Entgegen der Erwartung gehen neuronale Feuerwerke jedoch nicht mit spezifischen Gefühlen einher, und ein »Sitz des Bewusstseins« lässt sich schon gar nicht lokalisieren. Die neurobiologische Landkarte ist mithin so komplex, dass wir sie nicht lesen können. Eindeutige physiologische Anzeiger für bestimmte Gefühle existieren ebenfalls nicht. Das überrascht nicht weiter, weil der Körper sich beispielsweise auf entgegengesetzte Verhaltensweisen wie Kämpfen und Fliehen identisch vorbereitet. Beide Aktivitäten benötigen Sauerstoff für anstehende Bewegungen (weshalb die Pulsrate steigt) sowie Kraftstoff in Form von Glukose (der durch Hormone im Blut freigesetzt wird). Aggressiver Ärger und passive Angst sind somit anhand ihrer Korrelate nicht auseinanderzuhalten. Verhalten, das Emotionen begleitet, zeigt innerliche Gefühle gleichfalls nicht eindeutig an. Wer beim Achterbahnfahren zuschaut, wird sich durchaus fragen, ob Schreie und verzerrte Gesichter Furcht, Aufregung oder Freude ausdrücken. Ähnlichkeit im Verhalten belegt mithin ebenfalls keine Gleichheit im Erleben. Gefühle können überdies gespielt sein – auch und gerade von Haustieren. So scheinen Katzen zu lernen, ihre Halter zu manipulieren, indem sie das Geschrei von Menschenbabys nachahmen. Je mehr Zuwendung sie erhalten, desto eher benutzen Katzen die Vokalisation erneut. Bei Haushunden ist ebenfalls Vorsicht angebracht. Denn über Jahrtausende wurden jene Tiere weitergezüchtet, die auf

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uns verspielt, traurig oder glücklich wirken. Dass Hunde entsprechend fühlen, ist jedoch im Prinzip nicht notwendig, um unsere Reaktionen auszulösen. Unsere verhätschelten Vierbeiner würden damit Schnittblumen gleichen, die wir zu unserer Freude züchterisch perfektioniert haben – deren Duft und Blüte aber von ihrer ursprünglichen biologischen Bedeutung abgekoppelt sind. Die Fahndung nach tierlichen Gefühlen kompliziert sich zudem, weil viele Handlungen unbewusst ablaufen. So schaue ich erstaunt meinen Händen zu, wenn sie Akkordfolgen auf einem Musikinstrument »ganz von alleine« spielen. Mein Gehirn lässt also meine Muskeln musizieren, ohne dass sie mit meinem Denken verknüpft wären. Auf Emotionen kann das gleichfalls zutreffen. Wenn uns das Foto eines fröhlichen oder traurigen Gesichts für weniger als 40 Millisekunden dargeboten wird, nehmen wir das Bild nicht wahr. Werden wir dann gefragt, ob ein uns unbekanntes chinesisches Schriftzeichen eher positive oder negative Bedeutung hat, interpretieren wir nach Einblendung eines fröhlichen Gesichts das Zeichen gleichwohl eher als positiv; und als negativ, war der unterschwellige Stimulus traurig. Möglicherweise könnten deshalb Tiere zwar auch Emotionen haben, sie aber nicht bewusst erfahren. Charles Darwin zog das in Betracht, als er Löwen als »aufgebracht« und Insekten als »eifersüchtig« beschrieb. Wie frustrierend es sein mag: Trotz allem wissenschaftlichen Fortschritt wissen wir immer noch nicht sicher, ob und wie Tiere Gefühle bewusst in ihrem Kopf erleben.

D IE M EINIGKEIT

DES

S CHWEINS

Doch müssen wir tatsächlich weiterhin weitgehend mit dem Herzen entscheiden, ob wir die An- und Abführungsstriche bei »Gefühlen« von Tieren weglassen wollen oder nicht (vgl. Metzinger 2009)? Sind indirekte Argumente tatsächlich so impotent? Nein – denn sie können durchaus enorme Kraft entfalten, wenn wir statt auf »Strukturähnlichkeit« auf »Ursprungsähnlichkeit« setzen. Die Wortklauberei weist auf einen wichtigen Unterschied hin. Eine Analogie bezeichnet äußerliche Übereinstimmung aufgrund paralleler Entwicklung. So gleichen sich die Grabhände von Grillen und Maulwürfen, die Flossen von Fischen und Wal»Fischen« oder die Flügel von Vögeln und Fledermäusen, weil gleichgerichtete Auslesedrucke sie formten. Analoges Verhalten sieht strukturell ebenfalls ähnlich aus. Deshalb windet sich eine Schlange, der ich auf den Schwanz trete, wie ein Regenwurm – obwohl deren Rückenmark ganz anders vernetzt ist als ein bauchseitiges Strickleiternervensystem.

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Eine Homologie bezeichnet hingegen Übereinstimmung aufgrund gemeinsamer Abstammung. Darum verfügen Hände von Schimpansen und Menschen jeweils über fünf Finger, Plattnägel und Hautleisten. Mit Schimpansen teilten wir vor fünf Millionen Jahren noch eine Ahnenform. Auch die Hufe von Pferden und unsere Füße sind homolog. Nur entsprechen sie einander weniger, weil der letzte gemeinsame Vorfahre von Huftieren und Menschen vor weitaus längerer Zeit lebte. Diese Sichtweise widerspricht der klassischen Auffassung von Descartes. Der hatte – wir erinnern uns – argumentiert, er könne sich wohl eine halbe Extremität vorstellen, doch keine halbe Seele. Deshalb sprach er Tieren nicht etwa ein »bisschen Seele« zu, sondern logischerweise gar keine. Das Seelenkonzept ist somit eines von Alles-oder-Nichts – und daher mit dem Evolutionsgedanken unvereinbar. Bei Phänomenen wie Bewusstsein und Gefühlen können wir uns hingegen – unter Berufung auf das Homologie-Prinzip – ein Mehr-oder-Weniger nicht nur vorstellen. Vielmehr ist die Annahme notwendig, weil die Alternative absurd wäre – nämlich, dass Gefühle erst auf dem kurzen Abschnitt menschlicher Eigenentwicklung entstanden. Wie bei der Anatomie sind auch beim Denk- und Fühlvermögen fließende Übergänge anzunehmen. Je kürzer es her ist, dass wir mit einer anderen Lebensform einen letzten gemeinsamen Vorfahren teilten, desto geringer dürften die Unterschiede und desto größer die Gemeinsamkeiten sein. Die Frage sollte deshalb nicht lauten: Haben Tiere Gefühle? Sondern: Welches Tier ist gemeint – eine Ameise, ein Tintenfisch, ein Huhn oder ein Gorilla? Thomas Nagel überschrieb einen berühmten Essay mit »Was ist es, eine Fledermaus zu sein?« (Nagel 1974). Der serbisch-amerikanische Philosoph meint, wir würden nie wissen, wie die Artisten der Lüfte ihre »Meinigkeit« empfinden. Seit zu vielen Jahrmillionen sind unsere Abstammungslinien bereits getrennt verlaufen. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass wir das wie auch immer geartete Glücksempfinden eines trichterohrartigen Fledertiers teilen können. Noch viel unwahrscheinlicher ist, dass die Scham einer Kakerlake sich im Nervensystem dieser Wirbellosen so anfühlt wie Scham in unserem Kopf; wenn es überhaupt Sinn ergeben sollte, als Kakerlake Scham zu empfinden. Doch was weiß ich schon darüber? Hingegen: die Trauer des Schweins? Diese Paarhufer stehen uns stammesgeschichtlich bereits ziemlich nahe, leben terrestrisch – also auf der Erde – und in Sozialverbänden wie wir. Wir können mit schweinischen Herzklappen weiterleben. So spricht wenig gegen die Vermutung, dass die Meinigkeit des Schweins sich ähnlich anfühlt wie meine eigene. (Und so betrachtet mag auch Nagel durchaus Unrecht haben. Denn viele Fledermäuse sind ebenfalls hoch so-

