Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft: Ökonomische, soziale und ökologische Auswirkungen, Fragen und Perspektiven 365842205X, 9783658422059, 9783658422066

Die Digitalisierung hat längst alle Bereiche unseres Lebens erfasst. Nach einer ersten Phase der Digitalisierungs-Euphor

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Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft: Ökonomische, soziale und ökologische Auswirkungen, Fragen und Perspektiven
 365842205X, 9783658422059, 9783658422066

Table of contents :
Vorwort
Literatur
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung
Literatur
2 Die Geschichte der Digitalisierung
2.1 Computerisierung
2.2 Internet
2.3 Technikgeschichtlicher Hintergrund der künstlichen Intelligenz (KI)
2.4 Blockchain-Technologie
2.5 Algorithmen als totalitätsverdächtige «Black Boxes» oder als Grundlage für die Partizipation der User?
2.6 Zur schrittweisen und ungleichen Durchsetzung der Digitalisierung: Treiber, Hindernisse und neue Fragen
2.7 Die Rolle der Influencer
Literatur
3 Die Digitalisierung der Wirtschaft
3.1 Produktion
3.2 Handel und Onlinehandel
3.3 Digitalisierug in kleinen und mittleren Unternehmen
3.4 Plattformkapitalismus
3.5 Konsum
3.6 Virtuelle Währungen
3.7 Arbeit
3.8 Bildung
3.9 Individueller Medienkonsum
3.10 Sharing Economy
Literatur
4 Die Digitalisierung der Gesellschaft
4.1 Rechtliche Auswirkungen
4.2 Machtausübung im digitalen Zeitalter
4.3 Zunehmende politische, soziale und gesellschaftliche Polarisierung
4.4 Digitalisierung und Politik: zum Beispiel E-Voting
4.5 E-Identities
4.6 E-Tourismus und M-Tourismus
4.7 E-Health
4.8 5G-Standard
4.9 Datenmanagement und Datenschutz
4.10 Die neue Energieabhängigkeit
4.11 Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche
4.12 Brain-Computer-Interfaces (BCI)
Literatur
5 Der Digitalisierungsschub durch Covid-19
Literatur
6 Ökologische Folgen der Digitalisierung
Literatur
7 Die neue Exklusion durch die Digitalisierung
Literatur
8 Chancen und Gefahren der Digitalisierung
8.1 Digitale und hybride Kriegsführung
8.2 Digitaler Totalitarismus?
8.3 Die Digitalisierung der Information und ihre Auswirkungen
8.4 Digitalisierung und das Friedensproblem
8.5 Die Digitalisierungs-Verweigerer
Literatur
9 Ethische Fragen
Literatur
10 Prinzipien für eine Neuausrichtung der Digitalisierung
10.1 Open Data
10.2 Kampf um das virtuelle Metaversum
10.3 Gut gemeint ist noch lange nicht gut
Literatur
11 Visionen für einen digitalen und ökologischen Umbau
Literatur
12 Fazit und Ausblick
Literatur

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Christian J. Jäggi

Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft Ökonomische, soziale und ökologische Auswirkungen, Fragen und Perspektiven

Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft

Christian J. Jäggi

Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft Ökonomische, soziale und ökologische Auswirkungen, Fragen und Perspektiven

Christian J. Jäggi Inter-Active Meggen, Luzern, Schweiz

ISBN 978-3-658-42205-9 ISBN 978-3-658-42206-6 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-42206-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Claudia Rosenbaum Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.

Vorwort

Die Digitalisierung ist zweifellos beides: Für viele ein Segen und für andere ein Fluch. Der Autor dieser Zeilen erinnert sich noch gut an seinen ersten Personal Computer in den 1980er Jahren: Mit oranger Schrift auf grauem Bildschirm tippte man mühsam die einzelnen MS-DOS-Befehle ein: diskcopy; copy/V usw. Kleinste Textabschnitte mussten mühsam auf Floppy Disks kopiert werden, und zum Start der Textverarbeitung brauchte es eine eigene Floppy Disk. Gegenüber heutigen Anwenderoberflächen war das absolute Steinzeit. Und doch stellt sich die Frage: Was hat sich seither geändert? Hat die Digitalisierung das Leben erleichtert – oder kompliziert? Welche Veränderungen bewirkte die Digitalisierung in der Gesellschaft, in der Wirtschaft und im persönlichen Alltagsleben? Hat das Reisen mit für jeden Tag vorausgeplanten und mit dem Smartphone im Voraus reservierten Hotelunterkünften nicht viel an Qualität und Spontaneität, aber auch an Unsicherheit verloren – im Austausch für mehr Bequemlichkeit? Der Autor diese Zeilen reiste noch in den 1970er Jahren durch halb Südamerika und durch Ostafrika, und telefonierten konnte man – im besten Fall – auf den Poststellen größerer Städte, oft zu horrenden Preisen – und eine Unterkunft fand man an Ort – wenn man Glück hatte… Umgekehrt gibt es auch enorme Fortschritte und Erleichterungen – früher füllten wir jede Steuererklärung mühsam von Hand aus, heute lädt man das neueste Steuerprogramm herunter und der Computer führt automatisch alle Daten des vorherigen Jahres nach. Suchprogramme finden binnen Sekunden Zitate oder Textstellen, für die man früher stundenlang in schweren Wälzern nachschlagen musste. Ganz zu schweigen von den enormen digitalen Fortschritten in der Medizin, den – nicht selten ambivalenten – Anwendungen digitaler Tools in den Schulen, immer weniger ruckelnden Videokonferenzen und den enormen Daten- und Informationsbergen in den Unternehmen, in der Forschung und auch im Alltag. Nach Ansicht von Seiler Schiedt (2020:157) erleben wir heute einen regelrechten Digitalisierungs-Hype. Doch der «Mythos Digitalisierung» dürfte – ähnlich wie seinerzeit der E-Learning-Boom – in nicht allzu langer Zeit nicht nur entmystifiziert werden und auf ein normales Maß zurückgehen. Anders gesagt: Die Digitalisierung wird zum normalen Bestandteil des Alltags werden, aber zweifellos bestehende Auswüchse werden wieder verschwinden. V

VI

Vorwort

Jeder von uns besitzt Dutzende von Passwörtern und beinahe jedes größere Geschäft verlangt für den Einkauf einen eigenen Account. Die PCs besitzen immer mehr Speicherkapazität, aber wir füllen sie und die sozialen Medien mit immer mehr Schnappschüssen und Fotos, die wir später kaum mehr anschauen… Twitter und YouTube, Facebook und Instagram enthalten neben viel Wertvollem auch immer mehr digitalen Schrott – und es wird immer schwieriger, dazwischen zu unterscheiden. Immer mehr Menschen leben in eigenen digitalen Blasen, in denen sie nur gerade das konsumieren, was ihrem Weltbild entspricht – entsprechend feiern Verschwörungstheorien, Fake News und Hassmessages Hochstände. Peter G. Kirchschläger (2021:188 f.) hat mit Recht darauf hingewiesen, dass digitale Techniken wie etwa die Blockchain-Technologie und andere digitale Innovationen auf zweifache Art genutzt werden können. Ähnlich wie Werkzeugmaschinen sowohl für friedliche, zivile Zwecke – etwa zur Herstellung von Traktoren oder PKWs – dienen als auch für die Konstruktion von Militärfahrzeugen und Waffen – etwa für Flugzeugoder Panzermotoren – eingesetzt werden können1 , gibt es auch einen «dual use» für digitale Innovationen: Drohnen können zur kartografischen Erfassung oder zur Wetterbeobachtung, aber auch für die Bombardierung eines militärischen Gegners oder gar der Zivilbevölkerung im Krieg eingesetzt werden, wie das im Ukraine-Krieg bekanntlich geschehen ist. Digitale Währungen erleichtern in Afrika und an vielen anderen Orten den Einkauf und damit die Versorgung mit Gütern, aber sie bieten auch enorme Betrugs- und Kriminalitätspotenziale. Brave New World in allen Facetten und allüberall! Christian J. Jäggi

1 Das musste etwa die Schweizer Exportindustrie im Falle von Werkzeugmaschinen erfahren, die

noch nach der Besetzung der Krim an Russland geliefert wurden – und mit denen Teile von Panzern und Flugzeugmotoren hergestellt wurden; vgl. Triebe 2022:20 und Jirát und Naegeli 2022:6.

Vorwort

VII

Literatur Jirát, Jan / Naegeli, Lorenz 2022: Dual-Use-Güter: Werkzeuge für Putins Krieg. In: WochenZeitung vom 25.8.2022. 6. Kirchschläger, Peter G. 2021: Ethics of Blockchain Technology. In: Ulshöfer, Gotlind / Kirchschläger, Peter G. / Huppenbauer, Markus (Hrsg.): Digitalisierung aus theologischer und ethischer Perspektive. Konzeptionen – Anfragen – Impulse. Reihe Religion – Wirtschaft – Politik. Band 22. Baden-Baden: Nomos. 185 ff. Seiler Schiedt, Eva 2020: Zwischen Gartner und Foucault: Über das Kommen und Gehen von Mythen der digitalen Lehrinnovation. In: Bauer, Reinhard / Hafner, Jörg / Hofhues, Sandra / Schiefner-Rohs, Mandy / Thillosen, Anne / Volk, Benno / Wannemacher, Klaus. (Hrsg.): Vom ELearning zur Digitalisierung. Mythen, Realitäten, Perspektiven. Münster/New York: Waxmann. 152 ff. Triebe, Benjamin 2022: Russland braucht für den Krieg Schweizer Maschinen. In: Neue Zürcher Zeitung vom 12.9.2022. 20 f.

Inhaltsverzeichnis

1

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Geschichte der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Computerisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Technikgeschichtlicher Hintergrund der künstlichen Intelligenz (KI) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Blockchain-Technologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Algorithmen als totalitätsverdächtige «Black Boxes» oder als Grundlage für die Partizipation der User? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Zur schrittweisen und ungleichen Durchsetzung der Digitalisierung: Treiber, Hindernisse und neue Fragen . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Die Rolle der Influencer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Digitalisierung der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Handel und Onlinehandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Digitalisierug in kleinen und mittleren Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Plattformkapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Konsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Virtuelle Währungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8 Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.9 Individueller Medienkonsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.10 Sharing Economy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Digitalisierung der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Rechtliche Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Machtausübung im digitalen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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X

Inhaltsverzeichnis

4.3

Zunehmende politische, soziale und gesellschaftliche Polarisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Digitalisierung und Politik: zum Beispiel E-Voting . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 E-Identities . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 E-Tourismus und M-Tourismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 E-Health . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8 5G-Standard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9 Datenmanagement und Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.10 Die neue Energieabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.11 Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.12 Brain-Computer-Interfaces (BCI) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Digitalisierungsschub durch Covid-19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6

Ökologische Folgen der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die neue Exklusion durch die Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Chancen und Gefahren der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Digitale und hybride Kriegsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Digitaler Totalitarismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Die Digitalisierung der Information und ihre Auswirkungen . . . . . . . . . 8.4 Digitalisierung und das Friedensproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Die Digitalisierungs-Verweigerer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ethische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10 Prinzipien für eine Neuausrichtung der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Open Data . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Kampf um das virtuelle Metaversum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Gut gemeint ist noch lange nicht gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11 Visionen für einen digitalen und ökologischen Umbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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12 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1

Einführung

Zusammenfassung

Was ist mit Digitalisierung gemeint? Digitalisierung besteht gleichzeitig aus einer Reduktion und einer Komplexitätssteigerung, indem zuerst analoge Zusammenhänge in eine digitale Form gebracht, umgeordnet und in analoge Form zurückübersetzt werden. Digitalisierung besteht im Grunde in der«Verdoppelung der Welt in Datenform mit der technischen Möglichkeit, Daten miteinander in Beziehung zu setzen» (Nassehi 2019:33 f.). Digitalisierung erscheint immer dann als ambivalent, wenn gesellschaftliche Faktoren einbezogen werden.

Hirsch-Kreinsen (2018:14) hat die Meinung vertreten, dass – wenn man die rhetorischen Übertreibungen der Digitalisierungs-Debatte beiseitelässt – gegenwärtig ein technologischer Entwicklungsschub stattfindet, dessen strukturelle Konsequenzen noch kaum absehbar sind. Die Entwicklung digitaler Techniken habe ein Stadium erreicht, das völlig neue Anwendungsqualitäten eröffne. Auch wird in der Literatur auch immer wieder auf die schnelle technologische Entwicklung hingewiesen. Doch was ist eigentlich mit Digitalisierung gemeint? Digitalisierung kann verstanden werden als «Einzug unzähliger Geräte und Anwendungen der Informations- und Kommunikationstechnologien in unterschiedliche Lebens- und Wirtschaftsbereiche» (Santarius und Lange 2018:20). Wieland (2018:178) hat vorgeschlagen, unter Digitalisierung «die Elektronifizierung, Vernetzung und Automatisierung von Produkten und Prozessen» zu verstehen. Specht (2018:22) sieht die Digitalisierung als Zusammenspiel von vier Elementen: erstens von Informationen in binärer Form; zweitens von Hardware, die Informationen speichert und verarbeitet; drittens von Software, welche die Hardware anleitet, wie die Informationen zu speichern und zu verarbeiten sind, und

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C. J. Jäggi, Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42206-6_1

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1 Einführung

viertens von Kommunikationsnetzwerken, welche den Informationsaustausch zwischen digitalen Geräten ermöglichen. Nassehi (2019:33 f.) hat vorgeschlagen, unter «digital» «die Verdoppelung der Welt in Datenform mit der technischen Möglichkeit, Daten miteinander in Beziehung zu setzen», zu verstehen. Dabei werde diese Verdoppelung auf bestimmte Fragestellungen zurückübersetzt. Der gesamte Prozess besteht gleichzeitig aus einer Reduktion und einer Komplexitätssteigerung, indem zuerst analoge Zusammenhänge in eine digitale Form gebracht, umgeordnet und in analoge Form zurückübersetzt werden (vgl. Nassehi 2019:34). Demgegenüber unterscheidet Lucks (2020:34) zwischen Digitalisierung als «Aufbereitung von Informationen zur Verarbeitung oder Speicherung» und Digitaltechnik, mit den Bereichen Grundlagen, Schaltkreistechnik und Anwendungen. Wie diese wenigen Definitionen zeigen, besteht nicht einmal Einhelligkeit darüber, was unter Digitalisierung zu verstehen ist. Die Digitalisierung stellt ein äußerst komplexes Phänomen dar, das alle Lebensbereiche erfasst und zu enormen Änderungen im Alltagsleben geführt hat. Viele dieser Änderungen sind wir uns gar nicht (mehr) bewusst – und die Jüngeren unter uns haben nie etwas anderes gekannt. Allerdings sei hier kritisch eingewendet, dass viele der neuen Anwendertechniken im digitalen Bereich im Grunde nur Weiterentwicklungen bestehender und neu designte Anwenderoberflächen sind, die zwar revolutionär erscheinen, aber im Wesentlichen nur die Kombinationen von Hardware oder neue Anwendungsbereiche von wenig neuer Software darstellen. Genauso gut könnte man die stetige Verfeinerung des Benzinmotors in den letzten 20 Jahren als revolutionär darstellen. Doch wie dem auch sei – zweifellos verändert sich sowohl die Wirtschaft als auch das Alltagsleben durch die neuen Anwendungsbereiche der Digitalisierung stark und vermutlich dauerhaft. Nach Ansicht von Hirsch-Kreinsen (2018:14 f.) können zwei Phasen der Digitalisierung unterschieden werden: erstens die Digitalisierungsprozesse ab Ende der 1990er Jahre in Wirtschaftsbereichen, die unmittelbar auf immateriellen Transaktionen und der Nutzung von Daten und Informationen beruhen, und zweitens eine aktuelle Digitalisierungsphase – eine «second-wave-mutation», auch «Industrie und Arbeit 4.0» genannt –, die in der Verknüpfung der Digitalisierung mit physischen Gegenständen unterschiedlichster Art bestehe. Zur ersten Phase der Digitalisierung gehörten unter anderem neue Angebote von Dienstleistungen wie Musikherstellung und -verteilung, das Verlags- und Zeitschriftenwesen, Finanzdienstleistungen usw. Zur zweiten Phase seien cyber-physische Systeme (CPS) zu rechnen wie «intelligente» Geräte, Verkehrsmittel, Maschinen, Logistiksysteme, teilautonome Koordinations- und Managementprozesse usw. Dazu gehört auch das Konzept des Computer Integrated Manufactoring (CIM), welches die virtuelle Datenebene mit realen Produktionsprozessen und Fabrikabläufen vernetzt, sich durch hohe Flexibilität auszeichnet und dadurch «grundlegend neue Potenziale für die Planung, die Steuerung und die

1 Einführung

3

Organisation von Wertschöpfungsprozessen, die Entwicklung völlig neuer Produkte und den Aufbau internetbasierter Geschäftsmodelle» (Hirsch-Kreinsen 2018:15) ermöglicht. Sühlmann-Faul (2019:11) hat darauf hingewiesen, dass im Zeitalter der Digitalisierung Blockchain, künstliche Intelligenz und Wahlbeeinflussungen durch die sozialen Medien zum Alltag gehören. Dabei wird – so Sühlmann-Faul (2019:11) – oft übersehen, dass die Digitalisierung auch ungewollt Prozesse beschleunigt, welche die Umwelt noch näher an den Kollaps führen. Die Gesellschaft als Ganzes steht ziemlich hilflos vor dem Digitalisierungsschub. Unser Handeln in Politik und Wirtschaft «ist ein Handeln und Entscheiden im tiefen Nebel der Ungewissheit und unter der Bedingung zunehmender Beschleunigung aller gesellschaftlichen und ökonomischen Prozesse. Dieses führt im Kern dazu, dass die Entscheidungen für morgen immer wieder aus der Rationalität, den Interessenmustern und der Pfadabhängigkeit der Vergangenheit heraus getroffen werden. Abermals und immer wieder suchen wir die Lösungen im Mehr vom Bekannten, im Schnelleren, im Wachsen, das einem Wuchern gleichkommt. Heute vor allem gießen wir im Sinne dieser Pfadabhängigkeit den kostbaren Wein der digitalen Technologien in die alten, überkommenen Schläuche» (Rammler 2018:14 f.). Digitalisierung ist ein Tanz – oder ein Tango, vgl. Sühlmann-Faul (2019:11) – zwischen zwei Aspekten: dem Fortschritt in Wirtschaft und Gesellschaft auf der einen Seite und der Beschleunigung von Zerstörungsprozessen in Gesellschaft und Umwelt auf der anderen Seite. Entsprechend geht es weder um eine Verherrlichung noch um eine Verteufelung der Digitalisierung – gefragt ist vielmehr eine sachliche, unideologische Abwägung von Vor- und Nachteilen, und vor allem: um eine Steuerung von Digitalisierungsprozessen mit Augenmaß im Interesse aller. Nicht immer ist klar, ob Digitalisierung deskriptiv oder normativ angegangen wird, und bei Prognosen wird die Digitalisierung häufig entweder als Projektionsfläche für eine von allen Zwängen befreite Gesellschaft oder als Schreckensvision für eine totalitäre Zukunft benutzt (vgl. Fetzer 2020:9). Im vorliegenden Text geht es darum, möglichst viele Aspekte von Digitalisierungsprozessen nachzuzeichnen, ihre Ambivalenz zu diskutieren und normative Fragestellungen einzuholen. Dabei ist zu bedenken, dass die Digitalisierung und ihre Auswirkungen dermaßen komplex und vieldimensional sind, dass es keine einfachen Antworten oder simplen Rezepte für die damit aufgeworfenen Fragen gibt. Es gilt vielmehr, genau hinzuschauen, Fragen – auch denjenigen nach unserer Bequemlichkeit oder nach vermeintlichen Sachzwängen – nicht auszuweichen und auch möglicherweise verquere Antworten nicht einfach als hinterwäldlerisch, ewiggestrig oder gar als Verschwörungstheorien abzuqualifizieren. Immerhin geht es um unsere Zukunft und die Zukunft unserer Kinder. Nach Ansicht von Ramesohl und Berg (2019:1) wird «der Umgang mit und die Gestaltung von Digitalisierung … zur Kernaufgabe für die Transformation einer global nachhaltigen Entwicklung». Doch damit stellt sich gleichzeitig die Frage, welchen Weg die Digitalisierung nehmen soll und wie die Digitalisierung in die richtige Richtung

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1 Einführung

gelenkt werden kann (vgl. Ramesohl und Berg 2019:1). Es ist also zu vermeiden, die Digitalisierung als eigendynamischen, unaufhaltbaren und nicht steuerbaren Prozess zu verstehen, der sozusagen als Naturgesetzt abläuft. Das ist auf keinen Fall so, und eine solche Sichtweise öffnet totalitären Verständnissen und Entwicklungstendenzen Tür und Tor. In einer forsa-Umfrage unter 1023 zufällig ausgewählten Bundesbürger:innen über 14 Jahren zu Assoziationen mit der Digitalisierung nannten 78 % Manipulation, 52 % Überforderung und 50 % Desinformation (vgl. Oekom e. V. 2018:12). Das sind doch erstaunliche Zahlen. Sie deuten darauf hin, dass sich ein erheblicher Teil der Bevölkerung durch die Digitalisierung stark herausgefordert oder gar überfordert fühlt. Die Digitalisierung hat aber auch indirekte oder mittelbare Folgen in der Gesellschaft. In den Sozial- und Kulturwissenschaften hat sich in diesem Zusammenhang zunehmend der Begriff der «Mediatisierung» durchgesetzt. Damit ist Folgendes gemeint: «Technologisch basierte Kommunikationsmedien durchdringen immer mehr gesellschaftliche Domänen, die sich gleichzeitig drastisch verändern. Allgemein gesagt bezeichnet der Begriff ,Mediatisierung’ das Wechselverhältnis des Wandels von Medien und Kommunikation auf der einen Seite und des Wandels von Kultur und Gesellschaft auf der anderen Seite» (Hepp 2021:20 f.). Dabei ist die Gesellschaft durch die Digitalisierung in eine neue Stufe der Mediatisierung eingetreten, die als «tiefgreifende Mediatisierung» (Hepp 2021:22) bezeichnet werden kann, wobei die Kommunikation sich nicht auf ein einzelnes Medium beschränkt, sondern sie hat «polymedialen» Charakter bekommen. Diese «deep mediatization», wie sie im englischen Sprachraum genannt wird, führt zu einer «Refiguration von Gesellschaft mit digitalen Medien und deren Infrastrukturen» (Hepp 2021:12). In der Mediatisierungsforschung gibt es zwei Denkrichtungen: die institutionalistische und die sozial-konstruktivistische Tradition (vgl. Hepp 2021:25). Wie dem auch sei – Fakt ist Folgendes: Die Digitalisierung erscheint immer dann als ambivalent, wenn gesellschaftliche Implikationen mit einbezogen werden. Während die Digitalisierung an sich fortschrittlich und fast grenzenlos erscheint, sind die gesellschaftlichen Folgen nicht nur enorm, sondern auch unüberschaubar und letztlich kaum absehbar. Damit gilt es umzugehen – und die künftige Entwicklung wird zeigen, ob das leistbar ist, oder ob sich einseitige oder gar vereinnahmende Entwicklungen abzeichnen werden, die später wieder mit sehr viel Energie und Aufwand korrigiert werden müssen.

Literatur Fetzer, Joachim 2020: Menschenwürde und ihre Konkretisierungen – ein Kompass im Prozess der Digitalisierung. In: Achatz, Johannes/Albrecht, Reyk/Güngör, Lena Saniye (Hrsg.): Digitalisierung – Werte zählen? Kritisches Jahrbuch der Philosophie. Band 20. Würzburg: Konigshausen & Neumann. 9 ff. Hepp, Andreas 2021: Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft. Über die tiefgreifende Mediatisierung der sozialen Welt. Köln: Herbert von Halem Verlag.

Literatur

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Hirsch-Kreinsen, Hartmut 2018: Einleitung: Digitalisierung industrieller Arbeit. In: HirschKreinsen, Hartmut/Ittermann, Peter/Niehaus, Jonathan (Hrsg.): Digitalisierung industrieller Arbeit. Die Vision Industrie 4.0 und ihre sozialen Herausforderungen. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Baden-Baden: Nomos. 13 ff. Lucks, Kai 2020: Der Wettlauf um die Digitalisierung. Potenziale und Hürden in Industrie, Gesellschaft und Verwaltung. Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag. Nassehi, Armin 2019: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C.H. Beck. Oekom e.V. – Verein für ökologische Kommunikation (Hrsg.) 2018: Einstiege. In: Oekom e.V. – Verein für ökologische Kommunikation (Hrsg.): Smartopia. Geht Digitalisierung auch nachhaltig? München: Oekom. Ramesohl, Stephan/Berg, Holger 2019: Digitalisierung in die richtige Richtung lenken – Eckpunkte für Wissenschaft und Politik. In: Inbrief – Wuppertaler Impulse zur Nachhaltigkeit. 08/2019. 1 ff. Rammler, Stephan 2018: Vorwort. In: Sühlmann-Faul, Felix/Rammler, Stephan: Der blinde Fleck der Digitalisierung. Wie sich Nachhaltigkeit und digitale Transformation in Einklang bringen lassen. München: Oekom. 12 ff. Santarius, Tilman/Lange, Steffen 2018: Digitalisierung und Nachhaltigkeit: Triebkräfte für den Wandel? In: Oekom e. V. – Verein für ökologische Kommunikation (Hrsg.): Smartopia. Geht Digitalisierung auch nachhaltig? München: Oekom. 20ff. Specht, Philip 2018: Die 50 wichtigsten Themen der Digitalisierung. Künstliche Intelligenz, Blockchain, Bitcoin, Virtual Reality und vieles mehr verständlich erklärt. München: Redline Verlag. Sühlmann-Faul, Felix 2019: Digitalisierung und Nachhaltigkeit: It takes two to tango. In: Ökologisches Wirtschaften Nr. 2/2019. 11. Wieland, Thomas 2018: Digitalisierung – Technologien, die Wirtschaft und Gesellschaft umwälzen. In: Epple, Philipp (Hrsg.): Digitalisierung. Reihe: Zwischen den Welten. Band 13. Göttingen: Cuvillier Verlag.177 ff.

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Die Geschichte der Digitalisierung

Zusammenfassung

Die Entwicklung der Digitalisierung wird unter anderem durch Treiber wie wachsende Rechnerleistung, Datenübertragung und die Entwicklung von Netzwerken bestimmt. Dagegen ändert die Digitalisierung weder die grundlegenden Produktionsverhältnisse noch das Eigentum an Produktionsmitteln. So gesehen stellt die Digitalisierung keine grundsätzlich neue Produktionsweise her – sondern sie verfeinert lediglich die bestehende. Das gilt auch für das Internet: Es stellt eine Vielzahl von neuen Beziehungen her – und diese können immer auch blockiert werden. Das gilt im Grunde auch für Künstliche Intelligenz, wobei «niemand wissen kann, was ein ,KI‘-System eigentlich ist, paradoxerweise auch diejenigen nicht, die ständig davon reden» (Brödner 2021:71). Algorithmen berechnen das Richtige – also was der Auftraggeber wissen will – und benötigen dafür möglichst wenig Ressourcen wie Zeit und Speicherkapazität. Aber Algorithmen, welche ganze Systeme steuernund beeinflussen, sollten ähnlich streng geprüft werden wie Atomkraftwerke – nur werden sie das nicht. Da gibt es noch viel zu tun.

Nassehi (2019:17) hat für die Durchsetzung neuer Techniken – so auch für die Digitalisierung – eine Art Circulus vitiosus formuliert: Technik kann auf einen Bedarf stoßen, den sie selbst erzeugt, aber dafür gleichzeitig Voraussetzungen benötigt. Anders gesagt: Eine Technik erfüllt nicht nur ein bereits vorhandenes – sozusagen statisches – Bedürfnis, sondern formt und entwickelt dieses Bedürfnis mit und schafft Instrumente zu dessen Befriedigung. Allerdings kann diese Bedürfnisbefriedigung auch zu einer Scheinbefriedigung werden, und das Bedürfnis kann durch ein Ersatzbedürfnis ersetzt werden. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit das in den einzelnen Bereichen der digitalen Gesellschaft bereits geschehen ist oder gerade geschieht. Falls dies zutrifft, ist auch damit zu

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C. J. Jäggi, Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42206-6_2

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2 Die Geschichte der Digitalisierung

rechnen, dass die angebotenen (Ersatz-)Befriedigungen in Form von digitalen Produkten und Dienstleistungen wiederum durch andere Angebote und in der Folge durch andere Bedürfnisse ersetzt werden. Nach Ansicht von Nassehi (2019:11) war die Gesellschaft bereits vor den jüngsten Digitalisierungsschüben «in einer bestimmten Weise digital» und «[kann] nur mit digitalen Mitteln verstanden werden». Dabei sei das Bezugsproblem der Digitalisierung «die Komplexität und vor allem die Regelmäßigkeit der Gesellschaft selbst» (Nassehi 2019:28). Auch wenn Nassehi (2019:29) betont, «digital» hier nicht metaphorisch zu verstehen, stellt sich doch die Frage, was in diesem Fall «digital» bedeutet. Wir können – vorläufig – einmal festhalten: Digital und das Gegenstück analog sind zuerst einmal nichts weiter als zwei Begriffe, die zwei verschiedene Arten bezeichnen, wie ein Bedürfnis wahrgenommen, umgesetzt und befriedigt werden kann. Über Jahrhunderte war die Gesellschaft analog, heute wird sie mehr und mehr digital. In der Entwicklung der Digitalisierung gab es eine Reihe von Treibern, die sich gegenseitig verstärkten und verstärken: • Wachsende Rechnerleistung: Laut dem Mooreschen Gesetz erhöhte sich die Integrationsdichte pro Schaltkreis bei minimalen Kosten alle 18–24 Monate (vgl. Landvogt 2017:15). Trotz gegenteiligen Voraussagen blieb dieses exponentielle Wachstum weitgehend erhalten. Allerdings wenden Kritiker:innen (wie z.B. Spiekermann 2019:205) dagegen ein, dass für die Aufrechterhaltung dieses Tempos heute 18-mal so viele Forschende gebraucht werden wie in den 1970er Jahren. • Datenübertragung: Kabelgebundene und drahtlose Datenübertragungstechnologien entwickelten sich in einem erstaunlichen Tempo: Laut dem Gesetz von Gilder nimmt die Übertragungsbandbreite von Telekommunikationsnetzwerken dreimal so stark zu wie die Rechnerleistung (vgl. Landvogt 2017:16). Allerdings weist Landvogt (2017:17) zu Recht auf die enormen Investitionskosten eines flächendeckenden Aufbaus von Breitbandnetzen hin. Das bedeutet unter anderem, dass sich die Schere zwischen technologisch erschlossenen Gebieten auf dem Globus und weniger entwickelten Regionen weiter öffnet und öffnen wird – und zwar sowohl im globalen Nord-Süd-Bereich als auch in den hochentwickelten Ländern zwischen Zentren und Peripherie. • Netzwerke: Der Wert von Netzwerken wächst mit der Anzahl möglicher Kommunikationsbeziehungen der Netzwerkteilnehmenden. Das galt und gilt für die Festnetztelefonie, für Faxgeräte, für das World Wide Web, für Skype, Facebook, Twitter und für Mobilfunknetzwerke. Laut Landvogt (2017:17) führt dies nach Erreichen einer kritischen Masse zu einem sich selbst verstärkenden Wachstumsprozess: «Die Netzwerk-Effekte erfolgen einerseits direkt, wenn möglichst viele Personen das gleiche Gut verwenden, anderseits aber auch indirekt, wenn sich durch die Nutzung des gleichen Gutes die Verfügbarkeit und Substituierbarkeit komplementärer Produkte erhöht» (Landvogt 2017:17). Eine interessante Frage ist dabei, ob es auch eine maximale Größe von Netzwerken gibt, also eine Größe, nach deren Erreichen der Nutzen abnimmt oder

2 Die Geschichte der Digitalisierung

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gar gegen Null tendiert. Ein Beispiel wäre ein Verkehrsnetz, das so dicht ist, dass die einzelnen Verkehrsteilnehmenden sich gegenseitig behindern, wodurch sie später an ihr Ziel kommen. Denkbar wäre etwa, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt das Internet dermaßen mit Informations-Müll vollgestopft ist oder die Datenbahnen ausgelastet sind, dass sich die Geschwindigkeit verlangsamt, wodurch die Effizienz wieder sinkt. Weitere Treiber für die Digitalisierung sind – zumindest vorläufig noch – das Internet selbst, die Sozialen Medien, die mobilen Technologien, das Cloud Computing, die Sammlung von Daten («Big Data») und wahrscheinlich das Internet der Dinge, d. h. sich verselbständigende Geräte und ihre Vernetzung im Alltag (vgl. Landvogt 2017:18 ff.). Alle Lebensbereiche sind von diesen Treibern beeinflusst, teils stärker – teils schwächer. Allerdings stellt sich damit auch die Frage, inwieweit dadurch neue Abhängigkeiten entstehen und was geschieht, wenn digitale Geräte oder die Datenübertragung ausfällt, z. B. bei Zusammenbruch der Energieversorgung, bei Überlastung einzelner Teilsysteme oder -netzwerke, bei Ausfall zentraler Produktions- oder Logistikketten. Besonders an der Digitalisierung ist ihr unspezifischer Charakter: Digitalisierung kann in allen Bereichen der Gesellschaft angewendet werden, Nassehi (2019:35) spricht entsprechend vom ubiquitären Charakter digitaler Technik. Doch stimmt das tatsächlich? Streng genommen gilt das nur für alle jene Bereiche, die quantifiziert werden können und die sequenzielle Handlungsabfolgen darstellen – komplexe soziale Konstrukte qualitativer Art – z. B. Liebe, Emotionen, metaphysische Fragen wie diejenige nach dem Sinn des Lebens, nach dem Tod, nach Bewusstsein usw. – entziehen sich der Digitalisierung – es sei denn man gibt sich mit Ersatzkonstruktionen, quantitativen Operationalisierungen1 oder der Anhäufung von Einzelaspekten zufrieden. Allerdings hat Nassehi (2019:56) recht, wenn er darauf hinweist, dass nicht nur die quantitative, sondern auch die qualitative Sozialforschung etwa in Form von Fallbeispielen und Tiefeninterviews nicht nach Einzelfällen sucht, sondern an Mustern dahinter interessiert ist. Diese Muster werden nur auf andere Art herauszuschälen versucht – nicht über quantitative Zahlenberge, sondern über die Verallgemeinerung von Einzelfällen: Es geht auch hier um «überindividuelle Muster … und um die methodisch kontrollierte Rekombination von Sinn» (Nassehi 2019:56) – und auch hier kommen natürlich in der Analyse und Auswertung digitale Geräte und digitalisierte Methoden zur Anwendung.

1 So kann man natürlich auch heterosexuelle «Liebe» operationalisieren: Wenn sich zwei Menschen

unterschiedlichen Geschlechts über mindestens 6 Monate regelmässig treffen und mindestens einmal pro Woche eine Nacht zusammen verbringen, kann mit 85-%iger Wahrscheinlichkeit von Liebe gesprochen werden – aber solche Definitionen wirken entweder humoristisch oder sind bestenfalls ein schaler Abklatsch des komplexen Konstrukts «Liebe» …

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2 Die Geschichte der Digitalisierung

Tab. 2.1 Ontologische Differenz zwischen Mensch und Computer. (Quelle: Brödner 2021:78) Mensch (lebendiger Organismus)

Computer (semiotische Maschine)

Sich mittels Autopoiese in Stoffwechsel und Kommunikation selber machend

Wissensbasiert für bestimmte Zwecke gemacht (methodisch konstruiert)

Autonom (nach selbstbestimmten Regeln)

Automatisch (programmiert auto-operational)

Handelt intentional (kontingent), ist sprachbegabt, reflexiv lernfähig

Verhält sich kausal determiniert, ggf. algorithmisch gesteuert Umwelt-adaptiv (mittels Funktions-Approximation)

Lebendiges Arbeitsvermögen:

Algorithmisch determiniertes Verhalten:

Können (implizites Wissen, Erfahrung, situierte Urteilskraft, Handlungskompetenz), verausgabt und reproduziert sich im Gebrauch

Setzt Formalisierung von Zeichenprozessen voraus, muss für Praxis angeeignet und organisatorisch eingebettet werden

2.1

Computerisierung

Brödner (2021:78) hat die ontologische Differenz zwischen Mensch und Computer zusammengefasst (vgl. Tab. 2.1). Eine der für Durchschnittsnutzer von digitalen Geräten sichtbarsten Änderungen in den letzten Jahrzehnten ist wohl die Entwicklung neuer grafischer Benutzeroberflächen – des sogenannten graphic user interface GUI. Nach Ansicht von Lenk und Pohle (2021:15) wurde sie entwickelt, um den Computernutzern die Anwendung zu ermöglichen, ohne ein tieferes Verständnis der Funktionsweise des Geräts zu haben – ja, diese wurde sogar «strategisch versteckt» (Lenk und Pohle 2021:15). Doch was ist der eigentliche Charakter der Digitalisierung? Im Anschluss an das Marx’sche Verständnis großer gesellschaftlicher Transformationen stellt sich die Frage, ob die Digitalisierung einfach eine Weiterentwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems darstellt, oder ob die Digitalisierung – ähnlich wie die neolithisch-agrarische oder die industrielle Revolution – einen Aufbruch in ein völlig neues wirtschaftlich-gesellschaftliches Zeitalter darstellt. Glaubt man den euphorischen Äußerungen nicht weniger Digitalisierungs-Apologeten, dann ist letzteres der Fall. Doch einiges spricht dafür, dass die Digitalisierung weder die grundlegenden Produktionsverhältnisse noch das Eigentum an Produktionsmitteln grundsätzlich ändert. Wenn das Marx’sche Diktum stimmt, dass eine Gesellschaftsformation grundsätzlich nie untergeht, «bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind»2 (Marx 1859:9, vgl. auch Busch 2017:19), dann ist eher 2 Das gesamte Zitat lautet: «Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte

entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die

2.1

Computerisierung

11

davon auszugehen, dass die Digitalisierung zu einer Verfeinerung und Ausdifferenzierung kapitalistischer Produktion führen wird. Aus dieser Perspektive ist Jeremy Rifkins (2016) Annahme, dass die Digitalisierung und das Internet der Dinge einen «Rückzug des Kapitalismus»3 bedeute, verfrüht, wenn nicht falsch. Näher an der Wirklichkeit liegt wohl die Aussage von Manuela Specker (2019:54), die Digitalisierung sei «das perfekte Vehikel, um eine auf Selbstoptimierung, Wettbewerb, Effizienz und Leistungssteigerung angelegte Gesellschaft noch stärker der Marktlogik unterzuordnen». In diesem Sinn ist eine der Lieblingsbehauptungen von Digitalisierungsberatern und Innovationsspezialisten zweifellos falsch, wonach die digitale Wirtschaft Ausdruck einer völlig neuen Art von Ökonomie sei und einen Bruch grundlegender betriebswirtschaftlicher Regeln bedeute: «Das ist Nonsens. Eine New Economy gibt es ebenso wenig wie eine Next Economy oder neue Wirtschaftsgesetze der digitalen Wirtschaft. Im Kern geht es, worum es immer ging – gemäß dem uralten betriebswirtschaftlichen Prinzip: Unternehmen müssen herausfinden, was Kunden möchten und wie sie diese für ihr Produkt interessieren können. Gelingt ihnen dieses nicht, sind sie früher oder später nicht mehr am Markt» (Radermacher 2017:70). Busch (2017:25) meint dagegen, dass sich aufgrund der Digitalisierung die bürgerlichkapitalistische Welt in einem Umbruch befinde und dass ein historischer «Pfadwechsel» angesagt sei: «Ob dieser sich aber graduell durch einen adaptiven Umbau im Rahmen der kapitalistischen Formation, z. B. über einen,Green New Deal’, als,Öko-Kapitalismus’ usw. vollzieht oder abrupt, über eine,große’ Transformation, ist gegenwärtig nicht absehbar. Vielleicht gelingt es dem Kapital auch weiterhin„Zeit zu kaufen’» (Busch 2017:25). (2023) sieht es jedoch vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs, der Energiekrise und des Klimawandels eher nach einem «Chaos großer Krisen, Kriege und Katastrophen» (Busch 2017:25) aus, allerdings ohne dass sich – wie Busch (2017:25) hofft – daraus «strategisch» eine «ökonomisch-ökologische oder sozial-ökologische Transformation» herausschält. Der 27. Weltklima-Gipfel im November 2022 im Sharm el-Sheik, bei dem sich die westlichen Industrieländer zähneknirschend auf einen Entschädigungsfonds für die armen Länder einigen konnten – allerdings ohne den größten CO2 -Emittenten China mit 2021 30,9 % des weltweiten CO2 -Ausstoßes (vgl. Statista 2022) – und die anwesenden Vertreter:innen beharrlich am maximal 1,5-Grad-Erwärmungs-Klimaziel festhielten, ohne sich auf entsprechende Maßnahmen zu einigen, stellt im Grunde ein völliges Versagen der Weltgemeinschaft im Kampf gegen den Klimawandel dar.

materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind» (Marx 1859:9). 3 So untertitelte Jeremy Rifkin (2016) sein Buch «Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft» wie folgt: «Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus».

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2.2

2 Die Geschichte der Digitalisierung

Internet

Für die Digitalisierung und besonders auch für die Entstehung des Internets war der Beitrag von Regierungen und staatlicher Behörden von entscheidender Bedeutung. Bis zu seiner Kommerzialisierung wurde das Internet vom «militärisch-wissenschaftlichen Komplex» (vgl. Curran 2016:50 sowie Hepp 2021:46) der USA getragen. Das Arpanet, der Vorläufer des Internets, war eine Entwicklung der Advanced Research Projects Agency (ARPA) des Pentagons. 1993 entstand der endgültige Plan für die Privatisierung des Internets, weshalb dieser Zeitpunkt «als Wendepunkt hin zur Umwandlung des Internets in eine kommerzielle digitale Infrastruktur angesehen werden» kann (Hepp 2021:46). Zu Recht betonen Lange und Santarius (2018:14), dass das Internet und die Digitalisierung vor allem durch drei Interessengruppen geschaffen wurde, nämlich durch das Militär, die Wirtschaft und Weltverbesserer. Thomas King, der Chef Technology Officer bei DE-CIX, das in Frankfurt nach eigenen Angaben das weltweit größte Rechenzentrum und gemessen am Datendurchsatz wichtigsten Internet-Knotenpunkt der nördlichen Hemisphäre betreibt, definierte das Internet wie folgt: «Das Internet …, das sind weltweit rund 65 000 separate Netze, die miteinander Daten austauschen» (zitiert nach Rasch 2022:27). In der ersten Zeit der Kommerzialisierung wurde das Internet vor allem von WorldCom und AOL beeinflusst, in jüngerer Zeit von den Internetgiganten Alphabet (Google), Amazon, Apple, Facebook und Microsoft auf der Nord(west)-Hemisphäre und in anderen Weltregionen von Alibaba, Baidu und Tencent aus China (vgl. Hepp 2021:46). 2021 gab es laut Statista (2021) weltweit 4,9 Mrd. Internet-Nutzer:innen; allein in Asien waren es 2,76 Mrd. und in China 903,6 Mio. Die Region mit den zweitmeisten Internetnutzern war Europa mit etwa 737 Mio. Onlinern. In Nordamerika wurde die Zahl der Internet-Nutzer:innen auf rund 348 Mio. geschätzt. 2022 gab es schätzungsweise auf der ganzen Welt 1,83 Mrd. Webseiten (vgl. vpnMentor 2022) – bei einer Weltbevölkerung von knapp 8 Mrd. Menschen. 2015 machte das Streaming 63 % des Internetverkehrs aus (vgl. Sühlmann-Faul und Rammler 2018:47), 2019 waren es 61 % (vgl. dazu Abb. 2.1). Manuel Castells (2011:25) beschrieb schon vor über zehn Jahren die Welt als «Netzwerk-Gesellschaft». Das bedeute zwar nicht, dass jeder Mensch in diese Netzwerke eingebunden sei, aber jeder sei von den Prozessen betroffen, die sich in den globalen Netzwerken abspielen und welche die soziale Struktur der Menschheit bildeten. Gleichzeitig diffundiere die Netzwerkgesellschaft teils stärker, teils schwächer auf dem gesamten Planeten und wirke in die bereits bestehenden Orte, Kulturen, Organisationen und Institutionen hinein, die noch immer den größten Teil des Lebensumfelds der Menschen ausmachten (vgl. Castells 2011:25). Dabei ist die ungleichmäßige Globalisierung der Netzgesellschaft ein wichtiges Merkmal der gegenwärtigen globalen sozialen Struktur.

2.2

Internet

13

Verteilung des weltweiten Down-Stream-Traffics 2019 0.4 4.2

2.6 1.6 1.6 1.4

6.1 8.1

60.6 13.1

Video-Streaming

Web

Gaming

Social

File Sharing

Market Place

Sicherheit & VPN

Messaging

Cloud

Audio-Streaming

Abb. 2.1 Aufteilung des weltweiten Internet-Traffics 2019 nach Diensten. (Quelle: The Sandvine. The global Internet Phenomena Report. Eigene Darstellung. https://de.statista.com/infografik/ 21188/zusammensetzung-des-weltweiten-downstream-internet-traffics/ (Zugriff 29.10.2022))

Eine andere Frage ist, was geschieht, wenn plötzlich kein Internet mehr verfügbar ist. Das war während den wochenlangen Protesten im Iran der Fall, als das Regime das Netz blockierte. Ein junger Physiker berichtete, welche Auswirkungen die Internetsperre für ihn hatte. Seine Forschungstätigkeit wurde durch die Internetsperren verunmöglicht, er konnte an keinem der wöchentlichen Zoom-Meetings mehr teilnehmen, auch die sozialen Netzwerke, Skype und WhatsApp waren blockiert (vgl. Föry 2022:6). Gleichzeitig versuchte das Regime die Bevölkerung mit falschen VPN-Apps zu täuschen. Das Internet wurde täglich zwischen 15 und 24 Uhr abgeschaltet. «Mein Arbeitsalltag hat sich … komplett geändert. Ich muss um Mitternacht wach sein, um E-Mails zu checken und Forschungsprojekte weiterzuführen. Es ist wahnsinnig stressig» meinte der betreffende Physiker (zitiert nach Föry 2022:6). Viele Firmen, die ihre Geschäfte digital abwickeln, litten unter den Internet-Sperren. Briefe mussten wieder von Hand geschrieben werden. Der chinesischen Regierung gelang und gelingt es weitgehend, den Internetverkehr mit dem Ausland zu kontrollieren und gegebenenfalls zu unterbrechen. Im Rahmen des Projekts «Goldenes Schutzschild» wurden nicht nur die persönlichen Daten aller Chinesen

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2 Die Geschichte der Digitalisierung

digitalisiert, sondern auch mit dem «Great Firewall of China» eine konsequente Filterung des grenzüberschreitenden Daten- und Internetverkehrs eingerichtet (vgl. Sander 2022). Das war und ist deshalb möglich, weil China laut der Internationalen Fernmeldeunion nur durch drei so genannte Internet Exchange Points mit dem Ausland verbunden ist – mit ebenso vielen wie die kleine Schweiz. Zum Vergleich: Australien ist mit 97 Internet Exchange Points mit dem Ausland verbunden (vgl. Sander 2022). Die chinesische Regierung kann auch einzelne URL oder Internet-Protokoll-Adressen (IP) sperren. Jedem Computer ist eine IP-Adresse zugeordnet. Laut Internet-Aktivisten sperrte die chinesische Regierung im Herbst 2022 rund ein Viertel der weltweit wichtigsten Domains, nämlich 198 von 827 (vgl. Sander 2022). Ganz oben auf den gesperrten Domains waren Google, YouTube und Facebook. Im Herbst 2021 entfernten unter Druck der russischen Behörden Google und Apple zu den Duma-Wahlen bei russischen Nutzern die Wahlempfehlungs-App des Teams um den inhaftierten Oppositionspolitiker Alexei Nawalny aus ihrem Angebot. Einen Tag später ließ Pawel Durow, der Gründer des Massenger-Dienstes Telegram, den Bot blockieren, mit dem Wähler die entsprechenden Informationen zu ihrem Wahlkreis hatten abfragen können. Wenig später traf es die entsprechenden Google-Dokumente und ein YouTube-Video. Damit war klar: «Google, Apple and Telegram waren nicht länger bereit, Freiheitsrechte im Internet zu verteidigen und sich dem russischen Staat zu widersetzen» (vgl. Ackeret 2021:4). Nawalny ist erst durch seine über YouTube verbreiteten Videos bekannt geworden. Dabei geht es aus russischer Sicht auch um die ausländische Einmischung in die inneren Angelegenheiten. So hieß es aus dem russischen Außenministerium, die Nawalny-App sei unter Einfluss des Pentagon entwickelt worden, was einen unzulänglichen Eingriff in den russischen Wahlkampf bedeute. Dabei engen auf der einen Seite Gesetzgeber den Freiraum amerikanischer IT-Firmen ein, und anderseits zeigte Roskomnadsor die Wirksamkeit neuer Möglichkeiten auf: Weil Twitter angeblich Forderungen, kinderpornografische Inhalte zu löschen, nicht nachgekommen war, verlangsamten die russischen Behörden mittels ihrer DPI-Geräte den Kurzmitteilungsdienst. Inzwischen ist dies teilweise wieder aufgehoben worden – allerdings würde dieses Instrument wieder eingesetzt, wäre eine der beliebtesten und wichtigsten Plattformen praktisch paralysiert (vgl. Ackeret 2021:4). Gleichzeitig geht Roskomnadsor gegen Verschlüsselungs-Software und gegen Software zur Umgehung von Blockierungen vor, sogenannte virtuelle private Netzwerke (VPN). Diese wurden in Russland verboten, sind aber weiterhin in Gebrauch. Allerdings funktionieren einige der populärsten VPN-Anbietern nicht mehr zuverlässig, weil die Zensurbehörde deren Protokolle blockiert. Dadurch sollen Nutzer zum einheimischen Produkt Rutube gelockt werden, wo sie besser unter Kontrolle sind. Auch die Verbreitung von Inhalten in sozialen Netzwerken wird immer heikler – selbst für Posts, die Jahre zurückliegen, können Nutzer nachträglich belangt werden. IT-Fachleute, Kommentatoren und Oppositionelle sehen auf die Internet-Freiheit schwere Zeiten zukommen (vgl. Ackeret 2021:4).

2.2

Internet

15

Doch auch im Westen sind immer mehr Daten online – und greifbar. In der Landwirtschaft, im Bau, im Detailhandel, im Energiesektor und im Mobilitätsbereich greifen die Unternehmen immer mehr auf Sachdaten zurück, die von mobilen Endgeräten und IT-Systemen geliefert werden (vgl. Schneider et al. 2021:39). In einer Befragung von 700 Unternehmen aus 14 Branchen sowie einem Dutzend Sachdatenexperten ergab sich folgendes Bild: Es gibt drei Typen von Sachdatenmärkten: Erstens «Primärmärkte», etwa in der Landwirtschaft erzeugte Daten wie über «smarte» Traktoren oder Melkmaschinen, zweitens Verkauf dieser Daten an «Sekundärmärkte wie Finanzunternehmen, und drittens diejenigen Daten davon, welche allen frei zur Verfügung stehen, so genannte «Open Data» (vgl. Schneider et al. 2021:39). Gemäß der Umfrage sind etwa knapp ein Drittel der Daten der Schweizer Unternehmen frei zugänglich. Dabei sind Unternehmen statt an Daten vor allem an den daraus abgeleiteten Erkenntnissen Dritter interessiert. Entsprechend gibt es Anreize an die Unternehmen, ihre Sachdaten an andere Unternehmen zu verkaufen. Insbesondere auf Sekundärmärkten ist ein erschwerter oder verweigerter Sachdatenzugang eher selten. Solche Sekundärmärkte gibt es im Finanzbereich, wo Datenaggregatoren wie Bloomberg, Reuters oder SIX Rohdaten von Wertpapier- oder anderen Börsen zu Datenfeeds verschmelzen und daraus unterschiedliche Produkte für Finanzdienstleister erstellen (vgl. Schneider et al. 2021:39 f.). Dieser Prozess ist sehr unterschiedlich: Geräte des Internets der Dinge in der Maschinenindustrie sind sehr breit fortgeschritten, während es im Gesundheitsbereich weniger als 2 % sind. In der Schweiz ist der Datenzugang für Dritte durchsetzbar, wenn «essential data» im Sinne einer «wesentlichen Einrichtung» vorliegen. Drei Bedingungen müssen dafür erfüllt sein: Erstens ein marktbeherrschendes Unternehmen verfügt über die Möglichkeit, den Zugang zu Daten zu gewähren, verweigert diesen aber gegenüber Dritten; zweitens Wettbewerb in den auf diesen Daten aufbauenden Dienstleistungen ist ohne Zugang zu diesen Daten nicht möglich, und drittens fehlt für Dritte die Möglichkeit, selbst eine vergleichbare Datenbasis zu schaffen (vgl. Schneider et al. 2021:41). Im Februar 2021 berichtete die Neue Zürcher Zeitung vom einem umfassenden Cyberangriff auf die USA. Mittels eines kompromittierenden Software-Upgrades hatte sich ein ausländischer Akteur Zugriff zu einer Vielzahl sensibler Daten verschafft. Über 18 000 Organisationen innerhalb und außerhalb der Regierung hatten diese Software installiert (vgl. Meyer und Stauffacher 2021:18). Bis heute sind drei offensichtliche Haupttypen von Schadens-Software zu identifizieren: Eine Computer Network Exploitation (CNE) ist eine Aktion, die in fremde Computersysteme eindringt und ihnen Daten entnimmt, ohne dass die Software-Betreiber es bemerken. Eine Computer Network Attack (CNA) bezwecket, Daten im System zu stören, zu beschädigen der gar zu löschen. Und schließlich dienen Informationsoperationen (IO) dazu, die Meinung von Bürgerinnen und Bürgern eines Staates im Interesse eines angreifenden (staatlichen) Akteurs zu manipulieren oder zu verändern (vgl. Meyer und Stauffacher 2021:18). Immerhin hat man sich seit 2015 bei der UNO auf elf freiwillige Verhaltensnormen geeinigt, insbesondere um öffentliche Infrastrukturen zu schützen, angegriffen zu werden. Bezüglich CNE ist weniger zu

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2 Die Geschichte der Digitalisierung

erwarten – ein von der US- und der chinesischen Regierung unterzeichnetes Abkommen zur Einschränkung von Cyber-Diebstahl wurde nach Zunahme der Spannungen nicht weitergeführt (vgl. Meyer und Stauffacher 2021:18).

2.3

Technikgeschichtlicher Hintergrund der künstlichen Intelligenz (KI)

Im Jahr 1936 hatte Alan Turing das Grundmodell eines universell einsetzbaren Computers entwickelt, der auf der Grundlage klar definierter Rechenvorschriften – sogenannter Algorithmen – aus einem codierten Input einen bestimmten Output generierte. 1941 bauten Konrad Zuse und Helmut Schreyer eine erste programmierbare digitale Rechenmaschine, die Zuse Z3 (vgl. Bormann 2021:44). Der Begriff der künstlichen Intelligenz (KI) verbreitete sich 1956 im Umfeld der Dartmouth-Konferenz als Sammelbegriff für Maschinenoperationen, die als «intelligent» bezeichnet werden würden, wenn sie von Menschen stammten. Nach Rückschlägen in den 1970er und 1980er Jahren kam es zu einem richtigen «KI-Winter» (Bormann 2021:45), und man konzentrierte sich nunmehr auf weniger ambitionierte Ziele in der praktischen Anwendung einzelner Bereiche. Fortschritte in den Neurowissenschaften, der Bau immer leistungsfähigerer Computer und ihre Durchdringung des Alltags und die Entwicklung des Internets führten zu einer enormen Steigerung der Vernetzung und Bewirtschaftung riesiger Datenmengen und zur Entstehung von komplexen Netzwerken (vgl. Bormann 2021:45 f.). Big Data im Sinne von großen Datenmengen zeichnet sich laut Petersen (2020:16) durch drei zentrale Eigenschaften aus: erstens durch die große Menge (volume) an Daten, zweitens, dass sie aus unterschiedlichen, nicht standardisierten Daten bestehen (variety), und drittens durch die hohe Geschwindigkeit der Analyse (velocity). Damit übersteigt der Umgang mit Big Data die herkömmlichen Datenbank-Softwaretools, allerdings ist die Grenze zwischen traditionellen Daten, also einer herkömmlichen Datenverarbeitung und Big Data fließend (vgl. Petersen 2020:16). Big Data besteht aus sogenannten Verbindungs- oder Metadaten, z. B. TelefonNummern, IP-Adressen von Computern und Verbindungszeiten usw. Wer über die Metadaten verfügt, weiß, wer von wo aus, zu welchem Zeitpunkt und mit wem kommuniziert hat (vgl. Wohanka 2017:64). Wer eine Webseite, ein Facebook-Profil, eine E-Mail-Adresse, eine Telefonnummer hat, kann zum Zielobjekt werden, oder wer mit anderen E-Mail-Adressen oder Telefonnummern kommuniziert (vgl. Wohanka 2017:64). Mit Big-Data-Forschung ist meist die Forschung um die Nutzung großer Datenmengen gemeint (vgl. Kinder-Kurlanda 2017:22), die durch zahlreiche Digitalisierungserfahren zur Verfügung stehen. Dazu gehören unter anderem nutzergenerierte Inhalte, etwa durch Social Media, wie zum Beispiel von Twitter oder Facebook. Dabei kommen vor allem zwei Methoden zum Einsatz: Solche, die Inhalte analysieren und solche, die «Netzwerke oder Beziehungen zwischen Inhalten oder Nutzern untersuchen» (Kinder-Kurlanda

2.3 Technikgeschichtlicher Hintergrund ...

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2017:22). Inhaltsanalysen basieren meist auf Worthäufigkeiten, in der «Sentiment Analysis» werden durch Textanalysen Stimmungsbilder – etwa für Wahlergebnisse – abgebildet, und in der «Event Detection» wird mittels Algorithmen das Auftreten von Ereignissen aufgezeigt, zum Beispiel das Auftreten von Naturkatastrophen (vgl. Kinder-Kurlanda 2017:221). Bei Netzwerkanalysen stehen nicht die Inhalte, sondern die Strukturen von Interaktionen im Zentrum. So wird versucht, «Muster und Zusammenhänge zwischen Inhalt und Nutzen verschiedener Social-Media-Dienste zu finden und zu analysieren» (Kinder-Kurlanda 2017:221). Eng verbunden mit Big Data ist das Konzept der Künstlichen Intelligenz (KI), ja, nach Ansicht von Petersen (2020:17) bilden Big Data und KI letztlich eine Einheit. Denn ohne KI sind große Mengen nicht standardisierter Daten nicht verarbeitbar und anderseits macht eine KI ohne Datensätze, die sie bearbeiten kann, wenig Sinn (vgl. Petersen 2020:17). Auf der einen Seite ist die Automatisierung von Routineaufgaben längst im Gange, während anderseits Techniken des maschinellen Lernens unsere beruflichen Tätigkeiten massiv verändern werden – aber sie werden uns als Arbeitskraft nicht überflüssig machen. «Mit anderen Worten: Beim Erstellen von Prognosen ersetzen sie den Menschen, dort aber, wo menschliches Urteilsvermögen gefragt ist, ergänzen sie ihn» (Joshi et al. 2019:11). Während maschinelles Lernen vor allem auf hohe Prognosequalität ausgerichtet ist, «wollen wir bei einem Entscheid verstehen, warum eine Prognose eine hohe oder eine geringe Wahrscheinlichkeit aufweist und welche Faktoren das Ergebnis beeinflussen» (Joshi et al. 2019:11). Allerdings wird in der Praxis und durch Unternehmen der Unterschied zwischen dem Erkennen eines Risikos und der Ausarbeitung der besten Maßnahme oft vernachlässigt (vgl. Joshi et al. 2019:11). So kann ein KI-Tool zwar oft eine Marketingkampagne optimieren, nicht aber den kausalen Effekt der Werbung – sie unterscheidet nicht, «ob jene Konsumierenden, die mit einer hohen Klick-Wahrscheinlichkeit verzeichnet sind, auch diejenigen sind, die ihre Produkte auch kaufen werden. Unter Umständen wendet sich KI also an eine falsche Zielgruppe» (Joshi et al. 2019:11). Heute wird zwischen starker und schwacher, enger und breiter sowie spezifischer und allgemeiner KI unterschieden. Arten von KI «Informatiker:innen verstehen unter ,enger‘ (oder ,spezifischer’) KI zumeist solche digitalen Systeme, die effektive Problemlösungen in einzelnen Bereichen des Lernens, der Anpassung oder der Mustererkennung unterstützen, wobei Sprachverarbeitungssysteme insofern eine gewisse Sonderstellung einnehmen, als sie mit der Kommunikation zwar nur eine einzige Domäne intelligenten Verhaltens betreffen, aber aufgrund der Vielzahl möglicher Sprachgegenstände eine sektorielle Einnischung bereits überwinden. Demgegenüber wäre ,breite‘ oder ,generelle‘ KI erst dort gegeben, wo ein digitales System in allen Domänen intelligenten Verhaltens ein Leistungsniveau erreicht, das der menschlichen Intelligenz mindestens ebenbürtig ist. Die vor allem außerhalb der Informatik populäre Redeweise von ,schwacher’ KI dient zur Bezeichnung der gegenwärtig schon existenten Formen einer maschinellen Simulation intelligenter Fähigkeiten, die nach Einschätzung der meisten Diskussionsteilnehmer:innen ungeachtet ihrer zunehmenden Komplexität kategorial noch immer von menschlichen Denk-,

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2 Die Geschichte der Digitalisierung Wahrnehmungs- und Entscheidungsvorgängen unterschieden werden können. Demgegenüber bezieht sich der Begriff der ,starken’ KI auf das ultimative Ziel der digitalen Revolution, das dann erreicht wäre, wenn es gelänge, IT-Systeme im Range ,künstlicher Personen‘ zu schaffen, deren Fähigkeiten nicht bei der bloßen Simulation intelligenten menschlichen Verhaltens stehenbleiben, sondern dieses noch übertreffen und zudem echtes Bewusstsein und Verständnis der eigenen Operationen auf einem bislang unbekannten Level der kognitiven Leistungsfähigkeit besitzen» (Bormann 2021:46 f.).

Die Meinungen darüber, ob eine breite oder starke KI überhaupt möglich ist, gehen weit auseinander – aber es besteht weitgehend Konsens darüber, dass gegenwärtige KI-Systeme noch weit davon entfernt sind (vgl. Bormann 2021:47). Auf jeden Fall verfügen an den Universitäten die Chatbots der neuesten Generation – also weiterentwickelte KI – bereits über Allgemein- und Fachwissen eines durchschnittlichen Masterabsolventen (vgl. Schneider 2023:21). Entsprechend besteht die Notwendigkeit, «dass sich der Lehr- und Prüfungsbetrieb radikal umstellen muss» (vgl. Schneider 2023:21). Denn diese Chatbots tun nichts anderes, «als den vorhandenen Reichtum und Müll menschlicher Kunst und Kommunikation auf Kommando umzuschreiben» (vgl. Schneider 2023:21) – gestützt auf das gigantische Datenmaterial, das sich über die Jahre angesammelt hat. Bormann (2021:51) hat darauf hingewiesen, dass in der KI-Debatte eine weit verbreitete Tendenz besteht, im Anschluss an den Turing-Test4 äußerliche Ununterscheidbarkeit von menschlicher und maschineller Performanz pauschal mit der Annahme von Intelligenz und Denkvermögen des Computers gleichzusetzen, wodurch die Differenz zwischen Simulans und Simulandum eingeebnet und die menschliche Vernunft tendenziell für maschinell substituierbar gehalten werde. Bormann führt diese Position auf bestimmte theoretische Grundannahmen insbesondere behavioristischer und funktionalistischer Art zurück. Brödner (2021:71) kommt sogar aufgrund der äußerst unterschiedlichen Definitionen von Künstlicher Intelligenz zum Schluss, dass «niemand wissen kann, was ein ,KI‘System eigentlich ist, paradoxerweise auch diejenigen nicht, die ständig davon reden». Dabei durchlaufen KI-Prozesse laut Brödner (2021:74) folgende Schritte der Reduktion, Abstraktion und Formalisierung: Semiotisierung als präzise Beschreibung einer sozialen Praxis mittels Zeichen, wodurch ein Abbild der Wirklichkeit entsteht, Formalisierung als Abstraktion von situations- und kontextgebundenen Bedeutungen auf sinnfreie Standardzeichen und -operationen, Algorithmisierung als Überführung von Gegenständen und Abläufen des formalen Modells in auto-operational ausführbare Prozeduren in Form von Daten und berechenbaren Funktionen (Algorithmen). Am 21. April 2021 hat die EU-Kommission einen Gesetzesvorschlag vorgelegt, um die Verwendung von Künstlicher Intelligenz zu regulieren. Die EU hofft dadurch 4 Der Turing-Test bezeichnet ein Prüfverfahren, wonach dann und nur dann von «maschineller Intel-

ligenz» gesprochen werden kann, wenn eine menschliche Beobachtungsperson die Operationen der Maschine nicht mehr von denen eines Menschen unterscheiden kann (vgl. Bormann 2021:44 f.).

2.3 Technikgeschichtlicher Hintergrund ...

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Standards zu setzen, an denen sich andere Weltregionen anpassen müssen. Auch in den Vereinigten Staaten und in China machen sich Menschen Gedanken zur Sicherheit und Ethik von künstlicher Intelligenz. Als klar wurde, dass die EU sehr bald mit einem KI-Gesetzesvorschlag vorpreschen würde, veröffentlichte die amerikanische Verbraucherschutz- und Wettbewerbsbehörde Federal Trade Commission (FTC) einen Blog-Pot, der erklärte, wie die Behörden künftig Hersteller von KI beurteilen würden (vgl. Sander und Lander 2021:23). Daten, mit denen Algorithmen trainiert werden, dürften keine Verzerrungen, keine diskriminierenden «bias» besitzen, Hersteller müssen ihre Herangehensweise transparent machen und offenlegen, welche Verzerrungen ihre Produkte möglicherweise trotzdem aufweisen können (vgl. Sander und Langer 2021:23). Allerdings erlitt die Federal Trade Commission eine schwere Niederlage vor dem Supreme Court: Das Verfassungsgericht hielt in einem Urteil fest, dass die Aufsichtsbehörde keine Kompetenz hat, von Firmen rechtswidrig erhaltene Profite zurückzuverlangen. Das erschwert es den Behörden massiv, ihre Vorgabe umzusetzen. Entsprechend forderten die Kommissionäre der Behörde den US-Kongress inzwischen auf, die Kompetenzen der FTC auf dem Rechtsweg zu erweitern – allerdings war fraglich, ob der Vorstoß aufgrund der politischen Spaltung im Kongress durchkam. Auch die amerikanische Gesundheitsbehörde, die Food and Drug Administration (FDA) hat die Notwendigkeit festgestellt, die KI zu regulieren (vgl. Sander und Langer 2021:23). Auch in China gibt es Diskussionen um den Regulierungsbedarf. So erteilt ein Roboter Rechtshilfe, eine Spracherkennungssoftware statt Stenografen führen die Protokolle und der Avatar eines «KI-Richters» befragt in einem Vorgespräch die Prozessbeteiligten per Video-Chat (vgl. Sander und Langer 2021:23). In China ist noch nicht klar, wie die KI-Regeln und Gesetze aussehen werden – auf jeden Fall wollte China bis 2030 bei KI weltweit führend sein – und treibende Kraft bei der Definition ethischer Normen und Standards. 2020 bestätigte dies der Partei- und Staatschef Xi Jinping als Teil des Plans «China Standard 2035». Die chinesischen Vorschläge lesen sich ähnlich wie diejenigen in Demokratien: KI soll den Menschen dienen, sie soll Menschenrechte und Privatsphäre respektieren, verantwortlich und kontrolliert eingesetzt werden und ihre Funktionsweise soll transparent gemacht werden. Doch darunter dürfte die chinesische Regierung andere Dinge verstehen als der Westen: So haben in China «soziale Verantwortung» und «Gruppenbeziehungen» größeres Gewicht als «individualistische Rechte» (vgl. Sander und Langer 2021:23). Eine lange diskutierte Frage war, ob mentale Zustände mit neuronalen Zuständen identisch seien und auf diese reduziert werden könnten. Während die These der multiplen Realisierung nicht ausschloss, dass auch Computern mentale Zustände zugeschrieben werden könnten, obwohl sie keine biologischen Strukturen aufwiesen, setzte der funktionalistische Ansatz auf funktionale Aspekte der KI. Dabei wurde der menschliche Geist wie eine Rechenmaschine verstanden, deren innere Zustände allein von ihrer Funktion im Sinne einer Input–Output-Verknüpfung verstanden wurde, sozusagen als Getränkeautomat (vgl. Bormann 2021:53). Das funktionalistische Verständnis von KI fand anfänglich

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2 Die Geschichte der Digitalisierung

viele Befürworter. Doch es wurden auch gewichtige Einwände vorgebracht, von denen vor allem drei bedeutsam sind: das Qualia-Argument, das Chinese-Room-Argument und das Leiblichkeitsargument (vgl. Bormann 2021:53). Im Wesentlichen läuft das QualiaArgument darauf hinaus, dass nur ähnliche Wesen eine ähnliche Qualität des Erlebens und damit auch eine ähnliche Empfindungsqualität oder ein ähnliches Bewusstsein haben können – so sei bereits eine Fledermaus infolge spezifischer sensorischer Besonderheiten – wie z. B. Echolotung – ganz anders strukturiert als ein Mensch, und damit auch ihre Empfindungs- und Bewusstseinsstruktur. Die funktionalistische Mensch-ComputerAnalogie basiere deshalb auf einer fragwürdigen Reduktion – wenn schon über ein mögliches Bewusstsein einer anderen biologischen Spezies prinzipiell über die Grenzen der Spezies hinaus nichts ausgesagt werden kann, ist das noch weniger zwischen Menschen und Maschinen möglich. Das Chinese-Room-Argument geht von einer Situation aus, in der eine Person in einem abgeschlossenen Zimmer sitzt und von Menschen chinesischer Muttersprache von außerhalb des Zimmers Fragen in Form von Karten mit chinesischen Schriftzeichen hereingereicht bekommt. Die Person im Zimmer besitzt ein Regelbuch mit Anweisungen, wie die auf den Karten stehenden Schriftzeichen anderen im Zimmer befindlichen Karten zuzuordnen sind, und kann daher die richtigen Karten mit den passenden Schriftzeichen identifizieren und nach außen geben. Die chinesischen Beobachter interpretieren die Antwortkarten als angemessene Antworten auf ihre Fragen. Doch diese rein formale Arbeitsweise bedeutet mitnichten, dass die Versuchsperson die Bedeutung oder den semantischen Inhalt der Fragen verstanden hat. Genau das gleiche gilt etwa für Sprachübersetzungs-KIs, die zwar heute hervorragende Sprachübersetzungen abliefern, aber deshalb noch lange nicht die Bedeutung des Textes verstanden haben. Entsprechend könne eine KI prinzipiell nicht über die Simulation geistiger Prozesse hinauskommen (vgl. Bormann 2021:56 f.). Das Leiblichkeits-Argument schließlich zielt darauf ab, dass KI-Systeme weder eine «praktische Vernunft» besitzen noch zu «Handlungen» fähig sind, also keine «handlungsfähigen Entitäten» seien. Denn die Vernunft könne nicht von ihrer Verleiblichung isoliert werden, weshalb KI keinesfalls als Ausdruck der Aufhebung von kategorialen Unterschieden zwischen Mensch und Maschine angesehen werden könnten. Die Frage, ob eine KI oder ein Computer «Denkfähigkeit» besitzen kann, beantwortet Klöcker (2020:21) wie folgt: Ein Mensch kann im Denken logische Regeln befolgen. Er kann Fehler machen, besitzt aber auch die Fähigkeit, die Fehler zu erkennen und sich die Regeln zu vergegenwärtigen – also über die Regeln nachzudenken. So kann der Mensch beim Rechnen Fehler machen, diese erkennen und bei einem nächsten Rechen-Versuch diese Fehler vermeiden. Demgegenüber beschränkt sich das «Denken» des Computers auf die Befolgung logischer Regeln. Aber die denkerische Meta-Ebene, also «mit Abstand zu

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prüfen, ob die Regeln der Aufgabe gemäß im Programm fehlerfrei enthalten sind, kann er nicht einnehmen. Er weiß nichts von seiner Aufgabe» (Klöcker 2020:21)5 . Entsprechend lautet die Antwort auf die Frage, ob Computer intelligent handeln können, nach Ansicht von Klöcker (2020:164) eindeutig nein. Der Computer hat nicht die Fähigkeit zur freien Entscheidung und er ist nicht in der Lage, den Anfang einer Kausalkette festzulegen. Denn intelligent handeln bedeute – immer nach Klöcker (2020:164) –, den richtigen Weg auf ein Ziel hin aus unbegrenzt vielen Möglichkeiten auszuwählen und nach jedem Schritt zu überprüfen, ob dieser Weg zum Ziel führe. Timnit Gebru ist eine renommierte Forscherin, die sich mit den in die KI-Forschung eingebauten Ungerechtigkeiten und Vorurteile befasst hat. Sie war Mitbegründerin von «Black is KI», einer Organisation für schwarze KI-Wissenschaftler:innen. Sie war vor ihrer Zeit bei Google an einer Studie beteiligt, «die zeigt, dass kommerzielle Gesichtserkennungssysteme beim Erkennen schwarzer Frauen viel öfter danebenlagen als bei Weißen und bei Männern, weil erstere Gruppe in den Datensätzen unterrepräsentiert ist, mit denen die Programme trainiert werden» (Thier 2021:17). Der Abgang von Gebru bei Google hat sich für diese Organisation nun als Eigentor erwiesen. Und Gebrus empörte Kommentare, in denen sie Google auch Rassismus vorwarf, lösten vor allem auf Twitter eine böse Reaktion aus. Vor allem wenn schlechte Datensätze, die Vorurteile bestärken, als wesentlich für Algorithmen verwendet werden, lösen sie negative Reaktionen aus – und umgekehrt, je diverser die Zusammensetzung einer Gruppe ist, d. h. je mehr Menschen von unterschiedlichen Ethnien mitarbeiten, von verschiedenem Geschlecht, sozialem Hintergrund oder unterschiedlicher Altersgruppe, desto eher wird die Einseitigkeit entdeckt (vgl. Thier 2021:17). Um ethnische Dominanz oder Einseitigkeit zu durchbrechen, gibt es verschiedene Methoden, etwa unabhängige externe Auditoren, welche Algorithmen untersuchen, oder eine finanzielle Belohnung als Anreiz, eingebaute Vorurteile ausfindig zu machen (vgl. Thier 2021:17). Auf jeden Fall braucht es in der Gesellschaft «eine breite Diskussion darüber, … wie wir die Kontrolle von KI und Algorithmen gestalten wollen» (Thier 2021:17). Bereits heute kommen in verschiedenen Bereichen und Handlungsfeldern KI-Systeme als Entscheidungsassistenzsysteme zum Einsatz – Bormann (2021:62) nennt in diesem Zusammenhang die Vergabe von Krediten, die Einstellungspraxis großer Unternehmen und die Abschätzung der Sozialprognose von Straftätern –, die zwar Vorteile, aber auch Gefahren beinhalten. Ein Beispiel habe ich vor kurzem selber erlebt: Beim Beantragen einer neuen Kreditkarte lautete die missverständlich formulierte Frage der betreffenden 5 Natürlich lässt sich vorstellen, dass es irgendeinmal Computer oder KI geben wird, welche ihr eige-

nes Programm überprüfen, überdenken und vielleicht ändern können. Doch diese Fähigkeit müsste dem Computer entweder bereits einprogrammiert sein oder er müsste sie selbst entwickelt haben. Im ersten Fall ergibt sich daraus ein regressus ad infinitum, weil die Selbstdiagnose bereits einprogrammiert sein müsste, und diese selbst wiederum usw. Im zweiten Fall besäße der Computer oder die KI eine eigenständige Denkfähigkeit, welche Autonomie (Selbstentscheidung), Selbsterkenntnis und eine Wahrnehmung dessen, was er selbst ist und tut, einschließen würde. Das ist aber meilenweit von heutigen Computersystemen entfernt.

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2 Die Geschichte der Digitalisierung

Bank in der Schweiz, ob der Antragsteller allein über das angegebene Einkommen und Vermögen verfügen könne. Weil meine Frau und ich uns gegenseitige Vollmachten für Vermögen und Einkommen ausgestellt haben, beantwortete ich die Frage wahrheitsgemäß mit nein. Daraufhin lehnte eine automatisierte E-Mail – die übrigens gleichzeitig mit der automatischen E-Mail zur Bestätigung des Kartenantrags eintraf – den Antrag kommentarlos ab6 . Und das nur, weil derjenige, der die Frage formuliert hatte, nicht alle möglichen Antwortvarianten bedacht hatte – übrigens ein verbreitetes Phänomen bei der Formulierung von Fragerastern nicht nur durch IT-Leute, sondern auch in der empirischen Sozialforschung. Deshalb ist es in der empirischen Sozialforschung üblich, solche Fragen durch entsprechende Pretests herauszufiltern. Das wird aber bei der Erstellung von Software immer weniger gemacht, weil zu teuer und – wie mir ein IT-Spezialist sagte – die Austestung der IT-Tools durch die Anwendung in der Praxis erfolge. Das hat zum Beispiel in der Schweiz schon in verschiedenen Kantonen zu großem Ärger bei der Einführung neuer Steuersoftware geführt – so etwa im Kanton Luzern. Doch wie steht es um «ethische KI»? In einer systematischen Analyse von 84 Dokumenten zu ethischer KI haben Ethiker:innen (vgl. Jobin 2020:9) insgesamt elf ethische Prinzipien identifiziert – aber in den untersuchten Dokumenten «gibt es überraschenderweise kein einziges gemeinsames ethisches Prinzip». Allerdings wurden fünf von ihnen in mehr als der Hälfte der untersuchten Dokumenten erwähnt: Transparenz, Gerechtigkeit und Fairness, das Verhindern von Schaden, Verantwortung sowie Datenschutz und Privatsphäre. Die insgesamt elf untersuchten Prinzipien in den Richtlinien wurden jedoch nicht nur unterschiedlich interpretiert, sondern teilweise auch widersprüchlich. Während einige Autoren das Vertrauen in KI fördern wollen, betonen andere das Gegenteil, nämlich die Gefahr, KI allzu sehr zu vertrauen. Dazu kommt, dass KI ein «Sammelbegriff für sehr verschiedene Techniken» ist (vgl. Jobin 2020:9), und die einzelnen Organisationen und Sektoren setzen sehr verschiedene Schwerpunkte. Nachhaltigkeit wird gerade mal in einem Sechstel der ethischen Richtlinien erwähnt, und Menschenwürde und Solidarität noch seltener (vgl. Jobin 2020:9). Das erstaunt auch deshalb, weil zwei Hauptherausforderungen rund um die KI genau das betreffen: Einerseits Energiekonsum und Klimawandel und anderseits den Jobverlust und mit der Umstrukturierung der Arbeitsmärkte verbundene Ängste: «Vom ethischen Standpunkt aus gesehen ist diese Marginalisierung von Nachhaltigkeit, Menschenwürde und Solidarität bedenklich» (Jobin 2020:9). Insgesamt ist eine ethische KI «nicht bloss eine technische Angelegenheit, sondern es geht vielmehr auch um gesellschaftliche und politische Strukturen und Prozesse» (Jobin 2020:9). Der Deutsche Ethikrat (vgl. Schmoll 2023) hat auf Bitte des Deutschen Bundestages vom Oktober 2020 eine multidisziplinäre Stellungnahme erarbeitet. Der Grundtenor liegt 6 Böswillig gesagt könnte man Kundinnen und Kunden von Banken empfehlen, beim Ausfüllen

eines Kreditkartenantrags und vielleicht auch bei Kreditanträgen zu schummeln, um einseitig programmierte KI-Systeme auszutricksen… Ich habe übrigens den Kreditkartenantrag noch ein zweites Mal eingereicht, und die entsprechende Frage mit nein beantwortet – und da ging der Antrag problemlos durch…

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Blockchain-Technologie

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dabei auf folgender Aussage: «Der Einsatz von KI muss menschliche Entfaltung erweitern und darf sie nicht vermindern», so die Vorsitzende des Ethikrates, die Medizinethikerin Alena Buyx. Außerdem dürfe KI nicht den Menschen ersetzen. Während sich ein Teil des Ethikrates im Unterricht einen künftigen Einsatz von KI vorstellen kann, befürwortet ein anderer Teil des Ethikrates ein Verbot von Technologien zu Aufmerksamkeitsmonitoring und Affekterkennung in Klassenzimmern (vgl. Schmoll 2023). Für die öffentliche Kommunikation empfiehlt der Ethikrat weitergehende Regeln für Onlineplattformen in Bezug auf die Auswahl und die Moderation von Inhalten sowie zur personalisierten Werbung und zum Datenhandel. Onlinemarketing und Datenhandel müssten besser reguliert werden: «Zu erwägen wäre, den privaten Social-Media-Angeboten im europäischen Raum eine digitale Kommunikationsstruktur in öffentlich-rechtlicher Verantwortung zur Seite zu stellen» (vgl. Schmoll 2023), so der Ethikrat. Allerdings hält der Ethikrat «pauschale Aussagen für oder gegen KI beziehungsweise ADM-Systeme (Algorithmic Decision Making) in der öffentlichen Verwaltung … für nicht sinnvoll» (Schmoll 2023).

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Blockchain-Technologie

Zentrale Datenbanken und zentrale Prozesssynchronisation gehen immer mit bestimmten Risiken einher. Dazu gehören Leistungsengpässe, Ausfallsicherheit, Authentizität und interne oder externe Angriffe auf die Integrität (vgl. Prinz et al. 2018:312). Demgegenüber funktionieren auf Blockchain-Technologie basierende Systeme wie Kryptowährungen anders. Transaktionen werden in einem Netzwerk über eine gemeinsame Konsensfindung zwischen den Netzwerkpartnern vorgenommen. Beliebige Zeichenfolgen werden in uniforme Codierungen überführt, wobei eine Übertragung unterschiedlicher Zeichenketten auf den gleichen Code ausgeschlossen ist (Kollisionsfreiheit). Nach der Konsensfindung werden die Transaktionen auf verschiedene Netzknoten verteilt und in Form unterschiedlicher Blöcke abgespeichert (Blockchain). Entsprechend können «Dokumente und Vermögenswerte … fälschungssicher uniform codiert und der Transfer zwischen Sendern und Empfängern als Transaktion in der Blockchain gespeichert werden. Die Speicherung der Transaktion ist irreversibel und nachvollziehbar basierend auf einer verteilten Konsensbildung und Verschlüsselung. Transaktionen werden in einem Peerto-Peer-Netzwerk (P2P) anstatt durch eine zentrale Autorität verifiziert. Smart Contracts bieten die Möglichkeit, komplexe Transaktionen und deren Randbedingungen zu beschreiben und auszuführen. Sie ermöglichen sowohl die Automatisierung einfacher Abläufe im Internet der Dinge als auch neue Governance-Modelle durch die Etablierung alternativer Organisationsformen» (Prinz et al. 2018:312). Laut Prinz et al. (2018:314) lassen sich Blockchains «vereinfacht als verteilte Datenbanken beschreiben, die durch die Teilnehmer im Netzwerk organisiert werden». Im Kunstmarkt ist Originalität eines der entscheidendsten Kriterien für die Unterscheidung von Kunst und Massenware. Dabei muss die Authentizität, also die Urheberschaft

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2 Die Geschichte der Digitalisierung

eines Werks klar sein. Wenn ein Kunstsammler ein digitales Werk als Non Fungible Token (NFT = nicht austauschbares Token) gekauft hat, ist dadurch völlige Transparenz in Bezug auf Authentizität und Eigentumsverhältnisse gesichert (vgl. Kaiser und Rio 2022:23). Nach dem Erwerb gibt der Käufer eine Codezeile ein, um auf das Werk zuzugreifen. Mit demselben Code kann er Zugriff auf das Echtheitszertifikat nehmen. Jeder Kauf wird in einem «Block» der Blockchain registriert und jeder Nutzer hat jederzeit Einblick in die aktuellen und vorangegangenen Eigentumsverhältnisse und in die Urheberschaft des NFTs. Heute ist das renommierte Auktionshaus Christie’s im Bereich der NFTs tätig (vgl. Kaiser und Rio 2022:23). Doch wo liegen dabei die Grenzen? Der anonyme Künstler Pak verkauft das Werk «The Merge» über die Onlineplattform Nifty Gateway. Im Dezember 2021 erwarben 28 983 Personen 312 686 Einheiten so genannter «digitaler Masse» für 91,8 Mio. US-Dollar, ohne dass der einzelne Käufer wusste, was er kaufte. Dies, weil zum Zeitpunkt des Verkaufs das Werk noch gar nicht existierte: «Erst nach Auktionsende erhält er ein NFT, das von einem personalisierte Skript generiert wird und mit den anderen ,Merge‘-NFTs des Käufers verschmilzt (,to merge‘). Wenn er das NFT weiterverkauft, verschmilzt es mit den ,Merge‘-NFTs des nächsten Käufers, wodurch wiederum ein völlig neues NFT entsteht, und so weiter. In der Theorie könnten alle ursprünglich verkauften Einheiten der ,Merge‘-Masse am Ende zu einem einzigen NFT verschmelzen» (Kaiser und Rio 2022:23). Bereits liefern auch KI viele neue Bilder. So zeigte etwa 2022 die Ausstellung «Artificial Imagination» in der Bitforms Gallery in San Francisco eine Vielzahl von Bildern, die über Bild- und Textgenerierungsprogramme erzeugt wurden (vgl. Langer 2022:53). «Das Tolle an künstlicher Intelligenz ist, dass jede Generation ihre eigene Form von Kunst schaffen kann, in Stilen, die jedem selbst entsprechen», meinte ein Kurator (zitiert nach Langer 2022:53). So habe die Künstliche Intelligenz gelernt, zu visualisieren. Allerdings ist umstritten, ob diese von KI geschaffenen Bilder Kunst seien. Der Wert sei bei KIbasierter Kunst genauso schwierig festzulegen, wie bei traditioneller Kunst (vgl. Langer 2022:53).

