Diesseits der imperialen Geschlechterordnung. (Post-)koloniale Reflexionen über den Westen [1. ed.] 9783837623437

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Diesseits der imperialen Geschlechterordnung. (Post-)koloniale Reflexionen über den Westen [1. ed.]
 9783837623437

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Karin Hostettler, Sophie Vögele (Hg.) Diesseits der imperialen Geschlechterordnung

Postcolonial Studies | Band 15

Karin Hostettler, Sophie Vögele (Hg.)

Diesseits der imperialen Geschlechterordnung (Post-)koloniale Reflexionen über den Westen

Der Sammelband wurde finanziell unterstützt durch die Graduiertenkollegien Gender Studies Schweiz und die Stiftung Alumni Graduiertenkolleg II.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz & Korrektorat: Karin Hostettler u. Sophie Vögele Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2343-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]



Inhalt

Diesseits der imperialen Geschlechterordnung  (LQH(LQOHLWXQJ 

Karin Hostettler und Sophie Vögele | 7

 Koloniale Muster geschlechtsspezifischer Berufsorientierung 3RVWNRORQLDOH$QPHUNXQJHQ 

Patricia Baquero Torres und Frauke Meyer | 37

 Bevölkerung, Krise, Nation .RORQLDOH.RQWLQXLWlWHQLQGHPRJUDILVFKHQ )HUWLOLWlWVGHEDWWHQ 

Franziska Schutzbach | 77

 Kolonialisierung in Mitteleuropa: Zivilisatorische Moderne und die Transformation jüdischer Männlichkeit 

Kristiane Gerhardt | 107

 »[] ist doch auch das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes ein dark continent für die Psychologie« 

Martina Tißberger | 131

 Was bilden wir uns eigentlich ein? 

Angelika Böck | 173

 Das ›Going Native‹ des primitivistischen Künstlers und die exotische Frau 9LFWRU6HJDOHQVNULWLVFKHbVWKHWLNGHV([RWLVPXV 

Ladina Fessler | 197

 Kritische Verwicklungen des kultivierten Begehrens %UJHUOLFKH*HVFKOHFKWHURUGQXQJHXUR]HQWULVFKH ¾5DVVHQ½WKHRULHXQGGLH)UDJHGHU.ULWLNEHL,PPDQXHO.DQW 

Karin Hostettler | 225

 

Feministischer Orientalismus und Sexualpolitik 6SXUHQHLQHUXQKHLPOLFKHQ%H]LHKXQJ 

Gabriele Dietze | 255

 Global Sisterhood Revisited  0|JOLFKNHLWHQXQG)DOOVWULFNHJUHQ]EHUVFKUHLWHQGHU 6ROLGDULWlW 

Franziska Dübgen | 291

 Nachwort +HJHPRQLDOH6HOEVWDIILUPLHUXQJXQG9HUDQGHUXQJ 

Andrea Maihofer | 319

 Autor_innen | 333



Diesseits der imperialen Geschlechterordnung Eine Einleitung

K ARIN H OSTETTLER UND S OPHIE V ÖGELE »Und wenn unsere weißen Schwestern radikalen Freundinnen uns vor sich sehen von Angesicht zu Angesicht und nicht als das Bild das sie besitzen sind sie nicht mehr so sicher ob sie uns genau so mögen. Wir sind nicht so glücklich wie wir aussehen an ihrer Wand.« (JO CARILLO ZIT. N. OGUNTOYE/OPITZ/ SCHULTZ 1986: 38)

Zahlreiche Interventionen aus der (post-)kolonialen Theorie zeigen immer wieder auf, dass sich die Gender Studies im europäischen und insbesondere im deutschsprachigen Raum nicht genügend mit (post-)kolonialen Fragen befassen. Der Sammelband Farbe bekennen (1986) ist eine der frühesten Publikationen, mit der sich nicht-weiße1 deutsche Frauen zu

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Die Schreibweise weiß und Schwarz bezieht sich u.a. auf Oguntoye/Opitz/Schultz (1986) und verweist auf die gesellschaftlichen Konstruktionen von

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Wort melden und auf die Geschichte und Lebensrealität afro-deutscher Frauen aufmerksam machen. Darauf folgen Publikationen wie jene von Fatima El-Tayeb mit ihrer Monografie Schwarze Deutsche (2001), Grada Kilombas Buch Plantation Memories (2008) und auch Sammelbände wie re/visionen (2007), Mythen, Masken und Subjekte (2005) und Spricht die Subalterne deutsch? (2003) versammeln Interventionen von People of Color, die auf den Kolonialismus Deutschlands und koloniale Kontinuitäten im gesamten deutschsprachigen Raum aufmerksam machen, Rassismen im Alltag diskutieren, auf deren psychologische, gesellschaftliche und institutionelle Folgen hinweisen und Widerstandsstrategien aufdecken. Sie und viele andere wichtige Beiträge haben aufgezeigt, dass die Verknüpfungen von Kolonialismus, Rassismus und Geschlechterverhältnissen wie auch Sexualität für ein umfassenderes Verständnis vorherrschender gesellschaftlicher Realitäten zentral sind. Der vorliegende Sammelband knüpft an diese Interventionen an und will sie weiter in die Gender Studies tragen. Die Publikation versteht sich als einen Beitrag, der dazu verhelfen soll, postkoloniale Perspektiven verstärkt als integralen Bestandteil der Gender Studies zu etablieren, Geschlecht und Sexualität weitergehend auf ihre rassifizierende Normativität hin zu befragen sowie deren Theoretisierung kritisch zu beleuchten und die implizite Norm der weißen Gender Studies weiter zu destabilisieren. Ausgehend von der imperialen Geschlechterordnung richten wir unseren Blick auf das Diesseits. Wir gehen also der Frage nach, welche Auswirkungen des Kolonialismusdiskurses sich in Bezug auf die europäischen, modernen Geschlechterverhältnisse ausmachen lassen und in welche Verwicklungen sich koloniale Logiken auch im deutschsprachigen Raum begeben haben. Dadurch eröffnet sich ein ganzes Feld von Perspektiven, die eingenommen, und Fragen, die gestellt werden müssen. Die Frage nach historischen Konstitutionsprozessen und gegenwärtigen Effekten von kolonialen Geschlechterverhältnissen verstehen wir als Überschneidung mehrerer Prozesse. Eine solche kritische Befragung kann das Selbst und Andere unterschiedlich beleuchten und betonen: Wie wir im Folgenden ausführen werden, kann der Fokus auf Andere gelegt

 phänotypischen Merkmalen als Differenzierungs- und Hierarchisierungsmerkmal. Mit der Großschreibung von Schwarz wird zugleich das widerständige Potenzial, das in dieser politisch-strategischen Selbstbezeichnungspraxis eingeschrieben ist, hervorgehoben. Im Gegensatz dazu wird weiß klein geschrieben.