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ziale Säugetiere – nur, dass sie eben fliegen. Deshalb könnten zwischen uns und Fledertieren durchaus zahlreiche mentale Überlappungen existieren.)

L ATENZ

DER SCALA NATURAE

Homologien liefern übrigens Argumente gegen das eingangs eingeführte Prinzip von Lloyd Morgan, wonach man Verhalten nicht auf »höhere« psychische Fähigkeiten zurückführen soll, wenn es als Resultat einer »niederen« gedeutet werden kann. Morgan will zwar dem gewiss guten Grundsatz folgen, nach der sparsamsten Erklärung zu suchen, und das Prinzip der Parsimonie gilt zu recht als »elegant«. Doch der Psychologiepionier schüttet dabei das Kind mit dem Bade aus (Hurley/Nudds 2006). Zum einen scheint es nur so, als wären nichtmentalistische Erklärungen einfacher als solche, die Denkvorgänge wie Einsicht oder Gefühle wie Angst und Zuneigung als Triebkräfte von Verhalten annehmen. Wenn ein Mensch ohne Betäubung aufgeschnitten wird, schreit und windet er sich – genauso wie ein Hund unter dem Seziermesser. Dass die Ähnlichkeit auf grundsätzlich andere innere Mechanismen zurückgeht, ist eine viel kompliziertere Behauptung als die schlichte Annahme, der Hund habe »Schmerzen« und »wolle« wegrennen. Zum anderen ist eine Einteilung in »höher« und »niedriger« antiquiert, impliziert sie doch, manche Körperformen oder Verhaltensweisen seien »höher« evolviert. Was als »höher« und »niedriger« gilt, ist aber eine Frage der Definition – und der müssen sich Apologeten der Sonderstellungsphilosophie regelmäßig stellen. Ein gern genanntes »einzigartiges« Charakteristikum heutiger Menschen ist beispielsweise die Dimension des Gehirns (vgl. Boyd/Silk 2008; Dunbar 2014) – durchschnittlich 1350 ccm. Ist aber unser Gehirn wirklich »groß«? Unter nichtmenschlichen Primaten erreichen Gorillas einen Spitzenwert von 490 ccm, mithin lediglich ein Drittel des Menschenwertes. Fast anderthalb Liter Gehirn sind gleichwohl keine conditio sine qua non für »typisch menschliche« Kognitionsleistungen. Denn auch mit einem nur schimpansengroßen Gehirn von 380 ccm ist es u.a. möglich, komplexe Werkzeuge und Wasserfahrzeuge herzustellen, Feuer zu gebrauchen und Elefanten zu jagen. Das jedenfalls leisteten kleinwüchsige Menschen der Art Homo floresiensis, die noch vor 12000 Jahren auf der indonesischen Insel Flores lebten. Zudem übertreffen uns, absolut gesehen, Gehirne von Elefanten oder Walen um ein Vielfaches. Dass jedoch größere Tiere mehr Hirn im Schädel haben, sagt nicht unbedingt viel über ihre Intelligenz aus.

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Eine geeignetere Messung könnte das Verhältnis von Hirn- zu Körpergewicht sein. Maße dieser Enzephalisation reihen sich nicht einfach linear auf, sondern der Wert von 4,5 für Menschen liegt deutlich über jenem, der für ein Säugetier unserer Größe zu erwarten wäre. Unsere nächsten Verwandten – Schimpansen (1,5), Gorillas (1,1), Orang-Utans (1,4) – stehen uns diesbezüglich weniger nahe als Spinnen- und Totenkopfaffen (2,6), obwohl diese südamerikanischen Primaten nicht durch sonderliche kognitive Leistungen auffallen. Somit könnte ihr hoher Wert eher einen Auslesedruck auf kleine Körpergröße reflektieren. Aufgrund oft disparater Selektionsdrucke und Phylogenien sind Vergleiche über Tiergruppen hinweg grundsätzlich schwierig. So besitzen etwa nur Säugetiere eine Hirnrinde, die gewöhnlich als der »denkende« Teil des Gehirns angesehen wird. Gehirne von Vögeln wiederum mögen absolut und relativ gesehen klein sein, weil sie durch die Lüfte befördert werden müssen. Umgekehrt können sich aquatische Säugetiere wie Wale nicht zuletzt deshalb große Gehirne leisten, weil ihnen zusätzliches Gewicht kein Kopfzerbrechen bereitet. In ein ähnliches Dilemma führen Versuche, beim Erbgut eine »Höherentwicklung« zu postulieren. So wurden kurz nach der Jahrtausendwende die Genome verschiedener Primaten komplett sequenziert. Demnach stimmen Menschen mit Rhesusaffen in 94 % ihrer DNS-Basenpaare überein und mit Schimpansen in 98 %. Bei einem Vergleich von etwa 14.000 Genen der drei Arten konnte die Anzahl jener Gene festgestellt werden, die im Unterschied zu Rhesusaffen bei Mensch und Schimpanse veränderte Proteine kodieren. Dies waren 154 Menschengene, jedoch 233 Schimpansengene. Demnach haben sich Schimpansen quantitativ weiter entfernt vom letzten gemeinsamen Vorfahren, den sie mit Menschen teilten. In New Scientist war hierzu zu lesen: »Tatsache ist, dass Schimpansen die höher entwickelte Art sind« (»The fact is, chimpanzees are the more highly evolved species.«) (Holmes 2007). Dies ist eine bemerkenswerte Umkehrung jenes Argumentes, dass Sonderstellungsapologeten sicherlich vorgetragen hätten, wenn die Studie größere Veränderungen bei Menschen statt bei Schimpansen gefunden hätte. Doch es ist selbstverständlich lediglich eine Frage der Definition, was »höher« bedeutet. Denn es lässt sich ja genauso argumentieren, dass Menschen, weil sie weniger Veränderungen benötigt haben, ein »besseres« (»schlankeres«, »sparsameres«, »eleganteres« etc.) Erbgut besitzen. Die vergleichende Methode wird stets problematisch, wenn sie Stammformen als »Vorstufen« oder »niedere« Kreaturen begreift und versucht, eine Entwicklung von »einfachen« hin zu »komplexen« Merkmalen nachzuzeichnen. Vielmehr sind alle existierenden Arten an ihre jeweiligen Umwelten angepasst und repräsentieren lediglich unterschiedliche Lösungen hinsichtlich der Proble-