2.5

Algorithmen als totalitätsverdächtige «Black Boxes» oder als Grundlage für die Partizipation der User?

Algorithmen können als «eine Reihe von Schritten zur Bewältigung einer Aufgabe» verstanden werden, oder als «ein Schema, das die exakte Abfolge der zur Lösung eines Problems erforderlichen Schritte vorgibt» (Hepp 2021:113). Der Begriff des Algorithmus ist umfassender als der der «Software», die immer auf Algorithmen basiert. Der Algorithmus berechnet ein Muster – zum Beispiel von Einzelhandlungen oder Einzelfällen –, völlig unabhängig von Sinn oder Bedeutung. Aber alles, was der Algorithmus bearbeitet, stammt aus der Sinnstruktur der Gesellschaft in seiner Umwelt (vgl. Nassehi

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Algorithmen als totalitätsverdächtige ...

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2019:75). So imitiert etwa computergenerierte Musik im Sinne des Datensatzes Bach by Design nicht den Komponisten, und der Computer besitzt schon gar keine kreativen Fähigkeiten, sondern der Algorithmus vergleicht und variiert digitale Spuren der Musik von Bach – that’s it. Der Algorithmus «kennt keinen Bach-Stil. Er kennt Muster, die für ihn selbst gar keine Musik sind, sondern Zeichen, die zwar für etwas stehen, aber nicht so behandelt werden. Genau genommen verarbeitet der Algorithmus nur das Verhältnis von Zeichen, ohne dass es eine Rolle spielt, wofür die Zeichen stehen. Der Algorithmus kann lernen, und er kann Entscheidungen treffen, will heißen: er kann im Rahmen möglicher Wahrscheinlichkeiten so oder so im Bachstil komponieren. Er kann sogar Formen der Abweichung verwenden, weil die ja auch in Bachs Musik vorkommen… Der Datensatz mit den Informationen für den Algorithmus ist ein Datensatz, der vom Computerprogramm nach typischen Anschlusswahrscheinlichkeiten durchsucht und auf ein Muster hin getestet wird» (Nassehi 2019:74). Auf der Grundlage eines evolutionären Modells wird dann ein dem Ausgangsmaterial ähnliches Material erzeugt, das aber damit nicht identisch ist. Nassehi (2019:74 f.) fasst diesen Prozess so zusammen: «Das Material ist keine Bachsche Musik, sondern die innere Struktur eines Datensatzes, aus dem sich Signale erzeugen lassen, die jemand, der Bach-Musik kennt, wieder Bach-Musik erkennen lässt». Diese nüchterne Darstellung entmystifiziert das Geheimnis des Algorithmus – aber sie zeigt auch, wie schwierig es für Nicht-Fachpersonen ist, Funktionalität und die Generierung von Algorithmen zu verstehen. Auch in Österreich nutzte das Arbeitsamt einen Algorithmus, der Frauen schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt prognostizierte und deshalb Frauen weniger Weiterbildungsmaßnahmen zusprach. In den Niederlanden wurde ein System gestoppt, das voraussagen sollte, wer bei Sozialhilfeleistungen betrügt (vgl. Berendt 2022:54). Doch das sind nur Beispiele, die bekannt wurden und aufgrund des öffentlichen Drucks gestoppt wurden. Wie ist es mit all denjenigen Algorithmen, deren Fehler oder Diskriminierungen nicht bekannt oder gar nicht erkannt werden? Ein guter Algorithmus berechnet das Richtige – also was der Auftraggeber wissen will – und benötigt dafür möglichst wenig Ressourcen wie Zeit und Speicherkapazität (vgl. Berendt 2022:54). Nach Ansicht von Berendt (2022:54) sollten Algorithmen, welche ganze Systeme steuern und beeinflussen, ähnlich streng geprüft werden wie Atomkraftwerke. Als 2018 festgestellt wurde, dass das System bei Amazon Bewerbungen von Frauen prinzipiell schlechter bewertete als solche von Männern, musste Amazon das System einstellen (vgl. Fulterer in Berendt 2022:54). Ist angesichts dessen die Aussage: «Wichtige Stichworte [für die Softwareentwicklung digitaler Medien] sind … ,partizipatives Design‘ und ,Co-Creation‘, also die schrittweise Entwicklung von Software gemeinsam mit den zukünftigen Nutzerinnen» (Hepp 2021:115) nicht reine Schönfärberei? Ist es nicht vielmehr so, dass oft die einzige Einflussmöglichkeit der Anwender:innen bei der Entwicklung von Software deren als Test betrachtete Erstanwendung ist? Und bei weitem nicht immer können Fehler, Auslassungen und Irrtümer zurückgemeldet werden. Und wenn doch, werden sie oft nicht ernst genommen – wie etwa bei der Neueinführung von Steuersoftware, Impfanmeldungsplattformen

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2 Die Geschichte der Digitalisierung

oder komplexen Beurteilungs- und Bewertungsprogrammen. Dazu kommt: Programme werden von Entwicklern und Programmierern im Auftragsverhältnis designet, weshalb deren Zweck, Zielausrichtung und Methoden häufig gar nicht beeinflusst werden können, schon gar nicht von den Nutzer:innen. Algorithmen berechnen Wahrscheinlichkeiten – allerdings mit immer größerer Treffsicherheit dank wachsenden Datenbergen, die verarbeitet werden. Deshalb kann damit die Werbung immer punktgenauer erfolgen. Umgekehrt bildet ein Algorithmus nie die Wirklichkeit ab: Wenn ein Bankkunde in einer «falschen» Straße wohnt, bekommt er vielleicht seinen Kredit nicht, weil die Wahrscheinlichkeit möglicher Zahlungsausfälle in «seiner» Straße grösser ist als in einer anderen Straße – Pech gehabt! Kritisch ist insbesondere an den Algorithmen, dass vielfach nicht transparent ist, wer was in ihre Codes hineinschreibt (vgl. Pfitzenmaier 2016:54). Zumindest weiß das praktisch niemand von den Millionen Nutzern. Für die einzelnen Menschen können von Algorithmen gesteuerte Auswahlprozesse äußerst problematisch sein, wenn die KI unerbittlich ihre Kriterien abarbeitet: «In vielen großen Unternehmen etwa steuern Rechner schon heute zumindest die Vorauswahl in Bewerbungsverfahren. Dabei sind die Maschinen unerbittlich. Fehlt an der ,richtigen‘ (vorher definierten) Stelle ein Häkchen oder ist an einer nicht passenden Stelle ein Kreuzchen gesetzt, fällt der Kandidat durchs Raster – auch wenn er am Ende die Idealbesetzung für eine Aufgabe wäre, bleibt er ohne jede Chance, zum Zug zu kommen. Es geht sogar noch schlimmer: Künftig können nämlich die Rechner – dank ihrer Künstlichen Intelligenz – solche Vorentscheide sogar ohne menschliche Anweisungen treffen: Sie schreiben ihre Auswahlkriterien einfach selbst» (Pfitzenmaier 2016:59). Zwar schreiben sich Firmen wie Google, Facebook oder Amazon ethische Richtlinien auf die Fahnen. Das ist ein gutes Zeichen. Doch die Ethikerin Lajla Fetic (2021:20) meint, dass oft die Konkretisierung der Richtlinien fehlt, wodurch sie zahnlose Tiger bleiben. Äußerlich ähneln sich die europäischen, US-amerikanischen und chinesischen Ethik-Richtlinien, aber in der konkreten Definition zeigen sich erhebliche Unterschiede. «Zwar existiert ein vermeintlicher Konsens über Begriffe, aber die Krux liegt in der Praxis und Umsetzung. Was bedeutet etwa Fairness in einem Programmierungsprozess ganz konkret?» (Fetic 2021:20). Dabei sind Algorithmen oder künstliche Intelligenz keinesfalls magische Elemente, die eigenständig und ethisch handeln können: «Es fragt ja auch niemand, ob ein Werkzeug gut oder böse ist. Aber ich kann Menschen darin ausbilden, wie sie mit einem Hammer umgehen sollten» (Fetic 2021:20). Allerdings müssen wir uns fragen, ob gewisse Anwendungen verboten werden sollten oder zumindest nur sehr eingeschränkt erlaubt. Wir dürfen solche Debatten nicht erst dann führen, wenn die Technologien bereits im Einsatz sind. Fetic (2021:20) meint, dass gewisse Anwendungen zumindest vorerst verboten werden sollten, um Zeit für Forschung und Debatten zu schaffen. Dass die digitalisierten Großunternehmen jeden Tag mit Fragen menschenrechtswidrigen Verhaltens konfrontiert sein können, zeigt das Beispiel Facebooks in Indien: Eine

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Algorithmen als totalitätsverdächtige ...

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umfangreiche Recherche des «Wall Street Journals» brachte bei Facebook Mitte August 2020 besorgniserregende Missstände ans Licht: In mehreren Fällen unterließ es die Plattform, antimuslimische Hassbotschaften und Aufrufe zur Gewalt zu entfernen, weil diese offenbar von Personen mit Verbindungen zur Regierung in Delhi geschrieben worden waren. Obwohl die Regulatoren empfahlen, die Beiträge zu löschen, geschah das nicht: «Facebooks oberste Aufsichtsperson in Indien, Ankhi Das, habe aber persönlich interveniert und verhindert, dass die Hass-Posts gelöscht würden» (Putz 2020:3). Die fraglichen Posts stammten von T. Raja Singh, Mitglied der Regierungspartei BJP und Parlamentsabgeordneter im Gliedstaat Telangana. Er rief mehrfach zum Mord an Muslimen auf, weil sie heilige Kühe schlachteten, und forderte auch auf, die aus Burma geflohenen Rohingya zu erschießen (vgl. Putz 2020:3). Obwohl Facebook-intern alle Alarmglocken ertönten, griff Facebook während Monaten nicht ein. Und in anderen Fällen beschuldigten regierungsnahe Personen Muslime, das Corona-Virus gezielt unter Hindus zu verbreiten. Und all das nur, weil Indien als wichtigster Wachstumsmarkt von Facebook gilt. Wie weit der durch Algorithmen erfasste Alltag von Bürgerinnen und Bürgern für totalitäre Ziele missbraucht oder auch gesteuert werden kann, zeigt das Beispiel Chinas seit Jahren und vor allem durch die Zero-Covid-Strategie: Das chinesische Konzept des Citizen Scores vermisst und beurteilt Bürgerinnen und Bürger auf einem KonformitätsRanking, gestützt unter anderem auf Posts im Internet, auf Klicks in den Suchmaschinen, politisches Wohlverhalten usw. Gestützt auf die ermittelte Punktezahl werden Jobs vermittelt, Reisevisa und Tickets verteilt, Kreditkonditionen bestimmt usw. (vgl. Helbing et al. 2017:7). Wir alle hinterlassen digitale Spuren im Internet, die vermessen werden können, Regelverletzungen können verfolgt und mit Predictive Policing – also mit algorithmisch definierten Voraussagen über das künftige Verhalten – können sogar voraussichtliche Regelverletzungen geahndet werden (vgl. Helbing et al. 2017:7). Und da Algorithmen nie wertneutral, sondern per definitionem zweckgerichtet definiert werden und extern vorgegebenen Zielfunktionen folgen, besteht nicht nur ein enormes Missbrauchspotenzial, sondern Willkür anstelle von Fairness und Gerechtigkeit sind vorgegeben. Helbing et al. (2017:8) sprechen von einer neuen Art «Untertanen im Sinne eines Feudalismus 2.0». Auch Lange und Santarius (2018:13 f.) verweisen darauf, dass Digitalisierung keinesfalls neutral ist: Die digitalen Geräte erfüllen ganz klare Zwecke, werden gezielt genutzt und befriedigen Bedürfnisse. Und in erster Linie sind das Bedürfnisse, die nicht durch die Nutzer:innen allein bestimmt werden, sondern zuerst und vor allem durch die Produzenten von Hardware und Software, auch wenn die Geräte und Nutzungsmöglichkeiten von den Nutzer:innen angenommen werden müssen. Die beiden Schlüsselbegriffe von «Big Data» und «Nudging» (vom englischen «stubsen») werden heute oft zusammengefasst unter «Big Nudging»: Akteure – egal ob der Staat, Parteien, politische Interessengruppen oder Unternehmen – wollen Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen bringen, etwa zu besserem Gesundheitsverhalten, zum Kauf bestimmter Produkte, zu einem erwünschten Wahl- oder Abstimmungsverhalten usw. Gestützt auf das algorithmisch ermittelte Verhalten werden den Menschen bestimmte

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Informationen und Kaufvorschläge gemacht, was zu einem Resonanzeffekt führt. Helbing et al. (2017:12 f.) beschreiben diesen Mechanismus wie folgt: «Damit Manipulation nicht auffällt, braucht es einen sogenannten Resonanzeffekt, also Vorschläge, die ausreichend kompatibel zum jeweiligen Individuum sind. Damit werden lokale Trends durch Wiederholung allmählich verstärkt, bis hin zum,Echokammereffekt’: Am Ende bekommt man nur noch seine eigenen Meinungen widergespiegelt. Das bewirkt eine gesellschaftliche Polarisierung, also die Entstehung separater Gruppen, die sich gegenseitig nicht mehr verstehen und vermehrt miteinander in Konflikt geraten. So kann personalisierte Information den gesellschaftlichen Zusammenhalt unabsichtlich zerstören». Diese weltanschauliche und politische «Blasenbildung» ist in einzelnen Ländern – etwa in den USA – bereits sehr weit fortgeschritten. Ein gesellschaftspolitischer Konsens ist kaum mehr möglich – wie etwa die verfahrene Situation in den USA zwischen Trump-Republikanern und Demokraten zeigt. Allerdings scheint es auch für das «Big Nudging» Grenzen zu geben: Wenn Grundbedürfnisse oder Grundanliegen ganzer Gesellschafts- und Bevölkerungsgruppen nicht mehr erfüllt werden – wie etwa das in den USA durch das oberste Gericht gekippte Abtreibungsrecht zeigte. In China führte die ins Extrem getriebene Null-Covid-Strategie, die gestützt auf die totale digitale Überwachung zunehmend auf Widerstand in der Bevölkerung führte. Auch im Iran hat die vollständige Überwachung der Frauen und die vorgegebene Kleiderpflicht zu einem regelrechten Volksaufstand geführt, der den Fortbestand des eisernen Mullah-Regimes in Frage stellte. Zweifellos gibt es nur zwei miteinander verschränkte Möglichkeiten, die totale – und totalitäre – Kontrolle durch Algorithmen zu verhindern: Die Kontrolle der persönlichen Daten durch jeden einzelnen und klare Regeln und Einschränkungen für die Nutzung von Algorithmen. In ihrem «Digitalen Manifest» schrieben Helbing et al. (2017:18 f.) dazu: «In Zukunft werden jene Länder führend sein, die eine gute Balance von Wirtschaft, Staat und Bürgern erreichen. Dies erfordert vernetztes Denken und den Aufbau eines Informations-, Innovations-, Produkte- und Service- ‚Ökosystems‘. Hierfür ist es nicht nur wichtig, Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen, sondern auch Vielfalt zu fördern. … Die Lösung der Zukunft lautet kollektive Intelligenz: Citizen Science, Crowd Sourcing und Online-Diskussionsplattformen sind daher eminent wichtige Ansätze, um mehr Wissen, Ideen und Ressourcen nutzbar zu machen». Das klingt zwar sehr gut. Doch – müsste man einwenden – bedeutet all das nicht auch eine klare Überforderung für die durchschnittlichen Nutzer:innen? Wer versteht schon im Einzelnen, wie Algorithmen, Big Nudging und Open-Source-Medien funktionieren, abgesehen von einer kleinen Minderheit? Wer kann offensiv digitale Tools mitgestalten und entwickeln? Lange und Santarius (2018:172) verlangen die Entwicklung eigener AlgorithmusGesetze, welche garantieren, grundsätzlich «alle Kriterien offenzulegen, die zum Zweck der Entscheidungsfindung in den Algorithmen eingeschrieben werden» bei gleichzeitiger Geltung eines konsequenten Datenschutzes.

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Zur schrittweisen und ungleichen Durchsetzung der Digitalisierung: Treiber, Hindernisse und neue Fragen

In den letzten Jahren ließen sich fünf Tendenzen bei den digitalen Medien feststellen: erstens eine Differenzierung einer großen Zahl digitaler Medien, zweitens eine zunehmend Konnektivität dieser Medien, drittens eine zunehmende Omnipotenz dieser Medien, viertens ein wachsendes Innovationstempo durch «neue» Medien und Dienstleistungen in immer kürzerer Zeit, und fünftens die Datafizierung, d. h. die Repräsentation des sozialen Lebens in computerisierten Daten (vgl. Hepp 2021:71). Und in der Haltung zur Digitalisierung gibt es enorme Unterschiede – die teilweise noch zuzunehmen scheinen. Auf der einen Seite stehen die Digitalisierungs-Euphoriker. Digitalisierung erscheint als Heilmittel für alles, als Garant des Fortschritts und des Wohlstandes – und als entscheidender Faktor im Wettlauf um den größten geo-politischen Einfluss und die Durchsetzungsfähigkeit des eigenen wirtschaftlichen Modells: «Jetzt stellt Deutschland die Weichen, die dafür entscheidend sind, ob wir Rückstände aufholen können, ob wir fähig sind, Widerstände und verkrustete Strukturen aufzubrechen, ob wir uns im globalen Wettlauf gegenüber den führenden Nationen USA und China stabile Positionen erkämpfen können, und damit unseren Wohlstand sichern. Wenn wir das nicht schaffen, dann ist Deutschlands Rolle in der Welt gefährdet. … Unsere Gegner würden das als Beweis sehen, dass unsere politische und freiheitliche Grundordnung den Systemen der USA und China unterlegen sind. Deren Konzepte dürfen wir aber nicht ohne weiteres übernehmen, überspitzt ausgedrückt: Das Digital-Kartell der USA und die Digital-Diktatur Chinas» (Lucks 2020:23). Oder mit den Worten Narulas (2022:xiii): «Ich glaube, dass der Aufstieg der so genannten posthumanen Technologien bald robuste virtuelle Gesellschaften hervorbringen wird, die die Art und Weise, wie wir auf der Erde leben, verändern und gleichzeitig neu definieren werden, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. … Stellen Sie sich eine Welt vor, in der Sie eine neue Fähigkeit an einem einzigen Nachmittag erlernen können, und zwar mithilfe einer fortschrittlichen Simulationstechnologie, die den Wert eines Jahrzehnts an Versuch und Irrtum in zwei Stunden packen kann»7 . Auf der anderen Seite wächst die Zahl der Digitalisierungs-Skeptiker. So stellte sich heraus, dass eine schwarze Frau im Straßenverkehrsamt in Hamburg Opfer einer Form der automatisierten Diskriminierung durch sogenannte «Automated Decision Making»Systeme (ADM) wurde, weil dieses schlicht zu wenige schwarze Frauen erfasst hatte und über ungenügende Vergleichsdaten verfügte (vgl. Wüstenholz und Kaufmann 2021:20).

7 «I believe that the rise of so-called post-human technologies will soon produce robust virtual socie-

ties that will transform the way we live on Earth, while redefining what it means to be human. … Picture a world in which you could master a new skill in a single afternoon, using advanced simulation technology that can pack a decade’s worth of trial an error into a two-hour span» (Narula 2022:xiii).

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Eine Studie der deutschen Antidiskriminierungsstelle im Jahr 2019 listete 47 Fälle algorithmischer Diskriminierung unterschiedlicher Benachteiligung auf: Im Arbeitsleben, auf dem Immobilienmarkt, in der Kreditwirtshaft, in der Medizin, im Verkehr, in der Justiz, bei der Polizei, im Strafvollzug, bei der Bildung und in der Verwaltung kamen solche Fälle vor (vgl. Wüstenholz und Kaufmann 2021:20). Recherchen des Bayrischen Rundfunks hatten offengelegt, dass etwa die Software von Retorio undurchsichtige und verwirrliche Entscheidungen fällt. Bereits minimale Veränderungen beeinflussten die Einschätzungen der Software enorm, z. B. unterschiedliche Kleidung, das Tragen einer Brille oder einer Kopfbedeckung führte zu völlig neuen Ergebnissen – sogar wenn eine Schauspielerin den gleichen Text im gleichen Tonfall sprach. Sogar wurden Personen völlig anders bewertet, wenn im Hintergrund ein Bild hing oder ein Bücherregal stand (vgl. Wüstenholz und Kaufmann 2021:21). Und bei der Bewertung von Gesichtsausdrücken versagte das System völlig: «Ich kenne keine Technologie, die Emotionen aus den Gesichtern oder Stimmen von Menschen ablesen kann», meinte die Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett von der Northeastern University von Massachusetts General Hospital. Insbesondere Gesichtserkennungssoftware, wie sie von Retorio eingesetzt wird, gilt als anfällig für Diskriminierung und Verzerrung. Frauen und People of Color werden deutlich schlechter erkannt als weiße Männer. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass die Software vor allem mit Bildern weißer Männer trainiert wird. Die Beibringung von Algorithmen ist eine riesige Herausforderung, meint Lea Strohm vom Zürcher Beratungsbüro für Innovationsethik Ethix (vgl. Wüstenholz und Kaufmann 2021:21). Also alles nur eine Frage der Anzahl berücksichtigter Beispiele? Nicht nur: «Wertend wird der Algorithmus erst dadurch, dass ein Mensch der Software vorgibt, dass Lachen eine glückliche Person bedeutet: ,Code beruht immer auf den Entscheidungen der Entwicklerinnen‘, sagt Strohm. ‚Und diese Entscheidungen wird bewusst und unbewusst von Werten und Erfahrungen geprägt‘». Und – so müsste man sagen – in der Praxis kann ein Lachen ebenso wie ernsthafter Ausdruck einer Äußerung eine große Vielzahl von Gefühlen ausdrücken. Obwohl Retorios Bewerbungssoftware nach eigenen Angaben mit einem Datenset von 12 000 Videos gefüttert wurde, die von 2500 Menschen angeschaut wurden – sie ist weit davon entfernt, Persönlichkeitsmerkmale wie «Offenheit» oder «Gewissenhaftigkeit» wirklich zu erkennen, geschweige denn zuverlässig einzustufen (vgl. Wüstenholz und Kaufmann 2021:21). Dabei verbietet die europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) lediglich vollständig automatisierte Entscheidungen durch Algorithmen, wenn dies die Betroffenen erheblich beeinträchtigt – und das ist eindeutig zu wenig. Entsprechend lauteten konkrete Fragen, die im Rahmen der neunten Konferenz des Netzwerks Technikfolgenabschätzung (NTA), die vom 10. bis 12. Mai 2021 stattfand, immer wieder auf die Agenda kamen, wie folgt: • «Bedrohen digitale Plattformen die rationale, eigenständige Meinungsbildung? Was bedeutet es, wenn Soziale Medien zu politischen Leitmedien werden?

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• Wie lässt sich die Macht der Plattform-Giganten wirksam einschränken? Welche Schritte lassen sich gegen Onlinehass und Lügenmaschinen setzen? • Kann sich der Mensch im Zeitalter von Big Data und Künstlicher Intelligenz überhaupt noch als autonomer oder wenigstens maßgeblicher Akteur verstehen? Werden im Zuge von Digitalisierung und Datafizierung individuelle Freiheitsrechte ausgehöhlt? • Welche Chancen bietet die Digitalisierung für neue Formen partizipativer Demokratie und beratender Beteiligung? Wie und auf welchen Ebenen unterstützt die Technikfolgenabschätzung Prozesse der demokratischen Mitbestimmung? • Welche Rolle spielen Soziale Medien für die Entwicklung und (De-)Stabilisierung sozialer Bewegungen und Protestgruppen? Welche Chancen bietet die Digitalisierung für neue Formen partizipativer Demokratie?» (Bogner et al. 2022:14). Zweifellos ist Tribelhorn (2022:19) zuzustimmen, wenn er – sowohl entgegen einem übertriebenen Zukunftspessimismus als auch im Gegensatz zu einem naiven Zukunftseuphorismus – nüchtern fordert: «Gefragt ist ein Zukunftspragmatismus, der die gegenwärtigen Probleme ernst nimmt und nach bestem Wissen und Gewissen Verbesserungen anstrebt, technologisch und politisch». Das gilt auch für alle Fragen der Digitalisierung. «Wir können … einer staatlichen Ordnung nur dann zustimmen, wenn sichergestellt ist, dass ich meinen Status als Autorin und Autor meines Lebens auch dann erhalten kann, wenn ich zum Beispiel in bestimmte existentielle Situationen gerate, durch Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Alter, Arbeitslosigkeit etc. Ohne sozialstaatliche Komponente ist die Zustimmungsfähigkeit nicht gegeben. Deswegen ist es falsch zu meinen, liberale Freiheitsrechte sind das eine, Demokratie ist das andere und Sozialstaatlichkeit kann man haben oder nicht. Nein, das sind drei Teile, die zusammengehören, nämlich Handlungsfähigkeit – da spielt die Mehrheitsentscheidung eine wichtige Rolle –, Garantie von individuellen Freiheitsrechten – und damit Garantie der Autonomie – und sozialstaatliche Anspruchsrechte wegen Autonomie, weil ansonsten nämlich die sozialen Bedingungen so sein können, dass diese Freiheit lediglich formal realisiert ist und nicht real in der sozialen Praxis» (Nida-Rümelin 2020:29). Produzenten von Lügen haben drei Möglichkeiten für ihr Vorgehen. «Die erste Komponente ist der Produzent von Lügen, von einer Ideologie, die den Interessen der politischen Eliten dienen» (Howard 2020:70). «Die zweite Komponente ist der Verteiler von Lügen: der Algorithmus, den Social-Media-Firmen für die Verbreitung von Inhalten bereitstellen. Soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram, Twitter und WhatsApp – und die Daten, die sie über unsere politischen Vorlieben sammeln – sind das Verteilungssystem für Lügen im politischen Kontext. Die dritte Schlüsselkomponente ist der Vermarkter solcher Lügen, in der Regel eine Beratungsfirma, ein*e Lobbyist*in oder ein* politische*r Auftragskiller*in, welche vom Verkauf, der Verstärkung und der Forderung von Desinformation profitieren. Große Lügenmaschinen haben Produktions-, Vertriebs- und Marketingsysteme, die internationale Grenzen überschreiten» (Howard 2020:70). Lügenmaschinen haben einen

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Zweck: Sie stellen Symbole falsch dar, sie rufen Emotionen und Vorurteile hervor und nehmen Bezug auf Voreingenommenheiten (vgl. Howard 2020:72). «Wer sind die Personen, die sich vorwiegend über Social Media informieren? Es sind – wenig überraschend – vor allem jüngere Menschen. Während Nachrichten im Fernsehen von der Zielgruppe 55+ am stärksten genutzt werden (77,9 %), zeigt sich bei Social Media das umgekehrte Bild: Hier sind die 18–24 Jährigen (61,1 %) und die 25–34 Jährigen (63 %) die stärksten Nutzergruppen … Die jungen Nachrichtennutzer*innen in Osterreich wurden im Zuge einer repräsentativen Befragung genauer analysiert …: Gefragt wurde, wie häufig verschiedene Social-Media-Plattformen für Nachrichtenkonsum genutzt werden. Hier ist WhatsApp ganz klar die Nummer eins (62 % täglich oder mehrmals täglich), gefolgt von Facebook (57 %), Instagram (52 %), YouTube (44 %) und Snapchat (28 %). Twitter spielt in Österreich bei jungen Menschen eine untergeordnete Rolle (14 %)» (Huber 2020:80). Allerdings haben Social Media klar positive Auswirkungen in repressiven Gesellschaften – in Ländern, wo es keine freien Medien gibt, keine Versammlungsfreiheit usw.: «Digitale Kanäle erlauben Menschen, sich effektiv gegen die Staatsgewalt zu organisieren, wie etwa im Sudan … (2019). Auch die Möglichkeit, Basisbewegungen durch Crowdfunding zu finanzieren, gehört zu den positiven Aspekten, die wir fördern müssen» (Nyabola 2020:13). Besondere Relevanz in der Digitalisierung haben auch die «mit der Digitalisierung einhergehenden Beschleunigungsfaktoren. Die Arbeiten von Rosa (2005, 2013) und deren bildungstheoretisch fundierte medienpädagogische Fruchtbarmachung durch Niesyto (2017) und Leineweber (2020) markieren in je unterschiedlicher Weise eine (empfundene) Beschleunigung des Lebenstempos, die wiederum jene technischen Lösungen provozieren, deren Einsatz zu einer weiteren Beschleunigung führen. Daraus resultieren sich verändernde Kommunikationsformen (Unger 2014) und sich wandelnde soziale Praktiken (Friese 2020)» (Damberger 2021:13). Laut Damberger (2021:14) ist das Verfassen einer E-Mail im Vergleich zu einem Brief ausgesprochen effizient. Doch die gewonnene Zeit bewirkt nicht mehr Freizeit, sondern führt zu mehr Stress, der in Form einer erhöhten E-Mail-Korrespondenz bearbeitet werden muss. In der Arbeitswelt kam es zu Transformationen. «Symptomatisch hierfür stehen Outsourcing, Crowdsourcing und Cloudworking (vgl. Rolf 2018: 57 ff.). Während das Outsourcing die Auslagerung von Routinearbeiten beispielsweise an Kunden bzw. die Weitergabe verbleibender kundennaher Tätigkeiten an Call- und Service Center meint, sind mit dem Begriff Crowdsourcing sogenannte Interaktive Wertschöpfungs- bzw. Open Innovation-Strategien angesprochen. Unternehmensrelevante Aufgaben werden dabei an eine anonyme Masse (d. h. an die Crowd) übertragen, wobei Plattformen erstellt und Zielvorgaben im Vorfeld definiert werden. … Beim Cloudworking indessen geht es zumeist um einfache Tätigkeiten (genannt Clickworking), die schnell (per Click) ausgeführt

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werden können und mit kleinen Centbeträgen entlohnt werden. Bekannte CloudworkingPlattformen sind Amazon Mechanical Turk, Clickworker, 99designs, Jovoto und Quirky» (Damberger 2021:9 f.). «Ebenfalls zur Digitalisierung gehören deren Abfallprodukte. Um zu entsorgende Rechner, Smartphones, Tablets, Monitore etc. hat sich seit den 1990er-Jahren ein reger Handel mit E-Waste etabliert (Puckett 2006). Die Abnehmerstaaten liegen zumeist in Asien und Afrika. Nach Agbogbloshie, einem Ort in der Nähe der Hauptstadt von Ghana, werden jedes Jahr rund 215.000 t Elektroschrott geliefert. … 11,7 % der E-Waste-Workers sind jünger als 15 Jahre, und 65 % aller Arbeitenden haben keinerlei institutionellen Bildungshintergrund (vgl. Adanu et al. 2020:4)» (vgl. Damberger 2021:9). Ein besonderes Problem scheint der Ladendiebstahl geworden zu sein. In vielen WGs wurde das Essen vor etwa zehn Jahren plötzlich besser. Grund dafür war die Einführung von Self-Check-out-Kassen in der der Supermarktkette Migros. In der Kriminalstatistik 2020 sind bloß 16 342 Ladendiebstähle zu verzeichnen (vgl. Turcan 2021:5). Es liegt nahe, dass diese Zahlen nur einen Bruchteil der Ladendiebstähle enthalten. Der Großteil der Diebstähle werde entweder erst bei der Inventurprüfung verzeichnet, komme gar nie zur Anzeige, werde in vereinfachten Verfahren abgewickelt und fließe deshalb nicht in die Polizeistatistik ein. In Deutschland lag der Umsatzverlust 2019 bei 3,75 Mrd. EUR durch Ladendiebstähle von Kunden, Lieferanten und Mitarbeitern – und schätzungsweise 98 % der Fälle kommen gar nie zur Anzeige (vgl. Turcan 2021:5). Doch Migros und Coop weigern sich beharrlich, auf entsprechende Fragen der WochenZeitung Stellung zu nehmen. Dabei ist anzunehmen, dass das neue Scanning-System zu deutlich höheren Ausgaben durch Diebstahl führt. So ist in einigen untersuchten Lebensmittelgeschäften der Umsatzverlust um 33 bis 147 % grösser als in Geschäften ohne Selbstbedienungskassen (vgl. Turcan 2021:5). Doch auch in viel größerem Ausmaß hat das Internet die Kriminalität ermöglicht und erleichtert – und zwar von zwei Seiten her: Auf der einen Seite finden neue Geschäftsmodelle wie etwa das «Business Email Compromise», kurz BEC, Verbreitung. Dabei greifen zum Beispiel Betrüger der sogenannten «Nigeria Connection» unerkannt das E-MailKonto einer ausländischen Firma, etwa eines Finanzchefs oder eines CEO, an. Bei dessen Abwesenheit sendet der Angreifer Rechnungen an Kunden mit der Bitte um dringende Begleichung. Weil der Absender korrekt ist, wirkt die Aufforderung authentisch – und der Kunde bezahlt, allerdings auf ein angegebenes Bankkonto, das dem Betrüger gehört. Laut dem FBI sollen zwischen 2015 und 2020 so weltweit Verluste von 26 Mrd. Dollar verursacht worden sein – und die USA haben den Kampf gegen diese Art von Betrug deutlich verschärft. 2019 nahm das amerikanische Justizministerium in der bisher größten Verhaftung 281 mutmaßliche BEC-Hacker fest – wovon 197 aus Nigeria stammten (vgl. Urech 2020:7). Dabei bewerten viele junge Nigerianer diese Kriminalität positiv – sie sehen etwa Online-Betrug nicht als moralisch verwerflich, «sondern als Art Wiedergutmachung für die eigene Chancenlosigkeit» – so der Jopen verschwinden – so der CybersecurityExperte Remi Afon. «Das dürfte noch lange dauern, wie die neuesten Arbeitslosenzahlen

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zeigen: Über 20 Mio. Nigerianer sind ohne Job – dreimal mehr als noch vor fünf Jahren» (Urech 2020:7). Auf der anderen Seite generiert die gängige Gesichtserkennungssoftware eine gefährlich hohe Fehlerquelle: Als Ed Bridges 2017 in Cardiff beim Champions-League-Finale erstmals die Gesichtserkennungssoftware einsetzte, wurden 2470 Besucherinnen und Besucher als kriminell eingestuft – dabei waren 2297 von der Software als falsch erkannt worden. Anders gesagt: Eine Fehlerquote von 93 % (vgl. Deleja-Hotko2020:11)! Entschuldigt wurde die große Fehleranzahl von der südwalesischen Polizei mit der schlechten Bildqualität. Dabei war das Vorgehen ursprünglich nur bei Großveranstaltungen vorgesehen – und heute wird es im Alltag verwendet! Großbritannien liegt weit vorne bei der Anzahl von Überwachungskameras – bereits 2020 waren es mehr als 4,2 Mio. – und heute sind es weit mehr. Allein in London waren es im Herbst 2020 bereits mehr als 600 000 Kameras. Seit Januar 2020 werden die Menschen über diese Kameras mittels einer besonderen Software zusätzlich auch noch gescannt (vgl. Deleja-Hotko 2020:11). Dabei ist die Fehlerquelle der Kameras außerordentlich hoch: Von 42 Personen an einer Veranstaltung, die als kriminell beanstandet wurden, waren nur 8 auf einer Fahndungsliste – dennoch wurden 22 Personen festgenommen. Die «Software basiere auf keinem gefestigten juristischen Grundgerüst, und die Fahndungslisten, mit denen die PassantInnen abgeglichen würden, seien nicht immer auf dem neuestens Stand», so Deleja-Hotko (2020:11).

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Die Rolle der Influencer

In der Schweiz gab es 2020 sehr unterschiedliche Influencer: Giga-Influencern folgen – wie etwa der US-Unternehmerin Kylie Jenner und dem Fußballer Cristiano Ronalde – mehrere 10 Mio., vereinzelt sogar über 100 Mio. Personen. Weltweit und in der Schweiz folgen Groß-Influencern – wie etwa Roger Federer – oder der Bloggerin Kristina Bazan – mehrere Millionen Personen. Mehrere hunderttausend Personen folgen bestimmten Influencern – und so gesehen sind durch jeden Social-Media- Nutzer phasenweise (Nano-)Influencer aktiv. Dabei ist die Einbindung von Influencern zu einem wesentlichen Erfolgsfaktor für die Kommunikation von Unternehmen, öffentlichen Institutionen oder Privatpersonen geworden (vgl. Tomczak et al. 2020:4). Bei der Analyse von Influencern geht es in einem ersten Schritt darum, die Kommunikation der Botschaft zu identifizieren und zu typisieren. Im zweiten Schritt gilt es zu analysieren, ob und wie die unterschiedlichen Influencer-Typen in die Kommunikation integriert werden. Dabei interessiert entweder der inhaltliche Anknüpfungspunkt zwischen Influencer und Botschaft oder die Motivation des Botschafters: Wie kommuniziert er seine Botschaft? – oder beides. Tomczak et al. (2020:6) unterscheiden fünf Typen von Influencern, wobei diese unterschiedliche Rollen in der Kommunikation von Botschaften

Literatur

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spielen: Erstens Anhänger, zweitens Gegner, drittens Abenteurer, viertens Opportunisten und fünftens Schiedsrichter (vgl. Tomczak et al. 2020:6 f.). Anhänger fungieren als Apostel – sie vertreten Meinungen des Senders einer Botschaft. Im Zentrum steht dabei des gemeinsame Erleben und die Interaktion zwischen Sender und Influencer. Gegner setzen alles daran, einer Botschaft zu schaden. Gegner lassen sich kaum aktiv in die Kommunikation einspannen. Abenteurer «empfinden es als besonders belohnend, ihr Leben über soziale Medien zu teilen» (Tomczak et al. 2020:6). Opportunisten kommunizieren in der Regel für einen Sender, von welchem sie belohnt werden. Dabei ist es wichtig, dass das Image der Influencer und das Image des Senders zusammenpassen. Und schließlich der Schiedsrichter: Er präsentiert seine Expertise in bestimmten Themenfeldern – und oft ist für eine Tätigkeit ein Anreiz nötig Laut Clegg et al. (2020:8) entscheiden oft ältere Marketing-Manager aufgrund qualitativer Merkmale und eigener Eindrücke – und verfehlen damit die Anliegen der Jüngeren bei weitem: Generationenbedingte Unterschiede zwischen älteren Managern und jungen Zielkunden sind ein bekanntes Phänomen. Insbesondere entstehen laufend neue Plattformen wie Instagram und TikTok, welche Plattformen wie Facebook «auf disruptive Art» ablösen – und Marketingmanager müssen damit Schritt halten. So schätzen etwa Marketingmanager die Zielgruppe in verschiedenen Aspekten falsch ein. So basiert etwa die Studie «Swiss Influencer Marketing Report 2020» auf insgesamt 1349 Teilnehmenden in der Schweiz, darunter Marketingmanager, Influencer und Konsumenten in der Altersgruppe 13 bis 30 (vgl. Clegg et al. 2020:8). 2020 folgten 76 % der Millenials «ihrem» Influencer auf Instagram, aber nur gerade 28 % der Marketingmanager schätzten Instagram als relevante Plattform für ihr Unternehmen ein (vgl. Clegg et al. 2020:8). Und 18 % der Marketingmanager nannten Facebook als relevantestes Forum, aber nur gerade 2 % der Millenials waren dieser Meinung. Ähnlich nannten «Millenials» vor allem Personen auf den sozialen Medien als ihre Lieblingsautoren, während die Marketingmanager vor allem Roger Federer (34 %), Rap-Künstler Bligg (6 %) oder Moderatorin Michel Hunziker (4 %) erwähnten (vgl. Clegg et al. 2020:9). Auch bei den Themen gab es große Abweichungen. Alles in allem verändert sich die Lage jeder Generation wesentlich – und viele Marketingmanager hinken der Entwicklung jeweils um Jahre nach. Entsprechend bleibt die Situation der betreffenden Bevölkerungsgruppen einerseits wenig stabil und anderseits verändert sie sich laufend.

Literatur Ackeret, Markus 2021: Russland macht IT-Giganten das eben schwer. In: Neue Zürcher Zeitung vom 25.9.2021. 4. Adanu, Selase Kofi/Gbedemah, Shine Francis/Attah, Mawutor Komla 2020: Challenges of adopting sustainable technologies in e-waste management at Agbogbloshie, Ghana, Heliyon 6. 4 ff.

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Berendt, Bettina 2022: «Wir sollten Algorithmen gleich streng prüfen wie Atomkraftwerke». Gespräch mit Bettina Berendt von Ruth Fulterer. In: Neue Zürcher Zeitung vom 2.4.2022. 54. Bogner, Alexander/Nentwich, Michael/Scherz, Constanze/Decker, Michael 2022: Technikfolgenabschätzung und die Zukunft der Demokratie – ein Überblick. In: Bogner, Alexander/Nentwich, Michael/Scherz, Constanze/Decker, Michael (Hrsg.): Digitalisierung und die Zukunft der Demokratie. Beiträge aus der Technikfolgenabschätzung. Band 24. Baden-Baden: Nomos/Edition Sigma. 9 ff. Bormann, Franz-Josef 2021: Ist die praktische Vernunft des Menschen durch KI-Systeme ersetzbar? Zum unterschiedlichen Status von menschlichen Personen und (selbst-)lernenden Maschinen. In: Fritz, Alexis/Mandry, Christof/Proft, Ingo/Schuster, Josef (Hrsg.): Digitalisierung im Gesundheitswesen. Anthropologische und ethische Herausforderungen der Mensch-MaschineInteraktion. Jahrbuch für Moraltheologie. Band 5. Freiburg/Basel/Wien: Herder. 41 ff. Brödner, Peter 2021: «Machines that think» – die «KI»-Illusion und ihre Wurzeln. In: Pohle, Jörg/ Lenk, Klaus (Hrsg.): Der Weg in die «Digitalisierung» der Gesellschaft. Was können wir aus der Geschichte der Informatik lernen? Marburg: Metropolis. 67 ff. Busch, Ulrich 2017: Digitale Revolution – Auftakt für eine Gesellschaftstransformation? In: Banse, Gerhard/Busch, Ulrich/Thomas, Michael (Hrsg.): Digitalisierung und Transformation. Industrie 4.0 und digitalisierte Gesellschaft. Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften. Band 49. Berlin: trafo Wissenschaftsverlag. 13 ff. Castells, Manuel 2011: Communication Power. New York: Oxford University Press. Clegg, Melanie/Lanz, Andreas/Hofstetter, Reto 2020: Generationenkonflikt im InfluencerMarketing. In: Die Volkswirtschaft Nr. 11/2020. 8 ff. Curran, James 2016: The Internet of History. Rethinking the Internet’s Past. In: Curran, James/ Fenton, Natalie/Freedman, Des (Hrsg): Misunderstanding the Internet. 2nd edition. Milton Park/ NY: Routledge. 48 ff. Curran, James 2021: Zum Verhältnis von Bildung, Nachhaltigkeit und Digitalisierung. In: Medienimpulse. Jg. 59, Nr. 1, 2021. 1 ff. Deleja-Hotko, Vera 2020: Grossbritannien: Jede Pore, jede Falte. In: WochenZeitung vom 3.9.2020. 11. Fetic, Lajla 2021: «Wir sollen Algorithmen nicht mystifizieren». Die Ethikerin Lajla Fetic erklärt im Interview, warum automatisierte Entscheidfindung nicht per se schlecht ist – und warum sie diese trotzdem in manchen Bereichen vorerst verbieten würde. Interview mit Donat Kaufmann und Florian Wüstenholz. In: WochenZeitung vom 15.4.2021. 20. Föry, Alisha 2022: Plötzlich kein Internet mehr. Was bedeutet es für die Iraner, dass die Regierung immer wieder das Netz abstellt? In: Neue Zürcher Zeitung vom 2.11.2022. 6. Friese, Heidrun 2020: Digitalisierte Gesellschaften. In: Friese, Heidrun/Nolden, Marcus/Rebane, Gala/Schreiter, Miriam (Hrsg.): Handbuch Soziale Praktiken und Digitale Alltagswelten. Wiesbaden: Springer VS. 23 ff. Helbing, Dirk/Frey, Bruno S. / Gigerenzer, Gerd/Hafen, Ernst/Hagner, Michael/Hofstetter, Yvonne/ van den Hoven, Jeroen/Zicar, Roberto V. / Zwitter, Andrej 2017: Digitale Demokratie statt Datendiktatur. In: Könneker, Carsten (Hrsg.): Unsere digitale Zukunft. In welcher Welt wollen wir leben? Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft/Springer. 3 ff. Hepp, Andreas 2021: Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft. Über die tiefgreifende Mediatisierung der sozialen Welt. Köln: Herbert von Halem Verlag. Howard, Philip N. 2020: Lügenmaschinen. Wie man die Demokratie vor Troll-Armeen, betrügerischen Robotern, Junk-News-Operationen und Polit-Agenten rettet. In: Bogner, Alexander/ Nentwich, Michael/Scherz, Constanze/Decker, Michael (Hrsg.): Digitalisierung und die Zukunft der Demokratie. Beiträge aus der Technikfolgenabschätzung. Band 24. Baden-Baden: Nomos/ Edition Sigma. 69 ff.

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Die Digitalisierung der Wirtschaft

Zusammenfassung

Die gegen Null tendierenden Grenzkosten für digitale Produkte und Dienstleistungen fördern digitale Geschäftsmodelle und machen die Digitalisierung der Wirtschaft sozusagen selbst zum Treiber der Digitalisierung. Zu den drei klassischen Kernbereichen der Digitalisierung in Unternehmen, nämlich der Wertschöpfungskette, der Kundenschnittstelle und des Geschäftsmodells kommt nach Volkens und Anderson (2018:26) ein vierter Bereich: die Digitalisierung menschlichen Schaffens. Die Digitalisierung hat in sehr verschiedenen Bereichen ganz unterschiedliche Effekte: In der Produktion, im Online-Handel, in der Entstehung des Plattformkapitalismus, beim Konsum, bei virtueller Währungen, in der Arbeit, in der Bildung, beim Medienkonsum und bei der Nutzung digitalisierter Güter. Die leichte, schnelle und sichere Speicherung von Daten und insbesondere die beliebige Reproduzierbarkeit von Daten hat es erlaubt, Produkte und Dienstleistungen zu immer geringeren Grenzkosten zu produzieren. Entsprechend schaffen – so Landvogt (2017:14) – die gegen Null tendierenden Grenzkosten für digitale Produkte und Dienstleistungen «enorme Anreize zur Entwicklung von digitalen Geschäftsmodellen». Damit wird die Digitalisierung der Wirtschaft sozusagen selbst zum Treiber der Digitalisierung1 . Wichtiger Treiber für die Digitalisierung in der Wirtschaft ist die relative Knappheit von Arbeitskräften in hochentwickelten Volkswirtschaften. Dieser Aspekt wird noch zusätzlich verstärkt in Gesellschaften, die durch eine hohe Alterung gekennzeichnet sind 1 Landvogt (2017:15) schreibt dazu: «Wenn dies tautologisch anmutet, dann liegt es daran, dass

im Deutschen dasselbe Wort Digitalisierung benutzt wird, um die Überführung analoger in digitale Daten und um die Durchdringung von immer mehr Prozessen mit Informations- und Kommunikationstechnologie zu bezeichnen». © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C. J. Jäggi, Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42206-6_3

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(vgl. Petersen 2020:24). Das gilt insbesondere für Deutschland und Japan, längerfristige aber auch für Länder wie China, die Schweiz oder Frankreich und Italien. In all diesen Ländern steigt der Druck, Arbeitskraft durch digitale Technogien zu ersetzen. Außerdem erhöht der durch die Globalisierung verstärkte Wettbewerb den Digitalisierungsdruck, weil damit die Kommunikationskosten, die Transportkosten sowie andere Transaktionskosten verringert werden können (vgl. Petersen 2020:26 f.): «Digitalisierung und Globalisierung beeinflussen sich gegenseitig. Die Digitalisierung senkt die Kosten der internationalen Arbeitsteilung und ist damit ein Treiber der voranschreitenden Globalisierung. Die Globalisierung erhöht wiederum den internationalen Wettbewerbsdruck und ist daher ein Treiber für die voranschreitende Digitalisierung» (Petersen 2020:27). Insbesondere wurden die Eintrittshürden in andere nationale oder regionale Märkte durch die Digitalisierung einfacher, weil die Markterschließung mithilfe lokaler Niederlassung über digitale Netze und Kommunikation erfolgen und die Vertriebswege vereinheitlicht werden konnten (vgl. Lucks 2020:67). Die Internationalisierung und Globalisierung von Unternehmen und ihrer Geschäftsaktivitäten erfolgte schneller, billiger und in größerem Umfang, was das Wachstum selbst bei Start-ups enorm beschleunigte (vgl. Lucks 2020:67). «Wenn das Innovationspotenzial der Digitalisierung voll ausgenutzt werden soll, müssen alle Beteiligten lernen, souverän mit neuen technologischen ebenso wie strukturellen Anforderungen umzugehen. Dementsprechend hat der Begriff der digitalen Souveränität Konjunktur. Im Mittelpunkt der Diskussionen in Deutschland stehen Aspekte der IT-Sicherheit und vertrauenswürdige IT-Infrastrukturen» (Wittpahl 2017:68). Auch Martensen und Schwind (2018:78) sind der Ansicht, dass die digitale Gesellschaft als globale Gesellschaft zu verstehen sei, wobei der neu entstandene Nationalismus oder Regionalismus diese Entwicklung eher bestätige als widerlege. Wenn Digitalisierung und Globalisierung Zwillinge sind, wie Wohanka (2017:60) meint, stellt sich die Frage, was geschieht, wenn der eine Zwilling – die Globalisierung – DeGlobalisierungsprozessen weicht. Aber es sieht so aus, dass die Digitalisierung durchaus auch «de-globalisiert» agieren kann, etwa in Form autonomer lokaler Netzwerke – die allerdings miteinander verbunden bleiben – und stärkerer lokaler oder regionaler Autarkie. Doch im Moment sieht es noch nicht so aus, dass die De-Globalisierung auf die digitalen Konzerne durchschlägt. «Digitalisierung scheint Gestaltungspotenziale, die Wirtschaft und Gesellschaft betreffen, weiter in Richtung privater Akteure zu verschieben: • Gesellschaftlich zentrale Infrastrukturen des digitalen Zeitalters in Form von Informationsquellen und Kommunikationswegen wie das Internet werden durch private Organisationen und Unternehmen geschaffen, ohne dass Staaten ausreichend Einfluss nehmen und einen sozial- und umweltvertraglichen Rahmen setzen …

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• Beobachtet werden kann die zunehmende Macht großer Digitalkonzerne, Einfluss auf gesellschaftliche Kernbereiche auszuüben wie z. B. über die Medienlandschaft, digitale Sicherheitsinfrastrukturen und die Nutzung von Big Data. … • Die Gestaltungsspielräume vieler Länder im Bereich der Unternehmensbesteuerung ist bereits in der Vergangenheit durch Globalisierungsdynamiken signifikant mit Auswirkung auf die Steuerbasis reduziert worden. … • Im Spannungsfeld zwischen Werte- und Wissenswandel, den Geschäftsmodellen der Digitalwirtschaft, staatlicher Regulierung und Technologie steht das Individuum. Insbesondere verändern sich im Digitalen die Bedingungen für die Ausübung und den Schutz elementarer Grund- und Menschenrechte. …» (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung 2019:153 ff.). Die Nutzung des Internets ist – so Muna Duzdar (2017:326) – auch eine Frage der sozialen Herkunft und des Geschlechts: «Um in der heutigen Welt bestehen zu können, muss man aber nicht nur über den Zugang zur Digitalisierung verfügen, viel wichtiger ist es, den richtigen Umgang damit zu erlernen». So gilt heute Israel als Hotspot der Digitalisierungsszene. In diesem Land entstehen pro Jahr ungefähr 5000 oder pro Tag eineinhalb neue Start-ups (vgl. Duzdar 2017:326). Dabei kam Agnes Steissler-Führer für das Bundeskanzleramt zum Schluss, dass «nicht von Vorneherein behautet werden kann, dass die Digitalisierung mit Arbeitsplatzverlusten einhergeht. Insgesamt sind in den letzten beiden Jahren sogar mehr Jobs entstanden als im selben Zeitraum verschwunden sind» (Duzdar 2017:327). 2018 waren von den 10 weltweit größten globalen Unternehmen sechs digitale Konzerne, nämlich Microsoft, Apple, Google, Facebook, Amazon und der chinesische Konzern Tencent (vgl. Santarius und Lange 2018:25). Diese Konzerne zeichneten sich durch aggressive Wachstumsstrategien aus, die weniger auf Nachhaltigkeit, sondern vor allem auf quantitative Steigerung des Umsatzes ausgerichtet waren – und sind. So kauften Google, Facebook, Apple, Amazon und Microsoft in den letzten 30 Jahren rund 720 Firmen auf (vgl. Suter 2020:22). Dabei benutzen die Techfirmen den «Hang zur Bequemlichkeit und machen das Wechseln von einer App, einer sozialen Plattform, einer Kurznachricht zur firmenfremden anderen möglichst kompliziert. Ihr Ziel ist es, mit praktisch gleichbleibenden Fixkosten ein Maximum an NutzerInnen an sich zu binden» (Suter 2020:22). Dabei wagt selten jemand, die Techgiganten direkt anzugreifen. 2022 befanden sich laut Forbes (2022) immerhin vier digitale Unternehmen mit Sitz in den USA – nämlich Alphabet (Google; Marktwert $ 1,581.72 B), Amazon (Marktwert $ 1,468.4 B), Apple (Marktwert: $ 2,640.32 B) und Microsoft (Marktwert $ 2,054.37 B) – unter den 12 größten globalen Unternehmen, erst auf Platz 28 folgte der chinesische Digital Player Tencant Holding (WeChat; Marktwert $ 414.28 B). Hepp (2021:52) sieht bei den großen fünf digitalen Konzernen – den «Big Five» –, also Alphabet, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft, in einigen Bereichen wie bei

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den Betriebssystemen, der Online-Werbung und den Cloud-Diensten zwar Überschneidungen und damit einen gewissen Wettbewerb, aber in anderen Geschäftsfeldern ergänzen sich die Unternehmen und bilden einen Oligopol. Dieser «oligopolitische Medienkapitalismus» (Hepp 2021:52) sei von 2001 bis 2021 relativ stabil geblieben – trotz Krisen der «New Digital Economy zwischen 2001 und 2004. Eine ähnliche oligopole Struktur haben chinesische Anbieter rund um Alibaba in asiatischen Ländern gebildet. Entsprechend gelte es – so Hepp (2021:55) – das Oligopol einflussreicher Medien- und Technologiekonzerne im Auge zu behalten. Bei Unternehmen erfreut sich Cloud-Computing, das Mieten von IT-Infrastruktur und Software, einer großen Nachfrage. Unter anderem deshalb, weil Firmen weniger Kapital binden wollen und variable Kosten bevorzugen. Nach Möglichkeit wird nur für die jeweils tatsächlich benötigte IT-Infrastruktur bezahlt. Außerdem sind viele neue Angebote nur als Cloud-Lösung möglich, also als «Software as a Service», so Cédric Moret, Konzernchef der Westschweizer Firma Elca Informatik (vgl. Müller 2019:30). In vielen Geschäftsprozessen sind Cloud-Lösungen zum Standard geworden und aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Auch Industrieunternehmen greifen vermehrt auf Cloud-Service-Dienste zurück, insbesondere Großkonzerne, aber zunehmend auch die übrigen Firmen (vgl. Müller 2019:30). Dazu kommt, dass seit einigen Jahren die US-Behörden dank der Clarifying Lawful Overseas Use of Data Act (US Cloud Act) unter bestimmten Bedingungen sogar Zugriff auf Standorte außerhalb der USA haben (vgl. Müller 2019:30). Dieser Vorteil der Verbrechensbekämpfung sind sowohl für Cloud-Anbieter als auch für Kunden ein Nachteil. Denn laut Gesetz reicht bereits ein vager Bezug zu den USA aus, damit es angewendet werden kann. Wehren können sich dagegen nur Personen, wenn es sich weder um US-Staatbürger noch um Personen handelt, die sich in den USA aufhalten (vgl. Müller 2019:30). In Europa heißt das für einen amerikanischen Cloud-Anbieter, dass er sich entweder gegen US-Recht oder gegen die EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) entscheiden muss – eine sehr schwierige, wenn nicht unmögliche Aufgabe. Und der Kunde, der einen Cloud-Dienst nutzt, hat keinerlei Abwehrmöglichkeiten – weil er juristisch nicht Partei ist. Dabei reicht die Speicherung von Daten in der Schweiz nicht aus. Auch US-Firmen, die Daten in der Schweiz speichern, unterliegen dem US Cloud Act. Die einzige Möglichkeit – so Moret von Elca Informatik – liegt darin, die Daten in heikle und weniger heikle Daten zu unterteilen. «Geheime Informationen und Daten von Einzelpersonen sollten nicht nur verschlüsselt gespeichert werden, sondern am besten vor Ort im Unternehmen bzw. im eigenen Datenzentrum» (Müller 2019:30). Also nationale Lagerung heikler Daten im eigenen Land und harmlose Informationen bei einer US-Cloud-Firma. Der Nachteil besteht darin, dass mehrere Ansprechpartner involviert sind. Allerdings kam es 2022 bei verschiedenen digitalen Großunternehmen zu massiven Entlassungen: Nach der Übernahme von Twitter entließ Elon Musk gegen 50 % der 3700 Mitarbeitenden (vgl. Langer 2022a:25), und Mark Zuckerberg, der CEO des MetaKonzerns, zu dem Facebook gehört, gab im November 2022 bekannt, mehr als 11.000

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Mitarbeitende oder 13 % der Belegschaft zu entlassen (vgl. Keusch 2022b:26). Dabei stand der Konzern gleich vor mehreren Problemen: der Konkurrent TikTok machte Kunden abspenstig, durch Software-Änderungen verlor der Konzern wichtige Kenntnisse über seine Kunden und aufgrund der Weltwirtschaftsentwicklung gaben die Kunden von Meta weniger für Werbung aus. Dabei ist zu bedenken, dass Meta 98 % seines Umsatzes mit Werbung macht und weltweit der zweitgrößte Anbieter von Digitalwerbung ist (vgl. Keusch 2022b:26). Auch Amazon stand im November 2022 vor einer großen Entlassungswelle – die Zahl der anstehenden Entlassungen wurden auf rund 10.000 Mitarbeitende geschätzt, zumeist im Hardware-Sektor, der Produkte wie Kindle oder den Sprachassistenten Alexa entwickelte (vgl. Langer 2022a:25). Am 4. Januar 2023 war bereits von der Streichung von 18.000 Stellen die Rede gewesen, von denen der Konzernchef Ady Jassy in einem Memo gesprochen hatte (dpa 2023:9). Amazon hatte bereits im November 2022 begonnen, Stellen zu streichen. Die Kündigungswelle betraf zunächst vor allem die defizitäre Geräteherstellung um die Echo-Smartlautsprecher und das Sprachassistenzprogramm Alexa. Zwar mag das bei weltweit 1,54 Mio. Mitarbeitenden eher wenig erscheinen, von denen der größte Teil in den Warenzentren beschäftigt waren (vgl. Langer 2022a:25). Der Jobabbau bei Amazon ist ein weiterer Beleg für das jähe Ende des Job-Booms in der Tech-Branche. Und der US-Software-Hersteller Salesforce hat angekündigt, zehn Prozent des Personals loszuwerden. Zuletzt hatte der SAP-Rivale 79.000 Mitarbeitende (vgl. dpa 2023:9). Noch im Jahr 2021 hatte die amerikanische Einzelhandels-, Großhandels und Kaufhausgewerkschaft RWDSU eine deutliche Niederlage bei einem großen Amazon-Lagerhaus in Alabama eingefahren: War 1983 noch ein Fünftel der amerikanischen Angestellten gewerkschaftlich organisiert, so hat sich dieser Anteil seitdem halbiert. Besonders bei der Produktion, dem Transport und der Bewegung von Gütern war der Rückgang gewerkschaftlicher Organisierung enorm. Das zeigte sich auch in Alabama: Die Stimmbeteiligung lag bei 55 % und mit satten 71 % entschied sich die große Mehrheit der Beschäftigten in der Stadt Bessemer gegen die Gewerkschaft (vgl. Leisinger 2021:22). Die Frage ist, wie die Amazon-Mitarbeitenden künftig auf die verschärften Bedingungen reagieren werden. Wenn auch viele Beobachter die Entlassungen auf eine unmittelbar bevorstehende Rezession zurückführten – die Entlassungswelle kann durchaus auch ein Anzeichen für den zu Ende gehende Hype in der Technologiebranche sein, und ein Hinweis, dass die Digitalisierungswelle in Zukunft nicht mehr gleich rasant weitergehen wird wie bis anhin. Alphabet, also der Mutterkonzern von Google, und Apple verfügten im November 2022 Einstellungsstopps (vgl. Langer 2022a:25). Auch kleinere Technologiefirmen entließen Mitarbeitende, so etwa Netflix 450, der Fahrdienstleister Lyft 680, der Zahlungsdienstleister Stripe 1100, der E-Commerce-Anbieter Shopify 1000 und Snap, Mutterkonzern des Social-Media-Anbieters Snapchat 1300 Angestellte. Bei Snap waren das immerhin 20 % der Mitarbeitenden (vgl. Langer 2022a:25).

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In der Corona-Pandemie waren die Einschränkungen gegensätzlich: Einerseits nannten 66 % der Angestellten in der Schweiz die Ermächtigung, Entscheidungen selbstständig zu treffen. «Andererseits berichten die Befragten auch von elektronischem Monitoring durch ihren Arbeitgeber: Bei 46 % blockiert der Arbeitgeber den Zugriff auf bestimmte Internetseiten, 22 % werden beim Besuchen von Internetseiten überwacht. Bei 14 % überwacht der Arbeitgeber die Inhalte der geschäftlichen E-Mails. Bei 8 % werden die Telefongespräche aufgezeichnet. Und bei je 7 % werden Videoüberwachung, Fingerabdruckscanner oder elektronische Standortverfolgung zur Überwachung eingesetzt» (Grote und Staffelbach 2020:7). Der Großteil, nämlich 82 % der Befragten, fühlten sich aber wenig oder überhaupt nicht durch den Arbeitgeber in der eigenen Privatsphäre eingeschränkt. «Der überwiegende Teil der Arbeitnehmenden zieht es eher (38 %) oder voll und ganz (35 %) vor, Arbeits- und Privatleben getrennt zu halten. Beschäftigte, die dem überhaupt nicht oder eher weniger zustimmen, sind eine Minderheit (9 %)» (Grote und Staffelbach 2020:33). Vor der Corona-Pandemie waren sich die Interviewten einig, dass eine Digitalisierung per se keinen Mehrwert für die Wirtschaft bringe. Im Gegenteil: Das Zusammenwirken von Behörden und Firmen könne komplexer und mühevoller werden – und eine Scheindigitalisierung werde den Bearbeitungsaufwand nicht verringern, sondern sogar möglicherweise erhöhen (vgl. Aschwanden 2020:11). Erst wenn die Bearbeitungsprozesse standardisiert, die Benutzerfreundlichkeit verbessert und eine technische Synchronisierung erfolge, werde sich der Austausch zwischen Unternehmen und Behörden verbessern. Und erst dann könnten die Kosten bei Unternehmen gesenkt und die Standortaktivität der Schweiz mittelbar erhöht werden – unter gleichzeitiger Steigerung der Effizienz- und Effektivität in der Verwaltung. Bedingung dafür sei jedoch eine rasche Etablierung einer elektronischen Identität (E-ID). Wiemeyer (2021:164 f.) sieht in der Digitalisierung vor allem zwei Herausforderungen: Zum einen eine große Chance für Entwicklungs- und Schwellenländer, weil sie mit Hilfe der Digitalisierung gewisse Stufen der Industrialisierung überspringen können (z. B. Telefonanschlüsse über Kupferkabel und die Festnetztelefonie), und zum anderen große ökologische Folgeschäden durch die notwendige Rohstoffgewinnung für die digitalen Geräte (z. B. Coltan, seltene Erden usw.), aber auch den hohen Energiegebrauch im Zusammenhang mit der Digitalisierung (z. B. für das Mining von Bitcoins). «Es ist faszinierend, dass ich einen Computer einstecken kann, und er druckt Geld», sagt Yves Hörler (vgl. Von Wyl und Wüstholz 2021:15). Dazu brauche es bloß Internet, Elektrizität und frische Luft. Eine solche Bitcoin-Farm funktioniert fast automatisch. Wenn es ein Problem gibt, kommt eine Meldung aufs Mobiltelefon, und das war in diesem Fall vor sechs Wochen. Manchmal winken Tagesprofite von Fr. 100.000.-, manchmal gibt es Verluste in der gleichen Höhe. Hörlers Firma könnte rund 2000 Einfamilienhäuser mit Wasser versorgen, aber: «Alles ist irgendwie ein Geschäftsmodell. Irgendjemand macht es sowieso, warum soll nicht ich es so ökologisch wie möglich machen?», findet der Unternehmer. Der Stromverbrauch von Bitcoin ist gigantisch: Laut einer Schätzung des

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Centre für Alternative Finance der Universität Cambridge verbrauchte etwa Bitcoin Ende März 2021 etwa 140 Terawattstunden (TWh) jährlich. Immerhin soll etwa 39 % des für Bitcoin-Schürfung eingesetzten Energie erneuerbar sein – so die Schätzung der «3rd Global Crypoasset Benchmarking Study» der Universität Cambridge vom September 2020. 2140 wird der 21-millionste und letzte Bitcoin «geschürft» ein – und alle vier Jahre halbiert sich die Belohnung, die MitarbeiterInnen erhalten. Solange sich das alles finanziell lohnt, wird der Stromverbrauch weiter steigen (vgl. Von Wyl und Wüstenholz 2021:15). Dabei ist der Strombedarf enorm. So veranlasste eine Bitcoin-Farm im Südosten Irans mehrere Blackouts in Teheran, Maschhad und Täbris. Daraufhin stoppte die staatliche Elektrizitätsgesellschaft vorerst sämtliche Bitcoin-Schürferei und setzte für Informationen über unbewilligte Bitcoin-Farmen eine Belohnung aus. Bereits 2018 hatte die kanadische Provinz Québec ein Moratorium für neue Bitcoin-Farmen eingesetzt, und die chinesische Provinz Innere Mongolei verbietet das Schürfen seit April 2021 (vgl. Von Wyl und Wüstholz 2021:15). Laut dem «Bitcoin Energie Consumption Index» des niederländischen Ökonomen Alex de Vries sorgt eine einzige Bitcoin-Überweisung für einen CO2 -Ausstoß von knapp 400 kg – so viel wie ein Flug von Zürich nach Moskau. In einer Berechnung kam de Vries sogar zum Schluss, dass Bitcoin-Farmen im aktuellen Hype so viel Strom verbrauchten wie alle anderen Rechenzentren zusammen (vgl. Von Wyl und Wüstenholz 2021:15). Fast ein Viertel des Stroms für Bitcoin stamme aus erneuerbaren Quellen – aber ob das stimmt, ist fraglich. Zumindest fehlt dieser Strom dann anderswo. Dazu kommt das Problem, dass praktisch niemand den Überblick hat, wo die Farmen genau stehen und was sie für ihren Strom bezahlen – auch Hörler wollte der WOZ nicht sagen, zu welchem Vorzugspreis er Elektrizität in Geld umsetzt und wo genau sein Wasserkraftwerk stehe. Und Hilfswerke wie SOS Kinderdorf, aber auch die SBB, der Kioskkonzern Valora, Digitec Galaxus und andere geben sich auf Nachfrage für die schädliche Stromproduktion wenig kritisch (vgl. Von Wyl und Wüstenholz 2021:76). Von daher stimmt auch die Voraussage von Jeremy Rifkin (2016:122 f.) keinesfalls – zumindest nicht kurzfristig – dass die Energiekosten erneuerbarer Energie praktisch gegen null tendierten, weil die Grenzkosten immer geringer würden oder sogar bei Null lägen. Dass die Grenzkosten sinken, ist zweifellos richtig, aber die Vorinvestitionen für erneuerbare Energie, der Umbau der Strom-Versorgungnetze, deren dezentrale Steuerung und die großen Ausfallrisiken, die letztlich immer auch große finanzielle Risiken sind, sprechen eine andere Sprache. Der durch den Ukrainekrieg verursachte Energiemangel, die Preissteigerungen von fossiler Energie und auch von Strom deuten vielmehr auf eine extreme Abhängigkeit und Verwundbarkeit der Wirtschaft im Zusammenhang mit der Energie. So musste etwa China – trotz angeblich so billiger Energiegrenzkosten – das Mining von Bitcoin verbieten, weil die dadurch verbrauchte Energie dermaßen hoch war, dass die chinesische Stromversorgung zusammenzubrechen drohte. Und 2022 mussten stillgelegte Kohlekraftwerke wieder in Betrieb genommen werden und die Produktion von Flüssiggas (LNG) wurde massiv angekurbelt. Und verschiedene Länder Europas – so die Schweiz oder Frankreich – warnten sogar vor stundenweisen Abschaltungen der Stromversorgung.

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Deutschland verlängerte die Laufzeit ihrer letzten Atomkraftwerke und vielerorts – so in der Schweiz – wurde über den Neubau von Atomkraftwerken diskutiert. Man mag das alles zwar als kurzfristige Mangellage sehen, aber Fakt ist, dass 2022 die Energiepreise explodierten und auch die erneuerbare Stromproduktion daran nichts änderte. Seit kurzem bezahlen zudem Firmen wie Swisscom professionelle Hacker, um Schwachstellen in ihrem IT-System zu finden. Heute zahlen Swisscom jährlich rund 500.000 Franken an Prämien an rund 1000 Meldungen zurück, von denen rund die Hälfte als Entdeckung akzeptiert wird. Bezahlen muss die Swisscom nur, wenn die Hacker etwas finden. Bei kritischen Schwachstellen sind das bis zu 10.000 Franken (vgl. Mäder 2021:23). Die Firma fokussiert auf lukrative Bug-Bounty-Programme und arbeitet mit der französischen Firma Yes-WeHack zusammen. Dieses 2013 gegründete Unternehmen betreibt eine Bug-Bounty-Plattform als europäische Konkurrenz zu amerikanischen Anbietern wie Hacker-One. Auf solchen Programmen können Unternehmen ihre Programme ausschreiben, Hacker einladen und über Meldungen über Schwachstellen sortieren lassen. Wichtig ist dabei der Dialog zwischen den Hackern und den IT-Entwicklern. Nicht wenige Firmen in der Schweiz stellen die Bedingung, dass sie nur mit einem Schweizer Anbieter zusammenarbeiten (vgl. Mäder 2021:23).

3.1

Produktion

Zu den drei klassischen Kernbereichen der Digitalisierung in Unternehmen, nämlich erstens der Wertschöpfungskette, zweitens der Kundenschnittstelle und drittens des Geschäftsmodells müsste nach Ansicht von Volkens und Anderson (2018:26) ein vierter Bereich kommen: die Digitalisierung menschlichen Schaffens. Die beiden Autoren nennen diesen Aspekt human digitalisation. Volkens und Anderson (2018:26) meinen damit nicht nur Aspekte der Arbeit, sondern «alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Digitalisierung der gesamten Organisation und sogar der Gesellschaft». Allerdings definieren sie nicht – zumindest nicht an dieser Stelle – was sie unter «erfolgreich» verstehen. Ist damit die möglichst schnelle Durchsetzung digitaler Medien, Geräte und Know-how gemeint, deren gesellschaftliche Akzeptanz, ihre möglichst breite Anwendung oder eine hohe «digital literacy» der Bevölkerung? Im Alltag der Unternehmen geht es bei der Digitalisierung darum, «eine Verbindung der virtuellen und realen Welt zu schaffen, dergestalt, dass diese schließlich miteinander verschmelzen» (Pousttchi 2018:33). Dabei werde die geplante Fabrik zuerst in einem virtuellen Raum simuliert, getestet und optimiert. Danach wird die reale Fabrik als Abbild des optimierten Simulationsmodells gebaut, wobei der Bauprozess mittels Echtzeitdaten im virtuellen Modell überwacht und optimiert wird. Dazu braucht es unter anderem den Einsatz von Sensoren und Aktoren, die Anwendung von mobilen elektronischen

3.1

Produktion

49

Kommunikationstechniken mit geringen Latenzzeiten, die umfassende Erhebung, Archivierung und Verarbeitung von großen Datenmengen, Techniken maschinellen Lernens und fortgeschrittene Formen von Mensch-Computer-Interaktionen (vgl. Pousttchi 2018:33). Digitale Güter können von nicht digitalen Gütern unterschieden werden. Vollständig digitale Güter haben ausschließlich digitalen Charakter, zum Beispiel Anwendungsprogramme (Software), Daten, digitale Bilder. Semidigitale Güter werden zusammen mit einer nichtdigitalen Zusatzleistung vertrieben, z. B. ein Computer-Software zusammen mit Beratung- oder Instruktionsleistungen. Bei semiphysischen Gütern besitzen neben einem digitalen Aspekt auch einen physischen Teil, zum Beispiel in Form eines physischen Versands eines Produkts durch einen E-Commerce-Anbieter (vgl. Petersen 2020:14). Wichtig ist, dass schon vor der digitalen Ökonomie immaterielle Güter produziert und gehandelt wurden, z. B. Know-how, Urheberrechte, Eigentumsrechte usw. Der große Vorteil digitaler Güter liegt darin, dass diese in der Regel problemlos vervielfältigt oder kopiert werden können, was allerdings auch Gefahren für den Produzenten oder Eigentümer mit sich bringt. In vielen Bereichen der Industrie und der Gesellschaft hat in den vergangenen Jahren die Robotik Einzug gehalten: Industrieroboter fertigen Produkte oder verarbeiten Teilprodukte am Fließband, Roboter entschärfen Bomben und Minen, Tunnelbauer setzen Bohrroboter ein, Roboter räumen verstrahlte Orte nach Atomunfällen, Roboter werden als Tiefseetaucher eingesetzt und Serviceroboter bedienen Restaurantkunden oder Patienten in den Spitälern. Roboter kommen dort zum Einsatz, wo die Bedingungen für Menschen lebens- oder gesundheitsgefährdend sind oder wo sie ganz einfach effizienter arbeiten als Menschen (vgl. Fuchs 2021:27). 2022 war China der größte Absatzmarkt für Industrieroboter. In Jahr 2021 waren in China 268.000 Roboter installiert worden, was eine Zunahme von 51 % im Vergleich zum Vorjahr bedeutete. Mit Abstand zweitplatziert in Bezug auf neu abgesetzte Industrieroboter war 2021 Japan mit 47.000 neuen Industrierobotern (vgl. Triebe 2022:28). Im Jahr 2020 gab es in China 246 Industrieroboter auf 10.000 Angestellte, 2010 waren es noch 15 Roboter auf 10.000 Angestellte gewesen. Damit befand sich China weltweit auf dem 9. Platz (vgl. Triebe 2022:28). Bereits im Jahr 2019 war die Zunahme an neu installierten Industrierobotern erstmals eingebrochen: Bis 2018 war die Zahl jedes Jahr gestiegen, 2018 lag sie bei rund 420.000 neu installierter Industrieroboter. 2019 waren es 12 % weniger, nämlich rund 373.000 (vgl. Müller 2021:25). Im 1. Pandemiejahr 2020 dürfte der Rückgang noch stärker ausgefallen sein. Auf ihrem Höhepunkt wurden weltweit rund 50 Mrd. US-Dollar umgesetzt. Besonders widerstandskräftig war dabei die Kategorie der sogenannten Cobots (Collaborative Robots). Diese nur sehr kleinen Fertigungsroboter, die nur wenige Kilogramm bewegen und direkt mit Menschen zusammenarbeiten können, verrichten ihre Arbeit im Gegensatz zu großen Robotern nicht in abgetrennten Zonen. Laut der International Federation of Robotics (IFR) wurden 2019 weltweit 18.000 Cobots verkauft oder 2000 mehr als im Vorjahr (vgl. Müller 2021:25). Volumenmäßig machten sie kaum

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3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

5 % und wertmäßig noch viel weniger am Gesamtmarkt aus. Trotz des Einbruchs während der Corona-Zeit sind Cobots deutlich weniger stark von Einbrüchen tangiert als Industrieroboter. Ein gewichtiges Argument für Cobots ist ihre einfache Bedienung – fast alle können heute Cobots bedienen, sogar Kinder. Neben der Benutzerfreundlichkeit ist auch das Preis-Leistungsverhältnis ein wichtiges Argument. So gelten etwa mehr als die Hälfte aller KMU als potenzielle Cobot-Käufer (vgl. Müller 2021:25). Im Gegensatz zu Großrobotern kosten Cobots zwischen 25.000 und 45.000 e – zusammen mit der Systemintegration ergeben sich Gesamtinvestitionen von unter 100.000 e. Dieser Betrag ist meist nach einem Jahr wieder eingespielt. ˇ Der Begriff «Roboter» stammt aus einem Theaterstück von Karel Capek aus dem Jahr 1920 mit dem (übersetzten) Titel: «Rossums universelle Roboter». Der Begriff ist vom tschechischen Wort «robota», Arbeit oder Frondienst, abgeleitet, womit auch unentgeltliche Arbeit für die Gemeinde bezeichnet wird (vgl. Fuchs 2021:29). Die große Frage ist2 , ob Roboter und KI-Systeme als «autonom», «intelligent» und «lernfähig» bezeichnet werden können. Bewiesen ist bisher zweifelsfrei, dass die dritte Eigenschaft, die Lernfähigkeit, Robotern und KI-Systemen einprogrammiert werden kann und somit insbesondere KI-Systemen zugänglich ist. So kann ein KI-Programm innerhalb weniger Stunden so effizient lernen, dass es im Schachspiel oder im noch komplexeren Go-Spiel einem Menschen überlegen ist (vgl. Fuchs 2021:39). Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach der «Autonomie» und der «Intelligenz» von hochentwickelten KI-Systemen und Robotern. Und erst recht unbeantwortbar ist zumindest bis heute die Frage nach einem möglichen «Bewusstsein» von KI-Systemen. So wie es einem Menschen prinzipiell unmöglich ist, direkt etwas über das «Bewusstsein» von Tieren auszusagen – weil Bewusstsein immer speziesgebunden und in unserem Fall also anthropomorph – ist, dürfte es auch keinen direkten Maßstab für das Bewusstsein maschineller oder virtueller Systeme geben. Feststellbar und messbar sind nur deren Handlungen, aber diese können auch auf einer hoch entwickelten Kombinatorik oder Rechenfähigkeit beruhen: Ein KI-System, das ein Buch in eine andere Sprache übersetzt – was, nebenbei gesagt, heute bereits perfekt möglich ist –, muss den Inhalt des übersetzten Textes nicht verstanden haben. In der Industrie werden zunehmend auch autonome Baumaschinen zum Einsatz kommen. So gibt es etwa im Fraunhofer-Institut einen vollautomatischen Minibagger, der einen autonomen Erdaushub in einem vorgegebenen Bereich vornehmen kann, der vom Benutzer mittels einer grafischen Oberfläche ausgewählt wird (vgl. Bauckhage et al. 2018:253). Mögliche Arbeitsbereiche für autonome mobile Arbeitsmaschinen sind auch die Bergung und der Abtransport von Gefahrstoffen. Doch stimmt es, wie Radermacher (2017:47) meint, dass die Portersche Wertschöpfungskette durch die Digitalisierung ungültig geworden ist? Natürlich trifft es zu, dass durch die Digitalisierung vernetztes Arbeiten, Teamarbeit und synchrone Prozessabläufe 2 Vgl. dazu ausführlich Abschn. «2.3Technikgeschichtlicher Hintergrund der Künstlichen Intelli-

genz (KI)».

3.1

Produktion

51

häufiger geworden sind. Auch ist durch die vorgängige digitale Simulation und Virtualisierung von Produktionsabläufen und Prozessen der lineare Prozessablauf vielfach durchbrochen worden. Und diese Art von Herstellung erlaubt eine deutlich stärkere Ausrichtung von Design und Produkten auf individuelle Kundenwünsche. Doch alle Bestandteile der Wertschöpfungskette bleiben erhalten. Die IT-Spezialistin Sarah Spiekermann (2019:95) hat darauf hingewiesen, dass Computerprogramme nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in Unternehmen zwar in vielen Bereichen weniger Fehler machen als Menschen, aber «digitale softwarebasierte Systeme sind fehleranfällig». So kann der Code Fehler haben, die verarbeiteten Daten können Fehler enthalten – zum Beispiel wenn sie veraltet sind oder Doppelungen enthalten –, das System kann über zu wenige Daten verfügen oder das System kann für Kontexte eingesetzt werden, für das es nicht entwickelt wurde (vgl. Spiekermann 2019:95 f.). Die Fehleranfälligkeit von Softwaresystemen oder softwaregestützten Maschinen führt dazu, dass ein Großteil der Entwicklungszeit für so genanntes Debugging, also für die Fehlerbehebung, eingesetzt werden muss. So werden im klassischen Flugzeugbau nur drei von 24 Monaten für die Entwicklung neuer Programmcodes eingesetzt, die restlichen 21 Monate dienen zur Fehlerbehebung (vgl. Spiekermann 2019:96). Unternehmen technischer Geräte verfolgen das Ziel, auf weniger als 0,5 Fehler pro 1000 Codezeilen in der Software zu kommen. Aber wenn man bedenkt, dass in einem hochdigitalisierten Auto bis 100 Mio. Zeilen Code enthalten sind, bedeutet das bei 0,5 Fehler pro 1000 Zeilen Code immer noch 50.000 Fehler (vgl. Spiekermann 2019:96). In Hochsicherheitsbereichen wie der Luftfahrt oder in der Medizin stellt dies ein Problem dar. In seinem fulminanten Plädoyer für die 3-D-Drucktechnologie vergleicht Jeremy Rifkin (2016:134 ff.) diese Produktionsmethode mit dem Replikator der Fernsehserie Raumschiff Enterprise, wo Automaten auf Knopfdruck aus dem Nichts jeden Gegenstand herstellen können. So sei erstens außer für die Herstellung der Software keine menschliche Arbeit mehr nötig. Zweitens könne jeder Konsument durch den 3-D-Druck seine eigenen Gegenstände herstellen. Drittens ermöglichten die massiv sinkenden Preise für 3-D-Drucker – der bereits für 1500 Dollar zu haben sei – praktisch jedem, ein solches Gerät anzuschaffen. Viertens ersetze der 3-D-Drucker die herkömmlichen Fabrikationsmethoden von Gegenständen, wobei die Software das flüssige Material dirigiere und so Schicht für Schicht ein komplettes Produkt herstelle. Fünftens könne der 3-D-Drucker seine eigenen Ersatzteile drucken, ohne dass man in teure Rundumerneuerung investieren müsse. Sechstens ließen sich durch die 3-D-Technologie auch kleinste Zahlen von Produkten herstellen. Siebtens sei der 3-D-Druck «von vorneherein auf nachhaltige Produktion ausgerichtet» (Rifkin 2016:136). Und achtens lasse sich der 3-D-Drucker dezentral, kollaborativ und lateral skaliert einsetzen, was genau dem Wesen des Internet der Dinge entspreche. Einmal abgesehen davon, dass kein 3-D-Drucker alle Materialen und Produkte produzieren kann, die benötigt werden, erscheint es doch etwas naiv, zu glauben, dass damit beliebig Produkte zum Nulltarif hergestellt werden können. Zum einen müssen all die Produkte designt und die Software entsprechend vorbereitet werden, anderseits

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3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

braucht es neben Energie auch Rohstoffe. Und schließlich wird der kapitalistische Markt mit Sicherheit andere Möglichkeiten finden, um eine Gratiswirtschaft zu verhindern, z. B. über Lizenzgebühren, Urheberrechte, Wartungsverträge usw. Längst nicht jede technische Neuerung, bei weitem nicht jede digitale Innovation bringt dem betreffenden Unternehmen den erhofften Mehrwert. Laut Spiekermann (2019:133) werden im Nachhinein je nach Projekt gerade mal 31 bis 61 % von IT-Investitionen als positiv beurteilt. Treiber für IT-Investitionen sind meist erhoffte Wettbewerbsvorteile, die Angst, aus dem Markt geworfen zu werden oder ganz einfach «Me-Too-Strategien». Spiekermann (2019:133) hat mit Blick auf den Start-up-Hype darauf hingewiesen, dass von 3,36 Mio. Apps für das mobile Betriebssystem Android gerade mal 26 bis 30 in hinreichendem Maß von Kunden genutzt wurden, dass man damit Geld verdienen konnte. Viel zu oft werden digitale Neuerungen nicht oder zu wenig hinterfragt, viel zu häufig ist die platte Gleichsetzung von Digitalisierung = Fortschritt festzustellen (vgl. Spiekermann 2019:134). Die Digitalisierung dürfte allgemein eher sogenannte Lock-in-Effekte verstärken. Lock-in-Effekte entstehen durch die Bündelung von Angeboten (vgl. Petersen 2020:53). Digitale Geräte, die bestimmte Ersatz- oder Verbrauchsteile verlangen – z. B. ein Drucker spezifische Druckerpatronen, oder ein Staubsauger ganz bestimmte Staubsäcke – verstärken solche Effekte. Eigentlich könnte nur eine durchgehende Standardisierung – etwa von Druckerpatronen – diese Lock-in-Effekte aushebeln. Außerdem müsste eine durchgehende Modularisierung durchgesetzt werden, damit beim Ausfall eines bestimmten Teils nicht das gesamte Gerät ersetzt werden müsste. Gerade hier könnte die Digitalisierung auch dazu eingesetzt werden, Lock-in-Effekte oder geplante Obsoleszenz3 zu verringern oder gar zu verhindern, doch dazu braucht es entweder freiwillige Standardisierungsbemühungen der Produzenten oder staatliche Regelungen. Auf einen interessanten Effekt der Digitalisierung deutet eine Studie des Fraunhofer ISI hin: Eine stark digitalisierte Kollaborativ-Wirtschaft könnte deutlich größere Zahlen kleiner und kleinster Unternehmen mit einem hohen Automatisierungsgrad hervorbringen und so die Gründungsdynamik in der Wirtschaft verstärken (vgl. Weissenberger-Eibl 2018:217). Allerdings dürfte das nur für diejenigen Branchen gelten, in denen Start-ups nicht enorm viel Gründungskapital benötigen, etwa im Dienstleistungs- und Beratungsbereich. Nach Einschätzung von befragten Computerexperten arbeiteten 2013 47 % der Beschäftigten in den USA in Berufen, die in den nächsten 10 bis 20 Jahren mit über 70 % Wahrscheinlichkeit automatisiert werden können. Das bedeutet: Roboter und künstliche Intelligenz werden mehr Jobs vernichten als wir uns jetzt vorstellen können (vgl. Spermann 2017:12). Für Deutschland lauten die entsprechenden Zahlen weniger dramatisch: Laut einer ZEW-Studie werden 12 % der Arbeitsplätze der Automatisierung zum Opfer fallen (vgl. Spermann 2017:13). Doch die Genauigkeit dieser Voraussagen ist mehr als fraglich. Im schulischen Bereich sind vor allem fünf Maßnahmen wahrscheinlich: 3 Zur geplanten Obsoleszenz vgl. auch Abschn. «3.5 Konsum».