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und nach der Abgrenzung und Überordnung des Selbst gefragt werden. Oder der Fokus liegt auf dem Austausch zwischen geschlechtlich unterschiedlich positionierten Selbst und Anderen und der gegenseitigen Konstitution, Einflussnahme und Abhängigkeit. Eine dritte Perspektive nimmt die Effekte in den Blick, die durch Andere für das Selbst entstehen. Zentral für diesen Sammelband ist, dass vergeschlechtlichte koloniale Othering- und Selbstaffirmierungsprozesse nicht nur außerhalb Europas zu lokalisieren sind. Wir sehen deshalb die Notwendigkeit, einerseits die Rückwirkungen dieser Prozesse auf Europa selbst zu untersuchen, andererseits dieselben Prozesse innerhalb Europas/dem Westen2 in den Fokus zu nehmen, und letztlich den konstitutiven Zusammenhang dieser Prozesse innerhalb und außerhalb Europas/des Westens zu beleuchten. Dabei fassen wir die hiesige europäische/westliche Gesellschaft als diesseitig, durch den Kolonialismus geprägt, und fragen nach den Auswirkungen und Einflüssen des Imperialismus und Kolonialismus auf die Geschlechterverhältnisse in der europäischen Vergangenheit und Gegenwart. Insofern wir nicht nur die europäischen/westlichen Geschlechterverhältnisse, sondern auch die westliche, feministische Kritik innerhalb und außerhalb der Akademien aus einer (post-)kolonialen Perspektive diskutieren, stellen sich vorgängig Fragen in Bezug auf das Unternehmen der Kritik. Obwohl sich beide kritischen Denkströmungen teilweise in ähnli-

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Wir verwenden Europa und Westen in diesem Text in einer austauschbaren Weise, auch wenn die beiden Begriffe Unterschiedliches bezeichnen bzw. betonen: Wir verstehen Europa als Teil des Westens, der sich im Zug der europäischen Expansion herausgebildet hat. Die Bezeichnung Westen vermag eher die globale Machtposition zu erfassen und bezeichnet die hegemoniale Position, die vom nordamerikanischen Raum, Europa und je nach Sichtweise auch von Japan eingenommen wird. Europa ist eine politische, ökonomische, kulturelle und auch epistemische Einheit, die sich als Teil des Westens mit kolonialen und imperialen Elementen verbindet. In diesem Sinne verstehen wir Europa und Westen auch und im Anschluss an Hall (2002) als Ort der Herstellung und Konstitution einer Hegemonie und (post-)kolonialen Vormacht, welche durch die koloniale Vergangenheit geprägt ist. Insofern wir hier auf den Konstitutionsprozess von Europa/Westen – wie auch Orient und Okzident – eingehen, verzichten wir im Sinne einer besseren Lesbarkeit auf einfache Anführungszeichen.

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chen Traditionen verorten, gibt es dennoch Inkongruenzen zu verzeichnen. Zwei Aspekte der (post-)koloniale Kritikdiskussion beleuchten wir im Folgenden genauer: Zum einen unternehmen Theoretiker_innen3 des (Post-)Kolonialismus eine Revision des Narrativs der Herausbildung der Moderne, insofern sie diese in Bezug auf den Kolonialismus neu fassen. Zum anderen lässt sich anhand dieser Diskussion verdeutlichen, welche Anforderungen eine (post-)koloniale Kritik idealerweise erfüllen sollte. In einem weiteren Schritt zeigen wir, inwiefern damit auch feministische Kritiken und Gender Studies, die sich in Beziehung zur Moderne wie auch Postmoderne artikulieren, ebenfalls neu perspektiviert werden müssen. Die Untersuchung von orientalisierenden/okzidentalen Formen verortet sich von Beginn weg in einem engen Verhältnis zur Wissensproduktion. Die Verbindung von Wissen und Macht ist eine der zentralen Annahmen, die Edward Said (2009 [1978]) in seinem Orientalismus-Konzept im Anschluss an Michel Foucault sowie auch Theoretiker_innen des Okzidentalismus (vgl. insbes. Coronil 2002 [1996]; Mignolo 2000) aufgenommen haben. Darin werden sowohl das Alltagswissen als auch die Wissensproduktion in der Akademie als zentrales Element für die Herstellung von Ungleichheitsverhältnissen diskutiert – ebenso wird die Frage gestellt, wie eine Analyse aussehen kann, die Ungleichheitsverhältnisse benennt, sie aber zugleich nicht weiter verfestigt. Denn eine (post-)koloniale Kritik sollte unserer Ansicht nach die Leistung vollbringen, sich zwischen zwei Polen zu bewegen: Einerseits sollten ungleiche Machtverhältnisse nicht verschleiert, andererseits aber im Akt der Benennung und als etablierte Analysekategorie auch nicht reproduziert werden. In Bezug auf (Post-)Kolonialität macht die Diskussion von Stuart Hall (2002) die Bedeutung dieser Anforderung deutlich. Einerseits sollen koloniale Differenzen in ihrer verallgemeinernden, übergeneralisierten und -determinierten Form aufgegriffen werden. Andererseits soll gleichzeitig gezeigt werden, inwiefern diese Verallgemeinerungen unzulässig und verfälschend sind. Dies kann erreicht werden, indem Differenzen und Disseminationen betont werden, welche die Verallgemeinerungen unterlaufen (ebd. 231). Damit stellt sich in Bezug auf Europa die Frage, inwiefern sich Europa einerseits als eine Einheit herausbildet, d.h.

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Die Verwendung des Unterstrichs bezieht sich auf Herrmann (2003). Einen Überblick über queere Sprachstrategien gibt Baumgartinger (2008).

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wie der Herstellungs- und Konstitutionsprozess dieser hegemonialen Position gezeichnet werden kann. Andererseits besteht die Aufgabe darin aufzuzeigen, inwiefern der Westen ein multipler Ort ist, der fragmentiert, in sich kolonialisiert und kolonialisierend ist und zugleich global agiert und wirkt, dennoch provinziell im Lokalen verhaftet und als globale Vormacht durch die koloniale Vergangenheit geprägt ist. Eine kritische Lektüre sollte idealerweise die Gleichzeitigkeit von Lokalität und Globalität, von Universalität und Partikularität, von Konstitutionsprozessen und Prozessen, die diesen entgegenlaufen oder sich entziehen, in den Blick bekommen. Eine solche kritische Analyse bewegt sich teilweise auf dünnem Eis und läuft ständig Gefahr zu kippen. So muss immer wieder kritisch überprüft werden, ob Reproduktionen von machtvollen Verhältnissen vorgenommen oder machtvolle Verhältnisse verschleiert werden.4 Dies gilt konsequenterweise für die kritischen Traditionen selbst. Kann die kritische Haltung einen universellen Anspruch formulieren oder muss sie im Gegenteil historisch und geografisch verortet werden? In der Tat kann mit Foucault (1992 [1978]; 2005 [1984]) die kritische Haltung im Europa der Aufklärungszeit lokalisiert werden. Die Aufklärung hat einen gesellschaftspolitischen Umbruch mit sich gebracht und eine Haltung der Kritik etabliert, die Foucault als Haltung der Moderne bezeichnet. Wie jedoch Trouillot (2002) eindrücklich aufzeigt, muss auch diese kritische Haltung auf ihre Auslassungen, Leerstellen und Diskriminierungen nochmals überprüft werden. Er zeigt anhand der haitianischen Revolution, wie ein Aufstand von Sklav_innen gegen die Kolonialmacht diskursiv nicht eingeordnet und überhaupt als Ereignis gefasst werden konnte. Die vorherrschenden Begrifflichkeiten, mit denen auch die radikalste antikoloniale Kritik an der Sklaverei formuliert wurde, waren unzulänglich, um diese Geschehnisse zu verstehen. Trouillots Text weist darauf hin, dass auch die hiesige kritische Haltung eine Verankerung, einen Ort und eine Geschichte hat, die ihrerseits die koloniale Vormacht etabliert(e) und festigt(e). Dieser Verdacht gilt auch für die westlichen Feminismen und Gender Studies, die sich in weiten Teilen in (post-)moderne