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me des Überlebens und der Fortpflanzung. Es ergibt da wenig Sinn, eine Wertigkeit vorzunehmen. Deshalb lässt sich Evolution nicht mit Fortschritt gleichsetzen. Zumindest unterschwellig spiegelt sich im vergleichenden Ansatz oft das antike Konzept einer scala naturae wider, einer Leiter der Natur, auf der verschiedene Tierarten sukzessive höhere Sprossen einnehmen – und Menschen die höchste. Auch Darwins Werke sind nicht frei von Stufendenken, war er doch Kind seiner Zeit: der Viktorianischen Ära mit ihrer Hierarchie von primitiven und zivilisierten Völkern und ungezügeltem Glauben an technische Verbesserung im Zuge der industriellen Revolution. Interessanterweise führen selbst Worte wie »Evolution« und »Entwicklung« bereits auf Glatteis, weil sie Fortschritt suggerieren. Vorsichtiger und neutraler reden Biologen deshalb von »Artenwandel« oder »adaptiver Radiation«. Doch sollte man deshalb besser sagen, alle Tierarten seien auf ihre jeweilige Weise gleich intelligent? Damit würde ein einheitliches Konzept von »Intelligenz« sicherlich bedeutungslos. Alternativ könnte ein offensiv anthropozentrischer Ansatz vertreten werden, der danach fragt, inwieweit die Kognition (oder Körperbau, genetische Ausstattung, Sozialsystem etc.) anderer Lebewesen ähnlich oder verschieden von unserer ist – ohne deswegen eine Hierarchie zu implizieren (Wynne 2004).

D UALISMUS

VERSUS

M ONISMUS

Der Leib-Seele-Dualismus des Descartes und die damit verbundene dogmatische Tier-Mensch-Unterscheidung wird zwar von der zeitgenössischen Philosophie praktisch nicht mehr vertreten. Sie spielt aber weiterhin eine prominente Rolle in populären Vorstellungen. Katholische Christen beispielsweise glauben an die Existenz einer immateriellen und unsterblichen Seele. Manche Tierforscher sympathisieren mit solchen Vorstellungen, wollen aber den Grenzstein zwischen »beseelter Menschheit« und »unbeseelter Natur« verschieben und schreiben deshalb Tieren gleichfalls eine Seele zu. Als prominente Primatenforscherin bekennt sich beispielsweise Jane Goodall zu solchem Glauben, einschließlich eines Lebens nach dem Tode – und zu ihrer Überzeugung, dass Unsterblichkeit auch auf Schimpansen wartet (Goodall 2009). Wem Dualismus von Mensch und Tier suspekt ist, kann aber auch radikaler vorgehen und die Unterscheidung von Geist und Materie grundsätzlich anzweifeln. Das Resultat wäre ein Monismus – eine Weltanschauung, die nichtmaterielle Dimensionen aufgibt und psychisch-»geistige« Vorgänge komplett auf physikalisch-chemische Prozesse im Gehirn zurückführt. Für solche »Physikalisten«

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ist es dann nur eine Frage der Zeit, bis wir die Ketten von Ursache und Wirkung entschlüsselt haben, die diese Maschine am Laufen hält, wie komplex auch immer sie sein mag. (Eine Variante dieses Denkens entwickelte der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza [1632-1677]; sein neutraler Monismus vertritt die Ansicht, dass Dinge ebenso wie mentale Vorgänge beides Modi ein und derselben »göttlichen« Substanz seien.) Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der naturalistische Monismus eine Konsequenz des Descartes‫ތ‬schen Programms einer Mechanisierung der Natur ist, das genau jene Sphäre einholt, die explizit ausgenommen war: das Geistig-Seelische. Denn Disziplinen wie Paläontologie, Medizin, Genetik oder Neurobiologie zerlegten ja nicht nur andere Tiere, sondern zugleich uns Menschen Stück um Stück in Einzelteile. Kann aber alles auf Materie zurückgeführt werden, sind wir mit einem Mal auch im Innersten wiedervereint mit anderen Tieren – mithin »aufs Innigste«. Ob man diesen Monismus vertreten will oder nicht – auf jeden Fall beseitigt er ein Paradoxon des klassisch-dualistischen Denkens: Wie konnte eine ihrerseits unbeseelte Urmutter irgendwann ein beseeltes Kind zur Welt bringen? Monisten müssen sich nicht an solchen Paradoxa abarbeiten und können sich stattdessen an säkularen Wundern freuen – den Wundern der Natur und dem so genährten Empfinden, anderen Lebewesen nahe zu stehen. Die konkurrierende Fraktion der Dualisten ist allerdings durchaus nicht geschlagen. Gerade Überlegungen zu Gefühl und Bewusstsein bestätigen sie in ihrer Metaphysik, wonach es prinzipiell unmöglich sei, subjektive Phänomene auf das Feuern von Neuronen zu reduzieren. Denn wie können aus Atomen und Molekülen private Wahrnehmungen erwachsen? Als moderne Jünger von Descartes vermuten Neodualisten deshalb einen »Geist in der Maschine« – und der wird stets durch das Netz der Wissenschaft schlüpfen, weil er nicht unseren bekannten Naturgesetzen unterliegt.

D AS

KULTIVIERTE

T IER

Zu den zäheren Versuchen, das Einzigartige der conditio humana zu belegen, zählt die Berufung auf unsere Kulturfähigkeit – wobei ähnlich wie bei »Intelligenz« keineswegs Einigung besteht, was »Kultur« bedeutet. Dieser Graben erodiert aber auf jeden Fall, wenn wir Kultur undogmatisch als »sozial weitergegebenes Verhalten« verstehen (vgl. zum Folgenden Fragaszy/Perry 2003; McGrew 2004; Quellenbelege in Sommer/Parish 2010) – obwohl gewiss nicht alle Kulturphilosophen diese vereinfachende Perspektive teilen.