3.2

Handel und Onlinehandel

53

größere Lernzeit, besser ausgebildete Lehrer, Unterstützung durch Tutoren, häufigere Testauswertungen und eine Kultur mit hohen Erwartungen an die Schüler:innen. Außerdem dürfte sich die Ausbildung in Hochschule und Weiterbildung bis ins Rentenalter durch den Einsatz digitaler Bildungselemente verbessern (vgl. Spermann 2017:14). Umgekehrt fehlt es oft an präventiver Arbeitsmarktpolitik zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit, wodurch sich zumindest bei einem Teil der Werktätigen das Risiko der Arbeitslosigkeit verstärken dürfte. Für Langzeitarbeitslose wird außerdem eine «flächendeckende Schuldner-, Suchtund psychosoziale Beratung notwendig» (Spermann 2027:14), und zeitlich befristete finanzielle Anreize als kosteneffizientes Mittel zur Erhöhung der Beschäftigungswahrscheinlichkeit werden erforderlich. Vor diesem Hintergrund scheint die Folgerung von Spermann zumindest fraglich, wonach die «Vollbeschäftigung … ein realistisches Ziel und keine Illusion [sei], doch es bedarf einer klaren Strategie» (Spermann 2017:14). Doch in der Realität scheint sich eine Zweiteilung des Arbeitsmarktes herauszuschälen: Auf der einen Seite gut ausgebildete und wettbewerbskompetente Mitarbeitende, und auf der anderen Seite eine wachsende Zahl von Arbeitssuchenden, deren Qualifikation nicht mehr auf dem aktuellen Stand ist, die selbst mit Zusatzqualifikationen nicht mehr vermittelbar sind und die den Kern eines langfristig zunehmenden Arbeitslosenmarktes bilden. Von dieser zweiteiligen Entwicklung dürften künftige Arbeitsmarktstudien auszugehen haben.

3.2

Handel und Onlinehandel

In der Ökonomie wird zwischen Fixkosten, variablen Kosten, Durchschnittskosten und Grenzkosten unterschieden. Fixkosten sind unabhängig von der Menge der produzierten Güter, z. B. Mietkosten am Produktionsstandort. Variable Kosten sind abhängig von der produzierten Gütermenge, etwa Strom- oder Energiekosten, Rohstoffverbrauch oder Kosten der Vorprodukte. Durchschnittskosten bezeichnen die durchschnittlichen Kosten pro Gütereinheit. Und die Grenzkosten sind die zusätzlichen Kosten, die pro zusätzlich produzierte Gütereinheit entstehen. Bei digitalen Produkten – etwa Kopien von Softwareprogrammen, digitalen Musikkopien, Kopien von digitalen Fotos usw. – sinken die Grenzkosten gegen null. Werden die Produkte nur teilweise digital erzeugt oder digital vertrieben, sinken die Grenzkosten auch, aber nicht so stark wie bei ausschließlich digitalen Produkten. Allgemein kann man sagen, dass mittel- und längerfristig der digitale Handel die Verkaufspreise eher sinken lässt – es sei denn, es werden zusätzliche digitale oder analoge Leistungen angeboten, z. B. durch Lieferung nach Hause. Wie stark der Online-Handel einzelne Branchen verändert hat, zeigt sich auch im Buchhandel. So erzielte etwa die Buchhandels-Kette Ex Libris in der Schweiz 2010 den Großteil ihres Umsatzes in 120 Filialen, allerdings zu 85 % mit CDs und DVDs (vgl. Benz 2022:21). Mit Video-on-Demand und dem Streaming von Musik und von Serien brach das Geschäft in den Ex-Libris-Filialen zwischen 2010 und 2017 um mehr als 50 % ein. Die Kette reagierte mit der Schließung von 60 ihrer damals 117 Filialen bis 2017,

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3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

und 2018 wurden gar bis auf 14 rentierende Filialen alle Geschäfte geschlossen. Fast ein Drittel aller Mitarbeitenden verlor ihre Stelle und die Ex Libris stieg radikal auf den Online-Buchhandel um. 2021 machte Ex Libris 92 % ihres Umsatzes von 134 Mio. Franken über ihre Online-Kanäle und war damit der zweitgrößte Buchhändler in der Schweiz, nach Orell Füssli Thalia mit einem Umsatz von 207 Mio. Franken im Jahr 2021. Orell Füssli setzte im Gegensatz zu Ex Libris weiterhin auf Filialen und baute deren Zahl weiter aus, der Online-Anteil lag bei knapp 50 % (vgl. Benz 2022:21). Durch den Umstieg auf den Online-Handel kam Ex Libris wieder in die Gewinnzone. Ex Libris sah sich Ende 2022 in Augenhöhe mit Amazon, wobei in etwa der Hälfte der Fälle Ex Libris und in der anderen Hälfte Amazon günstiger war (vgl. Benz 2022:21). Interessant ist die Aussage von Daniel Röthlin, CEO von Ex Libris, wonach ein kleines Unternehmen wie Ex Libris mit 220 Mitarbeitenden durchaus nicht gegen digitale Giganten wie Amazon ins Hintertreffen geraten muss: «Kleinheit muss kein Nachteil sein. … Sie zwingt uns, auf schlanke Strukturen und eine hochoptimierte Logistik zu achten» (zitiert nach Benz 2022:21). Allerdings zeigt der Verlagsmarkt auch, dass die Digitalisierung nicht in jedem Fall eine Erfolgsgeschichte darstellen muss. So verharrte 2022 in der Schweiz der Anteil der verkauften elektronischen Bücher bei rund 5 % und lag damit auf einem ähnlichen Niveau wie in Deutschland. Deshalb meinte der Ex Libris-Chef, dass der E-Book-Markt an eine Grenze gestoßen sei, über die hinaus kein großes Wachstum mehr zu erwarten sei (vgl. Benz 2022:21). Insgesamt ist der Onlinehandel noch bei weitem nicht mit dem stationären Handel zu vergleichen. Anteilmäßig machte der Online-Handel 2021 in der Schweiz gerade mal 12 % des Einzelhandelsumsatzes aus, wobei das Wachstum in absoluten Zahlen beim stationären Einzelhandel zwischen 2019 und 2021 höher war als im Onlinehandel (vgl. Ehrbar 2022:2). Entsprechend scheint der Schub beim Online-Handel durch die CoronaPandemie eher ein kurzfristiges Phänomen gewesen zu sein4 – aber in der Zukunft kann sich das wieder ändern. Petersen (2020:38) meint, dass einer der Vorteile des digitalisierten Handels darin bestehe, dass digitale Handelsplattformen eine größere Markttransparenz garantieren und längerfristig das Problem der asymmetrischen Informationen lösen können. Denn ein unterschiedlicher Informationsstand von Nachfrager und Anbieter könne zu einem Marktversagen führen. Denn ohne hohe Informationskosten könne der Käufer oft keinen wirklichen Qualitäts- und Preisvergleich machen. Als Beispiele dafür, wo es oft an Informationen und Transparenz mangle, nennt Petersen (2020:38 ff.) den Gebrauchtwagenhandel und den individualisierten Versicherungsmarkt. Hier schaffe der OnlineVergleich größere Transparenz. Allerdings können über sogenannte Bewertungsportale oder Bewertungsfunktionen neue Manipulationsmöglichkeiten entstehen. So können Kunden oder Dienstleister beauftragt werden, eigene Leistungen besser zu bewerten als sie tatsächlich sind, und umgekehrt Leistungen von Konkurrenten schlechter zu bewerten. Außerdem sind die Bewertungskriterien von Vergleichsplattformen oft nicht transparent 4 Vgl. Kap. «5 Der Digitalisierungsschub durch Covid-19».

3.2

Handel und Onlinehandel

55

oder gar missbräuchlich. Das erlebte der Autor bei einer Vergleichsplattform von Mietwohnungen in der Schweiz, wo die Plattform ein Rating zwischen 1 und 6 vornahm, jedoch ohne die Vergleichskriterien offen zu legen. Bei Nachforschungen stellte sich heraus, dass nur der Preis und die Anzahl Zimmer bewertet wurde, nicht aber die Lage, der Wohnungsstandard, die Wohnfläche in Quadratmetern, die Besonnung, der Zugang zum ÖV, das Alter der Wohnung oder der Umgebungslärm. All das wurde jedoch auf der Plattform nicht erfasst. Eine in einer teuren Wohngemeinde günstige und quadratmetermäßig große Wohnung wurde als sehr schlecht bewertet, obwohl sie auf dem Wohnungsmarkt in punkto Größe und Preis in der betreffenden Gemeinde besser war als die meisten anderen Angebote auf dem Markt, die jedoch alle besser oder gar nicht5 bewertet wurden. Offenbar hatte das Vergleichsprogramm als Grundgesamtheit die ausgeschriebenen Wohnungen auf dem gesamten Kantonsgebiet benutzt, jedoch ohne das zu deklarieren. Dabei können Wohnungen in wenig erschlossenen und armen Berggemeinden nicht mit Stadtoder Agglomerationsgemeinden verglichen werden. Nachfragen beim Plattformbetreiber wurden mit dem Hinweis abgeschmettert, dass das Vergleichsprogramm durch die Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich entwickelt worden sei – wie wenn nicht auch an einer renommierten Hochschule fehlerhaft oder schlampig gearbeitet werden könnte… Gleichzeitig sind Airbnb und ähnliche Organisationen auf dem Vormarsch: Laut Daten der Stadt Luzern gab es 2022 390 Wohnungen, die zur Kurzzeitvermietung genutzt wurden – also 0,8 % des städtischen Gesamtwohnungsstandes. 2021 waren das in absoluten Zahlen noch 330 Zweitwohnungen gewesen, also noch 60 Wohnungen weniger (vgl. Zwiefelhofer 2023:21). Allerdings ist die Verteilung der Airbnb-Wohnungen sehr ungleich: 40 der 60 neu angebotenen Wohnungen fielen auf das Quartier Reussbühl. Zürich kennt bis anhin keine Beschränkungen für Zweitwohnungen, in Bern sprach sich die Stimmbevölkerung im Frühling 2022 mit der Annahme der «Lex Airbnb» für eine Beschränkung von Ferienwohnungen und Businessapartments aus, und Genf hat die Anzahl der Tage, in denen eine Ferienwohnung am Stück fremdvermietet werden darf, auf 90 Tage beschränkt – nachdem eine Regelung, die von 60 Tagen ausging, von der kantonalen Verfassungskammer als unzulässig erklärt worden war (vgl. Zwiefelhofer 2023:21). In Amsterdam ist die Fremdvermietung von Wohnungen sogar auf 30 Tage beschränkt – allerdings läuft diesbezüglich ein Gerichtsverfahren. In Berlin und Barcelona müssen sich alle Anbieter von Ferienwohnungen registrieren lassen. In Palma de Mallorca sind Kurzzeitvermietungen ganz verboten. Demgegenüber hat Lissabon laut einer Zürcher Studie ein Drittel aller Wohnungen als Zweitwohnungen angeboten, mittlerweile soll es in der Innenstadt von Lissabon sogar mehr Ferienwohnungen als private Wohnungen geben (vgl. Zwiefelhofer 2023:21).

5 Dabei wurden sogenannte Ausreißer nach unten oder oben – also sehr günstige oder sehr teure

Angebote – gar nicht in die Bewertung aufgenommen. Außerdem erreichten Wohnungsvermittler, dass die von ihnen promoteten Wohnungen nicht geratet wurden. Wenn hier von «größerer Transparenz» gesprochen wird, ist das irreführend und zynisch…

56

3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

Umgekehrt können durch die Digitalisierung auch neue Informationsasymmetrien und Marktungleichheiten aufgebaut werden. So können Anbieter von Produkten – etwa in der Versicherungsbranche – mithilfe von Big-Data-Analysen Aussagen über die Zahlungsfähigkeit bestimmter Kundengruppen gewinnen. Das ist der Fall, wenn in bestimmten Wohnquartieren oder in bestimmten Straßenzügen mehr Insolvenzen oder größere Zahlungsausfälle zu verzeichnen sind und die Versicherungen für diese Gebiete die Prämien erhöhen, um das Risiko besser abzudecken. Wenn Sie das Pech haben, in einer schlecht bewerteten Straße zu wohnen, zahlen Sie unter Umständen höhere Prämien, als wenn sie drei Blocks weiter wohnen – oder Sie können gar keine Versicherung abschließen6 . Das Gleiche kann für bestimmte Berufsgruppen – z. B. unterschiedliche Gefahrenstufen bei der Unfallversicherung in der Schweiz – geschehen, oder in Form von Leistungsbeschränkungen der Krankenkassen bei Vorerkrankungen. Natürlich kann man argumentieren, dass dies auch ohne Digitalisierung oder Big-Data-Nutzung bereits der Fall war. Doch die großen Datenauswertungsprogramme erlauben eine viel feinere und auch eine personenbezogene Abstufung. Laut Petersen (2020:133) ist davon auszugehen, dass künftig neben den klassischen Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital, Boden sowie Know-how auch Daten als eigenständiger Produktionsfaktor angesehen werden können. Unverändert wichtig sind bis heute Energie und Rohstoffe7 . Demgegenüber geht die Bedeutung des traditionellen Produktionsfaktors Boden aufgrund der Virtualisierung und De-Lokalisierung der Produktion immer stärker zurück. Daten als neuer Produktionsfaktor ersetzen teilweise andere Produktionsfaktoren, wie etwa Arbeit oder Kapital (vgl. Petersen 2020:133 f.). Weil die Datenverarbeitungstechniken und Algorithmen immer feiner und spezifischer werden, dürfte die von Lucks (2020:95) als eine der großen Schwächen Europas bezeichnete Fragmentierung der Märkte künftig weniger ins Gewicht fallen als bis anhin – zumal die Märkte seit einiger Zeit wieder eher zu Autonomie und Diversität tendieren. In die gleiche Richtung deuten auch die zunehmend individuell und zielgruppenspezifisch ausgerichtete Produktion und das stärkere Zielgruppen-Marketing. Die Zeit der Massenmärkte scheint eher vorbei zu sein. Dazu kommt, dass bei genauem Hinschauen auch die Märkte USA oder China segmentiert sind – vielleicht zwar nicht sprachlich, aber sozial, regional, weltanschaulich oder ethnisch.

6 Vgl. dazu auch Abschn. «2.5 Algorithmen als totalitätsverdächtige ,Black Boxes‘ oder als Grund-

lage für die Partizipation der User?» 7 Es ist in der Volkswirtschaftslehre umstritten, ob Energie und Rohstoffe als Produktionsfaktoren anzusehen sind (vgl. dazu auch Petersen 2020:135). Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise spricht einiges dafür, dies zu tun.

3.3

3.3

Digitalisierug in kleinen und mittleren Unternehmen

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Digitalisierug in kleinen und mittleren Unternehmen

Schmiech (2018:21) hat darauf hingewiesen, dass die Geschäftsführungen in den kleinen und mittleren Unternehmen anfangs kaum ein vertieftes Verständnis für die Digitalisierung und den Industrie-4.0-Standard hatten und sich begnügten, externes Know-how einzukaufen. Inzwischen seien immer mehr Unternehmen dazu übergegangen, ihren digitalen Standort zu bestimmen und zu entwickeln. Die Digitalisierung ist im Mittelstand angekommen (vgl. Schmiech 2018:24), wenn auch die Tragweite für das eigene Unternehmen häufig noch nicht erkannt sei und daher zu wenig in die Digitalisierung investiert werde. Dabei wurde die Digitalisierung inzwischen in der Produktion und in der Logistik zum eigentlichen Treiber, ohne den heute gar nichts mehr läuft. Musste Schmiech (2018:23) vor ein paar Jahren noch dafür plädieren, dass die Digitalisierung in den Unternehmensleitungen und im Management ein Dauerthema bleiben müsse, ist das heute eine Selbstverständlichkeit. Längst geht es nicht mehr um das ob, sondern um das wie am besten. Es ist schwierig geworden, den Überblick über all die verschiedenen Industrie-4.0Techniken und Tools zu bewahren (vgl. Schmiech 2018:23). Daraus ergeben sich gerade für kleine und mittlere Unternehmen neue Herausforderungen. So sei es für die Geschäftsleitungen heute eine Frage des Überlebens, das Unternehmen auf die Veränderungen durch die Digitalisierung vorzubereiten, diese aktiv zu gestalten und für Nachhaltigkeit des digitalen Know-hows zu sorgen (vgl. Schmiech 2018:26). Wenn es jedoch stimmt – wie Petersen (2020:82) meint –, dass die voranschreitende Digitalisierung mit einer zunehmenden Flexibilität der Produktion einhergeht, wodurch auch kleine Stückzahlen von individualisierten Produkten kostengünstig herstellbar werden, dann kann das besonders auch für kleine und mittlere Unternehmen die Möglichkeiten verbessern, eigene Marktnischen zu finden und kundenspezifische Produkte zu entwickeln und zu vertreiben. Ein gutes Beispiel dafür ist die 3D-Druck-Technologie. Für viele standardisierten Abläufe gibt es heute eine App. Jedoch warnen verschiedene Digitalisierungs-Beobachter – so auch Radermacher (2017:57) – vor blindem Aktionismus. Nicht wenige Unternehmen oder Organisationen gehen nach der Devise vor: «Egal was und wozu … Hauptsache, eine App» (Radermacher 2017:57). Doch eine App allein sei noch keine Garantie für den Erfolg, weder für eine positive Kundenerfahrung noch für einen steigenden Bekanntheitsgrad. Qualitätsansprüche an Apps steigen, und Kunden haben eine tiefe Hemmschwelle, eine wenig nützliche App zu löschen – zu viele Apps von zu vielen Anbietern tummeln sich auf dem Markt.

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3.4

3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

Plattformkapitalismus

Eine Plattform ist «ein internetbasiertes Medium des ökonomischen Tausches, das Anbieter(innen) und Nachfrager(innen) verbindet. Der/die Plattformbetreiber/in muss dabei nicht zwingend selbst Güter oder Leistungen anbieten, vielmehr stellt er/sie die Möglichkeiten des transaktionskostenminimierenden Austauschs von Gütern zur Verfügung – und dafür bekommt er/sie eine Transaktions- oder Nutzungsgebühr» (Reichel 2018:79). Was hier mit holpriger, dafür gendergerechter Schreibweise gesagt wird, ist Folgendes: Internetplattformen sind im Grunde digitale Brücken zwischen Käufern und Verkäufern, also im ureigentlichen Sinn virtuelle Marktstände für den Austausch materieller Güter oder Dienstleistungen. Außer der Tatsache, dass sich Verkäufer und Käufer im Netz treffen, ist das im Grunde nichts Neues – alle Märkte funktionieren so. Einzig die Menge und die systematische Präsentation der angebotenen Produkte ist in der Regel besser strukturiert als etwa in realen Verkaufsmärkten. Bei reinen Verkaufsplattformen, die nicht selbst Waren vertreiben, sondern nur zwischen Käufern und Verkäufern vermitteln, kommt dazu, dass der Verkäufer und die Plattformbetreiber nicht mehr identisch sind. Dadurch entstehen eigentliche Verkaufsnetzwerke mit – im Idealfall – einer Vielzahl von Verkäufern und Kunden. Die internetbasierten Märkte werden damit umfassender, funktionieren simultaner und Käufer wie Verkäufer können das Warenangebot besser vergleichen. Umgekehrt entsteht das Problem, dass der Kontakt – und damit der Kaufakt und der Kaufvertrag – über eine dritte Stelle läuft, was das Ganze komplizierter und damit auch fehler- und betrugsanfälliger macht. Nach der Definition von Dolata (2018:6) werden «… Plattformen als digitale, datenbasierte und algorithmisch strukturierende soziotechnische Infrastrukturen» umschrieben. Somit «umfasst die Plattformökonomie vielfältige Plattformen, welche unterschiedlichste Zwecke erfüllen, wie Such-, Networking- und Messaging-Plattformen (z. B. Google, Facebook, WhatsApp) oder Handelsplattformen (z. B. Amazon, Alibaba, eBay), sowie Vermittlungsplattformen für unterschiedlichste Produkte oder Dienstleistungen (z. B. etsy, myHammer, eBay-Kleinanzeigen)» (Kirchner und Matiaske 2020:105). In der deutschsprachigen Debatte über die Arbeit hat Schmidt (2016) folgende Klassifikationen vorgeschlagen: Im Zentrum steht «die Unterscheidung zwischen „Cloudwork“, als durch Plattformen vermittelte Arbeit, die vollständig digital erbracht wird (bspw. Freiberufler-Marktplätze oder Microtasking), und „Gigwork“, als Arbeit, die zwar auch durch Plattformen vermittelt, jedoch ortsgebunden geleistet wird (bspw. Gastgewerbe, Personenbeförderung oder Lieferdienste)» (Kirchner und Matiaske 2020:107). «Die Bandbreite der Arbeitstätigkeiten ist hier sehr hoch und reicht von der simplen Bild- oder Videoklassifikation bis zu anspruchsvollen Aufgaben wie der Gestaltung oder Programmierung. Im Teilfeld der Gigwork dominieren dagegen bestimmte Bereiche, in denen Plattformen Dienstleistungen vergleichsweise erfolgreich auch länderübergreifend anbieten. Allem voran wird in der internationalen Diskussion dabei auf den Fahrdienstleister Uber Bezug genommen» (Kirchner und Matiaske 2020:107).

3.4

Plattformkapitalismus

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Rechtlich werden die Arbeitsleistungen meist nicht in einem formalen Beschäftigungsverhältnis erbracht: Personen, die so arbeiten, befinden sich häufig im formalen Status der Selbstständigkeit und es entfallen viele Rechte und Pflichten. «Damit bewegen sich die Arbeitsformen in der Plattformökonomie oftmals weit außerhalb regulierter Räume der betrieblichen Arbeitswelt, was einerseits Flexibilität und Freiräume eröffnet, aber andererseits auch problematische Graubereiche und Ausbeutungsverhältnisse ermöglicht» (Kirchner und Matiaske 2020:108). Gleichzeitig sind die Arbeitsverhältnisse oftmals «durch tendenziell prekäre, intensivierte und engmaschig kontrollierte Arbeitsbedingungen charakterisiert» (Kirchner und Matiaske 2020:108). «Fast ausnahmslos wird der profitorientierte Teil der Plattformökonomie von wirtschaftlichen Akteuren vorangetrieben, die in der Logik des Risikokapitals agieren» (vgl. Kirchner und Matiaske 2020:112). Demgegenüber verlangte ein Positionspapier der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen EKF im Juni 2021:5 – obwohl die Plattformökonomie noch eine eher kleine Rolle auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt spielt – eine allgemeine Verbesserung der Prekarisierung, die mit der Plattformarbeit einhergeht. Vielfach erbringen Arbeitnehmende heute über Plattformen Dienstleistungen zu schlechteren Konditionen, als es in regulären Arbeitsverträgen rechtlich möglich wäre. Entsprechende Maßnahmen müssen die soziale Sicherheit auch bei Plattformarbeit garantieren, insbesondere sind die Mitarbeitenden als Angestellte und nicht als Selbständigerwerbende zu behandeln. Regelmäßige Analysen zur Plattformarbeit und zum Geschlecht sollen durchgeführt werden (vgl. Eidgenössische Kommission für Frauenfragen 2021:5). Der Bund rechnete 2021 mit einem Minus von 11 % der Stellen, wobei die EKF verlangte, dass die Frauen den digitalen Wandel mitgestalten, die weibliche Weiterbildung gestärkt, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ausgebaut und die Plattformökonomie sozial abgesichert und entprekarisiert wird. «Die Plattformökonomie in den letzten Jahren lässt sich auf drei Faktoren zurückführen: erstens veränderte Präferenzen, zweitens innovative Geschäftsmodelle und Arbeitsorganisation und drittens technologische Entwicklungen. Plattformen bieten den Arbeitskräften mehr Freiheiten – namentlich beim Entscheid, wo, wann und wie sie arbeiten möchten» (Broecke 2021:8). Dies kann einerseits zur besseren Life-Work-Balance führen und anderseits den Arbeitsmarkt für Menschen öffnen, die bisher im Arbeitsmarkt kaum oder stark untervertreten waren. Laut dem Oxford Internet Institute stieg die digitale Arbeit vom Mai 2016 bis Februar 2019 um rund ein Drittel, aber trotzdem ist die Plattformökonomie noch eine begrenzte Erscheinung. Internationale Studien schätzen ihren Anteil nur auf 0,5 bis 3 % – allerdings stehen wenige und ungenaue Daten zur Verfügung (vgl. Broecke 2021:8). Das schweizerische Bundesamt für Statistik ging für das Jahr 2019 nur von 0,4 % aus. Viele Plattform-Arbeitende haben kaum oder nicht genügende soziale Absicherung. Sie verfügen über praktisch keinen Arbeitsschutz und haben nur in Ausnahmefällen Zugriff auf einen Gesamtarbeitsvertrag. Außerdem sind Plattform-Arbeitskräfte in einzelnen Ländern einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt (vgl. Broecke 2021:9). Dabei gibt es vor allem drei Gefahren: Erstens sogenannte Scheinselbständigkeit – also

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eine falsche Klassifizierung von Arbeitskräften, zweitens eine rechtliche Grauzone – also fehlende oder falsche soziale und rechtliche Absicherung, und drittens besteht in einigen Ländern eine «weniger klare Definition einer Zwischenkategorie», wie beispielsweise «worker» in Großbritannien oder in Frankreich ein «Konzept der freiwilligen Charta für Plattform-Arbeitskräfte» (vgl. Broecke 2021:10). Schätzungsweise 16 % der Arbeitskräfte in Europa und 8,3 % der Arbeitskräfte in der Schweiz sind finanziell von einem einzigen Kunden abhängig. Vor allem wenn Arbeitskräfte außerhalb der Plattformen keine Arbeit finden, sprechen Ökonomen von «sogenannten Monopolen auf dem Arbeitsmarkt» (Broecke 2021:11). Doch worin bestehen die Änderungen von Internetplattformen? Der Produzent als Eigentümer der «Hard Assets», also der Produktionsmittel im klassischen Sinn, verliert seinen direkten Zugang zum Kunden. Dabei übernehmen die Plattformen eine Rolle als «Gatekeeper» (Wagener 2018:144): Sie «kontrollieren damit den jeweiligen Markt und partizipieren an dieser Wertschöpfungskette auf Kosten der Produzenten, was sich bei diesen zwangsläufig auch in gesunkenen Margen bemerkbar macht». Allerdings ist dabei zu bemerken, dass dafür auch der Aufwand für die Verkaufslogistik sinkt: Der Verkäufer braucht keine direkten Verkaufslokale mehr – aber er benötigt eine ausgeklügelte Online-Infrastruktur. Entsprechend ändert – wie Wagener (2018:144) zu Recht feststellt – auch die Geschäftsstrategie. Der Wettbewerb erfolgt nicht mehr ausschließlich über die Beschaffenheit der Produkte oder die Qualität, sondern geschieht auch über komplementäre Leistungen, die vom Plattformbetreiber erbracht werden: Vergleichbarkeit, Zugriff auf möglichst großes Angebot und Transparenz des Marktes (vgl. Wagener 2018:145). Außerdem entstehen durch Plattformen sogenannte «Netzeffekte»: Indem ein gemeinsames übergreifendes Netz entsteht, bilden sich auch über kurz oder lang übergreifende Standards mit einer wachsenden Zahl von Teilnehmenden. Plattformen können auch als Nischen für bestimmte Produkte oder Dienstleistungen fungieren, angefangen von Subkulturen bis hin zu alternativen Nischenmärkten. Dadurch können sogar überregionale Nischenmärkte entstehen, wo bis anhin nur einzelne Personen oder Nachfrager bestimmte Produkte suchten. Dadurch kann der Preis für Nischenprodukte sinken und der Zugang dazu steigen, u. a. auch, weil – wie etwa im Falle von Videos, Musik, Software oder E-Books – kaum Lager- oder Vertriebskosten entstehen (vgl. Wagener 2018:146). Zweifellos ist die Digitalisierung im Wesentlichen eine Weiterentwicklung bereits bestehender Wirtschaftsmuster sowohl im Produktionsbereich als auch auf Konsumseite, wie Grotefendt und Abhagen (2018:98) zu Recht feststellen. Doch Plattformen vermitteln nicht nur zwischen Verkäufern und Käufern von Waren, sondern auch zwischen Nachfragern und Anbietern von Arbeitskraft. In dieser Dreieckskonstellation digitaler Plattformen verschwindet der Arbeitgeber zunehmend als verantwortliche Instanz und die Plattform tritt als Intermediär zwischen Auftraggeber und Arbeitnehmer (vgl. Kurz et al. 2019:37). «Digitale Plattformen können die technische Grundlage für kollaborative Arbeitsformen sein, in der Praxis handelt es

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sich aber zumeist um eine ‚Gig Economy‘, d. h. ein Geschäftsmodell der Entsolidarisierung durch einen Wettbewerb ‚Jeder gegen jeden‘ und der Entsicherung» (Kurz et al. 2019:37). Gewerkschaftliche Kreise monieren dabei «Zonen der arbeits- und kollektivrechtlichen Schutzlosigkeit» und «neue, spezifisch digitale Formen der Machtasymmetrien und Abhängigkeiten», etwa «durch von Algorithmen gesteuerte Bewertungen von Arbeitsleistungen» (Kurz et al. 2019:37). Plattformen wirken in beide Richtungen: Zwar schieben sich Plattformen zunehmend zwischen Hersteller und Konsumenten, aber das heißt nicht, dass die Macht der Produzenten gegenüber Konsumenten und Arbeitenden geringer geworden ist (vgl. Radermacher 2017:49) – in Arbeits- und Auftragsverhältnissen ist eher das Gegenteil der Fall: Der Arbeitgeber hat über Plattformen Zugriff auf ein viel größeres Reservoir an Arbeitskräften. Er kann damit auch den Lohn nach unten drücken. Und auch zwischen Verkäufern und Käufern wirken Plattformen eher zum Vorteil von Anbietern: Sie können viel größere Kundengruppen ansprechen, während umgekehrt immer mehr Anbieter eigene Plattformen aufschalten, was bedeutet, dass Kunden oder Nachfrager einen größeren Aufwand betreiben müssen, um Produkte oder Preise zu vergleichen. Es ist abzusehen, dass anbieter- und nachfragerneutrale Plattformen in Zukunft eher Anbieterplattformen weichen werden. Oft sind Internet-Plattformen für Nutzer anfänglich gratis, um Kunden anzulocken – und später werden dann – teilweise recht happige – Gebühren erhoben (vgl. z. B. Minetti 2022:9). Dazu kommt – wie etwa digitale Plattformen zeigen – eine Art Henne-Ei-Problem: Es besteht im Dilemma, «das Anbieter nur auf eine Plattform kommen, wenn es eine Nachfrage gibt» (Schumacher und Schögel 2021:12). Zum Umgang mit diesem Problem gibt er verschiedene Strategien: Junge Unternehmen können diese Strategie nutzen, um einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen, diese Strategien müssen den spezifischen Märkten angepasst werden und es muss eine Balance zwischen Angebot und Nachfrage gefunden werden. Im Einzelnen werden fünf Strategien angewandt: Erstens digitale Gästebücher und automatisierte Rechnungsstellung, zweitens Gewinnung von sogenannten Aggregatoren wie etwa große Unternehmen insbesondere durch Peer-to-Peer-Plattformen, drittens «Plattformschichtung», das heißt eine Plattform verlinkt bewusst Inhalte mit anderen Plattformen, um mehr Leute zu erreichen, viertens konzentrieren sich Anbieter auf eine eng definierte Zielgruppe und legen ihr Gewicht auf bestimmte Gegenden, auf gesellschaftliche Nischen oder auf bestimmte Industrien, und fünftens die Strategie «Fake it until you make it», wobei verschiedene Plattformen zu Beginn eine künstliche Nachfrage und eine automatische Vermittlungsfunktion vortäuschten (vgl. Schumacher und Schögel 2021:12 ff.). Generell hat sich vor dem Hintergrund der Digitalisierung die Tendenz vieler Anbieter von Produkten und Dienstleistungen verstärkt, den Konsumenten Aktivitäten aufzuerlegen, die früher selbstverständlich vom Anbieter der Waren erbracht wurden: Angefangen bei der Ausfüllung unzähliger Formulare, Einscannen von Dokumenten und Ausweisen

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und Zustellung per E-Mail, Ausdruck von digital versandten Dokumenten oder Rechnungen durch den Kunden, kein Versand mehr von Rechnungen per Post durch Geschäfte oder Kreditkartenanbieter, Erhebung von Gebühren für Rechnungsversand per Post, Ausdruck von Tickets zu Hause auf eigene Kosten usw. Parallel dazu erfolgte auf Anbieterseite der Abbau unzähliger Dienstleistungen. Dazu gehören: die Schließung von Schaltern bei Banken und Post, die vorgängige Anmeldung zu einem Schalterkontakt bei Banken, kürzere Ladenöffnungs- oder Schalteröffnungszeiten, Verweigerung der Annahme von Bargeld durch Verkaufspunkte oder Automaten, Schließung von bedienten Schaltern bei den Verkehrsbetrieben, Abschaffung der telefonischen Erreichbarkeit vieler großer Unternehmen oder Organisationen (etwa wenn auf den Webseiten gar keine Telefon-Nummer mehr angegeben wird oder nur noch automatisierte Telefonbeantworter existieren), zwingende Angabe von Mobiltelefon-Nummern bei vielen öffentlichen Formularen oder privaten Anbietern (Festnetz-Nummern werden nicht mehr akzeptiert) usw. Es gibt aber auch zunehmend eine wachsende Zahl konsumentenseitiger Vergleichsplattformen. So eröffnete der Touring Club der Schweiz (TCS) Ende 2022 einen sogenannten «Benzinpreis-Radar». Auf dieser Vergleichsplattform – die erste ihrer Art in der Schweiz – können registrierte Nutzer:innen laufend die Benzinpreise von Schweizer Tankstellen vergleichen. Der TCS versprach sich von der Plattform einen preisreduzierenden Effekt. Auch die Stiftung für Konsumentenschutz unterstützte das Vorhaben. Ende November 2022 waren bereits 40.000 Personen auf der Plattform registriert (vgl. Amstutz 2022:8). In Deutschland und in Österreich existieren ähnliche Angebote, so etwa der «Benzinpreis-Blitz». Allerdings gibt es beim «Benzinpreis-Radar» noch einige Schwierigkeiten, u. a. wie die Daten der User analysiert und allenfalls korrigiert werden können, wenn die Angaben nicht stimmen, außerdem muss garantiert sein, dass die Preise aktuell und nicht veraltet sind. Besser wäre eine staatlich verordnete Meldepflicht durch die Tankstellenbetreiber – auch dafür gab es 2022 Bemühungen im Parlament (vgl. Amstutz 2022:8). In einem Punkt ist Radermacher (2017:49) wohl zuzustimmen: Nämlich, dass sich die Rollenverteilung von Konsumenten und Produzenten künftig stärker vermischen wird, indem der Verbraucher künftig auch stärker Einfluss auf die Produktion nehmen kann und in bestimmten Bereichen sogar selbst auch zum Produzenten wird. Alles in allem stellen Plattformen eine neue Kooperationsform dar, die über das Internet funktioniert. Der Begriff «Crowdworking» deutet drauf hin, dass der Auftraggeber oder Crowdsourcer bestimmte Aufgaben an Einzelpersonen oder Arbeitsgruppen vergibt, die sich aus einer mehr oder weniger anonymen Masse («Crowd») von Einzelpersonen auf einer digitalen Plattform registrieren und sich für Aufträge bewerben. Die Auftragsbearbeitung kann physisch (z. B. handwerkliche Reparaturarbeiten, Umzugshilfen usw.) oder digital (von einfachen Software-Programmierungen, über Datenbearbeitung bis hin zur Teilnahme

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an Online-Umfragen, sog. Clickworker) erfolgen. Dabei geht es bei digitalen Aufträgen meist um Arbeiten, die am Computer oder über das Smartphone erledigt werden können. Sogenannte «Clickworker» verschlagworten etwa Bilder oder nehmen an OnlineUmfragen teil – meist für wenige Centbeträge pro Stück (vgl. Müller 2018:136). Aber es gibt auch Auftraggeber, die komplexere Tätigkeiten über Plattformen ausschreiben, wie Programmieren, Designen und Texten. Dabei können die Crowdworker kompetitiv oder kollaborativ arbeiten (vgl. Schönefeld und Schwarz 2017:206). Dabei haben bis 2017 bereits 18 % der Menschen in Österreich als Clickworker gearbeitet (vgl. Duzdar 2017:327). Crowdsourcer sind neben Organisationen aus dem öffentlichen Sektor vor allem Wirtschaftsunternehmen (vgl. Schönefeld und Schwarz 2017:206). Für Auftraggeber bringt das Crowdworking vor allem zwei Vorteile: Sie brauchen niemanden fest anzustellen, was in der Regel die Sozialbeiträge verringert, und sie können in Ländern mit relativ gut ausgebautem Arbeitnehmerschutz – wie z. B. in Deutschland – für einen Teil der Mitarbeitenden die Hire-and-Fire-Methode anwenden, was die Stellung der Auftragnehmer bzw. Mitarbeitenden schwächt und diejenige der Arbeitgeber stärkt. Allerdings kann ein häufig und breit eingesetztes Crowdworking beim Arbeitgeber auch zu einem Kompetenzen- und Know-how-Verlust führen. Umgekehrt können Crowdworking-Aufrufe Unternehmen auch zu zusätzlichen Gewinnen verhelfen. So führte ein öffentlicher Aufruf des Goldproduzenten Goldcorp, denjenigen einen Preis zu vergeben, welche meldeten, wo Gold zu finden sei, zu einer Erhöhung der jährlichen Goldproduktion von 53.000 Unzen auf 504.000 Unzen und zu einer Reduktion der Produktionskosten von 360 US$ auf 59 US$ pro Unze (vgl. Durward et al. 2016:1). Es gibt auch Plattformen, die Reinigungs-, Pflegedienste oder Handwerkerleistungen vermitteln. Die Plattformen erhalten in der Regel einen Umsatzanteil oder eine Provision, die bis zu 20 % des Auftrags erreichen kann. Dafür erbringt die Plattform neben der Vermittlung von Angebot und Nachfrage je nachdem weitere Dienstleistungen, wie die Rechnungsstellung oder Abrechnungen mit den Versicherungen. Ein Vorteil von Plattformen liegt für die Auftraggeber darin, dass sie die Kosten drücken können, Zugang zu einer größeren Auswahl an Auftragnehmern haben und die Abwicklung oft einfacher ist als etwa über Institutionen wie Betreuungsbüros, Hilfswerke oder Unternehmen. Meist arbeiten die Arbeitskräfte als Quasi-Selbständige, was zu geringeren Sozialabgaben führt, diese aber auch weniger an die Auftraggeber bindet und finanziell schlechter absichert (etwa bei Unfall, Krankheit, Arbeitslosigkeit usw.). Viele Plattformen überprüfen die Qualifikationen der vermittelten Personen – etwa im Pflegebereich – nicht, was alles in allem zu geringeren Kosten, größerer Flexibilität, aber häufig auch zu geringerer Qualität der Arbeit führt (vgl. Müller 2018:137). Über Plattformen finden Selbständige, Freelancer, Studierende, Nicht-Erwerbstätige und Rentner:innen Arbeit – für viele stellt die Plattformarbeit einen Nebenverdienst dar.

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3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

Bei einer Umfrage von ver.di stellte ich heraus, dass viele Crowdworker:innen hochqualifiziert sind – die Mehrheit der Befragten verfügte über einen Hochschulabschluss (vgl. Müller 2018:137 f.). Bereits im Jahr 2013 schätzte die Weltbank die Zahl der registrierten Crowdworker weltweit auf 48 Mio. (vgl. Schönefeld und Schwarz 2017:207). Müller (2018:138) wies darauf hin, dass viele Solo-Selbständige und damit auch Crowdworker relativ wenig verdienen und deshalb auch nur geringe Steuern zahlen. Gleichzeitig bestehe laut der deutschen Gewerkschaft ver.di die Gefahr, dass die Unternehmensbeteuerung durch Plattformen ausgehebelt oder umgangen werde. Und infolge der tiefen Entschädigung eines Teils er Plattform-Arbeit bleibe den vermittelten Arbeitskräften – insbesondere beim so genanntem Microtasking (Kleinaufgaben) und in Niedriglohnsegmenten (z. B. Reinigung, Haushalthilfen) – nach Abzug der Sozialbeiträge und der Gebühren an die Plattform nur eine geringe Entschädigung, sodass teilweise die gesetzlichen Mindestlöhne – sofern vorhanden – nicht eingehalten würden (vgl. Müller 2018:138 f.). Dazu kommt, dass auf einzelnen internationalen Plattformen Crowdworker:innen aus unterschiedlichen Ländern infolge abweichender Standards ungleich verdienen und sich gegenseitig konkurrenzieren. Um schlechte Bewertungen auf den Plattformen zu vermeiden, akzeptieren auch hochqualifizierte Plattform-Worker:innen schlechte Entlöhnungen, vor allem zu Beginn ihrer «Karriere». Entscheidend für die Auftragnehmer:innen ist das von ihnen auf der Plattform deponierte Profil. Alles in allem ist die über Plattformen ausgeführte Arbeit stärker prekarisiert und entsprechend ist die Arbeitszufriedenheit deutlich geringer als in Festanstellungen (vgl. Müller 2018:139). Auch Schönefeld und Schwarz (2017:221) kamen in ihrer Untersuchung bei Crowdworking-Plattformen und bei Crowdworkern zum Schluss, dass «Crowdworking nicht nur für Stabilitätsverluste im Bereich des Einkommens [sorgt], sondern … auch weniger Autonomiegewinne, als bisher angenommen, [bietet]». In diesem Zusammenhang ist auch das Modell des Fahrtdienstes Uber zu erwähnen. In diesem Fahrangebot stellen die Fahrer ihr privates Fahrzeug und sich selbst als Fahrer zur Verfügung, wodurch zusätzliche Wertschöpfung durch das Privatfahrzeug generiert wird und gleichzeitig dessen Nutzen besser ausgeschöpft wird. Während die einen Uber als «neue Art, Wirtschaft und Gesellschaft zu definieren und neu zu organisieren» und «eine neue persönliche Produktivität» zu schaffen (Eder 2017:XVIII), emporjubeln, sehen andere in Uber und ähnlichen Dienstleistungsmodellen nur einen weiteren Schritt in der Prekarisierung von Arbeit und ein Modell einer Schein-Selbständigkeit, welche dazu dient, Systeme der sozialen Absicherungen zu unterlaufen. Aus Gesprächen mit TaxiFahrern und Chauffeuren, die auch als Uber-Fahrer:innen arbeiten, ist bekannt, dass viele von Ihnen Uber eher als Zusatzverdienst und als Mittel zur Vermeidung von Wartezeiten sehen denn als erfolgversprechendes Arbeitsmodell. So hat etwa ein Gericht in Genf das Uber-Modell als Scheinselbständigkeit bezeichnet und Uber klare Auflagen gemacht, und wenn diese nicht eingehalten werden, Uber-Aktivitäten im Kanton verboten. Nicht umsonst spricht man bereits von Uber-isierung der Wirtschaft (vgl. Eder 2017:XVIII).

3.4

Plattformkapitalismus

65

Für Aufsehen sorgte das Genfer Arbeitsdepartement, welches den Fahrdienstvermittler Uber verbieten wollte, falls sich dieser weiterhin weigerte, seine Fahrerinnen und Fahrer regulär anzustellen und ihnen Sozialleistungen und Ferien zu bezahlen (vgl. Hackbarth 2019:7). Demgegenüber argumentierte das US-Fahrdienstleistungsunternehmen, es sei kein Arbeitgeber, sondern ein Vertragspartner selbständiger Fahrerinnen und Fahrer. Die Forderung, ganz einfach wie jedes andere Unternehmen Sozialabgaben zu bezahlen, wurde laut Steve Salomon, Chef von Uber Schweiz, Österreich und Frankreich, abgelehnt: «Nein, das ist für Uber keine Option» (vgl. Hackbarth 2019:7). Ende 2019 waren in der Schweiz etwa 50.000 Personen für diesen Bereich tätig, darunter bis zu 4000 Uber-Fahrer:innen. Viele dieser Arbeitnehmer haben mehrere Jobs, manche fahren nur gelegentlich über Uber. Laut den Gewerkschaften prellt Uber die Chauffeure und Chauffeusen um viel Geld (vgl. Hackbarth 2019:7). So stellte der Jurist Kurt Pärli in der Universität Basel in einem Gutachten schon 2016 fest, «dass die Plattform als Arbeitgeber einzustufen sei und folglich auch ihren arbeitsrechtlichen Pflichten nachzukommen habe, also etwa Sozialversicherungsbeiträge zahlen müsse» (vgl. Hackbarth 2019:7). Weil der Konzern das verweigere, setze er faktisch auf Schwarzarbeit, meinte ein Kritiker. Laut Berechnungen der Gewerkschaft Unia bleibe der Konzern Uber den vollzeitlich arbeitenden Chauffeuren und Chauffeusen zwischen 3000 und 3500 Franken im Monat schuldig. Leider habe es zwar Schwarzarbeit schon immer gegeben, «aber dass ein Konzern von dieser Grösse voll auf Schwarzarbeit setzt und das auch bis zum Äussersten verteidigt, ist schon ein Tabubruch. Das ist eine Auseinandersetzung, die man als Gewerkschaft unbedingt gewinnen muss», so die Unia (vgl. Hackbarth 2019:7). In Kalifornien sorgte ein Gesetzesvorstoß für Schlagzeilen: Menschen, die ihr Einkommen über Plattformen wie Uber, Lyft oder Upwork erwirtschafteten, sollten künftig als Angestellte betrachtet und behandelt werden, solange sie nicht den sogenannten «ABC-Test» bestanden haben: Unternehmen müssen nachweisen, dass ihre Mitarbeitenden nicht der direkten Kontrolle der Firma unterliegen (A), dass sie eine Arbeit ausüben, die nicht zum Kerngeschäft der Firma (B) gehört und dass sie eine eigene Firma ihrer Branche führen (C). Nur bei Nachweis aller drei Kriterien können die Unternehmen nachweisen, unabhängige VertragspartnerInnen zu beschäftigen (vgl. Hackbarth 2019:7). Es ist doch wohl eher hochgestapelt, wenn Modelle wie Uber als Ausdruck eines digitalen Darwinismus gesehen werden, dem sich Unternehmen im Sinne eines «Survival of the Fittest» anpassen müssen, wenn sie nicht vom Markt verschwinden wollen (vgl. Land und Kreutzer 2013, zitiert nach Eder 2017:XX f.). Wenn man bedenkt, dass Uber weder über eine einzige Produktionsstätte noch über eigene Fahrzeuge verfügt, kann man sich fragen, woher dann der Börsenwert von knapp 58 Mrd. US-Dollar Ende November 2022 und die Umsatzsteigerung zwischen dem 1. Quartal 2018 und dem 3. Quartal 2022 von 2,584 Mrd. US-Dollar auf 8,343 Mrd. US-Dollar stammt (vgl. Statista 2022). Dabei bestand der Hauptbeitrag von Uber in einer besonderen App und in einem spezifischen Geschäftsmodell – beides ausschließlich auf Technologie-Basis entwickelt (vgl.

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3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

Eder 2017:162). Uber ist im Grunde eine Technologie-Plattform zur Vermittlung von Personentransporten (vgl. Eder 2017:166). Die eigentliche Leistung wurde und wird jedoch von den im Jahr 2022 rund 32.600 Beschäftigten erbracht, die Uber mit Vorliebe als «selbständige Mitarbeitende» betrachtet. Bereits 2017 überstieg der Börsenwert von Uber denjenigen von Honda, Ford oder General Motors (vgl. Eder 2017:161).

3.5

Konsum

Wie Petersen (2020:106) dargelegt hat, führt die Digitalisierung über verschiedene Mechanismen zu sinkenden Preisen für Güter und Dienstleistungen, aber auch zu einer Ausweitung der angebotenen und nachgefragten Menge an Produkten und Dienstleistungen. Dadurch verbessert sich der Versorgungsgrad und erhöht sich – zumindest kurzund mittelfristig – die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt, zumindest wenn die sozialen und ökologischen Kosten, die zumeist als externe Kosten auftreten und sich nicht in den Produktpreisen niederschlagen, nicht berücksichtigt werden. Bis jetzt hat diese Entwicklung weder zu einer Angebotsreduktion noch zu einem Nachlassen des technologischen Fortschritts (Innovationsstillstand) geführt, obwohl beides theoretisch möglich oder gar zu erwarten wäre (vgl. Petersen 2020:107). Allerdings meint Petersen, dass dies nicht zwingend so bleiben muss. Wenn sich die Nutzer an die entsprechenden Güter und Dienstleistungen gewöhnt haben, könnte es sehr wohl zu Preissteigerungen kommen. Dass dieser Prozess vielleicht bereits läuft, zeigen zwei Beispiele: Bis etwa vor etwa 15 Jahren war die Führung von digitalen Zahlungsverkehrskonti durch die Banken in der Schweiz gebührenfrei, unterdessen sind fast alle Zahlungsverkehrskonti gebührenpflichtig. Und viele Softwareprogramme für den Alltagsgebrauch – etwa von Textverarbeitungsprogrammen – konnten ursprünglich gegen eine Einmalzahlung gekauft werden. Heute gehen immer mehr Anbieter und Softwarehersteller – z. B. Microsoft – dazu über, die Programme in Form von Jahreslizenzen anzubieten, und zwar teilweise nur noch in dieser Form. Der angebliche Mehrwert von Jahreslizenzen durch regelmäßige Updates ist insofern mehr als fraglich, als auch Gratisprogramme, wie etwa Mozilla-Firefox oder das Mail-Programm Thunderbird regelmäßige Updates offerieren. Vor diesem Hintergrund erscheint die Behauptung einzelner IT-Spezialisten wie Ingo Radermacher (2017:42), wonach digitales Wirtschaften und Online-Plattformen im Markt zu einer Verschiebung der Marktmacht vom Anbieter zum Nachfrager, vom Verkäufer zum Käufer führe, zumindest etwas vorschnell. Das kann zwar sein, muss aber nicht. Entscheidend sind immer noch das Marktumfeld und die Art des Marktes – ganz egal ob digital oder analog. Allerdings hat Radermacher (2017:66) recht damit, dass aufgrund der Digitalisierung viele Kund:innen besser informiert und vielleicht auch preissensitiver und anspruchsvoller sind als früher. Wenn das stimmt, muss auch die Verkaufsberatung deutlich höheren Qualitätskriterien folgen als früher. Auch dürfte zutreffen, dass sich – wie Radermacher (2017:66) betont –, auch das Kaufverhalten geändert hat: Beim Besuch

3.5

Konsum

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eines Online-Shops liegt oft keine bestimmte Kaufabsicht für ein Produkt vor, darum werden die Präsentation, Angebotsbefristung, Kaufempfehlungen und Feedbacks anderer Kunden wichtiger. Die Digitalisierung bietet auch viele neue Optionen in Bezug auf Verbrauch und Konsum. Stichworte sind: • Privates Teilen und Austauschen zwischen Freunden oder auch Unbekannten über Plattformen oder Apps – also «Peer to Peer-Sharing», was sich etwa im Car-Sharing vielerorts zeigt. • So genanntes «Prosuming», also nicht mehr nur passives Konsumieren industrieller Produkte sondern Einbringen eigener Beiträge entweder unentgeltlich oder gegen einen geringen Unkostenbeitrag. • Open-Source-Bauanweisungen und Software, damit Anwender:innen eigene Produkte herstellen oder von den kommerziellen Softwareanbietern unabhängiger werden (vgl. dazu Lange und Santarius 2018:46 f.). Allerdings: «Trotz aller Optionen für den Wiederverkauf gebrauchter Waren, Prosuming und Sharing wirkt die Digitalisierung bislang insgesamt konsumsteigernd» (Lange und Santarius 2018:48). Zu gering sei der Anteil nachhaltigen Konsums und zu groß die Marketingmacht der Anbieter und die Effektivität smarter Algorithmen. Allerdings – so wäre hier einzuwenden – ist daran nicht die Digitalisierung schuld, sondern das Kauf- und Konsumverhalten der meisten Menschen – mit oder ohne Digitalisierung! Das Gleiche trifft auch für die zunehmende Online-Werbung zu, die ganz einfach traditionelle Werbekanäle und -träger – wie z. B. die Printmedien – abgelöst hat. Aber zweifellos gilt: Durch die Digitalisierung ist der Einkauf bequemer geworden, was tendenziell zu größerem Konsum führt. Anders gesagt: Die Digitalisierung kommt unserer Bequemlichkeit entgegen, und das könnte langfristig die Ökobilanz deutlich verschlechtern und damit die Umwelt weiter schädigen. Die Digitalisierung hat einige bereits vorher erkennbare Tendenzen im Konsumbereich noch zusätzlich verstärkt. Dazu gehören unter anderem, dass der Konsum nicht mehr nur der Befriedigung abgrenzbarer Bedürfnisse dient und dass sich der Konsum auf Optionen und Waren bezieht, die es noch gar nicht gibt oder die erst noch produziert werden müssen. Die Befriedigung von Bedürfnissen wird unterstellt, aber teilweise gar nicht mehr erwartet. Konsum wird zum Zeitvertreib und dient auch dem Zweck, die eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen. Und last but not least: Konsum wird Teil des Zeitgeistes (nach Tully 2019:80). Konsum wurde und wird mehr und mehr zu einem Aspekt des Lebensstils und sogar des Selbstbildes. Ein besonderes Problem stellt die Obsoleszenz durch stetig erweiterte Software dar. Mit Obsoleszenz ist gemeint, dass Geräte oder Produkte nicht mehr benutzt werden können, weil sie vorzeitig hinfällig werden oder weil ein kleiner Teil davon defekt ist. Geplante

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3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

Obsoleszenz zielt darauf ab, die Lebensdauer von Geräten oder Produkten künstlich zu begrenzen. Geplante Obsoleszenz «Eine immer stärker verbreitete Methode, die Nachfrage nach Konsumgütern künstlich zu erhöhen, ist die so genannte geplante Obsoleszenz. Im September 2012 wurde im Nationalrat – also der großen Kammer des eidgenössischen Parlaments – ein Antrag der grünen Waadtländer Politikerin Adèle Thorens Goumaz über das Problem der „geplanten Obsoleszenz“ behandelt. „Das ist eine Strategie zur Erhaltung der Nachfrage, indem die Lebensdauer der Produkte gezielt auf einen vorzeitigen Verschleiss hin hergestellt werden“, erklärte die grüne Politikerin (vgl. Hüg 2012:8). Es ist historisch belegt, dass nach dem Ersten Weltkrieg Glühbirnenproduzenten wie Philips, Osram und General Electric beschlossen, die Lebensdauer von Glühbirnen auf 1000 Brennstunden zu beschränken, und dies, obwohl Edisons erste Glühbirnen im Jahr 1881 bereits mehr als 1500 Stunden hielten (vgl. Hüg 2012:8). In der DDR brannten die Glühbirnen im Schnitt 2500 Stunden und in China sogar 5000 Stunden (vgl. Reuss und Dannoritzer 2013:23). 1953 wurde der US-Hersteller General Electric in einem elfjährigen Prozess wegen illegaler Preisabsprachen verurteilt, und gleichzeitig verbot das Gericht auch künstlich reduzierte Lebensdauern für Produkte („planned obsolescence“)» (Jäggi 2016:42).

Doch es gibt auch eine Obsoleszenz, die zwar nicht direkt beabsichtigt, aber sozusagen strukturbedingt ist: «Viele digitale Geräte wie Smartphones, Tablets, Laptops oder LED-Fernseher werden nicht ausgemustert, weil sie kaputt sind. Vielmehr kann intakte Hardware oft nur deshalb nicht mehr genutzt werden, weil Software neu konzipiert oder weiterentwickelt wird. Software erzeugt somit Obsoleszenz» (Gröger und Herterich 2019:24). So benötigt etwa Windows 10 im Vergleich zu Windows 95 vierzigmal so viel Prozessorleistung, 250-mal so viel Arbeitsspeicher und 320-mal so viel Festplattenkapazität (vgl. Gröger und Herterich 2019:24). Immer noch gehen viele Programmierer davon aus, dass die Hardwareressourcen ständig wachsen, wodurch ein sparsamer Umgang mit ihnen kaum ein Thema ist. Nachfolge-Software wird deshalb mit immer mehr Funktionalitäten «aufgeblasen», die oft weder erwünscht – die User müssen mit jeder neuen Version umlernen – noch benötigt werden. So nutzen die durchschnittlichen Anwender etwa von Textverarbeitungsprogrammen in der Regel nur einen Bruchteil der Programmmöglichkeiten, einen Großteil der Funktionen kennen sie nicht einmal. Die Folgen sind dramatisch: Berge von Elektroschrott, Verschleuderung von Arbeitsressourcen und schlicht hohe Kosten für Neugeräte und -programme. Durch Vereinfachungen, weniger häufige und vor allem nicht überladene Update-Versionen könnte die Nutzungsdauer von Hardware und Software massiv verlängert werden, es gäbe weniger Elektroschrott – der laut dem Umweltprogramm 2019 immer noch zu 90 % illegal entsorgt wurde (vgl. Gröger und Herterich 2019:25). Petersen (2020:67 f.) zieht mit Blick auf die Wirtschaft folgendes Fazit in Bezug auf die Digitalisierung: Einerseits schafft die Digitalisierung größere Markttransparenz und verringert Marktasymmetrien, anderseits kann die Digitalisierung zu höheren Wechsel-

3.6 Virtuelle Währungen

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und Umstellungskosten führen. Deshalb sind für Konsumentinnen und Konsumenten aufgrund der Digitalisierung sowohl Preissenkungen als auch Preissteigerungen möglich. Etwas im Widerspruch dazu meint jedoch Petersen (2020:76), dass die voranschreitende Digitalisierung zu einem kostensenkenden technologischen Fortschritt und damit zu sinkenden Marktpreisen führe. Doch die Frage ist, ob diese Entwicklung auf Verbraucherseite nicht durch gegenläufige Trends aufgehoben oder zumindest minimiert wird, etwa durch sinkende Löhne infolge Freistellung von Arbeitskräften als Folge der Digitalisierung, durch Lock-in-Effekte, durch geplante Obsoleszenz oder steigende Verbraucherpreise infolge Klimawandel, Kriege oder globaler Krisen. Von daher stellt sich die Frage, ob Petersen (2020:92) mit seiner Behauptung richtig liegt, wonach digitale Produktionstechnologien gleichzeitig zu Preissenkungen und qualitativen Verbesserungen der Produkte führen und die Kaufkraft der Verbraucher erhöhen, «und zwar selbst im Bereich der Produkte, bei denen es gar keine technologische Preisreduzierungen gab» (Petersen 2020:92). Denn es ist ebenso wenn nicht sogar noch wahrscheinlicher, dass die sozialen und ökologischen Kosten der Digitalisierung etwa in Form des Klimawandels und des wachsenden ökologischen Fußabdrucks – die von der Allgemeinheit und damit auch von jedem einzelnen Verbraucher getragen werden müssen –, die Kaufkraft eines großen Teils der Bevölkerung und ganzer Länder entscheidend schwächen wird. Doch umgekehrt kann die Digitalisierung auch zur Verringerung der ökologischen Kosten beitragen, etwa wenn die Preissenkungen und Individualisierung der Produktion nicht durch Rebound-Effekte8 kompensiert werden, wie das teilweise bereits heute im Verkehr der Fall ist (vgl. dazu Jäggi 2022:100 ff.).

3.6

Virtuelle Währungen

Kryptowährungen wie Bitcoin oder Ethereum verbinden verschiedene Eigenschaften zu einem einzigen, in sich geschlossenen System: ihre Eigenschaft als Zahlungsmittel, als – spekulative – Wertanlage, ihre Funktion als Abwicklungsmechanismus via Blockchain (vgl. Landerer 2022:25). Bitcoin hat gezeigt, dass ein solches, in sich geschlossenes digitales System funktionieren kann. Dabei gibt es verschiedene Aspekte: Kryptowährungen wie Bitcoin oder Ethereum sind die Assets, also Vermögenswerte in Form von Coins oder Tokens. Die Vermögenswerte werden durch sogenannte Miners generiert: Diese stellen Rechenleistung zur Funktion des Systems zur Verfügung und erhalten als Belohnung Vermögenswerte. Zwar funktioniert Bitcoin als System seit über 10 Jahren mehr oder weniger erfolgreich, aber von der Vision eines elektronischen Peerto-Peer-Zahlungsverkehrssystems ist die Kryptowährung meilenweit entfernt. In einem eigentlichen Netzwerk – der Blockchain – können diverse Kryptowährungen an KryptoBörsen gekauft und gehandelt werden (vgl. Landerer 2022:25). Weil die Zahl der Bitcoin 8 Zu den Rebound-Effekten vgl. Fussnote 27.

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3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

strikt limitiert und die Kryptowährung ohne inneren Wert ist, definiert einzig die Nachfrage seinen Wert. Die Wertschwankungen sind enorm, weshalb Kryptowährungen wie Bitcoin oder Ethereum als langfristige Zahlungsmittel und noch mehr als Recheneinheit extrem ungeeignet sind. Laut Landerer (2022:25) kann deshalb funktional eher nicht von Geld gesprochen werden. Die Kryptowährungen funktionieren auch nicht unabhängig von den bestehenden Währungen, sie sind an sie angebunden – wenn auch oft in intransparenter Form (vgl. Landerer 2022:25). Im klassischen Verständnis besitzt Geld eine dreifache Funktion: Erstens besitzt Geld eine Tauschfunktion als Zahlungsmittel, zweitens dient Geld zur Wertaufbewahrung und drittens stellt Geld eine Recheneinheit dar. Es stellt sich nun die Frage, ob diese drei Funktionen auch für Kryptowährungen gelten. Nach Ansicht von Petersen (2020:65) treffen alle drei Funktionen für die bestehenden digitalen Währungen oder Kryptowährungen nicht zu: Zum Ersten ist die Wertaufbewahrungsfunktion aufgrund der enormen Kursschwankungen, die eine Folge des hohen spekulativen Charakters von Kryptowährungen sind, nicht gewährleistet. Zum Zweiten eignen sich Kryptowährungen wie Bitcoin nur beschränkt als Zahlungsmittel, und zwar aufgrund der geringen Akzeptanz durch die Bevölkerung, infolge der komplizierten technischen Aufbewahrung, wegen der teuren Transaktionen und aufgrund der fehlenden gesetzlichen Anerkennung. Zum Dritten nutzen kaum je Menschen Kryptowährungen als Recheneinheit, sie kalkulieren vielmehr in ihren Währungen – z. B. Euro oder US-Doller – und rechnen die jeweiligen Preise in den jeweiligen Kryptowährungskurs um. Außerdem erschwert die hohe Volatilität des Kryptowährungskurses die Umrechnung. Zudem sind Kryptowährungen ökologisch aufgrund des hohen Energieverbrauchs wenig effizient (vgl. Petersen 2020:65). Bei Bitcoin ist die durch den Algorithmus erzeugte Menge außerdem auf 21 Mio. begrenzt, weshalb – so Petersen (2020:66) – «Bitcoin und andere virtuelle Währungen eher ein Spekulationsobjekt sind als eine Währung». Allerdings sieht Landerer (2022:25) die Möglichkeit einer Central Bank Digital Currency (CBDC), also einer durch die Zentralbanken herausgegebenen eigenen digitalen Währung mit einer digitalen Verbindlichkeit der Zentralbank. Wie gesagt zeichnen sich digitale Währungen – zumindest bis anhin – durch ihren hochspekulativen Charakter und ihre hohe Volatilität aus. So musste etwa am 8. November 2022 der Gründer der selbsternannten Kryptowährungsbörse FTX, Sam Bankman-Fried, sein Unternehmen dem Konkurrenten Binance andienen, weil ihm urplötzlich die Liquidität ausging (vgl. Leisinger 2022b:27). Damit musste der als «Messias der Krypto» gehandelte Retter von Krypto-Währungs-Projekten plötzlich selbst gerettet werden, und zwar ausgerechnet von seinem Erzrivalen Changpeng Zhao von Binance. Doch Binance zog sich im letzten Moment zurück. Beobachter gingen davon aus, dass Bankman-Fried durch die FTX-Pleite sein 16-Mrd.-Vermögen weitgehend verlieren würde (vgl. Leisinger 2022b:27 sowie Remez 2022:11). «Damit ist mit dem Größenwahn Schluss», meinte Leisinger (2022b:27). Bankman-Fried soll an einem einzigen Tag 95 % seines Vermögens oder fast 15 Mrd. US-Dollar verloren haben. Drittinvestoren hatten insgesamt

3.6 Virtuelle Währungen

71

40 Mrd. US-Dollar in die FTX investiert (vgl. Keusch 2022a:23). Der FTX-Handelsplatz, der aus weltweit über 130 Gesellschaften bestand, verbrannte Milliarden von USDollar von Kunden und Investoren, darunter des bestandenen Finanzriesen Blackrock und Kanadas drittgrößtem Pensionsfonds Ontario Teachers’ Pension Plan (vgl. Remez 2022:11). Weitere Investoren waren der Staatsfonds von Singapur, Temasek, sowie private Großinvestoren wie Cornerstone, Sequoia und Softbank (vgl. Mordrelle und Honegger 2022:29). Über 100.000 Kreditoren verlangten laut den Gerichtsunterlagen aus dem eröffneten Insolvenzverfahren Entschädigung (vgl. Remez 2022:11). Die Genehmigung, als Wertpapierbörse zu agieren, hatte FTX bei der zypriotischen Wertpapier- und Börsenaufsichtsbehörde (CySEC) erhalten, doch im Zusammenhang mit der Pleite wurde die Lizenz wegen des Verdachts auf mehrere Gesetzesverstöße suspendiert. Daneben besaß FTX eine Lizenz in Dubai. In Europa hielt FTX einen 10-%-Anteil beim Krypto-Dienstleister CM Equity, der 2021 ins Visier der deutschen Finanzaufsicht BaFin geraten war (vgl. Remez 2022:11). Fünf FTX-Gesellschaften waren in der Schweiz angemeldet, nämlich in Pfäffikon/SZ, darunter die FTX Europe AG. Aber keine der FTX-Ableger hatte in der Schweiz eine Lizenz der Finanzmarktaufsicht FINMA beantragt (vgl. Remez 2022:11). Zwar dürfte es nach heutigem Wissensstand übertrieben sein, bei der FTX-Pleite von einem «LehmanMoment» zu sprechen, wie das einzelne Kritiker taten, denn die Ansteckungsgefahr dürfte sich auf den Krypto-Währungsmarkt beschränken (vgl. Mordrelle und Honegger 2022:29) – doch alles in allem zeigt die FTX-Pleite, dass digitale Unternehmen mindestens ebenso stark, wenn nicht noch stärker, als andere Unternehmen beaufsichtigt und kontrolliert werden müssen. Denn immerhin wird die Marktkapitalisierung des KryptoMarktes auf 874 Mrd. US-Dollar geschätzt (vgl. Mordrelle und Honegger 2022:29), was jedoch nur 2 % des US-Aktienmarkts entspricht. Doch auch der alte FTX-Konkurrent Binance und dessen Inhaber und neuer Kryptobroker-Guru Changpeng Zhao scheinen nicht grundsätzlich weniger problematisch zu agieren. Auch Binance weist eine undurchsichtige Struktur auf und bietet über das Internet Finanzprodukte und Dienstleistungen an, die es in vielen Ländern gar nicht offerieren dürfte (vgl. Leisinger 2022a:23). Unklar ist, wo Binance seinen Hauptsitz hat, nachdem die Regierung in Peking gegen Krypto-Währungen vorgegangen ist und Binance seine Aktivitäten nicht mehr von Schanghai aus tätigen konnte. Ende November 2022 war Binance nach dem abrupten Absturz von FTX mit fast 8 Mio. Nutzern die größte Kryptobörse (vgl. Leisinger 2022a:23). Dabei hatten die US-Finanzministerin Janet Yellen und auch der Präsident der Europäischen Zentralbank, Christine Legarde, schon vor geraumer Zeit vor den Umtrieben im Kryptobereich gewarnt, und die niederländische Notenbank hatte darauf hingewiesen, dass Binance die Anti-Geldwäsche-Gesetze und die Regeln gegen Terrorismusfinanzierung nicht einhielt (vgl. Leisinger 2022a:23). Außerdem gibt es in der Bilanz von Binance selbst hohe Risiken aufgrund des hohen Anteils von 20 % aus Stablecoin Tether, der selbst wegen der Intransparenz hinsichtlich der hinterlegten

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3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

Sicherheiten höchst umstritten ist. Außerdem setzt sich die Hälfte der Bilanz aus unsicheren Kryptovermögenswerten wie Bitcoin, Ethereum und kleineren Coins und zu fast 10 % aus selbst kreierten Binance-Coin zusammen (vgl. Leisinger 2022a:23). Im Oktober 2013 bremste die amerikanische Bundespolizei FBI «Pirat Roberts» und seinen Marktplatz «Silk Road» aus und verhaftete Ross Ulbricht in einer öffentlichen Bibliothek in San Francisco – und nach seiner Verurteilung saß der Verurteilte jahrelang in einem Bundesgefängnis im US-Gliedstaat Arizona (vgl. Honegger 2020:27). Zwischen 2009 und 2017 waren 196 Mio. Transaktionen von schätzungsweise 6 Mio. «beobachteten» Nutzern festgestellt worden, welche die Kryptowährung mit großer Wahrscheinlichkeit für illegalen Warenkauf benutzt hatten. Illegale Bitcoin-Besitzer führten im Durchschnitt mehr Transaktionen durch als legale Nutzer, verschoben aber meist nur kleinere Beträge – und sie interagierten in der Regel mit Darknet-Markplätzen, die verbotene Waren, zum Beispiel Drogen – verkauften. Legale Nutzer erwarben Bitcoin eher aus Anlage- und Spekulationszwecken, während sie von illegalen Drogenerwerbern zu Zahlungszwecken verwendet wurden. Am Ende des Überwachungszeitraums wurde die Zahl illegaler Nutzer auf 27 Mio. geschätzt, die zusammen jährliche Transaktionen von rund 76 Mrd. US-Dollar tätigten (vgl. Honegger 2020:27). Der geschätzte Anteil illegaler Bitcoin-Transaktionen lag bei 46 %, derjenige illegaler Nutzer bei 26 %. Dabei wurden viele verbotene Aktivitäten wie das Umgehen von Kapitalverkehrskontrollen, Erpressungszahlungen und Bitcoin-Diebstähle von der verwendeten Methodik nicht erfasst. Der Rückgang von illegalen Bitcoin-Geschäften erklärte sich auch aus der Aktivität alternativer Kryptowährungen, welche dazu konzipiert sind, die Transaktionen ihrer Nutzer zu verbergen: Als die Darknet-Plattform AlphaBay die Kryptowährung Monero zu akzeptieren begann, sanken die Transaktionen von Bitcoin um 90.000. Allerdings sind auch die Transaktionen solcher Kryptowährungen für die Sicherheitsbehörden analysierbar (vgl. Honegger 2020:27). Im Zuge des FTX-Debakels hatten zahlreiche Krypto-Hedge-Fonds, von denen es weltweit einige hundert gab, enorme Verluste zu verzeichnen. Experten schätzten die Verluste auf einen Betrag in Milliardenhöhe (vgl. Honegger 2022:22). Krypto-Hedge-Fonds wollen mit komplexen und hochriskanten Handelsgeschäften ein Maximum an Rendite aus dem ohnehin schon risikoreichen Kryptomarkt herausholen. Selbst im Vergleich mit eh schon risikoreichen traditionellen Hedge-Fonds sind Krypto-Hedge-Fonds enorm risikobehaftet. Laut dem Branchendient Crypto Fund Research waren schätzungsweise 25 bis 40 % der Krypto-Hedge-Fonds vom FTX-Crash direkt betroffen. Die Krypto-Hedge-Fonds drohten im Schnitt zwischen 7 und 12 % der von ihnen verwalteten Vermögen zu verlieren, in Einzelfällen – so bei Galois Capital – waren bis 50 % der Gelder durch das Konkursverfahren bei FTX blockiert (vgl. Honegger 2022:22). Interessant ist der Hinweis von Mordrelle und Honegger (2022:29), dass der Zusammenbruch von FTX die systemische Schwäche zentralisierter Krypto-Börsen aufzeigt,

3.6 Virtuelle Währungen

73

die im Grunde dem Prinzip der dezentral organisierten Blockchain widerspreche. Entsprechend hätten dezentralisierte Krypto-Börsen wie Uniswap und Pancakeswap trotz FTX-Crash Auftrieb. Dabei waren in den vergangenen Monaten bereits verschiedene angeblich disruptive Krypto-Hedge-Funds und -Handelsfirmen zusammengebrochen. Changpeng Zhao übte über den verbleibenden nunmehr größten Krypto-Währungs-Handelsplatz Binance, der erst seit 2017 besteht, einen enormen Einfluss auf die Kryptowährungs-Szene aus. Dabei weist die Binance-Webseite weder einen juristischen Hauptsitz aus noch eine entsprechende Zulassung durch die Finanz-Aufsichtsbehörden (vgl. Leisinger 2022b:27). Beobachter fürchteten außerdem Mitte November 2022 einen weiteren Absturz von Bitcoin (vgl. Leisinger 2022b:27). Viele Kryptobörsen bewegen sich in juristischem Niemandsland oder sind in «Heimatstaaten» zweifelhafter Güte domiziliert: FTX auf den Bahamas oder Bitmex auf den Seychellen (vgl. Städeli 2022:25). Die meisten Experten sind sich heute einig: Um langfristigen erfolgreich zu sein, müssen Kryptobörsen an einem international respektierten Finanzplatz zu Hause sein (vgl. Städeli 2022:25). Doch es gibt auch durchaus hilfreiche und seriöse elektronische Zahlungssysteme. In China – das zusammen mit den Bahamas, wo es seit Oktober 2020 den sogenannten Sand-Dollar gibt, und Schweden mit einem Pilotprojekt – in Bezug auf virtuelle Währungen am weitesten forteschritten ist, ist ein Bankkonto zur Nutzung der virtuellen Währung nicht mehr nötig (vgl. Müller 2021:22). Die digitale Währung Chinas erfüllt alle Funktionen als gesetzliches Zahlungsmittel wie physisches Bargeld. Sie ist Tauschmittel, Recheneinheit und dient als Wertaufbewahrungsmittel. Dagegen handelt es sich bei Alipay und WeChat Pay um mobile Bezahldienste. Diese beiden lassen sich nur nutzen, wenn Zugang zum Internet besteht. Dagegen setzt Chinas digitale Währung auf Technologie der «near-field communication», wobei zwei Smartphones wenige Zentimeter voneinander entfernt sein müssen, um kontaktlos und ohne Zugang zum Internet zu bezahlen (vgl. Müller 2021:22). Bisherige Versuche zeigen, «dass fiskalpolitische Stimuli wie das Helikoptergeld durch den E-Yuan wirkungsvoller werden könnten. Dank der Programmierbarkeit der digitalen Währung ist es möglich, dass die zweckgebundenen Fördergelder nur in bestimmten Regionen und dort wiederum nur in bestimmten Geschäften ausgegeben werden können; geben die Konsumenten innerhalb eines bestimmten Zeitraums das Geld nicht aus, verfällt es. Sie haben nicht die Möglichkeit, es auf ein Sparkonto zu transferieren» (Müller 2021:22). Auch lässt sich bei der Förderung von Investitionsprojekten genau verfolgen, ob das Geld bei Projekten, für die es gedacht war, ankommt. Entsprechend können die chinesischen Behörden die Finanzierung von Terrorismus, illegale Finanzaktivitäten und Steuerhinterziehung nachverfolgen (vgl. Müller 2021:22). Alles in allem bemüht sich die Kommunistische Partei Chinas, «internationale Regeln für die digitale Währung und Steuern zu formulieren, um neue Wettbewerbsvorteile zu schaffen», so die Vorgabe des Partei- und Staatschefs Xi Jinping in einem im Oktober 2020 veröffentlichten Beitrag (vgl. Müller 2021:22).

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3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

2018 nutzten in zehn afrikanischen Ländern 30 Mio. Menschen den kenianischen Bezahldienst M-Pesa, mit welchem per SMS direkte Geldüberweisungen getätigt werden können, ohne dass es eine Bank oder ein Filialnetz braucht (vgl. Sühlmann-Faul und Rammler 2018:31). Allerdings sind das keine Währungen im strengen Sinn, sondern elektronische Zahlungssysteme.