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Vor dieser Gefahr sehen auch wir uns nicht gefeit. In diesem Sinne lässt sich der Untertitel des vorliegenden Sammelbandes, (post-)koloniale Reflexionen, auch in affirmativer Weise lesen. Wir verstehen die Lesart als Ausdruck unsere Haltung, in (post-)koloniale Prozesse involviert zu sein und sie nicht ›von außen‹ ›objektiv‹ beschreiben zu können.

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Theorietraditionen einschreibt und sie auch umschreibt. So muss das kritische (post-)moderne Geschlechterwissen in einem (post-)kolonialen Rahmen neu verortet und kritisch untersucht werden Infolge der Etablierung der Gender Studies in den westlichen Akademien wird zunehmend geschlechterkritisches Wissen generiert. Das geschlechterkritische Wissen erhebt bisweilen Anspruch auf eine Anwendung in globalen Kontexten. Die Frage der Anwendung diskutiert u.a. Oyèrónké Oywùmí in ihrer Forschung, mit der sie ihre Aufmerksamkeit auf die Geschlechterverhältnisse der Yorubagesellschaft gerichtet hat. Die Einleitung ihrer Studie The Invention of Women (1997) verdeutlicht die Probleme, die sich bei einer Übertragung von westlichen Konzepten auf nicht-westliche Gesellschaften stellen. Unternimmt man in einem (post-)kolonialen Setting empirische Forschung über Geschlechterverhältnisse, werden bedeutende Implikationen mittransportiert. Bevor überhaupt Wissen über eine nicht-westliche Gesellschaft gewonnen werden kann, müssen Konzepte und Ansätze, die in der Forschung zur Verfügung stehen, auf ihre Herkunft und Auswirkungen hin kritisch hinterfragt werden. Diesem Problem nachgehend argumentiert Oywùmí, dass die westliche Geschlechterordnung wie auch die Kritik an bestehenden Geschlechterverhältnissen, die im westlichen Feminismus artikuliert wird, Teil der eurozentrischen Moderne des Westens sind (ebd. 1-30). Dass die Geschlechterordnung selbst ein zentrales Element einer imperial(isierend)en Macht war und ist, darauf haben bereits andere hingewiesen (vgl. insbes. McClintock 1995). Mit der europäischen Expansion und dem Kolonialismus wurden globale ökonomische Verhältnisse geschaffen, wie auch Wissen und kulturelle Erzeugnisse exportiert und gewaltvoll in kolonialen Gebieten durchgesetzt. Dazu zählt die spezifische europäische Geschlechterordnung, die – wie Oywùmí zusammenfasst – auf einer binären Logik beruht, nicht mehr als zwei Geschlechter vorsieht, Homosexualität als unnatürlich klassifiziert und die Frau grundsätzlich dem Mann unterordnet. Oywùmí geht aber noch einen Schritt weiter, indem sie die westlichen feministischen Kritiken an dieser Geschlechterordnung ebenfalls als imperiales Moment diskutiert: denn feministische Interventionen seien genauso an die europäischen/westlichen Vorstellungen von Geschlecht gebunden. Zentrale geschlechtertheoretische Einsichten wie die Kritik an der Verankerung von Geschlecht in der Natur/Biologie, die sozialkonstruktivistischen Ansätze zur Erforschung der Geschlechterverhältnisse und die Einsicht, dass Ge-

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schlecht eine strukturierende Wirkung für die gesamte Gesellschaft habe, weist sie für die Untersuchung des (post-)kolonialen Settings in Nigeria als inadäquat zurück: Für die Erforschung der Yorubagesellschaft könnten diese westlichen Theorien und Konzepte nicht einfach über den spezifischen kulturellen Rahmen hinaus generalisiert und übernommen werden (Oywùmí 2010: 13). Gerade in Bezug auf konstruktivistische Ansätze weist sie im gleichen Zuge auf eine grundlegende Ambivalenz hin. Während einerseits konstruktivistische Ansätze gerade von der historischen Gewordenheit von Geschlechtskörpern und Geschlechterverhältnissen ausgeht, kann nicht gleichzeitig auf der anderen Seite behauptet werden, es gäbe eine universelle Unterordnung der Frauen (ebd. 10). Genauso wenig kann angenommen werden, dass jede Gesellschaft davon ausgeht, das soziale Geschlecht sei im Körper verankert oder Geschlecht habe eine gesamtgesellschaftlich strukturierende Wirkung. Konsequenterweise weist sie diese Annahmen als westliche zurück. Diese Zurückweisung – welche eine Zurückweisung von Einsichten der Gender Studies an Europa/den Westen beinhaltet – nimmt Oywùmí anhand einer klaren Trennung zwischen europäischer Gesellschaftsordnung und der sozialen Ordnung der Yoruba vor. Sie geht somit in ihrem Ansatz von einer kolonialen Differenz aus und richtet ihren Blick weniger auf die Vermischung und Übertragungen im kolonialen Rahmen. Damit zieht sie auch in der Geschlechtertheorie eine scharfe Trennlinie zwischen dem, was für die Yoruba gilt und dem, was von außen durch die Kolonisation oktroyiert wurde. Dieser Differenzansatz ermöglicht ihr zu bestimmen, was als Teil der Kolonialmacht an gesellschaftlichen Strukturen zurückgewiesen werden muss und welcher Anteil zur ›eigentlichen‹, nicht kolonisierten Gesellschaft und Kultur gehört. Ein zentrales Moment darin ist der Rückgriff auf die vorkoloniale Gesellschaft. Auch wenn unter bestimmten Aspekten dieser Differenzansatz problematisch ist5, möchten wir anhand ihrer Studie zwei bedeutende Fragen aufwerfen: Welcher Geltungsbereich ist für geschlechtertheoretische Einsichten westlicher Provenienz angebracht? Und welche Einschränkungen resp. Erweiterungen des geschlechtertheoretischen Wissens sind notwendig, um diesen Einsichten ihren Anspruch auf Universalität und ihre bevormundende Komponente zu nehmen? Oywùmís Studie macht eine Anwendung feministischer Kritik auf außerwestliche bzw. außer-europäische Gesell-

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Zur Kritik an Oywùmí siehe Bakare-Yusuf (2003) wie auch Apusigah (2006).