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Menschen betreffend reden wir gerne von »kultureller Vielfalt«, weil wir je nach Wohnort anderen Sitten folgen – und die sind in der Regel nicht angeboren, sondern im sozialen Kontext erlernt. Auch Gebräuche nichtmenschlicher Tiere können je nach Lebensraum variieren. Obwohl also zur selben Art zählend, weichen ihre Populationen hinsichtlich sozialer Gepflogenheiten, Subsistenztechniken oder Nahrungsgewohnheiten voneinander ab. Drückerfische beispielsweise blasen Seegurken durch einen Wasserstrahl um, um deren ungeschützte Seite auszufressen. Im Roten Meer allerdings – und nirgendwo sonst – transportieren die Fische ihre Beute im Maul vorsichtig nach oben und lassen dann los. Während die Stachelhäuter langsam nach unten trudeln, attackieren die Fische deren unbewaffnete Körperstellen. Seeotter beuten ihre Nahrung gleichfalls unterschiedlich aus. Entlang der kalifornischen Küste paddeln diese von menschlichen Betrachtern als ausgesprochen »putzig« empfundenen Marder rückwärtig auf dem Wasser, balancieren dabei eine Muschel auf dem Bauch, um sie dann mit einem in den Vorderpfoten gehaltenen Stein zu zerschlagen. Otter weiter nördlich zeigen diese Technik nicht. Nichtmenschliche Primaten weisen die größte Varianz an ortsspezifischen Traditionen auf – auch wenn das vielleicht lediglich widerspiegelt, dass sie genauer als andere Tiergruppen beobachtet wurden. Als »kulturfähig« können beispielsweise Kapuzineraffen in Costa Rica gelten. Bei diesen Neuweltprimaten kommen periodisch bizarre Spiele in Mode. Ausgewählten Partnern lutschen die Affen an den Zehen, schieben ihnen Finger in die Nase oder gar unter die Augäpfel. Das dürfte kaum angenehm sein und erfordert einiges Vertrauen. Genau das ist wohl die Funktion der Intimitäten: Wer sie teilt, signalisiert Bereitschaft zu Allianz in anderen, meist aggressiven Situationen. Außergewöhnlich geht es ebenfalls unter Japanmakaken zu. Dort klopfen die Affen mancherorts Kiesel klackernd aneinander – eine nutzlose Tätigkeit, die vielleicht ein Gefühl lokaler Zusammengehörigkeit kreiert. Auf Sumatra wiederum wurden Lokaltraditionen von Orang-Utans entdeckt. Dazu zählen ein kurioses Lippenplustern zur Begrüßung sowie das Abschirmen des Körpers mit Vegetation, wenn es regnet. Aus den stacheligen Riesenfrüchten des Neesia-Baumes extrahieren die rothaarigen Menschenaffen überdies fetthaltige Samen mittels im Mund gehaltener Stöckchen. Neesias und Orang-Utans gibt es beiderseits des Alas-Flusses. Am einen Ufer, im Singkil-Sumpf, ist der Boden mit benutzten Werkzeugen übersät, während Orang-Utans des gegenüberliegenden Batu-Batu Sumpfes keine Geräte benutzen. Die nützliche Erfindung muss mithin auf der Singkil-Seite gemacht worden sein. Doch verhinderte die Flussbarriere, dass sich die Technik auch in Batu-Batu etablierte.

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Schimpansen sind besonders vielfältig hinsichtlich ihrer lokalspezifischen Gepflogenheiten – was diesbezüglicher Forschung an der Gattung Pan den treffenden Spitznamen Panthropologie eintrug. Die bestuntersuchten Bevölkerungen von Schimpansen leben in Bossou in Guinea, Taï in der Elfenbeinküste, Mahale und Gombe in Tansania sowie Kibale und Budongo in Uganda. Eine sorgfältige Synopse ihres Verhaltens ergab, dass sie sich in vielen Hinsichten bezüglich Körperpflege, Werkzeuggebrauch oder sozialem Miteinander unterscheiden. Nur manche Verhaltensweisen machen Schule, während die meisten Neuerungen wohl Eintagsfliegen bleiben. Keine Nachahmer fand beispielsweise jene wilde Schimpansin, die einen Streifen aus dem Fell eines erbeuteten Stummelaffen verknotete und in offensichtlicher Selbstdekoration um den Hals hängte. So verfügt jede Gemeinschaft über einen unverwechselbaren Cluster an Gewohnheiten. Ähnlich wie bei Menschen von einem »japanischen« oder »französischen« Kulturkreis gesprochen wird, ordnen Primatologen Schimpansen anhand ihres spezifischen Straußes an Verhaltensmustern etwa der ostafrikanischen »Gombe-Kultur« oder der westafrikanischen »Taï-Kultur« zu – in bewusster Analogie zum kulturphilosophischen Vokabular. Manche Gebräuche scheinen keinen anderen Zweck zu haben, als Zugehörigkeit zur Gruppe zu signalisieren – gemäß dem Motto: »Bei uns tut man das so« (oder: »Bei uns tut man das nicht«). Ähnlich den bizarren Ritualen des Augeneindrückens und Kieselklackerns bei anderen Primaten scheint auch bei Schimpansen soziale Identität speziell über »irrationale« Traditionen zu entstehen. So planschen die Schimpansen des Senegal in flachen Teichen, während beispielsweise ostafrikanische Gruppen das Nasse meiden wie der Teufel das Weihwasser. Zu den kollektiven Veranstaltungen zählt zudem der »Regentanz«, an dem sich vornehmlich männliche Schimpansen unter einem sich verdunkelnden und blitzdurchzuckten Himmel beteiligen. Sie reißen Vegetationsteile ab und rollen Felsbrocken durch die Gegend, während sie vokalisieren und herumspringen. Unter den Akteuren dürfte sich bei diesen Gelegenheiten eine emotionale Synchronisation und entsprechend ein Gefühl des Zusammenhaltes einstellen. Ganz ähnlich verzichten Schimpansen mancherorts auf bestimmte Nahrung – in offenbarer Parallele zu »Tabus« bei Menschen. Schimpansen in Nigeria beispielsweise essen jeden Tag Ameisen, während sie nie eine Termite anrühren – obwohl die Insekten vorkommen und andernorts als Leckerbissen gelten. In Tansania wiederum werden in einer Gruppe Ameisen verzehrt, nicht aber bei der benachbarten Kommunität. Ein solcher Verzicht erfordert Unterordnung unter eine der Gruppe gemeinsamen Regel und fördert damit ebenfalls die Harmonisierung der Mitglieder – inklusive des Gefühls eines kollektiven »Wir«.