3.7

Arbeit

Die Digitalisierung hat die Arbeitswelt stark verändert – wahrscheinlich ebenso stark wie seinerzeit die Dampfmaschine oder die Elektrizität. Dabei sind die einzelnen Beschäftigungsgruppen und Berufe sehr unterschiedlich vom digitalen Wandel betroffen. Junge, technikaffine Menschen erleben die Digitalisierung als Chance und als neue interessante Möglichkeiten im Arbeitsmarkt, etwa wenn sie in Start-ups oder in digitalen Unternehmen wie Google (Alphabet) oder Amazon arbeiten. Doch neben hoch bezahlten Beschäftigungsmöglichkeiten gibt es auch eine wachsende Zahl prekärer Job mit schlechten Arbeitsbedingungen – vor allem für wenig oder falsch qualifizierte Personen. Andere Arbeitnehmer:innen sind laufend mit neuen Herausforderungen konfrontiert, weil sich ihre Tätigkeit fortlaufend wandelt und sie sich immer wieder anpassen und neue Anwendertools oder Anwenderprogramme lernen müssen. Sie müssen befürchten, «eines Tages nicht mehr mithalten zu können, da ihr wertvollstes Kapital, nämlich ein Erfahrungswissen in bestimmten Berufsfeldern, überflüssig geworden ist. Anderen wiederum droht unmittelbar der Verlust ihres Arbeitsplatzes, indem sie in ihrer bisherigen Tätigkeit durch Industrieroboter oder andere, mit künstlicher Intelligenz gesteuerte, Rechner ersetzt werden» (Wiemeyer 2021:164). Andere Studien kommen zum Ergebnis, dass besonders die mittlere Qualifikationsebene durch die Digitalisierung unter Druck gerät, mit dem Ergebnis, dass «die berufliche Mitte – also die Trägerschicht von gewerkschaftlicher und betrieblicher Solidarität – … zu erodieren [droht]» (Kurz et al. 2019:38). Es ist unbestritten, dass die Digitalisierung nicht nur die Art der Arbeit, sondern auch die Zahl der Arbeitsplätze in den einzelnen Bereichen stark beeinflusst und beeinflusst hat. So hat etwa die digitale Fotografie bei Kodak zu einer Reduktion der ursprünglich 145.000 Arbeitsplätzen im Jahr 1988 auf gerade mal 14.500 Arbeitsplätze im Jahr 2011 geführt (vgl. Lange und Santarius 2018:87), trotz des enormen Booms der digitalen Fotos im Internets (Selfies, Touristenfotos usw.). Dies zum einen, weil viele Fotos nur noch digital gespeichert werden, aber auch, weil es Kodak schlicht verpasst hat, rechtzeitig auf den neuen Trend zu reagieren und neue Geschäftsfelder zu erschließen. Dafür sind neue Arbeitsplätze bei den Erstellern von digitalen Geräten (Smartphones) und in den sozialen Medien entstanden, wo Fotos hochgeladen, gespeichert und geteilt werden. Grundsätzlich ist als Folge der Digitalisierung mit einem «Freisetzungseffekt» (Petersen 2020:109) auf dem Arbeitsmarkt zu rechnen. Direkt gesagt: Die Digitalisierung

3.7

Arbeit

75

vernichtet Arbeitsplätze, wie folgende Beispiele zeigen: Industrieroboter verrichten immer mehr Arbeit mit immer weniger menschlicher Unterstützung, standardisierte Arbeitsabläufe werden immer stärker automatisiert, selbstfahrende Fahrzeuge (z. B. in Logistikzentren) ersetzen menschliche Fahrer:innen, KI und Datenbanken ersetzen menschliche Recherchen, Übersetzungssoftware substituiert menschliche Übersetzer, der Finanzdienstleistungssektor wird immer digitaler, Buchungsportale im Tourismus ersetzen menschliches Personal, Online-Kurse benötigen weniger Dozierende, 3D-Drucker ermöglichen einfachere Herstellungsprozesse in vielen Bereichen usw. (vgl. Petersen 2020:109 ff.). Lange und Santarius (2018:88) haben eine Liste der zehn durch die Digitalisierung gefährdetsten und der 10 am wenigsten gefährdeten Berufe erstellt (Tab. 3.1). Tab. 3.1 Die 10 durch die Digitalisierung gefährdetsten und die 10 am wenigsten gefährdetsten Berufe. (Quelle: Lange und Santarius 2018:88; eigene Darstellung) Top 10 der gefährdetsten Berufe … Berufs- und Sekretariatskräfte Berufe im Verkauf Berufe im Gastronomieservice Berufe in der kaufmännischen und technischen Betriebswirtschaft Berufe für Post und Zustelldienste Köche und Köchinnen Bankfachleute Berufe in der Lagerwirtschaft Berufe in der Metallverarbeitung Berufe in der Buchhaltung Top 10 der ungefährdeten Berufe … Berufe in der Kinderbetreuung und -erziehung Berufe in der Gesundheits- und Krankheitspflege Aufsichts- und Führungskräfte, Unternehmensorganisation und -strategie Berufe in der Maschinenbau- und Betriebstechnik Berufe in der Kraftfahrzeugtechnik Berufe im Vertrieb (Einkaufs-, Vertriebs- und Handelsberufe) Berufe in der Sozialarbeit und -pädagogik Berufe in der Altenpflege Berufe in der Hochschullehre und -forschung Berufe in der Bauelektrik

76

3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

Eine große Frage ist, ob durch die Digitalisierung Berufe mit hohem Frauenanteil stärker oder weniger gefährdet sind als Tätigkeiten mit hohem Männeranteil. Laut Oliveira (2019:109) besteht hier noch erheblicher Forschungsbedarf. Was aber bereits klar zu sein scheint, ist, dass die Digitalisierung zu einer Auflösung der Grenze zwischen beruflichen und privaten Lebensbereichen führt, und zwar bei Männern und Frauen in unterschiedlicher Hinsicht. Zwar steigen bei beiden Geschlechtern die Erwartung an die Erreichbarkeit durch die Vorgesetzten außerhalb der Arbeitszeiten – je nach Studie bei 27 bis 50 % der Beschäftigten (vgl. Oliveira 2019:110). Dabei wird in der Regel die zusätzliche Erreichbarkeit nicht vergütet. Sie wird nicht als Arbeitszeit anerkannt und kann auch nicht kompensiert werden, was faktisch eine Arbeitszeitverlängerung bedeutet. Befragungen von Beschäftigten zeigten außerdem, dass viele den Eindruck hatten, in der gleichen Zeit deutlich mehr leisten zu müssen – laut Oliveira (2019:110) eine Arbeitsverdichtung. Dazu kommt, dass Frauen die flexiblere Arbeitszeit eher für die Kinderbetreuung, für private Aktivitäten oder für die Work-Life-Balance nutzen, während Männer noch mehr Zeit in die Erwerbsarbeit investieren (vgl. Oliveira 2019:111). Mäder et al. (2020:63) sehen vor allem einen Beschäftigungsrückgang der Frauen: Rund 6 % aller Stellen auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt und 10 % aller Lehrstellen finden sich im Einzelhandel. Von den rund 313.000 beschäftigten Personen sind zwei Drittel Frauen. Im Einzelhandel, einer «klassischen Frauenbranche», ist in den letzten 10 Jahren die Zahl der Beschäftigten um 6,1 % oder 20.500 Personen gesunken, wovon 80 % Frauen (vgl. Mäder et al. 2020:63). «Gleichzeitig stieg der Anteil der teilzeitbeschäftigten Frauen von 55 auf 61 %, während dieser bei den Männern bei 25 % stagniert. Der Beschäftigungsrückgang trifft Frauen damit doppelt: Sowohl die Anzahl angestellter Frauen als auch ihr Arbeitsvolumen ist rückläufig» (Mäder et al. 2020:63). Insgesamt sind Frauen auf verschiedenen Ebenen stärker vom Beschäftigungsrückgang betroffen, zweitens sind Frauen innerhalb des Einzelhandels überdurchschnittlich oft von Online-Handel betroffen, der Arbeitsplätze vernichtet, drittens betreffen neue technische Entwicklungen wie etwa die SCO-Kasse Frauentätigkeiten, und viertens führen vermehrt Teilzeitanstellungen und Flexibilisierung von Arbeit – etwa bei Personen mit Care-Verpflichtungen – zu prekären Lebenssituationen (vgl. Mäder et al. 2020:65). Demgegenüber rechnete Isabelle Wildhaber (2021:19), Professorin an der Universität St. Gallen, mit einer Flexibilisierung der Arbeitswelt und mit mehr Problemlösungen als neuen Problemen durch die Digitalisierung für die Frauen. Zur Zeit stehe vor allem die Frage im Raum, ob es sich bei Dienstleistungserbringerinnen um Selbständigerwerbende handle oder nicht. Dabei sollte es aber um die Frage gehen, wie unabhängig von der sozialversicherungsrechtlichen Stellung sicherzustellen sei, dass sämtliche Dienstleistungserbringer gegen soziale Risiken wie zum Beispiel Unfall oder Alter abgesichert seien. Laut Wildhaber (2021:19) sind aber Plattformen nicht notwendigerweise die Ursache des Problems, sondern können auch Teil der Lösung sein. Mithilfe von Plattformen könne auch sichergestellt werden, dass die Sozialversicherungsbeiträge korrekt abgeführt würden. Das geht aber nur, wenn das Aufkommen der Plattformen nicht als Vorwand für

3.7

Arbeit

77

den Entzug von Dienstleistungen benutzt würden, sondern um ihre soziale Absicherung zu verbessern (vgl. Wildhaber 2021:19). Wenn es stimmt, dass 90 % der Deutschen ihre Haushaltshilfen schwarz beschäftigen – und wenn die Situation in der Schweiz ähnlich ist – gibt es da viel zu tun: «Das für die private Personalvermittlung relevante Arbeitsvermittlungsgesetz von 1989 muss zwingend angepasst werden, um der sich wandelnden Gesellschaft und der fortschreitenden Digitalisierung gerecht zu werden», meint Wildhaber (2021:19). «Dies könnte durch Aufhebung des starren Schriftformerfordernisses und durch eine flexiblere Ausgestaltung der Arbeitszeiten bewerkstelligt werden». Das neue Arbeitsvermittlungsgesetz bringe da Potenzial. Personengebundene Dienstleistungen lassen sich weniger einfach durch digitale oder virtuelle Angebote ersetzen als etwa technische Produktionsabläufe. Bei sozialen und pflegerischen Berufen wurde das Substituierbarkeitspotenzial durch digitale Tools auf 10 bis 20 % geschätzt (vgl. Oliveira 2019:114). Unklar und umstritten ist jedoch, was das für die Berufsausübenden bedeutet. Während einige Autor:innen von einer Aufwertung der CareArbeit ausgehen, bestreiten das andere – so die feministische Ökonomin Silke Chorus9 (2013:248 ff.) – und befürchten, dass der strukturelle Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen im Sozial- und Pflegebereich durch die Digitalisierung noch zunehmen wird (vgl. Oliveira 2019:115). Dies deshalb, weil nicht wie in anderen Bereichen Effizienz gesteigert und Grenzkosten reduziert werden können, weshalb der Spardruck weiter zunehmen werde. Natürlich kann man argumentieren, dass die Digitalisierung auch Arbeitsplätze schafft, etwa im Software-Bereich. Neugebauer (2018:4) behauptet sogar, insgesamt habe die Digitalisierung sogar zu einer Zunahme des Job- und Erwerbsangebots geführt. Nach Ansicht von Hirsch-Kreinsen (2018:16) liegen bisher wenige und wenn dann widersprüchliche Ergebnisse aus der industrie- und arbeitssoziologischen Forschung zu den Auswirkungen, Potenzialen und Regulationserfordernissen digitalisierter Arbeit und besonders zur aktuellen Digitalisierungsphase «Industrie und Arbeit 4.0» vor. Viele Forscher:innen betonen den höheren Bedarf an hoch qualifizierten Arbeitskräften bei gleichzeitigem Verlust wenig qualifizierter Arbeitsplätze. Andere Quellen gehen auch von einer Substitution hochqualifizierter, nicht routinierter und kreativer Tätigkeiten in den Managementbereichen Planung und Steuerung aus. US-amerikanische und einige europäische Studien gehen von einer Ausweitung anspruchsvoller Jobs auf der einen 9 Chorus argumentiert mit der Marx’schen Werttheorie: Weil der Wert der Arbeit und damit auch

der Care-Arbeit im Vergleich zur übrigen Arbeit definiert wird, und die Produktivität und damit der Wert von Nicht-Care-Arbeit zunimmt, sinkt im Vergleich dazu der Tauschwert der Care-Arbeit. Auf dem Arbeitsmarkt, wo die Ware Arbeit gekauft und verkauft wird, bedeutet das, dass bei gleich bleibender Produktivität der Care-Arbeit deren Wert und damit auch die Löhne sinken, bis theoretisch ein Punkt erreicht wird, wo sich niemand mehr für bezahlte Care-Arbeit zur Verfügung stellt. Allerdings stellt sich die Frage, ob dieser theoretische Mechanismus auch in der Praxis so funktioniert, weil im Gegensatz zu vielen anderen Waren die Care-Arbeit in vielen Bereichen – etwa in der Pflege oder Kindererziehung – lebenswichtig ist und auch nicht substituiert werden kann, so wie z. B. ein Computer durch ein Smartphone.

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3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

Seite und wenig anspruchsvoller Tätigkeiten auf der anderen Seite auf Kosten mittlerer Qualifikationsgruppen aus (vgl. Ittermann und Niehaus 2018:45 f.). Dabei scheinen sich arbeitsorganisatorisch die hochqualifizierten und anspruchsvollen Aufgaben immer stärker zu interdisziplinären Teams in Projektorganisation zu verlagern, während einfache und ursprünglich komplexe Aufgaben durch computergestützte Instrumente – etwa über digitale Assistenzsysteme – weitgehend standardisiert und damit auch vereinfacht werden (vgl. Ittermann und Niehaus 2018:46). Als Beispiel für diese Polarisierung werden etwa Entwicklungen im Logistikbereich genannt. Eine ähnliche Polarisierung besteht auch bei der Entwicklung und Anwendung von digitalen Tools: Auf der einen Seite entwickeln und designen Informatiker laufend neue Tools, und auf der anderen Seite sind eine große Zahl von Anwendern oder User gezwungen, die Anwendung dieser Tools zu lernen und die laufend erfolgenden Modifikationen zu übernehmen. Dabei können die User die Rahmenbedingungen nicht oder nur kaum beeinflussen – sie können nur die entsprechenden Tools und Programme oder Apps entweder akzeptieren oder ablehnen. Damit entsteht so etwas wie eine «digitale Zweiklassengesellschaft», die «Designer» und die «User». Das Fazit von Hirsch-Kreinsen (2018:17) lautet: Die tatsächlichen Beschäftigungseffekte der Digitalisierung sind schwer abzuschätzen. Klar scheint, dass viele Arbeitsbereiche sich verändern, herkömmliche Tätigkeiten wegfallen und neue Tätigkeitsfelder dazu kommen werden. Anders gesagt: die arbeitsspezifischen Auswirkungen der laufenden Digitalisierung gleichen einer Black Box. Abschätzungen der Beschäftigungseffekte von Automatisierung in Entwicklungs- und Schwellenländern sehen folgendermaßen aus (Beispiele aus: Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung 2019:267): Ländergruppe/Region zung.

Einschät-

Südostasien Entwicklungsländer

OECD sowie Äthiopien, Indien und China

Die Automatisierung wird voraussichtlich die Arbeitsplätze in Entwicklungsländern noch schneller ersetzen als in Industrieländern. In ASEAN-Staaten sind 56 % der Arbeitsplätze einem hohen Automatisierungsrisiko ausgesetzt. Entwicklungsländer sind sehr anfällig für einen wachsenden Automatisierungsgrad. Zwei Drittel aller Arbeitsplätze sind für Automatisierung anfällig (1,8 Mrd. Arbeitsplätze). Neue Technologien scheinen besonders aufstrebenden Ländern das Leben schwerer zu machen. China wird 77 % der Arbeitsplätze durch Automatisierung verlieren, Indien 69 %, Äthiopien 85 % und in der OECD werden durchschnittlich 57 % der Arbeitsplätze verloren gehen.

3.7

Arbeit

Afrika

79

41 % aller Tätigkeiten in Südafrika sind für Automatisierung anfällig, in Äthiopien sind es 44 %, in Nigeria 46 % und in Kenia 52 %.

Aber trifft es zu, wenn Susanne Pauser (2018:124 f.) – ihres Zeichens Vorständin der Württembergischen Versicherungen in Stuttgart – mit Blick auf die digitale Umgestaltung der W&W-Gruppe in Bezug auf die Umbau- und Abbauszenarien im Personalbereich festhielt: «Niemand muss Angst vor der Zukunft haben, denn die Gestaltung liegt in unseren Händen. Und sie sieht eben gerade nicht völlig mitarbeiterfrei aus, sondern ,nur‘ deutlich anders». Aber «deutlich anders» und «nicht völlig mitarbeiterfrei» heißt doch wohl konkret: mit einer geringeren Zahl von Mitarbeitenden und mit anders als bisher qualifizierten Mitarbeitenden. Und das gilt wohl für sehr viele, wenn nicht die meisten Branchen. Und dass sehr wohl Firmen wie Amazon Hunderte von «ineffizienten» Arbeitern entlassen können, zeigt sehr wohl die Brisanz der Geschichte: So wurden etwa bei Amazon zwischen August 2017 und September 2018 Hunderte von Arbeitern in Logistikzentren von Computeralgorithmen gefeuert (vgl. Lobe 2019:8). Wenn Mitarbeitende zu lange Pausen machen oder bestimmte Vorgaben nicht erfüllen, erzeugen Computerportale automatisch Warnungen, die zur Entlassung führen können. So sind etwa Amazon-Mitarbeitende großem Druck ausgesetzt: Computer erfassen alle Warenbewegungen, kontrollieren jeden Arbeitsschritt und fragen, wie viele Pakete eingelagert werden, wieviel eingepackt und ob der oder die Mitarbeitende produktiv genug ist (vgl. Lobe 2019:8). Nach dem Black Friday protestierten in ganz Europa Tausende von AmazonMitarbeitenden mit dem Slogan: «Wir sind keine Roboter» (vgl. Lobe 2019:8). So ist die Gefahr, von einem Roboter entlassen zu werden, möglicherweise größer als von diesem ersetzt zu werden. Was sich jedoch sagen lässt, ist Folgendes: In Zukunft werden neue Muster der Mensch-Maschinen-Kommunikation entstehen, eine neue und wechselnde Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine. Auch so genannte hybride Systeme, in welchen sich situationsabhängige Aufgabenteilungen und Handlungsverhältnisse zwischen Mensch und digitalem System oder Maschine ergeben wird (vgl. Hirsch-Kreinsen 2018:18). Daraus wird sich ein Wandel in den Anforderungsprofilen und Qualifikationen der Mitarbeitenden ergeben – ein Prozess, der teilweise heute schon läuft. Hirsch-Kreinsen (2018:20) skizzierte dabei zwei Pole: einerseits eine Tendenz einer allgemeinen Aufwertung von Tätigkeiten und neue Anforderungen und Qualifikationen, und anderseits eine stärkere Polarisierung zwischen komplexen Tätigkeiten und Arbeit mit geringem Qualifikationsniveau. Auch besteht die Gefahr einer stärkeren Kontrolle der Arbeit durch Vorgesetzte oder übergeordnete Stellen. Eher zweifelhaft ist, ob die Veränderungen der Arbeitsorganisation tatsächlich zu einer Abkehr von hierarchisch aufgebauten IT-Systemen führen

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3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

wird und zu einer weniger zentralistisch strukturierten Arbeitsorganisation (vgl. HirschKreinsen 2018:21). Die Zentralisierung könnte einfach stärker auf digitale Systeme verlagert werden. Zu den Auswirkungen auf die Arbeitswelt zieht Hirsch-Kreinsen (2018:24) das Fazit, dass erstens der Prozess der Digitalisierung in der industriellen Produktion keine eindeutigen Folgen für die Arbeit nach sich zieht, dass zweitens die Frage nach den sich durchsetzenden neuen Arbeitsformen abhängig von betrieblichen Einführungs- und Entscheidungsprozessen ist und drittens in den Betrieben Wahlmöglichkeiten zwischen alternativen Formen der Arbeit bestehen. Nicht zu unterschätzen ist auch der Vertrauensverlust der Arbeitgeber gegenüber dem Arbeitnehmer. So berichtete etwa die Rechtsanwältin Margrit Weber-Scherrer von rund 10 bis 20 % mehr Anfragen zum Thema Überwachung seit dem Lockdown im Frühjahr 2020 bis Ende 2020 – in der Regel ging es dabei um elektronische Überwachung (vgl. Gratwohl und Rütti 2020:21). Schon vor Ausbruch von Corona stieg das Interesse an Überwachungssoftware: Laut einer Erhebung der Beratungsfirma Accenture nutzten 62 % der befragten Unternehmen Technologien und Quellen zur Sammlung von Mitarbeiterdaten (vgl. Gratwohl und Rütti 2020:1). Vor allem in China und in den USA ging diese Tendenz von Firmen deutlich weiter: Trotz allen rechtlichen Bedenken und Fallstricken boomte die Überwachungsindustrie. So ist etwa seit Ausbruch der Corona-Pandemie die Nachfrage nach People-Analytics-Software gestiegen. Die deutsche Firma Protectvision verzeichnete zu Beginn der Corona-Krise in den Regionen Deutschland, Österreich und der Schweiz ein monatliches (!) Umsatzwachstum von 15 %, und seit Ankündigung des November-Lockdowns in Deutschland sogar um 30 % (Gratwohl und Rütti 2020:21)! Befürworter der Digitalisierung sprechen gerne von der Auflösung klassischer Grenzziehungen, von Flexibilisierung und Multifunktionalität. Doch wie sieht das in der Praxis aus? Viele handwerkliche Berufe – wie etwa Elektriker oder Mechaniker – beruhen immer weniger auf Erfahrung und selbständigem Denken, sondern vorgegebene und standardisierte Prozesse werden stur abgearbeitet. Das führt oft zum Erfolg, aber wenn ein neues Problem auftaucht, bringen solche Standardprozesse keine Lösung, wie sich häufig bei Problemen im Anwendungsbereich der Telekommunikation, des Internetzugangs oder in der Mobiltelefonie im Alltag zeigt – viele Durchschnittskonsumentinnen und -konsumenten können davon ein Lied singen. Die Digitalisierung verstärkt und verdeckt gleichzeitig die Bruchlinie zwischen Arbeit und Kapital (vgl. Kurz et al. 2019:43 f.). Ja, die Digitalisierung erweist sich sogar als Beschleuniger und Treiber der Einkommensumverteilung von der Arbeit zum Kapital. Nicht nur, aber vor allem die digitalen Konzerne entwickeln neue Geschäftsmodelle, die primär auf der weitestgehenden Automatisierung von Arbeitsabläufen und einer Plattformstruktur beruhen, in deren Zentren zwar gute Arbeitsverhältnisse existieren, aber die eine wachsende Peripherie von Crowd- und Clickworkern10 schafft, mit deutlich schlechteren bis prekären Arbeitsbedingungen. Dazu kommt, dass – insbesondere bei Start-ups und 10 Ausführlich zum Crowdworking und Crowdsourcing vgl. Abschn. «3.4 Plattformkapitalismus».

3.7

Arbeit

81

in neuen Geschäftsfeldern – zunehmend ein «The-Winner-takes-it-all»-Prinzip herrscht, in welchem nur wenige Monopolfirmen auf die Dauer erfolgreich sind (vgl. Kurz et al. 2019:44). Ittermann und Niehaus (2018:52) haben die verschiedenen möglichen Szenarien in Bezug auf positive und negative Auswirkungen der Digitalisierung in der Industriearbeit in einer Tabelle dargestellt (vgl. Tab. 3.2). Auf ein besonderes Problem der modernen Arbeit haben Ahrens und Spöttl (2018:187) hingewiesen: «Die Annahme, dass Fachkräfte in vielen Fällen nicht länger aktiver Bestandteil des Produktionsgeschehens sind und in eine distanzierte Kontrollposition verdrängt werden, hat zur Folge, dass die Mitarbeiter an Expertise und Erfahrung im Produktionsprozess verlieren und komplexere Produktionsprozesse nicht mehr beherrschen. Die Gefahr hierbei ist, dass sie sich auf funktionierende automatische Prozesse verlassen und an Wissen und Erfahrung zur Bewältigung der Prozesse verlieren». Dabei gewinnt aufgrund der Komplexität der hochtechnisierten Systeme neben fundiertem theoretischem Fachwissen vor allem auch das erfahrungsgeleitete Handeln an Bedeutung (vgl. Ahrens und Spöttl 2018:187). Das bedeutet insbesondere in mittleren Qualifikationsstufen größere Komplexitäts-, Abstraktions- und Problemlösungsanforderungen, aber auch Kompetenzen in der Zusammenarbeit und hohe Teamfähigkeit (vgl. Ahrens und Spöttl 2018:191). Viele Ökonomen – so auch Petersen (2020:202) – sind der Ansicht, dass auf globaler Ebene die Digitalisierung zu einer Substitution des Faktors Arbeit durch den Faktor Kapital führen wird. So sei auch in Schwellen- und Entwicklungsländern mit einer Verringerung der Nachfrage nach Arbeit zu rechnen, was gerade in Ländern mit mangelhaften Systemen der sozialen Sicherheit zu großen Problemen führen dürfte. Hier steckt zweifellos ein enormes soziales Konflikt- und Krisenpotenzial. Neben ökologischen Fragen dürfte der Überhang von arbeitssuchenden Menschen in den nächsten 20 bis 30 Jahren das Problem darstellen, mit allen entsprechenden Folgen für die Weltmigration, für Kriege oder Gewalt. Hugo Fasel (2019:9), der Direktor der Caritas Schweiz, sah sogar die Gefahr eines «Pauperismus 2.0». Auch er fürchtete ein «zunehmend digitales Prekariat, das einer digitalen Elite gegenübersteht» (Fasel 2019:9). Dabei könnten neue Formen der Ausbeutung entstehen – ähnlich wie in der Zeit der Industrialisierung. Die Entstehung neuer «Miniunternehmer» könnte nicht nur ganze Gruppen in sehr unsichere Anstellungsbedingungen abrutschen lassen, sondern sie auch mit einer mangelhaften Existenzsicherung konfrontieren (vgl. Fasel 2019:10). Erstaunlicherweise hat sich zwischen 2006 und 2016 die Zahl der Erwerbstätigen, die sich um einen beruflichen oder sozialen Abstieg Sorgen machen, von 64 auf 33 % halbiert (vgl. Kohlrausch 2019:21). Allerdings wurde in der betreffenden Studie die Abstiegsangst nur über die Angst vor Arbeitslosigkeit operationalisiert, was möglicherweise eine verkürzte Operationalisierung darstellen könnte. Es ist nämlich wahrscheinlich, dass sich die problematischen Aspekte der Digitalisierung nicht direkt über die Arbeitslosigkeit auswirken, sondern über geringere Handlungsspielräume im Beruf, verschlechterte Arbeitsbedingungen oder geringere Autonomie zeigen (vgl. Kohlrausch 2019:21).

Bessere Jobs auf allen Ebenen, durch IT unterstützt

Komplementäre und adaptive Interaktion

(Lernförderliche) Vernetzung von Beschäftigten verschiedener Qualifikations-ebenen

Erhalt und Anreicherung Vollständige Substitution von Einfacharbeit, Erosion einfacher Arbeit durch Aufwertung

Tätigkeiten/Qualifikationen

Mensch-Maschine-Interaktion

Organisation und Verlagerung von Arbeit

Industrielle Einfacharbeit

Hochgradig arbeitsteilige Organisation, Entscheidungsfindung durch CPS

Streng hierarchische Inter-aktion, restriktive Assistenzsysteme

Beschäftigung als ‚Rädchen in der Cyberfabrik‘

Weitreichende Beschäftigungsverluste

Beschäftigungsstabilität/ -gewinne

Arbeitsmarkt Beschäftigung

Substitution/ Negativszenario

Aufwertung/ Positivszenario

Szenarien Themenfelder

Von Arbeitsverhältnis zum Arbeitseinsatz

Erosion von betriebsförmiger und abhängiger Beschäftigung

Entgrenzungsszenario

Einfacharbeit als von der Entwickelung abgekoppeltes Segment

Gleichzeitigkeit von High-Performance-Teams und ‚digital taylorism‘

Neue (pekuniäre) Einfachheit (u. a. Click-Worker)

Hochflexible, lerntemporäre Netzwerke, Externalisierung

Spaltung: «Dirigenten» und Räumliche «Maschinendiener» Entkoppelung durch Technik

Spaltung in attraktive und miserable Jobs

Ausdifferenzierung von Beschäftigungsgewinnern und -verlierern

Spaltung/ Polarisierungsszenario

Tab. 3.2 Positive und negative Szenarien zur Auswirkung der Digitalisierung auf die Industriearbeit. (Quelle: Ittermann und Niehaus 2018:52)

82 3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

3.7

Arbeit

83

In einer Erhebung zwischen dem 14.1. und 1.2.2017 zum Thema Arbeit kam heraus, dass 20,4 % der Befragten fürchteten, mit den technischen Veränderungen immer weniger Schritt halten zu können. 33,7 % sagten aus, infolge der Digitalisierung immer mehr Arbeit in immer weniger Zeit bewältigen zu müssen. 42,1 % waren der Ansicht, dass durch die Digitalisierung die Überwachung und Kontrolle ihrer Arbeitsleistung immer größer werde. 61,6 % empfanden ihr Leben durch die neuen Technologien komfortabler und einfacher. 45,3 % glaubten, durch die neuen Technologien bessere Arbeitsergebnisse erbringen zu können. Dank der neuen Technologien hielten 38,1 % ihre Arbeit für weniger anstrengend. 32,6 % konnten dank der neuen Technologien freier entscheiden, wann und wo sie arbeiteten. Und immerhin 27,3 % fanden, dass der technische Wandel ihren Arbeitsplatz sicherten (vgl. Kohlrausch 2019:25). Die Studie zeigte, dass die höher Qualifizierten, Angestellten und Selbständigen glaubten, durch die Digitalisierung größere Flexibilität in Bezug auf die Arbeitszeit und den Arbeitsort zu erhalten. Außerdem profitierten die Männer signifikant stärker von den positiven Aspekten der Digitalisierung als die Frauen, bzw. fühlten Frauen signifikant häufiger negative Folgen der Digitalisierung als Männern (vgl. Kohlrausch 2019:28). Eine andere Studie in Österreich legte eine große Varianz von Tätigkeiten offen. 74 % gaben an, Büroarbeiten, kleinere Aufgaben und «Clickworking-Tätigkeiten» auszuführen, die sie online erledigten. 62 % verrichteten kreative Arbeit oder IT-Arbeit und 44 % erledigten persönliche Dienstleistungen (vgl. Kuba 2016). 51 % gaben an, die Tätigkeiten in den Häusern anderer Menschen zu verrichten, wie z. B. bei Uber, Checkrobin oder Blablacar (vgl. Kuba 2016). Diese Zahlen zeigen sehr schön die ambivalenten Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit. Kohlrausch (2019:32) sah in der Studie eine Bestätigung der These, dass es durch die Digitalisierung zu einer Polarisierung hinsichtlich Bildung und kulturellem Kapital komme. Insbesondere mobiles Arbeiten und Homeoffice könnten dazu beitragen, die Schere zwischen den Arbeitszeiten von Frauen und Männern zu schließen. Doch sie erhöhen auch die Gefahr, Beruf und Freizeit untrennbar zu verschmelzen. Und die Auswirkungen sind für Männer und Frauen unterschiedlich: Mütter könnten das Homeoffice für Vereinbarkeitsanliegen von Beruf und Kindern benutzen, während Väter ihren Arbeitstag verlängern, um ihre Karriere zu fördern (vgl. Kurz et al. 2019:42). Doch Homeoffice und orts- und zeitunabhängiges Arbeiten hat vielerorts zugenommen. So ist etwa das Start-up-Unternehmen Remote, das 2019 vom Homeoffice aus gegründet wurde und vollständiges «remote Work», also flexibles, orts- und zeitunabhängiges Arbeiten ermöglicht und wünscht, heute drei Milliarden US-Dollar wert und beschäftigt auf der ganzen Welt rund tausend Mitarbeitende. Remote bietet Dienstleistungen im Personalbereich sowie juristische und administrative Beratungen an (vgl. Gratwohl 2022:27). Doch orts- und zeitflexible Arbeitsformen erfordern andere Führungsqualifikationen und Verhaltensweisen der Vorgesetzten. Das Hauptproblem besteht in den fehlenden direkten Kontakten zu und zwischen den Mitarbeitenden. Face-to-face-Treffen sind für die Teamarbeit und den

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3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

spontanen Austausch äußert wertvoll und können auch durch Online-Besprechungen nicht gänzlich ersetzt werden. So hat sich in der Corona-Pandemie gezeigt, dass sich viele Vorgesetzte durch das Homeoffice überfordert fühlten. So sollte die Führung sich nicht auf das Mikromanagement fokussieren, sondern die Problembereiche im Auge behalten, auf die Ergebnisse und weniger auf die Arbeitsstunden schauen, neue Lösungen eher ermöglichen statt Regeln durchsetzen, das Team zusammenhalten und gut kommunizieren, klare Prioritäten setzen und Vertrauen und Empathie fördern (vgl. Gratwohl 2022:27). Viele dieser Punkte gelten zwar auch für die Arbeit in Büros oder Werkstätten, aber sie sind bei zunehmend flexiblen und digitalen Arbeitsformen noch wichtiger. Mehr und mehr Unternehmen schaffen auch virtuelle Räume, auf die die Mitarbeitenden mit den verschiedensten digitalen Geräten zugreifen können, allerdings dürfte der große Durchbruch erst dann erfolgen, wenn die 3-D-Virtualität ohne allzu große Schwierigkeiten – wie etwa mit teuren 3-D-Brillen – möglich sein wird. Eine der Folgen der Digitalisierung in der Arbeitswelt ist die Entstehung neuer Formen der Arbeitsorganisation. Neue Formen digitaler Erwerbsarbeit entstanden in allen Produktionsbereichen, besonders aber bei der Herstellung digitaler Güter und Dienstleistungen. Ein neues Arbeitsorganisationsprinzip ist – wie bereits ausführlich dargestellt11 – das so genannte Crowdworking, auch Crowdsourcing genannt. Dabei «lädt ein/e Crowdsourcer/ in (z. B. ein Unternehmen, eine Organisation, eine Gruppe oder ein Individuum) mittels eines offenen Aufrufs eine undefinierte Menge von potenziell Mitwirkenden (Crowd Worker) ein, eine bestimmte Aufgabe zu bearbeiten. Die sogenannten Crowd Worker/ innen (auch: Crowd sourcees) umfassen dabei nicht nur einzelne Individuen, sondern auch formelle oder informelle Gruppen und Organisationen, in denen sich einzelne Crowd Worker/innen organisieren, um gemeinschaftlich entsprechende Aufgaben bearbeiten zu können. Der Interaktionsprozess zwischen Crowdsourcer/in und Crowd Worker/in erfolgt über IT-gestützte Plattformen, welche als Intermediäre agieren» (Durward und Leimeister 2019:164). Schönefeld und Schwarz (2017:221) kommen in ihrer Untersuchung zum Schluss, dass Crowdworking «für viele Personen keine echte Alternative zu einem traditionellen Arbeitsverhältnis [darstellt]». Außerdem sind Crowdsourcing-Plattformen deutlich mehr als technische Vermittlungs-Plattformen oder reine Kommunikationsmedien. Sie sind selbständige wirtschaftliche Akteure, die unter anderem über die Auswahl der Personen – oft mithilfe so genannter Bewertungs-Feedbacks – auch die Arbeit koordinieren (vgl. Schönefeld und Schwarz 2017:222). Damit durchbrechen oder relativieren sie auch das klassische Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis. Über Plattformen können Unternehmen «Tätigkeiten, die ursprünglich durch einzelne Vertragspartner … erbracht wurden, auf eine größere Anzahl von Personen (die Crowd)» (Kuba 2016) auslagern. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, «dass Privatpersonen Dienstleistungen zur Erfüllung spezifischer Aufgaben (z. B. Wohnungsreinigung, Pakettransport) suchen» (Kuba 2016). Zentral bei diesem Auftragsverhältnis ist dabei, dass Auftraggeber und Plattformvertreter ihr Verhältnis über eine Plattform abwickeln. 11 Vgl. das Abschn. «3.4 Plattformkapitalismus».

3.8

Bildung

85

Dabei beinhalten nicht alle Formen des Crowdsourcings eine Bezahlung (z. B. Wikipedia), während Crowd Work in der Regel bezahlte Erwerbsarbeit ist. Es gibt auch Unternehmen, die über die Crowd die Entwicklung einer neuer chemischen Substanz (z. B. Süßmittel) oder eine Lösung für eine Softwareproblem ausschreiben und die besten Vorschläge mit einem Preisgeld prämieren (vgl. Durward und Leimeister 2019:164). Die Erledigung der Arbeit erfolgt über verschiedene Varianten: ortsgebunden/nicht ortsgebunden und personenabhängig/personenunabhängig. Bei ortsabhängigen Plattformen wird die Arbeit online bezahlt, bei Freelancing-Marktplätzen wie Upwork oder Feelancer.com erfolgt die Ausschreibung auf eine auf der Plattform registrierte Gruppe von Menschen (vgl. Kuba 2016). Laut Durward et al. (2016:3) ist im Crowdworking zwischen Crowd Testing, Crowd Funding, Crowd Ideation, Crowd Logistic, Crowd Production, Crowd Promotion und Crowd Support zu unterscheiden. Die einzelnen Formen von Crowdworking beinhalten folgende Tätigkeiten: Crowd Testing: Testen von Software-Anwendungen und Webseiten Crowd Funding: Finanzierung von Ideen, Projekten und Produkten Crowd Ideation: Generierung von Ideen für neue Strategien, Produkte, Dienstleistungen, Prozessen und Aktivitäten Crowd Logistic: Auslieferung von Produkten und Bereitstellung von Transportmitteln Crowd Production: Flexible, dezentrale Produktion auf der Grundlage von Arbeitsteilung Crowd Promotion: Design-Kampagnen und Merchandising Crowd Support: Kundenberatung und -unterstützung im Falle von Problemen mit Produkten und Dienstleistungen (nach Durard et al. 2016:3) Durward et al. (2016:3) haben Crowd Work aus der Sicht von Arbeitnehmern definiert (vgl. Tab. 3.3).

3.8

Bildung

Eine Grundvoraussetzung dafür, dass die Digitalisierung im Alltag ankommt und von den Menschen auch genutzt werden kann, ist die sogenannte «»digital literacy», also die Digitalkompetenz. Digitalkompetenz «In erster Näherung steht Digitalkompetenz für einen sicheren kritischen und routinierten Umgang mit digitalen Medien und Werkzeugen in einer zunehmend vernetzten Welt. Besitzt eine Person dahingehende Eigenschafen, bedeutet das aber noch nicht, dass sie in vollem

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3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

Tab. 3.3 Quelle: Durward/Blohm/Leimeister 2016 sowie Durward und Leimeister 2019:166; eigene Darstellung Arbeit «Zielgerichtete Tätigkeiten zur Erstellung von Leistungen/Gütern» Erwerbsarbeit «Arbeit, die zu Existenzsicherung und Einkommenserwerb eines Individuums aufgewandt wird» Digitale Erwerbsarbeit «Digitale Arbeit im Rahmen der Existenzsicherung und des Einkommenserwerbs»

Digitale Arbeit «Alle Tätigkeiten, die Leistungen unter signifikantem Einsatz von digitalen Arbeitsmitteln erstellen»

Crowd Work «Digitale Erwerbsarbeit basierend auf dem Crowdsourcing-Konzept»

Crowdsourcing

bezahlt

Unentgeltlich

Umfang digital kompetent ist. ,Digital- und Medienkompetenz bedeutet mehr als nur zu wissen, wie man Technologien benutzt. Die Schulung der Digital- und Medienkompetenz muss über den Erwerb isolierter technischer Kenntnis hinaus darauf ausgerichtet sein, den Lernenden ein tieferes Verständnis von digitalen Umgebungen zu vermitteln und sie zur intuitiven Anpassung an neue Zusammenhänge und zur Erstellung von Inhalten gemeinsam mit anderen zu befähigen‘ (NMC Horizon Report (DE) 2017)» (Bäuning und Marmann 2020:420).

Bäuning und Marmann (2020:421) haben die digitalen Kompetenzen gemäß dem «Digital Competence Framework for Citizens», kurz «DigComp», zusammengestellt (vgl. Tab. 3.4). In der Entwicklung von eLearning-Angeboten zur Digitalisierung in den Bildungsinstitutionen und insbesondere an den Hochschulen fällt die ungleiche Entwicklung auf, zum Beispiel bei den Open Educational Resources (OER): So hat sich etwa die Nutzung von Open Content durch Open Access in der Forschung vielerorts durchgesetzt oder gewinnt an Bedeutung, während jedoch «die Nutzung des Potenzials von Open Content in Form von OER als Lehrinnovation … an den Universitäten, zumindest in Europa, bis heute auf sich warten [lässt]» (Seiler Schiedt 2020:154). Laut Stoltenhoff und Raudonat (2018:136) nannte vor einigen Jahren die Strategie der Kultusministerkonferenz «Bildung in der digitalen Welt» (2016) den Aspekt Geschlecht nirgends in den 53 Seiten des umfassenden Dokuments, «obwohl seit Jahren bekannt ist, dass Strukturen, Zugänge und Nutzungsweisen von Informations- und Kommunikationstechnologien wesentlich durch die Kategorie Geschlecht geprägt werden» (Stoltenhoff und Raudonat 2018:136). Doch insbesondere von Seiten der Nutzer ist die Akzeptanz der Digitalisierung zum Teil sehr hoch. So gaben 366 oder 98 % der Probandinnen und Probanden einer Evaluation des Online-Fortbildungsformats der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz

3.8

Bildung

87

Tab. 3.4 Digitale Kompetenzbereiche und Kompetenzen gemäß DigComp, nach Bäuning und Marmann 2020:421. (Eigene Darstellung) Kompetenzbereich

Kompetenzen

1

Umgang mit 1.1 Recherche, Suche und Filterung von Daten, Informationen und Daten Informationen und digitalen Inhalten 1.2 Auswertung von Daten, Informationen und digitalen Inhalten 1.3 Verwendung von Daten, Informationen und digitalen Inhalten

2

Kommunikation und Zusammenarbeit

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

Interaktion mittels digitaler Technologien Austausch mittels digitaler Technologien Mitarbeiterengagement mittels digitaler Technologien Zusammenarbeit mittels digitaler Technologien Netiquette Verwaltung der digitalen Identität

3

Erzeugen digitaler Inhalte

3.1 3.2 3.3 3.4

Entwicklung von digitalen Inhalten Integration und Neuausarbeitung von digitalen Inhalten Copyright und Lizenzen Programmierung

4

Sicherheit

4.1 Schutz von Geräten 4.2 Schutz von personenbezogenen Daten und der Privatsphäre 4.3 Schutz von Gesundheit und Wohlbefinden 4.4 Schutz der Umwelt

5

Probleme lösen

5.1 Lösung technischer Probleme 5.2 Ermittlung von Bedürfnissen und technischen Rückmeldungen 5.3 Kreativer Gebrauch von digitalen Technologien 5.4 Identifizierung digitaler Kompetenzlücken

(PHDL) an, darin gute Integrierbarkeit der kurzen Lerneinheiten in den Alltag (99 %), räumliche (99 %) und zeitliche (95 %) Flexibilität und leichtere Vereinbarkeit von Beruf und Familie (96 %) gefunden zu haben (vgl. Schöffner et al. 2020:10). Bei 89 % funktionierte die Technik der Online-Fortbildung problemlos, während bei 11 % kleinere oder größere Schwierigkeiten auftraten, die meist ohne Online-Fortbildung behoben werden konnten (vgl. Schöffner et al. 2020:11). Die Probandinnen waren zu 84 % weiblich und zu 63 % zwischen 36 und 55 Jahre alt. 28 % waren an Volksschulen tätig, 43 % auf der Sekundarschulstufe 1 und 31 % auf der Sekundarschulstufe 2 und 11 % kamen aus einer tertiären Bildungseinrichtung wie Hochschule, Universität12 usw. Erstaunlich war der sehr hohe Zustimmungsgrad: 92 % der 366 Teilnehmenden fanden die Online-Fortbildung sehr gut, 6 % gut und nur gerade 2 % machten keine Angaben (vgl. Schöffner et al. 2020:13). 12 Offenbar waren einige in zwei Schulbereichen tätig.

88

3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

Nida-Rümelin und Zierer (2020:8) haben in einem kritischen Artikel auf die Probleme digitaler Bildung hingewiesen: Ausgehend von der Tatsache, dass Bildung nicht das umfasst, «was man aus meinem Leben gemacht hat, sondern, das was ich aus meinem Leben mache», geht es darum, «die Parzellierung von Wissensbeständen im schulischen Unterricht zu überwinden und Kritikfähigkeit zu fördern» (Nida-Rümelin und Zierer 2020:8). Wissen soll nicht überflüssig gemacht werden, sondern als Orientierungswissen verstanden werden. Es geht nicht darum, dass Schüler die Bedienung von Endgeräten meistern, sondern dass sie die Prozesse verstehen, die ein wenig oder nicht reflektierter Medienkonsum in Gang setzt: So sei belegt, dass die Zeit der Mediennutzung direkt negativ korrelierte mit kognitiver Leistungsfähigkeit. Im Grunde führe die Nutzung von Facebook etwa zu einer problematischen Entwicklung der kompletten Kommunikations- und Informationssteuerung: Abweichende und widerstreitende Auffassungen werden ausgeblendet – oder anders gesagt: Die Ausdehnung der Marketinglogik wird auf politische und kulturelle Kommunikation ausgedehnt und führt letztlich zur Auflösung der Gesellschaft. Diese zerfalle «in mehr oder weniger stark abgeschottete Kommunikationsgemeinschafen in sozialen Netzwerken» (Nida-Rümelin und Zierer 2020:8), während die Demokratie auf der Idee einer gemeinsamen Öffentlichkeit basiere, also eines Raumes, wo Für und Wider ausgetauscht würden. «Das, was gelegentlich als Filterblasenbildung in sozialen Netzwerken bezeichnet wird, gefährdet also Grundbedingungen politischer Kultur und demokratischer Praxis» (Nida-Rümelin und Zierer 2020:8). Die beiden Autoren sehen daher als wesentliches Ziel digitaler Bildung den Versuch, «Jugendliche mit diesen Mechanismen vertraut zu machen und sie gegen den Trend zu Ideologisierung und Isolierung immun zu machen». Allerdings hohe Ziele – und auch in der Vergangenheit hat das Schul- und Bildungswesen nicht gerade damit geglänzt. Richtig ist aber, dass unbedachte Formen der Digitalisierung genau das Gegenteil erreicht: «Keine Stärkung, sondern eine Schwächung der Persönlichkeit der Lernenden durch einen Verlust der Lehrer-Schüler-Beziehung, soziale Isolation und digitale Abhängigkeit» (Nida-Rümelin und Zierer 2020:8) sind oft die Folge. Hier gilt es anzusetzen. Im Zusammenhang mit der Digitalisierung hat Seiler Schiedt (2020:160) auf einen interessanten Punkt hingewiesen, der weit über die Hochschulen und Universitäten hinausreicht und auch große Teil der Medien umfasst: Die Definitionsmacht der Universitäten – und darüber hinaus der Mainstream-Medien – hat sich durch die Digitalisierung abgeschwächt. Das gilt nicht nur formal – etwa wer über geltende oder anerkannte Wahrheiten und Standards bestimmt –, sondern vor allem auch inhaltlich, was zu inhaltlichen Beliebigkeiten, stark gefärbten, über total «gefakete» Botschaften bis hin zu Verschwörungstheorien führt. Daran ist weniger neu, dass viele – laut Schätzungen je nach Thema bis 35 % der Bevölkerung – daran glauben. Neu ist, dass sich viele Anhänger solcher Vorstellungen und Verschwörungstheorien in eigenen, weitgehend abgeschlossenen Informationsblasen der digitalen sozialen Medien bewegen und für «Facts and Figures» oder gegenteilige Meinungen kaum mehr erreichbar oder ansprechbar sind. Selbst die seit einigen Jahren boomende Praxis des «Fakten-Checks» kann daran nicht viel ändern.

3.8

Bildung

89

Allerdings haben moderne Lernmethoden auch positive Auswirkungen. Das in unterschiedliche Hochschulsysteme integrierte mobile Lernen (M-Learning) ermöglicht Lernen jederzeit und überall (vgl. Filho et al. 2021:2). Ein solcher Ansatz unterstützt vor allem Lernende, die erwerbstätig oder körperlich/seelisch benachteiligt sind. Virtuelle Praktika können Studierenden helfen, ihre Arbeitsfähigkeit zu verbessern. Außerdem kann die zunehmende Beliebtheit des Online-Lernens den Hochschulen und Universitäten helfen, ein breiteres Publikum zu erreichen (vgl. Filho et al. 2021:3). Allerdings bestehen da auch Gefahren. Als Beispiel kann ChatGPT dienen, das sogar schon als Jobkiller bezeichnet wurde (vgl. Remez 2023:10). Seit der Gründung im Jahr 1999 hat die in Luzern beheimatete Firma Getabstract über 25.000 Sachbücher aus unterschiedlichen Gebieten zusammengefasst. Jedes Jahr kommen mehr als 1000 neue Bücher sowie Fachartikel, Podcasts und Video-Talks dazu. Deren Inhalt wird von den Mitarbeitenden von Getabstract derart zusammengetragen – oder besser gesagt: zusammengekürzt – «dass Laien ein Thema in 15 min erfassen können» (Remez 2023:10), zumindest nach Aussagen der Firma. Zum Abnehmerkreis gehören Firmen wie Microsoft, IBM, J.P. Morgan, Daimler, Unilever, PwC, Visa und Novartis (vgl. Remez 2023:10). Die Zusammenfassungen sind bereits in sieben Sprachen verfügbar. Nach eigenen Angaben erreicht die Firma bereits 16 Mio. Personen. Den größten Absatzmarkt bilden die USA, Deutschland, Indien, Großbritannien und die Schweiz. Allerdings erwirbt Getabstract im Gegensatz zum Google-Konzern – der seit 2004 Bücher digitalisiert und sie online durchsuchbar macht – auch die Rechte der Werke. Das Unternehmen arbeitet bereits mit mehr als 800 Verlagen zusammen (vgl. Remez 2023:10). Die Frage ist allerdings schon, inwiefern Zusammenfassungen besonders komplexere Fragestellungen auch nur ansatzweise adäquat erfassen können, wenn tausende von Seiten auf – sagen wir – 30 Seiten verkürzt werden. Gleichzeitig sind auch die Gefahren auf der physischen Ebene nicht unerheblich. Anfang Oktober 2022 fand einer der bisher größten bekannten Hackerangriffe auf das amerikanische Schulwesen statt. Hacker veröffentlichten persönliche Informationen von 600.000 Schülern und Angestellten des Schulbezirks Los Angeles – der zweitgrößte Schulbezirk in den USA nach New York (vgl. Langer 2022b:16). Die Hacker hatten die Daten publiziert, nachdem sich der Schulbezirk geweigert hatte, einer Lösegeldforderung nachzukommen. Erpresserische Hackerangriffe auf Schulen erfolgen zu jeder Zeit, aber Lösegeldforderungen werden gezielt auf den Schulbeginn gestellt, damit die Schulen die Systeme nicht über die Ferienpause wiederherstellen können. Und Schulsysteme sind bei Hackern deshalb beliebt, weil sie nur geringe Budgets für IT-Spezialisten haben. Allein zwischen Januar und Oktober 2022 waren 1735 Schulen In den USA Opfer von Ransomware-Angriffen geworden, außerdem 29 Colleges und Universitäten. Während des ganzen Jahres 2021 waren es noch 1043 Schulen und 26 Colleges und Universitäten gewesen (vgl. Langer 2022b:16). Grundsätzlich ist die Gehirnaktivität bei analogem Schreiben grösser als beim digitalen Schreiben. Das lässt sich in neurologischen Messungen bestätigen (vgl. Zierer

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3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

2021:19). Es gibt Hinweise dafür, dass Lesen und Lernen analog nachhaltiger ist als digital, «weil langsamer und damit tiefgründiger gearbeitet wird als mit digitalen Texten» (Zierer 2021:19). Auch besitzt das Tablet eine Ablenkungsfunktion – die Beschäftigung mit dem Tablet kann ebenso positiv wie auch negativ sein. Ideal ist eine neue Kombination digitaler und analoger Lernaktivitäten: «Neben den typischen Zielen des Deutschunterrichts kommen weitere medienerzieherische Aufgaben bereichernd hinzu. Tablets sind nicht nur digitale Medien des Unterrichts, sondern werden selbst zum Bildungsgegenstand, weil eine stete kritisch-konstruktive Reflexion im Umgang damit gefordert ist» (Zierer 2021:19). Zierer (2021:19) meint sogar, dass sich in allen Ländern der Welt «die Ausgaben für die Digitalisierung im Bildungsbereich in den letzten Jahre dramatisch erhöht [haben], ohne dass man bis heute einen vergleichbar grossen, meistens sogar nicht einmal einen messbaren Effekt auf die Lernleistungen feststellen kann».

3.9

Individueller Medienkonsum

Insbesondere seit der Corona-Pandemie und verstärkt durch den Krieg in der Ukraine und die hohe Inflation hat sich ein Medienverhalten verbreitet, das als «Doomscrolling» bezeichnet wird: Im Internet und besonders in den sozialen Netzwerken häufen sich negative Nachrichten so stark, dass Algorithmen und Endlosscrolling dazu führen können, dass viele Menschen in negativen Nachrichten gleichsam ertrinken. Zwar gab es das Phänomen bereits in den Printmedien – bekannt ist der Spruch: «Bad news is good news», und schlechte Nachrichten schaffen es viel leichter in die Medien als gute Nachrichten. Schon während der Präsidentschaft Trump befassten sich Wissenschaftler mit dem Phänomen, das «Doomscrolling» oder «Doomsurfing» genannt wird, wobei «doom» im Englischen für Unheil oder Verderben steht (vgl. Satorius 2022:14). Nun haben Studien gezeigt, dass der Konsum von schlechten Nachrichten negative Auswirkungen auf die Gesundheit haben kann. Im Rahmen einer Studie befragte ein Team um Antonia Bendau und Moritz Bruno Petzold 6233 Teilnehmende online zu ihrem Medienkonsum. Dabei fand das Team heraus, dass bei übermäßigem Medienkonsum Ängste und Depressionen, Unsicherheit, Stress, Einschlafprobleme, schlechte Schlafqualität sowie Appetit- und Antriebslosigkeit deutlich zunahmen. Die Grenze zwischen leichten und moderaten Symptomen lag bei zweieinhalbstündigem Medienkonsum pro Tag (vgl. Satorius 2022:14). Die Realität der Verarbeitung privater Daten von Bürgerinnen und Bürgern nähert sich – ähnlich wie im öffentlichen Bereich – der vollständigen Erfassung von Bürger:innen. Wir sind heute dermaßen breit und andauernd online, dass unser gesamter Alltag getrackt, analysiert und zurückverfolgt werden kann (vgl. Leopold 2015:7). Dabei vernetzen sich Sensoren in Gegenständen ganz ohne unser Zutun, und sie geben laufend Statusberichte über ihre Umwelt weiter: «Wir werden zur (erfassten) Umwelt dieser Technik. Unser Haus, unser Auto, öffentliche Räume und Ladenlokale – unser Verhalten wird wahrgenommen, zugeordnet, bewertet und ausgewertet» (Leopold 2015:8).

3.9

Individueller Medienkonsum

91

Umgekehrt existieren Informationen, Nachrichten, Organisationen und Personen, die in den Medien nicht präsent sind, auch nicht im öffentlichen Bewusstsein (vgl. Castells 2011:194). Entsprechend haben nur diejenigen, die ihre Botschaft den Bürgern vermitteln können, die Chance, deren Entscheidungen so zu beeinflussen, dass sie selbst Zugang zu Machtpositionen erhalten oder diese aufrechterhalten können. Entsprechend ist die Kontrolle über die Medien sowohl in demokratischen als auch in autoritären Staaten eine mächtige Form der politischen Herrschaft. Das gilt auch in der Wirtschaft, wo für die erfolgreiche Vermarktung von Gütern und Dienstleistungen die Präsenz in den Medien einen entscheidenden Faktor darstellt. Entsprechend stellen die Medien den wichtigsten Raum dar, in welchem sich entscheidet, welche Machtbeziehungen zwischen den einzelnen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Akteuren entstehen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei nicht die bloße Medienpräsenz (Zuschauerquoten, Anzahl Hits usw.), sondern die Erreichung und Durchdringung des Zielpublikums (vgl. Castells 2011:195). Das hat etwa auch die chinesische Regierung erkannt, wenn sie seit neuestem in der Provinz Xinjiang junge Uigurinnen gezielt als Influencerinnen einsetzt, die behaupten, wie schön China sei, dass es den Uiguren gut gehe und dass die kritischen MedienBerichte aus dem Westen falsch seien. Dabei sollen die betreffenden Influencerinnen zwischen 2000 und 200.000 Follower haben – und bezahlt werden die Influencerinnen durch Marketing-Agenturen (vgl. Sander 2022:4). Dabei vermuteten Experten, dass Xinjiang – und die Uiguren – ein Versuchslabor für den chinesischen Überwachungsstaat ist, wobei die erprobten Maßnahmen später landesweit eingesetzt werden sollen (vgl. Zoll 2019:3). Allerdings dürfte dies in der extremen Form wie in Xinjiang kaum möglich sein – aber Fakt ist, dass die Lage der Uiguren schlimm ist. Castells (2011:27) meint, dass die wichtigste Quelle des Einflusses in der heutigen Welt die Veränderung des Bewusstseins der Menschen ist. Deshalb seien die Medien das zentrale Netzwerk auf dem Globus und in Bezug auf die anderen Teil-Netzwerke. Doch stimmt es, dass durch die Digitalisierung im Gegensatz zur VorDigitalisierungszeit, als Veröffentlichungen noch teurer waren und von sogenannten Gate-Keepern wie Verlagen, Journalisten und Bibliotheken kontrolliert wurden, heute die Regierungsbehörden direkt die Empfänger oder Adressaten, also die Kommunikation etwa über frei einstellbare Filter, direkt in der Hand haben (vgl. Fetzer 2020:14)? Ist es nicht vielmehr so, dass heute die genutzten Medien – von Facebook bis Twitter – und die Schöpfer von Algorithmen selbst vorgeben, wie, in welcher Form, mit welchen Inhalten und durch wen die Kommunikationskanäle genutzt werden, also die gesamte Kommunikation indirekt selbst steuern? Wir aber sind so naiv, zu denken, dass die Freiheit der Kommunikation einzig bei uns liegt. Mit unseren «Likes» oder Sternchen bei Amazon glauben wir, Einfluss nehmen zu können – aber vielmehr ist es nur ein neues Spiel, das Geld generiert – bei wem auch immer. Die neuen Gatekeeper sind heute die digitalen Netzwerke selbst und ihre Schöpfer, aber auf keinen Fall wir selbst. Dafür verstehen 99 % der Bevölkerung, also fast alle von uns – seien wir ehrlich – doch viel zu wenig

92

3 Die Digitalisierung der Wirtschaft

davon, wie Algorithmen programmiert werden und digitale Netzwerke funktionieren. Die allermeisten digitalen User verstehen lediglich die Anwender-Oberfläche. Daraus einen «neuen Zivilisationsprozess» (Fetzer 2020:14) abzuleiten, ist doch eher gewagt – genauso wenig wie die normalen Bürger:innen im Eisenbahnzeitalter festlegen konnten, durch welches Land die neuen Eisenbahnschienen verliefen, genauso wenig kontrollieren wir heute die digitalen Autobahnen oder die digitalen Fahrzeuge (= Medien), die darauf verkehren. Wie wenig individuelle Wünsche oder Vorlieben den Medienunternehmen wichtig sind, zeigt eine andere Entwicklung: So flossen gemäß Schätzungen von Branchenkennern vier von fünf Franken der Schweizer Werbung im Internet 2019 in die USA, und zwar an Google und Facebook – insgesamt wohl mehr als zwei Milliarden Franken pro Jahr (vgl. Lüthi 2019:7). Publizistische Medien in der Schweiz konnten und können da nicht mithalten: 2018 setzten sie mit Onlinewerbung gerade mal 264 Mio. Franken um, also zehnmal weniger als Google und Facebook in der gleichen Zeit. Deshalb wollten die vier großen Verlage und Medienplayer in der Schweiz, nämlich Tamedia, Ringier, NZZ und CH Media, ein eigenes Medienlogin einführen. Dabei wurde die bisherige Praxis von zwei Seiten her erschwert: Zum einen erklärte der Europäische Gerichtshof, dass es eine aktive Einwilligung von Nutzern brauche, bevor ein Werbebetreiber seine Cookie-Dateien platzieren kann. Und zum anderen blockierten neue Versionen von Internetbrowsern die Cookie-Dateien und löschten sie nach einigen Tagen automatisch. Zur Wiedererkennung ihres Publikums bot sich der Weg eines Logins als der verlässlichere Weg an (vgl. Lüthi 2019:7). Demgegenüber erscheint der Weg einer Aboallianz besser – so zumindest die Meinung von Lüthi (2019:7).

3.10

Sharing Economy

In der wissenschaftlichen Diskussion wird im Zusammenhang mit der Digitalisierung immer auch auf die Bedeutung der sharing economy hingewiesen. Damit ist gemeint, dass viele Verbraucher bestimmte Produkte nicht mehr selbst kaufen, sondern für eine bestimmte Zeit mieten. Anders gesagt: Ein Produkt wird für eine bestimmte Zeit gemietet, in welcher man es braucht. Zum Beispiel wird im Rahmen des Car Sharings nur für die zeitlich begrenzte Nutzung bezahlt, ohne dass ein Eigentumsrecht darauf besteht. Eine umfassende sharing economy wird erst durch die umfassende Digitalisierung möglich, weil nur mithilfe digitaler Tools Nutzungszeit und Nutzungsort von Objekten Personen effizient zugeteilt werden kann. Aus gesamtökonomischer Perspektive verringert die sharing economy – zumindest theoretisch – die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, weil die Menge der benötigten Güter abnimmt und damit die Produktion zurückgeht. Es entsteht ein nachfragedämpfender Effekt (vgl. Petersen 2020:157). «Die voranschreitende Digitalisierung hat sowohl wachstumsfördernde als auch wachstumsdämpfende Effekte. … Kurzfristig, d. h. bis etwa 2025/2030, ist davon auszugehen,

Literatur

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dass in entwickelten Volkswirtschaften wie Deutschland die wachstumsfördernden Effekte überwiegen. Mittel- und langfristig, d. h. ab 2040/2050, dürften hingegen die wachstumsdämpfenden Effekte die Oberhand bekommen und das BIP könnte im Sinne der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung tendenziell sinken» (Petersen 2017:186). Nach Ansicht von Ingo Radermacher (2017:36) ist das Besondere an der sharing economy die Tatsache, dass nicht mehr Besitz, sondern Nutzungsrechte erworben werden. So wurde früher ein Software-Programm einmal gekauft und konnte unbeschränkt genutzt werden – zumindest solange geeignete Hardware vorhanden war. Im Unterschied zu Behauptungen von Befürwortern der sharing ecnomy sind jedoch das gemeinsam genutzte Produkt oder die geteilte Dienstleistung bei weitem nicht immer billiger – im Gegenteil: So kostete etwa in den 1990er und 2000er Jahren das einmal erworbene und unbeschränkt nutzbare Office-Paket weniger als heute (2022) eine Jahreslizenz für Microsoft Office 365. In jedem anderen Bereich würde man hier von Abzocke sprechen – aber es scheint, dass sich die große Masse der Kunden längst an dieses Geschäftsmodell gewöhnt hat. Radermacher (2017:37) spricht – ganz ohne Sarkasmus – in diesem Zusammenhang von einem Paradigmenwechsel: Zugang statt Besitz. Im Gegensatz zu anderen Ökonomen bin ich jedoch nicht überzeugt, dass sich die sharing ecnomy in der heutigen Überflussgesellschaft durchsetzen wird, es sei denn, die ökologischen Bedingungen verschlechtern sich dermaßen, dass das Privateigentum und die Nutzung privater Geräte, Einrichtungen oder Fahrzeuge zu teuer oder zu aufwendig wird. Erst wenn die Kosten von Privateigentum den Nutzen überschreiten, wird das Ganze interessant. Anders sieht die Situation jedoch aus, wenn etwa der Platz oder die Kosten von Geräten, die die meiste Zeit nicht genutzt werden – z. B. Fahrzeuge, leerstehende Wohnungen, private Infrastruktureinrichtungen wie Heizungen, Gartenunterhaltsmaschinen – unbezahlbar werden. Bereits heute ist ein Heizverbund zweifellos ökologisch wie finanziell die bessere Lösung als eine eigene Heizung für jedes Haus. Allerdings generiert eine eigene Heizung größere Autarkie und damit Versorgungssicherheit in Krisenzeiten, wie etwa im Ukrainekrieg die systematische Zerstörung der Heizzentralen durch die russischen Bombenangriffe gezeigt hat.

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Die Digitalisierung der Gesellschaft

Zusammenfassung

Im digitalen Zeitalter ist die Neuformulierung einiger Grundrechte notwendig. So wurden bereits konkrete Vorschläge für eine Charta digitaler Grund- und Menschen-rechte formuliert. Rechtliche Probleme bestehen auch in anderen Anwendungsbereichen digitaler Techniken. So gibt es weltweit eine Vierklassen-Gesellschaft: Die «Designer» als «digitale Elite» mit großen IT-Kenntnissen, die «Switcher», die als privilegierte Anwender:innen in mehrere Netzwerken unterwegs sind, die einfachen User:innen, die gerade mal ein Netzwerk nutzen können, und schließlich die Ausgeschlossenen, die infolge ihrer fehlenden «digital literacy» oder aufgrund mangelnder finanzieller Mittel keine digitalen Medien nutzen können. Neue Formen der Digitalisierung setzen sich durch: E-Voting, E-Identities, E- und M-Tourismus, E-Health und allüberall der 5GStandard in der Kommunikation. Dadurch entstehen neue Probleme im Datenschutz und Datenmanagement.

Nassehi (2019:17) hat vorgeschlagen, die Digitalisierung aus gesellschaftlicher Perspektive sowohl als Problem als auch als Lösung zu betrachten: «Für welches Problem die Digitalisierung eine Lösung ist, kann ich nur bestimmen, wenn ich sowohl sensibel für die Lösungen als auch für die Probleme bin – und vor allem für die Frage, wie diese beiden Seiten aufeinander bezogen sind» (Nassehi 2019:17). Man könnte natürlich einwenden, dass dieser Blickwinkel im Grunde für alle gesellschaftlichen Phänomene und Probleme zutrifft. Doch im Unterschied zu anderen sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen scheint die Digitalisierung nicht nur wesentlich tiefer zu gehen, sondern auch vielfältiger, komplexer und gleichzeitig «disruptiver» zu sein. Die Digitalisierung als Phänomen verzweigt sich in fast alle Lebensbereiche hinein, was sie gleichzeitig weniger fassbar und weniger eingrenzbar macht. Dabei befasst sich digitale Technik «mit exakt den

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C. J. Jäggi, Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42206-6_4

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4 Die Digitalisierung der Gesellschaft

Regelmäßigkeiten und exakt den internen Differenzierungen und Abweichungen» (Nassehi 2019:58) dessen, was als «Gesellschaft» oder als «das Soziale» verstanden wird – und weit darüber hinaus. Sarah Diefenbach (2018:38) hat auf zwei Probleme des «Homo Digitalis» hingewiesen: Erstens der Druck auf viele Menschen, im Dauer-Online-Modus zu agieren und sich in den sozialen Netzwerken mit möglichst perfektem Leben zu präsentieren, und zweitens der zunehmende digitale Burnout als um sich greifende Volkskrankheit. Das Smartphone ist zu einem unaufgebbaren Instrument im Alltag geworden. In einer Umfrage bei 234 Personen gaben 97 % an, ihr Smartphone mindestens einmal am Tag zu benutzen, um im Internet zu surfen, insgesamt 13 % gaben an, das «andauernd» zu tun (vgl. Diefenbach 2018:39). Selbst bei Treffen mit Freunden und Arbeitskollegen nutzten 87 % ihr Smartphone. Das Smartphone kommt auch aus dem Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit und aus Langeweile zum Einsatz und wird teilweise zu einem wichtigen «Bezugsobjekt …, also … ein[em] Objekt, das dem Menschen Beruhigung und das Gefühl verschafft, negative Emotionen besser bewältigen zu können – ähnlich wie ein Schnuller bei Kleinkindern» (Diefenbach 2018:40). Jede:r von uns hat schon junge Mütter am Mobiltelefon mit einem Kleinkind oder Baby gesehen, das weint oder nach Aufmerksamkeit heischt, und genau dann mit dem Geschrei aufhört, wenn sich die Mutter ihm zuwendet und das Mobiltelefon wegsteckt. Immer mehr – insbesondere junge – Menschen werden in ihrer Selbstwahrnehmung, in ihrem Selbstkonzept und in ihrem Selbstwert von den Reaktionen anderer in den sozialen Medien geprägt. Nach Ansicht von Diefenbach (2018:40) wird bei vielen die Präsentation des eigenen Lebens in den sozialen Medien zum Ausdruck des sozialen Wettbewerbs mit dem Ziel, möglichst viel Aufmerksamkeit zu gewinnen. Eine weitere Folge der Digitalisierung in den Medien ist der sogenannte AntwortReflex: «Klingelt das Telefon, nimmt man den Anruf an. Kommt ein neuer Chat rein, liest man die Nachricht und antwortet. Egal in welcher Situation oder Verfassung – kaum jemand überlegt noch bewusst: Will ich jetzt wirklich ans Telefon gehen oder diese e-Mail lesen, ist jetzt ein guter Moment dafür?» (Diefenbach 2018:41)1 . Oft geht dadurch beim Zusammensein mit anderen Personen die ungeteilte Aufmerksamkeit verloren. Dabei sollte man auch nicht verpassen, die «Daten hinter den Daten» (Simanowski 2019:10) zu erkennen. Ein Beispiel dafür sind etwa Likes, die man im Internet vergeben kann. Studien haben erwiesen, dass 150 Likes mehr über einen Menschen sichtbar machen, als ihm möglicherweise angenehm ist oder als seine Eltern wissen. Damit stellt sich die Frage: Wieviel sollte die Gesellschaft über sich wissen? Ist die Frage von Georg

1 Allerdings war das bereits in den Zeiten der ausschliesslichen Festnetztelefonie der Fall: War man

zu Hause, hob man ab. Aber der Unterschied liegt darin, dass man heute auch unterwegs meist abnimmt oder antwortet. Allerdings kenne ich immer mehr – auch junge – Menschen, die Anrufe gar nicht mehr annehmen und zeitverzögert, wenn überhaupt, zurückrufen. Hier scheint sich ein eigenes soziales Korrektiv herauszubilden.

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Simmel über das Geheimnis als «eine der größten geistigen Errungenschaften der Menschheit» von 1907 wirklich veraltet (vgl. Simanowski 2019:10)? Gilt nicht heute vielmehr, dass «alles, was miteinander in Bezug gesetzt und erkundet werden kann» (vgl. Simanowski 2019:10), auch erforscht und erkundet wird – und zwar in der Politik, im Alltag, im Eheleben und überall? Ist die Digitalisierung neben der Lösung des Problems, alles über sich zu wissen, nicht auch Quelle eines neuen Problems – nämlich mehr Selbsterkenntnis zu produzieren, als für alle gut ist? Simanowski (2019:10) meint, dass der so produzierte Wissensüberschuss problematisch sei, weil er zwar falsche Statistiken korrigieren könne – aber «dass Big-Data-Analysen numerische Normierungen hervorbringen (können), die alle möglichen Arten von Abweichung der Identifizierung und Stigmatisierung ausliefern» (Simanowski 2019:10). Allerdings könne das korrigiert werden, wenn die Gesellschaft ihre Normen und ihren Umgang damit neu überdenke. Jedoch aus der Digitalisierung «eine Sternstunde der empirischen Sozialforschung» zu schließen, wie das Simanowski (2019:10) tut, ist doch etwas naiv: Noch nie wurde so viel gelogen und kaum je in einer früheren Gesellschaft wurde so viel als wahr angesehen, was nicht mehr als Lug, Trug und «Faire Sembler» war und ist. Auch hier gilt wohl: Je besser die Wahrheitserkennung wird, desto mehr wird gelogen. Nur wenn die Wahrheitserkenntnis als solche das Ziel ist, wird sie zunehmen – andernfalls wird einfach nur besser gelogen und betrogen. Es gibt aber auch so etwas wie ein Gegen-Trend. So haben insbesondere bei den Jüngeren die Sprachnachrichten das Telefonieren verdrängt. Eine Studie ergab, dass die junge Generation längst telefonmüde geworden ist. Eine Studie eines britischen Mobilfunkanbieters ergab, dass 6 % der Jugendlichen zwischen 18- und 24-Jahren sogar in einem Notfall nicht telefonieren, sondern eine Sprachnachricht verschicken würden (vgl. Stoffel 2022:18). Einige scheinen sogar die Kulturtechnik des Telefonierens nicht mehr richtig zu beherrschen, und für nicht wenige ist die schriftliche Formulierung eines etwas komplexeren Sachverhalts eine erhebliche Herausforderung: «Für ein Telefongespräch … muss ich mich konzentrieren, Sprachnachrichten kann ich unterwegs sprechen und unterbrechen, wenn ich etwa ein Billet lösen muss» (zitiert nach Stoffel 2022:18), sagte ein Betroffener. Die aktuelle Netzwerkgesellschaft ist durch spezifische soziale Formen von Zeit und Raum charakterisiert, die aber gleichzeitig mit früheren Formen koexistieren (vgl. Castells 2011:34). Die industrielle Gesellschaft war um die Idee des Fortschritts und der Entwicklung der Produktivkräfte organisiert, wobei die Zeit den Raum geprägt hatte. In der Netzgesellschaft löst – immer nach Castells (2011:35) – der «Raum der Ströme» («space of flows») die Zeit auf, indem er die Abfolge der Ereignisse durcheinanderbringt und sie in den Kommunikationsnetzen simultan macht, wodurch eine strukturelle Vergänglichkeit entsteht: Das Sein hebt das Werden auf. Dadurch entsteht eine Art räumliche und zeitliche soziale Differenzierung. Der multiple «Raum der Orte» («space of places»), präsentiert sich fragmentiert und unverbunden und weist verschiedene Zeitlichkeiten auf, von der traditionellen Dominanz biologischer Rhythmen, über die virtuelle Gleichzeitigkeit bis zur

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Verteilung des weltweiten Down-Stream-Traffics 2019 0.4 4.2

2.6 1.6 1.6 1.4

6.1 8.1

60.6 13.1

Video-Streaming

Web

Gaming

Social

File Sharing

Market Place

Sicherheit & VPN

Messaging

Cloud

Audio-Streaming

Abb. 4.1 Anteil der verschiedenen Dienste am weltweiten Downstream-Traffic 2019. (Quelle: The Sandvine. The global Internet Phenomena Report. Eigene Darstellung. https://de.statista.com/infogr afik/21188/zusammensetzung-des-weltweiten-downstream-internet-traffics/ (Zugriff 29.10.2022))

Kontrolle der Zeit (vgl. Castells 2011:35). Dabei kämpfen die verschiedenen Communities und Gruppen überall auf der Welt darum, ihre Sichtweise und ihr Verständnis von Ort und Zeit durchzusetzen und zu bewahren. Raum und Zeit werden damit einerseits durch das Entstehen neuer sozialer Strukturen und anderseits durch die Macht der Kämpfe um die Ziele und Programme dieser sozialen Strukturen neu definiert. Raum und Zeit sind Ausdruck der Machtverhältnisse in der Netzwerkgesellschaft (vgl. Castells 2011:37). Die Formen dafür sind vielfältig. So ist etwa Video-Streaming für die große Mehrheit von Meldungen, nämlich für fast 61 % des Internet-Traffics, verantwortlich (vgl. Abb. 4.1 als Wiederholung von Abb. 2.1). Doch eine Vielzahl anderer Formen des weltweiten Down-Stream-Traffics spielt ebenfalls eine Rolle. Martensen und Schwind (2018:79 ff.) haben fünf Thesen zur Digitalisierung der Gesellschaft aufgestellt: Erstens werde Kultur zum Exportgut, zweitens werde Bildung zur Schlüsselressource, drittens führe die aktive Suche nach Information zu lediglich partieller Informiertheit (Suche nach bestätigenden Informationen und digitale Filtersysteme

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führen über selektive Wahrnehmungsmechanismen zu weltanschaulicher Blasenbildung), viertens entstehen über den Online-Verkauf neue Konsumformen, und Konsum geschieht von zu Hause aus, und fünftens kommt es zu einer wachsenden Koexistenz von digitalen und analogen Verhaltensweisen. Allerdings waren die ersten beiden Entwicklungen bereits vor der Digitalisierung festzustellen, und zum fünften Punkt ist zu sagen, dass jeder Fortschritt zu einem Nebeneinander von traditionellen und neuen Verhaltensweisen geführt hat – und auch künftig führen wird. Doch früher verschwanden alte Verhaltensweisen mit der Zeit, während auch künftig digitale und analoge Aktivitäten nebeneinander bestehen dürften – allerdings vielleicht in einer zunehmenden gegenseitigen Verzahnung. Doch die Praxis der Überwachung geht wesentlich weiter – bereits heute: «Überwachungsdaten sind also der Schlüssel für das Funktionieren des Internets; sie sind Teil dessen, was das Internet auf jeder Ebene ausmacht. Sie machen viele Aktivitäten möglich, sowohl solche, die in öffentlichen Skandalen wie dem von Facebook sichtbar werden, als auch solche, die noch relativ unbekannt sind. Das Internet, einschließlich der Überwachungsdaten, ermöglicht auch Debatten über Überwachungsaktivitäten und über die Daten selbst und wird so zu einer wesentlichen Dimension der Politik der Überwachung und des Internets selbst. Es sind einige dieser komplexen Wechselbeziehungen zwischen der Überwachung, die für große globale Organisationen charakteristisch ist, und der Überwachung, die die alltäglichen Aktivitäten betrifft, die nun erforscht werden müssen, wenn man zeitgenössische Formen der Überwachung verstehen will. Eine wichtige Frage lautet: Unter welchen Umständen wird die Politik der Daten normalisiert oder radikalisiert? Und wie machen die Praktiken der normalen Nutzer einen Unterschied?»2 (Lyon 2019:65). Diese Frage dürfte in Zukunft entscheidend werden: Welche Politik der Daten wird sich durchsetzen – und wie werden die normalen User darauf reagieren? Die Schwachplätze im System sind die sogenannten Handelsplätze, an denen Nutzer die Kryptowährungen in staatlich anerkanntes Geld umtauschen, so genannte Kryptowährungen. Um den Ermittlern zu entgehen, werden unter anderem so genannte Mixer oder Tumbler genutzt. Bitcoin-Mixer funktionieren wie folgt: Mehrere Personen zahlen gemeinsam Geld in einen Pool ein, das gemischt und durch den Kunden wieder abzüglich der Transaktionsgebühr von bis zu 10 % entnommen wird. Mittels Transaktionen wird das Geld gemischt – und die Mixer-Dienste stellen eine Aufzeichnung über ihre Transaktionen her (vgl. Fulterer et al. 2021:27). Andere Anbieter wechseln von einer 2 «Surveillance data are thus key to the functioning of the internet; they are part of what constitutes

the internet at every level. They make possible many activities, both those that become visible in public scandals such as that affecting Facebook as well as those that are as yet relatively unknown. The internet, including surveillance data, also facilitates debates over surveillance activities, and over data themselves, thus also becoming an intrinsic dimension of the politics of surveillance, and of the internet itself. It is some of these complex inter-relations between the surveillance that characterizes large global organizations and surveillance involving the mundane activities of everyday life that now have to be explored if contemporary kinds of surveillance are to be understood. An important question is this: under what circumstances are the politics of data normalized or radicalized? And how do ordinary users’ practices make a difference?» (Lyon 2019:69).

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Kryptowährung in eine andere – so genanntes «chainhopping» – was die Verfolgung der Währungen ebenfalls erschwert. Die Kriminellen können verschiedene Exchange-Börsen oder Benutzerkonten unwissender Helfer («money mules») verwenden. Das so gewaschene Geld fließt dann oft zu Exchange-Plattformen, die regulatorische Vorgaben kaum oder gar nicht beachten. Oder die Cyberkriminellen lassen sich das Geld in sogenannten OTC-Büros («over the counter») in Bargeld oder Wertgegenstände wie Autos oder Immobilien wechseln. Diese OTC-Büros können sehr wichtig sein. Das zeigt etwa das Beispiel der Firma Suex OTC, die von den USA mit Sanktionen belegt wurde. Diese Firma hat seit Beginn ihrer Tätigkeit allein 160 Mio. Dollar erhalten, die aus illegalen Quellen stammten (vgl. Fulterer et al. 2021:27). Am einfachsten wäre es, Kryptobörsen dort zu regulieren, wo sie Anschluss an die «Analoge Welt» haben, also bei Tauschbörsen und Marktplätzen. Dieses Vorgehen hat etwa die EU-Kommission vorgeschlagen, oder die Kryptobörsen könnten verpflichtet werden, bei größeren Transaktionen automatisch die Aufsichtsbehörden zu informieren – dies war etwa der Vorschlag der US-Finanzministerin Janet Yellen für Summen ab 10.000 Dollar (vgl. Futerer et al. 2021:27). In der Schweiz müssen schon jetzt Kryptobörsen wie Banken alle Kunden kennen, die größere Geschäfte abschließen («know your customer»-Regel). Der Schwellenwert liegt bei Kryptobörsen sogar tiefer als bei Banken, nämlich bei 1000 Franken. Wer wie die Suex OTC auf der Embargo-Liste steht, hat keinen Zugang zu amerikanischem Besitz mehr. Eine besondere Gefahr liegt in sogenannten Privacy Coins: «Privacy Coins» sind Kryptowährungen, zu denen etwa Montero gehört, und sie legen größeren Wert auf Anonymität. Sie sind dazu gemacht, die Geldwege zu verschleiern. Blockchain-Analysen funktionieren hier nicht. Doch diese Coins haben bisher noch den Nachteil, dass sie weniger verbreitet und weniger liquide sind (vgl. Fulterer et al. 2021:27) – doch das kann sich ändern. Der britische Medientheoretiker Richard Barbrook (2021:21) forderte wie andere, den Grundrechtskatalog für das digitale Zeitalter zu erweitern, «also politische und sozialökonomische Rechte – wie eben das Recht auf einen Internetzugang – zu formulieren». Zudem gehe es um die Frage, was Privatsphäre in diesem Zeitalter bedeuten soll. Dabei prallten Rechtsansprüche des Einzelnen auf jene des Kollektivs, nämlich den Anspruch der Bevölkerung auf Sicherheit. Von daher erscheint die Position von Darius N. Meier zumindest problematisch, wonach die Digitalisierung, die künstliche Intelligenz sowie die Robotik sich «immer enger miteinander verzahnen und die Rolle des Menschen nachhaltig verändern wird». Er vertritt die Meinung, dass uns die Roboter nicht ersetzen, sondern im Gegenteil: «technologische Erneuerungen erfordern nicht nur mehr Fähigkeiten, Maschinen zu bedienen, sondern stellen auch urmenschliche soziale Fähigkeiten wie Begabung, Vertrauen zu Mitmenschen aufzubauen, immer mehr in den Vordergrund». Und reicht es, dafür eine Vertrauensbasis zu schaffen, die «ein starkes ethisch-soziales Bewusstsein in der Fähigkeit zu Empathie für andere». enthält? Und genügt es, mit dem Futuristen Gerd Leonhard «kritisches Denken und ethisches Bewusstsein» als Abgrenzungsfaktoren zu

4.1

Rechtliche Auswirkungen

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fordern, die es «uns Menschen langfristig erlauben, den technologischen Fortschritt kritisch zu betrachten»? Ist nicht vielmehr der technisch-wissenschaftliche Fortschritt so rasant, dass a) ein Großteil der Menschheit außen vor bleibt und b) einige wenige Menschen den technologischen Fortschritt egal was es kostet vorantreiben, sodass ein «Recht auf Nichtproduktivität, das es erlaubt, an gewissen Tagen und zu gewissen Zeitpunkten nicht produktiv sein zu müssen», bestenfalls das Sonderrecht einer kleinen Gruppe von Ingenieuren und Programmentwicklern verbleibt, während die große Mehrheit der Menschen mit immer weniger Lohn immer mehr Dinge kaufen müssen? Es ist schön und gut, zu verlangen, dass «neue Technologien … immer unter der Kontrolle des Menschen bleiben» sollen und dafür ein lebensbegleitendes Sozialversicherungssystem erforderlich ist, zu welchem auch «unbezahlte Haushaltsarbeit und ehrenamtliche Tätigkeiten» gehören sollen. Doch die Wirklichkeit ist eine ganz andere: Zehn- oder Hunderttausende von «selbständig Arbeitenden» tun dies ohne die geringsten sozialen Absicherungen und auf Abruf – und als zum Beispiel dafür kann der Rost-Belt in den USA gelten, wo Zehntausende von Menschen ausgegliedert sind. Und einfach eine Politik zu verlangen, welche die ökonomischen und sozialen Wunden heilen soll, ist doch wohl etwas mager – und auch Konstrukte wie ein Grundeinkommen als lebenslanges Sozialversicherungssystem sind zwar sehr schön, aber doch kaum realistisch, zumindest wenn man an die Millionen von Arbeitslosen und Arbeitssuchenden denkt.

4.1

Rechtliche Auswirkungen

«Die Debatte hat sich … gründlich verschoben, von den anfangs beschriebenen Appellen in der frühen und wilden Phase des Internets hin zu konkreten und oft sehr komplexen Kodifizierungen von rechtlichen Regeln auf nationaler, supranationaler und völkerrechtlicher Ebene. Kurz: Die Digitalisierung wird zunehmend (rechtlich) genormt. Wie kann denn nun die normative Kraft von Werten faktisch durchgesetzt werden? Es scheint ein Methodenmix angezeigt, um Werte und individuelle Rechte in den unterschiedlichen Sphären der digitalen Welt durchzusetzen» (Piallat 2021:34 f.). «Die Rufe von Unternehmen nach Rechtssicherheit gebender Regulierung, die Umtriebigkeit der Gesetzgeber auf europäischer, nationaler, sowie auf Länderebene und die aktiver werdenden Aufsichts- und Regulierungsbehörden zeigen deutlich, dass die Zeichen der Zeit auf eine eigenständige Ordnungspolitik für die digitale Sphäre und das Primats des Rechts stehen. Auf politischer Ebene hat sich diese Dringlichkeit vor allem in Form des Konzepts der digitalen Souveränität manifestiert, die in der Logik eines Systemwettbewerbs gedacht wird» (Piallat 2021:38). Nach wie vor ist umstritten, wo die Grenze zwischen schlichter Verarbeitung von Daten und «echtem Bewusstsein» bzw. künstlicher Intelligenz liegt. Aus der Sicht der Ethik stellt sich die Frage, ob künstliche Intelligenz (KI) als «persona sui generis» (vgl. Proft 2021:21) gedacht werden kann. Einige Ethiker gehen von der These der Wertneutralität

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von Technik aus, wonach es sich auch bei digitaler Technik um ein neutrales Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zwecks handle (vgl. Proft 2021:25). Die Wertung erfolge aus der Nutzung der Technik und nicht aus der Technik selbst. Doch Proft (2021:25) gibt zu Recht folgende Punkte zu bedenken: Erstens haben bestimmte Werkzeuge und Technologien instrumentelle Werte schon aufgrund ihrer physikalischen und funktionellen Eigenschaften, zweitens besteht bei verschiedenen und insbesondere digitalen Tools eine darin eingebaute Eigendynamik, und drittens gibt es häufig Rückkoppelungseffekte des Mittels auf den Zweck. Überhaupt ist vor dem Hintergrund des digitalen Zeitalters die Festlegung neuer Grundund Menschenrechte notwendig, oder zumindest die Neuformulierung einiger Grundrechte. So wurden bereits konkrete Vorschläge für eine Charta digitaler Grund- und Menschenrechte formuliert. Bereits liegen verschiedene Entwürfe für eine digitale Grundrechtscharta vor. So haben Bürgerinnen und Bürger auf Initiative der Zeit-Stiftung eine Charta der digitalen Grundrechte zu Händen der Europäischen Union entworfen (vgl. Zeit-Stiftung 2018). Darin werden unter anderem Würde, Freiheit, Gleichheit, Meinungsfreiheit, ethisch-normative Prinzipien für die digitale Gesellschaft, Transparenz, Schutz der Privatsphäre, Sicherheit, freier Zugang zu Kommunikation und Netzwerken, Pluralität und Wettbewerb, Bildung, Arbeit, Zugang zu immateriellen Gütern gefordert. Auch die Digitale Gesellschaft (2019) formulierte einen Charta-Entwurf für digitale Grundrechte. Charta für Digitale Grundrechte

Universalität, Gleichheit und Freiheit • Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Diese müssen auch online geachtet, geschützt und durchgesetzt werden. Jeder Mensch hat ein Recht auf freie Information und Kommunikation. Staatlicher Schutz der Menschenrechte • Der Staat hat die Pflicht, insbesondere durch geeignete Gesetzgebung, die Menschenrechte aller Menschen im Inland oder Ausland zu schützen. Meinungs- und Versammlungsfreiheit • Jeder Mensch hat das Recht, in der digitalen Welt seine Meinung frei und ohne Zensur zu äußern. Jede Person hat die Pflicht, die Menschenrechte aller anderen zu beachten.