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schaften als imperial aneignenden Gestus erkennbar. Eine imperiale Aneignung geschieht nicht nur dadurch, dass Kategorien der Kritik unzutreffend und nicht anschlussfähig sind, sondern auch dadurch, dass sie andere Lebensrealitäten verdecken (vgl. auch Mohanty 1988). Gayatri C. Spivak (1988) weist in diesem Zusammenhang auf die Problematik von ›Repräsentieren‹ hin – ein Begriff, in dem ›Darstellen‹ und ›Vertreten‹ zusammenfallen (ebd. 272-289) und somit im Versuch zur Repräsentation die Repräsentierten zwingend verdeckt werden. Dies bedeutet einerseits, dass, gerade indem die Darstellung der Yorubagesellschaft in Kategorien vorgenommen werden, die sich historisch im Westen/Europa verorten, eine eigene gesellschaftliche Logik, die in anderen Kategorien gefasst werden muss, erst gar nicht erscheinen kann. Andererseits wird durch die Zurückweisung von Einsichten der Gender Studies an den Westen deutlich, dass feministische Kritik sich der Historizität und des Kontexts ihrer eigenen Kategorien bewusst werden muss, um damit anderen gesellschaftlichen (Geschlechter-)Ordnungen Raum geben zu können. Dieser Raum kann erst eröffnet werden, wenn eine Reflexion darüber angestellt ist, in welchem geopolitischen Kontext feministische Kritik aufgekommen ist und Denkmuster und Kategorisierungsformen verortet werden müssen. Wie wir im nachfolgenden Abschnitt herausarbeiten, sind diese nicht nur im Europäischen und Westlichen zu verorten, sondern ebenfalls im Imperialen: Auch wenn Konzepte, Denkmuster und Kategorien auf Europa und den Westen zurückbezogen werden, bedeutet dies nicht, dass sie im globalen imperialen Kontext bedeutungs- und folgenlos waren oder sind. Mit der zweiten Frauenbewegung und Simone de Beauvoir (2008 [1949]) als eine ihrer zentralen Stimmen, gilt die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als Ausgangspunkt der Hinterfragung der biologischen Determiniertheit von Geschlecht und der Erforschung von sozialen, psychologischen und kulturellen Aspekten des gelebten Geschlechts. Mit der Einsicht, dass Geschlecht nicht ›angeboren‹ ist, stellte sich auch die Frage nach der historischen Entstehung der bürgerlichen Geschlechterordnung. Der soziale Umbruch in der Aufklärungszeit in Europa war begleitet von der Durchsetzung der bürgerlichen Geschlechterordnung, die sich über alle Gesellschaftsschichten hinweg als hegemoniales Ideal präsentiert hat. So fand in der Aufklärungszeit die Verankerung des Geschlechts in der Anthropologie statt – wobei zugleich eine ›weibliche Sonderanthropologie‹ (vgl. Honegger 1991) die hegemoniale männliche Anthropolo-

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gie begleitete – und das Zwei-Geschlechter-Modell gegenüber dem EinGeschlechtsmodell eine diskursive Vormacht erhielt (Laqueur 1992). Dieser Umbruch in der Geschlechterordnung fand global gesehen in einer Zeit statt, in der Europa bereits seit längerer Zeit kolonialistisch agierte. Berücksichtigt man diesen historischen Kontext, ist die Frage naheliegend, inwiefern der Export und die Aushandlungen europäischer Kategorien in den Kolonien die europäische Geschlechterordnung geprägt haben. Entsprechend rückt der vorliegende Sammelband Momente in den Fokus, in denen der koloniale Kontext die Geschlechterordnung in Europa geprägt hat und über die Kolonisierung hinaus anhaltend prägt. Tatsächlich finden sich viele Studien über die gewaltvolle Implementierung der bürgerlichen Geschlechterordnung in kolonisierten Gebieten. Insbesondere die Studie von Jacqui Alexander (1994) zeigt die komplexe Gleichzeitigkeit von Angleichung und Veränderung auf, die Kolonisierte als Reaktion auf Zuschreibungen von Geschlechtlichkeit und Sexualität leisten mussten. Solche Prozesse, die wir im Folgenden genauer darstellen, gilt es, erneut in Beziehung zu Europa zu setzen und grundlegender zu erforschen. Alexander (1994) beschreibt, wie die bürgerliche Geschlechterordnung der Mittelklasse, die sich in der Aufklärung durchgesetzt hat, in den kolonisierten Gebieten das Ideal von Sexualität und Geschlecht bestimmt hat. Durch diese imperiale Ausweitung der europäischen Geschlechterordnung wurden Kolonisierte einem Prozess ausgesetzt, der zugleich eine Angleichung an die Idealvorstellung der Zivilisierung und Modernisierung verlangte wie auch eine Veränderung als ständige Markierung von Differenz zu den Kolonisierenden vornahm. Während der Einsetzung der Sklav_innen-Plantagen-Ökonomie fand eine Naturalisierung von Weiß-Sein statt, die als männliche Norm in der Figur des englischen ›gentleman‹ und als weibliche Norm in der Figur der ›unnahbaren Madonna‹ verkörpert wurde. In Bezug darauf und gleichzeitiger Abgrenzung davon wurden Schwarze Frauen als sexuell freizügige Huren verstanden (ebd. 12). Auch Sexualitäten wurden kategorisiert und grundsätzlich auf die weiße Sexualität bezogen und ihr untergeordnet. Diese gleichzeitige Zuschreibung von Eigenem und Anderem im selben Gestus lässt sich durch den Prozess des Othering fassen. Othering ist einerseits in psychologischem wie philosophischem Sinne bestimmt durch eine Definition von Anderen und der Konstitution von kulturellen Eigenheiten als Andere, welche jedoch gleichzeitig für das Selbst determinierend sind. Otherness ist somit Bestandteil der Konstruktion einer eigenen Rolle und Zuschreibung, welche sich von Anderen abhebt und

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als Teil eines Prozesses von Reaktionen und nicht unbedingt nur als Stigmatisierung oder Verurteilung verstanden werden muss (vgl. insbes. entsprechende Rezeptionen von Lévinas 1961; 1995 und Beauvoir 1949). Andererseits wurde der Begriff Othering v.a. in den Sozialwissenschaften geprägt, um den Prozess der Unterdrückung und Bevormundung von bestimmten rassifizierten und orientalisierten Gesellschaften und Gruppen zu fassen. Dabei steht die Analyse einer gewaltvollen Verdeckung im Vordergrund – gewaltvoll auch dadurch, weil bestimmte Lebensrealitäten verunmöglicht werden (vgl. insbes. Spivak 1985; 1988 und Trinh T. Minh-ha 1989). Alexander weist darauf hin, wie im Zuge von kolonial motivierten Sozialisationsbestrebungen im Sinne einer Modernisierung der Kolonien in den karibischen Inseln und letztlich auch der Befähigung zur unabhängigen nationalstaatlichen Identität die inneren Wiedersprüche und die Ambivalenz von Othering im Kolonialen besonders deutlich werden: »[...] it would indeed require a complicated set of cognitive and ideological reversals for the British to turn the savage into the civilized, to turn those believed incapable of rule into reliable rulers. Herein lies the significance of socialization into British norms, British manners, British parliamentary modes of governance, into conjugal marriage and the ›science‹ of domesticity.« (Alexander 1994: 12)