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Wären Schimpansen Menschen, würden sie aufgrund des Wasser- oder Termiten-»Tabus« wohl als Anhänger einer magisch-religiösen Weltanschauung gelten. Die Psychologie der Menschenaffen dürfte jedenfalls jener ähnlich sein, über die sich Ethnien definieren: »Du willst ein Nigeria-Schimpanse sein? Dann iss Ameisen, so viel du willst. Aber komm‫ ތ‬bloß nicht auf die Idee, je eine Termite anzurühren. Oder die Wassergeister zu stören. Bei uns macht man so etwas nicht …« Mit derlei irrationalen Regeln würden Schimpansen wiederum eine Definition erfüllen, die eigentlich die Einzigartigkeit von Menschen belegen soll – nämlich die Auffassung von Kultur als Bestückung der Umwelt mit arbiträrer Form (»the imposition of arbitrary form upon the environment«) (Holloway 1969). Welche Funktion die symbolische Einteilung in »Wir« und »Andere« in letzter Konsequenz hat, machen erneut Beobachtungen an Schimpansen deutlich. In ihren Kommunitäten finden regelmäßig hochaggressive Auseinandersetzungen mit Nachbarn statt. Die jeweiligen Männchen – oftmals nahe Verwandte – kooperieren bei regelmäßigen Patrouillen an den Rändern ihres Territoriums. Treffen sie dabei auf Grüppchen männlicher Nachbarn, die zahlenmäßig unterlegen sind, versuchen sie oft, diese zu töten. Die Opfer werden dabei von mehreren Angreifern an den Extremitäten zu Boden gedrückt, während andere ihnen schwere Bisswunden beibringen bis hin zur Kastration. In der Regel sterben die Angegriffenen. Die Auseinandersetzungen können sich über Jahre hinziehen und zur Ausrottung von Nachbargruppen führen – wobei reproduktionsfähige Weibchen in die eigene Kommunität überführt werden. Lethal raiding kommt in allen genauer untersuchten wilden Bevölkerungen von Schimpansen vor. Damit steht zu vermuten, dass derlei Gruppenkonflikte bereits in Bevölkerungen der gemeinsamen Vorfahren von Schimpansen und Menschen an der Tagesordnung waren – und somit wohl auch bei unseren unmittelbaren Ahnen. Über die weitaus längste Zeit dürften dabei eigenständige Jäger-Sammler-Gruppen um ökologische Vorteile gestritten haben, während es erst in den letzten etwa 15.000 Jahren zu Konflikten zwischen sesshaften Siedlergruppen kam. Sicherlich ging Aggression zwischen Gruppen mit einem starken Auslesedruck einher. Dementsprechend wichtig war die Ausbildung entsprechender mentaler Konzepte wie »Wir« und »Andere« (Wrangham/Wilson/Muller 2006). Aus dieser Dichotomie nähren sich vermutlich auch die eingangs erörterten Dualismen, bei denen ein Part höher bewertet wird als der andere – bis hin zum Gegensatz von »Mensch und Tier« (Sommer 2011).

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C ONTRA S PEZIESISMUS Die Aufnahme nichtmenschlicher Tiere in den Kulturclub spiegelt sicherlich nicht zuletzt die politischen Verhältnisse nach dem Fall des eisernen Vorhanges wider, als es auch kleineren ethnischen Gruppen plötzlich erlaubt war, ihre kulturelle Identität zur Schau zu stellen (Antweiler 2009). Vielfalt galt mit einem Male als Bereicherung – und wurde nicht nur hinsichtlich Menschengruppen gesucht und gefunden, sondern auch bei der Beobachtung nichtmenschlicher Tiere. Neben der intraspezifischen, also innerartlichen Variation von Populationen wurde zudem auch die Verschiedenheit ihrer einzelnen Mitglieder akzeptabler. Eine stärkere Wahrnehmung der »Persönlichkeit« bahnte sich interessanterweise ab etwa 1990 ebenfalls hinsichtlich nichtmenschlicher Tiere an. So wurde herausgearbeitet, dass Tiere derselben Art charakterliche Dispositionen haben – etwa von eher aus sich herausgehend bis zurückhaltend, von neugierig bis abwartend. Das trifft auf Vögel ebenso zu wie auf Eidechsen (Bergmüller/Taborsky 2010). Insofern ergibt es auch kaum noch Sinn, von »dem Schimpansen« im Unterschied zu »dem Menschen« zu reden, da es bei beiden Spezies von Menschenaffen dumme, kluge, aggressive, heitere oder feige Exemplare gibt. Diese Erkenntnis bereitete wiederum den Boden für die Idee, dass auch nichtmenschliche Tiere »Personen« sein können. Damit sind die neueren Erkenntnisse über unsere Tierverwandten, obwohl nicht unumstritten, nicht nur wissenschaftlich bedeutsam. Sie beanspruchen zudem, Konsequenzen für »große Fragen« in ethischer und existentieller Hinsicht zu haben und damit die Grenze zu Orientierungsdisziplinen zu überschreiten. Eine entsprechende Debatte hat unter den Stichworten »Naturalismus« und »evolutionärer Humanismus« in den letzten Jahren merklich an Fahrt gewonnen (Schmidt-Salomon 2006). So wird es ohne Zweifel immer schwieriger, keine ethischen Konsequenzen hinsichtlich unseres Verhältnisses zu anderen Tieren ziehen zu wollen. Nur ganz allgemein sei hier verwiesen auf Fragen der Vertretbarkeit industrieller Massentierhaltung und Massentötung, schädigender biomedizinischer Experimente oder der Zurschaustellung von Tieren in Zoos und Zirkussen (Schmitz 2014). Zu besonderer Prominenz ist hier in den letzten Jahren das »Great Ape Project« gelangt (http://www.greatape-project.de). Es geht auf eine Initiative von Peter Singer und Paola Cavalieri im Jahre 1993 zurück (The Great Ape Project. Equality Beyond Humanity, Cavalieri/Singer 1993). Die beiden Philosophen fordern für Orang-Utans, Gorillas, Bonobos und Schimpansen einige basale Privilegien ein, die bisher nur für Menschen gelten: Recht auf Leben, Recht auf Freiheit und ein Verbot der Folter. Es würde somit als strafbares Unrecht gelten,