4.1

Rechtliche Auswirkungen

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• Jede Person hat das Recht auf freie Vereinigung im und durch das Internet, sowohl für soziale als auch politische, kulturelle und andere Zwecke. Privatsphäre, Datenschutz und Datensicherheit • Jeder Mensch hat das Recht auf den Schutz seiner Daten und die Achtung seiner Privatsphäre. Jeder Mensch hat das Recht, seine Daten und Kommunikation gegen Kenntnisnahme Dritter zu schützen. Dies umfasst auch das Recht auf Anonymität im Internet. • Jeder Mensch hat das Recht, grundsätzlich selbst über Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Rechte auf Auskunft, Berichtigung und Löschung sind zu gewährleisten. • Automatisierte Entscheidungen müssen von natürlichen oder juristischen Personen verantwortet werden. • Die Unversehrtheit, Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme und Infrastrukturen ist sicherzustellen und angemessen technisch und organisatorisch zu gewährleisten. Bürgerrechte (politische Teilhabe) Transparenz (Öffentlichkeitsprinzip) • Jeder Mensch hat das Recht auf Zugang zu Informationen staatlicher Stellen («Open Government Data»). Das Transparenzgebot gilt auch gegenüber Privaten, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen. E-Government • Der Zugang zu staatlichen Diensten und die Kommunikation mit Behörden ist sowohl offline als auch online zu gewährleisten. Digitale Demokratie • Die Möglichkeiten der demokratischen Mitbestimmung sind durch digitale Instrumente auszubauen. Viele Einschränkungen an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten, die im vordigitalen Zeitalter unvermeidbar waren, müssen im digitalen Zeitalter als unangemessen beurteilt werden.

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Konsumentenrechte (soziale Ziele) Freier Zugang und Netzneutralität • Jeder Mensch hat das Recht auf freien und gleichen Zugang zu Kommunikationsund Informationsdiensten, ohne dafür auf grundlegende Rechte verzichten zu müssen. • Netzneutralität ist diskriminierungsfrei zu gewährleisten. Offene Standards und freie Software • Interoperabilität und offene Standards sowie freie Software sind zu fördern und zu bevorzugen. Von der öffentlichen Hand finanzierte Software soll öffentlich gemacht werden. Kultur und Wissenschaft • Jeder Mensch hat das Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben und am wissenschaftlichen Fortschritt sowie dessen Errungenschaften. • Jeder Mensch, der als Autor oder auf andere Weise immaterielle Güter erschafft, hat ein Recht darauf, dass in einem vernünftigen Maß daraus erwachsende geistige und materielle Interessen geschützt werden. Dieses Recht muss in Ausgleich gebracht werden mit den Interessen der Allgemeinheit, dem technischen Fortschritt und den kreativen Prozessen in Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst. Durch den Urheberrechtsschutz dürfen das Zitieren und die Verlinkung auf digitale Werke nicht erschwert sowie Menschen vom öffentlichen Diskurs nicht ausgeschlossen werden. Bildung • Jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung, die ein selbstbestimmtes Leben in der digitalen Welt ermöglicht.Als Vorbild für dieses Manifest hat die Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union gedient; ihr sind auch einige Formulierungen entnommen. Quelle: Digitale Gesellschaft3 (2019).

3 «Die Digitale Gesellschaft ist ein gemeinnütziger und breit abgestützter Verein für Bürger- und

Konsumentenschutz im digitalen Zeitalter. Wir setzen uns als zivilgesellschaftliche Organisation für eine nachhaltige, demokratische und freie Öffentlichkeit ein. Unsere Tätigkeit orientiert sich

4.1

Rechtliche Auswirkungen

111

Weitere Forderungen zielen auf die biologische Unversehrtheit des Menschen, auf «das Recht, ineffizient zu sein, wenn unsere Menschlichkeit davon abhängt» (Specht 2018:337), auf ein Recht jedes Menschen, sich von digitalen Netzwerken abzukoppeln, das Recht auf Anonymität und das «Recht, Menschen zu beschäftigen statt Maschinen» (Specht 2018:338). Diese Forderungen erscheinen vor dem Hintergrund immer umfangreicherer Einsatzfelder von Künstlicher Intelligenz und von Robotern in immer mehr Lebensbereichen zunehmend realitätsnah (vgl. dazu Bormann 2021:42). Die Digitalisierung wird auch in juristischen Feldern immer zentraler. Anwälte standardisieren Rechtsfälle immer mehr und Anwaltskanzleien und Rechtsschutzversicherer legen gewisse automatisierbare Fälle den Maschinen, so genannten «Legal Bots», vor (vgl. Bosshard 2021:8). Zwar bleibt für besonders komplexe Einzelfälle Fingerspitzengefühl unerlässlich, aber die Maschinen schaffen zusätzliche Kapazitäten dafür. Dabei können Maschinen aufgrund der wachsenden Flut von Regeln, Richtlinien und Gesetzen mehr Fragen auf dem Rechtsweg schlichten, und die Rechtsanwälte können sich mehr den wirklich komplexen Fällen widmen, weil die Maschinen administrative Aufgaben übernehmen können (vgl. Bosshard 2021:8). Legal Bots und andere Formen künstlicher Intelligenz sind in zahlreichen Kanzleien und Rechtsschutzversicherungen bereits im Einsatz. Sie ordnen etwa Kundenanliegen nach den jeweiligen Rechtsgebieten und nehmen eine Triage vor. Entsprechend landen die Fälle schneller beim jeweiligen Team – und der Algorithmus generiert sein Wissen aus Erfahrung. Außerdem wird künstliche Intelligenz ständig weiterentwickelt. Allerdings hat die Evaluation gezeigt, «dass eine Mischung aus künstlicher Intelligenz und regelbasierten Algorithmen die besten Lösungen hervorbringt. Diese digitalen Werkzeuge könnten bald dabei Unterstützung gewähren, kritische Stellen oder fehlende Informationen in einem Dokument schnell und effizient zu erkennen. … Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Entwicklung hin zu digitalen Lösungen im Rechtsbereich nicht nur Juristinnen und Juristen entlastet, sie ermöglicht auch umfassendere und schnellere Antworten für Kundinnen und Kunden. … Maschinen können schon viel. Aber Empathie können sie noch nicht» (Bosshard 2021:8). Rechtliche Probleme bestehen auch in anderen Anwendungsbereichen digitaler Techniken. So sind in den USA immer mehr Firmen dazu übergegangen, ihre im Homeoffice tätigen Mitarbeitenden zu überwachen. So nutzen drei von fünf mittleren bis großen Arbeitgebern in den USA dafür Überwachungssoftware. Laut Experten werden in den nächsten drei Jahren 70 % aller mittleren und großen Unternehmen Überwachsungssoftware gegenüber ihrem Mitarbeitenden einsetzen. In einer Umfrage von Microsoft meinten 85 % der befragten Manager, dass sie daran zweifelten, dass ihre Angestellten in der Heimarbeit wirklich produktiv seien (vgl. Langer 2022:25). Das Angebot an entsprechender Software ist riesig. So machen einzelne Programm alle paar Minuten ein Foto des Bildschirms der Mitarbeitenden, messen die Häufigkeit der Mausbewegungen, stellen in an den allgemeinen Menschenrechten, und wir fordern diese für die digitale Welt ein» (Digitale Gesellschaft2019).

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Echtzeit fest, auf welcher Webseite ein Mitarbeiter gerade surft, welche Programme er gerade nutzt und kontrolliert ein- und ausgehenden E-Mail-Verkehr. Viele Firmen erstellen daraus einen Produktivitätsscore. Gewisse Software-Programme nutzen die Webcam am Computer, um sicherzustellen, dass keine externe Person interne Daten ansieht oder schalten das Mikrofon am Homeoffice-Computer ein. 40 % von 3500 befragten Mitarbeitenden hatten keine Ahnung, welche Produktivitätsdaten ihre Arbeitgeberfirma erhob (vgl. Langer 2022:25). Anders als in Europa besteht in den USA kein Gesetz, wonach die Firmen verpflichtet sind, ihre Mitarbeitenden über ihre Überwachung und das Ausmaß der Kontrolle bei der Arbeit aufzuklären. Allerdings gibt es in einigen US-Bundesstaaten – wie zum Beispiel in New York, Connecticut und Delaware – Gesetze, wonach die Unternehmen ihre Mitarbeitenden über die Überwachung ihrer Internetaktivitäten, E-Mails und Smartphone-Nutzung informieren müssen (vgl. Langer 2022:25). Hingegen beschloss die Regierung Trump im August 2020 fünf Maßnahmen, um ihre Bürger und Unternehmen vor «bösartigen Akteuren» zu schützen: Erstens wurden Netzbetreiber aufgefordert, die Telekommunikationsnetze von der Infrastruktur chinesischer Anbieter komplett abzuschotten, zweitens die App-Stores amerikanischer Unternehmen wie etwa von Google und Apple sollten nicht vertrauenswürdige App auflösen, drittens sollten amerikanische App-Entwickler gehindert werden, ihre Produkte auf Kommunikationsgeräten von Anbietern wie Huawei vorzuinstallieren, viertens sollten ausländische Firmen wie Alibaba, Baidu oder Tencent künftig keine Möglichkeit mehr erhalten, über cloudbasierte Systeme persönliche Informationen, geistiges Eigentum oder gar entscheidendes Wissen über die Covid-19-Forschung abzuziehen und fünftens sollte die amerikanische Regierung zusammen mit ihren Verbündeten verhindern, dass ausländische Akteure wirtschaftliche Daten abziehen könnten (vgl. Leisinger 2020:17). Auch die Europäische Union plante im April 2021 einen Gesetzesentwurf, der etwa bei einem drohenden terroristischen Anschlag eine Gesichtserkennung erlauben sollte. So bleibt zwar in der EU etwa die Versendung von Bußen an Fußgänger, die bei Rot über die Straße gehen, verboten, aber sie soll in gewissen Situationen erlaubt sein. Die Europäische Kommissionen zählte folgende Ausnahmen auf: Wenn ein vermisstes Kind gesucht werde, zur Verhinderung eines terroristischen Anschlages oder zur Entdeckung einer Person, die einer schweren Straftat verdächtigt wird (vgl. Schmutz 2021:21). Allerdings müssen solche Ausnahmen gemäß den Plänen der Kommission durch eine unabhängige Justizbehörde genehmigt und zeitlich, geografisch und hinsichtlich der benutzten Datenbank begrenzt werden. Außerdem dürfen solche Beschlüsse nicht gewisse Standards verletzen, beispielswiese für die Diskriminierung von Menschen dienen, über die Benutzung muss Buch geführt werden, es braucht eine Überwachung durch Menschen, die Nutzer müssen transparent informiert werden und der Anbieter muss eine umfassende Dokumentation bereithalten (vgl. Schmutz 2021:21).

4.1

Rechtliche Auswirkungen

113

In Singapur erlebte die Obrigkeit eine herbe Enttäuschung: Mitte 2020, drei Monate nach der Lancierung der Tracing-App, hatten gerade ein Drittel der 5,7 Mio. Einwohner die App heruntergeladen – die Zielgröße von 75 % wurde klar verfehlt (vgl. Rist 2021:3). Laut Umfragen bestand zwar bei Singapurs Bürger wenig Bedenken gegenüber Überwachungssystemen, doch der Großteil lehnte die Nachverfolgung von MobiltelefonDaten ab. Erstaunlicherweise war die Skepsis gegenüber dem Staat grösser als gegenüber Google, Facebook und Twitter. Als die Regierung das «Trace Together Token» einführte – anfänglich ein als freiwillig angeführtes System –, hieß es im Dezember 2020, dass der Zugang zu zahlreichen Gebäuden und Veranstaltungen nur noch mit App oder Token möglich sei. Im Frühling 2021 wurden 80 % der Bewegungen der Bevölkerung aufgezeichnet, wodurch Neuinfektionen mit Covid-19 rasch nachverfolgt werden konnten. Zwar wurde der Regierung Effizienz attestiert, aber die Begeisterung blieb gering. Dazu kam, dass die Regierung bei der Einführung geflunkert hatte: Bei einer Fragestunde im Parlament musste Innenminister Desmond Tan zugeben, dass die gesammelten Daten im Bedarfsfall auch für polizeiliche Untersuchungen verwendet werden konnten – und dass das mindestens in einem Kriminalfall schon gemacht worden war (vgl. Rist 2021:3). Die Bevölkerung reagierte sauer und fühlte sich hintergangen. Auf Facebook findet sich ein «buntes Gemisch von journalistischen Beiträgen, PR und Werbung, beliebigen Informationen, Kommentaren und individueller Alltagskommunikation. … Die Plattform verbreitet jedoch keine eigenen Inhalte, zudem sind diese nur teilweise öffentlichkeitsrelevant und selten journalistisch-publizistisch aufbereitet» (Saxer 2021:29). Darum macht sich nur der Autor oder die Autorin strafbar. In der Schweiz hat das Bundesgericht entschieden, dass Facebook aus der Sicht des Strafrechts als Medium qualifiziert wird. Mit anderen Worten: Für einen im Netzwerk veröffentlichten Artikel ist allein der Autor strafbar und nicht die Plattform, auf der er erscheint, selbst wenn der Beitrag ehrverletzend ist. «Bei Netzwerken sind juristisch unpräzise Tatbestände wie die Verbreitung von Hass, Aufrufe zur Gewalt, die Verbreitung von Falschinhalten und vieles mehr jedoch Grundlage, um routinemäßig in Nutzerinhalte einzugreifen» (Saxer 2021:29). Allein bei Facebook arbeiten über 35.000 Mitarbeiter sowie ein Großaufgebot künstlicher Intelligenz an «Sicherheitsthemen», also an der Beseitigung von unerwünschten Inhalten. Allein zwischen April und Juni 2020 sollen es 22,5 Mio. Hasskommentare gewesen sein (vgl. Saxer 2021:29). Sind also die Netzwerke Zensoren? «Ein zentrales Problem ist, dass die Durchsetzung dieser Standards völlig außerhalb rechtsstaatlicher Verfahren erfolgt» (Saxer 2021:29). «In Deutschland haben Gerichte begonnen, Entscheidungen der Netzwerke über die Löschung von Accounts auf der Basis der Meinungsfreiheit gemäß Grundgesetz zu überprüfen – ein durchwegs erwägenswertes Vorgehen, dem zum Beispiel der amerikanische Supreme Court bis jetzt nicht gefolgt ist» (Saxer 2021:29). Laut Saxer sollten die nationalen Gesetzgeber, regionale Zusammenschlüsse wie die EU und internationale Gerichte entscheiden – nach klaren Grundsätzen und einfachen Verfahren. Auf jeden Fall darf nicht das Netzwerk in die Lage kommen, Zensorfunktionen zu übernehmen.

114

4.2

4 Die Digitalisierung der Gesellschaft

Machtausübung im digitalen Zeitalter

Castells (2011:50) betonte die Tatsache, dass die Quellen der Macht im digitalen Zeitalter und in der globalen Netzwerk-Gesellschaft – nämlich Gewalt und Diskurs, Zwang und Überzeugung, politische Herrschaft und kulturelle Rahmenbedingungen – nicht grundlegend anders sind als früher. Doch das Terrain, auf dem sich Machtbeziehungen ausdrücken, hat sich in zweifacher Hinsicht verändert: Macht konstituiert sich heute zum einen in der Verbindung von globalen und lokalen Sphären und zum anderen um Netzwerke herum, nicht über einzelne Einheiten oder Bereiche. Gleichzeitig gebe es globale und lokal Handlungsbereiche. Entsprechend seien Menschen entweder «Weltbürger» oder «lokale Bürger». In diesem Sinn bestehe in der modernen Netzwerkgesellschaft ein Gegensatz zwischen einem globalen Strömungsraum («space of flows») und einen «Raum der Orte», also lokalen Bereichen. Dieser Gegensatz strukturiere in der heutigen Welt die Machtbeziehungen (vgl. Castells 2011:50). Allerdings wäre hier einzuwenden, dass die meisten Menschen sowohl Weltbürger als auch lokale Bürger sind, wobei allerdings der lokale Bezug wechseln kann – z. B. durch Migration – oder ein multipler Bezug zu verschiedenen lokalen Räumen bestehen kann4 . Castells (2011:45) hat gezeigt, dass bestimmte Individuen mit entsprechenden Wissensressourcen und finanziellen Mitteln digitale Netzwerke gestalten und ihre Ziele festlegen können – Castells (2011:45) nennt sie «Programmierer». Andere Individuen besitzen die Möglichkeit, verschiedene Netzwerke zu verbinden und ihre Zusammenarbeit sicherzustellen, indem sie gemeinsame Ziele verfolgen und die Ressourcen kombinieren – Castells (2011:45) nennt sie «Switchers» – und dadurch größere Handlungsfreiräume und damit letztlich mehr Handlungsmacht besitzen als diejenigen Netzwerk-Nutzer:innen, die das nicht können. Ich habe dazu an anderer Stelle geschrieben: «Ein besonderes Problem in Netzwerken stellt die Frage nach der ausgeübten Macht dar. Castells hat darauf hingewiesen (vgl. Belliger/Krieger 2016:3), dass in Netzwerken „Macht“ in zwei Formen ausgeübt wird: Einerseits durch eine „Netzwerk-Elite“ mit in der Regel grossen IT-Kenntnissen, welche das Wissen und die Fähigkeit hat, Netzwerke zu programmieren, und anderseits durch so genannte „Switchers“, also alle diejenigen, welche zwischen Netzwerken hin- und herwechseln können. Dazu ist allerdings zu sagen, dass die erste Gruppe („programmierende Elite“) über weitgehende Definitionsmacht verfügt, während die zweite Gruppe lediglich eine „User-Macht“, also eine Nutzungsmacht besitzt. User können ein angebotenes Netzwerk entweder nutzen oder es ignorieren – mehr nicht. Eine qualitative oder strukturelle Mitgestaltung des Netzwerks ist – wenn überhaupt – äusserst beschränkt möglich. Damit entsteht im Prinzip eine Art „Zwei-Klassen-Gesellschaft“, ähnlich wie in der Katholischen Kirche der Stand der (geweihten) Priester und der Laien. Damit stellt sich die Frage, ob und wenn ja wie aus der Sicht der Netzwerktheorie „egalitäre“ Netzwerke denkbar sind. Dabei bleiben die von Belliger und Krieger (2014:16 sowie 2016:4) Netzwerken zugeschriebene Normen wie Konnektivität, Flow, Transparenz und Authentizität entweder rein technisch

4 Zur Transnationalität und Multilokalität in der Migration vgl. Jäggi (2022:95 ff.).

4.2

Machtausübung im digitalen Zeitalter

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oder konstitutiv für ein Netzwerk (Konnektivität und Flow) oder rein appellativ (Transparenz und Authentizität) – also „nice to have“» (Jäggi 2016:248).

Auch Castells (2011:33) sah eine neue soziale Schichtung der Gesellschaft: Neben dem Fortbestehen von Ausbeutung im traditionellen Sinne gebe es heute vor allem drei Arten von Arbeit und drei Gruppen von Werktätigen: diejenigen, die die Quelle von Innovation und Wertschätzung seien, diejenigen, die lediglich Anweisungen ausführten und diejenigen, die aus der Perspektive des profitorientierten Denkens des globalen Kapitalismus strukturell unbedeutend seien. Generell meint Cachelin (2015:16), dass die Digitalisierung das kapitalistische System stärkt, weil das Internet Bedürfnisse, Mediengewohnheiten und Arbeitsleistungen transparent mache. Und je transparenter Angebot und Nachfrage sind, desto vollkommener sei der Markt. Dabei stören sich Kapitalismuskritiker an der Ökonomisierung der Zeit: «Überall bezahlen wir für den Kontakt mit anderen Menschen» (Cachelin 2015:16). Auch der Raum unterliege immer mehr ökonomischen Gesetzen. Durch die Digitalisierung werde der öffentliche Raum noch mehr zurückgedrängt. Dabei lehnten Globalisierungskritiker die sozialen und ökologischen Folgekosten der Digitalisierung ab, aber auch den Machtmissbrauch der Digitalisierungsbetreiber. Die einen sehen eine Reduktion kultureller Vielfalt, andere beklagen die Ausbeutung armer Länder (vgl. Cachelin 2015:18). Dabei schaffe das Internet globale Märkte, in denen sich nur die Stärksten durchsetzten. Entsprechend folgerten die Gegner der Globalisierung eine Rückbesinnung auf das Regionale und auf die lokale Gemeinschaft. Im Grunde gibt es weltweit nicht eine digitale Zwei- sondern eine VierklassenGesellschaft: Die «Designer» als «digitale Elite» mit großen IT-Kenntnissen und in der Regel erheblichen Ressourcen, die «Switcher», die als privilegierte Anwender:innen in mehrere Netzwerken oder digitalen Medien unterwegs sind und auswählen und koordinieren, aber sie nicht in ihrer Struktur und Ausrichtung beeinflussen zu können, die einfachen User:innen, die gerade mal ein Netzwerk nutzen können, und schließlich die Ausgeschlossenen, die infolge ihrer fehlenden «digital literacy» oder aufgrund mangelnder finanzieller Mittel keine digitalen Medien nutzen können. Im Sinne der von Castells (2011:52) unterschiedenen Kategorien von «Programmierern» und «Switchern» bestimmen die Möglichkeiten zu programmieren und/oder zwischen Netzwerken zu «switchen» weitgehend die Formen von Macht und Gegenmacht in der Netzgesellschaft. Der Wechsel zwischen verschiedenen Netzen erfordert die Fähigkeit, kulturelle und organisatorische Schnittstellen zu konstruieren, eine gemeinsame Sprache, ein gemeinsames Medium, einen Träger von allgemein akzeptierten Werten und ganz konkret: Geld. Rammert (2021:131 f.) zählt vier Gruppen von sogenannten «Gestaltern der Informatisierung» auf: erstens die Visionäre und Pioniere, zweitens wirtschaftliche Unternehmer wie Gates, Jobs, Bezos und Zuckerberg, drittens politische Regulierer – wie die z. B.

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4 Die Digitalisierung der Gesellschaft

die EU-Kommissarin Margrethe Vestager – und Protestierer und viertens die Nutzer und Anwender. Erfolgreiche Medienpolitik – und Politik wird heute in erster Linie und vor allem über die Medien gemacht – politischer oder gesellschaftlicher Akteure besteht aus vier Schritten: erstens Zugang aller Akteure, die Machtstrategien verfolgen, zu den Medien; zweitens Ausarbeitung von Botschaften und Narrativen, die ihren Machtinteressen am besten dienen; drittens Einsatz von besonders geeigneten Technologien und Formaten, die mittels Umfragen auf ihre Wirksamkeit überprüft werden; und viertens – last but not least – müssen all diese teuren Aktivitäten von jemandem bezahlt werden, wodurch eine enge Zusammenarbeit zwischen politischer und wirtschaftlicher Macht entsteht (vgl. Castells 2011:197). Grundsätzlich gilt: Je unabhängiger ein Medium von staatlicher Kontrolle – entweder statuarisch (wie die BBC) oder durch Einfluss von privaten Eigentümern – ist, desto stärker wird es durch kommerzielle Interessen beeinflusst (vgl. Castells 2011:200). Medial erfolgreiche Politik ist vor allem personalisierte Politik – also nicht Sachpolitik, sondern auf persönlichen Sympathien oder Antipathien beruhende Persönlichkeitspolitik und Sensationalismus. Exemplarisch für diese Art von medialer Politik sind etwa in der Schweiz Blätter wie die «Weltwoche» des Chefredaktors und Verlegers Roger Köppel. Castells (2011:202) spricht im Zusammenhang mit dieser Art von Politik vornehm von «kandidaten-zentrierter Politik». Solche Blätter sind solange und bei denjenigen erfolgreich, als dieser billige Mechanismus nicht durchschaut wird – und dafür anfällig sind vor allem diejenigen Bevölkerungsgruppen, die zu Recht oder zu Unrecht das Gefühl haben, zu kurz gekommen zu sein – also das klassische Wählerreservoir populistischer Parteien, Trumpisten, Anhänger von Verschwörungstheorien und dergleichen. Dabei lenken die digitalen Medien noch stärker als die Printmedien vom «Warum» eines gesellschaftlichen Phänomens ab – etwa beim Terrorismus oder in Bezug auf die Migrationsfrage – und konzentrieren sich auf das «Wer», «Was» und auf das «Wann» (vgl. Wohanka 2017:66). «Ich bin fast 80 Jahre alt und es macht mich traurig, dass die Banken alte Menschen wie mich vergessen haben». Mit diese Worten startete Carlos San Juan de Laorden Anfang 2022 (vgl. Meyer 2022:7) in Spanien eine Unterschriftenaktion gegen die totale Digitalisierung der Banken. Tausende von Menschen fühlen sich ausgegrenzt – aber fast alle Bankgeschäfte seien jetzt online. Der pensionierte Arzt startete mit Hilfe seiner Tochter eine Kampagne gegen die Digitalisierung der Banken – und Hunderte von Petitionären beschreiben auf seiner Seite ähnliche Probleme. Nach nur drei Wochen hatte Carlos bereits 600.000 Unterschriften zusammen, die er am 9. Februar Spaniens Wirtschaftsministerium übergab. In Spanien ist die Wut auf die Banken groß – nicht nur unter den älteren Menschen. Sie, die während der großen Finanzkrise mit über 40 Mrd. EUR gerettet wurden, bauten insbesondere in ländlichen Gebieten bis zu 20.000 Zweigstellen ab. «Wir ältere Menschen sind Kunden wie jeder andere. Wir wollen nur unser Geld», meinte Carlos San Juan de Laorden. Sie wollten einfach persönlich und würdig behandelt werden (vgl. Meyer 2022:7).

4.2

Machtausübung im digitalen Zeitalter

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Doch neben ganz allgemeinen Anliegen der Bankkunden kommt es auch zu einer Vielzahl von anderen Aktivitäten – auch zu erpresserischen Aktionen. So geschieht etwa ganz prosaische Erpressung via Ransomware-Attacken. Dabei gab etwa die Firma Comparis im Sommer 2021 dem Druck der Erpresser nach und zahlte ihnen 400.000 Dollar, nachdem am 7. Juli 2021 Comparis von Cyberkriminellen angegriffen und mehrere IT-Systeme blockiert worden waren (vgl. Jordan 2021:14). Zwar behauptete die Firma, den größten Teil der Systeme nach eigenen Angaben selbst wieder in weniger als 48 h wiederhergestellt zu haben, doch das war eine Fehlinformation: Entgegen ersten Angaben hatte sich die Maleware auch Zugang zu Kundendaten verschafft – und wichtige Systeme blieben verschlüsselt. Und «operativ gab es einige essenzielle Dateien, die von den Hackern verschlüsselt wurden und die wir nur mit sehr großem Aufwand hätten wiederherstellen können», so die Sprecherin Andrea Auer (vgl. Jordan 2021:14). Wie häufig hatte sich der angerichtete Schaden durch den HackerAngriff als weitaus größer entpuppt als zunächst angenommen. Nachdem die Firma noch Anfang Juli behauptet hatte, kein Lösegeld bezahlt zu haben, knickte sie später ein und bezahlte. Aus praktischen Gründen, weil es einfach zu lange gedauert hätte, die restlichen Daten wiederherzustellen – so Mediensprecher Michael Kuhn –, entschloss sich die Firma, zu bezahlen (vgl. Da Silva 2021a:23). Hinter den Angriffen soll die RansomwareHackergruppe «Grief» gesteckt haben, die sich auch die Schweizer Firma Matisa Matérial Indstriel S.A. in Crissier VD vorgeknöpft haben soll (vgl. Jordan 2021:14), ebenso die Administration des deutschen Landkreises Anhalt-Bitterfeld (vgl. Da Silva 2021a:23). Was in Anhalt-Bitterfeld geschehen ist, ist ein Ransomware-Angriff, wobei solche Attacken nach Einschätzung des Bundeskriminalamtes «die größte Bedrohung für öffentliche Einrichtungen und Wirtschaftsunternehmen» (Wehner 2021) darstellen. Der Täterkreis geht dabei arbeitsteilig vor: Während die einen eine geeignete Schadenssoftware entwickeln, spähen andere potenzielle Opfer aus (vgl. Locke 2021). Das Lösegeld wird in Kryptowährung verlangt. Die Täter publizieren oft Teile der erbeuteten Daten im Internet. Die Opfer sind oft bereit zu zahlen, weil sie es als einzige Möglichkeit sehen, die Produktion wieder zum Laufen zu bringen (vgl. Wehner 2021). Die Erpresser haben es vor allem auf große, zahlungskräftige Unternehmen abgesehen – und besonders auf Institutionen der sogenannten kritischen Infrastruktur wie Kraftwerke, Stromnetze, Wasserversorgung, den Bahnverkehr, die Telekommunikation, Krankenhäuser oder wichtige Verwaltungen (vgl. Wehner 2021). Angriffe gab und gibt es überall: Im tschechischen Brünn legten Hacker ein Krankenhaus lahm, indem sie Daten der Kranken verschlüsselten. 2021 wurde ein System von 20 Billigfluglinien gehackt, im Mai des gleichen Jahres die größte Benzinleitung der USA – gegen vier Millionen Lösegeld wurden bezahlt. In Schweden wurden wegen blockierter Kassen alle 800 Filialen der IT-Firma Kaseya geschlossen, und mehrere hundert weitere Firmen waren betroffen. In Deutschland wurden u. a. die Universität Gießen oder das Kammergericht in Berlin Opfer schwerer Angriffe (vgl. Wehner 2021). Viele der Hacker operieren von Ländern aus, wo sie ungestraft bleiben: allen voran Russland, China, Nordkorea und Iran.

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4 Die Digitalisierung der Gesellschaft

Dazu ein Beispiel: Am Freitag, dem 2. Juli 2021 dringt die Hackergruppe REvil in das Netzwerk von Kaseya ein. Nach einem Angriff auf Kaseya gelangen die Hacker in die Systeme von Tausenden anderer Unternehmen. Kaseya spricht von 1500 betroffenen Firmen. Entsprechend hoch sind die Forderungen der Hackergruppe: Sie verlangt zuerst 70 Mio. Dollar, reduziert dann aber auf 50 Mio. Dollar (vgl. Da Silva 2021b:22). Dabei bewies REvil einen doppelten Geschäftssinn: Bezahlten die Opfer nicht selbst, bezahlten vielleicht die Konkurrenten. Klappte beides nicht, wurden die Dokumente den Medien zugespielt. Mit dieser Masche erlangte REvil zwischen ihrer Gründung 2019 und Herbst 2020 über 100 Mio. US-Dollar – zumindest nach Angaben der Hackergruppe selbst (vgl. Da Silva 2021b:22). Erfolgreiche Hacks erreichte die Gruppe bei der chilenischen Bank BancoEstado und beim weltgrößten Fleischproduzenten JBS. JBS bezahlte 11 Mio. US-Dollar – und seither sind die US-Strafverfolgungsbehörden hinter REvil her. Doch während das FBI der Gruppe DarkSide das Handwerk legen konnte, tappte sie bei REvil im Dunkeln (vgl. Da Silva 2021b:22). Niemand weiß bisher, wo REvil ihre Büros hat. Ein Angriff läuft wie folgt ab: Mittels Ransomware wird eine Software ins System platziert, welche das System möglichst vollständig verschlüsselt. Ohne einen Schlüssel des Schädlings, den er nur gegen einen fixierten Betrag erhält, kann der Geschädigte sein IT-System nicht mehr gebrauchen. Außerdem speichern viele Ransomware-Schädlinge das System bei sich, um den Geschädigten zusätzlich unter Druck zu setzen (vgl. Mäder 2021e:23). Opfer kann jeder sein, der als Privatperson, als KMU oder als internationaler Großkonzern auf digitale Daten angewiesen ist, aber auch Behörden, Polizisten oder Spitäler. Einige Entwickler bieten heute Ransomware an, die Kriminelle kaufen können. Im Erfolgsfall erhalten die Entwickler einen Anteil des Lösegeldes. So betrug der Anteil des Lösegeldes bei Angriffen auf Ölpipelines zwischen 10 und 25 %, je nach Höhe des Lösegeldes (vgl. Mäder 2021e:23). Die Beteiligten der «Ransomware-Wertschöpfungskette» kennen sich meist nicht. Sie tauschen sich über das Internet aus und bezahlen ihre Dienstleistungen gegenseitig in Kryptowährungen. Die Schäden von Angriffen über Ransomware belaufen sich auf mehrere Milliarden Dollar im Jahr (vgl. Mäder 2021e:23). In den USA sollen die Kosten für Lösegeld und die Folgen der Angriffe 20 Mrd. Dollar im Jahr 2020 betragen haben, wovon rund 10 % an die Erpresser gingen. Wie lukrativ das Geschäft der Cyberkriminellen ist, zeigt der Blick auf einzelne Gruppierungen: Mit der Schadensoftware Ryuk sollen Kriminelle beispielsweise zwischen Mitte 2018 und Ende 2020 über 150 Mio. Dollar eingenommen haben, die Gruppe DarkSide soll in rund acht Monaten bis Mai 2021 Lösegelder in der Höhe von rund 90 Mio. Dollar erpresst haben (vgl. Mäder 2021e:23). Angeblich soll die Colonial Pipeline der «DarkSide» 5 Mio. Dollar bezahlt haben, und zwar in Bitcoins (vgl. Ruf 2021:11). In der Bevölkerung von Giorgia bis Virginia machte sich Panik breit: 69 % der Tankstellen in North Carolina waren ohne Benzin, während andere Staaten wie New York oder Pennsylvania von der Treibstoffverknappung nur am Rand betroffen waren. Dabei soll DarkSide von ihren Partnern 25 % der Lösegeldsumme verlangt haben, wenn diese weniger als 500.000 Dollar betrug. Bei größeren Beträgen sank der Anteil, bis auf 10 % bei 5 Mio. Dollar und mehr (vgl. Mäder 2021c:24).

4.2

Machtausübung im digitalen Zeitalter

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Wer Partner von DarkSide werden wollte, musste ein Aufnahmegespräch bestehen und erhielt danach Zugang zu einem Online-Portal, das der Verwaltung der Angriffe diente. Den Partnern war untersagt, gewisse Institutionen ins Visier zu nehmen – unter anderem Spitäler, Universitäten, gemeinnützige Organisationen und den öffentlichen Sektor. Ebenfalls nicht angegriffen wurden Organisationen in Ländern der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS), in welcher Russland und neun befreundete Staaten der frühere Sowjetunion zusammengeschlossen waren. Teilweise soll die Schadsoftware sogar überprüft haben, welche Sprachpakete auf dem System installiert waren, um Infizierung von Rechnern in Russland, Kasachstan und Usbekistan zu verhindern (Mäder 2021c:24). Ransomware-Gangs REvil und Avaddon habe verkündet, nicht mehr mit unbekannten Partnergruppierungen zusammenzuarbeiten. Ein wichtiges Instrument der Cyberkriminellen sind Kryptowährungen, in denen die Opfer das Lösegeld bezahlen müssen. Ende Mai 2021 hat der Mixer-Service BixMix seinen Dienst eingestellt. Der Dienst war bei den Ransomware-Gangs REvil, DarkSide und Avaddon beliebt gewesen. Aber einstellen wollten die Cyberkriminellen ihre Dienste nicht, aber vorsichtiger werden: Allein DarkSide soll in den Monaten von Oktober 2020 bis Mai 2021 90 Mio. US-Dollar erbeutet haben (vgl. Mäder 2021c:24). Unklar ist, ob DarkSide tatsächlich moderne Robin Hoods darstellen oder eiskalte Kriminelle. Immerhin haben sie Covid-19-Labore explizit nicht angegriffen, machten ausschließlich Angriffe auf schwerreiche Unternehmen (vgl. Hock 2021:3) und planten keine Angriffe auf Institutionen in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Auf einer anderen, rein individuellen Ebene konnten auch Inder junge Schweizer abzocken. Auf dem Bildschirm erscheint plötzlich eine Fehlermeldung und für die Entsperrung muss auf eine vorgegebene Telefonnummer zurückgegriffen werden. Ruft man die Nummer an, wird mit einer freundlichen Stimme mitgeteilt, das Problem könne mittels eines Fernzugriffs auf den Computer gelöst werden, was aber eine Servicegebühr von mehreren hundert Franken koste. Doch die Gefahr ist nur vorgespielt und das System ist weder beschädigt noch gesperrt. Der einzige Fehler ist die Fehlermeldung an sich (vgl. Maurer 2021:2). Die Betrugsmasche nennt man «Microsoft Support Scam» und die Kriminellen geben sich dabei als Angestellte von Microsoft aus, und sie bringen ihre Opfer dazu, Geldbeträge zu schicken. Erstaunlicherweise ist die Mehrheit der Opfer sehr jung, nämlich zwischen 18 und 37 Jahre alt. Der Grund liegt unter anderem darin, dass diese Generation ein riskanteres Surfverhalten hat und dadurch am häufigsten auf infizierten Websites landet. Demgegenüber fallen Senioren am häufigsten herein, wenn der Betrugsversuch mit einem unerwarteten Telefonanruf beginnt (vgl. Maurer 2021:2). Das Geschäft wird mit automatisierten Betrugsversuchen gemacht – und es rentiert sich, wenn ein kleiner Prozentsatz hereinfällt. Weltweit verlieren 6 % der Leute Geld, die mit dem Trick konfrontiert sind. In der Schweiz sind es sogar 9 %, was einen Spitzenplatz darstellt. Die schweizerische Bundespolizei dokumentierte 400 Fälle mit einer Gesamtdeliktsumme von fast einer Million Franken. Laut den Ermittlern steckten hinter den Betrügern die gleichen

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Täter, die mit IP-Adressen in Indien registriert waren – viele bei der gleichen Firma. Nachdem lange nichts passierte, schlossen sich die Strafverfolgungsbehörden Deutschlands, der Niederlande und der Schweiz zusammen und setzten die indische Regierung unter Druck, aber nichts geschah. Auch die Entsendung des Ermittlungsdossiers der schweizerischen Bundesanwaltschaft nach Indien führte nur zu einer Eingangsbestätigung – ansonsten geschah nichts (vgl. Maurer 2021:2). Das ist leider bei den meisten Cyberdelikten so: Die Mehrheit wird nie aufgeklärt. In den meisten Fällen sind kantonale und nationale Strafverfolgungsbehörden machtlos. Demgegenüber reagierte ein britischer Hacker: Er stellte den indischen Betrügern eine Falle. Er rief eine der Telefonnummern an und gewährte den Tätern Zugriff auf sein System. Dabei verfolgte er ihre Spur zurück und führte einen Gegenangriff aus. Er hackte ihr System und sogar die damit verbundenen Überwachungskameras. So konnte er ihr Callcenter ansehen und den Alltag dieser kriminellen Organisation dokumentieren. Vor allem Männer zwischen 20 und 30 Jahre verdienen dort ihr Geld. Der britische Hacker konnte das Gebäude lokalisieren, wo diese Männer ihr doppeltes Spiel trieben und ließ es durch einen Kollegen in Indien filmen. Nachher meldete sich der britische Hacker bei der BBC-Sendung «Panorama» und ein britischer Reporter ergänzte die Publikation. Danach ging es sehr schnell: Indische Strafverfolger führten eine Razzia durch und nahmen die Betrüger fest (vgl. Maurer 2021:3). In der Zwischenzeit führte das indische Central Bureau of Investigation gegen sechs Firmen in New Delhi und anderen Städten Ermittlungen durch, durchsuchten 38 Callcenters und verhafteten 90 Personen. Diese Fälle gingen auf Anzeigen von Microsoft zurück. Weil für diesen Konzern die Betrügereien zu einem Imageproblem wurden, hat er eine gemischte Ermittlungseinheit aufgebaut, die Fälle mit Opfern in den USA, Kanada und Großbritannien aufklärte (vgl. Maurer 2021:3). 2015 und 2016 veranlasste eine Cybereinheit des russischen Geheimdienstes GRU für Stunden einen Stromausfall in der Ukraine. Der Angriff fand im Kontext eines militärischen Konfliktes statt, und die Stromversorgung war das klare Ziel der Angreifer. Am 7. Mai 2021 musste die Betreiberfirma die Colonial Pipeline in den USA abstellen – aufgrund eines Angriffs von Cyberkriminellen. Mehr als fünf Tage floss kein Öl. Dabei waren die Colonial Pipeline – so der heutige Erkenntnisstand – in gewissem Masse ein zufälliges Ziel, und die Benzinknappheit war sozusagen ein Kollateralschaden. Der Angreifer gehörte zu einer der vielen kriminellen Gruppen, die Daten von Firmen und Organisationen stehlen und sie verschlüsseln, um dann Geld von ihren Opfern zu erpressen. Ransomware – also Lösegeld – hat sich in den letzten Jahren zur größten kriminellen Plage im virtuellen Raum entwickelt – und zu einer ernsthaften Bedrohung (vgl. Mäder 2021a:17). Immer wieder werden kritische Infrastrukturen wie Spitäler, Energieversorger oder Logistikunternehmen zu Opfern von Ransomware: leere Käseregale in den Niederlanden im April 2021, eingeschränkte medizinische Behandlungen in Irland im Mai 2021, geschlossene Schlachtbetriebe in den USA Anfang Juni 2021… Es gibt also hinter Ransom-Software zwei Gruppen von Akteuren: Einerseits kommerziell motivierte Gruppen, deren kritisches Ziel kritische Infrastrukturen sind und deren Cyberkriminelle Geld

4.2

Machtausübung im digitalen Zeitalter

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machen wollen, und anderseits militärische Gruppen wie die GRU, die militärische Ziele verfolgen (vgl. Mäder 2021a:17). Dabei sind die Behörden keinesfalls machtlos. Mit Ausdauer, technischem Know-how und internationaler Zusammenarbeit konnten Ermittler die Schadenssoftware Emotet bis auf die Hintermänner in Russland alle Cyberkriminellen verhaften und deren Geschäfte schädigen. Immer mehr Unternehmen scheinen zu erkennen, dass mangelnde IT-Sicherheit vor allem auch auf der Ebene der Geschäftsleitung liegt. Ein Angriff kann das Unternehmen nachhaltig schädigen: mehrtägiger Stillstand der Produktion, Verlust von Kunden, juristische Verfahren oder der Diebstahl von Geschäftsgeheimnissen. Im schlimmsten Fall können mangelnde Investitionen in die IT-Sicherheit den Tod einer Firma bedeuten (vgl. Mäder 2021a:17). Allerdings werden auch russische Cyberkriminelle für den Kreml zu einem Problem. Deshalb verhandelten russische und US-Behörden im Juli 2021 telefonisch über eine mögliche Kooperation der beiden Länder auf dem Gebiet der Cyberkriminalität (vgl. Kireev 2021:5). Während aber lange Zeit die Interessen von Russland und den USA zu unterschiedlich schienen, veränderten die im Sommer 2021 angelaufenen Gespräche das Bild. Das sagte zumindest Oleg Schakirow vom Moskauer Think-Tank Center for Advanced Governance: «Gespräche könnten eine gute Möglichkeit sein, diesen Kreis zu durchbrechen» (vgl. Kireev 2021:5). Die Angreifer hatten oft ihre Viren so programmiert, dass sie Computer mit russischsprachigen Einstellungen nicht angriffen. Doch bereits 2021 registrierte die russische Sicherheitsfirma Group IB mehrere Angriffe von russischem Territorium auf russische Organisationen. Dem steht aber die Tatsache gegenüber, dass russische Cyberkriminelle wie Maxim Jakubetz vor den Augen der Öffentlichkeit einen extravaganten Lebensstil führten, und Cyberkriminelle wie er hatten den Ruf, Aufträge für den Geheimdienst zu erledigen. Es scheint aber so, dass seit spätestens 2021 die russische Regierung nicht mehr alle Cyberkriminellen im Griff hat. Allerding ist es seit dem russischen Angriff auf die Ukraine deutlich stiller zu diesen Angriffen geworden. Weil Russlands Behörden weiterhin auf anti-westliche Hacker angewiesen sind, ist seit Frühling 2022 deutlich weniger darüber zu erfahren. In diesem Zusammenhang sind auch so genannte Social Bots zu nennen. Das sind kleine automatisierte Programme, welche von Fake-Accounts aus bestimmte Medien – zum Beispiel Twitter – systematisch mit propagandistischen Nachrichten bombardieren. So sollen von 12,4 Mio. Followern von Donald Trump auf Twitter 4,6 Mio. oder 39 % Fake-Accounts gewesen sein, darunter viele Bots. Laut Samuel Woolley, Forschungsdirektor des Computational Propaganda Projects soll 80 % von Trump Twitter-Traffic automatisiert gewesen ein (vgl. Wohanka 2017:65). So sollen Bots nach dem ersten Fernsehduell Donald Trump – Hillary Clinton mit dem Hashtag #TrumpWon («Trump siegte») zum Trending Topic auf Twitter avanciert sein (vgl. Wohanka 2017:65). Wie man sieht, stellen Social Bots eine effiziente Möglichkeit dar, Themen zu setzen, Ansichten zu verbreiten und damit die Meinung von Nutzern der Social Media zu beeinflussen. Damit werden sie zu einem nicht zu unterschätzenden Machtinstrument.

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4 Die Digitalisierung der Gesellschaft

Auch in Afrika ist das Internet immer mehr zu einem Machtfaktor geworden. So testete etwa Cambridge Analytica betrügerische Tools zum Absaugen von Daten, die 2016 beim Brexit-Referendum und bei den US-Präsidentschaftswahlen zum Einsatz kamen (vgl. Essoungou 2020:17); und zwar zunächst in Afrika, insbesondere in Kenia und Nigeria. Es wurden vor allem über Facebook persönliche Daten von Millionen von Usern gesammelt: «Alter, Geschlecht, ästhetische, kulturelle und politische Vorlieben. Diese Informationen wurden analysiert, um Mikrokategorien festzulegen. Und am Ende wurde den Internetbenutzern mithilfe von Algorithmen maßgeschneiderte Propaganda zugespielt, mit dem Ziel, ihre individuellen Entscheidungen zu beeinflussen» (Essoungou 2020:17). In Kenia wurde Cambridge Analytica von Staatschef Uhuru Kenyatta sowohl 2013 als auch 2017 beauftragt, seine Wahlkampagne auszuarbeiten, und in Nigeria war es laut Christopher Wylie, ein vermutlich Präsident Goodluck Jonathan nahestehender Milliardär, der sechs Wochen vor der Wahl Cambridge Analytica anheuerte (vgl. Essoungou 2020:17). Facebook – immerhin mit 200 Mio. Usern auf dem afrikanischen Kontinent – ermöglichte verschiedene Manipulationen. Die Archimedes Group mit Sitz in Tel Aviv richtete mit falscher Identität Facebook-Konten ein und unterstützte 2019 gezielt Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen in Togo, in der Demokratischen Republik Kongo (DRK), in Nigeria und in Tunesien. Fast 2,8 Mio. Facebook-User wurden zum Ziel ihrer Aktivitäten. «Im Mai 2019 wurde Archimedes von Facebook verbannt, 265 zur Firmengruppe gehörende Facebook- und Instagram-Accounts wurden geschlossen» (vgl. Essoungou 2020:17). In Sambia und Uganda halfen Mitarbeitende der chinesischen Telekommunikationsfirma Huawei Regierungsstellen dabei, Oppositionspolitiker auszuspionieren. «2016 sperrte die äthiopische Regierung den Zugang zu bestimmten Webseiten. Ähnliches geschah im Tschad, in Burundi, Uganda, der DRK, in Kamerun und in Togo» (Essoungou 2020:17). Zwischen 2016 und 2019 ließen insgesamt 22 afrikanische Länder das Internet blockieren oder verlangsamen, oft rund um Wahlen. Obwohl es bis 2020 in 25 afrikanischen Ländern Gesetze gab, welche die Erhebung und Speicherung persönlicher Daten regelten und beschränkten, blieb die digitale Herausforderung ein großes Thema. Nach Ansicht von Castells (2011:412) erfolgt der soziale Wandel in der digitalen Netzgesellschaft durch die Neuprogrammierung der Kommunikationsnetze, die das symbolische Umfeld für die Bildmanipulation und die Informationsverarbeitung in unseren Köpfen bilden und damit letztlich die individuellen und kollektiven Vorstellungen und Handlungen bestimmen. Wenn das stimmt, ergeben sich daraus zwei Konsequenzen: Zum einen ist dann sozialer Wandel programmier- und damit steuerbar, und zum anderen liegt dann die Richtung des sozialen Wandels und der gesellschaftlichen Entwicklung in den Händen einiger weniger. Das kann geradewegs zu einem digitalen Totalitarismus führen – oder bei einer breiten Verbreitung von Open-Source5 -Techniken und -Programmen zu einem Schub der Basisdemokratie. Allerdings sieht es heute eher nach ersterem aus. 5 Der Begriff Open Source geht ursprünglich auf Open-Source-Software (OSS) zurück. Dabei handelt es sich um Programmier-Codes, die der Öffentlichkeit zugänglich sind und durch jeden angesehen und nach Belieben verändert und verteilt werden kann.

4.3

Zunehmende politische, soziale und gesellschaftliche Polarisierung

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Doch auch im Kleinen ist die Spysoftware bereits ein umfassendes Problem. So hilft Spionagesoftware undemokratischen Staaten, gegen Menschenrechtsaktivisten vorzugehen, Oppositionelle zu unterdrücken oder die Pressefreiheit zu untergraben: «So sollen Mobiltelefone aus dem Umfeld des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi mit der Pegasus-Software überwacht worden sein, bevor er im Oktober 2018 in Istanbul umgebracht wurde» (Mäder 2021f:17). Dabei ist das eigentliche Problem nicht die Überwachungssoftware an sich – das ist auch in demokratischen Staaten legitim. Problematisch sind die gewinnorientierten Hersteller von Spyware außerhalb wirksamer staatlicher Kontrollen. Dabei funktionieren auch private Unternehmen nach ökonomischen Prinzipien: Sie beabsichtigten, die aufwendig entwickelte Spionage-Software an möglichst viele Kunden zu verkaufen – unabhängig davon, ob sich die Auftraggeber an menschenrechtliche Standards halten oder nicht. Die Erfahrung mit Pegasus zeigt, dass die bisherige Praxis der Exportbewilligungen den Missbrauch von Spionagesoftware kaum verhindern konnten. Pegasus überwachte unter anderem 64 Wirtschaftsführer, 85 Menschenrechtsaktivisten, 189 Journalisten und mehr als 600 Politiker und Staatsangestellte, darunter Mexikos Ex-Präsidenten und einen indischen Oppositionsführer (vgl. Luzerner Zeitung vom 21.7.2021:6). So können Exporte von Spionage-Software zu einem besonderen Sicherheits-Risiko für Staaten werden (vgl. Mäder 2021f:17). Und umgekehrt erhalten autoritäre Staaten ein umfassendes Spionagewerkzeug. So richtete etwa Marokko eine israelische SpionageSoftware gegen französische Staatsbürger, Journalisten und Politiker. Zu Recht hält etwa Lukas Mäder (2021f:17) fest, dass sich westliche Demokratien nicht glaubwürdig gegen Menschenrechtsverletzungen einsetzen können, wenn sie gleichzeitig den Export von Technologien zulassen, die zur Verfolgung oder Überwachung von Journalisten eingesetzt werden. Doch reichen dazu staatliche Mittel und Kontrollen? «Überwachung ist keine Waffe. Aber sie ist ein polizeiliches Mittel, dessen Anwendung im rechtlichen Rahmen dem Staat vorbehalten bleiben muss. Dass die Behörden zunehmend auf Spyware aus fragwürdigen Quellen setzen, ist eine riskante Entwicklung» (Mäder 2021f:17).

4.3

Zunehmende politische, soziale und gesellschaftliche Polarisierung

Die durch die Digitalisierung verursachten oder vertieften Bruchlinien hinterlassen auch Spuren im kollektiven Bewusstsein eines großen Teils der Bevölkerung. Studien verweisen auf das Gefühl vieler, stärker als bisher auf sich selbst gestellt zu sein, technologischen Veränderungen hilflos ausgeliefert zu sein, sein eigenes Leben weniger kontrollieren zu können, eine Entwertung der eigenen Biografie zu erfahren und allgemein im gesellschaftlichen Wandel und in der wirtschaftlichen Entwicklung zu kurz gekommen oder gar abgehängt worden zu sein (vgl. Kurz et al. 2019:47). Wohanka (2017:73) spricht in diesem

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4 Die Digitalisierung der Gesellschaft

Zusammenhang von sozialpolitischer und kultureller Prekarisierung gewisser Bevölkerungsgruppen aus Angst vor technologischen und lebensweltlichen Veränderungen. Vielleicht müsste man nicht nur von Angst sprechen, sondern auch von entsprechenden Erfahrungen sozialer und kultureller Marginalisierung. Dieses Gefühlsbündel führt zu einer verstärkten Ansprechbarkeit für rechtspopulistische Strömungen und schafft neue Wählersegmente, die Leute wie Trump in den USA, Bolsonaro in Brasilien, Orban in Ungarn, Meloni in Italien, Le Pen in Frankreich oder die AfD in Deutschland erfolgreich bewirtschaften. Nach Ansicht von Castells (2011:28) hängt staatliche Macht insbesondere auch in nicht-demokratischen Kontexten weitgehend von Überzeugungen und Glaubensvorstellungen der Menschen ab, und von ihrer Fähigkeit, die bestehenden Regeln zu akzeptieren, beziehungsweise von ihrer Bereitschaft, sich dagegen aufzulehnen. Deshalb – so Castells (201:28) – seien Werte faktisch ein Ausdruck von Macht. Wer an der Macht sei – und das sei häufig gar nicht die Regierung – entscheide, was wertvoll ist. Oder wie es seinerzeit Marx formuliert hat: Das herrschende Bewusstsein ist das Bewusstsein der herrschenden Klasse. Das haben auch viele Regierungen erkannt. Das eindrücklichste Beispiel ist die «Great Firewall», mit welcher China sich vom ursprünglichen Internet abgeschottet hat. «Mit dem Projekt ,Goldener Schild‘ will die chinesische Regierung die Kontrolle über sämtliche Inhalte im (chinesischen) Internet sicherstellen. Unliebsame Meinungen, Webseiten und Apps werden In China blockiert. Die weltweit erfolgreichen sozialen Netzwerke Facebook und Twitter sind seit 2009 gesperrt. Google hat sich mit seiner Suchmaschine 2010 zurückgezogen. An ihre Stelle sind chinesische Pendants wie WeChat, Weibo und Baidu getreten, auf deren Daten der chinesische Staat zugreifen kann, wenn er will» (Thier 2020:10). Außerdem nutzt China die Integrated Joint Operation Platform (IJOP) und lässt dort alle Informationen von Polizisten via Mobiltelefon-App zusammenlaufen. «Das System merkt, wenn jemand länger von seinem Wohnort abwesend ist und alarmiert die Polizeibeamten. Diese suchen dann Angehörige und Bekannte der Person auf, um Nachforschungen zu betreiben. … [Außerdem] lassen sich weitere ,verdächtige‘ Verhaltensweisen ableiten. Dazu gehören beispielsweise wenn jemand ‚keinen sozialen Kontakt zu seinen Nachbarn‘ hat oder es,oft vermeidet, die Vordertür seine Hauses zu benutzen’. Auch dann forscht die Polizei nach» (Zoll 2019:3). Dabei können die verdächtigen Daten zu jeder Person aggregiert werden. So kommt etwa in Xinjiang alles in die IJOP. In dieser Region merkt das System auch, wann jemand tankt – etwa, wenn ihm das Auto nicht gehört, gleicht die Tankstelle automatisch die Autonummer mit dem Fahrzeugregister ab. Und je nach Gruppe, zu der jemand gehört, wird die Freiheit extrem eingeschränkt – etwa, wenn jemand in Gefängnissen oder Umerziehungslager gehalten wird –, mittel – etwa, wenn jemand die engere Umgebung nicht verlassen darf – bis leicht reduziert – etwa, wenn er gewisse öffentliche Orte nicht betreten kann (vgl. Zoll 2019:3). Die App führt 36 «Personentypen» auf, denen die Behörden extreme Aufmerksamkeit widmen. Dazu gehören unter anderem entlassene Sträflinge, Personen mit Verbindung zum Wahabitismus,

4.3

Zunehmende politische, soziale und gesellschaftliche Polarisierung

125

wer aus dem Ausland zurückgekehrt ist, wer schweißen kann oder wer ungewöhnlich viel Strom verbraucht. Und die Behörden können jederzeit die Mobiltelefone durchsuchen, und wer WhatsApp installiert hat, ist ebenso verdächtig wie jemand, der eine Anwendung auf dem Mobiltelefon hat, mit der die chinesische Internetzensur umgangen wird (vgl. Zoll 2019:3). Doch auch in Amerika hat sich die Situation verändert. Lange Zeit waren die Amerikaner für ein freies Internet eingestanden. Dabei ist es kein Zufall, dass viele der heutigen Tech-Giganten aus dem Silicon Valley stammen. «Die jüngsten Entwicklungen im Handels- und Technologiekonflikten mit China zeigen, wie schnell Vergeltungsmassnahmen an Dynamik gewinnen können. Wenn etwa bestimmte Technologien wie Mikrochips plötzlich nicht mehr an chinesische Firmen wie den Telekomausrüster Huawei verkauft werden dürfen, entsteht Unsicherheit – weltweit» (Thier 2020:10). Das zeigt etwa der Konflikt um TikTok: «Die Ankündigung des US-Präsidenten Donald Trump, die Videoplattform des chinesischen Konzerns Bytedance zu verbieten, sorgte für globale Aufregung» (Thier 2020:10). All die Entwicklungen in den letzten Jahren zeigen, wie fragil und instabil der internationale Markt ist – vor allem um die großen Internetdienste und -konzerne. Muhle (2020:98) hat auf das Problem hingewiesen, dass selbst aufmerksame Bürgerinnen und Bürger durch die Flut der Informationen in der heutigen digitalen Gesellschaft zu einem großen Teil damit überfordert sind, die Qualität dieser Informationen zu überprüfen. Diese Überforderung wird noch zusätzlich verschärft durch sogenannte «Filterblasen» und «Echokammern», weil durch gezielte Algorithmen die Menschen mit genau denjenigen Informationen überschwemmt werden, nach denen sie gesucht haben. Wer einen bestimmten Fahrzeugtyp sucht, wird mit entsprechenden Angeboten überhäuft, und wer an Verschwörungstheorien glaubt und solche liest, wird mit weiteren Verschwörungstheorien bedient. Zwar war das auch bereits in der analogen Welt so: Progressive Leser lasen progressive Zeitungen, konservative kauften konservative Zeitungen. Nur: Das Ausmaß, die Menge und die Geschwindigkeit solcher Informationen haben sich enorm verstärkt. «Der Algorithmus der sozialen Plattformen lernt: Jeder Klick ist eine positive Verstärkung, die dazu führt, dass dem Nutzer mehr desselben gezeigt wird. Das positive Feedback ist eine Dauerschleife, die die Wände der Filterblase immer dicker werden lassen» (Muhle 2020:98). Dadurch entstehen in sich immer stärker abgeschlossene Informationsblasen, in denen sich nicht wenige Menschen ausschließlich bewegen. Zusätzlich problematisch wird diese Tendenz durch den Einsatz von automatisierten Social Bots und durch gezielte Verbreitung von Fake News, die zum großen Teil mit politischen Absichten verbreitet werden, etwa um Wahlen zu beeinflussen, politische Gegner zu diskreditieren – aber auch aus finanziellen Interessen: Je häufiger eine Webseite oder ein Tweet angeklickt wird, desto mehr Geld fließt und desto grösser ist dessen Einfluss auf die Meinungsbildung.

126

4 Die Digitalisierung der Gesellschaft

Auch die Jungen fahren immer mehr auf Dienste wie ChatGPT ab, eine «neue, auf künstlicher Intelligenz basierende Chatbot der Firma Open AI. … ChatGPT beantwortet Fragen, formuliert Texte, fasst Fachwissen zusammen, auf Knopfdruck. Nicht immer, aber sehr oft korrekt» (Fulterer 2023:8). Hausaufsätze generiert das Programm zu allen möglichen Themen – und je nach Wunsch in einfacher oder gehobener Sprache. Dabei reicht die Qualität der Texte an eine passable Bachelorarbeit heran. Dabei ist ChatGPT kein Plagiat, sondern generiert neue Texte. Zunehmend mehr Bildungsstätten wollen ChatGPT generell verbieten. So haben etwa die Schulen der Stadt New York den Zugang zu ChatGPT auf ihren Netzwerken und Geräten gesperrt (vgl. Fulterer 2023:8). Es gibt sehr unterschiedliche Einschätzungen von ChatGPT. So ist ein Student von Artificial Intelligence und Machine Learning der Ansicht, ChatGPT habe seine Art zu lernen beeinflusst: «Ich beschreibe ChatGPT das Konzept oder die Thematik und frage, ob das so einen Sinn ergibt» (Epp 2023). Zwar meint der Student, dass man sich bewusst sein müsse, dass man ChatGPT nicht blind vertrauen könne. «Trotzdem ist es vielfach eine große Hilfe, da ChatGPT auch begründet, warum meine Aussage seiner (ChatGPT’s) Meinung nach richtig oder falsch ist» (zitiert nach Epp 2023). Doch dabei stellt sich die Frage: Von welchem Lernverständnis gehen solche Studierenden aus, wenn sie meinen, irgendeiner Quelle blind vertrauen zu können? Entscheidend ist vermutlich das folgende Argument: «Wenn ich Libraries und Frameworks benutze, welche nicht gut dokumentiert sind, kann ChatGPT einem eine Menge Zeit ersparen». Doch: Von welchem Verständnis des Lernens und der Programmierung geht dieser Student aus? Und wenn die Schulleitung einfach die Nutzung von ChatGPT etwa für Prüfungen und schriftliche Arbeiten erlässt und für die Nutzung von Openbook Prüfungen den Zugriff aufs Internet erlässt – von was für einem Lernkonzept geht die Schulleitung aus und welche Vorstellungen von Prüfungen werden da genutzt? «Das heißt, es wird zum Beispiel vorgegeben, auf welchen Websites man sich während der Prüfung bewegen darf. Dabei ist ChatGPT meist nicht erlaubt, da ansonsten das Konzept der Prüfung nicht mehr wirklich Sinn macht». Die Lösung kann doch nicht einfach in einem teilweisen Verbot der Nutzung des Internets oder entsprechender Programme liegen – vielmehr müssten die Lehrpersonen neue, übergreifende und andere Arbeiten vorgeben – aber das erfordert Arbeit, Wissen und Zeit. Sinnvoll ist es zweifellos, auf ChatGPT als zusätzliche Informationsquelle zurückzugreifen oder um neue Interpretationsweisen zu sehen. Aber das große Problem bleibt, dass ChatGPT als Kreativitäts- und Motivationsersatz dient und vor allem aus Zeitersparnis angewendet wird, was Prüfungsaufgaben und damit letztlich auch die Qualität der Ausbildungsprüfung nachhaltig reduziert.

4.4

4.4

Digitalisierung und Politik: zum Beispiel E-Voting

127

Digitalisierung und Politik: zum Beispiel E-Voting

Jeanette Hofmann (2019:28) hat kritisiert, dass in der Diskussion von Digitalisierung und Politik der Digitalisierung oft die Rolle eines dynamischen Treibers zugeschrieben und die dynamische Technik als eine Art eigendynamischer Entwicklungspfad gesehen werde, während die Demokratie eher als «passives, reaktives Institutionengefüge» (Hofmann 2019:28) erscheine. Es sei problematisch, das Verhältnis von Digitalisierung und Demokratie als Kausalverhältnis zu verstehen, als eine Art unabhängiger Variable und die Demokratie als abhängige Variable. Auch sei es falsch, die Digitalisierung sozusagen als Akteur in einem demokratischen Umfeld zu verstehen: Das Verhältnis von Demokratie und Digitalisierung stelle eine Konstellation dar, nicht eine Kausalbeziehung. Mit Verweis auf Benedict Andersons «Imagined Communities» (Anderson 1988:15), also dem Nationalismus als «vorgestellte Gemeinschaft», der auf einem komplexen Zusammenwirken von Buchdruck, Säkularisierung, Sprachgemeinschafen und professioneller Nachrichtenproduktion beruhe (vgl. Hofmann 2019:29), sei die mediatisierte Demokratie nicht als ein Demokratietypus zu verstehen. Mediatisierte Demokratie sei vielmehr als eine Konstellation von Demokratie und bestimmter Verbreitungsmedien aufzufassen (vgl. Hofmann 2019:28). So gesehen haben beide – also Demokratie und Digitalisierung – Akteurcharakter. Kommunikationsmedien und Demokratie seien durch eine Art ko-evolutionären Prozess verbunden (vgl. Hofmann 2019:30). Wenn es stimmt, dass allen nationalistischen Vorstellungen zu eigen ist, dass sie die eigene «imagined Community» (Anderson 1988:15) in Abgrenzung oder gar in Gegnerschaft zu anderen nationalen oder weltanschaulichen Gemeinschaften sehen, deuten einige Zeichen der jüngsten politischen Entwicklung daraufhin, dass sich im Internet diese Tendenz der Abschottung der eigenen Community gegenüber anderen Weltanschauungsgruppen sogar noch verstärkt. Hofmann (2019:40) ist der Meinung, dass nicht die digitalen Medien die Ursache für die zunehmende Instabilität der repräsentativen Demokratie bilden. Digitale Medien bildeten vielmehr ein «Reservoir oder den Möglichkeitsraum zum Ausprobieren von gangbaren Alternativen» (Hofmann 2019:40 f.). Dabei vollziehe sich als Folge der Ermüdungserscheinungen und Vertrauensverluste der repräsentativen Demokratie eine Transformation zu einer diskursiv intervenierenden Zivilgesellschaft. Doch diese Entwicklung sei nicht allein der Digitalisierung zuzuschreiben, meint Hofmann (2019:41). Denn digitale Medien lassen sich sowohl für traditionelles wie experimentelles politisches Engagement nutzen. Doch es stellt sich die Frage, ob in einer solchen Sicht nicht die innovative Kraft und die Durchsetzungsfähigkeit zivilgesellschaftlicher Initiativen überschätzt und das Missbrauchspotenzial der neuen Medien unterschätzt wird. Letztlich ist aber – und ich gehe in diesem Punkt mit Hofmann einig – für das Überleben der Demokratie nicht die Anwendung der digitalen Medien, sondern der Wille und das Bewusstsein der Menschen entscheidend, die demokratischen Instrumente aktiv zu nutzen und die Demokratie weiterzuentwickeln.

128

4 Die Digitalisierung der Gesellschaft

Politiker:innen, welche die Demokratie und die digitalen Medien für Ihre Zwecke instrumentalisieren und missbrauchen, gehören abgestraft – und zwar am besten durch eine aktive Nutzung demokratischer Rechte und Mittel. Wolf Linder (2022:21) hat darauf aufmerksam gemacht, dass Versuche im E-Voting gezeigt haben, dass einerseits nicht alle vollmundigen Versprechungen der direkten Demokratie zu erfüllen sind, und anderseits keine Mittel gegen die tiefere Beteiligung von Jungen und Frauen gefunden werden – einzig für die Gruppe der Auslandschweizer scheint das Verfahren Vorteile zu haben. Alles in allem erlaubt die Digitalisierung, Referenden und Volksinitiativen schneller und billiger zu lancieren. Darum stellt sich laut Linder (2022:21) die zentrale Frage: «Welche Digitalisierung brauchen wir, damit unsere direkte Demokratie weiterhin funktioniert?» Weil die elektronische Sammelfrist für 50.000 bzw. 100.000 Unterschriften sehr viel kürzer wird, müsste man die Referenden oder Initiativen zeitlich verkürzen oder andernfalls die Sammellisten für elektronische Unterschriften dramatisch verändern. Dabei zerfällt die öffentliche Meinung mehr und mehr in Bubbles, in denen die eigene Meinung bestätigt wird. Auf jeden Fall darf dieser Entwicklung nicht die billigere, schnellere und weitreichendere kommerzielle Digitalisierung von kollektiven Unterschriften anstelle von besserer Demokratie geopfert werden. Zweitens ist «mehr Partizipation für alle» ein risikoführender, weil verkürzter Leitsatz. Immer noch sind Wahlen die einfachste und chancenreichste Form der Partizipation. Und drittens widerspricht ein Teil der sozialen Netzwerke den Anforderungen des demokratischen Dialogs: «Mit Fake News, Hate-Speech, der Blasenbildung und der maschinellen Nachrichtenauswahl über Algorithmen spielen die Broker-Plattformen eine zwiespältige Rolle in der öffentlichen Meinungsbildung» (Linder 2022:21). «Fassen wir zusammen: Das Geschäftsmodell des Überwachungskapitalismus besteht darin, das Recht auf Selbstbestimmung der Individuen auszuhöhlen, sich selbst aber uneingeschränkte (Verfügungs-)Rechte anzumaßen. Und dort, wo der Staat an dieser Art von Vorhersageprodukten partizipieren kann, fällt es ihm schwer, regulierend einzugreifen. Das führt unmittelbar in den zweiten Bereich der Freiheitsgefährdung: Diese Gefährdung erwächst aus der klassischen Situation, in der Technikkritik schon immer stand: die Entscheidung zwischen Sicherheit und Freiheit. Das große Sicherheitsbedürfnis des Staates nimmt mit der Digitalisierung neue Fahrt auf und tendiert dazu, die garantierten Grundrechte mithilfe von weitgehenden rechtlichen und technischen Geheimdienstbefugnissen zu unterlaufen – Stichwort Snowden-Enthüllungen – oder mit Technologien zu arbeiten, die potenziell diskriminierend und insofern grundrechtseinschränkend sind» (Ueberschär 2021:105). Daraus folgt: Wir brauchen Wissen und Klarheit über unsere Grundrechte und die Geltung von Menschenwürde. Die «Methode des Data-Mining, die Gewinnung von Verhaltensdaten ohne echte Transparenz und Nachvollziehbarkeit, ohne Information an diejenigen, deren Daten aus der,Mine’ extrahiert werden, ist eindeutig eine Verletzung menschlicher Würde, dessen also, was die Basis der Menschen- und Bürger*innenrechte ausmacht» (Ueberschär 2021:107). Mit anderen Worten: Nur wenn wir uns bewusst sind, dass Methoden wie Data-Mining unsere Grundrechte

4.4

Digitalisierung und Politik: zum Beispiel E-Voting

129

einschränken oder im Extremfall sogar vernichten, können wir richtig und begründet dagegen Stellung nehmen. Dann – und erst dann – werden solche Praktiken aufhören. Nach Ansicht von Ueberschär (2021:107) steht das Menschenbild des Silicon Valley, das die heutige Digitalisierung prägt, dem Menschenwürdekonzept diametral entgegen. Wenn dem so ist, stellt sich die Frage, warum wir das nicht erkennen – oder erkennen wollen. Viele «Urteile des Bundesverfassungsgerichtes, aber auch weitere des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, belegen den kategorialen Unterschied, der zwischen problematischen Praktiken staatlicher Behörden in Rechtsstaaten und solchen in globalen, privatwirtschaftlichen Bereichen besteht» (Ueberschär 2021:109). Wenn dem so ist, stellt sich die Frage, warum sich dann diese Art von Urteilen im privatwirtschaftlichen Bereich nicht ändert. Könnte es sein, dass die richterlichen Stellungsnahmen immer nur punktuell und partiell sind, anstatt der Digitalisierung richterliche Grenzpfähle zu setzen? Den Ansatz einer grundsätzlichen Antwort gibt Ueberschär (2021:110) wie folgt: «Solange … nicht eine kritische Masse von Menschen die Verletzungen ihrer eigenen Würde wahrnimmt, ein Rechtsbewusstsein entwickelt, Klagen anstrengt und Druck erzeugt, wird das Geschäftsmodell der Rechte-Enteignung und der Würdeverletzung weiter funktionieren und perfektioniert werden». Ein Beispiel dafür stellt das Internet in punkto Rassismus gegen schwarze Menschen dar: So kennen Googles Algorithmen keine Affen, weil die Software schwarze Menschen nicht zu 100 % von Gorillas unterscheiden kann (vgl. Schuppisser 2020). 2015 geschah eine Verwechslung von Affen und schwarzen Menschen – und seither kann man mit der Applikation «Google Fotos» nicht mehr nach Affen suchen. Gesichtserkennung funktioniert bei Schwarzen sehr viel unzuverlässiger als bei Weißen: Laut einer Studie des MIT wurden weiße Männer zu 99 % richtig erkannt, schwarze Frauen jedoch – je nach Hersteller – bei 21 bis 35 % falsch (vgl. Schuppisser 2020). Der Grund liegt darin, dass die entsprechenden Algorithmen vor allem mit weißen Männern trainieren, jedoch viel weniger mit Frauen und Menschen schwarzer Hautfarbe. Viele amerikanische Tech-Firmen haben sich ganz aus dem Geschäft mit der Gesichtserkennung zurückgezogen – so IBM, und Microsoft will die US-Polizei nicht mehr damit beliefern (vgl. Schuppisser 2020). Und Amazon setzte die Zusammenarbeit mit der amerikanischen Polizei für ein Jahr aus. San Francisco hat sogar bereits 2019 die Gesichtserkennung für Polizei und Behörde verboten – und auch Google und Facebook haben «die Möglichkeiten zur Gesichtserkennung aus Datenschutzgründen bewusst eingeschränkt» (Schuppisser 2020). Umgekehrt kann aber auch die Gesichtserkennung helfen, Verbrechen zu bekämpfen. So hat etwa in Indien auf öffentlichen Plätzen allein in New Delhi Gesichtssoftware 3000 vermisste Kinder gefunden – und auch in Amerika wurden mit dieser Technologie Verbrechen aufgeklärt. So wurde etwa in Oklahoma ein mutmaßlicher Kinderschänder dank dieser Technik nach über 20 Jahren Flucht geschnappt (vgl. Schuppisser 2020).

130

4.5

4 Die Digitalisierung der Gesellschaft

E-Identities

Radermacher (2017:226) hat die Frage gestellt, inwiefern meine digitale Identität mein reales Ich abbildet. Das Problem ist, dass das analoge Ich deutlich komplexer und vielschichtiger ist als jede digitale Identitäts-Kopie, die sich im Grunde immer nur aus einer Kombination von 0 und 1 präsentiert. Während das analoge Ich eher einer Zwiebel gleicht, erscheint das digitale Ich als QR-Code, also als eine zweidimensionale Fläche mit vielen hellen und dunklen Punkten. Viele Menschen – insbesondere solche, die in den sozialen Medien aktiv sind, begehen den Fehler, die dort präsentierte – und meist geschönte Identität – als das eigene Ich bzw. als das Ich des Gegenübers zu sehen. Der erste, spontane persönliche Eindruck geht dabei verloren. Es entsteht auch kaum Raum und Zeit, einen anderen Menschen nach und nach kennen zu lernen. Das ist auch der Grund, warum Dating-Apps oder Flirt-Lines im Grunde nicht funktionieren – die Suche nach dem idealen Partner ist so wenig eine Frage von statistischen Daten oder Algorithmen wie die Frage, ob Gott existiert oder was Liebe ist. Das Problem ist nicht, möglichst viele mögliche Partner:innen in möglichst kurzer Zeit auf ihre Eigenschaften oder ihre Passung abzuchecken, sondern einem der wenigen Partner:innen zu begegnen, mit dem oder der «es» funktioniert oder funktionieren könnte. Doch das schafft kein noch so ausgeklügelter Algorithmus – auch wenn man uns das weismachen möchte. Spiekermann (2019:111) hat drauf hingewiesen, dass sich immer mehr Menschen über die sozialen Medien und andere Kanäle online eine eigene und künstlich verstärkte «EPersönlichkeit» aufbauen, die makellos erscheint: «Wenn diese E-Persönlichkeiten sich nun im Netz pflegen und wie Narziss in ihre Onlinespiegelbilder schauen, dann glauben sie, dass das ganze große Netzwerk, ‚die da draußen‘ sie sieht und sie für all das Tolle, das sie scheinbar zu bieten haben, integriert und wertschätzt. Scheinbar erfüllt sich ihre Sehnsucht sogar, denn wenn die Echos aus der virtuellen sozialen Welt zu ihnen zurückschallen, die sie liken und ihnen Herzchen senden, retweeten und kommentieren, dann fühlen sie sich in dieser schönen E-Persönlichkeit bestätigt. Die positiven Echos der virtuellen Welt bestärken ihren Glauben an ihre selbst gezimmerten E-Persönlichkeiten. Und da diese so leicht zu haben und zu pflegen sind, beginnen sie zu glauben, dass das Leben insgesamt – auch in der realen Welt – so einfach ist wie online. So ergeben sich in der realen Welt immer mehr krankhafte Effekte der Selbstüberhöhung und Überschätzung der eigenen Macht und Leistung» (Spiekermann 2019:111). Das verstärke falschen Stolz und Arroganz und führe zu einem Mangel an Demut, Respekt und Bescheidenheit. Nach Ansicht von Specker (2019:65) ist die digitale Lust an der Selbstdarstellung vor dem Hintergrund des Wettbewerbsprinzips zu sehen – schließlich geht es darum, den eigenen Marktwert im Beliebtheitsdschungel des Internets zu erhöhen, und dafür sind (fast) alle Mittel recht. Weil individuelle Identität immer wieder neu erworben und von anderen bestätigt werden muss, passt dies perfekt in die kapitalistische Marktlogik, der sich kaum jemand entziehen kann oder will. Wir alle konstruieren permanent unsere IchPersönlichkeit – und das Wir reduziert sich zunehmend auf einen Kreis von Claqueuren,

4.5

E-Identities

131

Followern und digitalen «Freunden», welche uns mit «Likes» oder Sternchen füttern. Gleichzeitig – so Specker (2019:66) – degeneriert die liberale Demokratie zunehmend zu einem Potemkin’schen Dorf, also zu einer Fassade, welcher zunehmend die Inhalte verloren gehen. In diesem Zusammenhang ist auch die sogenannte «Selbstvermessung als Identitätsstrategie» (Vormbusch 2019:121) zu erwähnen. Damit ist das Bemühen gemeint, den menschlichen Körper zum Objekt der Selbstwahrnehmung zu machen und einer permanenten «quantifizierten Selbstreflexion» (Vormbusch 2019:121) zu unterwerfen. Mit dem Motto des «self knowledge through numbers», also der Selbsterkenntnis über Zahlen, werden persönliche Aspekte wie Gesundheitszustand, sportliche Betätigung, Stimmungen, Schlaf, Nahrung oder Sexualität vermessen und zur Selbstoptimierung genutzt. Diese Praxis beruht auf digitalen Geräten wie Aktivitätsarmbändern, Körpersensoren, Smartphones und PC- oder netzbasierten Diagnosetools. Neben der persönlichen Verhaltenssteuerung sollen damit auch Heilungsziele bei chronischen Krankheiten, Gefühlserkenntnis und kontrolle, Antizipation von Lebensrisiken, Bodyshaping oder Steigerung der persönlichen Leistungsfähigkeit erreicht werden (vgl. Vormbusch 2019:121 f.). Diese Praxis soll zur «Präsentation und Sichtbarmachung des eigenen Selbst» (Vormbusch 2019:122) beitragen und letztlich die persönliche Identität stärken oder entwickeln. Dies mag bei chronischen Erkrankungen durchaus Sinn machen, aber darüber hinaus erscheint diese Praxis, «alles zu messen», eher als Ausdruck des Verlusts der inneren Zentrierung und der persönlichen Bodenhaftung – und der Fähigkeit, intuitiv sein Körperempfinden wahrzunehmen. Im Grunde sind Messzahlen immer nur Formalisierungen und Quantifizierungen von Einzelaspekten, oft fehlt der ganzheitliche Inhalt. Vormbusch (2019:125) meint, dass die Individuelle Selbstvermessung in engem Zusammenhang «mit den entgrenzten Leistungsanforderungen eines flexibilisierten Kapitalismus» steht und auf der ökonomischen Unsicherheit des eigenen Werts beruht. Selbstvermessung stellt also im Grund den Versuch einer individualisierten Verarbeitung kollektiver Risiken dar, die auf den eigenen Körper projiziert werden. Nur wenn wir digitale Leistungszahlen und -statistiken wieder mit ganzheitlich wahrgenommenen Inhalten füllen, mit analogen Fakten und Wahrheiten, mit solidarischen Handlungen und mit Einsatz für das (analoge) Gemeinwohl, wird die Digitalisierung kollektiv wie individuell erfolgreich und auch nachhaltig sein – andernfalls führt sie zu einer völligen Beliebigkeit und zur inhaltslosen Willkür, die die Mächtigen immer mächtiger und die Machtlosen immer noch ohnmächtiger werden lässt.

132

4.6

4 Die Digitalisierung der Gesellschaft

E-Tourismus und M-Tourismus

Noch stärker als im herkömmlichen Tourismus hat der «Mobile Tourism» dazu geführt, dass sich die Touristen in einer Art Blase bewegen: Es entsteht so etwas wie ein vierfacher Filter: die künstlich hergestellte Welt (präsentierte Vorstellung der Destination), die Auswahl der Informationen, die Vereinfachung dieser Informationen und eine Selbst-Rückkoppelung der Touristen durch den mobil einsetzbaren Mechanismus der Online-Bewertung von Leistungen und Produkten (vgl. Bauer 2017:78). Dabei ergibt sich, wenn man sich auf Bewertungen anderer Touristen verlässt, eine noch größere Abhängigkeit vom Massengeschmack. Bauer (2017:78) nennt diesen Mechanismus «Voting-Bubble», also Bewertungs-Blase. Diese vierfache Blase schirmt die Touristen von der wirklichen Welt ab und lässt sie eine Art künstlich hergestellte Welt erleben mit der Illusion, die «wirkliche Welt» «authentisch» erlebt zu haben. Überraschungen werden weitgehend ausgeblendet, die Nachbarschaft wird kaum mehr zufällig entdeckt, spontane Beziehungen zu den «Locals» oder Einheimischen entstehen kaum mehr und mögliche Gefahren werden zum Vornherein vermieden – alles ist orchestriert, von der organisierten Folklore bis zum Sport- oder Kunst-Event. Dabei täuscht die mobile Applikation vor, dass sich der Tourist besonders selbständig bewegen und Authentizität erleben kann, während entsprechende Algorithmen im Hintergrund alle Ziele vorgeben und bestimmen. Mobile Tourismus-Applikationen führen zu folgenden Auswirkungen: 1. Für den touristischen Konsumenten wird eine Scheinwelt geschaffen, dem ein vordefinierter semiotischer Kontext (Tourist-Bubble) mit vereinfachten Bedeutungen zum Konsum bereitgestellt und über mobile Applikationen verfügbar gemacht wird. 2. Über ein Filter-Bubble wird ein beinahe selbstreferentielles System geschaffen, das auf vermutete Geschmacksorientierungen ausgerichtet ist. Typische Gate-Keeper wie Destinationen werden darauf achten, sich innerhalb der vorgegebenen Rahmenbedingungen zu bewegen. 3. Die Logik der angewandten Technik (Media-Bubble) führt zu einer massiven Reduktion der Informations- und Medienvielfalt, welche die Illusion des Wissens und die Fähigkeit der Orientierung mit sich bringt. Es kommt zu einer Welt der «Selbstentmündigung», wobei selbständiges Lernen mehr und mehr entfällt. 4. Aussagen zu einzelnen Elementen des Systems werden innerhalb der kommodifizierten Referenzen gemacht, wodurch sich kommerziell gemachte Erwartungen bestätigen und die Massenerwartungen zum Leitfaden werden. 5. M-Tourismus «treibt die Individualtouristen wieder zur Herde zusammen, die sie nicht mehr sein wollen, weil sie unwissentlich alle Informationen und Bewertungen mit all den anderen Individualtouristen teilen» (Bauer 2017:83).