Die Ambivalenz liegt also darin, dass den Kolonisierten einerseits die Fähigkeit, sich selbst zu regieren wie auch eine zivilisierte Sexualität und ein zivilisiertes Geschlecht zu haben, abgesprochen wurde und ihnen andererseits genau die Kompetenz zur Zivilisierung zugeschrieben werden musste, womit eine Rechtfertigung des imperialen Projekts einherging.6 Die Geschlechterordnung, welche sich also erst gerade im aufgeklärten Europa als ehrbar etabliert hatte, wurde, um den Auftrag der Zivilisierung in den Kolonien einzulösen, implementiert. Dabei war nicht nur die Regulierung von Sexualität wichtig, sondern auch die Etablierung einer Kernfamilien-Struktur als zentrale Institution zur Weitergabe von ›kulturellen Werten‹ (ebd. 13). Alexanders Studie thematisiert aber einen

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Johannes Fabian hebt in seiner wichtigen Studie Time and the Other (1983) hervor, wie eine Verweigerung von Gleichzeitigkeit – denial of coevalnes – deutlich macht, dass Zeit zu Distanz wird und damit jegliche Ambivalenz in der Konzeptionalisierung der außereuropäischen Anderen vom kolonisierenden Subjekt aufgehoben wird.

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weiteren Aspekt, der für das Fassen der imperialen Geschlechterordnung unserer Ansicht nach zentral ist: Sie legt dar, inwiefern das Koloniale, die De-Kolonisierung und die Etablierung des Nationalismus nicht als losgelöst voneinander gedacht werden können. Als ausschlaggebend für diese anhaltende Dominanz in aktuellen institutionalisierten Praktiken weist Alexander auf das koloniale, aufklärerisch geprägte BilderRepertoire von gesitteter Männlichkeit sowie monogamen und heterosexuellen Beziehungsformen in Kernfamilien in einer bürgerlichen Ordnung hin (ebd. 11). Wie sie am Prozess der Nationalstaatenbildung der karibischen Inseln deutlich macht, wurden die grundlegenden Wertekategorien der britischen Gesellschaft und ihres Rechts nicht in Frage gestellt. Die aktuelle Machtelite trägt mit ihrer Kontrolle über den Staatsapparat dazu bei, dass diese kolonialen Wertekategorien von Zivilisation, Geschlecht und Sexualität weiterhin vorherrschend sind und umgesetzt werden. Dabei wird Kriminalisierung als Technologie der Kontrolle zur Überwachung von Sexualitäten – d.h. Stigmatisierung und Illegalisierung verschiedener Arten nicht zeugungsfähiger Sexualität – zu einem wichtigen Ort der Produktion und Re-Produktion von Staatsmacht. Hier findet ein machtvolles Signifizieren von angemessener Sexualität statt, die eine Unterscheidung einführt zwischen jener Art von Sexualität, welche die Nation in Gefahr bringe, und derjenigen, welche die Erhaltung des Nationalstaates ermögliche (ebd. 14). In dieser aktuellen Kontinuität des imperialen Diskurses und der Verschränkung des Kolonialen und der DeKolonisierung scheint uns die Frage nach der Implikation des Westens besonders wichtig. Alexander weist in der Tat darauf hin, dass diese Definition von Nationalität über Sexualität gleichzeitig eine Nostalgie vor-westlicher Zeit heraufbeschwöre. Die Meinung herrscht vor, dass lesbisch und schwul orientierte Menschen, oder solche, die HIV-positiv sind oder AIDS haben, auf eine gesellschaftliche Verunreinigung aus dem Westen zurückzuführen sind. Wesentlich scheint uns hier, dass dadurch anthropologische Kategorien von Reinheit, Ursprünglichkeit und ›Eingeborenen‹Sexualitäten reproduziert werden, welche ebenfalls Teil des kolonialen Disziplinierungsapparates waren und sind. Solche Ideen reiner Sexualität werden zudem im Westen/Europa aufgenommen und exotisiert oder zeitweise auch – wenn es um eine Kritik an europäischen hegemonialen Geschlechternormen geht – verherrlicht. Nebst dieser Exotisierung und Verherrlichung nicht-westlicher Sexualitäten weist der Westen/Europa eine viel weiter gehende Prägung durch die

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koloniale Erfahrung auf. So ist das Imperiale nicht nur historisch für die Einsetzung einer normierten Sexualität im (post-)kolonialisierten Kontext bestimmend, sondern auch im (post-)kolonisierenden Kontext. In ihren Überlegungen weist Alexander zwar darauf hin, dass in Europa die Einsetzung einer bürgerlichen Geschlechterordnung aus der Etablierung einer Mittelklasse hervorgegangen ist, dennoch liegt der Fokus ihrer Analyse hauptsächlich auf den Prozessen außerhalb Europas und thematisiert deren Einfluss auf den Westen selbst nur marginal. Demgegenüber schlagen wir mit Homi K. Bhabha und Meyda Yeenolu vor, den Prozess der Implementierung der Kernfamilie und Bestimmung von ›normaler‹ Sexualität in den Kolonien als wechselseitigen Zuschreibungsprozess zu verstehen. Gerade die Widersprüchlichkeit und Ambivalenz dieses Prozesses machen erkennbar, inwiefern die Zuschreibungen auch für die imperiale Geschlechterordnung determinierend waren und sind. In seinem Beitrag Of Mimicry and Man: The Ambivalence of Colonial Discourse (1984) beschreibt Bhabha, wie durch koloniale Herrschaftsformen das kolonisierte Subjekt als Mimikry des post-aufklärerischen englischen Selbst geformt wird. Mit Mimikry geht Bhabha nicht von einem essenziellen Selbst aus, sondern versteht das Selbst als Effekt der Darstellung (ebd. 125). Dieser Darstellung sind Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen intrinsisch, da eine Doppel-Artikulation des kolonialen Diskurses stattfindet: Einerseits eignet sich das kolonisierte Subjekt zum Zweck der Kontrolle eine komplexen Strategie der Reform, Regulierung und Disziplinierung an. Andererseits entsteht genau dadurch eine Mimikry, die für Differenz, Zurückhaltung und letztlich Unangemessenheit steht: »colonial mimicry is the desire for a reformed, recognizable Other, as a subject of a difference that is almost the same but not quite« (ebd. 126). Die Doppel-Artikulation liegt im Spannungsfeld von ›fast gleich aber nicht ganz‹. Alexander beschreibt das im Kontext der schwarzen Männlichkeit folgendermaßen: »For Black Nationalist masculinity it was possible to aspire toward imperial masculinity and, if loyal enough, complicitous enough, could be knighted but never enthroned.« (1994: 13) Tatsächlich betont Bhabha, dass sich diese Doppel-Artikulation in Mimikry als eine der effektivsten Strategien kolonialer Herrschaft entwickelt(e) – effektiv im Sinne einer Beherrschung durch Gewähren von nur partieller und unvollständiger Präsenz kolonialer Subjekte. Aber dieselbe Unvollständigkeit bedeutet auch Unfassbarkeit und Flüchtigkeit: Letztlich führt das Imitierende auch zu einer Verwischung von Grenzen. Repräsentation innerhalb des kolonialen Diskurses wird flüchtig, weil es keine Essenz,