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Menschenaffen in medizinischen Experimenten zu schädigen, sie in Gefangenschaft unter unwürdigen Bedingungen zu halten, zu Tode zu richten oder ihren Lebensraum zu zerstören. Augenmaß ist dabei durchaus gewahrt, denn niemand verlangt ein Recht auf Bildung für Bonobos, Wahlrecht für Gorillas, Datenschutz für Schimpansen oder ein Mindestalter für Sex unter Orang-Utans. Weil die Leidensfähigkeit von Menschenaffen der unseren entsprechen dürfte, weil sie sich in andere Wesen hineinversetzen und in die Zukunft denken können, sollen sie überdies als »Personen« gelten. Praktische Einschränkungen sprechen nicht gegen den Grundsatz. Denn obwohl ihnen körperliche Unversehrtheit zusteht, dürfen beispielsweise viele Menschen – Kinder, Komakranke – nicht wählen, und ihnen wird auch keine Verantwortung abverlangt. Wie für solche »unmündigen« Menschen könnten die grundsätzlichen rechtlichen Belange von Menschenaffen durch einen Vormund vertreten werden. Unterstützt von renommierten Primatologen macht sich die Initiative somit dafür stark, die community of equals – die »Gemeinschaft der Gleichen« – in gewisser Hinsicht zu erweitern. Die Forderung nach elementarer Gleichstellung der Menschenaffen ist im Grunde eine zeitgenössische Fortsetzung vormaliger Erörterungen – etwa der, ob Frauen das Wahlrecht besitzen sollen, ob dunkelhäutige Afrikaner oder australische Aborigines Menschen sind oder ob Homosexuelle heiraten dürfen. Vielerorts wurde die Gemeinschaft der Gleichen nach oft leidenschaftlichen Diskussionen und Auseinandersetzungen entsprechend erweitert. Manche Philosophen und Primatologen halten deshalb den historischen Moment für gekommen, erneut inklusiver zu werden. Aufzuheben wäre nunmehr die Schranke des »Speziesismus«, der die Ungleichbehandlung von Lebewesen allein aufgrund ihrer Artzugehörigkeit rechtfertigt (Cavalieri et al. 2011). Übrigens berufen sich die Initiatoren des »Great Ape Project« bei ihren Argumenten hinsichtlich der Tierrechte nicht hauptsächlich auf Fakten wie die, dass Menschenaffen wie Menschen Persönlichkeit haben, in die Zukunft denken können oder über mentale Fähigkeiten verfügen, die ihnen erlauben, über Computerkeyboards miteinander zu kommunizieren. Die Gemeinschaft der Gleichen wird nicht eingefordert, weil unsere mentalen Fähigkeiten ähnlich wären. Das »Great Ape Project« steht vielmehr der Weltanschauung von Jeremy Bentham nahe. Der englische Philosoph an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert formulierte hinsichtlich der Tierrechtsfrage ganz dezidiert, dass es nicht darauf ankomme, ob ein Lebewesen denken könne; vielmehr komme es darauf an, ob es leidensfähig sei (Benz-Schwarzburg 2012). Genau deshalb ist die Grenzziehung zwischen Menschen und Menschenaffen auf der einen und dem Rest der Tierwelt auf der anderen Seite künstlich. Das »Great Ape Project« versteht sich aber als Türöffner für weitergehende Forde-

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rungen der Tierrechtsbewegung – etwa als Unterstützung für jene, die Katzen und Hunde aus Versuchslabors verbannt sehen wollen oder sich gegen industrielle Nutztierhaltung wenden. Die Grenzziehung zwischen Menschen und Menschenaffen einerseits und anderen Tieren andererseits ist somit rein pragmatisch – nicht zuletzt, weil momentan zwar die Zuschreibung von Rechten für Menschenaffen politisch durchsetzbar sein könnte, die Zuschreibung von Rechten für andere Tiere hingegen nicht. Selbstverständlich will das Projekt somit niemandem verwehren, die willkürliche Grenze zwischen Menschen und Menschenaffen im Unterschied zu anderen Tieren zu hinterfragen. Interessanterweise formiert sich eine entsprechende Lobby gerade für Wale und Delphine. Aber ist ein solches Engagement nicht wiederum Wasser auf die Mühlen der Sonderstellungsphilosophen? Denn wann hätten je nichtmenschliche Tiere Mitgefühl gezeigt? In einer der Anekdoten von Mark Bekoff ist das der Fall. Er sah beim Fahrradfahren am Straßenrand einen Vogel liegen, der gegen ein Auto geflogen war: »Vier andere Elstern standen um die tote herum. Eine pickte vorsichtig an dem Leichnam – ganz wie Elefanten tote Artgenossen mit ihrem Rüssel betasten. Eine zweite tat dasselbe. Ein Vogel flog fort, brachte etwas Gras und legte es neben dem Toten ab. Eine zweite tat dasselbe. Alle vier standen einige Sekunden lang Spalier, bevor sie fortflogen« (Bekoff 2007). Das »Great Ape Project« geht allerdings über diese Art von Mitgefühl hinaus. Denn hier engagieren sich menschliche Tiere für nichtmenschliche. Doch können sich auch nichtmenschliche Tiere für Artfremde einsetzen? Im Grimm‫ތ‬schen Märchen von den Bremer Stadtmusikanten ist das jedenfalls so. Denn der Esel interessiert sich für das Schicksal von Nichteseln. Er fragt den leidgeplagten Hofhund »Nun, was jappst du so, Packan?«, ermuntert die traurige Katze mit »Nun, was ist dir in die Quere gekommen, alter Bartputzer?« und rät dem für den Kochtopf vorgesehenen Hahn zur Flucht: »Ei was, du Rothkopf, zieh‫ ތ‬lieber mit uns fort, etwas Besseres als den Tod findest du überall.« Dies mag märchenhaft sein – oder auch nicht. Denn speziesübergreifende Hilfe ist belegt. Da sind beispielsweise Berichte über Delphine, die in Not geratene Schwimmer retten. Und zwei Videoclips existieren über Menschenkinder, die über die Brüstung von Zoogehegen gefallen sind und bewusstlos auf dem Betonboden liegen – umgeben von Gorillas. In einem Falle untersucht ein mächtiger Silberrücken den Jungen behutsam und stellt sich schützend vor das Kind, als sich Gruppenmitglieder nähern – bis Helfer sich in das Gehege hinunterhangeln (http://www.youtube.com/watch?v=N05CItceEdg). Im zweiten Fall trägt eine Gorillafrau den dreijährigen Jungen ganz behutsam auf den Armen zum Hinterausgang, wo ihn Wärter in Empfang nehmen können (http://www.you

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tube.com/watch?v=1TqEU3VtUeM). Auch nichtmenschliche Tiere sind also durchaus nicht immer Speziesisten.

AUSBLICK : T IER -M ENSCH -S TUDIEN UND

DIE

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Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Zoologie werden in den Human-Animal Studies (HAS) vielfach wahrgenommen – beispielsweise, wenn Untersuchungen literarischer oder symbolischer Fiktionen über sprechende oder denkende Tiere auf ihren faktischen Gehalt abgeklopft werden (Beispiele in DeMello 2010). Umgekehrt allerdings existieren lediglich zaghafte Versuche, HAS-Ansätze in die zoologische Forschung selbst einzubauen. Dies geschieht etwa dann, wenn in naturwissenschaftlichen Vorträgen oder Veröffentlichungen über kognitive oder physiologische Leistungen nichtmenschlicher Tiere ein Beispiel aus Kunst oder Literatur eingebaut wird – wie gerade illustriert durch Bezug auf ein Grimm‫ތ‬sches Märchen. Insofern ist die naturwissenschaftliche Zoologie ein Steinbruch für das geisteswissenschaftliche »Lager« der HAS. Die Zoologie könnte allerdings durchaus von den HAS-Perspektiven profitieren, nämlich im Sinne einer Selbstreflexion hinsichtlich Methodologie und Narrativ. Denn obwohl Naturwissenschaftler gerne glauben, dass die »Daten für sich selbst sprechen«, tun sie das durchaus nicht. Es bedarf immer einer Hermeneutik, weil Messpunkte zunächst einmal sinnfreie Zeichen sind, die diskursiv ausgelegt und mit Bedeutung versehen werden (vgl. Walach 2009). Diese Bedeutung ist stets Deutung im Rahmen eines bestimmten soziokulturellen Überbaus und liefert deshalb keine objektive Repräsentation der Realität. Letzteres ist sicherlich nie zu erreichen. Gleichwohl können HAS-Studien für die Erkenntnis sensibilisieren, dass unser Verhältnis zu nichtmenschlichen Tieren sich stetig wandelt – inklusive der naturwissenschaftlichen Deutungsmuster. Die in diesem Essay behandelte Dynamik des Tier-Mensch-Dualismus dürfte dies eindrücklich illustrieren.