4.6

E-Tourismus und M-Tourismus

133

Insbesondere die Kombination von zwei Faktoren, nämlich die wachsende Zahl von Touristen und die fehlende Planung betreffen vor allem Buchungsplattformen, generieren negative Gefühle und führen zur Rückweisung von Touristen (vgl. Martín Martín et al. 2018:13). Besonders die fehlende Planung und die ökonomischen Kosten betreffen das Alltagsleben von Nicht-Touristen. Das – so Martín Martín et al. (2018:14) – müsste der Ausgangspunkt für die Planung der städtischen Tourismus-Zentren sein, die unter Über-Tourismus leiden. Die Bürgerinnen und Bürger sollten entscheidend sein für die Entwicklung einer jeden Tourismus-Destination. Elke Eller (2018:128), Vorstandsmitglied des Reiseunternehmens TUI, schrieb bereits vor der Corona-Pandemie: «Unsere Gäste nutzen bereits auf vielfältige Art und Weise unsere digitalen Angebote. Die «Meine-TUI-App» begleitet Kunden von der Buchung ihres Urlaubs bis zum Urlaubsort und darüber hinaus. Virtual-Reality-Brillen helfen bei der Auswahl eines Ausflugs und geben zum Beispiel in ihrer Mobilität eingeschränkten Menschen die Möglichkeit, sich vorab über Gegebenheiten zu informieren. Indem die an verschiedenen Kontaktpunkten gewonnenen Informationen miteinander verknüpft werden, erhalten unsere Gäste passgenaue Angebote. Darüber hinaus gehört die TUI Group zu den ersten Unternehmen, die die Möglichkeiten der Blockchain für sich nutzen…». Also alles «schöne neue Welt» und Friede, Freude, Eierkuchen? Was aber, wenn eine perfektionierte Virtual Reality dazu genutzt wird, dass den Tourismuskunden Destinationen so perfekt präsentiert werden, dass sie gar nicht mehr hinreisen wollen und die Reiseziele virtuell auf dem eigenen Sofa oder in der eigenen Wohnung erleben können? Es ist denkbar – wie vom Ökonom Bruno S. Frey (2020:IX) vorgeschlagen –, im Falle von touristischen Attraktionen eine Strategie der Schaffung neuer Originale (= identische Kopien des Originals) zu verfolgen, die auf den Möglichkeiten erweiterter Realität («augmented reality») oder virtueller Wirklichkeit («virtual reality») beruhen. Dabei könnten die wichtigsten Sehenswürdigkeiten digital repliziert und an beliebigen Orten präsentiert werden. Insbesondere die holografische Technik könnte da unerwartete Möglichkeiten eröffnen (vgl. Jäggi 2021:152) – aber auch dem Tourismus den Todesstoß versetzen. Damit würde sich der Untertitel von Ellers (2018:127) Beitrag: «Digitale Transformation braucht den Menschen» verändern zu: «Der digitale Mensch braucht keinen Tourismus». Das mag jetzt etwas allzu schwarz gezeichnet sein, denn es wird immer Menschen geben, die physisch reisen wollen. Aber das Beispiel zeigt, dass die Digitalisierung in letzter Konsequenz nicht nur zu höherer Effizienz, sondern auch zur Abschaffung ganzer Branchen oder Aktivitätenbereiche führen kann. Ende Februar 2023 gerieten die Schweizerischen Bundesbahnen in die Schlagzeilen: Der «K-Tipp» berichtete, dass die SBB an 57 Bahnhöfen Kameras mit Gesichtserkennung installieren wolle, der «Blick» titelte einen «Spionageangriff auf Reisende» durch die SBB, und die Jungen Grünliberalen kündigten rechtliche Schritte gegen die Erfassung biometrischer Daten durch die SBB an (vgl. Ehrbar 2023b:3). Tatsächlich haben die SBB ein neues Messsystem ausgeschrieben, das zwar nicht die Gesichter erkennen, aber den erfassten Menschen anonymisierte Nummern zuteilen und feststellen will, wo sich

134

4 Die Digitalisierung der Gesellschaft

wer wie lange im Bahnhof aufhalte. Dabei sollen 3D-Sensoren die Oberkörper scannen, wie Geschlecht, Altersklasse und Größe sowie Koffer, Velos und Rollstühle, um besser erkennen zu können, wo sich wie viele Skifahrer oder ältere Menschen aufhielten. Dabei würden die optischen Informationen beim Messgerät verarbeitet und wieder gelöscht (vgl. Ehrbar 2023b:3). Zwar schrieb der K-Tipp von Gesichtserfassung und nicht von Gesichtserkennung – aber trotzdem bestehe für die Passagiere ein «erhebliches Risiko» in Bezug auf die Re-Identifikation von Personen, so der eidgenössische Datenschutzbeauftragte Adrian Lobsiger. Demgegenüber meinte Alexis Leuthold, Bewirtschaftungschef der SBB, es gehe nur um eine Optimierung der Passantenströme, um Lifte oder Rampen zu installieren (Ehrbar 2023a:3). Doch es bleiben Fragen – insbesondere wie ohne Gesichtserfassung Bewegungsmuster, Körpergröße und so weiter abgeschätzt werden können, und vor allem, ob diese Daten zu einem späteren Zeitpunkt nicht auch für ganz andere Zwecke verwendet werden können.

4.7

E-Health

Viele Patienten posten ihre Krankengeschichten und Gesundheitserfahrungen in den sozialen Medien, das Internet bietet viele Informationen zu Krankheiten. Diese Daten wollten die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften in Form einer Datenbank dipex.ch nutzen. Im Unterschied zu anderen Internet-Plattformen ist dipex.ch dem HON-Code (Health on Net) und den entsprechenden Qualitätsstandards verpflichtet. Der HON-Code stellt sicher, dass die Erfahrungsberichte nach wissenschaftlichen, ethischen und Datenschutzstandards gesammelt und ausgewertet werden, dass sie von Gesundheitsfachpersonen überprüft und faktische Inkorrektheiten eliminiert werden und dass es keine Einflussnahme und kein Sponsoring durch Pharmaindustrie oder andere medizinische Akteure gibt (vgl. Biller-Andorno et al. 2022:18). Damit sollen reale Erfahrungen Interessierten zugänglich gemacht und Orientierungshilfen geboten werden. Denn gerade im Gesundheitsbereich ist der Informations-, Werbe- und Propagandadschungel im Internet fast unübersichtlich geworden. Im Gesundheitswesen kommen digitale Ressourcen auch in Form von künstlicher Intelligenz (KI), insbesondere in der Diagnostik (u. a. Verknüpfung einer großen Zahl von Daten) und in der minimalinvasiven Chirurgie, zur Anwendung, und als Robotik besonders in der Pflege, im Service und in der Logistik (vgl. Proft 2021:26 ff.). Mit «mobile-Health»-Sensoren und Apps können Patienten wesentlich zur Verbesserung medizinischer Erkenntnisse beitragen, indem sie wichtige Daten über körperliche Aktivitäten, Gesundheitsparameter und Arzneimittelwirkungen generieren (vgl. Hafen 2017:40). Allerdings ist zu betonen, dass das Verfügungsrecht dieser Daten auf jeden Fall bei den Patienten liegen sollte – oder als abgeschwächte Form, die Patienten ein Recht auf die Kopien ihrer Daten besitzen sollten.

4.7

E-Health

135

Ethisch führt E-Health in Neuland, insofern «als sich ein ganzes Bündel an ethischen Herausforderungen stellt, für die die etablierten normativen Leitprinzipien nicht mehr passgenau zu sein scheinen, um ohne Weiteres klare praktische Orientierung geben zu können» (Sautermeister 2021:119). Heute besteht weitgehend Konsens, dass die Patientenautonomie generell und das Konzept des informed consent – also der informierten Zustimmung – als entscheidungsorientierte Grundlage für einzelne Maßnahmen zu gelten hat (vgl. Sautermeister 2021:134). Dabei ist zu bedenken, dass sich die Voraussetzungen des informierten bzw. vorinformierten Patienten verändern (vgl. Sautermeister 2021:123). Im Gesundheitsbereich hat sich mit den Mental-Health-Apps eine neue Form von digitalen Therapien entwickelt, welche die psychiatrischen Versorgungslücken mindestens teilweise schließen, zumindest insofern als psychisch Leidende schnell zu Therapieangeboten kommen können. Allerdings ist umstritten, inwieweit die Mental-Health-Apps tatsächlich wirksam sind. Wenn man bedenkt, dass weltweit über 10 % der Bevölkerung an psychischen Erkrankungen leiden – in einzelnen Ländern sind es deutlich mehr, so etwa in der Schweiz gut 17 % (vgl. Kovic 2022:19) –, öffnet sich da ein enormer Markt. Aktuelle Mental-Health-Apps funktionieren nach zwei Modellen: «Entweder sind sie komplett automatisiert, mit Tagebuchfunktion und Anleitungen für Übungen und Aktivitäten, oder sie bieten digitalen Austausch mit menschlichen Therapeut:innen an – in schriftlichen Chats, gegen Aufpreis auch in (Video-)Anrufen, reagieren diese auf Anliegen» (Kovic 2022:19). Kovic (2022:19) weist darauf hin, dass der Umgang mit Wirksamkeitsstudien durch diese Anbieter eher salopp ist. Sinnvoll wäre – wie in Deutschland – eine Anerkennung durch die Krankenkasse, sofern die App einigermaßen wirksam ist, mit entsprechender Wirksamkeitsüberprüfung. 2021 wurde der weltweite Umsatz von MentalHealth-Apps auf 500 Mio. bis 4 Mrd. US-Dollar geschätzt, bei einem weltweiten Markt für psychische Behandlungen von 380 Mrd. US-Doller vergleichsweise wenig – aber mit klar zunehmendem Trend (vgl. Kovic 2022:19). Doch ist die Einschätzung von Narula (2022:xiii) nicht etwas gar optimistisch, wenn er schreibt: «Die Entstehung der virtuellen Gesellschaft wird den Beginn einer Ära markieren, in der wir neue, positive Grenzen der psychologischen Erfüllung und der geistigen Gesundheit erkunden werden»6 ? Genauso gut können die enormen Möglichkeiten der Virtual Reality für destruktive, menschenfeindliche und negative Zwecke eingesetzt werden – und leider hat die Geschichte der Menschheit gezeigt, dass – wenn immer etwas technisch machbar wurde – sämtliche, auch die negativsten Möglichkeiten ausprobiert und durchgespielt wurden. Im Vergleich etwa zu Dänemark ist die Schweiz in Bezug auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens ein Entwicklungsland, kritisierte etwa Peter Indra, Leiter der Gesundheitsversorgung des Kantons Basel-Stadt und früherer BAG-Vizedirektor. Dabei geht es nicht darum, dass die einzelnen Leistungserbringer am PC arbeiteten, sondern um die 6 «…the emergence of virtual society will mark the beginning of an era in which we will explore

new, positive frontiers in psychological fulfillment an mental health…» (Narula 2022:xiii).

136

4 Die Digitalisierung der Gesellschaft

digitale Vernetzung (vgl. Hehli und Gafafer 2021:7). Im Gegensatz zu Dänemark hat die Schweiz immer noch kein funktionierendes elektronisches Patientendossier, das der gesamten Bevölkerung zur Verfügung steht. Statt ein einheitliches Dossier für jeden Patienten besteht ein komplexes institutionelles Gefüge, das eine bremsende Wirkung hat. In Bezug auf ein elektronisches Patientendossier sind viele Ärzte skeptisch, und die Spitäler griffen bei der Bewältigung der Corona-Pandemie nicht auf das elektronische Patientendossier (EPD) zurück, meint Ruth Humbel (vgl. Hehli und Gafafer 2021:7). Doch bei der Erarbeitung des EPD-Gesetzes hat das Parlament Fehler gemacht, so erarbeitete jeder Kanton seine eigene Lösung. Auch hält Humbel für falsch, dass das Parlament das EPD nur für Spitäler und Pflegeheime für obligatorisch erklärt hat. Selbst als Humbel den Vorschlag machte, dass die frei praktizierenden Ärzte eine Übergangszeit von 10 Jahren hätten und damit viele der frei praktizierenden Ärzte pensioniert wären, wurde das abgelehnt. Im Herbst schrieb der Bundesrat auf eine Motion Humbels, dass nur jede dritte Arztpraxis die Behandlungsdokumentation vollständig elektronisch mache. Dabei entscheidet der Computer nicht über die Therapie – zumindest noch nicht. «Das einzige, was er tut: Vorschläge machen. Die Algorithmen werden dabei zwar eine grosse Rolle spielen, aber es braucht den Arzt, der interpretiert und dem Patenten erklärt. Entscheiden, welche Therapie angewendet wird, muss immer noch der Patient zusammen mit dem Arzt» (Steurer 2020:7). Doch seien wir ehrlich: Welcher Patient versteht schon alles, was der Arzt sagt? Ein erheblicher Teil glaubt einfach das, was der Arzt sagt – unter anderem, weil er es glauben will. Johann Steurer (2020:7) hat den Vorschlag wieder aufgenommen, welcher sagte: «Wir gründen eine Genossenschaft, die, demokratisch organisiert, unsere Gesundheitsdaten verwaltet. Ihre Aufgabe ist es, das technisch so sicher wie möglich zu machen. Jeder Patient wird selber entscheiden, wem er Zugriff auf seine Daten gewährt. Er kann sie Firmen – gratis oder gegen Bezahlung – für die Forschung zur Verfügung stellen, wenn er möchte» (Steurer 2020:7). Das klingt zwar gut, ist aber doch wohl eher schöne Theorie: Welcher Patient versteht die medizinische Sprache, welcher Patient kann beurteilen, ob eine Projekt ihm persönlich nützen wird oder nicht, und welcher Patient ohne Heilungschancen wird nicht alle möglichen Heilungswege ergreifen wollen – egal ob sie auch nur die Chance eines Nutzens für ihn haben werden? Doch auch gesunde Personen leiden zunehmenden unter dem Stress der Digitalisierung. Allgemein deuten Studien darauf hin, dass das Stressniveau zunimmt – und die Technologie trägt auf verschiedene Weise zu dieser Dynamik bei (vgl. Cook 2020:9). Insbesondere das kontinuierliche Sammeln von Informationen ist unglaublich stressig. «Soziale Medien gehen hierbei besonders skrupellos vor. Sie stützen sich auf dopamingesteuerte Rückkoppelungsschleifen und auf unser emotionales Bedürfnis, gesehen, bestätigt und geliebt zu werden. Die suchterzeugenden Merkmale wirken sich auf unser Arbeitsleben aus», so die Expertin für Ethik und Technologie, Dr. Katy Cook (2020:9). So sei es im Hinblick auf die Technologie wichtig, klare Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben zu ziehen – sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer. So sollten Arbeitnehmer nach Verlassen des Büros oder im Urlaub keine E-Mails mehr lesen. Gleichzeitig sollten

4.8

5G-Standard

137

einerseits Wirtschaft, Wissenschaft und Staat besser zusammenarbeiten, um die Digitalisierung zu meistern und anderseits «müssen wir die Werte neu definieren, die wir in unserer Technologie (und unserer Gesellschaft im Allgemeinen) verankern wollen» (Cook 2020:9).

4.8

5G-Standard

Bei 3G-Netzen lag die Antwortzeit bei rund 100 Millisekunden, beim 4G-Netz bei etwa 30 Millisekunden und im 5G-Netzen braucht die Antwort nur noch eine Millisekunde. Damit werden die Daten nahezu in Echtzeit übertragen. Das ist vor allem für Anwendungen wie autonome Fahrzeuge entscheidend (vgl. Lucks 2020:252). Es ist laut Lucks (2020:252) abzusehen, dass Großunternehmen ihre eigenen 5G-Netze aufbauen werden, ohne direkten Zugang zu öffentlichen Netzen. Allerdings muss für die Kommunikation zwischen weit auseinanderliegenden unternehmenseigenen («proprietary») 5G-Netzen das öffentliche 5G-Netz genutzt werden, wozu ein hoher Verschlüsselungsgrad notwendig ist. Gegen die Hauptschlagader der Digitalisierung – nämlich der 4G- und 5GMoIbifunknetze – gibt es allein in Deutschland rund 150 Bürgerinitiativen (vgl. Hensinger 2022:8). Am 4. März 2022 veröffentlichte der Wirtschafts- und Sozialausschuss der Europäischen Union (EWSA) im Amtsblatt der EU eine Stellungnahme. Laut dieser Stellungnahme «braucht es den Schutz vor ‚elektromagnetischer Verschmutzung‘ … vor allem durch 5G, Anerkennung der Kritik der Bürgerinitiativen, Anerkennung der Ergebnisse der unabhängigen Forschung, Anerkennung der Elektrosensibilität als Krankheit, Überprüfung und Ersetzung der untauglichen ICNIRP-Richtlinien für Grenzwerte durch neue Richtlinien, die von einem unabhängigen Gremium erarbeitet werden, die Einhaltung des Vorsorgeprinzips, [sowie] die Anerkennung der ökologischen Umweltrisiken und der Risiken für die Datensicherheit» (vgl. dazu Hensinger 2022:12 bzw. von https://www. diagnose-funk.org/1828). Im Bereich des Mobilfunkstandards 5G konnte China 2021 einen wichtigen Erfolg feiern: Anfang Januar 2021 «vereinbarten die Mitglieder der ITU die ersten globalen Regeln zu 5G. Der in Genf ansässigen UNO-Organisation gehören über 193 Länder und über 900 Unternehmen und andere Privatorganisationen an. Sie setzen weltweit Telekommunikations- und Internetstandards». Die neue 5G-Technologie entspricht in großen Teilen der Technologie, die der chinesische Konzern Huawei entwickelt hat: Andere Unternehmen können ähnliche Technologien anwenden. Doch Huawei hat den Vorteil, dass die Firma schneller als seine Konkurrenten Basisstationen und andere Netzwerkkomponenten liefern kann. Während der chinesische Markt – also Staat und Unternehmen – mit einer Stimme sprechen kann, gelte das nicht für westliche Firmen. Entsprechend hat die litauische Cybersicherheitsbehörde Sicherheitslücken und heikle Funktionen bei chinesischen Anbietern gefunden. Die vielleicht brisanteste Erkenntnis

138

4 Die Digitalisierung der Gesellschaft

betrifft ein 5G-Mobiltelefon des chinesischen Herstellerst Xiaomi. Das MobiltelefonModell Mi10T, das auch in der Schweiz erhältlich ist, besitzt einen Filter für politisch heikle Begriffe. Dieser Filter ist für die EU-Region zwar desaktiviert, kann aber aus der Ferne über das Internet aktiviert werden. So kann das Mobiltelefon gewisse Begriffe unterdrücken, so zum Beispiel «Free Tibet», «Democratic Movement» oder «Voice of America», die der Nutzer nicht sehen kann (vgl. Mäder 2021d:3). Der Bericht kam zum Schluss, dass Xiaomi mehr Daten sammle als andere Hersteller von Smartphones. Die litauische Cybersicherheitsbehörde hat insgesamt drei chinesische Smartphones genauer untersucht, je eines von Xiaomi, von Huawei und von OnePlus. Dabei wurde in zehn Fällen ein erhöhtes Sicherheitsrisiko festgestellt, von denen der vorliegende Bericht vier beschreibt (vgl. Mäder 2021d:3). Laut einer Studie der Universität Zürich und der Forschungsanstalt Empa soll das bis 2030 betriebene 5G-Netz in der Schweiz 86 % weniger Treibhausgase pro übertragenes Gigabyte verursachen (vgl. Meier 2020:29). Die Forscher nahmen an, dass sich der Datenverkehr bis 2030 ungefähr verachtfacht – trotzdem werde die 5G-Technologie etwa gleichviele Treibhausgase verursachen wie 2020. Doch wird das reichen? Es gibt bereits 2023 Hinweise, dass die Zunahme erheblich größer sein dürfte – und damit auch die vorausgesagten Immissionen. Von daher ist auch fraglich, ob es stimmt, dass die vier untersuchten Anwendungen der intelligenten Steuerung des Stromnetzes sowie des autonomen Fahrens 1,5 bis 2,0 Megatonnen Treibhausgase einsparen – also ungefähr 1 bis 2 % des Ausstoßes der Schweiz (vgl. Meier 2020:29). «Nach 2030 wird die Zahl noch zunehmen, weil die von uns untersuchten Anwendungen sich erst danach breit durchsetzen», meinte Lorenz Hilty, Professor am Institut für Informatik der Universität Zürich (vgl. Meier 2020:29). Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) waren im Juli 2020 5 % der Schweizer Bevölkerung oder damals 430.000 Personen elektrosensibel (vgl. Studer 2020:26) – und seither sind die Zahlen weiter angestiegen. Im Kanton Luzern fühlten sich 2017 4,35 % der Einwohnerinnen und Einwohner durch elektromagnetische Strahlung gestört – und der geplante 5G-Ausbau machte vielen Sorgen. Ärzte – so der Arzt Bernhard Aufdereggen – sehen in ihrer Arztpraxis seit Jahren elektrosensible Personen, und einen Teil dieser Beschwerden führte er auf den Einfluss elektromagnetischer Felder zurück (vgl. Studer 2020:26). Festzustellen waren unter anderem eine Beeinflussung von Hirnströmen und Hirndurchblutung. Dabei geht der größte Teil der Immissionen nicht von den Antennen, sondern von den Endgeräten aus (vgl. Luzerner Zeitung vom 31.7.2020:26).

4.9

4.9

Datenmanagement und Datenschutz

139

Datenmanagement und Datenschutz

Weil immer mehr Medien softwarebasiert sind, hinterlassen die Menschen immer größere Mengen an digitalen Spuren, also Daten, die algorithmisch verarbeitet und aggregiert werden können. Solche Daten entstehen insbesondere in den verschiedenen Plattformmedien (vgl. Hepp 2021:81). Diese Plattformmedien können zu einer einzigen Internetrealität vereinigt werden. Dieses Metaverse kann wie folgt definierter werden: «Ein massiv skaliertes und interoperables Netzwerk von in Echtzeit gerenderten virtuellen 3D-Welten, die synchron und dauerhaft von einer praktisch unbegrenzten Anzahl von Nutzern mit einem individuellen Gefühl der Präsenz und mit einer Kontinuität der Daten wie Identität, Geschichte, Berechtigungen, Objekte, Kommunikation und Zahlungen erlebt werden können» (Ball 2022:43). Dabei scheint der Raum in der Moderne zu «schrumpfen» oder sich zusammenzuziehen, während die Zeit sich immer schneller zu bewegen scheint (vgl. Rosa 2013:60). Sie wird damit immer mehr zum knappen Gut. Die räumliche Nähe ist nicht länger notwendig für die Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen. «Soziale und emotionale Nähe und Distanz korrelieren nicht länger mit räumlicher Distanz, so dass unser Nachbar uns vollkommen fremd sein kann, während unser intimster Partner womöglich am anderen Ende der Welt lebt» (Rosa 2013:62). Umgekehrt ist die oft beobachtete progressive Schrumpfung des Raumes seit der Einführung von Eisenbahnen und Dampfschiffen eine Folge der schnelleren Durchquerung von Distanzen (vgl. Rosa 2005:62). Die schnellere Durchquerung des Raumes wird von diesem selbst als eine durch temporale Beschleunigungsprozesse verursachte «Vernichtung des Raumes durch die Zeit» eingeführt. Dabei gibt es «kein der Beschleunigung analoges, eigenständiges räumliches Veränderungsmoment in der Moderne; der Wandel der spatiotemporalen Strukturen wird primär durch ihre temporale Veränderungsdynamik angetrieben» (Rosa 2005:62). Das bedeutet, dass datengemäße Nähe immer weniger bis nichts mehr mit geografischer Nähe zu tun hat – und umgekehrt Verwandtschaftsbeziehungen immer weniger als nachbarschaftliche Nähe wahrzunehmen ist. In diesem Sinn entsteht ein neues Verhältnis von körperlicher Nähe und Entfernung – und die körperliche Nähe scheint an Wichtigkeit zu verlieren. Vertraute Daten werden zur Bedrohung – und umgekehrt verliert das Ferne an Bedrohlichkeit. Nähe und Ferne scheinen vertauscht – und verlieren generell an Sinn. Entsprechend produziert «die soziale Beschleunigung … neue Zeit- und Raumerfahrungen, neue soziale Interaktionsmuster und neue Formen der Subjektivität, und in der Folge transformiert sie die Art und Weise, in der die Menschen in die Welt gestellt oder geworfen sind – und die Art und Weise, in der sie sich in dieser Welt bewegen und orientieren» (Rosa 2013:66). In einer der bisher größten bekannten Cyberattacke in der Schweiz, nämlich auf Daten der Gemeinde Rolle am Genfersee, kam es im Sommer 2021 zu einer sogenannten

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4 Die Digitalisierung der Gesellschaft

Ransomware-Attacke. Eine Erpresserband namens Vice Society drang in das Computernetzwerk der Gemeinde ein – vermutlich über eine Schwachstelle des Betriebssystems. Die Gemeinde entdeckte den Angriff am 30. Mai 2021. Dabei wurden – entgegen der Gemeindepräsidentin Monique Choulat-Pugnale – sehr wohl sensitive Daten gehackt, unter anderem persönliche Daten der 6200 Einwohner mit Namen und Vornamen, AHV-Nummern, Adressen, Geburtstage, Zivilstandsangaben und manchmal die Mobiltelefonnummer oder sogar die religiöse Zugehörigkeit (vgl. Fumagalli 2021:9). Auch Zeugnisse mit Schulnoten, der Informationen von Kindern, die sich mit Corona-Viren infiziert hatten sowie Jahresbeurteilungen von Gemeindeangestellten mitsamt Kommentaren waren ersichtlich. Auf anderen Dokumenten waren die Bankangaben der Gemeinde sowie die Unterschriften des Kaderpersonals sichtbar sowie Konflikte der Gemeinde mit einer großen Immobilienfirma und einer multinationalen Firma (vgl. Fumagalli 2021:9). Das Nationale Zentrum für Cybersicherheit (NSSC) wurde eingeschaltet. Dieses rät allen Cybercentren der Gemeinden, die Sicherheitsmaßnahmen zu überprüfen und vor allem «den Grundschutz wie Virenschutz, Firewall, regelmäßiges Updaten der Hardund Software und regelmäßiges Speichern der Daten auf einem externen Datenspeicher, der nach dem Back-up-Vorgang vom Netz getrennt werden muss» (Fumagalli 2021:9), vorzunehmen. Nach Ansicht von Sibylle Berg (2021:10) verzögern Geheimdienste oft die Terrorbekämpfung und behindern die Polizeiarbeit. So dokumentierte der Anis-Amri-Fall das bewusste oder unbewusste Versagen der deutschen Inlandgeheimdienste, wobei ein Attentäter, der den Behörden bekannt war, einen Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt verübte (vgl. Kugler 2021:10). Während die NSO Group sagt, über 100 Anschläge verhindert zu haben, kritisierte Sibylle Berg (2021:10): «Das würde ich an ihrer Stelle auch behaupten. Das ist aber nicht bewiesen und erklärt zum einen nicht, warum massenhaft Journalistinnen und Journalisten sowie Aktivistinnen und Aktivisten überwacht wurden». Berg nennt unter anderem die FinFisher, die zur Gamma-Group gehört und von der deutschen Regierung unterstützt wird, oder die deutsche ZITis. Auch der CIA hat zahlreiche Troianer gebaut und Anschubfinanzierungen für «massgeschneiderte Spionagesoftware hergestellt, die heute von europäischen Polizeidiensten und weltweit fast allen Banken genutzt werden» (vgl. Berg 2021:11). Insgesamt soll die NSO Group 60 Kunden in 40 Ländern betrogen haben: «Die NSO Group ist bereit, ihre Software an jeden zu verkaufen – auch an Staaten wie SaudiArabien und Bahrein, die die Menschenrechte mit Füssen treten», so der Tel Aviver Cyber-Technologie und Bürgerrechtsaktivist Yuval Adam (vgl. Klimchuk und Schumacher 2021:3). Die Software des Unternehmens soll rund 50.000 Telefonnummern belauscht habe, und mehrere Staaten missbrauchten das Programm dazu, unliebsame Journalisten, Menschenrechtsaktivisten oder politische Kontrahenten auszuspionieren. Die Software kann aus Distanz auf Telefone zugreifen oder Kamera und Mikrofone fernsteuern. Sie ermöglicht das Mitlesen von E-Mails und Textnachrichten, das Abhören von Telefongesprächen und kann Passwörter mitlesen und Einträge in die Kalender-Apps einsehen.

4.9

Datenmanagement und Datenschutz

141

Teilweise liest Pegasus betroffene Mobiltelefone mit, ohne dass der Besitzer etwas tun muss. So fand etwa 2019 Facebook heraus, dass die Software eine Sicherheitslücke bei der WhatsApp-Anruffunktion ausnutzt, um Mobiltelefone zu infizieren (Schumacher 2021:3). 180 Journalisten und Redaktoren, 13 amtierende oder ehemalige Präsidenten, Regierungschefs und Premierminister waren von der Aktion betroffen. Zu den infizierten Zeitungen gehörten unter anderem die «Financial Times» in London, Reporter der «New York Times», des «Economist», «CNN» sowie die ungarische Rechercheplattform «Direct36» (vgl. Schumacher 2021:3). Zu den Überwachten zählten auch die Verlobte des ermordeten Journalisten Jamal Khashoggi, Hatice Cengiz, oder die saudische Frauenrechtlerin Loujain al-Hathoul. Die Letztere wurde kurz nach dem Angriff auf ihr Telefon in Dubai entführt und in Saudi-Arabien ins Gefängnis geworfen. Und noch schlimmer traf es den mexikanischen Reporter Cecilio Pineda, der kurz nach der Telefonüberwachung von einem Auftragsmörder vor einer Autowaschanlage ermordet wurde (vgl. Schumacher 2021:3). Folgende Staaten sollen Software der NSO Group missbraucht haben: Ungarn, Indien, Bahrain, Kasachstan, Aserbeidschan, Mexiko, Marokko, Ruanda, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate sollen die NSO Group beauftragt haben, Gegner zu überwachen. Demgegenüber betonte die NSO Group, mit Saudi-Arabien sechs Länder als Kunden abgelehnt und die Firma um Aufträge von 300 Mio. Dollar gebracht zu haben (vgl. Schumacher 2021:3). In den letzten zwanzig Jahren hat sich unter Führung der USA das Ensemble «Five Eyes» entwickelt: Seither fangen Geheimdienste der USA, Großbritanniens, Kanadas, Australiens und Neuseelands mittels weltweit verteilter Sonden an den großen SeekabelAnlaufstellen mit Hilfe von Betreiberunternehmen die übermittelte Kommunikation ab: «Die Amerikaner zapfen heute alle Kabel an», meinte ein hochrangiger französischer Telekomanbieter (vgl. Perragin und Renouard 2021:14). Dabei gelangte etwa mittels des Routersystems Cisco ein Teil der abgehenden Daten mysteriöserweise in die USA. Auch der britische Nachrichtendienst Government Communications Headquarters (GHHQ) zapfte 2012 Kabel an, welche Cookies von Mitarbeitenden des belgischen Telekommunikationsbetreibers Belgacom abgriff, das unter anderem die EU-Behörden zu seinen Kunden zählt (vgl. Peragim und Renouard 2021:14). Anfang 2021 gelang es den koordinierten polizeilichen Ermittlern von acht Ländern zusammen mit Europol, das Netzwerk der Schadenssoftware Emotet lahmzulegen. Emotet gehörte zu den gefährlichsten sogenannten Trojanern, die einen heimlichen Zugang zum Rechner der Opfer einrichtete. Die Schwierigkeit bei solchen Takedown-Aktionen ist zum einen, die führenden Köpfe der kriminellen Bande zu verhaften, und zum anderen, die möglichst weitgehende Ausschaltung der versteckten Infrastruktur und der infizierten Rechner (vgl. Mäder 2021b:16). Die Behörden haben die Kontrolle über drei Hauptserver zur Steuerung des Netzwerks übernommen und verteilten darüber ein Update, das die Schadsoftware für die Cyberkriminellen dauerhaft unbenutzbar machen soll. Laut unbestätigten Berichten sollen sich die Köpfe der Schadensoftware in Russland befinden.

142

4 Die Digitalisierung der Gesellschaft

Allerdings darf man solche punktuellen Erfolge nicht überbewerten – es folgen einfach neue Gruppierungen, welche die entstandenen Lücken füllen (vgl. Mäder 2021b:16).

4.10

Die neue Energieabhängigkeit

Durch die Digitalisierung ist eine verstärkte und zweifache Energieabhängigkeit entstanden. Zum einen ist der Strom inzwischen von fundamentaler Bedeutung für viele kritische Infrastrukturen geworden, und ohne ihn läuft praktisch nichts mehr. Von der Wasserversorgung, über den Online-Handel bis hin zu den Kommunikationsmedien sind praktisch alle Einrichtungen abhängig von der Elektrizität, und das in zunehmendem Maß. Damit wird das Stromnetz selbst und die Stromversorgung zu der kritischen Infrastruktur schlechthin (vgl. Lange und Santarius 2018:42). Nicht zufällig hat die russische Armee im Ukrainekrieg im Oktober 2022 die gesamte ukrainische Stromversorgung zum Ziel der Angriffe genommen – ohne Strom und Wärme wird ein Land heute unbewohnbar. Zum anderen entsteht durch die Digitalisierung das Problem, dass kontinentale Stromnetze durch Angriffe über das Internet fast von überall her unterbrochen werden können. Selbst wenn die Stromversorgung möglichst wenige Schnittstellen mit dem Internet haben sollte – wie das Lange und Santarius (2018:42) fordern –, sie bleibt immer angreifbar. Um die Resilienz des Stromsystems zu verbessern, sollte eine möglichst dezentrale Organisation des Energiesystems angestrebt werden (vgl. Lange und Santarius 2018:44). Wenn möglich, sollten viele kleine Einheiten – etwa auf Quartier- oder Stadtteilebene – möglichst viel Strom produzieren, der direkt dem Verbrauch zugeführt wird. Das kann durch lokale Solaranlagen, durch Miniwindkraftwerke oder nahe gelegene größere Stromerzeuger geschehen. Dadurch würden die Haushalte unabhängiger von Angriffen oder großflächigen Ausfällen. Doch – wie das die Diskussion um mögliche Strommangellagen in der Schweiz im Jahr 2022 gezeigt hat –, ist das technisch noch weitgehend illusorisch: Auf der einen Seite können sich sogar ganze Länder wie die Schweiz aus technischen Gründen nicht einmal vom europäischen Stromnetz abtrennen und zum anderen fallen bei einem Blackout auch sämtliche lokalen Stromerzeugungsmöglichkeiten wie Solarpanel auf den Dächern aus oder werden zwecks Netzstabilität automatisch abgeschaltet, weil praktisch überall rein technisch die Anlagen fehlen, die Hausstromversorgung von der Stromversorgung abzukoppeln. Außerdem müssten lokale Photovoltaikanlagen mit eigenen lokalen Stromspeichern – etwa Powerbanken oder Lithiumakkumulatoren – versehen sein, um Stromausfälle zu überbrücken. Hier besteht ein enormer Handlungsbedarf. Die Colonial Pipeline ist die wichtigste Versorgungsader der USA für Erdölprodukte. Sie transportiert fast die Hälfte der an der Ostküste konsumierten Mengen an Benzin, Diesel, Kerosin und Heizöl. Im Mai 2021 musste die Betreiberfirma einige IT-Systeme abstellen, was zu einer temporären Stilllegung aller Pipeline-Operationen führte. Bereits in der Vergangenheit hatten Angriffe auf Solarwinds für Aufsehen gesorgt: Ende 2019

4.11

Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche

143

war es russischen Hackern gelungen, in die Systeme der texanischen Softwarefirma Solarwinds einzudringen. Laut den US-Behörden war der russische Auslandgeheimdienst SWR Urheber des Angriffs. Und später konnte der Angreifer ihre Schadsoftware in ein offizielles Updaten einschleusen und über 16.000 Kunden von Solarwinds infizieren (vgl. Hosp 2021:23).

4.11

Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche

Die Studie einer Kinderärztin in den USA hat sich damit befasst, was geschieht, wenn Mütter mit ihren sechsjährigen Kindern in einem Fast-Food-Restaurant speisten. Dabei wurden die Mütter und Kinder gefilmt. Fast ein Viertel der 225 Mütter holte beim Essen ihr Smartphone aus der Tasche. Die Mütter, welche das Mobiltelefon herausholten, sprachen rund 20 % weniger mit ihren Kindern, die non-verbale Kommunikation ging sogar um 39 % zurück, und die Kinder wurden zu 28 % seltener von ihrer Mutter zum Essen ermuntert. Noch deutlicher war der Rückgang der direkten Kommunikation, wenn eine unbekannte Speise zum Essen gereicht wurde: Mutter und Kind redeten 33 % weniger miteinander, die non-verbale Kommunikation nahm um 58 % ab und die Ermunterung, zu essen, war um 72 % seltener (vgl. Spitzer 2020:11). Diese Zahlen sind unter anderem auch deshalb bedeutsam, weil in der direkten familiären Kommunikation und beim gemeinsamen Essen auch Lernprozesse möglich sind, die für die kindliche Entwicklung wichtig sein können. Eine Untersuchung kanadischer Wissenschaftlern bei 2441 Kindern zu ihrem Entwicklungstand im Alter von zwei, drei und fünf Jahren ergab, dass Bildschirmkonsum – also Fernseher, Computer, Tablet oder Smartphone – im Alter von zwei oder drei Jahren zu einer Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung zwischen drei und fünf Jahren führte (vgl. Spitzer 2020:41). Gleichzeitig führte der Rückstand in der Entwicklung zu noch mehr Bildschirmkonsum. Ganz ähnliche Ergebnisse resultierten im September 2018 aus einer Untersuchung in den USA bei 4524 Kindern im Alter von 8 bis 11 Jahren: Je höher der Bildschirmkonsum, desto stärker war die geistige Entwicklung der Kinder beeinträchtigt. Und die deutsche BLIKK-Studie im Jahr 2017 von Kinderärzten bei 5573 Kindern ergab, dass der Smartphone-Gebrauch bei zwei- bis fünfjährigen Kindern zu Konzentrationsschwierigkeiten und zu Sprachstörungen führte, bei 8- bis 14-Jährigen zu Aufmerksamkeitsstörungen und Übergewicht und bei 13- bis 14Jährgen zu Kontrollverlust (vgl. Spitzer 2020:41). Aufgrund dieser Ergebnisse forderte der Präsident des deutschen Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte ein generelles Smartphone-Verbot für Kinder unter 12 Jahren. Stefanie Schmidt, Assistenzprofessorin für klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Bern, beobachtete deutlich mehr Fälle von Ängstlichkeit, depressiven Zuständen und anderen psychischen Problemen: «Jugendliche weinen mittlerweile

144

4 Die Digitalisierung der Gesellschaft

gleich viel wie Kinder im Vorschulalter», stellte Schmidt (vgl. Rostetter 2021:9) fest. Einer der Stressfaktoren sei der Kontaktverlust zu Gleichaltrigen. Umgekehrt nahm die Zeit der Jugendlichen vor dem Bildschirm zu. So stellte die James-Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im April 2020 fest, dass ein Drittel aller 12- bis 19-Jährigen in der Schweiz ein eigenes Abo besaßen, um Filme und Serien oder Musik zu streamen. 90 % der Jugendlichen hatten ein Konto bei Instagram oder Snapshot, über 4/5 nutzten die Plattform mehrmals pro Woche und 99 % besaßen ein eigenes Smartphone, das sie im Durchschnitt 3 h und 47 min pro Wochentag benutzten – an Wochenenden über 5 h am Tag (vgl. Rostetter 2021:9). Jugendliche ohne hohe Medienkompetenz, Selbstreflexion und Mediendisziplin haben schlicht nur beschränkte Macht über ihr Medienverhalten, weshalb sie nicht mehr von TikTok, Fortnite, Netflix und ähnlichen Programmen wegkommen, meinte Daniel Süss von der ZHAW. Während der Corona-Zeit im Frühling 2020 verbrachten in Deutschland Jugendliche im Durchschnitt 140 min mit Computerspielen. Im Vergleich zum Herbst 2019 entsprach dies einer Steigerung um 75 % (vgl. Rostetter 2021:9). In der gleichen Zeit stieg die Nutzung von Social Media um 66 %. Für Olivier Steiner, Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz, ist der Fernunterricht vor allem für sozio-ökonomisch benachteiligte Jugendliche ein Problem. Diese Jugendlichen sind aufgrund technischer Voraussetzungen oder wegen eines bereits problematischen Nutzungsverhaltens am stärksten betroffen: «Statt dem Unterricht zu folgen, spielen sie jetzt erst recht Fortnite», so Steiner (vgl. Rostetter 2021:9). Im Rahmen einer Studie verschenkten Wissenschaftler in den USA ein iPhone an 24 Studenten, die zuvor kein Smartphone besessen hatten. Diese konnten das Gerät während eines Jahres völlig frei benutzen, und eine aufgespieltes-Software zeichnete die Nutzungsgewohnheiten auf. Zu Beginn wurde der Nutzen des Smartphones von den Studierenden sehr positiv eingeschätzt, aber nach einem Jahr zeigte sich, dass das Smartphone nichts zum Lernprozess beitrug, weder die Hausaufgaben noch die Leistungen bei Prüfungen wurden positiv beeinflusst, jedoch lenkte das Gerät stark ab. Die Noten der Studenten verschlechterten sich während des Smartphone-Jahres signifikant (vgl. Spitzer 2020:45). Angesichts dieser Ergebnisse ist wenig erstaunlich, dass eine Studie in Großbritannien an neun Sekundarschulen in vier Städten ergab, dass das Verbot von Mobiltelefonen an den Schulen eine signifikante Verbesserung der Schulleistungen ergab, und zwar umso mehr, je schwächer die Leistungen der Schüler bei Einführung des Mobiltelefon-Verbots gewesen waren (vgl. Spitzer 2020:47). Auch langfristig verbesserten sich die Leistungen signifikant, wenn das Mobiltelefon-Verbot an den Schulen bestehen blieb. Auch ein Vergleich des Lernerfolgs durch gedruckte Bücher und E-Books ergab, dass der Lernerfolg bei ersteren größer und nachhaltiger war als beim Lernen an Bildschirmen (vgl. Spitzer 2020:49). Beim Lesen von Büchern wurde der Inhalt deutlich besser verstanden als beim Lesen an Bildschirmen, und vom Inhalt blieb mehr im Gedächtnis haften. Außerdem führte das Mitschreiben im Unterricht zu einem besseren Lernerfolg als das Mittippen, wie bereits eine Studie in den USA 2014 gezeigt hatte (vgl. Spitzer 2020:50). Und wenn ein Mobiltelefon auf dem Schreibtisch lag ohne zu klingeln, reduzierte es das

4.12

Brain-Computer-Interfaces (BCI)

145

Denkvermögen – ein Smartphone in Sicht- und Griffweite reduzierte sogar den IQ (vgl. Spitzer 2020:50). Und eine Studie an der US-Militär-Akademie West Point ergab, dass in Klassen ohne Computer signifikant besser gelernt wurde als in Klassen mit digitaler Technik (vgl. Spitzer 2020:51). Wenn man bedenkt, dass 188 Länder Schulen und andere Bildungseinrichtungen während der ersten Zeit von Covid-19 ganz oder teilweise geschlossen waren, ist das Ausmaß der Corona-Pandemie für Kinder und Jugendlich kaum zu überschätzen – und auch die Bedeutung des digitalen Unterrichts. Betroffen waren 1,5 Mrd. Kinder und Jugendliche (vgl. Dahinden 2020:7). Der webbasierte Fernunterricht («distant learning») erlebte einen großen Aufschwung. Nach Ansicht von Dahinden (2020:7) schwebte der UnicefExekutivdirektorin Henrietta Fore vor, dass in Zukunft jede Schule auf der Welt mit dem Internet verbunden sei – so könnte mit bescheidenem Aufwand Zugang zum Wissen und zu Lerninstrumenten gesichert werden. Dagegen wirke in einem zweiten Bereich, der Armutsbekämpfung, die digitale Kluft problematisch. So könnte etwa durch das Internet die Bewältigung von Pandemien erleichtert, psychosoziale Betreuungsangebote verbessert und die Telemedizin ausgebaut werden. Das ist zwar an sich richtig, nur: Werden da medizinische Unternehmen und Spitäler mitwirken? Apple ging unter anderem gegen Kinderpornos auf iPhones vor. Im Jahr 2020 wurden dem amerikanischen Zentrum für vermisste Kinder (NCMEC) 21,4 Mio. kinderpornografische Aufnahmen durch automatisierte Erkenntnissysteme mitgeteilt. Mehr als 20 Mio. davon stammten von Facebook, von Apple kamen dagegen nur gerade 265 Meldungen. Dies, weil Apple die Privatsphäre von Nutzern besonders gut schützt. Dabei wird die gesendete Kombination von Buchstaben und Zahlen, so genannte «Hash», mit Hashes von kinderpornografischen Bildern verglichen. Die Kinderschutzorganisation unterhält eine Datenbank gemeinsam mit den Behörden. Nach Feststellung einer bestimmten Zahl solcher Bilder werden Mitarbeitende kontrollieren, das Nutzerkonto sperren und einen Bericht an die Kinderschutz-Organisation schicken – allerdings verrät die Firma nicht, wie viele solche Meldungen es braucht (vgl. Fulterer 2021:25). Ursprünglich wurden diese Schutzfunktionen erst für amerikanische Kunden aktiviert. Und noch im Dezember 2020 deaktivierte Facebook eine Funktion zum Erkennen von missbräuchlichen Inhalten in der EU, aus Angst, sie würde die geltende Privacy-Richtlinie verletzen. Daraufhin beschloss das EU-Parlament im Juni 2020 eine Ausnahmeregel für das Aufspüren von Kinderpornografie (vgl. Fulterer 2021:25).

4.12

Brain-Computer-Interfaces (BCI)

Bereits 2018 berichteten Bauer und Vukeli´c (2018:148), dass sich laut einem von der EU geförderten Bericht schon 148 Brain-Computer-Interface verwandte Stakeholder auf dem Markt befanden, und zwar in sehr unterschiedlichen Branchen wie Automobile,

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Luftfahrt, Raumfahrt, Medizin, Rehabilitation und Robotik sowie in der Unterhaltungsindustrie und im Marketingbereich. Unternehmen wie Microsoft und Philips befassten sich bereits seit Jahren mit der Anwendung von neurowissenschaftlichen Technologien in der Mensch-Technik-Interaktion (vgl. Bauer und Vukeli´c 2018:148). Das von Elon Musk gegründete Start-up-Unternehmen «NeuralLink» investierte ebenfalls große Forschungssummen in die Entwicklung von Mensch-Computer-Interfaces. Allerdings ist die angewandte Neurowissenschaft noch ein relativ junges Forschungsgebiet, und der Einsatz von neuroadaptiven Techniken ist immer noch stark zukunfts- und möglichkeitsorientiert (vgl. Bauer und Vukeli´c 2018:149). Insbesondere bei der Nutzungsakzeptanz und der mobilen Sensortechnologie gibt es laut diesen Autoren noch erhebliches Entwicklungspotenzial. Dabei stellen sich auch grundsätzliche Fragen, angefangen bei der Autonomie des Menschen, über die Abhängigkeit von Technologien bis hin zum Schutz der Privatsphäre und zum Datenschutz (vgl. Bauer und Vukeli´c 2018:149). Fetzer (2020:15 f.) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir immer mehr damit rechnen müssen, dass unser digitales Gegenüber kein Mensch mehr ist, sondern ein Social Bot oder Chatbot, dass wir mit einer Künstlichen Intelligenz kommunizieren und nicht mehr mit einem Menschen. Dabei stellen sich auch ganz neue Fragen: «Muss man sich bedanken und verabschieden, wenn man die Kommunikation mit einem Algorithmus beendet, weil man die erbetene Auskunft erhalten hat?» (Fetzer 2020:16). Während sich ein paar unverbesserliche Optimisten einen vernünftigeren oder gar höflicheren Umgang mit sprechenden Algorithmen (vgl. Fetzer 2020:16) und damit auch mit anderen Menschen erhoffen, deuten einige Zeichen eher auf das Gegenteil: Die Kommunikation wird zunehmend knapper, unfreundlicher und liebloser – das ließ sich bereits seit der Verbreitung des E-Mail-Verkehrs oder der SMS-Kommunikation feststellen. Besitzen Künstliche Intelligenzen oder Algorithmen auch so etwas wie eine «Würde», anlog zur Menschenwürde – welche Minimalstandards sind für die Kommunikation mit ihnen erforderlich? Es ist zweifellos ein hehres Ziel zu fordern, dass Mensch Mensch und Maschine Maschine bleiben sollen und die Unterschiede erkennbar bleiben müssen (vgl. Fetzer 2020:16) – nur: was geschieht, wenn Mensch und Maschine zunehmend verschmelzen: analog durch Einpflanzung von Mikrochips und digital durch Erweiterung von Denk- und Kommunikationsmöglichkeiten? Laut Klöcker (2020:33) bleibt in der Mensch-Maschine-Kommunikation das grundlegende Problem bestehen, «dass der Computer den Menschen nicht versteht, sondern der Mensch umgekehrt gezwungen ist, die Arbeitsweise des Computers zu verstehen». Wenn ein unerwarteter Fehler auftrete, zum Beispiel, wenn eine Datensammlung anders aufgebaut sei, als das neue Programm erwarte, verweigert die Anwendung einfach ihren Dienst (vgl. Klöcker 2020:33 f.). Der Computer habe einfach keine «Empfindung» dafür, wenn er eine menschliche Absicht nicht erkenne – er verweigere dann einfach den Dienst. Der Computer kann nur vorgegebene logische Regeln befolgen – dafür braucht er aber immer

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einen Input von außen. Zudem muss das Computerprogramm als logisches System widerspruchsfrei aufgebaut sein (vgl. Klöcker 2020:34). Menschliche Fähigkeiten gehen jedoch weit darüber hinaus – so kann der Mensch im Unterschied zur Maschine auch unlogisch denken oder entgegen der Logik handeln. Vor dem Hintergrund der physischen Verschmelzung von Mensch und Maschine erscheint das Leiblichkeits- oder Körperlichkeitsargument eine neue Dimension zu erhalten. Ein wichtiger Punkt in dieser Frage scheint das Recht auf persönliche Autonomie und Entscheidungsfreiheit zu sein: Jeder Mensch muss das uneingeschränkte Recht auf körperliche Unversehrtheit, aber auch auf körperliche Selbstbestimmung besitzen: Die Entscheidung über eine Verschmelzung mit digitalen Entitäten muss von jedem Menschen selbst getroffen werden können – und zwar sowohl in Form von Ablehnung als auch in Form von Zustimmung. Wie bereits die Fragen der obligatorischen Impfung und des mehr oder weniger sanften Zwangs dazu während der Corona-Pandemie gezeigt haben, sind staatliche oder andere Gremien sehr schnell bereit, im tatsächlichen oder vermeintlichen Notfall das individuelle Recht auf Selbstbestimmung auszuhebeln, etwa wenn angeblich die Mehrheit von einer – wie auch immer gearteten Gefahr – bedroht ist. In diesem Punkt scheinen mir nicht wenige erklärte Trans-Humanisten mehr als naiv zu sein. Demgegenüber hat Pater G. Kirchschläger (2021) die Definition von künstlicher Intelligenz für irreführend gehalten und er schlug vor, die Terminologie «datenbasiertes System» zu verwenden (vgl. Meier 2021:51). Laut Kirchschläger sollte die datenbasierte Sammlung von Informationen – etwa von Anbietern von Videokonferenzen oder sozialen Medien – gestoppt werden. Dies, weil nur noch Handel ohne Menschenrechtsverletzungen akzeptiert werden sollte (vgl. Kirchschläger 2021).

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Der Digitalisierungsschub durch Covid-19

Zusammenfassung

Digitalisierung ist kein Ersatz für Face-to-Face-Interaktionen, insbesondere nicht in den Schulen. Die Covid-19-Pandemie hat vielerorts zu einem Digitalisierungsschub geführt oder diesen verstärkt. Schwächen in der Informatik-Infrastruktur wurden ebenso sichtbar wie Erhebungsmängel in der Datenerfassung und im Datenmanagement.

Diverse Studien haben ergeben, dass Digitalisierung kein Ersatz für Face-to-FaceInteraktionen ist, insbesondere nicht in den Schulen (vgl. Jäggi 2021, S. 135). So nimmt die Aufmerksamkeit bei Video-Konferenzen etwa deutlich schneller ab als bei wirklichen Treffen, und spontane Wortäußerungen sind selbst bei kleinen Konferenzen von drei bis fünf Personen schwieriger – sehr viel hängt von der Moderation ab. Aus all diesen Gründen benötigen Videokonferenzen und Online-Unterricht viel mehr mentale Energie, und zwar sowohl beim aktiveren Teilnehmen als auch bei der Aufnahme von Inhalten. Auch Nida-Rümelin und Zierer (2020:8) betonten, dass der durch die Corona-Krise ausgelöste Digitalisierungsschub in den Schulen in keiner Weise den direkten Unterricht ersetzen kann. Die Covid-19-Pandemie hat vielerorts zu einem Digitalisierungsschub geführt oder diesen verstärkt. Schwächen in der Informatik-Infrastruktur wurden ebenso sichtbar wie Erhebungsmängel in der Datenerfassung und im Datenmanagement. Interessant ist, dass dabei nicht unbedingt zentralisierte Staaten mit einer einzigen Erfassungsstelle im Vorteil waren – ganz im Gegenteil. So meinte etwa der Zürcher Kantonsstatistiker Andreas Amsler auf die Frage, ob föderalistisch strukturierte Staaten wie die Schweiz dabei nicht einen entscheidenden Nachteil hätten: «Nein, ganz im Gegenteil. Jeder, der Daten erhebt, die unter seiner Hoheit stehen, der soll und kann die Daten veröffentlichen, wenn sie

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C. J. Jäggi, Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42206-6_5

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zusammenpassen. Es kann nicht die Lösung sein, dass eine einzige Stelle die ganze Datenerhebung macht, sie bereinigt, sie publiziert und dann auch noch alle Fragen beantwortet. Das führt zu einer Überlastung. Dezentralität ist gefragt. Und das stellt der Föderalismus sicher. Das ist eine grosse Chance, um Dienstleistungen skalieren zu können. Aber es bedingt, dass man vom Gleichen spricht, in der gleichen Art und Weise beschreibt und so publiziert, dass die Interoperationalität gewährleistet ist… Das ist die Sicherstellung, dass verschiedene Systeme, Daten, Applikationen miteinander kommunizieren können. Föderalismus sichert Interoperationalität. Gerade in einer Krise kann keine einzelne Stelle mit dem grösseren Bedarf an Informationen umgehen, die in immer höherer Geschwindigkeit verlangt werden» (Amsler 2022:12). In diesem Sinn – so Amsler (2022:12) – wäre Föderalismus weniger ein Verhinderer als ein Treiber der Digitalisierung, allerdings nur, wenn Schwachstellen und Ressourcen zielgerichtet angegangen und neue Netzwerklösungen gesucht werden. Wenn man bedenkt, dass zu Beginn und weit in die Corona-Jahre hinein die Schweizer Ärztepraxen und Spitäler dem Bundesamt für Gesundheit BAG ihre Fallzahlen und Daten noch per Fax übermittelten – also mit einem Medium der 1980er Jahre! – sieht man sofort, dass Krisen wie die Corona-Pandemie nicht nur Missstände sichtbar machen, sondern auch der Digitalisierung Schub verleihen können. Entsprechend war auch der Einsatz der Schweizer Contact-Tracing-App «SwissCovid» wenig erfolgreich: Während sie in Singapur von fast 80 % genutzt wurde, lag in der Schweiz Anfang Januar 2021 die Nutzung der «SwissCovid»-App bei 1,8 Mio. oder gerade mal rund 21 % der Bevölkerung (vgl. Wüstholz 2021:6). Wenn es stimmt, dass – wie von einem Team der Universität Oxford berechnet – der positive Effekt erst bei einer Nutzerquote von 60 % einer Herdenimmunität entspricht, dann war der Erfolg in der Schweiz minimal. Allerdings kam man in einer Folgeuntersuchung zum Ergebnis, dass immerhin ab einer Quote von 15 % Infektionen und Todesfälle reduziert werden konnten. Aber in der Praxis sah es viel düsterer aus: In einer im August 2020 veröffentlichten Studie kam das Londoner University College zum Ergebnis, dass «keine empirischen Belege für die Wirksamkeit der automatisierten Ermittlung von Kontaktpersonen» gefunden werden konnten (vgl. Wüstholz 2021:6). Auch die Kirchen waren von der Corona-Pandemie und der Digitalisierung betroffen. In Deutschland und in der Schweiz wurden dafür rund 6500 Pfarrpersonen und Seelsorgende aus 18 Ländern befragt (vgl. dazu Scheider 2021:30 f.). Es entstand eine Vielzahl von kleinen Andachtsformen: Kurznachrichten, SMS-Nachrichten oder betextete Bilder – und diese wurden stark besucht. 95 % derer, die im ersten Lockdown Gottesdienste online besuchten, taten dies zum ersten Mal. Darunter waren auch viele Leute, die nicht in die Sonntagsgottesdienste gehen. Bei YouTube-Gottesdiensten bekamen die Pfarrpersonen über Chats so viele Feedbacks wie sonst nie. Später im Jahr gingen viele Leute bei der Predigt raus und wählten sich danach wieder ein (vgl. Schneider 2021:30). Bei der reformierten Kirche war der Support zufriedenstellender als bei der katholischen Kirche. Demgegenüber brach der gemeindliche Bildungsbereich quasi zusammen, insbesondere die Senioren und Seniorinnen wurden praktisch nicht mehr erreicht, was auch mit deren

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Digitalausstattung zu tun hatte. Später brachten mehrere Gemeindebriefe das Angebot ein, dass auf Wunsch ein Tablet vorbeigebracht werden konnte. Vor allem bei der Trauerkommunikation erwiesen sich fehlende Vernetzungen als hinderlich. Insgesamt besteht digitaler Handlungsbedarf, aber man will auch Reflexion (vgl. Schneider 2021:31). Unter föderalen Rahmenbedingungen gerade in einer Pandemie besteht eine große Herausforderung darin, Entscheidungskompetenzen zur Regelung «eindeutig, transparent und verständlich» (Jochimsen 2022:7) zu machen. Das ist leichter gefordert als umgesetzt, weil die große Zahl beteiligter Institutionen nur schwer zu überblicken ist. So zählen etwa in deutschen Bundesländern das Robert Koch-Institut (RKI), das Bundesamt für Bevölkerungs- und Katastrophenschutz (BBK) und rund 400 Gesundheitsämter auf kommunaler Ebene dazu (vgl. Jochimsen 2022:8). Dazu braucht es vor allem anderen im Gesundheitswesen einen Digitalisierungsschub, insbesondere zu den Übertragungswegen und -orten des Virus. Eine Digitalisierung des Gesundheitswesens kann die Daten und in der Folge die Erkenntnisse liefern, die sowohl für die medizinische als auch für die politischen Entscheidungen notwendig sind. «Ein resilientes Gesundheitssystem muss widerstands- und anpassungsfähig sein. Robuste, flexible und diversifizierte Lieferketten tragen dazu bei, Angebotsschocks zu dämpfen» (Jochimsen 2022:9). Zu einem Digitalisierungs-Fiasko hat offenbar das Bundesamt für Gesundheit in der Schweiz beigetragen. Genauso wichtig wie die Datenqualität ist die Datenaufbereitung. Da macht die Schweiz – so Skinner (2021:19) – «auch dank des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) … eine erbärmliche Figur». Während etwa Deutschland das Internet-Neuland in der Corona-Krise mit bedeutsamer Infrastruktur erschloss, versagte das schweizerische Bundesamt für Gesundheit an allen Fronten. Dabei weist das BAG an verschiedenen Fronten Digitalisierungsprobleme auf, und auch andere Bundesstellen: etwa neben der Corona-Pandemie beim E-Voting die Bundeskanzlei, welche die elektronische Stimmabgabe auf nationaler Ebene jahrelang vorantrieb und danach aussetzen musste. Das wohl größte Digitalisierungs-Debakel betrifft das elektronischen Patientendossier (EPD), eine Sammlung der persönlichen gesundheitlichen Informationen. Relativ vernichtend ist die Bilanz des Politikwissenschaftlers Michael Bang Petersen: Während die Ungeimpften von den Geimpften als «unintelligent» und «nicht vertrauenswürdig» wahrgenommen wurden und in den USA sogar die Geimpften bereit waren, «eine teilweise bestrafende Haltung gegenüber den Ungeimpften» wahrzunehmen – so zeigten die Geimpften die «Bereitschaft, ihnen Arbeitslosengeld zu verweigern oder das Recht auf freie Wahl des Wohnortes zu entziehen» (Bang Petersen 2023:7) und befürworteten den Ausschluss der Ungeimpften aus familiären Beziehungen – während Ungeimpfte «in der Regel keine diskriminierenden Eistellungen gegenüber Geimpften» zeigten (vgl. Bang Petersen 2023:7). Das ist insofern erstaunlich, als in den Medien während der CoronaZeit immer wieder die Uneinsichtigkeit der Impfgegner kritisiert und angeprangert worden war. Michael Bang Petersen ist Leiter des Projekts Hope («How Democracies Cope with Covid-19»), das die Auswirkungen der Pandemie weltweit untersucht. Für seine Studie während der Pandemie wurde er von der britischen Königin zum Ritter geschlagen und im

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Rahme der Studie «Discriminatory attitudes against unvaccinated people during the pandemic» wurden über 10.000 Personen auf allen Kontinenten befragt, so in den USA, in Russland, in China, In Indien, in Brasilien und in mehreren europäischen Ländern. Antipathien gegen Ungeimpfte konnte der Forscher lediglich in den USA und in Deutschland nachweisen (vgl. Bang Petersen 2023:7). Bang Petersen schloss aus den Ergebnissen seiner Studien: «In Ländern, in denen Kooperation eine wichtige gesellschaftliche Norm darstellt – zum Beispiel Dänemark, Australien oder auch China – waren diskriminierende Einstellungen weiter verbreitet. In den Vorurteilen spiegelt sich also die Erwartung wider, dass der Einzelne aktiv zum Gemeinwohl beitragen muss und bestraft werden darf, wenn er seinen Beitrag verweigert. Gerade diese Länder verzeichneten oft besonders niedrige Opferzahlen. In Osteuropa hingegen, wo die Todesraten höher waren und gleichzeitig weniger kooperative Normen gelten, ermittelten wir weniger Vorurteile» (Bang Petersen 2023:7). Eine eher indirekte, aber trotzdem gravierende Auswirkung der Corona-Pandemie bestand darin, dass die globalen Vernetzungen und Abhängigkeiten der Wertschöpfungsketten so sichtbar wurden, wie kaum je zuvor. Zentraler Bestandteil einer globalisierten Wertschöpfungskette ist die Logistik (vgl. Komlosy 2020:101). Verbunden mit einer Justin-Time-Production, in welcher die Lagerhaltung aus Kostengründen auf ein Minimum reduziert wird, hat jede Unterbrechung der globalen Logistik katastrophale Folgen. Infolge der in der Pandemie verhängten Lockdowns mussten viele Industrieunternehmen auf der ganzen Welt die Produktion zeitweise verringern oder gar einstellen, so etwa VW, Fiat, Ford, Renault, Opel, Peugeot, Porsche, Daimler und BMW – unter anderem weil die Lieferungen aus China ausblieben (vgl. Komlosy 2020:105). Auch in der Bauwirtschaft, in der Metallindustrie und in vielen anderen Wirtschaftsbereichen kam es zu Engpässen – bei den Solarpanels dauerten die Engpässe bis 2022 und darüber hinaus. In einzelnen Seehäfen stapelten sich leere Container, die an anderen Orten wiederum fehlten. Umgekehrt verlängerten die Lockdowns die Lieferketten bis vor die Haustür der Konsumenten, weil die Geschäfte ganz oder teilweise geschlossen waren. Der Online-Handel erlebte einen ungeahnten Aufschwung. Hauslieferdienste wurden ausgebaut oder entstanden neu – und all das wäre ohne weitgehende Digitalisierung kaum möglich gewesen. Überhaupt hat der Online-Handel durch die Corona-Pandemie kurzfristig einen deutlichen Aufschwung erlebt. Während in der Schweiz Online-Händler 2019 10,3 Mrd. Franken umsetzten, waren es 2021 14,4 Mrd. Franken, also ein Plus von fast 40 %. Doch seit Pandemie-Ende hat sich das Wachstum wieder abgeschwächt: Für 2022 rechneten Beratungsfirmen nur mit einer leichten Zunahme auf 15,1 Mrd. Franken oder um knapp 5 % (vgl. Ehrbar 2022:2). Besonders auch Microsoft und Googles Mutterkonzern Alphabet, aber auch andere Tech-Konzerne profitierten vom Technologisierungsschub während der Corona-Pandemie. Das zeigten auch die Zahlen des ersten Quartals 2021. So stiegen die Umsatz-Zahlen im Vergleich zum Vorjahr in den USA bei Alphabet zwischen Januar und März 2021 um 34 %, der Gewinn im Vergleich zum Vorjahr sogar um 162 % (vgl. Langer 2021:22). Bei

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Microsoft nahm der Umsatz um 19 % und der Gewinn um 31 % zu. Den größten Umsatz machte Google bei den Anzeigen mit 32 Mrd. US-Dollar, was einen Marktanteil von 89 % bedeutete. Die Videoplattform YouTube hatte im ersten Quartal 2021 einen Marktanteil von 73 %, und der Umsatz stieg bei dieser Firma um 50 % auf 6 Mrd. US-Dollar (Langer 2021:22). Umgekehrt hatten auch viele Online-Dienste Probleme mit Covid-19-Fake-News: So erkannte etwa Facebook, dass es große Probleme mit Falschnachrichten hatte. Eine Studie untersuchte zwischen dem 28. Mai 2019 und 27. Mai 2020 in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und den USA die «Infodemie» bei Facebook und verlangte, dass erstens rückwirkend Richtigstellungen zu den Faktenchecks veröffentlicht und zweitens der Algorithmus «entgiftet» werden solle, indem Beiträge mit Falschnachrichten nicht mehr weiterverbreitet würden (vgl. Stauffacher 2020:23). Allerdings hat Facebook auch selbst Bemühungen vorgenommen, um Falschinformationen zu bekämpfen. So wurden allein von April bis Juni 2020 weltweit mehr als 15 Mio. Beiträge zu Covid-19 mit einem Warnhinweis versehen sowie 7500 Beiträge waren entfernt worden, weil sie gesundheitsschädlich waren (vgl. Stauffacher 2020:23). In der Zwischenzeit waren 70 Aktenprüfer in 50 Sprachen aktiv, seit Mai 2020 auch in der Schweiz. Facebook betonte, dass 95 % der Nutzerinnen und Nutzer das Label der als problematisch bezeichneten Beiträge auch beachten würden. Auch die Schulen ersetzten den Präsenz-Unterricht während der Pandemie zeitweise weitgehend durch Online-Unterricht. In einzelnen Ländern – so in der Türkei – waren die Schulen während Monaten oder Jahren geschlossen. Dabei zeigten sich auch sehr bald die Grenzen des Online-Unterrichts. Einerseits löste sich die Schule als sozialer Raum zeitweise auf (vgl. Krautz 2020:230), anderseits forderte eine wachsende Zahl von Eltern und Lehrkräften im Anschluss an die Corona-Pandemie im Unterricht weniger statt mehr Digitalisierung, eine Rückkehr zum klassischen, nicht digitalen Unterricht und mehr Faceto-Face-Interaktionen von Lehrpersonen und Kindern (vgl. Krautz 2020:231 f.). Einzelne Beobachter – so Krautz (2020:223) – meinten sogar, dass in einer Reihe von Staaten die Corona-Krise als Change-Instrument für die Digitalisierung im Bildungsbereich benutzt oder gar missbraucht wurde. Sehr einschneidenden Einfluss auf die Digitalisierung hat die Null-Covid-Politik im chinesischen Wirtschaftsleben hinterlassen – insbesondere auch bei ausländischen Firmen. Der CEO des besonders auf den chinesischen Markt ausgerichteten Genfer Komponentenherstellers Lem berichtete, dass er aufgrund der Corona-Pandemie seit drei Jahren nicht mehr in China war. Und der Divisionsleiter Stephan Wartmann vom Industriekonzern Brugg Group war vor der Pandemie fünf- bis sechsmal pro Jahr nach China gereist, jedoch seither über zwei Jahre nicht mehr dort gewesen (vgl. Feldges und Kamp 2022:21). Die Manager im Ausland führten in der Pandemiezeit ihre Unternehmen und Niederlassungen in China vor allem über Videokonferenzen und andere digitale Tools. Neben der politischen Entwicklung Chinas hin zu einem starken Ein-Mann-Regierungsstaat stellte

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vor allem auch die Tatsache ein Problem dar, dass seit mehr als zwei Jahren kaum mehr persönliche Besuche und Treffen mit den chinesischen Mitarbeitenden möglich waren. Doch auch in den USA hatte die Covid-19-Zeit und der Nachgang der Pandemie erhebliche Folgen: So geriet die riesige Fondsgesellschaft Brookfield Asset Management mit der Finanzierung von Verbindlichkeiten von insgesamt knapp 800 Mio. Dollar für die Finanzierung von zwei 52-stöckigen «Trophy Türmen» in Los Angeles in Verzug (vgl. Leisinger 2023:33). Und eine von der Allianz-Tochter Pacific Investment Management kontrollierte Gesellschaft, die sieben Gebäude in San Francisco, New York, Boston, Jersey City und New Jersey mit 1,7 Mrd. Dollar finanziert, ist in Schwierigkeiten geraten. Jeden Monat kamen Anfang 2023 5 bis 10 Bürotürme auf die Liste kritischer Immobilien, bei denen Zahlungsprobleme drohten, weil sie zu schwach ausgelastet waren, weil wichtige Mietverträge ausliefen oder weil fällige Verbindlichkeiten zu deutlich schlechteren Bedingungen refinanziert werden mussten – und bestehende Mietverträge wurden immer seltener verlängert, wodurch die Leerstände sprunghaft zunahmen (vgl. Leisinger 2023:33). So ist der Commercial-Property-Price-Index (CPPI) von Green Street seit seinem Hoch Anfang 2022 um fast 14 % gefallen, obwohl Büroimmobilien nur zu 17 % gewichtet sind (vgl. Leisinger 2023:33). Dazu kommt, dass viele Immobilienunternehmen ihre Hypotheken bisher zwar bedienen konnten, weil ihre Mietverträge in der Regel 10 oder mehr Jahre laufen – aber die Zahl der Problemfälle nimmt zu. Dies gilt umso mehr, als die großen Bürogebäude vielleicht nie mehr vollständig ausgelastet werden können, weil hybride Arbeitsplätze beliebt sind. Immerhin sind die Büros in den Städten selbst zwei Jahre nach der Pandemie nur zu 50 % besetzt – wie das «Back to Work Barometer» von Kastle Systems gestützt auf Zutrittskontrollsysteme von 2600 Gebäuden ergab (vgl. Leisiner 2023:33). Dass durch die Covid-19-Situation auch Hackingangriffe auf Microsoft-Software veranlasst wurden, zeigte etwa der Angriff auf mindestens 30.000 amerikanische Unternehmen im März 2021. In den USA und in der ganzen Welt sollen etwa 30.000 Organisationen, Behörden und Unternehmen betroffen gewesen sein, wobei der Angriff offenbar seinen Ursprung in China hatte (vgl. Lindner 2021:1). Laut dem deutschen Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) waren allein in Deutschland Zehntausende von Servern infiziert und über das Internet angreifbar. Die Hacker zielten auf Microsofts E-Mail-Software Exchange, und zwar auf die Version, welche die Unternehmen in eigenen Rechenzentren installiert hatten, also nicht die «Cloud Computing»-Variante. Die Angreifer nutzten Sicherheitslücken aus, um sich Zugang zur Exchange-Software zu verschaffen. Der Sicherheitsforscher Bran Krebs sprach von mehreren Hunderttausend Opfern auf der ganzen Welt (vgl. Lindner 2021:2). Krebs nannte die Attacke als «ungewöhnlich aggressiv» und sprach von vier Sicherheitslücken in der Exchange-Software. «Wer einen Exchange-Server betreibt, ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein Opfer», meinte er. Dabei traf der Hacker-Angriff auch Europas Bankenaufsicht Eba, welche ihr Mailystem vom Netz nehmen musste (vgl. Frühauf 2021:1). Dabei

Literatur

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stieg die Zahl der dem BSI-Lagezentrum gemeldeten attackierten Systeme kontinuierlich (vgl. Frankfurter Allgemeine vom 9.3.2021). Die Angriffe richteten sich vor allem gegen US-amerikanische Forschungseinrichtungen, die sich mit der Pandemie beschäftigten, also Hochschulen, Anwaltsfirmen und Organisationen im Rüstungssektor. Dabei wies die Regierung in Peking diesbezügliche Vorwürfe zurück (Frankfurter Allgemeine vom 9.3.2021).

Literatur Amsler, Andreas 2022: «Das BAG ist von der Menge an Fragen und Bedürfnissen erdrückt worden». Gespräch mit dem Zürcher Kantonsstatistiker Andreas Amsler von Barnaby Skinner. In Neue Zürcher Zeitung vom 4.10.2022. 12. Bang Petersen, Michael 2023: «Umgeimpfte wurden als unintelligent angesehen». Der Politikwissenschaftler Michael Bang Petersen erklärt, warum es gerade dort viele Vorurteile gab, wo Corona effektiv bekämpft wurde. In: Neue Zürcher Zeitung vom 25.2.2023. 7. Ehrbar, Stefan 2022: Die Coronakrise und ihre Folgen: Kein Schritt nach vorne. In: Luzerner Zeitung vom 23.11.2022. 2 f. Feldges, Dominik/Kamp, Matthias 2022: Abschottungspolitik weckt Unbehagen. In: Neue Zürcher Zeitung vom 14.11.2022. 21. Frankfurter Allgemeine 3.2021: Attacke via Microsoft Exchange: Hackerangriffe trifft deutsche Behörden. Frühauf, Markus 2021: Ausfall des Mailsystems: Hackerangriff trifft EU-Aufsicht für Banken. In: Frankfurter Allgemeine vom 8.3.2021. 1. Jäggi, Christian J. 2021: Die Corona-Pandemie und ihre Folgen. Ökonomische, gesellschaftliche und psychologische Auswirkungen. Wiesbaden: Springer Gabler. Jochimsen, Beate 2017: Klare Entscheidungsstrukturen im Föderalismus und nachhaltige Digitalisierung. In: ifo Schnelldienst. 3/2022 (9. März 2022). 7 ff. Komlosy, Andrea 2020: Entflechtung oder Neuordnung: Globale Güterketten nach dem Lockdown. In: Hofbauer, Hannes (Hrsg.): Lockdown 2020. Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern. Wien: Promedia. 10 ff. Krautz, Jochen 2020: Bildendes Lernen braucht Schule und Unterricht. In: Hofbauer, Hannes (Hrsg.): Lockdown 2020. Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern. Wien: Promedia. 223 ff. Langer, Marie-Astrid 2021: Der Tech-Boom kennt kein Ende. Online-Shopping, Heimarbeit, digitale Unterhaltung: Die Corona-Pandemie beschert Microsoft und Google weiterhin enorme Zuwächse. In: Neue Zürcher Zeitung vom 29.4.2021. 22. Leisinger, Christof 2023: Immobilienkonzerne blasen Grossprojekte ab. In den USA zwingen steigende Zinsen, unwägbare Konjunkturaussichten und das beliebte Home-Office die Branche zum Umdenken. In: Neue Zürcher Zeitung vom 25.2.2023. 33. Lindner, Roland 2021: Cybersicherheit: Hacking-Angriff auf Microsoft-Software. In: Frankfurter Allgemeine vom 7.3.2021. Nida-Rümelin, Julian/Zierer, Klaus 2020: Die Debatte über digitale Bildung ist entgleist. In: Neue Zürcher Zeitung vom 8.6.2020. 8. Schneider, Michaela 2021: «Pfarrpersonen bekamen Feedback wie nie». Die Religionspädagogin Illona Nord hat die digitale Präsenz der Kirchen im ersten Lockdown untersucht. In PublikForum Nr. 9/2021 und Aufbruch Nr. 250/2021. 30 f.

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Skinner, Barnaby 2021: Das Bundesamt für Gesundheit scheitert an der Digitalisierung: Das CoronaFiasko ist nur ein Symptom. In: Neue Zürcher Zeitung vom 6.1.2021. 19. Stauffacher, Reto 2020: Facebook hat ein Problem mit Covid-19-Fake-News. Die Aktivistengruppe Avaaz präsentiert schockierend hohe Zahlen – doch die Situation verbessert sind. In: Neue Zürcher Zeitung vom 20.8.2020. 23. Wüstholz, Florian 2021: Corona-App: Wenig Vertrauen in die Technologie. In: WochenZeitung vom 14.1.2021. 6.

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Ökologische Folgen der Digitalisierung

Zusammenfassung

Nicht nur die Herstellung und der Betrieb, sondern auch die Entsorgung von digitalen Geräten verursacht ökologische Kosten und soziale Probleme. Umweltschädlich sind nicht nur die Milliarden Endgeräte wie Tablets, PCs und Smartphones. Auch die Daten, die wir unablässig produzieren, schädigen die Umwelt.

Digitale Geräte sind im Allgemeinen sehr kurzlebig. So betrug die durchschnittliche Nutzungsdauer eines Smartphones 2018 gerade mal 20 Monate (vgl. Sühlmann-Faul und Rammler 2018:28). Digitale Geräte benötigten viele Rohstoffe, unter anderem so genannte Konfliktmineralien wie Coltan, Zinn, Wolfram und Gold. Mit «Konfliktmineralien» ist gemeint, dass diese aus Bürgerkriegs- und bewaffneten Konfliktgebieten stammen, etwa aus der Demokratischen Republik Kongo (vgl. Sühlmann-Faul und Rammler 2018:28). Die Einnahmen von Rohstoffen, die teilweise unter unmenschlichen Bedingungen, durch Kinder- und Sklavenarbeit gewonnen werden, sichern das Überleben von paramilitärischen Gruppen, Banden oder extremistischen Milizen. Dazu kommen in vielen Rohstofffördergebieten große Umweltschäden. Doch nicht nur die Herstellung, sondern auch die Entsorgung von digitalen Geräten verursacht ökologische und soziale Probleme. 2017 wurde der weltweit anfallende Elektroschrott auf 65 Mio. t geschätzt, zumeist PCs und Smartphones, mit steigender Tendenz (vgl. Sühlmann-Faul und Rammler 2018:30). Dabei stellt Elektroschrott – sofern er nicht fachgerecht recycelt oder wieder als Rohstoff verwendet wird, eine besonders aggressive Form von Abfall dar. In den Platinen von Akkus befinden sich Blei, Cadmium oder Beryllium – alles giftige Metalle.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C. J. Jäggi, Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42206-6_6

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Der technische Fortschritt im digitalen Bereich verursacht zum Teil auch höhere Umweltkosten. Zwar benötigen neue Geräte in der Regel weniger elektrische Betriebsenergie als alte Geräte, aber abgesehen von der grauen Energie zur Herstellung neuer Geräte – deren Nutzungsdauer zunehmend abnimmt – brauchen Neugeräte in der Regel mehr und darunter auch seltene Rohstoffe: 1971 benötigte man für einen Mikrochip zwölf verschiedene Metalle, heute enthalten digitale Geräte über 50 Metalle, wenn auch meist in geringsten Mengen (vgl. Hilty 2018:74). Doch das bedeutet auch, dass sich eine Rückgewinnung weniger lohnt. Wenn man bedenkt, dass Mobiltelefone und Smartphones etwa in der Schweiz bereits nach drei 20–24, teurere Geräte nach 36 Monaten weggeworfen werden (vgl. Knellwolf 2023:16), wie eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft (ZHAW) ergab, und nur gerade 30 % von 1400 Befragten, welche ihr Mobiltelefon ersetzten, antworteten, ihr Mobiltelefon sei nicht mehr reparierbar gewesen, dann zeigt sich der enorme Verschwendungseffekt der neuen Medien. In jedem elektronischen Gerät stecken über 60 chemische Elemente, darunter auch seltene Metalle wie Gold, Indium oder Palladium. Gleichzeitig entfallen 50 bis 90 % der klimaschädlichen Emissionen im gesamten Lebenszyklus der Geräte auf die Phasen außerhalb der Nutzung (vgl. Knellwolf 2023:16). Umgekehrt ist fast immer nur der Akku oder das Display defekt, bei den meisten neueren Geräten kann beides ersetzt werden. Weil allerding das Recycling selbst auch wieder energieintensiv ist, ist ein sogenanntes «refurbishing», also die Wiederaufbereitung von Smartphones, und ihre Rückbringung in den Kreislauf etwa als Secondhandgeräte besser, meint der Medienpsychologe Waller von der ZHAW (vgl. Knellwolf 2023:16). Lange und Santarius (2018:28) haben den CO2 -Abdruck von Smartphones dargestellt (vgl. Abb. 6.1 und 6.2). Besonders problematisch ist, dass manche digitalen Geräte eine äußerst kurze Nutzungs- und Lebensdauer haben, weil Sollbruchstellen eingebaut sind, weil sie aus der Mode kommen oder weil neue Apps größere Leistung verlangen. Umweltschädlich sind nicht nur die Milliarden Endgeräte wie Tablets, PCs und Smartphones. Auch die Daten, die wir unablässig produzieren, schädigen die Umwelt: «Sie werden in gigantischen, Ressourcen und Energie fressenden Infrastrukturen transportiert, gespeichert und verarbeitet und generieren immer neue digitale Inhalte, für die immer mehr Ressourcen benötigt werden» (Pitron Oktober 2021:1). Die globale Digitalisierungsindustrie benötigte so viel Wasser, Rohstoffe und Energie wie Länder wie Frankreich oder Großbritannien: «Die digitalen Energien verbrauchen inzwischen ein Zehntel des weltweit erzeugten Stroms und sind für fast 4 % des weltweiten CO2 -Ausstoßes verantwortlich – knapp doppelt so viel wie der weltweite zivile Luftverkehr» (Pitron Oktober 2021:1). E-Book-Reader sind offensichtlich um ein Vielfaches energie- und ressourcenintensiver als der Druck eines einzelnen Buchs. So entfallen auf die Herstellung eines meist weniger als 200 g schweren E-Readers etwa 15 kg unterschiedlichster Materialien (vor allem nicht erneuerbare Metalle und seltene Erden; vgl. Lange und Santarius

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%-Anteil an 55 kg C02 iPhone 3G Transport 5%

Entsorgung 1%

Produkon 45%

Nutzung im Konsum 49%

Produkon

Nutzung im Konsum

Transport

Entsorgung

Abb. 6.1 CO2 -Abdruck von Smartphones am Beispiel des iPhone 3G. (Quelle: Lange und Santarius 2018:28; eigene Darstellung)

2018:29). Allerdings muss bei einem Vergleich von gedrucktem Buch und E-BookLesegerät berücksichtigt werden, dass auf einem solchen Gerät Dutzende oder Hunderte von Büchern gelesen werden können – und so gesehen sieht dann die Ökobilanz wieder besser aus. Ja, Lange und Santarius (2018:30) meinen sogar, dass bei häufigem Gebrauch das E-Book-Gerät ökologisch besser abschneiden könnte – nämlich mindestens ab 30 bis 60 E-Books pro Reader. Dazu kommt, dass E-Books auch auf PC oder Notebooks geladen werden können, die eh schon vorhanden sind. Umgekehrt wird ein gedrucktes Buch oft von vielen Menschen gelesen, während E-Book-Geräte eher nur von einer Person genutzt werden. Auch im Bereich der Print- und Online-Medien wie Zeitungen und analogem (LPs, CD) und digitalem (Streaming-)Musikkonsum fällt der Vergleich ähnlich aus: Der ökologische Fußabdruck ist abhängig von den verwendeten Rohstoffen, der Häufigkeit der Nutzung der Geräte, vom Energiekonsum und von der Zugänglichkeit des gleichen Geräts für größere Personengruppen. Außerdem führt die leichtere Zugänglichkeit der Medien zu

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%-Anteil an 56 kg CO2 iPhone 7 Modell 32 Gigabyte Transport 3%

Entsorgung 1%

Nutzung im Konsum 18%

Produkon 78%

Produkon

Nutzung im Konsum

Transport

Entsorgung

Abb. 6.2 CO2 -Abdruck von Smartphones am Beispiel des iPhone 7 Modell 32 Gigabyte. (Quelle: Lange und Santarius 2018:28; eigene Darstellung)

einem höheren Medienkonsum, was zu Rebound-Effekten1 führt. Fazit: Lange und Santarius (2018:33) meinen, «dass sich die Digitalisierung in diesen Bereichen bestenfalls als ökologisches Nullsummenspiel darstellt». Umgekehrt ist auch klar, dass die Energiewende nicht ohne Digitalisierung zu machen ist (vgl. Lange und Santarius 2018:35). Anstelle früherer, zentral gespeister Stromverteilernetze braucht es heute ein «Smart Net», das fähig ist, nicht nur den zeitlich und örtlich ungleichen Verbrauch der Strombezüger zu bedienen, sondern auch die Energie dort und dann abzuholen, wenn sie erzeugt wird (Sonnenenergie bei schönem Wetter und über Mittag, Windenergie bei Windaufkommen, Wasserkraft bei vorhandenem Wasser). 1 Mit Rebound-Effekt ist die Tatsache gemeint, dass der bei einzelnen Geräten durch technologi-

sche Neuerungen abnehmender Energieverbrauch zu einer Ausweitung des Energiekonsums führt, weil die Geräte länger und in größerem Ausmaß genutzt oder durch neue, leistungskräftigere Geräte ersetzt oder ergänzt werden. Das gilt auch für den Ausstoß von Schadstoffen. Ein Beispiel dafür ist der tiefere CO2 -Ausstoß von PKWs aufgrund des technologischen Fortschritts, was oft dazu führt, dass die Konsument:innen sich ein leistungsfähigeres Fahrzeug leisten, das einen höheren CO2 Ausstoß aufweist als ein anderes Auto. So nahm etwa im Kanton Luzern zwischen 2005 und 2020 der CO2 -Ausstoß pro Fahrzeug ab, aber die Anzahl der Fahrzeuge und der Gesamt-CO2 -Ausstoß wuchsen in der gleichen Zeit (vgl. dazu Jäggi 2022:102).