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kein Selbst beinhaltet. Durch diese Verfremdung des kolonialen Subjekts wird auch die Vorstellung der Identität des kolonisierenden Subjekts untergraben und von seiner vermeintlichen Essenz entfremdet (Bhabha 1984: 129). Es wird also ein gewisses kolonisiertes Subjekt produziert, welches das kolonisierende Subjekt ebenfalls konstituiert, womit letztlich beide von ihrer Identitätsessenz entfremdet werden. Stattdessen entstehen Identitätseffekte. Zugleich wird die koloniale Präsenz in der Repräsentation verleugnet, damit die eigene Identität als authentische aufrecht erhalten werden kann. Die koloniale Präsenz bringt durch diese Verleugnung die eigene Präsenz ständig in Gefahr: »The desire to emerge as ›authentic‹ through mimicry – through a process of writing and repetition – is the final irony of partial representation« (ebd. 129). Authentizität ist permanent durch Mimikry bedroht und muss deshalb ständig neu hergestellt und demonstriert werden. Somit ist Mimikry gleichzeitig und konstitutiv eine Kontrolle über das koloniale Subjekt und eine Bedrohung für die koloniale Autorität (ebd. 126). Die Zuschreibung einer respektablen und ehrbaren Männlichkeit, Weiblichkeit und Sexualität ist in dem Sinne also wechselseitig, als dadurch die Authentizität einer bürgerlichen Geschlechterordnung bestärkt und gleichzeitig durch die anhaltende Bedrohung der kolonialen Mimikry ständig neu artikuliert und demonstriert werden muss. In diesem Sinne festigen und unterlaufen koloniale Disziplinierungs- und Regulierungspraktiken eine imperiale Geschlechterordnung und formen sie dadurch mit. Yeenolu (1998) deutet im Othering als Prozess einer wechselseitigen Zuschreibung auf eine andere und weitere geschlechtliche und sexuelle Dimension hin. Im Anschluss an Said konzentriert sie sich auf das orientalistische Othering und thematisiert die Essenz des Orients als Verdeckung. Die für das orientalistische Othering paradigmatische Figur sieht sie in der verschleierten Frau verkörpert (Yeenolu 1998: 48). Damit eröffnen sich weitere Aspekte im Prozess des Otherings: Durch den Schleier entzieht sich die Frau dem westlichen Sichtbarkeitsregime, das sich in der Aufklärungszeit etabliert hat (ebd. 40).7 Mit dieser Figur im Zentrum des Otherings greift sie Elemente auf, die auch Bhabha ausgearbeitet hat, und gibt ihnen eine erweiterte Dimension: Wenn die Essenz des Orients in einer Verschleierung besteht, wird damit die Es-

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Yeenolu schließt hier an Foucault an, der Sichtbarkeit und Transparenz als jene Technologien sieht, auf der die institutionelle Macht seit der Aufklärungszeit aufbaut.

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senz als unfassbar bestimmt. Diese Konstruktion der Unfassbarkeit erzeugt zugleich ein permanentes Begehren nach Entschleierung, Enthüllung und Entdeckung. Darin überschneidet sich das Begehren nach Wissen mit (hetero-)sexuellen Fantasien. Wie bereits Bhabha deutlich machte, erlaubt die Setzung der verschleierten Frau als eine Äußerlichkeit die Selbstbestimmung als christlich-europäisch, wobei diese Identität, die auf dem Prozess des Otherings beruht, ständig bedroht ist. Zudem wird mit Yeenolu deutlich, wie auch im westlichen feministischen Diskurs die ›Befreiung‹ der verschleierten Frau eine wichtige Rolle spielt. Damit rückt sie den weißen Feminismus als kolonialen Agenten ins Blickfeld. Die Ausführungen von María Lugones (2010) treiben gerade diesen Aspekt noch weiter. Mit ihrem Aufsatz spricht sie an, inwiefern die koloniale Logik bis in die feministischen Analysemomente der europäischen Geschlechterordnung hinein verfolgt werden kann. Daran lässt sich die Vermutung knüpfen, dass Geschlecht nicht nur ein zentraler Bestandteil des Kolonialismus war, sondern umgekehrt auch der Geschlechterdiskurs in sich durch koloniale Momente geprägt ist. Lugones argumentiert, dass die Differenzierung in zwei Geschlechter selbst in einem kolonialen Rahmen untersucht werden muss (ebd. 744). Sie kritisiert damit nicht nur die universalisierende Anwendung geschlechtlicher Konzepte, sondern verweist auch darauf, dass die Differenzierung der Geschlechter selbst ein Merkmal der Zivilisierung war. Die Kolonisierten hingegen wurden als bestialisch eingestuft und »as non-gendered, promiscuous, grotesquely sexual, and sinful« (ebd. 743). Während innerhalb des kolonisierenden Europas allen Menschen Menschlichkeit zugesprochen wurde, wurde diese für die Bewohner_innen der kolonisierten Gebiete angezweifelt. Lugones macht deutlich, dass durch die Zuschreibung ›nichtmenschlich‹ den Kolonisierten ein Gender, also ein kulturelles und soziales Geschlecht, abgesprochen wurde und Sex, das biologische Geschlecht, für die Charakterisierung der Kolonisierten genügte (ebd. 743f).8 Lugones betont, dass dieser Punkt wichtig ist, weil gerade neuere

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Lugones nimmt hier eine begriffliche Verkürzung vor, indem sie in Bezug auf das 18. Jh. von der Unterscheidung Sex/Gender spricht. Das ist etwas verwirrend, da diese Begriffe erst in den 1970er Jahren als Analysekonzepte in der feministischen Theorie Einzug gehalten haben. Dennoch bleibt ihre Überlegung richtig, da sich im 18. Jh. sowohl ein Diskurs über das biologische, anatomische, anthropologische Geschlecht herausbildet wie auch über die »polarisierten Geschlechtscharaktere« (Hausen 1976).