L ITERATUR Benz-Schwarzburg, Judith (2012): Verwandte im Geiste – Fremde im Recht. Sozio-kognitive Fähigkeiten bei Tieren und ihre Relevanz für Tierethik und Tierschutz (= Tierrechte – Menschenpflichten, Bd. 16), Erlangen: Harald Fischer Verlag.

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Informationen zu den Autor_innen

Boucabeille, Alejandro, Dissertant am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, ist Gründungsmitglied von »LIFE – Universitäre Interessengemeinschaft für Tierrechte« in Innsbruck und deren Obfrau-Stellvertreter. Zudem arbeitet er beim HAS-Forschungsteam der Universität Innsbruck mit. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Human-Animal Studies wie auch Migrationsund Postcolonial Studies. Buchner-Fuhs, Jutta, ist Privatdozentin Dr. phil. habil., Sozialpädagogin (Dipl.), Kulturwissenschaftlerin, vertritt die Professur »Sozialwissenschaftliche und pädagogische Grundlagen Sozialer Arbeit« am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda. Sie hat schon in den 1980er-Jahren ihre Diplomarbeit zu Kindern und Tieren geschrieben, später in Wiesbaden historische Tierforschung im Rahmen eines von der Stiftung Volkswagenwerk geförderten Forschungsprojekts zur Kindheit in der Kaiserzeit betrieben und zu Beginn der 1990er-Jahre ihre Dissertation Kultur mit Tieren abgeschlossen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Mensch-Tier-Beziehungen und -Verhältnisse im 19. Jahrhundert, Tiere und Pädagogik, Kindheit und Kinderleben in historischer und aktueller Perspektive, Technikkulturforschung, Gender, Fotointerview. Das Thema ihres aktuellen Lehrforschungsprojekts lautet: Generationales soziales Engagement in kommunalen Lebenswelten und Bildungslandschaften (FB Sozialwesen, HS Fulda). Soeben ist ihr Aufsatz »Tiere im Bilderbuch: Mediale Sozialisierung und das Mensch-Tier-Verhältnis« erschienen (in: Das Mensch-Tier-Verhältnis. Eine sozialwissenschaftliche Einführung, hg. v. R. Brucker u.a. Wiesbaden 2015). Heuberger, Reinhard, ist Assistenzprofessor am Institut für Anglistik der Universität Innsbruck. Seine wichtigsten Forschungsbereiche sind Lexikographie, Dialektologie sowie Ökolinguistik/Human-Animal Studies. Dr. Heuberger ist außerdem Kodirektor im FWF-Projekt »EDD Online«, welches sich mit der Di-

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gitalisierung und Auswertung von Joseph Wrights English Dialect Dictionary befasst. Kompatscher, Gabriela, ist außerordentliche Professorin für Lateinische Philologie an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Ihre Forschung konzentriert sich auf lateinische Texte des Mittelalters (Edition der Exempelsammlung Gesta Romanorum und der Mirakelsammlung des Zisterziensers Herbert von Clairvaux), wobei der Themenkomplex »Mensch und Tier im Mittelalter« einen besonderen Schwerpunkt bildet (Tiere als Freunde im Mittelalter, 2010, zusammen mit A. Classen und P. Dinzelbacher, Partner, Freunde und Gefährten. Mensch-Tier-Beziehungen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit in lateinischen Texten, 2014, zusammen mit F. Römer und S. Schreiner). Sie ist Mitbegründerin von »LIFE – Universitäre Interessengemeinschaft für Tierrechte« sowie des Innsbrucker HAS-Teams und als solche im Bereich der HumanAnimal Studies aktiv. Michel, Margot, ist Assistenzprofessorin für Zivilrecht und Zivilverfahrensrecht unter besonderer Berücksichtigung des Familienrechts und der verfahrensrechtlichen Bezüge an der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Familienrechts und des Familienverfahrensrechts, des Medizinrechts, des Personenrechts und Fragen zu Tier und Recht. Sie ist Mitbegründerin der EuroGroup for Animal Law Studies (EGALS), eines Zusammenschlusses von an verschiedenen europäischen Universitäten tätigen Jurist_innen zur Förderung von Animal Law an europäischen Universitäten. Petrus, Klaus, ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zu Sprachphilosophie, Tierethik und Human-Animal Studies. Zu seinen Publikationen zählen: Meaning & Analysis (Palgrave 2010), Tierrechtsbewegung (Unrast 2013), Animal Minds & Animal Ethics (mit Markus Wild, transcript 2013), »Die Verdinglichung der Tiere« (in Tiere_Bilder_Ökonomien, hg. von Chimaira AK, transcript 2013), Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen (mit Arianna Ferrari, transcript, im Erscheinen) und Meaning, Context and Methodology (mit Sarah-Jane Conrad, im Erscheinen). Pfeiler, Tamara, ist Diplom-Psychologin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Neben ihrer Promotion zum Thema Emotionsregulation liegt ihr Forschungsschwerpunkt auf der Psychologie von Mensch-Tier-Beziehungen und den Human-Animal Studies.

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Roscher, Mieke, ist Juniorprofessorin für Sozial-und Kulturgeschichte unter besonderer Berücksichtigung von Mensch-Tier-Beziehungen an der Universität Kassel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Neuere und Neueste Geschichte Großbritanniens, die britische Kolonialgeschichte, Geschlechtergeschichte, Tiergeschichte und Human-Animal Studies. Sie hat zahlreiche Zeitschriftenaufsätze und Buchkapitel zur Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung und zur Schreibung von Tiergeschichte veröffentlicht und ist Mitbegründerin des Forums »Tiere und Geschichte«. Zurzeit arbeitet sie an einem Forschungsprojekt zu einer Tiergeschichtsschreibung kolonialer und nationalistischer Praxen und untersucht hier insbesondere die Behandlung von Tieren im Nationalsozialismus. 2009 erschien ihr Buch Ein Königreich für Tiere. Schachinger, Karin, ist Germanistin und unterrichtet Deutsch als Zweitsprache und Basisbildung. Sie studiert »Gender, Culture and Social Change« an der Universität Innsbruck und ist studentische Mitarbeiterin im Bereich der HumanAnimal Studies. Als Vorsitzende des Innsbrucker Vereins »LIFE – Universitäre Interessengemeinschaft für Tierrechte« verbindet sie praktisches Engagement für Tierrechte mit der theoretischen Auseinandersetzung. Sommer, Volker, ist Professor für Evolutionäre Anthropologie am University College London (UCL). Jahrelange Freilandforschung führte ihn zu Tempelaffen in Indien, Gibbons im Regenwald Thailands und zu Schimpansen im Bergland Nigerias. Sommer berät die UN als Menschenaffenexperte und zählt zum wissenschaftlichen Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung, die für eine säkulare Weltsicht im Sinne eines »evolutionären Humanismus« wirbt. Öffentlich bekannt ist der engagierte Naturschützer durch Fernsehsendungen sowie seine provokanten Bücher zu evolutionsbiologischen Themen, zuletzt Schimpansenland und Menschenaffen wie wir. Spannring, Reingard, ist Universitätsassistentin an der Leopold Franzens Universität Innsbruck mit den Schwerpunkten Lebenslanges Lernen, kritische Pädagogik, Umweltpädagogik, Integralpädagogik, politische Partizipation und Human-Animal Studies. Außerdem unterrichtet sie Bildung für Nachhaltige Entwicklung an der Summer School der National Chung Chen University in Chiayi, Taiwan. Ihre laufenden Forschungsarbeiten beschäftigen sich auf der theoretischen Ebene mit der Rolle der Frankfurter Schule für eine im Sinne der Ökologie und Tierethik kritischen Pädagogik und auf der empirischen Ebene mit dem Zusammenhang von Tierethik und menschlichem Lernen.