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Dazu kommt, dass heute an unzähligen Orten größere und kleinere Mengen an Solarenergie eingespeist werden – eine große Herausforderung für die Stromnetzbetreiber. Dies führt zu einer deutlich höheren Komplexität der Stromnetze, und diese benötigen eine viel größere Flexibilität in Bezug auf die Steuerung. All das ist ohne eine weitgehende Digitalisierung der Netze nicht zu handhaben. Allerdings muss man sich schon fragen, ob der systematische Einbau von Funkstromzählern in allen Haushalten, wie das etwa der innerschweizerische Stromerzeuger CKW seit 2021 vorantrieb2 , wirklich die dringendste Aufgabe vor dem Hintergrund einer größeren Energiemangellage darstellt… Lange und Santarius (2018:39) weisen auch darauf hin, dass überschüssiger erneuerbarer Strom über Power-to-X zunehmend in andere Energieformen wie Gas, Kraftstoff oder Wärme, aber auch in Wasserkraft (z. B. über Pumpspeicherwerke) umgewandelt werden muss, wodurch die Energiesektoren Strom, Wärme und Verkehr näher zusammenwachsen, was in Fachkreisen als «Sektorkoppelung» bezeichnet wird. Erstaunlich sind auch die Ergebnisse einer Studie, wonach bis 2020 die Zahl der ausgeschriebenen Stellen für Computerspezialisten in der Schweiz seit 2012 zwar zugenommen, aber im gleichen Zeitraum die von den Kandidaten verlangten ICT3 -Kenntnis von 36 % auf 26 % gesunken sei (vgl. Kaufmann 2020:30). Dabei gab es kaum einen Unterschied zwischen der Ausschreibedauer von Stelleninseraten mit und ohne ICT-Anforderungen. Entsprechend könne von einer immer stärker werdenden Nachfrage nach ICT-Fachkräften aufgrund dieser Basis keine Rede sein. Ein Grund sah der Arbeitsmarkt-Spezialist George Sheldon in der Technologie selbst, die immer zugänglicher werde. Auch bei Microsoft bestätigte man diesen Eindruck: «Unsere Produkte können auch von Nichtingenieuren bedient werden. Sie sind eher für Business- denn für IT-Spezialisten gedacht», so Tobias Steger von Microsoft Schweiz (vgl. Kaufmann 2020:30). Allerdings sind die Zahlen von Sheldon umstritten: Andreas W. Kaeling, Präsident des Verbandes ICT Berufsbildung Schweiz, kontert mit eigenen Zahlen: Binnen neun Jahren habe sich in der Schweiz die Zahl der Menschen, die einen ICT-Beruf ausübten, um 50 % erhöht. Zudem sei Mitte September 2020 die Zahl der offenen ICT-Jobs dreimal so hoch gewesen wie die Anzahl Arbeitsloser in diesem Bereich. Darauf antwortete Sheldon, dass man leicht vergesse, dass auf dem Arbeitsmarkt Leute mit ganz verschiedener Ausbildung eine Stelle besetzen könnten – das gelte auch für ICT-Jobs (vgl. Kaufmann 2020:30). Doch auch im Silicon Valley «droht der Abstieg in die Mittelmässigkeit» (vgl. Delko 2020:21). Dabei ist die Innovationsmaschine in Kalifornien ins Stocken geraten: Das 2 Wird zudem berücksichtigt, dass die positiven Effekte auf Energieverbrauch und Ökobilanz von

intelligenten Steuergeräten und Smart Metern laut Studien deutlich geringer ausfällt, wenn auch deren Herstellung mitberücksichtigt wird, erscheint dieses Vorgehen noch problematischer: «Werden Haushalte komplett zu Smart Homes umgerüstet, nur um den flexiblen Stromverrauch zu maximieren, besteht zudem das Risiko, dass viele noch funktionsfähige Geräte ausgetauscht und entsorgt werden…» (Lange und Santarius 2018:40). 3 ICT-Kenntnisse stehen für Informations- und Kommunikationstechnologie und ist der Überbegriff für die Computerbranche.

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6 Ökologische Folgen der Digitalisierung

Mooresche Gesetz scheint nicht mehr zu gelten. «Als der damalige Intel-Manager Gordon Moder Anfang der siebziger Jahre sein berühmtes Gesetz formuliere, wonach sich die Geschwindigkeit der Computer alle achtzehn Monate verdoppelt, befand sich das Silicon Valley auf einem rasanten Wachstumspfad. Doch davon ist heute kaum mehr etwas zu spüren» (Delko 2020:21). Heute kauft kaum mehr jemand einen neuen PC oder ein Laptop, weil der alte zu langsam war. Anstatt ständiger Innovation, neuartiger Produkte und sinkender Preise hat sich das Angebt eher auf ein zunehmend aggressives Verhalten gegenüber der Konkurrenz verschoben: Man kauft eher eine Autoversicherung als ein revolutionäres Technologieprodukt – das Silicon Valley sollte deshalb nicht bei den bescheidenen Fortschritten des Mooreschen Gesetzes ausruhen, sondern neue Probleme anpacken (vgl. Delko 2020:21).

Literatur Delko, Krim 2020: Dem Silicon Valley droht der Abstieg in die Mittelmässigkeit. In: Neue Zürcher Zeitung vom 31.7.2020. 21. Hilty, Lorenz M. 2018: Green IT im Kontext der Digitalisierung: Internal Error: Systemdenken fehlt. In: Oekom e. V. – Verein für ökologische Kommunikation (Hrsg.): Smartopia. Geht Digitalisierung auch nachhaltig? München: Oekom. 71 ff. Jäggi, Christian J. 2022: Perspektiven zum Umbau der fossilen Wirtschaft. Hürden und Chancen für nachhaltigen Konsum in Gegenwart und Zukunft. Wiesbaden: Springer Gabler. Kaufmann, Moritz 2020: IT-Spezialisten sind gar nicht so begehrt. In: NZZ am Sonntag vom 25.10.2020. 30. Knellwolf, Bruno 2023: Smartphones werden schon nach drei Jahre weggeworfen. Studie beweist die starke Konsum-Mentalität bei Handys: Nur ein Fünftel der Befragten hatte einen guten Grund, ein Neugerät zu kaufen. In: Neue Luzerner Zeitung vom 23.3.2023. 16. Lange, Steffen/Santarius, Tilman 2018: Smarte grüne Welt? Digitalisierung zwischen Überwachung, Konsum und Nachhaltigkeit. München: Oekom. Pitron, Guillaume 2021: Klimakiller Tiktok. Die Ökosünder der Digitalindustrie. In: Le Monde Dilpomatique (Deutsche Ausgabe) vom Oktober 2021. 1/10 f. Sühlmann-Faul, Felix/Rammler, Stephan 2018: Blinde Flecken der Digitalisierung: Moderne Sklaverei inklusive. In: Oekom e.V. – Verein für ökologische Kommunikation (Hrsg.): Smartopia. Geht Digitalisierung auch nachhaltig? München: Oekom. 28 ff.

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Die neue Exklusion durch die Digitalisierung

Zusammenfassung

Laut Specht (2018:12) gibt es vier Personengruppen im Umgang mit der Digitalisierung: erstens die Verweigerer; zweitens «Neuland-Entdecker», welche erste Schritte in das digitale Neuland wagten; drittens die «Digital-Affinen», die sich beruflich oder privat intensiv mit den digitalen Medien befassen; und viertens diekleine Gruppe der «Digital-Experten» und «Nerds», die sich extrem gut im digitalen Umfeld auskennen.

«Soziale Exklusion» und der semantisch ko-konstitutive Gegenbegriff «soziale Inklusion» bezeichnen den Grad des sozialen Ausschlusses und der sozialen Teilhabe (vgl. Behrendt 2018, S. 83). Dabei reicht die Spannbreite von vollständiger Exklusion bis zu vollständiger Inklusion, also sozusagen auf einer Skala von 0 bis 100. Als Prozess zielt die Inklusion auf eine größere soziale Teilhabe, während Exklusion als Prozess zur sozialen Isolation führt. Exklusionsprozesse können auf sehr unterschiedlichen Ebenen stattfinden und sehr verschiedene Ursachen haben: materielle Defizite, strukturelle Ungleichheiten, Wissenslücken, mangelndes Interesse oder Folgen bestimmter Handlungen und Interaktionen sowie Folgen von Entscheidungen. Specht (2018:12) hat vier Personengruppen im Umgang mit der Digitalisierung skizziert: erstens die Verweigerer, die keinerlei Ambitionen für die Erschließung digitaler Geräte hegen; zweitens «Neuland-Entdecker», welche erste Schritte in das digitale Neuland wagten, aber in der Praxis schnell überfordert sind, wenn ein Gerät nicht funktioniert wie es sollte; drittens die «Digital-Affinen», die sich beruflich oder privat intensiv mit den digitalen Medien befassen und diese breit nutzen, insbesondere die nach 1980 geborenen «Digital Natives»; und viertens eine kleine Gruppe der «Digital-Experten» und «Nerds», die sich extrem gut im digitalen Umfeld auskennen. Allerdings sagt die Intensität der

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C. J. Jäggi, Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42206-6_7

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Nutzung digitaler Geräte noch nichts darüber aus, inwieweit der Umgang damit reflektiert und kritisch erfolgt – insbesondere bei den «Digital-Affinen». Deshalb ist es mehr als fraglich, ob es reicht – wie Specht (2018:13) meint –, dass sich die Menschen «ein umfassendes Grundverständnis von Digitalisierung als Teil einer zeitgemäßen Allgemeinbildung aneignen» – ein Gerät nutzen zu können heißt bei weitem noch nicht, es zu verstehen. Und bei den enormen gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung ist eine gute Kenntnis und eine Abschätzung möglicher Auswirkungen und Konsequenzen unerlässlich – in diesem Punkt sind viele Wortführer der Digitalisierung – insbesondere in der Wirtschaft – mehr als naiv. Grundsätzlich bilden Digitalität und Netzzugang einen grundlegenden Bestandteil der notwendigen Grund-Infrastruktur unserer Gesellschaft (vgl. Fetzer 2020:24). Niemand darf davon ausgeschlossen werden, weder durch eine gezielte Politik noch durch strukturelle Ungleichheit. Das gilt besonders auch für die armen oder unterentwickelten Regionen auf unserem Planeten. Im Jahr 2019 gab in der Schweiz – laut Schweizerische Eidgenossenschaft (2020:8) – ein Viertel der Werktätigen an, sie hätten mindestens einmal in den letzten vier Wochen zu Hause gearbeitet. In der akuten Covid-19-Zeit im Jahr 2021 arbeiteten in der Schweiz infolge der Homeoffice-Pflicht volle 40 % der Erwerbstätigen teilweise im Homeoffice. Während einigen Monaten dürften es gegen 50 % gewesen sein. Am häufigsten arbeiteten folgende Berufe zu Hause: Information und Kommunikation

86,4 %

Kredit- und Versicherungsgewerbe

76,3 %

Freiberufliche, wiss. und techn. Dienstleister

65,2 %

Erziehung und Unterricht

63,2 %

Öffentliche Verwaltung

51,7 %

Total

39,6 %

(Quelle: Schweizerische Eidgenossenschaft 2022:9)

«Die Bedeutung der internetbasierten Plattformdienstleistungen wurde in der Schweiz erstmals 2019 erhoben. 2019 gaben gesamthaft 1,6 % der 15- bis 89-jährigen Bevölkerung bzw. 116.000 Personen an, innerhalb der 12 Monate vor der Befragung internetbasierte Plattformarbeit geleistet … zu haben …. 0,1 % der Bevölkerung erbrachten dabei Taxidienste und 0,3 % andere Dienstleistungen (Programmierung, Essenlieferdienste, Reinigungsarbeit, usw.). Lediglich 14,8 % der Plattformdienstleistenden erbrachten regelmäßige und umfangreiche Dienstleistungen über eine Plattform (inklusive Vermietung einer Unterkunft und Warenverkauf)» (Schweizerische Eidgenossenschaft 2022:12). Jedoch lassen sich von der empirischen Literatur her keinerlei Hinweise ableiten, dass KI den Arbeitsmarkt in anderer Form verändern wird, als dies technologische Entwicklungen und namentlich Technologien der Digitalisierung bereits getan haben (Schweizerische Eidgenossenschaft 2022:19 f.).

7 Die neue Exklusion durch die Digitalisierung

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Eine ganz neue Art der Exklusion, und zwar durch Cybermobbing, lässt sich in vielen Ländern feststellen. Dabei sind etwa Schweizerinnen und Schweizer stärker von MobbingAttacken betroffen als EU-Bürger. Rund 260 000 Personen zwischen 16 und 74 Jahren wurden in der Schweiz innerhalb nur eines Jahres Opfer von Cybermobbing. In der JamesStudie über den Umgang von Schweizer Jugendlichen mit Medien gaben fast 25 % der 12- bis 19-Jährigen an, dass sie schon mal jemand im Netz fertigmachen wollte – also jeder vierte Jugendliche war schon betroffen (vgl. Miller 2020:3)! Im Jahr 2017 wurde Silenccio gegründet und kam 2018 als Plattform gegen Cybermobbing auf den Markt – und 2019 beteiligte sich die Axa an dem noch jungen Start-up. Dabei wird das Internet per Algorithmus in regelmäßigen Abständen nach Kommentaren und Posts abgesucht, die für die Kunden problematisch werden können – und informiert die Kunden, wenn etwas droht außer Kontrolle zu geraten. Entsprechende Anfeindungen werden abgemahnt und etwaige Gerichtskosten getragen. Im September 2020 zahlten immerhin rund 5000 Kunden Prämie dafür (vgl. Miller 2020:3). Laut Katrin Sprenger, CEO von Silenccio, konnte vieles bisher ohne Gericht gelöst werden – oft reicht ein offizieller Brief. Allerdings bewegt sich die Versicherung auf heiklem Terrain: Ausgerechnet Personen, die am stärksten von Hass im Netz betroffen sind, werden nicht erst versichert: Dazu gehören Politiker und Personen, die öffentliche Ämter bekleiden. Dazu funktioniert das Ganze nur auf Plattformen wie Facebook oder in Kommentarspalten – nicht aber bei Nachrichten, Instagram, TikTok oder WhatsApp – unter anderem weil diese Räume angeblich privat sind. Alles in allem ist klar: Versicherungen allein werden Cybermobbing nicht verhindern – und viele Aktivisten und Politiker sind sich einig, dass es auf institutioneller Ebene klarere Zeichen gegen die Willkür im Netz braucht. Doch auch hier gilt: Der Versicherungsmarkt gegen Cybermobbing ist ein Wachstumsmarkt, der laut einer KPMG-Studie bereits in 15 Jahren größer sein soll als der Versicherungsbereich für Motorfahrzeuge (vgl. Miller 2020:3). Laut dieser Studie soll das Prämienvolumen bis 2036 in Deutschland. Österreich und der Schweiz auf 26 Mrd. EUR steigen. Generell sind Cyber-Angriffe nicht so simpel wie Hurricanes oder Naturkatastrophen: Entsprechend ist das Geschäft der Cyber-Versicherungen schwierig. Im Branchenjargon gilt das Risiko als «silent cyber», als stilles Risiko (vgl. Triebe 2019:25). In allgemeinen und älteren Versicherungen sind Cyber-Vorfälle nicht klar geregelt. Dabei stellt sich immer wieder und vermehrt die Frage: Wann und wie viel muss die Versicherung im Falle von Cyber-Verbrechen zahlen? Schäden durch Computerausfälle, Hackerattacken oder Datenverluste sind oft nicht geregelt. Ein Cyber-Zwischenfall kann sehr unterschiedliche Folgen haben. Die Palette reicht vom Ausfall der IT-Systeme mit Unterbruch der Geschäftstätigkeit über den Diebstahl wichtiger Daten bis hin zu dauerhaften Reputationsverlusten. Auch kann ein einzelnes Ereignis mehr als eine Firma betreffen. So erwischte etwa der Notpetya-Virus unter anderem den Pharmakonzern Merck und das Logistikunternehmen Maersk. Je umfangreicher die Haftungspflicht, desto größer die mögliche Schadenslawine. Obwohl Versicherungen fieberhaft an Risikomodellen arbeiten, gibt es keine jahrzehntelangen Datenreihen und Erfahrungen über mögliche Schäden.

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7 Die neue Exklusion durch die Digitalisierung

Während Versicherungen gut Hurricanes oder Waldbrände abschätzen und abdecken können, ist die Herausforderung von Cyber-Risiken schwer einzuschätzen – sie sind von Menschen gemacht und entwickeln sich ständig weiter (vgl. Triebe 2019:25). Laut Erhebungen des britischen Ministeriums für Digitales haben 2018 32 % der Unternehmen auf der britischen Insel eine Verletzung ihrer Cyber-Sicherheit festgestellt oder wurden Ziel eines Angriffs. Dennoch hatten nur 11 % der Unternehmen eine besondere CyberVersicherung – und je kleiner das Unternehmen, desto geringer der Versicherungsschutz. Vor allem besteht das Problem darin, eine Versicherungsart zu entwickeln, die das Problem löst und gleichzeitig von den Firmen als Zielgruppen verstanden wird. Und der größte Knackpunkt solcher Versicherungen liegt im immateriellen Vermögen, das betroffen ist: «Datenbestände, die auf der Festplatte waren, die Reputation eines Unternehmens oder sein geistiges Eigentum. Wenn durch einen Hackerangriff die Pläne eines Prototyps entwendet werden oder durch einen Datendiebstahl der Ruf bei den Kunden leidet – wie hoch ist dann der Schaden?», so Versicherungsexperten. «Wir begeben uns hier auf herausforderndes Terrain», meint der Aviva-Experte Arklie. Es gehe dabei um Milliardenbeträge: Immaterielle Vermögen machten 1975 bei den Konzernen des amerikanischen S&P 500 laut KPMG einen Anteil von 15 % am Wert des Unternehmens aus, 2015 waren es 84 % (vgl. Triebe 2019:25). Entsprechend decken Cyber-Versicherungen viel zu geringe Werte ab – so nannten etwa 35 % der Befragten als Grund, keine CyberVersicherung abzuschließen, die unpassende Abdeckung, 30 % hielten die Prämien für zu teuer und 22 % meinten, dass sie der versprochenen Auszahlung im Versicherungsfall nicht trauten (vgl. Triebe 2019:25). Trotz der zunehmenden Zahl an Schadenfällen versuchten laut der Umfrage des britischen Digitalministeriums nur gerade 3 % der Unternehmen mit einer Cyber-Versicherung, eine Auszahlung zu erhalten (vgl. Triebe 2019:25). Nicht wenige Käufer einer Cyber-Versicherung nannten denn auch als Grund für das Investment den Zugang zu Experten der Versicherung, die im Notfall beim Neustart der IT-Systeme oder bei der Eindämmung des Schadens helfen würden (vgl. Triebe 2019:25).

Literatur Behrendt, Hauke 2018: Das Ideal einer inklusiven Arbeitswelt. Teilhabegerechtigkeit im Zeitalter der Digitalisierung. Frankfurt/New York: Campus. Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hrsg.) 2014: Interpreting Networks. Hermeneutics, ActorNetwork Theory & New Media. Bielefeld: Transcript. Belliger, Andréa/Krieger, David J. 2016: Network Norms. Unveröffentlichtes Papier. Luzern. Fetzer, Joachim 2020: Menschenwürde und ihre Konkretisierungen – ein Kompass im Prozess der Digitalisierung. In: Achatz, Johannes/Albrecht, Reyk/Güngör, Lena Saniye (Hrsg.): Digitalisierung – Werte zählen? Kritisches Jahrbuch der Philosophie. Band 20. Würzburg: Konigshausen & Neumann. 9ff. Miller, Anna 2020: Gegen Hass kann man sich jetzt versichern … bereits wittern Unternehmen ihre grosse Chance. Doch kann man Mobbing im Internet wirklich kontrollieren? In: Luzerner Zeitung vom 22.9.2020. 3.

Literatur

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Schweizerische Eidgenossenschaft 2022: Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt – Monitoring 2022. Bericht des Bundesrates vom 9. Dezember 2022. Specht, Philip 2018: Die 50 wichtigsten Themen der Digitalisierung. Künstliche Intelligenz, Blockchain, Bitcoin, Virtual Reality und vieles mehr verständlich erklärt. München: Redline Verlag. Triebe, Benjamin 2019: Cyber-Angriffe sind nicht so simpel wie Hurricanes. Unternehmen können sich zwar gegen Online-Schäden versichern – doch welche Risiken gedeckt sind, ist oft schwer definierbar. In: Neue Zürcher Zeitung vom 22.5.2019. 25.

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Chancen und Gefahren der Digitalisierung

Zusammenfassung

Digitalisierung wirkt in zwei Richtungen: Vielen macht sie Angst, aber sie bietet auch Chancen. Gestaltete und begleitete Digitalisierung kann helfen, aktuelle Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern zu beseitigen. Doch Chancen und Gefahren sind nahe beieinander: Digitale und hybride Kriegsführung, digitaler Totalitarismus, Digitalisierung von Informationen, Cyber-Angriffe, Digitalisierung im Sinne des Friedens und Digitalisierungsverweigerer.

Endress (2017, S. 37) hat im Zusammenhang mit der Digitalisierung auf drei Ambivalenzen hingewiesen: erstens auf den Widerspruch zwischen gesteigertem Sicherheitsstreben und subjektiver Verunsicherung infolge prinzipieller Unerfüllbarkeit, zweitens auf den Gegensatz zwischen Sicherheitsbedürfnissen und Verunsicherungen aufgrund verstärkter Sicherheits- oder Repressionspraktiken und drittens auf die Ambivalenz zwischen bestehenden Unsicherheiten und notwendiger Risikobereitschaft. Allerdings könne man einwenden, dass diese Gegensätze auch für jede andere Form gesellschaftlichen Fortschritts und sozialer Entwicklungen gelten – doch ist Endress zweifellos zuzustimmen, dass diese Ambivalenzen angesichts der Digitalisierung besonders deutlich geworden sind. Überhaupt dürfte die Feststellung zutreffen, dass die Digitalisierung viele innergesellschaftliche Widersprüche verschärft und akzentuiert hat und weiter verschärften wird. Umso wichtiger erscheint es, Chancen und Gefahren der Digitalisierung nicht nur zu erkennen, sondern auch zu diskutieren und zu lernen, bestmöglich damit umzugehen. Die KMU kennen die Cyberrisiken sehr wohl, fühlen sich aber oft ohnmächtig. Allein im Jahr 2020 sind die Erpresserangriffe in der Schweiz um 160 % gestiegen (vgl. Severin 2021b, S. 25). Der ehemalige Chef des britischen Geheimdienstes MI6, Alex Younger,

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C. J. Jäggi, Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42206-6_8

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8 Chancen und Gefahren der Digitalisierung

sieht die Cyberkriminalität unterdessen als existenzielle Bedrohung für Firmen und Organisationen an – das sagte er wenigstens am Wirtschaftsforum SEF – Swiss Economic Forum deutlich. Obwohl offiziell immer wieder von der Zahlung von Lösegeld abgeraten wird, ist die Wirklichkeit eine andere: 40 bis 50 % der KMU und 20 bis 30 % der Schweizer Konzerne würden bei Cybererpressungen Lösegeld zahlen – das schätzt Urs Küderli, Leiter der Cybersicherheit der Wirtschaftsberatung PwC (vgl. Severin 2021b, S. 25). Das geschehe meist via Bitcoin-Zahlung. Allerdings bezweifeln Fachleute, ob tatsächlich so viele Angriffe aus Russland kommen. Die stillschweigende Vereinbarung der Hacker, keine Ziele in Russland anzugreifen, hätten einen Burgfrieden entstehen lassen. Putin habe nun ein Faustpfand, mit dem er dem Westen Konzessionen abringen könne (vgl. Severin 2021b, S. 25). Ende März 2021 unterzeichneten Russland, China und die USA überraschend nach sechs Jahren Stillstand zusammen mit allen UNO-Mitgliedstaaten eine Empfehlung zur Cybersicherheit. Der Bericht hält fest, dass grundlegendes Völkerrecht auch im Cyberraum gilt. Er umfasst Empfehlungen für ein gutes Verhältnis der Staaten, unter anderem auch zum Schutz sogenannter kritischer Infrastrukturen. Doch weitere Anliegen der Schweiz und anderer Staaten, die Gültigkeit des humanitären Völkerrechts im Cyberraum zu bestätigen, kamen aufgrund des großen Widerstandes nicht durch. Doch besteht jetzt ein gemeinsames Verständnis, wie offene Fragen anzugehen sind. Dazu gehören insbesondere die Zuordnung von Cyberangriffen («attribution») und die Verantwortlichkeit von Staaten («accountability») (Mäder 2021a, S. 4). In China können die Menschen fast ihr gesamtes Leben über die Super-App WeChat organisieren und bezahlen, sogar Bettler nehmen milde Gaben über diese App an (vgl. Kölling 2022:25). In Korea hat die Super-App Kakao eine ähnliche Bedeutung bekommen – bei einer Bevölkerung von 52 Mio. Menschen zählte Kakao 2022 45 Mio. Kunden. Kakao schließt 134 Dienste in den verschiedensten Lebensbereichen ein, wie Chat Apps, Bankdienstleistungen, Taxidienste, Einkaufsmöglichkeiten oder Kaffeebestellungen. Im Durchschnitt nutzt jeder Kunde Kakao 72 mal pro Tag, was zu einer Monopolstellung dieses Kommunikationsmittels in Südkorea führte. An einem Wochenende im Oktober 2022 war die Super-App aufgrund eines Brandes in einem Datenzentrum völlig ausgefallen, was nur sieben Monate nach Arbeitsantritt zum Rücktritt des Co-CEOs Whon Nam Koong führte (vgl. Kölling 2022:25). Aufgrund der Marktdominanz und weil Kakao noch am Dienstag nach dem Ausfall daran arbeitete, die Dienste wieder funktionsfähig, kündigte die Regierung die Einsetzung einer Sonderkommission zu möglichen Sicherheitsgefährdungen infolge Redundanzmöglichkeiten und Backupsicherungen ein. Das Beispiel zeigt eindrücklich, wie nahe Bequemlichkeit und Gefahren im digitalen Bereich liegen können. Kurz et al. (2019, S. 35) haben darauf hingewiesen, dass «die Digitalisierung nicht die einzige Spaltkraft im gesellschaftlichen Gefüge [ist], sondern sie entfaltet ihre volle Wucht erst in Verbindung mit anderen Phänomenen (z. B. Globalisierung) und trägt neben dem polarisierenden auch emanzipatorisches und verbindendes Potenzial in sich. Dennoch sind

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bereits Fliehkräfte in der Arbeitswelt zu beobachten, an denen die Digitalisierung keinen geringen Anteil hat». So nutzen etwa Rechtsextreme seit längerem YouTube als Propaganda-Tool. Laut Dittrich (2021, S. 16) haben die großen Plattformen immer stärker auf die Inhalte eingegriffen und Accounts gelöscht, die gegen die Richtlinien verstoßen. Immer mehr Akteure wanderten ab, so u. a. zu Telegram, Signal, teilweise zu VK, dem russischen Äquivalent zu Facebook. Unterdessen greift aber Telegram vereinzelt ein. Allerdings können «gewaltbereite Extremisten … der Gesellschaft aber nur langfristig schaden, wenn sie ein Massenpublikum erreichen. Social Media sind dabei unabdingbar», meint Dittrich (2021, S. 16). Deshalb müssen neue Phänomene schneller erkannt und gestoppt werden. Telegram hat sich zu einem zentralen Medium rechter Akteure entwickelt, so haben 96 % aller von Dittrich (2021, S. 16) untersuchten Akteure hier hyperaktive Kanäle. Dabei könnte die fehlende juristische Erreichbarkeit bei Telegram über die Einführung des Marktortprinzips aufgelöst werden. Außerdem sollten die digitalen Räume durch aktive Sicherheitsbehörden ernster genommen werden (vgl. Dittrich 2021, S. 16). Spiekermann (2019, S. 92) hat sehr zu Recht darauf hingewiesen, dass die «digitale DNA» «eine Natur der Geteiltheit» besitzt und nicht eine der Ganzheitlichkeit: «Ich würde behaupten, dass Produkte oder Services, wie ein Roboter, sprechende Künstliche Intelligenz oder 3-D-Drucke, die aus einer digitalen Stofflichkeit gemacht sind, nie als eine vollständige echte Einheit im biologischen Sinne empfunden werden können, wie sie aus Bits gemacht worden sind» (Spiekermann 2019, S. 92). Aus diesem Grund können keine Dating-App und kein noch so gutes digitales Persönlichkeitsprofil eine Person ganzheitlich erfassen, sie kann nur – unter Umständen unendlich viele – Details und Einzelheiten erfassen, auflisten und zwischen zwei Personen vergleichen. Datenakkumulation, Datenfilterung und Datenvergleiche sind niemals das Gleiche wie das intuitive, ganzheitliche Erfassen oder Erleben einer anderen Person. Digitalisierung wirkt in zwei Richtungen: Vielen macht sie Angst, aber sie bietet auch Chancen. Gestaltete und begleitete Digitalisierung kann helfen, aktuelle Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern zu beseitigen. Außerdem könnte die Corona-Krise als Treiberin der Digitalisierung zum Abbau von geschlechterspezifischer Arbeitsteilung beitragen (vgl. Borioli Sandoz 2020:34). Allerdings sind Leitplanken für die Diskussion unabdingbar: «Der Digitalisierungsprozess darf nicht einfach hingenommen, sondern muss aktiv gestaltet werden» (Borioli Sandoz 2020:34). Weil die Digitalisierung bestehende Ungleichheiten verstärkt, braucht es Korrekturmaßnahmen: Laut Borioli Sandoz (2020:35) werden Frauen häufiger als Männer ihre Arbeit verlieren, während Männer öfter von neuen Beschäftigungsmöglichkeiten profitieren werden. Doch weshalb? Frauen sind am Arbeitsmarkt mehrfach benachteiligt, sie arbeiten häufig Teilzeit und wählen oft „Frauen“-Berufe. Die Teilzeitarbeit erlaubt es Frauen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, erschweren aber den Zugang zur beruflichen Weiterbildung, sie verbleiben oft ohne Führungserfahrung und erlangen später geringere BVG-Renten. Es stellt sich

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8 Chancen und Gefahren der Digitalisierung

jedoch die Frage, ob Berufe der Pflege und Betreuung tatsächlich geringere Wertschätzung erhalten – es gibt nämlich auch Hinweise, dass das eher umgekehrt ist. Das Problem liegt eher darin, dass die nicht oder wenig digitalisierten Berufe finanziell weniger gut bezahlt werden, bzw. dass die Arbeitsbedingungen schlechter werden und die berufliche Wertschätzung im Verhältnis zu anderen Berufen sinkt. Die große Frage ist weshalb. Auch der Staat ist je nachdem mehr oder weniger digitalisiert. In vielen westlichen Ländern hat sich der Anteil des Staates bei 30 bis 50 % eingependelt. Am einen Ende dieser Zahlen liegen Neuseeland, Australien, die baltischen Staaten, aber auch die Schweiz, denen im Allgemeinen ein gutes Management in öffentlichen Angelegenheiten nachgesagt wird. Am andern Ende der Skala liegen Frankreich und Italien – laut Kurer (2021:29) «Paradebeispiele von inkompetenter Demokratie». Aber auch das Gegenteil besteht etwa in skandinavischen Ländern, die – so Kurer (2021:29) – «durchwegs als erfolgreich gelten». Alles in allem erklärt die Staatsquote nur unzureichend die Qualität staatlichen Wirkens. Ein Grund für den unterschiedlichen Erfolg des Staates ist, dass dessen Leben nach ganz anderen Regeln abläuft als das digitale: «Die beiden Universen verhalten sich zueinander wie Öl und Wasser» (Kurer 2021:29). Während Staaten laut Kurer hierarchische Gebilde sind, verhalten sich digitale Netzwerke über Knoten und Verbindungen anders: Die digitale und technologische Welt sei nach Netzwerkregeln geformt. Kurer (2021:29) sieht eine «Dichotomie zwischen Hierarchien und Netzwerken»: Erfolgreich sei der Staat in einigen wenigen Bereichen, nämlich in der Aufrechterhaltung der Ordnung (z. B. Eliminierung des Analphabetismus), im Gesundheitswesen (steigende Lebenserwartung) und in der Wohlfahrt (Verhinderung von Armut). Viel größere Mühe habe der Staat in Bereichen, die nicht nach vorgesehenen Regeln ablaufen, wie die makroökonomische Entwicklung, Märkte, Innovation und Handel. Wenn der Staat in diesen Gebieten Kompetenzengrenzen überschreite, endet das meist im Unglück. So brauche etwa die amerikanische Technologe keine Förderung mehr, wie etwa Amazon, Microsoft und Google zeige. Doch ist das tatsächlich so? So mussten etwa staatliche Fördermittel eingesetzt werden, um wichtige digitale Industrien in den Westen zurückzuholen – und einzelne Industriezweige sind ganz aus den westlichen Staaten verschwunden und müssen nun mit viel Geld und Mühe wieder zurückgeholt werden. Dazu reicht es nicht, dass technologische Produkte irgendwo eingekauft werden können – wie Kurer (2021:49) meint. Und es ist naiv, zu glauben, dass «der Staat … eine beschränkte Anzahl von begabten Experten einstellen und trainieren» (Kurer 2021:29) sollte. Entweder macht der Staat bei der ganzen Entwicklung mit und investiert darin Kapital und Expertenwissen oder er überlässt den ganzen Bereich der Privatindustrie – und lässt aktuell Staaten wie China wettbewerbsfähige Alternativen aufbauen. Gerade Anwälte und ehemalige Manager wie Kurer müssen da klar Stellung beziehen, auch wenn ihnen das nicht passt. Hier sind die westlichen und demokratischen Staaten gefordert. Für Peter Thiel, den amerikanischen Investor deutscher Herkunft und Gründer von PayPal, ist Demokratie eine «veraltete Technologie» (vgl. Dettling 2019, S. 10), die für die digitale Welt nicht geeignet ist. Und laut dem britischen Journalisten Jamie Bartlett ist

8 Chancen und Gefahren der Digitalisierung

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die Demokratie im Endspiel mit der neuen Technologie: «In den kommenden Jahren wird entweder die Technologie die Demokratie und die soziale Ordnung, wie wir sie kennen, zerstören, oder die Politik wird der digitalen Welt ihre Autorität aufrücken», meinte er. Laut Dettling (2019, S. 10) werden vier Trends in der Zukunft eine wichtige Rolle spielen: Erstens die digitale Mobilisierung, zweitens die digitale Infrastruktur made in Europe, drittens Algorithmen und Datenkontrolle und viertens KI für alle. Doch was heißt das? Wo liegen die entsprechenden Widersprüche, welche der vier Trends werden dominieren, wie sehen die einzelnen Entwicklungen aus? Sehr vieles ist – immer noch – unklar. Es reicht kaum zu sagen, dass neben den vier Freiheiten, nämlich für Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr eine fünfte Freiheit kommen wird oder muss: die des Rechts der Bürgerinnen und Bürger auf ihre Daten (vgl. Dettling 2019, S. 10). Viel zu vielfältig und zu unterschiedlich können die einzelnen Freiheiten sein – und was bedeutet, das «Recht auf die eigenen Daten» zu haben? Und besonders: Was heißt «KI für alle»? KI-Modelle «können die Inhalte der Desinformationskampagnen mühelos auf die jeweiligen Zwecke und Zielgruppen anpassen und neue Narrative entwickeln» (vgl. Anderl 2023). Zwar gibt es noch praktische Hürden für die Benutzung der KI: Sie sind mit großen Kosten verbunden – insbesondere die Entwicklung großer Sprachmodelle –, der Output der Modelle ist limitiert. Aber das sind temporäre Phänomene, die früher oder später überwunden werden. So zeigt ein Bericht des Unternehmens OpenAI: Sprachmodelle sind im Bereich der Desinformationskampagnen klar zu thematisieren. Aber keiner der vorgeschlagenen Wege ist überzeugend: Zwar könnten Modelle so konstruiert sein, dass ihre Verwendung für manipulative Zwecke erschwert wird, oder der Zugang zu ihnen kann eingeschränkt werden. Doch «die Umsetzbarkeit solch koordinierter Aktionen [ist] höchst fraglich, das geben auch die Entwickler zu» (Anderl 2023). Sehr gut wäre es, KI-generierte Inhalte erkennbar zu machen. So veröffentlichte OpenAI Ende Januar 2023 eine Software zur Sichtbarmachung von KI-Texten. Nur: die Ergebnisse und die Wirksamkeit waren bescheiden: Sie konnte nur gerade 26 % der KI-erzeugten Texte erkennen, und 9 % der Fälle vermutete die Software irrtümlich als KI-erzeugt, aber sie stammten von Menschen (vgl. Anderl 2023). Fazit: Es gibt kaum eine Wunderwaffe gegen den Einsatz von KI-erzeugten manipulativen Informationen und gegen KI-erzeugte Einflussnahme – aber immerhin ist der Kampf gegen die Desinformation nicht neu, und viele Institutionen arbeiten daran, Lösungen zu entwickeln. Aber bis Resultate entstehen, kann es Jahre dauern (vgl. Anderl 2023). Den Gipfel abgeschossen haben wohl Ärzte und Wissenschaftler, welche nichts weniger beabsichtigen als «die Grenzen des Menschschein (zu) erweitern» (Rüdele und Teupke 2019, S. 27). Die «Vorstellungen reichen von künstlichen Extremitäten über Nanoroboter in den Blutbahnen bis zu Gedächtnischips im Gehirn» (Rüdele und Teupke 2019, S. 27). Es gibt sogar Transhumanisten, die hoffen, irgendwann von allen körperlichen Einschränkungen freizukommen. Sie hoffen, durch sogenanntes «Mind-Uploading» mit ihren Gedanken für immer auf der Welt zu bleiben – und damit unsterblich zu werden. Elon Musk, ein prominenter Vertreter des Transhumanismus, sitzt im Silicon Valley und

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8 Chancen und Gefahren der Digitalisierung

ist Gründer von SpaceX und Tesla. Und der Milliardär Peter Thiel, Gründer von Paypal, hat sogar eine eigene Stiftung für den Transhumanismus gegründet, die Thiel Foundation. Das größte weltweite Netzwerk Humanityplus zählt laut Schätzungen rund 20.000 Mitglieder – und seit 2015 gibt es auch in Deutschland eine Transhumane Partei mit etwa 1000 Mitgliedern und Followern (vgl. Rüdele und Teupke 2019, S. 28).

8.1

Digitale und hybride Kriegsführung

Am 24. Februar 2022 um 5 Uhr 02 spielten die Modems des Satellitennetzwerks Ka-Sat verrückt. Ka-Sat verbindet auch die ukrainische Armee und Polizei mit dem Internet. Eine Reihe von Geräten wandten sich gegen das eigene Netz und störten die Kommunikation der ukrainischen Sicherheitskräfte (vgl. Brühl 2022, S. 15). Mit großer Sicherheit war dies am Tag des Angriffs der russischen Armee ein Cyber-Angriff auf die Ukraine. Doch die Auswirkungen gingen weit über die Ukraine hinaus: So waren 5.800 Windkraftanlagen des größten Betreibers von Windrädern Deutschlands, der Enercon, nicht mehr online erreichbar. Zwar liefen die Windräder weiter, aber sie waren nicht mehr aus der Ferne zu überwachen und zu steuern. Die Recherchen des IT-Sicherheitsunternehmens Sentinel One ergab, dass der Hackerangriff die Daten in 30.000 Modems gelöscht hatte, die in der Folge ausgetauscht werden mussten (vgl. Brühl 2022, S. 15). Gerade der jüngste Krieg in der Ukraine hat gezeigt, dass die Digitalisierung und die sogenannte hybride Kriegsführung gegen die digitale Infrastruktur zu ganz neuen Risiken geführt hat. Nachdem die beiden Gaspipelines Nordstream 1 und 2 vermutlich von Saboteuren beschädigt worden waren, geriet auch die Tatsache – auf die Spezialisten schon seit langem hingewiesen hatten –, nämlich dass wichtige Teile der IT-Infrastruktur wie Datenkabel auf dem Meeresgrund für Sabotageakte und Ausfälle anfällig sind, in den Fokus der Aufmerksamkeit (vgl. Mäder et al. 2022, S. 24). Unterseekabel bilden einen wichtigen Bestandteil der globalen Internet-Verbindungen. So stellt sich etwa die Frage, ob die Internetverbindungen in die USA zusammenbrechen, wenn zwei oder drei Kabel gleichzeitig ausfallen. Würde der Zahlungsverkehr, der internationale Aktienhandel oder die globale Logistik ausfallen? Lucks (2020, S.403) hat sechs Stufen von Cyber-Risken aufgezählt: Erstens Verletzungen des Datenschutzes und der Datensicherheit insbesondere zwischen verwandten Institutionen oder Unternehmen, zweitens gezielter Datenabgriff durch Konkurrenten in der gleichen Nutzergruppe, drittens punktuelles Hacking, viertens systematische Cyberattacken, fünftens «Cyber War» zwischen gegnerischen Staaten – etwa russische Cyber-Attacken im US-Wahlkampf, Angriffe auf Infrastruktureinrichtungen oder gezielte Angriffe in Kriegssituationen wie im Ukraine-Krieg – und sechstens cyberinduzierter heißer Krieg, gesteuert durch KI-gesteuerte und selbstlernende Maschinen. Im Frühling 2020 wurde bekannt, dass nach amerikanischen Erkenntnissen der russische Auslandgeheimdienst SWR und dessen Cyberabteilung einen Cyberangriff gestartet

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Digitale und hybride Kriegsführung

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hatte, der der Gruppierung APT29 zugeschrieben worden war. Beim Solarwinds-Angriff gelang es den russischen Hackern, in das System der texanischen Softwarefirma Solarwinds einzudringen (vgl. Mäder 2021b:3). Dabei sollen mehr als 16.000 Kunden von Solarwinds infiltriert worden sein. Allerdings nützten die sowjetischen Hacker die installierten Hintertüren nicht breitflächig aus, sondern griffen nur wenige ausgewählte Ziele an – so etwa mehrere amerikanische Ministerien. Gemäß dem vom Angriff ebenfalls betroffenen Unternehmen Microsoft sollen mehrere Tausend Personen an der Operation beteiligt gewesen sein (vgl. Mäder 2021b:3). Laut dem amerikanischen Finanzministerium wurden dabei von den russischen Geheimdiensten FSB und vom GRU Kongresse wie «Positive Hack Days» zur Rekrutierung von Mitarbeitenden genutzt. Seit 2020 tauchten in den Gewässern rund um Großbritannien und Irland immer wieder russische U-Boote auf, genau dort, wo sich die transatlantischen Datenkabel für die Kommunikation zwischen Europa und Nordamerika befinden (vgl. Mäder et al. 2022:24). Dabei setzte die russische Marine nicht nur auf U-Boote, sondern auch auf so genannte Forschungsschiffe, die Tauchboote und ferngesteuerte Tauchroboter mit sich führen. Die Beschädigung von transatlantischen Unterseekabeln ist relativ einfach. Collin Wall vom Center for Strategic Studies wies darauf hin, dass Europa von den Untersee-Verbindungen zu Nordamerika abhängig ist, weil ein Großteil der europäischen Daten in Rechenzentren in den USA gespeichert wird (vgl. Mäder et al. 2022:25). Zwar gibt es zwischen Europa und den USA mehr als ein Dutzend Unterseekabel, und die Redundanzen – also etwa über Afrika und Asien führende Kabel – sind erheblich. Es geschieht immer wieder unabsichtlich – so gegen hundertmal pro Jahr –, dass Unterseekabel unterbrochen werden, aber trotzdem könnte ein gezielter Anschlag gegen eine größere Zahl von Transatlantik-Kabeln ein Problem darstellen (vgl. Mäder et al. 2022:25). Angriffe auf IT-Systeme als Teil der hybriden Kriegsführung sind wie gemacht für Konflikte unterhalb der Kriegsschwelle (vgl. Mäder 2022:17), kommen aber auch in Kriegen zur Anwendung, wie etwa der Ukraine-Krieg deutlich gezeigt hat. Dabei können auch nicht direkt kriegsführende Länder zum Angriffsziel werden. Cybersicherheit geht jedoch weit über die Armee hinaus – alle Akteure in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft sind in ein entsprechendes Gesamtkonzept einzubeziehen. Mäder (2022:17) forderte aufgrund der weltweiten Vernetzung der IT-Systeme eine digitale Gesamtverteidigung durch Behörden und Privatwirtschaft: «Jedes Großunternehmen und jedes KMU, jede Kundin und jeder Mitarbeiter, jede Behörde und jede Organisation – sie alle müssen einen Beitrag zur ITSicherheit leisten. Eine zivile staatliche Stelle kann die Bemühungen koordinieren und den Organisationen dabei helfen, sich selbst zu schützen». Dabei ging der chinesisch-amerikanische Krieg schon deutlich vor Trump los. So setzten die USA bereits 2015 drei von Chinas Nationalen Supercomputern auf ihre schwarze Liste, also bereits unter Präsident Obama (vgl. Sander 2021:27). Das bedeutet: Der technologische Krieg war bereits lange vor Trump in Gang. Allerdings sind die Sanktionen nur die x-te Runde im Konflikt zwischen China und den USA. Biden signalisierte nach vielen Zeichen der Konfrontation mit China, dass er auch im Bereich der Technologie

180

8 Chancen und Gefahren der Digitalisierung

den harten Kurs seines Vorgänger Donald Trump weiterführen würde. Bidens Sanktionen erweiterten den Tech-Wettkampf um eine weitere Disziplin. Nach Strafmaßnahmen zu 5G gegen Huawei und Chips gegen den Hersteller SMIC waren jetzt auch Hochleistungsrechner betroffen (vgl. Sander 2021:27). Dabei verkleinerte China unaufhörlich seinen Rückstand auf die USA. Gemäß der Branchen-Webseite «Top 500» hatte China 2011 nur einen Anteil von knapp 13 % an der weltweiten Leistung von Supercomputern, die USA waren bei etwa 50 %. Seither stehen beide Großmächte bei rund 25 % der Leistung, mit einem nur noch geringen Vorteil für die USA. Wenn auch nicht direkt mit der Kriegsführung verbunden, so zeigte sich doch in vielen Ländern, auch in Frankreich und in den USA, eine Entwicklung hin zu mehr digitalisierten Medien und weg von den Printmedien. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die allgemeine wirtschaftliche und politische Entwicklung – und durch den Einbruch der Corona-Pandemie. In Frankreich ging die Zahl der Journalistinnen und Journalisten zwischen 2008 und 2019 um 6 % zurück, in den USA im gleichen Zeitraum um fast 25 % (vgl. Halimi und Rimbert 2021:22). In den USA haben die US-Redaktionen 36.000 Stellen abgebaut, während sie 10.000 neue Stellen geschaffen haben. Ebenfalls in den USA sind von 2004 bis 2021 mehr als 2100 Tages- und Wochenzeitungen verschwunden, ein Viertel der Gesamtzahl. An ihre Stelle traten parteiische Webseiten für parteipolitisch gebundene Interessengruppen. Die Corona-Pandemie ließ die Werbeeinnahmen der Zeitungen ins Bodenlose fallen. So kostete im zweiten Quartal 2020 der Stillstand der Wirtschaft etwa den französischen Le Monde 20 % ihres Anzeigengeschäfts, bei der New York Times waren es sogar 44 % (Stand 6. August 2020) (vgl. Halimi und Rimbert 2021:22). Le Monde verzeichnete zu Beginn des Jahres 2021 360.000 digitale Abonnenten und nur noch 100.000 Printabos. Bis 2025 strebt die Zeitung 1 Million Digitalabos an. Am 5. November 2020 meldete die New York Times, dass die mit Onlineabonnements erzielten Einnahmen erstmals die der Printmedienabos übertroffen hatten. Zu diesem Zeitpunkt betrugen die Einnahmen der Digitalleser:innen mit 4,7 Mio. Abos nur wenig mehr bei als die von 831.000 Leser:innen (vgl. Halimi und Rimbert 2021:23). Anders gesagt: Weniger als 1 Million Printleser:innen generierten so viele Einnahmen wie 4,7 Mio. Digitalleser:innen. Das scheint eine allgemeine Entwicklung zu sein: Die Printleser:innen nehmen ab, die Digitalleser:innen zu. Verbunden damit nehmen die Medien weniger pro Digitalmediennutzer:in ein – man darf gespannt sein, wie sich dies in Zukunft entwickeln wird. Um die einzelnen digitalen Netzwerke sicherer und weniger angreifbar zu machen, hat Pentland (2017:131) vorgeschlagen, so genannte Vertrauensnetzwerke («trust networks») zu bilden: «Die in einem solchen Netz zusammengeschlossenen Computer versehen jedes Stück Daten mit einer Nutzungsberechtigung und prüfen diese Berechtigung jedes Mal nach, wenn jemand darauf zugreifen will. Dabei ist gesetzlich festgelegt, was mit den

8.2

Digitaler Totalitarismus?

181

Daten geschehen darf und was nicht – und welche Folgen eine Missachtung dieser Vorschriften hat. Indem das Netz über die Herkunft jeder Datei Buch führt – und diese Buchführung gegen Manipulation absichert –, ist jederzeit von außen und per Software überprüfbar, ob die Vorschriften eingehalten wurden» (Pentland 2017:131). Pentland (2017:131 f.) meint, dass langlebige Vertrauensnetze bewiesen hätten, dass das Konzept sicher und robust sei, wie zum Beispiel das Netz der Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication (Swift). Einmal abgesehen davon, dass eine solche komplizierte und aufwendige Absicherung für den Alltagsgebrauch und für gewöhnliche Nutzer:innen kaum taugt, übersieht diese Lösung, dass gesetzliche Regeln und Vorschriften niemals alle Möglichkeiten abdecken können, die sich in Zukunft ergeben können, und naturgemäß immer veraltet sind, weil sie – im besten Fall – auf dem Ist-Zustand zum Zeitpunkt des Gesetzeserlass basieren, die technologische und digitale Entwicklung aber stetig weiter geht.

8.2

Digitaler Totalitarismus?

Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping hat wie wohl kaum ein anderer Staatsmann das Potenzial der Technologie und der Digitalisierung im 21. Jahrhundert verstanden. Die chinesische Regierung verpflichtete die Autobauer, ihren Anteil an E-Autos laufend zu erhöhen, und zwar bis 40 % im Jahr 2030 (vgl. Sander 2022b:17). Am 20. Parteitag benutzte Xi Jinping das Wort Technologie 45-mal, und zentral für Xis Sichtweise ist wohl der folgende Satz der Rede Xi Jinpings am Parteitag: «Wir werden das System verbessern, mit dem das Zentralkomitee der Partei seine einheitliche Führung der Arbeit von Wissenschaft und Technologie ausübt» (zitiert nach Sander 2022b:17). So will China bis 2027 seine Armee umfassend modernisieren. Bis 2030 soll China ein führendes Land für KI sein und bis 2035 will es globale Standards für das Internet der Dinge und andere neue Technologien gesetzt haben. Und schließlich beabsichtigt China bis 2049 Nr. eins für die meisten Technologien zu sein (vgl. Sander 2022b:17). Bereits 2022 hat China bei den 5G-Netzwerken und E-Autos die USA überholt. Doch China will weniger Autarkie anstreben, sondern neue Weltstandards setzen – das geschieht durch Protektionismus und Staatsmonopole und -kontrolle. Wissenschaft und Technologie sollen «dringende nationale Bedürfnisse» befriedigen und den «patriotischen Geist vorantreiben» (zitiert nach Sander 2022b:17). Wie Sander (2022b:17) nicht zu Unrecht vermerkt, liest sich das «wie ein Programm der totalitären Kontrolle, wie sie die Regierung bereits über die Chinesen erlangt hat», und das mittelfristig wahrscheinlich auch über andere Länder und vielleicht über die gesamte Welt angestrebt wird. Doch selbst, wenn im Hintergrund kein totalitäres Regime die Fäden zieht, könnte in Zukunft ein einziges, weltumspannendes Netzwerk eine Art totalitäres Kontinuum entstehen lassen. Denn laut Rifkin (2016:25) «[wird] das Internet der Dinge (IdN) … eines Tages alles und jeden verbinden, und das in einem integrierten, weltumspannenden Netz.

182

8 Chancen und Gefahren der Digitalisierung

Natürliche Ressourcen, Produktionsstraßen, Stromübertragungs- und logistische Netze, Recyclingströme, Wohnräume, Büros, Geschäfte, Fahrzeuge, ja selbst Menschen werden mit Sensoren versehen, und die so gewonnenen Informationen werden als Big Data in ein neurales IdN-Netz eingespeist. Prosumenten1 können sich in dieses Netz einklinken und erreichen mithilfe von Big Data, Analysesoftware und Algorithmen eine dramatische Steigerung von Effizienz und Produktivität» (Rifkin 2016:25). Doch in einer solchen Welt ist der Schritt von der freiwilligen und zeitweisen Teilnahme vieler an diesem globalen Internet der Dinge und einem (späteren) allgemein durchgesetzten und permanenten Einbezug aller nur ein sehr kleiner Schritt – und wer garantiert dann, dass sich die einzelnen Menschen wieder zeitweise oder ganz aus diesem globalen Netzwerk ausklinken können? Denn schließlich braucht es ja eine maximale Effizienz und einen möglichst vollständigen Einbezug sämtlicher Menschen. Laut Rifkin (2016:25) wurden bereits 2014 in den USA von UPS Big Data 60.000 Fahrzeuge in Echtzeit überwacht, viele Unternehmen erfassen und verwalten ihre Rohstoffe, Vorräte und Produkte längst digital. Es ist eine Frage der Zeit, bis alle Haushalte autonom an das Versorgungsnetz angeschlossen werden, das Lebensmittel und Verbrauchsgüter autonom auffüllt und ersetzt, Strom und Heizungen reguliert, Roboter die Wohnung reinigen, Rechnungen bezahlt werden usw. Sensoren werden in Geschäften autonom die Wiederauffüllung von Vorräten und Nachlieferungen veranlassen, KI werden Verwaltungsabläufe vornehmen und überwachen, Schulbesuche und Präsenzzeiten am Arbeitsplatz werden digital erfasst und falls notwendig sanktioniert, Gesundheitssensoren überwachen Gesundheitsverhalten, sportliche Betätigung und veranlassen Gesundheitschecks und allfällig notwendige Arztbesuche usw. All diese Abläufe und Kontrollen mögen hilfreich sein – aber sie hinterlassen auch ein schales Gefühl und es besteht immer auch die Möglichkeit eines Missbrauchs. Grundsätzlich liegen die Schwierigkeiten der Big-Data-Forschung vor allem in drei Bereichen: Erstens in der Methodologie – insbesondere in Bezug auf die unterschiedlichen Entstehungsgeschichten der Daten –, zweitens in forschungsethischen Fragen – insbesondere im Zusammenhang mit dem fehlenden Einverständnis der Produzenten zur Nutzung ihrer Daten von Social-Media-Plattform-Betreibern – und drittens in der Rolle von SocialMedia-Plattform-Betreibern und anderen Besitzern von Internetdaten in Bezug auf die nur beschränkt zur Verfügung gestellten Zugangsmöglichkeiten zu den Daten (vgl. KinderKurlanda 2017:223 f.). Durch den letzten Punkt wird im Grunde vorgegeben, welche Art von Analysen überhaupt möglich sind. Wenn es stimmt – wie verschiedene Autoren betont haben (vgl. Kinder-Kurlanda 2017:224) –, «dass die Daten, die für Big-Data-Analysen verwendet werden, nicht ‚neutral‘ oder eben ‚Rohdaten‘ sind, sondern immer geprägt sind durch den spezifischen Kontext ihrer Entstehung … Es hängt … von bestimmten Entscheidungen im Design des Forschungsauftrags ab, was überhaupt gemessen oder gezählt

1 «Prosumenten» sind eine Verschmelzung von Produzenten und Konsumenten. Gemeint ist, dass

alle Menschen gleichzeitig produzieren und konsumieren – über Datenströme und Netzwerke.

8.2

Digitaler Totalitarismus?

183

wird und was nicht». Dies kann sich unter anderem auf Entscheidungen über Keywords beziehen, die gewählt werden, um einen Datensatz zu erstellen. Doch die Wirklichkeit ist in China schon viel weiter. So wurde seit 2014 in China sukzessive ein Sozialkreditsystem (SKS) eingeführt. Ursprünglich als Beurteilungs-System für die Kreditwürdigkeit in finanzieller Hinsicht geplant, veröffentliche China erst im November 2022 China einen Entwurf für ein «Gesetz der Volksrepublik China zur Einführung eines Sozialkreditsystems» (vgl. Sander 2022a:7). Bis anhin hatten 43 Städte das erweiterte SKS2 im Pilotversuch eingeführt. Dabei wurde finanzielles Wohlverhalten mit Bonuspunkten und negativ angesehenes Verhalten mit Maluspunkten bewertet. Bis 2022 waren davon primär Unternehmen (zu 73 %), Regierungseinheiten (zu 13 %), Individuen (10 %) und soziale Organisationen (zu 3 %) betroffen gewesen. Dabei durften wegen Schulden Millionen Chinesen keine Züge oder Flugzeuge mehr benutzen, viele Schulen nahmen Kinder von insolventen Eltern nicht auf (vgl. Sander 2022a:7). Neu soll das SKS gegen Fälschungen und Betrug bei Steuergutschriften, Statistiken, Forschungsdaten, geistigem Eigentum oder Lohnzahlungen an Wanderarbeiter:innen eingesetzt werden. Auch die Netzüberwachung – etwa bei Umgehung der Zensur durch VPN3 – soll verstärkt werden. Die Chines:innen werden im SKS mit ihrer ID-Nummer erfasst, die bereits heute im Alltag bei vielen Gelegenheiten verlangt wird, etwa beim Ticketkauf in der Pekinger Metro, beim Erwerb von Zugfahrscheinen und Eintrittskarten für Touristenattraktionen. Für Unternehmen und Organisationen existiert ein sogenannter einheitlicher SozialkreditCode. Je nach Verhalten werden Individuen und Organisationen belohnt oder bestraft, und zwar mit erleichtertem oder erschwertem (bis verhinderten) Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, Finanzierungen oder Projektförderungen. Unehrlichen Unternehmern droht ein Platz auf der «Liste nicht vertrauenswürdigen Unternehmen» der ein Branchenverbot bewirkt (vgl. Sander 2022a:7). Nicht erfasst wird politisches Wohlverhalten, weil es dafür besondere Überwachungssysteme gibt (vgl. Sander 2022a:7). Doch auch in anderen, demokratischen Ländern gibt es Tendenzen zum digitalen Totalitarismus. So ist etwa der ehemalige US-Präsident Donald Trump heute praktisch vom öffentlichen digitalen Diskurs verbannt: «Alle grossen und kleineren sozialen Netzwerke und Plattformen wie Facebook, Twitter oder YouTube haben ihn entweder für die nächsten Wochen gesperrt oder aber sein privates Konto gleich gelöscht», schrieb Henkel (2021:17) in der NZZ vom 19.01.2021. Gleichzeitig nahm die Tech-Elite der USA Trumps Anhänger ins Visier und schloss viele von ihnen aus den sozialen Netzwerken aus. Laut Henkel (2021:17) hat das Vorgehen der Tech-Konzerne nichts mit grundsätzlichen Überlegungen zu tun, sondern ist reiner Opportunismus: Es ist «eine Anbiederung an die künftige Regierung Biden – die ja die Rahmenbedingungen für die Tech-Branche massgeblich mitbestimmt hat» (Henkel 2021:17). 2 Zum chinesischen Sozialkreditsystem vgl. auch Lucks 2020:88. 3 VPN steht für virtuelles privates Netzwerk (auf English Virtual Private Network).

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8 Chancen und Gefahren der Digitalisierung

Umgekehrt haben bereits im Jahr 2001 Mitarbeiter von Amazon in den USA ein «Hybrid machine/human Computing Arrangement» zum Patent angemeldet (vgl. Betschon 2019:12). Dieses «Arrangement» ist seit 2005 unter dem Namen Mechanical Turk oder MTurk bekannt geworden und kann laut Amazon Mikro-Jobs verteilen. 2011 behauptete Amazon, MTurk könne auf mehr als 500.000 «turk workers» in 190 Ländern zurückgreifen. Und laut einer von Forschern der New York University 2018 publizierten Studie gibt es rund 100.000 bis 200.000 aktive «turkers», die laut einer anderen Studie in der Stunde rund zwei Dollar verdienen (vgl. Betschon 2019:12). Neben der Plattform MTurk von Amazon gibt es heute zahlreiche andere Stellenangebote, wie zum Beispiel Clickworker, Cloudfactory, Crowdflower, Crowdsource oder Mobileworks. Einige dieser Plattformen sind auf die Bedürfnisse bestimmter Branchen spezialisiert, etwa der Autoindustrie mit Clickworkern (vgl. Betschon 2019:12). Betschon (2019:12) folgerte bereits vor mehr als drei Jahren: «Arbeitnehmer werden nicht durch Roboter ersetzt, sondern durch Heerscharen von Hilfsarbeitern, die unter der Aufsicht von Robotern kleinste Teile jener Arbeit erledigen, die einst einem berufstätigen Menschen ermöglichte, Berufsstolz zu empfinden». Von einem «Privileg der Angst» spricht die Neue Zürcher Zeitung (Daub 2019:35) im Zusammenhang mit der «Suburbanisierung (und) … Balkanisierung der USA durch das Internet». Dabei nehme gerade in Zeiten der Digitalisierung die Gentrifizierung an Geschwindigkeit zu. Dabei stülpen Rezensionsplattformen wie Yelp dem urbanen Raum eine suburbane Gleichförmigkeit über: «Alles wird danach beurteilt, wie es auf jenen Typ Mensch wirkt, der Zeit und Musse hat, sich über einen schlechten Burrito oder eine unfreundliche Bedienung online das Maul zu zerreissen» (Daub 2019:35). Startups wie Nextdoor werden zu einer Art Blitzableiter für Menschen, die nachweislich in der gleichen Nachbarschaft leben. Neben Bürger:innen nahm auch die städtische Polizei in der technophilen Bay Area die Möglichkeit wahr, mit Bürgerinnen und Bürgern in direkten Kontakt zu treten – allerdings nur mit denjenigen, die über ein Smartphone, die nötige Zeit und die notwendigen Englischkenntnisse verfügten, um sich auf Nextdoor zu tummeln (vgl. Daub 2019:35). In Seattle gab es sogar virtuelle «town halls», also Treffen mit der Gemeinde für diejenigen – und nur für sie! –, die ein Konto bei der App oder auf der Webseite hatten, natürlich ohne Presse und nur für diejenigen, die in der Nachbarschaft wohnten. Diese App lässt sich auch für nachbarschaftliche Dienste und darunter auch für die Überwachung nutzen – etwa über Menschen, die anders aussehen als man selbst: Sie werden schnell fotografiert und das Foto wird bei Nextdoor gepostet – «im Sinne einer Personenkontrolle via Crowdsourcing» (Daub 2019:25). Nextdoor förderte nicht nur den in den USA versteckten Rassismus, sondern stellte auch Menschen in ihrer eigenen Stadt unter Observierung von Mitbürgern, ohne dass sie es wissen. Als Folge von Nextdoor «werden die Ängste der Hinzugezogenen zu den Ängsten aller Bürger schlechthin. Wer die Deutungshoheit über die Ängste hat, hat die gesellschaftliche Macht» (Daub 2019:25). Folglich gilt: «Angst kann in den USA fast alles legitimieren, weshalb das Recht, Angst zu haben, auch eifersüchtig gehütet wird. Wenn Angst einem eigentlich alles erlaubt, wer

8.3

Die Digitalisierung der Information und ihre Auswirkungen

185

würde sich diese also abgewöhnen wollen? Derjenige, der Nextdoor nur für Heimwerkertipps verwendete, derjenige, der seine Kameras nur auf den eignen Garten richtete, derjenige, der den Obdachlosen ohne Panik begegnete, ist eigentlich der Dumme. Denn die Technologien der Angst erlauben ihm viel mehr» (Daub 2019:53). Insbesondere Geheimdienste sammeln in Echtzeit Unmengen von Daten. So stellen nicht nur die Telefongesellschaften in den USA dem NSA ihre Daten zur Verfügung. Bereits über das sogenannte PRISM-Programm hatte die NSA direkten Zugriff auf die Server der neun großen Internetfirmen Google, Facebook, Microsoft, Yahoo, PalTalk, AOL, Skype, YouTube und Apple (vgl. Specht 2018:161). Im Rahmen des STROMBREW-Programms wurden in den USA zahlreiche Glasfaserkabel und InternetKnotenpunkte angezapft (vgl. Specht 2018:162). Und weil ein Großteil des globalen Datenverkehrs über Server und Firmen in den USA laufen, kann die amerikanische Regierung und können die amerikanischen Geheimdienste einen Großteil des elektronischen Verkehrs auf dem Globus überwachen. Und dank immer besserer KI-Such- und Übersetzungsprogramme ist die Echtzeit-Überwachung aller Bürgerinnen und Bürger immer weniger ein Problem. Solche Entwicklungen lassen sich nicht einmal mit potenziellen Terrorismus-Gefahren rechtfertigen, geschweige denn von den Grundrechten abdecken. Etwas überspitzt gesagt: Zwischen dem chinesischen Zero-Covid-Überwachungsstaat und der US-amerikanischen Überwachungspraxis gibt es lediglich quantitative, aber keinesfalls qualitative Unterschiede.

8.3

Die Digitalisierung der Information und ihre Auswirkungen

Leider gibt es in den Medien und im Internet gewisse Gesetzmäßigkeiten, die einer sachbezogenen und neutralen Berichterstattung nicht gerade förderlich sind. Dazu gehört die Tatsache, dass sich Lügen schneller verbreiten als die Wahrheit, vor allem online (vgl. Spitzer 2020:54). So brauchen wahre Nachrichten im Vergleich zu Fake News sechsmal länger, bis sie 1500 Menschen erreichen, und falsche Nachrichten werden mit einer 70 %igen Wahrscheinlichkeit häufiger mit anderen Nutzern geteilt als wahre Nachrichten. Die häufigsten falschen Nachrichten werden tausend- bis hunderttausendmal weiterverbreitet, wahre Nachrichten kaum häufiger als tausendmal (vgl. Spitzer 2020:54). Aktuell – so Specht (2018:167) – «kann man sich das Internet wie einen Ozean voller Webseiten und Webservices vorstellen. Dieser Ozean wird von Google und anderen Suchmaschinen mit einem großen elektronischen Fangnetz befischt». Allerdings werden damit nicht alle Teile des Internets erfasst, sondern nur das so genannte «Surface Web». Nach Meinung von Experten macht dieses Surface Web weniger als die Hälfte des gesamten Internets aus. Darunter liegt das so genannt «Deep Web» mit Inhalten und Angeboten, die normalen Suchmaschinen nicht zugänglich sind, wie passwortgeschützte Datenbanken, Bibliotheken, Mitglieder- und Personalbereiche. Ein Teil des Deep Web stellt das sogenannte «Dark Web» dar, das aus versteckten und verschlüsselten Onlineplattformen

186

8 Chancen und Gefahren der Digitalisierung

besteht, die für kriminelle Zwecke genutzt werden und über die man praktisch alle illegalen Dienstleistungen und Produkte beziehen kann. Über sogenannte Tor-Netzwerke – Tor steht für The Onion Router – verschickt eine frei verfügbare und legale Verschlüsselungssoftware über Tor-Browser Daten, die nicht mehr einer festen IP-Adresse zugeordnet sind, sondern über mehrere IP-Adressen laufen, wobei jeder Rechner nur den vorhergehenden und nachfolgenden Knoten kennt, wodurch der Ausgangspunkt des Datenpakets verschleiert wird. Alle 10 min wechselt dabei die Verbindungsstrecke (vgl. Specht 2018:168). Webseiten des Tor-Netzwerks – das von einem gleichnamigen NGO in den USA gegründet wurde – beinhalten die Endung.onion, darum lautet der Name dieses Netzwerks Onionland. Entsprechend ist Tor «nicht nur eine hervorragende Technik zur Förderung der Freiheit im Internet, sondern auch zur Verschleierung krimineller Machenschaften» (Specht 2018:170). Einmal mehr sieht man daran die Ambivalenz der Digitalisierung: Der berechtigte Wunsch nach Anonymität und der nachvollziehbare Wille, sich der permanenten Überwachung zu entziehen, kontrastieren mit der Praxis von Kriminellen, einen anonymen virtuellen Raum für ihre verbrecherischen Zwecke zu finden und zu nutzen. Wo befinden sich in diesem Informationsnetzwerk sogenanntes «junk news»? «Junk News ist … eine Form der Datenpolitik. Allerdings nicht in der Art und Weise, wie man sich das oft vorstellt. Wenn wir an die Macht der Daten denken, stellen wir uns oft eine Art Big-Brother-Dystopie vor: eine zentralisierte Organisation, die unsere Handlungen durch ein technologisches Panoptikum überwacht und sie durch modernste Überredungstechniken beeinflusst. Dies gilt nicht für ‚Junk News‘, die sich nicht auf die Sammlung detaillierter Datensätze mit persönlichen Informationen stützen und keine fortschrittlichen Algorithmen zur Beeinflussung nutzen. Fake News sind, prosaischer ausgedrückt, ‚Junk News‘, denn ihr Produktions- und Verbreitungszyklus ähnelt dem von Junk Food»4 (Venturini 2019:137). Laut Florian Schütz (2021:7), dem Delegierten für Cybersicherheit des Bundes, liegt die Verantwortung für den Schutz vor Cyberangriffen in der Schweiz primär bei der jeweiligen Institution. So kann die Stelle für Cybersicherheit Hinweise aus dem In- oder Ausland erhalten oder selbst verdächtige Aktivitäten sehen. Die Stelle erhält Kenntnis von einem Kontakt zwischen dem Server der Kriminellen und einer Schweizer IP-Adresse, warnt dann die betroffene Firma oder Behörde und bietet ihre Hilfe an. An den einzelnen Orten hilft die Behörde zu verstehen, was das Problem ist. Sie versucht zu verhindern, dass der Angreifer sich ausbreitet (vgl. Schütz 2021:7). Welche Schadenssoftware wird eingesetzt, wie kann die Polizei eingeschaltet werden, welcher externe IT-Dienstleister ist 4 «Junk news is, after all, a form of data politics. Yet, not in the way often imagined. When we consi-

der the power of data, we often conjure some sort of Big Brother dystopia: a centralised organisation monitoring our actions through a technological panopticon and influencing them through cuttingedge persuasion techniques. This is not the case for junk news, which does not draw on the collection of detailed datasets of personal information and does not exploit advanced influencing algorithms. ‚Fake news‘ is more prosaically,junk news’, for its cycle of production and distribution resembles to the one of junk food» (Venturini 2019:137).

8.3

Die Digitalisierung der Information und ihre Auswirkungen

187

beizuziehen, sofern keine eigene IT-Abteilung besteht? «Unsere Unterstützung bei Vorfällen ist vergleichbar mit der Aufgabe einer Feuerwehr: Diese kommt vor Ort, um den Brand zu löschen. Das Aufräumen ist aber nicht ihre Aufgabe» (Schütz 2021:7). Zurzeit liegt die Aufgabe des NCSC – des Nationalen Zentrums für Cybersicherheit – vor allem auf der Unterstützung von kritischer Infrastruktur. Ein Problem ist, dass viele Firmen keine Ahnung haben, wie gut sie bei ihrem Provider vor Cyberangriffen geschützt sind. Wehrt der Provider Attacken ab, wie schnell reagiert er bei einem Vorfall, muss ein zusätzliches Sicherheitspaket gekauft werden usw.? In der ersten Hälfte des Jahres 2021 wurden beim Bund 94 Ransomware-Angriffe gemeldet, dreimal so viele wie im Jahr 2020. Im gesamten Jahr 2020 waren es beim Bund insgesamt 67 Ransomware-Fälle gewesen. Insbesondere die Spitäler gerieten mit dem Ausbruch der Pandemie zunehmend in das Visier der Cyberkriminellen – sei es, weil die Spitäler weniger geschützt waren, sei es, weil die hohe Belastung einen zusätzlichen Schutz erschwerten (vgl. Schütz 2021:7). Jeder Mensch kann seine Passworte verschärfen und damit die Gefahr, gehackt zu werden, selbst massiv verringern: Mindestens Passworte von 10 Zeichen schaffen – laut den Schweizer Strafverfolgungsbehörden würde das Erraten eines Passwortes mit 9 Zeichen etwa 9 Jahre dauern, eines mit 12 Zeichen theoretisch 7,5 Mio. Jahre –; für jedes Konto ein eigenen Passwort schaffen, keine Wörter aus dem Wörterbuch nutzen, auf Namen und Adressen verzichten und im Extremfall eine Zwei-Faktor-Authentifizierung einrichten, also über ein Passwort Konten oder Geräte schützen (vgl. Da Silva 2021:16). Im Grunde gibt es drei Möglichkeiten, wie auf Cyber-Angriffe reagiert werden kann: Erstens den Rückgriff auf Backups, zweitens den Versuch, die Ransomware auszuhebeln und drittens die Zahlung von Lösegeld. Jeder dieser Wege hat Vor- und Nachteile. So bekommt ein gehacktes Unternehmen trotz Zahlung bei breit gestreuten Angriffen einen Teil seiner Daten nicht zurück. Entsprechend kann es taktisch geschickt sein, zuerst 10 bis 20 % des Lösegelds zu zahlen, um zu testen, ob die Hacker tatsächlich willens und in der Lage sind, die Daten wieder herzustellen. Ein häufiger Managementfehler besteht darin, das Ausmaß eines Cyberangriffs am Anfang zu unterschätzen. Unter dem akuten Stress versuchen die Verantwortlichen oft den Schaden herunterzuspielen, ohne die Dimension des Angriffs tatsächlich zu erkennen (vgl. Severin 2021a:24). Einige Führungskräfte driften in Zeiten von Cyberattacken in ein autoritäres Verhalten ab. Andere Führungskräfte tendieren in Krisensituationen dazu, die Nerven zu verlieren. Auf jeden Fall sollte man nach Überstehen des Cyberangriffs eine «Leichenschau» machen und analysieren, was falsch lief und wo Verbesserungsmöglichkeiten liegen (vgl. Severin 2021a:24). Als im Mai 2021 in Rolle, Kanton Waadt, die Personendaten von 5000 Personen, und im Oktober von 80.000 Personen in Montreux gehackt5 wurden (vgl. Wüstenholz 2021:7), war das nur die Spitze des Eisbergs. Zwischen Oktober 2020 und 2021 gab es rund 3000 Angriffe auf Unternehmen (vgl. Wüstenholz 2021:7). 2019 wurden in der USStadt Baltimore rund eine halbe Millionen Einwohner wochenlang lahmgelegt. Oder in Montreux war die Verwaltung während Tagen vom Internet abgeschnitten. Die Schwächen 5 Vgl. dazu auch das Abschn. «4.9 Datenmanagement und Datenschutz».

188

8 Chancen und Gefahren der Digitalisierung

sind überall die gleichen: «Veraltete Software, fehlende Upgrades, zu viele Benutzerrechte oder überwindbare Antivirenlösungen» (Sicherheitsexperte Marc Ruef laut Wüstenholz 2021:7). Als Empfehlungen dagegen nannte Marc Ruef (vgl. Wüstenholz 2021:7) wenig Überraschendes: Sichere Passwörter, Zwei-Faktoren Authentifizierungen, die Systeme auf dem neuestens Stand halten, beim Öffnen von Anhängen und Links in Mails Vorsicht walten lassen usw. Laut Minder (2021:21) werden kleine und mittlere Firmen in der Regel um Beträge zwischen 15.000 und 20.000 Dollar erpresst, bei größeren Firmen reicht das Spektrum von 200.000 bis 2,75 Mio. Dollar. Laut Minder (2021:21) einigt er sich mit Erpressern auf 10 bis 40 % der ursprünglichen Forderung – je mehr diese vom Geschäft des Opfers wissen, desto mehr können sie sie als Hebel benutzen. Die größeren Tätergruppen verhandeln mit 30 bis 40 Opfern gleichzeitig. Ein einzelner Angreifer wird jedoch versuchen, von diese so viel wie möglich herauszupressen. Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass die Mehrheit der Angriffe in Verbindung mit Remote-Zugriffen steht, die im Zuge der Corona-Pandemie gewährt wurden. Der häufigste Fall ist, dass die IT-Abteilung ein System für den Zugriff von außen öffnete, weil der Manager danach fragte, und danach geht das in Vergessenheit. Das bedeutet, dass die meisten Angriffe verhindert werden könnten (vgl. Kurer 2021:21). Es gibt laut Kurer (2021:21) drei Maßnahmen, welche die meisten Angriffe verhindern könnten: Erstens eine bessere Passwort-Richtlinie inkl. der Anordnung, firmeneigene Passwörter nicht auf externen Webseiten zu nutzen; zweitens eine Multifaktor-Authentifizierung: 80 % der Angriffe erfolgen auf Wegen ohne Zwei-WegAuthentifizierung, und drittens die Herstellung guter und sicherer Backups (vgl. Kurer 2021:21). Doch wie sieht der aktuelle Medienkonsum der verschiedenen Altersgruppen aus? «40 % der deutschen Bevölkerung ab 18 Jahren und 60 % der Unter-45-Jährigen sahen Anfang 2020 das Internet insgesamt als ihre Hauptnachrichtenquelle an. 30 % der 18- bis 24-Jährigen und 20 % der 25- bis 35-Jährigen griffen dabei primär über Social-MediaPlattformen auf Nachrichten zu. In der wöchentlichen Nutzung lagen Internet und TV im Januar 2020 mit jeweils 70 % erstmals gleichauf; in der COVID-19-Pandemie konnten TV-Nachrichten bis April 2020 wieder etwas an Boden gewinnen. Für andere Länder wie die USA und Großbritannien zeigt sich die steigende Relevanz des Internets in der Nachrichtenrezeption noch einmal deutlicher» (Schrape 2021:252; vgl. Tab. 8.1). Nach den einzelnen Internet-Anbietern nutzten die verschiedenen Altersgruppen wechselnde Informationskanäle, wobei die Nutzung von WhatsApp und Instagramm sowie auf tieferem Niveau von Snapchat, Twitter und TikTok zunahm, von Facebook aber abnahm (Vgl. Tab. 8.2). Stephan Russ-Mohl (2017:27) hat vorgeschlagen, alle Formen von Fake News, Verschwörungstheorien und Manipulationen im Nachrichtenbereich als «Desinformation» zu bezeichnen.

8.4

Digitalisierung und das Friedensproblem

189

Tab. 8.1 Genutzte Nachrichtenquellen 04/2020, in Prozent. (Quelle: Newman et al. 2020 (Mehrfachnennungen möglich) sowie Schrape 2021:253) Internet insgesamt

Social Media

TV

Radio

Print

Großbritannien

79

47

71

35

18

USA

73

47

60

21

16

Deutschland

69

39

72

41

26

Spanien

83

63

71

24

28

Argentinien

90

78

77

24

30

Ø-Abweichung zu 01/2020

+2

+5

+5

+2

−2

Tab. 8.2 Verschiedene Informationskanäle nach Jahr und Alter. (Quelle: ARD/ZDF-Onlinestudie 2020 sowie Schrape 2021:258) Gesamt Gesamt Gesamt 14–29 Jahre 30–49 Jahre 50–69 Jahre Ab 2017 2019 2020 70 Jahre WhatsApp

55

63

Facebook

21

68

92

79

62

32

21

14

24

19

10

1

Instagramm 6

13

15

53

13

1

1

Snapchat

4

5

6

27

1



0

Twitter

1

2

2

4

3

2

1

TikTok

n.a

1

2

7

1

0



8.4

Digitalisierung und das Friedensproblem

Eine wichtige, aber nicht sehr oft gestellte Frage ist das Verhältnis der Digitalisierung zur Friedensthematik. Was kann die Digitalisierung zu einer friedlicheren Welt beitragen, ist die Digitalisierung per se friedensfördernd oder friedensreduzierend? Die häufigste Antwort ist die, dass die Digitalisierung je nach Einsatz beides sein kann. Doch reicht diese Antwort? 1942 warf der Science-Fiction-Autor Isaac Asimov (1920–1992) in der Zeitschrift Astounding Science Fiction die Frage nach der Ethik von Robotern auf – und im gleichen Jahr stellte er in der Kurzgeschichte Runaround seine drei berühmt gewordenen Gesetze der Robotik auf: «Erstes Gesetz: Ein Roboter darf keinen Menschen verletzen oder durch Untätigkeit zu Schaden kommen lassen. Zweites Gesetz: Ein Roboter muss den Befehlen eines Menschen gehorchen, es sei denn, solche Befehle stehen im Widerspruch zum Ersten Gesetz. Drittes Gesetz: Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen, solange dieser Schutz nicht dem Ersten oder dem Zweiten Gesetz widerspricht» (zitiert nach Delahaye 2017:226 f.). Später ergänzte Asimov die drei Gesetze durch ein «nulltes Gesetz»: «Kein Roboter darf die Menschheit schädigen oder durch Untätigkeit zulassen,

190

8 Chancen und Gefahren der Digitalisierung

dass sie geschädigt wird» (zitiert nach Delahaye 2017:226 f.). Kämen diese Gesetze zur Anwendung, wäre klar, dass Roboter per se friedensfördernd sein müssten. Doch die Wirklichkeit sieht leider anders aus: Auf die Frage an Rodney Brooks, dem Gründer der Firma IRobot, warum er seinen Robotern diese Gesetze nicht einprogrammiere, antwortete Brooks: «Ganz einfach: Ich kann ihnen diese Gesetze nicht einbauen» (zitiert nach Delahaye 2017:228). Die Frage ist natürlich warum. Ein Teil der Antwort liegt zweifellos darin, dass künstliche Intelligenz – etwa bei Industrierobotern oder selbstfahrenden Autos – anders funktioniert und dass diese – zumindest bis heute – über kein Bewusstsein verfügt, das die drei Asimovschen Gesetze inhaltlich verstehen und anwenden kann. Das Gleiche gilt auch für sogenannte Killerroboter, so genannte «lethal autonomous weapons systems» LAWS – also autonome tödliche Waffensysteme. Diese gibt es bereits heute, unter anderem in Form des «Samsung Techwin Surveillance and Security Guard Robot», der in der entmilitarisierten Zone zwischen Nord- und Südkorea stationiert ist. Er wird zwar von menschlichen Operateuren kontrolliert, verfügt aber über einen automatischen Modus. Ebenso verfügen Antiraketensysteme wie das US-System «Patriot» oder das israelische «Iron Dome» über einen automatischen Modus, der sie ohne menschliches Engreifen feuern lässt (vgl. Delahaye 2017:232). Es ist nicht ohne Pikanz, dass sich neben Russland auch die USA, Israel und Australien gegen formale Verbotsverhandlungen autonomer Waffensysteme ausgesprochen haben (vgl. Delahaye 2017:236). Eher vorsichtig ist der deutsche Politologe Thomas Rid (2022:5) in Bezug auf die Wirksamkeit von Cyber-Angriffen. So sei der Schaden durch einen Cyber-Angriff im Schnitt deutlich weniger groß als bei realen Angriffen auf dem Schlachtfeld. Sie seien für die «Grauzone zwischen Krieg und Frieden … verdeckte Operationen prädestiniert» (Rid 2022:5). Allerdings werde der Effekt von Cyber-Angriffen eher überschätzt. Selbst Stromausfälle halten nicht besonders lange an. «Die grösste Wirkung ist, dass man Panik in die Gesellschaft des Opfers injiziert» (Rid 2022:5). So seien etwa die Verursacher von Cyber-Angriffen nicht immer klar. Allerdings gebe es eine Zuordnung: Wenn eine westliche Regierung sage, es sei ein russischer Nachrichtendienst gewesen, werde diese Zuordnung fraglos übernommen (vgl. Rid 2022:5). Interessant ist, dass die Anbieter von Sicherheitssoftware manchmal Verursacher entlarven, ohne das zu wollen: Amerikanische Unternehmen wie Mandiant, Crowdstrike, Sentinel One und zum Teil auch Google oder Microsoft entlarven manchmal Angreifer, ohne zu wissen, wer die Angreifer sind. Entsprechend hätten die Nachrichtendienste das Handlungsmonopol in der Spionageabwehr verloren (vgl. Rid 2022:5). So berichtete etwa Rid (2022:5), dass er früher ohne weiteres der amerikanischen Regierung mehr vertraut hätte, das sei nicht mehr der Fall: Heute neige er als Bobachter – ohne Kenntnis der Details der Beweisführung – eher der Einschätzung der Firma Mandiant zu. Fast kein Land bekenne sich heute zu Cyber-Angriffen – und das werde wahrscheinlich so bleiben. 2020 wurden die Spezialisten von FireEye, einer der größten und wichtigsten Akteure weltweit im Kampf gegen Cyberkriminalität, selbst Ziel eines Angriffs. Ihre Aktivisten waren vom State Department und anderen Regierungsbehörden nach einem russischen

8.5

Die Digitalisierungs-Verweigerer

191

Cyberangriff 2015 zu Rate gezogen worden und untersuchten 2017 die Rechner des gehackten Finanzdienstleisters Eqifax (vgl. Langer 2020:16). Dabei hatten die Angreifer eine enorme Expertise bewiesen, die man nur von staatlichen Akteuren kenne: «Sie verwendeten neuartige Kombinationen von Angriffstechniken, die weder wir noch unsere Partner bisher gesehen haben», so umschrieb der Geschäftsführer das Vorgehen der Angreifer. Der Angriff sei speziell auf FireEye zugeschnitten gewesen und die Angreifer hätten mehrere tausend IP-Adressen geschaffen, um ihre Angriffe zu lancieren und unter dem Radar der Sicherheitssysteme zu bleiben. FireEye hat in den vergangenen Jahren immer wieder Angriffe ausländischer Akteure bekannt gemacht und beispielsweise Iran, China oder Russland zugeschrieben (vgl. Langer 2020:16). Eine ganz andere Wirklichkeit sind die realen sexuellen Belästigungen in der virtuellen Welt. So machte eine Beta-Testerin beim Besuch von Horizon Worlds eine beunruhigende Erfahrung: Sie war von einem Fremden auf dem Portal begrapscht worden: «Denn andere Avatare können sich in der Welt dem eigenen Avatare bis in die Intimzone annähern, dabei sexuelle Gesten machen und diesen auch mit entsprechenden Worten belästigen» (vgl. Langschwager 2022:20). Digital-körperliche Belästigungen und Berichte darüber sind kein besonderes Problem von Avataren in Parallelwelten. Wie in der realen Welt kann der Schaden real sein: Psychosomatische Folgen und Ängste können bei Nutzerinnen und Nutzern die Folge sein, so Claudia Paganini, Professorin für Medienethik an der Hochschule für Philosophie München. Durch die Verkörperung der Avatare können sexuelle Übergriffe noch stärker wirken als etwa in den sozialen Netzwerken. Entsprechend glaubt Paganini, dass man die digitale Empathie unbedingt fördern muss – auch digitale Zivilcourage. Das Hauptproblem bei solchen Delikten liegt darin, dass sie sich nicht zurückverfolgen lassen – «man kommt nicht an den Täter heran», so die Rechtsanwältin Stephanie Volz (vgl. Langschwager 2022:20). Allerdings seien Selbstregulierungsmaßnahmen der Portale ein wichtiges Werkzeug, um Sanktionen einzuleiten – aber wie wirksam das ist, muss offen bleiben.