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feministische Ansätze, welche den Einfluss von Gender auf Sex deutlich machen resp. die Grenzen zwischen beiden in Frage stellen (Butler 1991), die Gefahr bergen zu verwischen, dass die Trennung zwischen Sex und Gender durchaus eine historische Funktion hatte und die Genderlosigkeit bzw. Alleinstellung von Sex mit der Charakterisierung von Nicht-Menschlichkeit verbunden wurde. Dies verdeutlicht, dass die Konstruktion einer sichtbaren Differenz zwischen Europa und dem kolonialisierten ›Rest‹ intrinsisch mit einem Unterschied in der Geschlechterkonstruktion verbunden war. Richtet man den Blick auf die Herausbildung des binären, im Biologischen verankerten Geschlechts in Europa zur Aufklärungszeit, lässt sich Lugones Einwand zunächst anders betonen und dann auch weiterspinnen. Ihr Argument macht deutlich, dass es für Europäer_innen im kolonialen Rahmen als ein Vorrecht gelten konnte, ein soziales/kulturelles – oder auch ›zivilisiertes‹ – Geschlecht zu haben, 9 das für die differenzierte Herausbildung der heterosexuellen Geschlechtscharaktere funktional war – auch wenn dieses soziale Geschlecht im biologistischen Diskurs des 19. Jh., die die Geschlechtsidentität durch Sex begründet, nicht explizit wurde. Darüber hinaus müsste damit neu erforscht werden, ob mit dieser Einsicht ex-post erkennbar wird, inwiefern sich die biologisch-essenzialisierende Geschlechterdichotomie mit dem kolonialistischen Diskurs von Natur und Kultur/Zivilisation überschneidet und inwieweit die Unterscheidung in ein biologisches und kulturelles Geschlecht dieser Verknüpfung mit dem kolonialen Diskurs geschuldet ist. Waren es nur inner-europäische Prozesse, die dem Zwei-Geschlechter-Modell (Laqueur 1992) zu einer diskursiven Vormacht verholfen haben? Oder hat sich der Westen und dessen moderne Geschlechterordnung erst anhand des kolonialen Unternehmens als hegemonial hervorbringen können? Mit diesen Fragen wird deutlich, dass nicht nur untersucht werden muss, wie koloniale Differenzen anhand von Geschlechts- und Sexualitätskonzepten erstellt und aufrecht erhalten wurden, inwiefern dadurch eine Veränderung von Kolonisierten vorgenommen wurde und wie sehr im Prozess der De-Kolonisierung komplexe Verstrickungen und Formen von Reproduktionen des Imperialen dominieren. Sondern es geht auch darum – und das ist für uns hier zentral – wie koloniale geschlechtliche Differenzierungen ihre Markierung im Zentrum selbst hinterlassen ha-

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Vgl. dazu auch Davis (2001).

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ben, nach wie vor hinterlassen und den Westen als solchen mitdefinieren und konstituieren. Wir haben in den bisherigen Ausführungen die Ausrichtung des Sammelbandes auf den Westen resp. auf Europa selbst – das Diesseits, wie wir es im Titel formuliert haben – betont. Dieser Fokus umfasst auch Otheringprozesse innerhalb von Europa. So ist das (post-)koloniale Europa und die Herausbildung des europäischen Selbst damit verbunden, bestimmte Menschen als nicht-europäisch diskursiv zu dislozieren. Hier verschränken sich innerhalb von Europa Geo- und Körperpolitik. Das Augenmerk richtet sich darauf, wie sich das westliche Selbst nicht nur in Abgrenzung zu einem äußeren Nicht-Westen herausbildet, sondern dass das auch für dieses Selbst eine interne Ausdifferenzierung bedeutet: So werden bestimmte Menschen, Traditionen und Kulturen als nicht-westliche markiert und ausgeschlossen. Die europäische Selbstvergewisserung läuft dabei in markanter Weise über die Norm von Weiß-Sein. Diese diskursive Wegweisung nicht-weißer Menschen aus dem europäischen Raum geht einher mit der Assoziationskette europäisch = weiss (vgl. auch Terkessidis 2004). Dies wird zusätzlich, wie El-Tayeb (2011) deutlich gemacht hat, begleitet von einem Diskurs, der behauptet, Rassismus wie auch die Kritik an Rassismus sei vor allem ein US-amerikanisches Problem, dem sich Europa nicht gleichermaßen stellen müsse. Durch die Verschränkung von kolonialen Differenzen, Rassismen und Geschlechterordnungen sowie Sexualität entsteht jedoch ein komplexes Feld mit unterschiedlichsten Machtpositionen, das es kritisch zu beleuchten gilt. Eine Fokussierung auf den Westen/Europa schließt an Analysen und Kritiken sowohl des Orientalismus wie auch des Okzidentalismus an. Während sich der Orientalismus in der Logik des Otherings auf die Konstitution der Anderen konzentriert, darin jedoch durchaus die Herstellung eines okzidentalen Selbst mitaufzeigt, konzentrieren sich okzidentalismuskritische Ansätze stärker auf die orientalisierende Gesellschaft (Dietze 2009: 26). So greift Gabriele Dietze den Begriff des Okzidentalismus auf, um die Prägung der deutschen Gesellschaft durch den Bezug auf Okzidentalität als ›überlegene Kultur‹ zu kennzeichnen. Okzidentalität spitzt sie zu als neue Leitdifferenz nach dem Mauerfall, nach September 2001 und der seither verstärkten Islamophobie (ebd. 24). Auch sie stellt fest, dass das Geschlechterverhältnis diesen okzidentalistischen Hegemoniediskurs signiert und die ›bedeckte Frau‹ als zentraler Signifikant der Andersheit fungiert. Mit dem Fokus auf den Okzident wird jedoch

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erkenntlich, dass für die kulturell weiße Frau eine »Überlegenheitsdividende« (ebd. 35) abfällt, die durch die Abgrenzung gegen die neoorientalisierten Anderen möglich wird: Die Abgrenzung gegen ›den Islam‹ ermöglicht westlichen Feministinnen die Positionierung als frei und selbstbestimmt und verschafft dem Anliegen der Gleichberechtigung ein breiteres Gehör – dies gerade auch, weil Feministinnen eine Meinungsführungsrolle in der Kritik am orientalistischen Patriarchat übernommen haben (ebd. 35f). In dieser Rolle entsteht eine Verbündung mit westlichen Patriarchen, welche die Notwendigkeit der Emanzipation – für als nicht-westlich markierte Menschen – anerkennen, diese jedoch als im Westen vollzogen und umgesetzt statuieren. Dietze spricht hier von einem okzidentalistischen Geschlechterpakt (ebd. 33f), der letztlich auch auf Kosten westlicher Frauen geschieht: Eine Emanzipation, die als vollzogen deklariert wird, muss nicht mehr gefördert oder umgesetzt werden. Im gleichen Zuge werden so Emanzipationsdefizite in Europa unsichtbar gemacht. Die Figur der verschleierten Frau erinnert jedoch subkutan an die eigene unvollständige Emanzipation (ebd. 35). Dietze macht damit kenntlich, inwiefern gegenwärtige hegemoniale rassistische Diskurse über ›Ausländer_innen‹ Normen für die ›aufgeklärte‹ und ›emanzipierte‹ westliche Gesellschaft etablieren. Ihre Verwendung des Begriffs Okzidentalismus ist in zweierlei Hinsicht zugespitzt: Zeitlich konzentriert sie sich auf die neuen Migrationsregime in Westeuropa und insbesondere in Deutschland in den letzten Jahrzehnten, durch die Einwander_innen aus arabisch verstandenen Staaten orientalisiert werden (ebd. 27). Zudem fasst sie den Okzident als Abgrenzung gegenüber dem Orient In ihrer Herleitung des Begriffs schließt sie an Walter Mignolo und Fernando Coronil an, zwei Theoretiker, die den Begriff des Okzidentalismus geprägt haben, ihn jedoch in einem breiteren Sinne verstehen. Aus einer südamerikanischen Perspektive heraus argumentieren sie, dass es eine Koexistenz und eine Intersektionalität von Moderne und Kolonialismus gibt: einen modernen Kolonialismus und eine koloniale Moderne (Mignolo 2000: 22). Mignolo spricht von einem modernen/kolonialen Weltsystem, in dem er verschiedene »globale Designs« (ebd.) ausmacht, wobei er ein erstes solches »Design« um 1492 ansetzt, dem Beginn der ersten Welle kolonialer Expansionen (vgl. auch Wallerstein 1980; 1989 und Dussel 1995; 2001; 2002). Der Orientalismus, der vor allem im 18. Jh. signifikant einsetzt, wird laut Mignolo und Coronil erst vor dem Hintergrund der Expansion im 16. Jh. möglich, durch die sich erste Vorstellungen davon entwickelt haben, was der Okzident sein