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Stucki, Saskia, ist Koordinatorin des Doktoratsprogramms »Law and Animals« der Juristischen Fakultät der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte im Tierrecht umfassen die kritische Analyse von gegenwärtigem Tierschutzrecht sowie die Rechtstheorie einer tierlichen Rechtsperson und von Tierrechten. Zu ihren Publikationen gehören: Tierversuchsrichtlinie 2010/63/EU (mit Anne Peters, 2014); Animal Law: Reform or Revolution? (hg. mit Anne Peters und Livia Boscardin, im Erscheinen); »Die ›tierliche Person‹ als Tertium Datur« (in: Die Würde der Kreatur nach 20 Jahren, hg. v. C. Ammann/B. Christensen/L. Engi/ M. Michel, im Erscheinen); »Rechtstheoretische Reflexionen zur Begründung eines tierlichen Rechtssubjekts« (in: Animal Law – Tier und Recht, hg. v. M. Michel/D. Kühne/J. Hänni, 2012). Weitere Interessengebiete sind: Völkerrecht, Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht. Ullrich, Jessica, studierte Kunstgeschichte, Kunstpädagogik und Germanistik in Frankfurt a. M. sowie Kultur- und Medienmanagement in Berlin. Sie war wissenschaftliche Volontärin im Georg-Kolbe-Museum, Berlin, und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft und Ästhetik an der Universität der Künste Berlin. Zur Zeit ist sie als Kuratorin für Bildung und Vermittlung am Kunstpalais Erlangen tätig und hat einen Lehrauftrag an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Außerdem ist sie Repräsentantin von Minding Animals Germany und Herausgeberin von Tierstudien im Neofelis Verlag, Berlin. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Tier-Mensch-Beziehung in der Gegenwartskunst sowie Tierästhetik. Wannenmacher, Julia Eva, studierte Ev. Theologie, klassische Altphilologie und Philosophie und forscht und unterrichtet in den Fächern Mittelalterliche Geschichte und Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ihre Forschungsinteressen gelten mittelalterlicher Exegese und Apokalyptik, politischer Prophetie im Mittelalter und der Neuzeit, Geschichtsbildern von der Antike bis in die Gegenwart sowie der Mensch-Tier-Beziehung in der Geschichte des abendländisch-christlichen Denkens und der Theologie. Weltzien, Friedrich, ist Professor für Kreativität und Wahrnehmungspsychologie an der Hochschule Hannover, Abteilung Design und Medien. Er studierte Kunstgeschichte, klassischen Archäologie und Philosophie in Freiburg, Wien, Köln und Berlin. Zu den Forschungsschwerpunkten zählen neben dem Verhältnis von Animalität und Ästhetik experimentelle graphische Verfahren, Lebendigkeitsdiskurse in der Schnittmenge von Kunst und Naturwissenschaft sowie

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bildtheoretische und produktionsästhetische Fragestellungen. 2013 war er Gastherausgeber der Zeitschrift Tierstudien, 1/2013, Themenschwerpunkt Tierliebe. 2012 erschien »Der ästhetische Wurm. Tierphilosophische Anmerkungen« in den Tierstudien, 1/2012. 2009 war er mit Jessica Ullrich, Kassandra Nakas, Antonia Ulrich und Heike Fuhlbrügge Kurator und Herausgeber von Tier-Werden, Mensch-Werden, dem Ausstellungskatalog der NGBK Berlin, ebenso wie von Tierperspektiven, Ausstellungskatalog Georg-Kolbe-Museum Berlin, hg. gemeinsam mit Jessica Ullrich. 2008 gab er Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte mit heraus. Wenzel, Mario, studierte Psychologie an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald und ist momentan wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er beschäftigt sich im Rahmen seiner Forschung mit den Themen Selbstregulation und Freiheit und versucht diese Gebiete in die Human-Animal Studies einzubringen. Wiedenmann, Rainer E., apl. Professor für Soziologie, ist Lehrbeauftragter am Institut für Soziologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte sind: soziologische Theorie, Kultursoziologie und historische Soziologie. Er forscht und publiziert seit gut zwei Jahrzehnten zu Fragen der Mensch-Tier-Sozialität. Zu diesem Thema sind folgende Bücher erschienen: Die Tiere der Gesellschaft: Studien zur Soziologie und Semantik von MenschTier-Beziehungen (Konstanz 2002); Tiere, Moral und Gesellschaft: Elemente und Ebenen humanimalischer Sozialität (Wiesbaden 2009). Demnächst erscheint: »Tiernamen und gesellschaftliche Differenzierung: vergleichende Sondierungen im Anschluss an zwei Thesen von Claude Lévi-Strauss«, in: Beiträge zur Namenforschung 50 (2015).

Human-Animal Studies Annette Bühler-Dietrich, Michael Weingarten (Hg.) Topos Tier Neue Gestaltungen des Tier-Mensch-Verhältnisses März 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2860-9

Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.) Human-Animal Studies Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen 2011, 424 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1824-2

Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.) Tiere Bilder Ökonomien Aktuelle Forschungsfragen der Human-Animal Studies 2013, 328 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2557-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Human-Animal Studies Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.) Lexikon der Mensch/Tier-Beziehungen Juli 2015, ca. 400 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2232-4

Nastasja Klothmann Gefühlswelten im Zoo Eine Emotionsgeschichte 1900-1945 Juli 2015, ca. 430 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3022-0

Reingard Spannring, Reinhard Heuberger, Gabriela Kompatscher, Andreas Oberprantacher, Karin Schachinger, Alejandro Boucabeille (Hg.) Tiere, Texte, Transformationen Kritische Perspektiven der Human-Animal Studies September 2015, ca. 450 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2873-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de