8.5

Die Digitalisierungs-Verweigerer

Während man aus einer Partei oder einer Religionsgemeinschaft oder Kirche austreten kann, ist das bei den sozialen Medien oder noch stärker bei der digitalen Kommunikation nicht so ohne weiteres möglich. Wer sich den sozialen Medien oder der digitalen Kommunikation verweigert, zahlt – unter Umständen gar nicht so geringe – soziale Kosten. In einem Gespräch mit dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber (2022:27), über die digitalen Medien, stellte der Interviewer Matthias Drobinski die Frage, ob die Verständigung auf ethische Kriterien nicht bereits längst durch die technologische Entwicklung überholt sei und ob es noch möglich sei, damit Schritt zu

192

8 Chancen und Gefahren der Digitalisierung

halten. Die Antwort von Huber war ebenso entwaffnend wie ehrlich: Es brauche Instanzen, um den technologischen Fortschritt langsamer anzugehen. Oder anders gesagt: Die Menschen sollten sich vom Fortschrittsdruck nicht überrollen lassen. An der Buxton School in Williamstown im US-Gliedstaat Massachusetts, einer Internatsschule, hat die Schulleitung Smartphones für Schüler und Lehrer 2022 verboten. Die Schüler verzogen sich nach dem Unterricht in ihre Zimmer und beschäftigen sich mit ihren Smartphones: «Nicht das wirkliche Leben, sondern die iPhones waren die Welt der Schüler», meinte der Geschichtslehrer John Kalapos (zitiert nach Brinck 2022:31). Außerdem entwickelte sich zunehmend eine Art digitale Exklusion von Mitschülern. Diese Dynamik war laut Kalapos physisch zwar nicht wahrnehmbar, aber sozial sehr mächtig – und Lockdowns verstärkten diesen Effekt noch (vgl. Brinck 2022:31). Zwar war nach einigen Monaten der Effekt dieser «digitalen Fastenkur» (Brinck 2022:31) noch nicht eindeutig, aber es scheint, dass sich die soziale Dynamik an der Schule veränderte, nicht wenige Schüler fanden neue Freunde und Interessen. Viele Eltern und Schüler beurteilten die Entzugserfahrung von Mobiltelefonen positiv. Es stellt sich die Frage, ob allgemein ein «Recht auf offline» verankert werden müsste – so wie das etwa bereits an gewissen Orten in Frankreich der Fall ist (vgl. Pärli 2019:184). Falls ja, muss geklärt werden, wie das geschehen soll – ob da reine Verbote von Mobiltelefonen und digitalen Geräten während gewissen Zeiten oder an bestimmten Orten genügen, ist mehr als fraglich. Nach Ansicht von Cachelin (2015:9) formiert sich im Schatten der digitalen Leitkultur heute eine Gegenkultur: «Deren Träger setzen sich für multipolare Machtverhältnisse, reziproke Transparenz, Entscheidungsfreiheit, eine Vielfalt der Lebensstile und soziale Integration ein. Die Bewegung richtet sich weniger gegen die Digitalisierung an und für sich, als vielmehr gegen deren technische, soziale, ökonomische oder ökologische Nebenwirkungen» (Cachelin 2015:9). Cachelin meint, dass sich die Offliner gegen eine fremdbestimmte Digitalisierung wehren, in welcher ihre Anliegen und Bedürfnisse keine Bedeutung besitzen. Offliner wollen also nicht auf das Internet verzichten, aber sie rebellieren gegen die selbstverständliche alternativlose Digitalisierung: «Ziel der Offliner ist nicht die digitale Abstinenz, Ziel ist die Beteiligung am Design der Matrix» (Cachelin 2015:10).

Literatur Anderl, Sibylle 2023: Noch mehr Desinformation? Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.2.2023. ARD/ZDF-Onlinestudie 2020: ARD/ZDF-Onlinestudie 2020. https://www.ard-zdf-onlinestudie.de (11/2020). Betschon, Stefan 2019: Geist in der Maschine. In: Neue Zürcher Zeitung vom 8.10.2019. 12. Brinck, Christine 2022: Schüler auf Handy-Entzug. Ein amerikanisches Internat verbietet Smartphones. Der Schritt ist umstritten, zeigt aber positive Wirkung. In: Neue Zürcher Zeitung vom 28.11.2022. 31.

Literatur

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Brühl, Jannis 2022: Angriff auf «Ka-Sat 9A». In: Süddeutsche Zeitung vom 5.4.2022. 15. Cachelin, Joël Juc 2015: Offliner. Die Gegenkultur der Digitalisierung. Bern: Stämpfli Verlag. Da Silva, Gioia 2021: Fünf Tipps für ein sicheres Kennwort. In: Neue Zürcher Zeitung vom 6.7.2021. 16. Daub, Adrian 2019: Das Privileg der Angst. Wer die Hoheit über die Ängste hat, hat die Macht über die Menschen: wie eine neue App die Gesellschaft homogenisiert. In: Neue Zürcher Zeitung vom 26.6.2029. 35. Delahaye, Jean-Paul 2017: Müssen wir autonome Killerroboter verbieten? In: Könneker, Carsten (Hrsg.): Unsere digitale Zukunft. In welcher Welt wollen wir leben? Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft/Springer. 225 ff. Dettling, Daniel 2019: Das System ist für die Bürger da, nicht umgekehrt. In: Neue Zürcher Zeitung vom 8.5.2019. 10. Dittrich, Miro 2021: «Mordaufrufe und Bombenbaulektionen sind keine Seltenheit auf Telegram». Der Extremismusforscher Miro Dittrich im Gespräch mit Corinne Planga. In: Neue Zürcher Zeitung vom 24.2.2021. 16. Endress, Martin 2017: Sicherheitsbedürfnis, Risikobereitschaft und digitale Praxis. Ambivalente Vergesellschaftungstendenzen. In: Banse, Gerhard/Busch, Ulrich/Thomas, Michael (Hrsg.): Digitalisierung und Transformation. Industrie 4.0 und digitalisierte Gesellschaft. Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften. Band 49. Berlin: trafo Wissenschaftsverlag. 37 ff. Halimi, Serge/Rimbert, Pierre 2021: Journalismus als Kulturkampf. Neue und alte Medien und das Geschäft mit der Aufregung. In: Le Monde Diplomatique (deutsche Ausgabe Schweiz) vom März 2021. 22 f. Halimi, Serge/Rimbert, Pierre 2021: Der Überwachungskapitalismus hat begonnen. In: Neue Zürcher Zeitung vom 19.1.2021. 17. Huber, Wolfgang 2022: «Ich muss Herr meines Computers sein». Gespräch mit Wolfgang Huber von Mathias Drobinski. In: Publik-Forum Nr. 22/2022. 26 f. Kinder-Kurlanda, Katharina E. 2017: Big Data. In: Koch, Gertraud (Hrsg.): Digitalisierung, Theorien und Konzepte für die empirische Kulturforschung. München: UVK Verlagsgesellschaft Konstanz. Kinder-Kurlanda, Katharina E. 2022: Die nationale Online-Welt steht plötzlich still. In: Neue Zürcher Zeitung vom 20.10.2022. 25. Kinder-Kurlanda, Katharina E. 2021: Der Staat ist digital inkompetent. Gut so. In: Neue Zürcher Zeitung vom 24.6.2021. 29. Kölling, Martin 2022: Die nationale Online-Welt steht plötzlich still. In: Neue Zürcher Zeitung vom 20.10.2022. 25. Kurz, Constanze/Oerder, Katharina/Schildmann, Christina 2019: Neue Bruchlinien in einer sich digitalisierenden Arbeitswelt. In: Kohlrausch, Bettina/Schildmann, Christina/Voss, Dorothea (Hrsg.): Neue Arbeit – neue Ungleichheiten? Folgen der Digitalisierung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. 35 ff. Langer, Marie-Astrid 2020: Hackern gelingt spektakulärer Angriff. Amerikanische Firma für Cybersicherheit als Ziel – staatliche Akteure als Drahtzieher vermutet. In: Neue Zürcher Zeitung vom 10.12.2020. 16. Langschwager, Marit 2022: Auch in der virtuellen Welt gibt es ganz reale sexuelle Belästigung. Das Metaversum verspricht einen bunten Virtual-Reality-Baukasten – doch auf dieser Spielwiese lauern Gefahren. In: Neue Zürcher Zeitung vom 12.2.2022. 20. Lucks, Kai 2020: Der Wettlauf um die Digitalisierung. Potenziale und Hürden in Industrie, Gesellschaft und Verwaltung. Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag.

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8 Chancen und Gefahren der Digitalisierung

Mäder, Lukas 2021a: Russland, China und die USA einigen sich überraschend bei der Cybersicherheit. Nach sechs Jahren stimmen alle Uno-Mitgliedstaaten einer Empfehlung zu – auch dank der Schweiz. In: Neue Zürcher Zeitung vom 29.3.2021. 4. Mäder, Lukas 2021b:Russische IT-Firmen helfen bei Cyberattacken mit. Mit ihren neuen Sanktionen nehmen die USA die Kooperation zwischen Geheimdiensten und Privaten ins Visier In: Neue Zürcher Zeitung vom 17.4.2021b. 3. Mäder, Lukas 2022:Cybersicherheit ist keine Aufgabe der Armee. In: Neue Zürcher Zeitung vom 11.10.2022. 17. Mäder, Lukas/Monn, Julia/Fulterer, Ruth 2022: Europas Datenkabel sind kaum geschützt. In: Neue Zürcher Zeitung vom 7.10.2022. 24 f. Minder, Kurtis 2021: «Man muss Empathie für die Hacker zeigen». Verhandler Kurtis Minder im Gespräch mit Marie-Astrid Langer. In: Neue Zürcher Zeitung vom 22.6.2021. 20f. Minder, Kurtis 2020: Reuters Institute Digital. News Report 2020. Oxford: Reuters Institute for the Study of Journalism. Pärli, Kurt 2019: Ein Recht auf offline? In: Caritas Schweiz (Hrsg.): Sozialalmanach 2019. Digitalisierung – wo bleibt der Mensch? Das Caritas-Jahrbuch zur sozialen Lage der Schweiz. Trends, Analysen, Zahlen. Luzern: Caritas-Verlag. 177 ff. Pentland, Alex Sandy 2017: Schützt die NSA vor sich selbst! In: Könneker, Carsten (Hrsg.): Unsere digitale Zukunft. In welcher Welt wollen wir leben? Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft/ Springer. 125 ff. Rid, Thomas 2022: «Wir überschätzen die Wirksamkeit von Cyberangriffen tendenziell». Der deutsche Politologe Thomas Rid betont, «Cyberkrieg» sei nicht das Gleiche wie Krieg. Bei Attacken auf Cybersysteme gehe es in erster Linie um die Verunsicherung des Gegners, weniger um den effektiven Schaden, sagt er im Gespräch mit Lukas Mäder. In: Neue Zürcher Zeitung vom 28.1.2022. 5. Rifkin, Jeremy 2016: Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch. Rüdele, Viola/Teupke, Andrea 2019: Der Plan von der Abschaffung des Todes. In: Publik-Forum Nr. 23/2019. 27 ff. Russ-Mohl, Stephan 2017: Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde. Warum die Digitalisierung unsere Demokratie gefährdet. Köln: Herbert von Halem Verlag. Sander, Matthias 2021: Neue US-Sanktionen haben Chinas Militär im Fokus. In: Neue Zürcher Zeitung vom 17.4.2021. 27. Sander, Matthias 2022a: Chinas Sozialkreditsystem soll vereinheitlicht werden. Der Gesetzesentwurf der Regierung ist so umfassend wie vage. In: Neue Zürcher Zeitung vom 26.11.2022. 7. Sander, Matthias 2022b: Technologie im Dienst des Diktators. In: Neue Zürcher Zeitung vom 20.12.2022. 17. Sandoz Borioli, Valérie 2020: Die Digitalisierung kann Vereinbarkeit erleichtern und die Gleichstellung voranbringen – vorausgesetzt, sie wird aktiv gestaltet. In: Frauenfragen. Ausgabe 2020. Schweizerische Eidgenossenschaft: Eidgenössische Kommission für Frauenfragen EKF. 34 ff. Schrape, Jan-Felix 2021: Öffentliche Kommunikation in der digitalisierten Gesellschaft. Plattformisierung – Pluralisierung – Synthetisierung. In: Braun, Kathrin/Kropp, Cordula (Hrsg.): In digitaler Gesellschaft. Neukonfigurationen zwischen Robotern, Algorithmen und Usern. Politik in der digitalen Gesellschaft. Band 2. Bielefeld: Transcript Verlag. 249 ff. Schütz, Florian 2021: «Viele Firmen haben keine Ahnung, wie gut sie vor Cyberangriffen geschützt sind». Der Bund warnt täglich Firmen, die gerade Opfer einer Hackerattacke werden. Doch die Verantwortung liege bei den Unternehmen, sagt Florian Schütz, Delegierter für Cybersicherheit

Literatur

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des Bundes, im Gespräch mit Lukas Mäder und Georg Häsler. In: Neue Zürcher Zeitung vom 20.12.2021. 7. Severin, Christin 2021a: Die gröbsten Fehler der Cyberopfer. Ein Leitfaden zur Vermeidung von unnötigem Ärger. In: Neue Zürcher Zeitung vom 22.11.2021. 24. Severin, Christin 2021b: KMU kennen Cyberrisiken, fühlen sich aber oft ohnmächtig. Eine konkrete Vorbereitung auf den Ernstfall fällt gerade kleinen Firmen schwer. In: Neue Zürcher Zeitung vom 3.9.2021. 25. Specht, Philip 2018: Die 50 wichtigsten Themen der Digitalisierung. Künstliche Intelligenz, Blockchain, Bitcoin, Virtual Reality und vieles mehr verständlich erklärt. München: Redline Verlag. Spiekermann, Sarah 2019: Digitale Ethik. Ein Wertsystem für das 21. Jahrhundert. München: Droemer Verlag. Venturini, Tommaso 2019: From fake to junk news. The data politics of online virality. In: Bigo, Didier/Isin, Engin/Ruppert, Evelyn: Data Politics. Worlds, Subjects, Rights. London/New York: Routledge. 123 ff. Wüstenholz, Florian 2021: Das Bewusstsein für die Gefahren fehlt. In: WochenZeitung vom 28.10.2021. 7.

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Ethische Fragen

Zusammensafassung

Viele digitale Geschäftsmodelle bezwecken, die Menschen zu schwächen, aber andere Anwendungen erhöhen die Möglichkeiten und Chancen von Menschen. Spiekermann (2019, S. 27) hat die Frage gestellt, inwiefern die Digitalisierung zu «echtem» Fortschritt führt und inwiefern die Digitalisierung Rückschritt bewirkt. Hier gilt es aufzupassen und genau hinzusehen

Sarah Spiekermann (2019, S. 24) hat darauf hingewiesen, dass viele digitale Geschäftsmodelle bezwecken, die Menschen zu schwächen – etwa durch süchtig machende Dienste, um dem Dienstleister Werbemöglichkeiten zu geben, durch abhängig machende digitale Tools, um den Nutzer an den Anbieter zu binden, oder durch den Bau von IT-Produkten, die nach einer bestimmten Zeit kaputt gehen (geplante Obsoleszenz). Natürlich ist all das nicht eine Neuerfindung der digitalisierten Wirtschaft, sondern eine Fortsetzung bereits früher bestehender Tendenzen – allerdings mit dem Unterschied, dass solche Bemühungen heute um ein Vielfaches effizienter, lückenloser und raffinierter sind dank digitaler Techniken. Im Bereich der Ethik bildete sich in den letzten Jahren als Antwort auf den elektronischen technisch-gesellschaftlichen Wandel die sogenannte Informationsethik heraus. Dabei wird der Begriff der Information breit verstanden und beinhaltet Wissen, Kommunikationsflüsse, Übertragungen und Netze (vgl. Puzio und Filipovi´c 2021, S. 91). Entsprechend steht Informationsethik für ethische Fragestellungen, die im Zusammenhang mit Anwendungen im Internet, des Informationsmanagements und der Nutzung elektronischer Geräte entstehen (vgl. dazu Heesen 2016, S. 2).

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C. J. Jäggi, Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42206-6_9

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198

9 Ethische Fragen

Wiemeyer (2021, S. 167) hat aus der Sicht der Ethik folgende Fragen an die Digitalisierung gestellt, die für die künftige Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft entscheidend sind und dringend beantwortet werden müssen: • Inwieweit verringert oder vergrößert die Digitalisierung die Umweltbelastung, und inwiefern fördert oder schädigt sie die intergenerationelle Gerechtigkeit? • Trägt die Digitalisierung dazu bei, dass die Menschen ein in Freiheit selbstbestimmtes Leben führen können – oder baut sie dafür neue Hindernisse auf? Verringert oder vergrößert die Digitalisierung die ökonomische Ungleichheit zwischen hoch entwickelten Ländern, Schwellen- und Entwicklungsländern? Trägt die Digitalisierung zur Chancengleichheit bei oder schafft sie neue Ungleichheiten? • Generiert die digitale Wirtschat genügend Einkommen für alle und erleichtert sie den Erwerb von Eigentum oder nicht? Steigt durch die Digitalisierung die Bedarfsgerechtigkeit und verbessert sich durch sie die Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Menschen? • Weisen digitale Märkte ausgewogene Marktstrukturen auf und gewähren sie Leistungsgerechtigkeit für Einzeltransaktionen? • Engagieren sich digitale Unternehmen hinreichend an der Finanzierung und Sicherung öffentlicher Güter – wächst oder sinkt die Finanzierungsgerechtigkeit? Natürlich stellen sich die meisten dieser Fragen auch für ganz normale Unternehmen, aber – wie überall – bieten sich für digitale Unternehmen einerseits neue Chancen und anderseits zeichnen sich auch neue Risiken und Gefahren ab. Spiekermann (2019, S. 27) hat die Frage gestellt, inwiefern die Digitalisierung zu «echtem» Fortschritt führt und inwiefern die Digitalisierung Rückschritt bewirkt. Mit echtem Fortschritt meinte sie «menschengerechten» oder anders gesagt «wertvollen» Fortschritt im wörtlichen Sinn. Sie meinte damit «Wertschöpfung» in einem umfassenden Sinn, nicht einfach als Geldanhäufungsmaschine, sondern als Beitrag an die Entwicklung menschlicher Werte wie Freiheit, würdevolles Leben usw. «Umgekehrt vollzieht sich ein Rückschritt, wenn wir Werte nicht schöpfen, sondern untergraben – etwa weil wir IT-Systeme so entwickeln oder nutzen, dass wir unsere Freiheit verlieren, immer dümmer werden, weil wir Wissen in Maschinen auslagern, unsere Privatheit aufgeben, unsere Gesundheit ruinieren oder zu flachen Persönlichkeiten werden» (Spiekermann 2019, S. 27). Um das zu verhindern, müssten wir zuerst die Natur des Digitalen besser verstehen, aber auch in unseren unterschiedlichen Rollen als Nutzer, Käufer, Investoren, Manager und Politiker den grundlegenden menschlichen Werten verbunden bleiben. Doch das ist leichter gesagt als getan: Welches sind die grundlegenden menschlichen Werte? Darüber streiten sich Ethiker:innen seit Generationen – und leider nicht sehr erfolgreich. Anhand eines fiktiven Beispiels hat Spiekermann (2019, S. 33) vorgeschlagen, drei Fragen nach den Auswirkungen digitaler Neuentwicklungen zu stellen: Erstens die Frage, wie

9 Ethische Fragen

199

sich ein neues digitales Angebot auf den Charakter der betroffenen Stakeholder auswirkt, zweitens die Frage nach dem menschlichen, sozialen oder ökonomischen Nutzen und drittens die Frage nach den persönlichen Maximen oder Wertprioritäten der von der Innovation Betroffenen. Dabei zielt die erste Frage auf die Tugendethik, die zweite thematisiert die utilitaristische Sicht und die dritte ist handlungsethisch ausgerichtet. Wolfgang Huber (2022, S. 27) meinte, dass sich eine Ethik der Digitalisierung am Wert und an der Würde des Menschen orientieren, die Schädigung der Mitmenschen vermeiden und die Förderung des Lebens insgesamt unterstützen müsse. Außerdem müsse eine solche Ethik die Freiheit der beteiligten Personen achten und mit den vorhandenen Ressourcen gerecht umgehen. Bei der künstlichen Intelligenz kommen noch zwei Kriterien hinzu: Echte Verstehbarkeit und die Freiheit und Fähigkeit, Entwicklungen zu unterbrechen oder zu beenden. Das ist alles sehr schön und zweifellos sinnvoll, nur wird man nicht darum herum kommen, vor allem bei ethischen Problemen die Frage nach dem vertretenen Menschenbild zu stellen: Die Art und Weise der angestrebten Digitalisierung ist engstens mit dem Grundverständnis des Menschen verbunden – oder anders gesagt: Die Digitalisierung wird nie etwas anderes sein als ein Spiegelbild des menschlichen Selbstverständnisses. Deshalb steht im Grunde vor oder über jeder digitalen Ethik einmal mehr die Frage nach der geistig-seelisch-körperlichen Natur des Menschen und letztlich nach dem Sinn des menschlichen Lebens. Man mag nun entgegnen, das sei doch eine religiöse Frage und habe kaum etwa mit der Digitalisierung zu tun. Das ist zwar richtig, doch tangiert zum einen die ungebremste Digitalisierung früher oder später genau solche metaphysischen Fragen – man denke etwa an die Bewegung des Transhumanismus1 , an Fragen nach einem KI-Bewusstsein oder nach autonomen Killerwaffen – und zum anderen haben sich die zentralen Agenturen spiritueller und religiöser Dienstleistungen, nämlich die organisierten Religionen und Kirchen, bis anhin als erschreckend unfähig erwiesen, auf genau solche brennenden Fragen zu antworten. Im Grunde müssten sich all jene Gemeinschaften und Organisationen, deren Kerngeschäft – frei nach Max Weber – die Vermittlung von spirituellen Angeboten und Zugängen zu spiritueller Erfahrung ist, schwergewichtig mit Fragen und Auswirkungen der Digitalisierung befassen. Das gilt einerseits für die Fundamentaltheologie auf der grundsätzlichen Ebene und anderseits für die Pastoraltheologie in Bezug auf die Alltagsauswirkungen der Digitalisierung. Soweit ich das sehe, nähert

1 Spiekermann (2019, S. 157) nennt den Transhumanismus eine Ideologie der Lieblosigkeit. Der

Transhumanismus will den Menschen «enhancen», also verbessern – ohne zu realisieren, dass viele dieser «Verbesserungen» im Grunde eher Verschlechterungen sind, angefangen bei eingepflanzten Chips bis hin zu Nanopartikeln in Kleidung oder anderen Gegenständen, vielleicht sogar bald schon im menschlichen Blutkreislauf. Tatsächlich ist der radikale Transhumanismus à fonds inhuman, also unmenschlich. Spiekermann (2019, S. 161) hat zu Recht die Frage gestellt, warum es dazu kommen konnte, dass wir heute den Menschen derartig verbesserungswürdig und die menschliche Natur derartig negativ sehen. Vielleicht steht tatsächlich ein politisches oder wirtschaftliches Kalkül dahinter – und man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um diese Fragen zu stellen.

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9 Ethische Fragen

sich bis heute einzig die theologische Ethik schüchtern einzelnen Fragestellungen der Digitalisierung. Für Sarah Spiekermann (2019, S. 60) bedeutet digitale Ethik «,das Richtige‘ tun, ‚das Richtige‘ bauen». Das klingt zweifellos gut, aber was ist «das Richtige»? War es «das Richtige», als die Amerikaner die Atombombe bauten und zwei Atombomben über Japan abwarfen, um den Krieg zu beenden? War es «das Richtige», als das Internet erfunden wurde? Wenn heute an den Börsen rund 90 % der Tradings automatisiert abgewickelt werden, zum Teil von Künstlicher Intelligenz (vgl. Spiekermann 2019, S. 61), ist es «das Richtige»? Müsste nicht vielmehr die Frage nach «dem Richtigen» auf der Ebene der Systeme, der Netzwerke und der Entwicklungsdynamik und -richtung des kapitalistischen Systems gestellt werden? Tugendhafte Manager und Unternehmer sind zweifellos wünschenswert, aber wenn das gesamte System unethisch oder amoralisch ist, dann nützt auch der tugendhafteste CEO wenig – er muss die Systemregeln anwenden oder er wird wegrationalisiert, weil sein Verhalten nicht systemkonform oder genauer: nicht systemrational ist. Bedenkenswert ist die Überlegung von Spiekermann (2019, S. 65), dass Fortschritt sich allein darin zeigt, welche Wertqualitäten effektiv geschaffen werden. Dabei hat das Gemeinwohl im Zentrum zu stehen, nicht die Rendite oder irgendwelche Effektivitätskennzahlen. Die große Frage und das große Problem bestehen darin, wie und in welche Richtung das gegenwärtige Wirtschaftssystem umgebaut werden kann, damit es diese Kriterien erfüllt. Darum geht zweifellos der große Streit seit über 170 Jahren. Interessant ist auch Spiekermanns (2019, S. 230) Vorschlag, Künstliche Intelligenz als digitalen Ethikspeicher oder Ethikcoaches einzusetzen. Ja, das «deep learning» könnte auch zur Weiterentwicklung und Zu-Ende-Denken ethischer Modelle und Konzepte eingesetzt werden – denn leider erschöpfen sich «ethische Überlegungen» immer noch allzu oft in Gemeinplätzen oder Checklisten für bestimmte Situationen. Allerdings dürften ethische Vorschläge durch Künstliche Intelligenz nie den Charakter von sanftem Zwang oder gar Manipulation2 annehmen, denn das würde ja wieder gegen das persönliche Freiheits-Postulat verstoßen. Entscheiden müssen immer Menschen, nicht Künstliche Intelligenzen (vgl. Spiekermann 2019, S. 233). Aber dafür müssen die Menschen vorbereitet, ausgebildet und erzogen werden. Es gibt aber auch ganz konkrete Probleme, die im Zusammenhang mit der Digitalisierung zu lösen sind. Das Arbeitsrecht und die Sozialversicherungen müssen an die neuen Arbeitsbedingungen angepasst werden, «bevor die Digitalisierung im Schattenwind der Gewinnmaximierung und des Rationalisierungsdrucks mehr Verliererinnen und Verlierer produziert» (Fasel 2019, S. 10). Bereits heute werden viele Regelungen im Arbeitsrecht und im Sozialversicherungsbereich den neuen Lebens- und Arbeitsrealitäten nicht mehr

2 Dabei ist heute mit dem vielzitierten «Nudging», also dem «anschubsen» zu einem bestimmten

Verhalten, bereits eine Grenze erreicht: Gesundheitsapps wollen das Gesundheitsverhalten verbessern, Versicherungen belohnen Ernährungsapps mit Rabatten usw.

9 Ethische Fragen

201

gerecht (z. B. Arbeit im Homeoffice, mobile Worker, Crowdworking usw.). Das traditionelle Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis verändert sich, das persönliche Risiko der «freien» Arbeiter nimmt zu und ihre vom Auftraggeber erwartete Verfügbarkeit steigt ins Unendliche. Auch die Finanzierung der Sozialversicherungen, die traditionell durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge in Lohnprozenten geschieht, kommt ins Wanken. Die Digitalisierungsrendite muss gerecht verteilt werden. Und was ist unter «ethischer Intuition» zu verstehen? Markus Christen (2019, S. 13) hat dazu exemplarisch einen Bericht der European Group on Ethics and New Technologies angeführt, welche die EU-Kommission berät. Gemäß diesem Bericht darf KI die Würde des Menschen nicht verletzen und muss die menschliche Autonomie erhalten. Außerdem müssen die Forschung und die Nutzung von KI verantwortungsbewusst sein und bleiben, und schließlich muss KI zur Gerechtigkeit und zu gleichem Zugang zu Leistungen beitragen (vgl. Christen 2019, S. 13). Außerdem müssen Rechtsstaatlichkeit und Rechenschaftspflicht gewahrt sein, und schließlich darf KI die Sicherheit, die körperliche und geistige Integrität sowie den Datenschutz und die Privatsphäre nicht verletzen, und sie muss in Übereinklang mit Umweltschutz und Nachhaltigkeit stehen. Aus ethischer Perspektive gilt es sechs technische, soziale und ökonomische Bedingungen von KI zu beachten: Erstens entstehen durch das Training mit vielen neuen Daten neue Sicherheitsprobleme und gleichzeitig ist die geforderte Nachvollziehbarkeit nicht gegeben. Zweitens können die Resultate aufgrund der verwendeten Daten verzerrt werden – das gilt insbesondere, wenn ein Datensatz zwar einen Sachverhalt repräsentativ darstellt, dieser aber die Folge einer ethisch als problematisch empfundenen Ordnung ist (vgl. Christen 2019, S. 14). Ein drittes ethisches Problem ist die Fairness von Algorithmen: Diese muss in eine für Computerprogramme verständliche «Sprache» übersetzt werden, und das ist – wie die Forschung zeigt – oft kaum möglich. Viertens haben KI-Systeme ein teilweise enormes Potenzial zur Automatisierung der Wirtschaft, was zu Ängsten vor Arbeitsplatzverlust führt. Dabei ist das Ausmaß von Arbeitsplatzverlusten und das Potenzial zur Schaffung von neuen Stellen oft unklar – und das kann zu sozialer Unrast und zu Krisen führen, wie dies bereits in der Vergangenheit viele soziale Veränderungen getan haben. Fünftens haben Unternehmen und Organisationen mit großen Datensätzen einen kompetitiven Vorteil, was die Bildung von Daten-Oligopolen fördert. Und sechstens können KI zur Massenüberwachung oder für «Big Nudging»-Aktivitäten eingesetzt werden, die ihrerseits zur Verhaltenssteuerung von Menschen führen können (vgl. Christen 2019, S. 15). Und darüber hinaus besteht das Problem, «wie die Entscheidungsfindung von KI Menschen gegenüber transparent gemacht werden kann. Es muss geklärt werden, wie der Mensch bei komplexen KI-Systemen die Kontrolle behalten kann» (Christen 2019, S. 15).

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9 Ethische Fragen

Literatur Christen, Markus 2019: Wie programmiert man ethische Intuition? In: Die Volkswirtschaft Nr. 12/ 2019. 13 ff. Fasel, Hugo 2019: Vorwort. In: Caritas Schweiz (Hrsg.): Sozialalmanach 2019. Digitalisierung – wo bleibt der Mensch? Das Caritas-Jahrbuch zur sozialen Lage der Schweiz. Trends, Analysen, Zahlen. Luzern: Caritas-Verlag. 9 ff. Heesen, Jessica 2016: Einleitung. In: Heesen, Jessica (Hrsg.): Handbuch Medien- und Informationsethik. Stuttgart: J.B. Metzler-Verlag. 2 ff. Huber, Wolfgang 2022: «Ich muss Herr meines Computers sein». Gespräch mit Wolfgang Huber von Mathias Drobinski. In: Publik-Forum Nr. 22/2022. 26 f. Puzio, Anna/Filipovi´c, Alexander 2021: Personen als Informationsbündel? Informationsethische Perspektiven auf den Gesundheitsbereich. In: Fritz, Alexis/Mandry, Christof/Proft, Ingo/ Schuster, Josef (Hrsg.): Digitalisierung im Gesundheitswesen. Anthropologische und ethische Herausforderungen der Mensch-Maschine-Interaktion. Jahrbuch für Moraltheologie. Band 5. Freiburg/Basel/Wien: Herder. 89 ff. Spiekermann, Sarah 2019: Digitale Ethik. Ein Wertsystem für das 21. Jahrhundert. München: Droemer Verlag. Wiemeyer, Joachim 2021: Wirtschaftsethische Herausforderungen der Digitalisierung. In: Ulshöfer, Gotlind/Kirchschläger, Peter G. / Huppenbauer, Markus (Hrsg.): Digitalisierung aus theologischer und ethischer Perspektive. Konzeptionen – Anfragen – Impulse. Reihe Religion – Wirtschaft – Politik. Band 22. Baden-Baden: Nomos. 163 ff.

Prinzipien für eine Neuausrichtung der Digitalisierung

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Zusammensafassung

Die Neuausrichtung der Digitalisierung wirft viele Fragen auf: Etwa die Frage von Open Data und Big Data, von Gratisnutzung und bezahlter Nutzung von Programmen und Daten, den Kampf um das virtuelle Metaversum

Es gibt laut Cachelin (2015, S. 14) drei Gruppen von «Nonlinern», also von Personen, die keinen Zugang zum Internet haben: Die Bildungsfernen, die Alten und die global Isolierten. Dabei finden sich die aus der digitalen Gesellschaft Verdrängten in Parallelgesellschaften wieder: Entweder sie resignieren oder sie rebellieren aktiv. Die Teilnahme an der digitalen Gesellschaft bedeutet, dass die Menschen neben Zugang zur Infrastruktur auch über entsprechende Netzwerke und Kulturtechniken verfügen. Dazu gehören unter anderem: «Das Spiegeln seines analogen Lebens ins Digitale, der bewusste Umgang mit Daten, das produktive Verwerten der Informationsmenge und das Benutzen von Suchmaschinen» (Cachelin 2015, S. 14). Kriterien für das Ausmaß des Zugangs an das Digitale sind das Alter, die Bildung, der Zugang zur Kultur. Dazu kommt, dass das Maß des Zugangs zu den digitalen Medien äußerst unterschiedlich ist. Komlosy (2022, S. 67) hat folgende Hauptzyklen der Produktionsrevolution formuliert: Landwirtschaft-Handwerk-Gesellschaft (neolithische Revolution), Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft (industrielle Revolution), kybernetische Gesellschaft selbstregulierender Systeme (kybernetische Revolution, jetzt im Gange). Uns interessiert hier vor allem die dritte Umwälzung. Diese entwickelte von den 1950er bis in die 1990er Jahre wissenschaftlich-kybernetische Grundprinzipien, in der Zwischenphase der 1990er bis 2020er Jahre entwickelte sich digitale Elektronik und in der – vermuteten – Endphase von den 2030er bis 2070er Jahre werden daraus komplexe selbstregulierende Systeme entstehen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C. J. Jäggi, Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42206-6_10

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10 Prinzipien für eine Neuausrichtung der Digitalisierung

Obwohl sich viele digitale Güter dadurch auszeichnen, dass sie keine Rivalität im Konsum kennen wie analoge Güter – so kann ein Brötchen nur einmal gegessen oder ein Kleidungsstück zu einem bestimmten Zeitpunkt nur von einer Person getragen werden, während z. B. digitale Daten oder Softwareprogramme von ihrer Natur her unendlich oft kopiert werden können – gibt es künstliche Ausschlussmöglichkeiten, wie Eigentümer oder Urheber ihren exklusiven Verfügungsanspruch sichern können: Kopierschutz, Verschlüsselungstechniken, zeitlich begrenzte Nutzungslizenzen, Geheimhaltung des Script-Codes oder die Blockchain-Technologie sind – mehr oder weniger erfolgreiche – Möglichkeiten. Die unendliche Kopierbarkeit digitaler Produkte birgt aber auch eine große Chance. Alle Menschen haben potenziell Zugriff darauf. Es entsteht eine sogenannte NullGrenzkosten-Gesellschaft (vgl. Rifkin 2016, S. 127 sowie Petersen 2020, S. 21). Wenn man bedenkt, dass bei Internet-Suchen mit Google die erste Seite der Ergebnisse 90 % aller Klicks erhält und davon 50 % auf die ersten beiden Einträge (vgl. Gigerenzer 2017, S. 35), wird schnell klar, wie groß der Einfluss der Suchmaschinen und die Manipulation durch bezahlte Einträge sein kann. Dazu kommt, dass etwa in Europa die Suchmaschine Google bereits 2017 einen Marktanteil von 90 % besaß (vgl. Helbing et al. 2017, S. 12), was die Einseitigkeit der gelieferten Informationen zusätzlich verstärkt. In anderen Ländern ist die Dominanz einzelner Suchmaschinen vergleichbar. Es erscheint also dringend notwendig, Mechanismen und Regeln einzuführen, welche die Dominanz einzelner Informationskanäle und Suchmaschinen verringert. In der Arbeitswelt braucht es eine Einbindung aller Arbeitnehmer:innen in den digitalen Fortschritt und einen verstärkten arbeitsrechtlichen Schutz gerade auch derjenigen, die eher an der wirtschaftlichen Peripherie arbeiten oder unter prekären Arbeitsbedingungen tätig sind. Nach Ansicht von Rammert (2021, S. 152) «[gehen] die Nutzerbilder der Entwickler … häufig nur implizit in die Gestaltung» von digitalen Geräten und in die Software ein. Deshalb fordert Rammert, die Nutzer:innen selbst in der Gestaltung der digitalen Systeme einzubeziehen. Weil immer sehr unterschiedliche Akteure am Prozess der Entwicklung, Gestaltung und Nutzung digitaler Systeme beteiligt seien, müsse nicht nur die Machtgestaltung genauer beobachtet, sondern auch die unterschiedliche Interessenlage stärker einbezogen werden. Doch wie kann das geschehen? Dafür brauche es – so Rammert (2021, S. 153) – Übersetzungen zwischen den verschiedenen Akteuren und eine Ablösung verdeckter Anpassungen durch offene Aushandlungen. Gleichzeitig müssten auch die Internetarchitekturen, die Codes, die Zugangs-, Transparenz- und Speicherstrukturen der öffentlichen Willensbildung und den demokratischen Entscheidungsprozessen unterstellt werden (vgl. Rammert 2021, S. 154). Radermacher (2017:87 ff.) hat als eine zentrale Maxime für den Umgang mit der digitalen Transformation Fleiß und Bildung genannt. Denn gerade die digitalen Medien bieten eines im Übermaß: Zerstreuung und Ablenkung. Demgegenüber brauche ein erfolgreiches Unternehmen «eine Vision, Intelligenz, Leidenschaft, intrinsische Motivation – aber ohne

10.1

Open Data

205

Fleiß entsteht nichts» (Radermacher 2017, S. 89). Ebenso entscheidend ist auch Bildung: Wissen wie Informationen erworben werden, wie diese Informationen umgesetzt und angewendet werden können – aber nicht nur reines Anwenderwissen, zum Beispiel wie Suchmaschinen oder digitale Tools anzuwenden sind, sondern methodische und Fachkompetenzen, kreative Neugier und Verständnis über all die Fragen und Bereiche «dahinter», also hinter den Anwenderoberflächen und Click-Buttons – es geht um Zusammenhänge, Transfers und «Verstehen-Wollen» und besonders auch um das «Lernen, wie lernen». Dass vor allem in den USA das Dreiecksverhältnis zwischen Digitalisierungsfirmen, den Demokraten und den Republikanern zu viel Unmut auf allen Seiten führte, beweisen folgende Fakten: Während die Demokraten generell mehr Regelungen gegenüber den Digitalisierungs-Giganten fordern, hat deren Entscheid, Trump von den elektronischen Plattformen zu verbannen, zu großer Unzufriedenheit bei den Republikanern geführt: «Wenn auch die Motivation diametral verschieden ist, so sind die beiden Parteien doch vereint der Ansicht, dass die Tech-Konzerne an die kürzere Leine gehören (vgl. Langer 2021, S. 5). An drei Fronten drohen Regulierungen: Erstens sind sich Demokraten und Republikaner einig, dass die Vorschrift des Artikels 230 der Communications Decency Acts von 1996 veraltet sind, weil die Plattformen nicht für das haftbar gemacht werden, was auf ihnen geteilt wird und weil gleichzeitig die Plattformen die Freiheit haben, Nutzer nach Belieben zu verbannen. Zweitens haben das Justizministerium, die zuständige Aufsichtsbehörde FTC (Federal Trade Commission) sowie zahlreiche Gliedstaaten in den vergangenen Monaten Klagen unter anderem gegen Facebook, Alphabet und Apple eingereicht, weil sie auf unterschiedliche Art gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen haben sollen. Nach Ansicht von Experten wird es Jahre dauern, bis Urteile in den Verfahren gefällt werden. Und drittens machen in den USA Skandale um den Umgang mit personenbezogenen Daten regelmäßig Schlagzeilen, weil Firmen die Daten unzureichend vor Hacker-Angriffen schützen oder diese heimlich an Drittfirmen zu Marketingzwecken verkaufen (vgl. Langer 2021, S. 5). In diesen Punkten ist wohl mit grundlegenden Neuentscheiden im juristischen Bereich zu rechnen.

10.1

Open Data

Im Unterschied zu Big Data sind Open Data Daten, die von jedem frei benutzt, verwendet und geteilt werden können. Einzige Bedingung ist dabei die Nennung der Urheber der Daten. Open Data sind eine Teilmenge der Big Data (vgl. Petersen 2020, S. 16). Ein möglicher Ansatz wäre, dass die Eigentümer von Big Data verpflichtet werden, diese – zum Beispiel nach einer gewissen Zeit exklusiver kommerzieller Nutzung – der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Damit würde sichergestellt, dass zum einen kein Know-how verloren geht und zum anderen die Allgemeinheit von diesem Wissen profitieren kann. In der exklusiv nutzbaren Zeitspanne könnte der Erzeuger der Daten seine Unkosten hereinbekommen und einen zeitlich begrenzten Gewinn generieren, womit

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10 Prinzipien für eine Neuausrichtung der Digitalisierung

sichergestellt wäre, dass sich die entsprechende Forschung und Entwicklung weiterhin lohnt. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil große Datenmengen ökonomisch vor allem dann wertvoll sind, «wenn der Eigentümer über den Zugriff auf diese Daten entscheidet und diejenigen, die für die Nutzung keine Gegenleistung zahlen wollen (sei es in Form von Geld oder eigenen Daten), von einer Nutzung ausschließen kann» (Petersen 2020, S. 16). Denn wenn die Daten erst einmal frei verfügbar sind, sinkt deren betriebswirtschaftlicher Wert. Dafür geht aber ihr volkswirtschaftlicher Wert nicht verloren1 . Der Wechsel von exklusiv nutzbaren – und damit kostenpflichtigen – Programmen und Software zu Open-Source-Programmen verursacht häufig hohe Wechsel- oder Umstellungskosten, was von den großen digitalen Firmen gnadenlos ausgenutzt wird: Je mehr Software-Programme in Paketform angeboten werden und je größer der Aufwand für das Erlernen alternativer Anwendungen ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass Nutzer:innen auf Open Source umsteigen (Kundenbindung durch hohe Wechselkosten; so genannter Lock-in-Effekt; vgl. Petersen 2020, S. 21). Doch was ist mit illegal geklonten Daten – wie etwa mit dem geklonten Swiss Pass, mit dem sich etwa Velos klauen lassen (vgl. Wüstholz 2019, S. 4)? So gab es etwa im Sommer 2019 350 Publibike-Stationen mit über 3500 Velos in Bern, Zürich, Lausanne oder Lugano – und wer einmal per Smartphone angemeldet ist, kann jedes Schloss per Knopfdruck öffnen. Was viele nicht wissen: Der Swiss Pass lässt sich kinderleicht kopieren – weniger als zwei Minuten dauert die Übertragung des sogenannten Unique Identifier (UID) auf eine Blankokarte. Wenn das getan wird, kann auch das Rad von Publibike die Kopie nicht mehr vom echten Swisspass unterscheiden und öffnet jedes Rad-Schloss. Die Chips im Swiss Pass wurden von der niederländischen Firma NXP Semiconductors hergestellt, die unter anderem Chips für Bankkarten, Reisepässe und elektronische Ausweise herstellt, und unter anderem auch die Smart Cards für viele öffentliche Verkehrssysteme (vgl. Wüstholz 2019, S. 4). Bereits 2008 gelang es einer niederländischen Forschergruppe, die Verschlüsselung zu knacken. Seither wissen die Entwickler, dass Smart Cards – und besonders deren UID – alles andere als sicher sind. Mittlerweile gibt es verschiedene Tools, welche das Klonen leicht möglich machen. Auch Blankokarten lassen sich leicht besorgen – so etwa durch gute Kontakte zu chinesischen Lieferanten: Kostenpunkt pro Karte: ein paar Rappen (Wüstholz 2019, S. 4). Aus diesem Grund mussten die Smart Cards mit zusätzlichen Kontrollen versehen werden, so etwa bei der Ticketkontrolle der SBB in Tram, Zug und Bus: «Dort findet zusätzlich zwischen Karte und Lesegerät ein kryptografisch abgesicherter Austausch statt, auf den bisher kein Angriff bekannt ist» (Wüstholz 2019, S. 4). Offenbar aus Kostengründen wurde bei einzelnen Firmen auf zusätzliche Sicherungen gegen die Möglichkeit des Klonens der UID verzichtet – man kenne zwar die Möglichkeit des Klonens, aber schätze das Missbrauchsrisiko als gering ein. Was heißt das nun? Werden zusätzliche Sicherheitselemente nur eingebaut, wenn sie sich lohnen und die Kosten dazu nicht grösser sind als die Kosten von Missbräuchen? 1 So gesehen ist die Verallgemeinerung von Petersen (2020, S. 17) falsch, wenn er meint, dass die

Offenlegung und freie Zugänglichkeit der Daten diese «ökonomisch» entwerte.

10.2

10.2

Kampf um das virtuelle Metaversum

207

Kampf um das virtuelle Metaversum

Der amerikanische Technologieunternehmer Mark Zuckerberg hat 2021 seine Vision für das Metaversum dargelegt und entsprechend sein Unternehmen in Meta Platforms umgetauft. Bis November 2022 verlor das Unternehmen 80 % an Wert und viele Aktionäre verkauften ihre Anteile (vgl. Henkel 2022, S. 17). Viele Aktionäre zweifelten an den Kompetenzen und Fähigkeiten von Zuckerberg, andere hatten Zweifel an der Vision und wieder andere äußerten ethische Vorbehalte. Das Metaversum stellt erst den Beginn eigener virtueller Welten dar, so wie man sie aus Computerspielen kennt. Das künftige Metaversum soll sich erstens ebenso real anfühlen wie die reale Welt, zweitens kann der Nutzer mit Personen oder Gegenständen im Metaversum interagieren, drittens ist diese virtuelle Welt mit der realen Welt verbunden und viertens sollen im Metaversum erzielte Einkommen, Ideen, Identitäten und auch erlangter Einfluss in die reale Welt transferiert werden können (vgl. Henkel 2022:17). Kritiker sahen im Metaversum ganz einfach eine Werbeplattform mit Unternehmen als Kunden. Der Meta-Konzern betrieb 2022 drei Kommunikationsplattformen, nämlich die beiden sozialen Netzwerke Facebook und Instagram sowie den Kurznachrichtendienst WhatsApp. Immerhin loggten sich Ende 2022 rund 3,6 Mrd. Menschen – also knapp die Hälfte der Weltbevölkerung – mindestens einmal im Monat auf einen der drei Dienste ein, doch infolge der Neuausrichtung des Metakonzerns weg vom sozialen Netzwerk Facebook verlor der Metakonzern erheblich Wert (vgl. Krause 2022, S. 33). An einer Videoansprache zur 27. Klimakonferenz (COP27) gab der Außenminister des pazifischen Inselstaates Tuvalu, Simon Kofe, bekannt, aufgrund des steigenden Meeresspiegels die Inselgruppe in einer virtuellen Realität nachzubauen: «Um unser Land, unsere Kultur und damit die wertvollsten Güter unseres Volkes zu bewahren, werden wir sie in die Cloud verlagern, Stück für Stück» (zitiert nach Da Silva 2022, S. 16). Auch wenn Kritiker meinten, dass es sich dabei eher um ein cleveres Campaigning als um einen handfesten Plan handelte (vgl. Da Silva 2022, S. 16), ist die Idee als solche zweifellos bedenkenswert – auch wenn sie weder den Klimawandel stoppen noch den Betroffenen wirklich helfen kann: «Mit den Plänen für das Metaversum verhält sich die Regierung zu ihrer Bevölkerung so wie die Weltgemeinschaft sich zu dem Inselstaat: Man gibt zwar Unterstützung – aber nicht jene, die die Betroffenen tatsächlich brauchen» (Da Silva 2022, S. 16). Doch was ist eigentlich ein Metaversum? «Das Metaversum wurde unterschiedlich definiert: als ein,noch immersiveres und verkörpertes Internet’ (Mark Zuckerberg), ein,lebendiges Multiversum von Welten’ (John Radoff), ein,massiv skaliertes und interoperables Netzwerk von in Echtzeit gerenderten virtuellen 3D-Welten, die synchron und dauerhaft von einer praktisch unbegrenzten Anzahl von Nutzern mit einem individuellen Gefühl der Präsenz und in Form kontinuierlicher Daten erlebt werden können’ (Mattew Ball). … [oder],ein erstrebenswerter Begriff

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10 Prinzipien für eine Neuausrichtung der Digitalisierung

für eine zukünftige digitale Welt, die sich mit unserem realen Leben und Körper spürbar verbunden fühlt’ (The Verge)» (Narula 2022, S. 110)2 . Doch ist zutreffend, was Narula (2022:XX) über das entstehende Metaversum schreibt: «Das Metaversum wird unser Verständnis davon, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, in einem Ausmaß weiterentwickeln, das wir gerade erst zu begreifen beginnen»? Statt als eine Person in einer Welt werde der Mensch als multiverse Persönlichkeit in vielen Welten leben. Nach Ansicht von Narula (2022:XX) stellt das Metaversum die jüngste Manifestation der Tendenz der Menschen dar, Welt(en) zu schaffen. Dieses Bedürfnis habe die Menschheit seit ihrer Entstehung gekennzeichnet. Noch ist völlig unklar, ob und inwieweit sich das Metaversum entwickeln wird – und wer alles Zugang dazu haben wird.

10.3

Gut gemeint ist noch lange nicht gut

Im WWF-Magazin 4/2022 berichtete der Umweltverband in der Schweiz von einem Rückgabesystem für Mehrweg-Getränkebecher (vgl. Kooky 2022, S. 8). Dabei wurde zusammen mit dem bestellten Getränk ein Pfand für den Becher bezahlt, mit dem Mobiltelefon anschließend der Becher-QR-Code eingescannt und dann der Becher an einer Dop-off-Box zurückgegeben. Das Pfand wurde anschließend gutgeschrieben. Die Rückgabe war u. a. an größeren Bahnhöfen der Schweiz möglich. Das Rückgabesystem Kooky entstand im Rahmen einer Partnerschaft mit dem WWF. Ende 2022 beabsichtigte Kooky, nach Deutschland zu expandieren (vgl. Weinmann 2022, S. 11). So gut im Grunde die Idee eines Mehrweg-Getränke-Bechers ist, so wenig überzeugend ist die digitale Struktur des Rückgabesystems. Auf die Kritik von Leser:innenseite, dass die Rücknahme nur mit einem Smartphone möglich sei und mit älteren Mobiltelefonen nicht funktioniere, antwortete Kooky wie folgt: • «Kooky hat schon jetzt eine web-basierte Version – es erlaubt das Fixieren des Bechers ohne Scan (Direkte Tasteneingabe des Cup-Codes; zu finden unterhalb des QR-Codes). Unsere webbasierte Version kann auf sehr alten Geräten genutzt werden. • Die elektronische Pfandrückgabe hat grundsätzlich einen ökologischeren Ansatz, im Vergleich zur Münzwährung und den verbunden Energiekosten bzw. dem CO2-Einfluss durch den Transport, die Lagerung und das Handling. Auch unpraktisch ist die belegbasierte Auszahlung, denn auch diese produziert unnötigen Abfall. 2 «The metaverse has been defined variously as an ‚even more immersive and embodied internet‘

(Mark Zuckerberg), a ‚living multiverse of worlds‘ (John Radoff), a ‚massively scaled and interoperable network of real-time rendered 3D virtual worlds which can be experienced synchronously and persistently by an effectively unlimited number of users with an individual sense of presence, and with continuity of data‘ (Mattew Ball) … [or] ‚an aspirational term for a future digital world that feel more tangibly connected to our real lives and bodies (The Verge)‘» (Narula 2022, S. 110).

Literatur

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• Der Kooky-Becher kann auch in der City-Zentrale von Kooky retourniert werden, wo man das Pfand ganz ohne Online-Registrierung zurückbekommt. Leider erlauben wir dies nicht direkt bei unseren Outlets, da wir einen hohen Wert auf Hygiene und Qualität setzen, und wir diese in dem Fall nicht garantieren können; sondern nur bei der Rückgabe in unsere Boxen». Soweit so gut. Aber was in einer korrekten Ökobilanz zu berücksichtigen wäre, ist auch der Energie- und Rohstoffverbrauch digitaler Geräte, der bekanntlich sehr hoch und CO2 intensiv ist. Bei vielen solchen Lösungen fällt auf, dass die digitale Anbindung entweder vorgegeben ist oder kaum hinterfragt wird. Es gäbe bessere und ökologischere analoge Lösungen, etwa wenn für den Ausschank ein eigener Becher mitgebracht werden kann und in diesem Fall das Getränk günstiger abgegeben wird. Das tun bereits einige Getränkeverkaufsstellen, so unter anderem der Getränkekiosk an der Universität Luzern …

Literatur Cachelin, Joël Juc 2015: Offliner. Die Gegenkultur der Digitalisierung. Bern: Stämpfli Verlag. Da Silva, Gioia 2022: Tuvalu überträgt seine Existenz ins Metaversum. Weite Teile des Pazifikstaates dürften unbewohnbar werden – die Regierung will eine virtuelle Replika der Nation erstellen. In: Neue Zürcher Zeitung vom 28.11.2022. 16. Gigerenzer, Gerd 2017: Technik braucht Menschen, die sie beherrschen. In: Könneker, Carsten (Hrsg.): Unsere digitale Zukunft. In welcher Welt wollen wir leben? Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft/Springer. 33 ff. Helbing, Dirk/Frey, Bruno S. / Gigerenzer, Gerd/Hafen, Ernst/Hagner, Michael/Hofstetter, Yvonne/ van den Hoven, Jeroen/Zicar, Roberto V. / Zwitter, Andrej 2017: Digitale Demokratie statt Datendiktatur. In: Könneker, Carsten (Hrsg.): Unsere digitale Zukunft. In welcher Welt wollen wir leben? Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft/Springer. 3 ff. Henkel, Christiane Hanna 2022: Zuckerbergs Gier nach der Macht im Metaversum. In: Neue Zürcher Zeitung vom 15.11.2022. 17. Komlosy, Andrea 2022: Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft. Wien: Promedia. Kooky 2022: Mehrwegsystem für Getränkebecher. In: WWF-Magazin 4/2022. 8. Krause, Tino 2022: «Ja, wir haben Fehler gemacht». Gespräch mit Tino Krause von Gioia da Silva. In: Neue Zürcher Zeitung vom 19.11.2022. 33. Langer, Marie-Astrid 2021: Dem Silicon Valley drohen harte Zeiten unter der Regierung Biden. In: Neue Zürcher Zeitung vom 27.1.2021. 5. Narula, Herman 2022: Virtual Society. The Metaverse and the new Frontiers of Human Experience. New York: Currency Petersen, Thiess 2020: Diginomics verstehen. Ökonomie im Licht der Digitalisierung. München: UVK Verlag. Radermacher, Ingo 2017: Digitalisierung selbst denken. Eine Anleitung, mit der die Transformation gelingt. Göttingen: BusinessVillage. Rammert, Werner 2021: Systeme der Informatik und gesellschaftliche Konstellationen verteilter Gestaltungsmacht. In: Pohle, Jörg/Lenk, Klaus (Hrsg.): Der Weg in die «Digitalisierung» der

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10 Prinzipien für eine Neuausrichtung der Digitalisierung

Gesellschaft. Was können wir aus der Geschichte der Informatik lernen? Marburg: Metropolis. 129 ff. Rifkin, Jeremy 2016: Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch. Weinmann, Benjamin 2022: Kampf dem Kaffee im Karton. In: Luzerner Zeitung vom 25.11.2022. 11. Wüstholz, Florian 2019: Datensicherheit: Mit dem geklonten Swisspass zum Gratisvelo. In: WochenZeitung vom 20.6.2019. 4.

Visionen für einen digitalen und ökologischen Umbau

11

Zusammenfassung

Visionen für einen digitalen und ökologischen Umbau Verbunden mit der Digitalisierung stellen sich auch Fragen der künftigen Nutzung von Daten. Welche Nutzung soll den Geheimdiensten und Regierungen erlaubt werden, müssten die KI auf die Grundwerte programmiert werden und sollte eine Art digitaler Suffizienz eingeführt werden? Das sind nur einige der vielen Fragen, die sich stellen.

Pentland (2017, S. 126) hat die Ansicht vertreten, dass insbesondere in Geheimdiensten wie bei der NSA zu viele Daten an einer einzigen Stelle konzentriert würden, was die Institution und ihre Daten sehr viel anfälliger mache, als wenn die Daten an verschiedenen Orten mit unterschiedlichen Verschlüsselungen gespeichert würden. Doch ist das tatsächlich eine Lösung gegen einen möglichen Missbrauch oder gegen Angriffe von außen? Denn verschiedene Speicherorte oder Speichersysteme brauchen immer auch Personen oder Stellen, welche deren Verbindungen kontrollieren und regeln – und unter Umständen sind solche Schaltstellen eine noch größere Gefahr, etwa wenn eine solche Stelle oder Person über mehr Macht verfügt als eine offizielle Regierung. Das Problem liegt zweifellos nicht in der Art der Speicherung, sondern in der Tatsache, dass die riesigen Datenmengen überhaupt erhoben und für nicht immer durchsichtige Zwecke genutzt werden. Die Gestapo der Nazis oder die Stasi der DDR hielten ihre Daten über die Bürger:innen auf Karteikarten und Papier fest, jetzt geschieht das digital, was sehr viel effizienter, umfassender und schneller ist – aber im Grunde ist der Unterschied gering Es müsste auf die Grundrechte und Grundwerte programmierte KI geben, deren Aufgabe eben gerade darin bestehen würde, missbräuchliche Datensammlungen und ihre Nutzung zu regeln, zu kontrollieren und allenfalls zu verhindern, und zwar durch staatliche Stellen, politische Gruppierungen und Parteien ebenso wie durch Unternehmen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C. J. Jäggi, Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42206-6_11

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11 Visionen für einen digitalen und ökologischen Umbau

Tab. 11.1 Leitprinzipien für eine zukunftsfähige Digitalisierung. (Quelle: Lange und Santarius 2018:150; eigene Darstellung) Leitprinzipien für eine zukunftsfähige Digitalisierung Digitale Suffizienz

Konsequenter Datenschutz

Gemeinwohlorientierung

Techniksuffizienz

Privacy by Design

Internet als Commons

Datensuffizienz

Datensuffizienz

Open Source

Nutzungssuffizienz

Dateneigentum den Nutzern

Kooperative Plattformen

Motto: So viel Digitalisierung wie nötig, so wenig wie möglich

Motto: Wessen Daten? Unsere Daten!

Motto: Kollaborativ statt kapitalistisch

Eine «ethische Grundprogrammierung» auf Recht auf Leben, Freiheit, Menschenrechte und Grundwerte mit «deep learning» durch die KI könnte eine Grundkorrekturfunktion wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen ausüben, ohne aber je ein Alleinbeschlussrecht oder ein Alleindurchsetzungsrecht zu erhalten. Lange und Santarius (2018, S. 150) haben drei Leitprinzipien für eine zukunftsfähige Digitalisierung formuliert (vgl.Tab. 11.1); nämlich digitale Suffizienz, konsequenter Datenschutz und Gemeinwohlorientierung. Digitale Suffizienz kann unterteilt werden in Techniksuffizienz (möglichst langlebige und wenige Geräte), in Datensuffizienz (nur so viele Daten wie nötig) und Nutzungssuffizienz (Bewusstsein für möglichst geringen Ressourcenverbrauch und entsprechendes Handeln als Konsument:in) (vgl. Lange und Santarius 2018, S. 151). Der konsequente Datenschutz umfasst ebenfalls Datensuffizienz, Privacy by Design, also Wahrung der Privatsphäre und Dateneigentum der Nutzer:innen (vgl. Lange und Santarius 2018, S. 156). Zur Gemeinwohlorientierung gehören laut Lange und Santarius (2018, S. 161) ein Internet als Commons, konsequenter Ausbau von Open Source als Grundlage für ein ökologisches Produktedesign und kooperative Plattformen getragen durch alle Akteure und allen zugänglich, also keine Monopolplattformen. Von Grünhagen und Mertzsch (2017, S. 58) haben auf die Tatsache hingewiesen, dass «je effektiver … mit Digitalisierung und Informatisierung materielle Güter produziert werden, umso widersinniger wird … die Armut der vielen, die solche Güter entbehren und die konkurrieren müssen um schlecht bezahlte Jobs mit hoher Arbeitsbelastung und langen Arbeitszeiten». Je mehr Güter mit Hilfe der Digitalisierung kostengünstig produziert werden können, desto absurder wird die Anhäufung von materiellen Gütern durch diejenigen, die längst alles besitzen, was besessen werden kann. Allerdings fehlt in dieser Gleichung ein wichtiger Aspekt: Großer Reichtum und viel Geld bedeutet immer auch Macht, und leider sind bis heute viele Menschen süchtig nach immer mehr Macht. Deshalb müssten wir so weit kommen, dass Geld und Reichtum nicht mehr automatisch Macht und Einfluss bedeuten. Erst dann dürfte die Gier nach immer noch mehr Reichtum verschwinden.

11 Visionen für einen digitalen und ökologischen Umbau

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Fuest und Peichl (2018, S. 93) habe die Frage aufgeworfen, ob es sinnvoll wäre, eine Art Maschinen- oder Robotersteuer einzuführen. Diese Idee erscheine auf den ersten Blick als reizvoll, weil Staatssteuern und Sozialsysteme im Wesentlichen durch arbeitende Menschen finanziert würden. Wenn nun immer mehr Arbeit durch Roboter erledigt würde, liege die Idee nahe, Roboter auf ähnliche Weise wie Menschen zu besteuern. Doch die beiden Autoren wenden dagegen ein, dass eine Maschinensteuer den Einsatz von Maschinen verteuern würden, wodurch niedrigerer Kapitaleinsatz wiederum die Produktivität und damit den Lohn der Arbeitenden verringern würde. Fuest und Peichel (2018, S. 93) meinen zu Recht, dass man statt die Roboter vielmehr ihre Besitzer besteuern müsste. Allerdings sei dies wegen deren internationaler Mobilität oder aufgrund ihrer globalen Struktur im Falle von multinationalen Unternehmen schwierig. Doch letzteres wäre mit einer globalen Mindeststeuer, so wie sie von der OECD vorgeschlagen und wahrscheinlich auch durchgesetzt wird, leicht zu lösen. Die gleiche Mindeststeuer könnte auch für mobile Besitzer von Unternehmen durchgesetzt werden – und voilà: das Problem wäre gelöst. Fuest und Peichl (2018, S. 93) nennen im gleichen Zusammenhang auch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Denn – so argumentieren seine Befürworter – nicht nur droht aufgrund des Bevölkerungszuwachses in den südlichen Ländern ein immer größerer Arbeitskräfteüberhang, durch Roboter und die Automatisierung würden auch zunehmend weniger Arbeitskräfte benötigt. Auch wenn dies noch nicht so klar ist, weil die Digitalisierung auch Arbeitsplätze schafft1 , scheint die Frage nach einem existenzsichernden erwerbsunabhängigen Grundeinkommen zunehmend aktuell. Auch Fetzer (2020:22) meint, dass künftig die industrielle und kaufmännische Vollzeitarbeit nicht mehr garantiert werden könne und der Anteil automatisierter digitaler Arbeit wachsen werde. Entsprechend müsse die Frage nach einem erwerbsunabhängigen Grundeinkommen neu diskutiert werden. Ideen wie ein kapitalbasiertes Grundeinkommen oder ein solidarisches Bürgergeld seien zumindest zu prüfen. Fuest und Preichl (2018, S. 93; Fußnote 1) bringen gegen ein existenzsicherndes Grundeinkommen das Kostenargument vor und behaupten, ein solches Grundeinkommen sei schlicht nicht finanzierbar. Sie machen folgende Rechnung: In Deutschland würde ein Grundeinkommen von 10.000 e im Jahr oder 833 e im Monat für alle 820 Mrd. EUR kosten. Die Summe aller Steuereinahmen in Deutschland liegen bei gut 700 Mrd. EUR (bei einem Bundhaushalt von ca. 320 Mrd. EUR). Selbst bei einem Verzicht auf alle anderen Ausgaben der sozialen Sicherheit – so Fuest und Preichl (2018, S. 96) – gäbe das nur eine Einsparung von 750 Mrd. EUR. Doch diese Rechnung ist zumindest undifferenziert. Denn ein Großteil der Sozialversicherungen – z. B. die Altersvorsorge, die Leistungen an Behinderte sowie weitere Sozialversicherungen (in der Schweiz die so genannte Invalidenversicherung, die Ergänzungsleistungen zu AHV und IV, die Arbeitslosenversicherung, die Krankentaggeld- und Unfalltaggeldversicherung) würden wegfallen. Der zurückbleibende Fehlbetrag könnte zudem durch eine progressive Besteuerung der 1 Vgl. Abschn. «3.7 Arbeit».

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hohen und sehr hohen Vermögen und Einkommen oder durch eine Luxussteuer gedeckt werden. Als Variante wäre auch ein ergänzendes statt ein fixes Grundeinkommen denkbar, das bei ganz fehlendem Lohn oder bei Tiefstlöhnen unter der Existenzsicherung die Differenz zu einem existenzsichernden Einkommen deckt, wobei der Arbeitsanreiz so garantiert werden könnte, dass zusätzlich zum Grundeinkommen erzielte Erwerbseinkommen nur zu einem Teil an das Grundeinkommen angerechnet würden. Ab einer bestimmten Einkommenshöhe würde das Grundeinkommen ganz wegfallen. Gerade angesichts der Digitalisierung unserer Gesellschaft wäre die Einführung eines solchen Grundeinkommens und die regelmäßige Neuberechnung nicht sehr schwierig. Es gibt sogar Ökonomen, welche die Einführung eines existenzsichernden Grundeinkommens insgesamt für billiger halten als die heutigen mehr schlecht als recht funktionierenden Systeme der sozialen Sicherheit. Den Mechanismen des kapitalistischen Marktes hat Rifkin (2016, S. 32) die sogenannten «kollaborativen Commons», also «soziale», gemeinwirtschaftlich funktionierende Einrichtungen, gegenübergestellt: «Sie setzen sich zusammen aus buchstäblich Millionen von selbstverwalteten, größtenteils demokratisch verwalteten Organisationen: karitative Einrichtungen, Religionsgemeinschaften, künstlerische und kulturelle Gruppen, Stiftungen im Bildungsbereich, Amateursportvereine, Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften, Kreditgenossenschaften, Organisationen im Gesundheitswesen, Interessenverbände, Hauseigentümergemeinsaften. Die Liste formeller und informeller Einrichtungen ist schier endlos – gemein ist ihnen, dass unsere Gesellschaft in ihr Sozialkapital generiert» (Rifkin 2016, S. 33). Auch ländliche Gemeinschaften und landwirtschaftliche Genossenschaften, die traditionell ihre Ressourcen – Land, Wasser, Wald, Weiden, Wild, Fisch usw. – zusammengelegt haben und sie gemeinschaftlich nutzen, gehören zu den «kollaborativen Commons». Rifkin (2016, S. 33) meint, dass solche Einrichtungen als erfolgreiches Verwaltungsmodell und als Kern einer gemeinnützigen Ökonomie betrachtet werden können. Allerdings wäre hier einzuwenden, dass viele dieser traditionellen Einrichtungen in den letzten 50 Jahren sukzessive verfallen sind und nach industriellen und marktwirtschaftlichen Prinzipien funktionierenden Organisationsformen im Privatbesitz Platz machen mussten. Doch Rifkin ist zweifellos zuzustimmen, dass «kollaborative Commons» vor dem Hintergrund der Umweltzerstörung, des Klimawandels und der sozialen Ungleichheit durchaus eine vielverheißende wirtschaftliche Alternative darstellen könnten. Das gilt insbesondere, wenn dabei digitale Mittel und Tools in großem Stil eingesetzt werden. Allerdings erscheinen dabei einige Prinzipien unverzichtbar: Freiwilligkeit – sonst laufen solche Versuche auf Zwangskollektivierungen hinaus –, sowohl ideelle als auch materielle Ausrichtung – also gemeinnützige Ziele mit Bodenhaftung –, lokale Verwurzelung in irgendeiner Form – also keine digitale Blase im luftleeren Raum – und Zukunftsorientiertheit – also nicht nach dem Prinzip «nach uns die Sintflut», sondern Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit. In diesem Rahmen können digitale Möglichkeiten wie Internetplattformen, Anwendungsapps oder Echtzeitverarbeitung von Daten äußerst hilfreich sein. Ja, durch sie können kollaborative Commons erst richtig funktionieren.

Literatur

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Wenn es gelingt, ganze Wertschöpfungsketten unter einem Dach zusammenzufassen2 und überflüssige Transporte oder Mittelsmänner auszuschalten, dürfte das nicht nur die Produktion entscheidend verbilligen, sondern auch die ökologischen und sozialen Schäden minimieren (vgl. Rifkin 2016, S. 43). Rifkin (2016, S. 44) meint auch, dass dies die Grenzkosten reduzieren und damit die Preise für Güter und Dienstleistungen verringern würde – im Extremfall sogar gegen null. Allerdings trifft all dies nur zu, wenn die Wertschöpfungsketten nahe an den lokalen Märkten aufgebaut und virtuell gesteuert werden. Die Globalisierung würde dabei primär im virtuellen Raum stattfinden mit deutlich geringeren materiellen Schäden. Eine Nullkosten-Wirtschaft ist jedoch kaum wahrscheinlich. Denn es bleiben immer die Fixkosten für den Betrieb, die Investitionskosten für die Errichtung einer Anlage, die Kosten für den Rückbau und das Recycling. Vania Alleva (2019, S. 202) hat aus gewerkschaftlicher Sicht eine Vision einer sozialen Digitalisierung skizziert. Damit meinte sie, dass digitale Technologien zugunsten einer gerechten Gesellschaft eingesetzt und die Digitalisierung so gestaltet sein müsse, dass alle Menschen von der Digitalisierung profitieren und die Lebens- und Arbeitsbedingungen der gesamten Bevölkerung verbessert werden müssten. Es brauche faire Arbeitsverhältnisse, gute Arbeitsbedingungen, Begrenzung der Arbeit und digitale Grundrechte im Sinne eines individuellen Schutzes und einer kollektiven Absicherung.

Literatur Alleva, Vania 2019: Für eine soziale Digitalisierung. In: Caritas Schweiz (Hrsg.): Sozialalmanach 2019. Digitalisierung – wo bleibt der Mensch? Das Caritas-Jahrbuch zur sozialen Lage der Schweiz. Trends, Analysen, Zahlen. Luzern: Caritas-Verlag. 201 ff. Fuest, Clemens/Peichl, Andreas 2018: Volkswirtschaft auf dem digitalen Prüfstand. Sind die Gewinner vorprogrammiert? In: Volkens, Bettina/Anderson, Kai (Hrsg.): Digital Human. Der Mensch im Mittelpunkt der Digitalisierung. Frankfurt/New York: Campus. 89 ff. Lange, Steffen/Santarius, Tilman 2018: Smarte grüne Welt? Digitalisierung zwischen Überwachung, Konsum und Nachhaltigkeit. München: Oekom. Pentland, Alex Sandy 2017: Schützt die NSA vor sich selbst! In: Könneker, Carsten (Hrsg.): Unsere digitale Zukunft. In welcher Welt wollen wir leben? Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft/ Springer. 125 ff. Rifkin, Jeremy 2016: Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch. Von Grünhagen, Lutz/Mertzsch, Norbert 2017: Transformation als Symmetriebruch an einem Verzweigungspunkt. In: Banse, Gerhard/Busch, Ulrich/Thomas, Michael (Hrsg.): Digitalisierung und Transformation. Industrie 4.0 und digitalisierte Gesellschaft. Abhandlungen der LeibnizSozietät der Wissenschaften. Band 49. Berlin: trafo Wissenschaftsverlag. 47 ff.

2 Rifkin meint damit eine vertikale Integration der Produktion, die aber auch zu Monopolen geführt

hat. Dagegen könnte eine offene, dezentrale Infrastruktur abhelfen, meint Rifkin (2016, S. 44).

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Zusammenfassung

Im Grunde gibt Anderson (2018, S. 13) die zentrale Antwort auf die Frage der Digitalisierung bereits im Untertitel seines Artikels: «Wie wir das digitale Zeitalter prägen – und nicht umgekehrt». Denn das gesamte Konzept der Digitalisierung muss hinterfragt und der Digitalisierungsprozess neu ausgerichtet werden.

Doch wie wird es bei all diesen «disruptiven» Entwicklungen und außerordentlichen einmaligen Ereignissen oder «Singularities» (vgl. Specht 2018, S. 16) im Bereich der Digitalisierung weiter gehen? Werden die Menschen schon bald mit Künstlicher Intelligenz zu neuen Wesen oder Cyborgs verschmelzen, werden in den nächsten 30 Jahren alle Science-Fiction-Szenarien überholt sein, wird «die Entwicklung Künstlicher Intelligenz … entweder das Schlimmste oder das Beste sein, was den Menschen passiert ist» (Hawking 2018)? Was ist von Äußerungen wie der folgenden zu halten: «Digitalisierung ist technischer Fortschritt im Zeitraffer, da die Technologien, um die es hier geht, sich selbst verbessern und beschleunigen. Deep Learning ist das Zauberwort, mit dem wir im Unterschied zu früher die Systeme nicht nur schneller, sondern auch intelligenter machen. Im Unterschied zu den linearen Programmierverfahren der Vergangenheit setzte man hier auf neuronale Netze, die der Funktion des menschlichen Gehirns nachempfunden sind. Deep-LearningVerfahren schaffen eigenständige Verbindungen, erkennen Muster durch Beobachtung und sind in der Lage, sich selbst weiterzuentwickeln. Das ist nicht weniger als die Blaupause der menschlichen Evolution» (Anderson 2018, S. 15). Doch einmal abgesehen von der Frage, dass man darüber streiten kann, ob ein digitales Netzwerk oder System «intelligent» sein kann, bedeutet eine Nachempfindung gewisser Prozesse des menschlichen Gehirns noch lange nicht, dass das Ergebnis mit dem menschlichen Gehirn vergleichbar

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 C. J. Jäggi, Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42206-6_12

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ist. Dazu kommt, dass die soziale Evolution ein Zusammenspiel von nach vorne geöffneten Wahrscheinlichkeiten, endogener Faktoren und Umweltbedingungen darstellt – das sich in der Regel in Richtung größerer Komplexität und Effizienz bewegt, aber ansonsten nicht gerichtet ist. Die Digitalisierung als «Blauphase der menschlichen Evolution» (Anderson 2018, S. 15) zu bezeichnen, ist gleichzeitig Ausdruck einer Unter- wie einer Überschätzung der Digitalisierung. Eine Überschätzung insofern, weil sowohl historisch als auch ursächlich eher umgekehrt die Evolution die Blauphase der Digitalisierung ist. Denn eine Blauphase ist so etwas wie eine Vorlage für ein Produkt oder ein Prozess in Entstehung. Und eine Unterschätzung, weil die darauf basierenden Schlussfolgerung, angesichts der Digitalisierung mehr Agilität zu verlangen und die Nutzung der Digitalisierung dem Einzelnen aufzuerlegen – vgl. Anderson 2018, S. 19 – bei weitem nicht reicht, um angemessen auf den Prozess der Digitalisierung zu reagieren – auch nicht als Unternehmen. Gute Absichten sind zwar löblich, sie jedoch zu konkretisieren und umzusetzen ist oft enorm schwierig. Es ist gefährlich, dir Digitalisierung sozusagen als gottgewollten oder naturgesetzlichen Prozess zu sehen, weil das so einfach nicht zutrifft. Menschen treiben die Digitalisierung voran, und allenfalls technologische Entwicklungen. Allerdings ist die Steuerbarkeit dieses Digitalisierungsprozesses, etwa in Bezug auf dessen Richtung, auf seine Parameter und auf seine Geschwindigkeit, eine andere Frage. Im Grunde gibt Anderson (2018, S. 13) die Antwort darauf bereits im Untertitel seines Artikels: «Wie wir das digitale Zeitalter prägen – und nicht umgekehrt». Denn das gesamte Konzept der Digitalisierung muss hinterfragt und der Digitalisierungsprozess neu ausgerichtet werden. Dafür reichen ein paar gut gemeinte Verhaltens-Ratschläge oder Rezepte nicht. Sie werden den großen gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen des Digitalisierungsprozesses und damit der Komplexität des Digitalisierungsprozesses nicht gerecht. Das eigentliche Problem besteht darin, dass die Digitalisierung längst eine Eigendynamik angenommen hat, die kaum mehr zu stoppen und wahrscheinlich auch nur noch partiell zu beeinflussen ist. Mein Vater pflegte bei außergewöhnlichen Ereignissen und Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu sagen: «Es wachsen keine Bäume in den Himmel!». Anders gesagt: Jede noch so einmalige und überraschende Entwicklung führte zu Gegenbewegungen, Korrekturen und stößt früher oder später auf Grenzen. Genau so wird es auch bei der Digitalisierung sein – aber wir haben es in der Hand, ob diese Grenzen schmerzhaft, sanft oder kreativ sein werden. Wiemeyer (2021, S. 181) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Digitalisierung aus sozialethischer Sicht nicht einen ökonomischen und technologischen Prozess darstellt, der unsteuerbar ist und sozusagen eine unbeeinflussbare Eigendynamik aufweist. Vielmehr können die staatlichen und politischen Entscheide Rahmenbedingungen setzen, erwünschte Aspekte gezielt fördern und unerwünschte Entwicklungen verhindern.

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Ramesohl und Berg (2019, S. 2) haben gefordert, eine «eine neue Qualität von Lösungsstrategien zu erreichen, indem bislang unzureichend verstandene Wechselwirkungen und Wirkmechanismen in Transformationsprozessen gezielt durch das Werkzeug KI aufgedeckt und adressiert werden». Außerdem sollen sozio-kulturelle Aspekte von digitalen und technischen Innovationen verstärkt ins Zentrum gerückt werden, weil neue Medien, Kommunikationsmöglichkeiten und Prozesse große Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesellschaft und Politik haben. Dabei sollten besonders auch problematische Auswirkungen nicht übersehen werden. Laut Ramesohl und Berg (2019, S. 4) sollen auch «Entwicklungs- und Anwendungsbedingungen für Digitalisierung durch einen umweltpolitischen Rahmen ökologisch … [ausgerichtet werden]». Dafür sei eine «eigene umweltpolitische Strategie für die Digitalisierung» (Ramesohl und Berg 2019, S. 5) notwendig und überfällig. Das klingt zwar sehr gut, aber was heißt das insbesondere dann, wenn durch die Digitalisierung neue Verhaltensweisen, Konsumgewohnheiten (z. B. von Energie!) und Bedürfnisse entstehen, die weder gewollt waren noch beeinflussbar sind und die Gesellschaft vor ganz neue Probleme stellen? Vor Jahren haben Helbing et al. (2017, S. 20) in ihrem «Digitalen Manifest» für die Gestaltung einer mit den gesellschaftlichen Grundwerten und den Grundrechten kompatiblen digitalen Zukunft folgende Prinzipien aufgestellt: «1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Die Funktion von Informationssystemen stärker zu dezentralisieren, Informationelle Selbstbestimmung und Partizipation zu unterstützen, Transparenz für eine erhöhte Vertrauenswürdigkeit zu verbessern, Informationsverzerrungen und -verschmutzungen zu reduzieren, von den Nutzern gesteuerte Informationsfilter zu ermöglichen, gesellschaftliche und ökonomische Vielfalt zu fördern, die Fähigkeit technischer Systeme zur Zusammenarbeit zu verbessern, digitale Assistenten und Koordinationswerkzeuge zu kreieren, kollektive Intelligenz zu unterstützen, und die Mündigkeit der Bürger in der digitalen Welt zu fördern – eine ‚digitale Aufklärung‘».

Obwohl die Digitalisierung längt volle Fahrt aufgenommen hat, bleiben wesentliche Fragen immer noch unbeantwortet1 : Wie beeinflusst die Digitalisierung unsere Lebensweise langfristig, inwieweit ist die Digitalisierung ein sozio-kulturelles Phänomen, was bedeutet die Digitalisierung für die Solidarität zwischen den Menschen und für die soziale Gerechtigkeit, wie wirkt sich die Digitalisierung auf die Umwelt aus, welche zivilgesellschaftlichen und demokratischen Möglichkeiten gibt es, die Digitalisierung

1 Einige dieser Fragen hat Manuela Specker (2019, S. 54) bereits 2019 gestellt.

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in die «richtige» Richtung, also auf das Wohl aller, auszurichten und sie nicht einfach als Mittel für die Partikularinteressen einzelner Akteure – etwa der digitalen Mega-Konzerne – eigendynamisch ablaufen zu lassen?

Literatur Anderson, Kai 2018: Die Idee einer menschlichen Digitalisierung. Wie wir das digitale Zeitalter prägen – und nicht umgekehrt. In: Volkens, Bettina / Anderson, Kai (Hrsg.): Digital Human. Der Mensch im Mittelpunkt der Digitalisierung. Frankfurt/New York: Campus. 13 ff. Hawking, Stephen 2018: «Das Schlimmste, das der Menschheit passieren kann»: Stephen Hawking sah die Menschheit vor einem Wendepunkt. 21.3.2018. https://www.businessinsider.de/tech/ste phen-hawking-warnt-vor-den-folgen-kuenstlicher-intelligenz-2018-3/ (Zugriff 5.11.2022). Helbing, Dirk/Frey, Bruno S. / Gigerenzer, Gerd/Hafen, Ernst/Hagner, Michael/Hofstetter, Yvonne/ van den Hoven, Jeroen/Zicar, Roberto V. / Zwitter, Andrej2017:Digitale Demokratie statt Datendiktatur. In: Könneker, Carsten (Hrsg.): Unsere digitale Zukunft. In welcher Welt wollen wir leben? Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft/Springer. 3ff.Digitale Demokratie statt Datendiktatur, xxxx 2017:Digitale Demokratie statt Datendiktatur. In: Könneker, Carsten (Hrsg.): Unsere digitale Zukunft. In welcher Welt wollen wir leben? Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft/ Springer. 3 ff. Ramesohl, Stephan / Berg, Holger 2019: Digitalisierung in die richtige Richtung lenken – Eckpunkte für Wissenschaft und Politik. In: Inbrief – Wuppertaler Impulse zur Nachhaltigkeit. 08/2019. 1 ff. Specht, Philip 2018: Die 50 wichtigsten Themen der Digitalisierung. Künstliche Intelligenz, Blockchain, Bitcoin, Virtual Reality und vieles mehr verständlich erklärt. München: Redline Verlag. Specker, Manuela 2019: Die Seele im digitalen Zeitalter. In: Caritas Schweiz (Hrsg.): Sozialalmanach 2019. Digitalisierung – wo bleibt der Mensch? Das Caritas-Jahrbuch zur sozialen Lage der Schweiz. Trends, Analysen, Zahlen. Luzern: Caritas-Verlag. 53 ff. Wiemeyer, Joachim 2021: Wirtschaftsethische Herausforderungen der Digitalisierung. In: Ulshöfer, Gotlind / Kirchschläger, Peter G. / Huppenbauer, Markus (Hrsg.): Digitalisierung aus theologischer und ethischer Perspektive. Konzeptionen – Anfragen – Impulse. Reihe Religion – Wirtschaft – Politik. Band 22. Baden-Baden: Nomos. 163 ff.