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könnte. Europa hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits durch die Reichtümer aus den Kolonien konsolidiert (Mignolo 2000: 29; vgl. auch Boatc 2009: 238). Damit wird deutlich, dass für beide Theoretiker der Okzidentalismus dem Orientalismus vorherging bzw. dass der Okzidentalismus die grundlegendere Struktur bildet – eine Struktur, die Mignolo vor allem als eine hegemoniale Erkenntnisperspektive und Wissensform fasst, die sich als globales Machtmodell durchgesetzt hat (Mignolo 2000: 13).10 Coronil geht in seiner Formulierung des Okzidentalismus noch einen Schritt weiter und fasst in seinem Aufsatz Jenseits des Okzidentalismus den Okzident als »Bedingung der Möglichkeit des Orientalismus« (Coronil 2002: 184). Okzidentalismus bezieht sich auf jene Konzeptionen des Westens, die den orientalistischen Repräsentationen zugrunde liegen. Damit will er aber das Schwergewicht nicht etwa auf den Okzident verlagern, sondern »die Genese der Repräsentation in asymmetrischen Machtbeziehungen zutage treten« lassen (Coronil 2002: 184). Und weiter führt er an: »Auf diese Weise werden Eigenschaften als interne und spezifische Charakteristika separater Einheiten dargestellt, die in Wirklichkeit historische Ergebnisse des Austauschs der Völker sind.« (Ebd.) Im Vordergrund steht der relationale, d.h. wechselseitige, aber in Bezug auf Machtverhältnisse asymmetrische, Charakter der Beziehung von Selbst und Anderen. Coronil präsentiert drei okzidentalistische Repräsentationsweisen: der_die Andere kann zunächst als klar abgegrenzte Entität gefasst werden, die dann im historischen Verlauf als Teil des Selbst integriert wird; der_die Andere kann im Selbst einverleibt und so der Beitrag des_der Anderen zur Herausbildung des okzidentalen Selbst verschleiert werden; oder das Selbst wird durch die Anderen destabilisiert, indem den Anderen eine radikale Alterität zugesprochen wird, aus der heraus das Selbst kritisch befragt wird (Coronil 2009: 187-209). Aus diesen Überlegungen zum Diesseits und der imperialen Geschlechterordnung haben sich für uns eine Reihe von Fragen ergeben, zu denen wir innovative und spannende Beiträge erhalten haben: In welchem Ausmaß sind kritische Einsichten der Gender Studies wiederum kolonisierend, imperialisierend, wirken machtvoll verschleiernd? Und inwiefern tragen die Geschlechterverhältnisse wie auch die Geschlechterfor-

 10 Für eine kritische Perspektive auf Mignolo siehe Alcoff (2007). Für die Verbindung der »langen Wellen des Okzidentalismus« mit vergeschlechtlichenden Mustern siehe Boatc (2009).

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schung selbst zu einer Affirmation des Westens bei? Wie ist im komplexen Spannungsfeld zwischen (post-)moderner und (post-)kolonialer Theorie eine transformative Selbstkritik von Europa ausgehend möglich und wenn ja, wie kann eine solche aussehen? Wie kann (post-)koloniale Kritik an westlichen, weißen Feminismen geübt werden, ohne dass der prekäre Subjektstatus von Frauen in der Aufklärungszeit und in der Moderne ausgeblendet wird? Wie können wir in Erfahrung bringen, welcher (post-)koloniale Blick queere Individuen als westliche, hegemoniale Subjekte sichtbar macht, zugleich jedoch die Abgrenzungen queerer Individuen gegenüber Heteronormativität und ihre Subversion von patriarchalen Strukturen nicht verdeckt? Die Beiträge dieses Sammelbandes greifen unsere Fragen in unterschiedlicher Weise auf. Den Auftakt bildet die Diskussion von Patricia Baquero Torres und Frauke Meyer gefolgt vom Text von Franziska Schutzbach. Beide Beiträge ziehen einen Bogen von kolonialen Praktiken in außereuropäischen Territorien hin zu institutionalisierten, fortdauernden vergeschlechtlichten Politiken in Europa. Der Beitrag von Kristiane Gerhardt verdeutlicht in ihrer Darstellung der Verhandlungen von Männlichkeit, dass innerhalb von Europa ebenfalls von kolonialen und zivilisatorischen Prozessen gesprochen werden kann. Martina Tißberger zeigt in ihrer Diskussion der psychoanalytischen Theorietraditionen auf, dass das europäische Selbst durch die Verwebung von Othering-Prozessen zutiefst geprägt ist. Auch die künstlerische Produktion von Angelika Böck und die Auseinandersetzung mit der Ästhetik des Exotismus von Ladina Fessler artikulieren sich durch den (post-)kolonialen Rahmen hindurch – und können zugleich auf einen Beginn des Durchbrechens dieses Rahmens hinarbeiten. Wie eine Kritik in diesen verwobenen Verhältnissen fundiert werden kann, ergründet der Beitrag von Karin Hostettler. Gabriele Dietze zeigt auf, wie sich feministische Kritik am Patriarchat historisch und aktuell auf orientalistische Figurationen stützt und so eine unheimliche Beziehung bilden, die schwierig zu durchbrechen ist. Wie westliche Feminist_innen dennoch transnational solidarisch agieren können, diskutiert Franziska Dübgen und argumentiert damit für eine Dekonstruktion ›von innen‹.

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D IESSEITS DER IMPERIALEN G ESCHLECHTERORDNUNG : D IE B EITRÄGE Koloniale Praktiken und Europa Das (post-)koloniale Europa und die Herausbildung des europäischen Selbst gehen damit einher, bestimmte Menschen diskursiv als nichteuropäisch zu positionieren. Der Beitrag Koloniale Muster geschlechtsspezifischer Berufsorientierung von Patricia Baquero Torres und Frauke Meyer zeigt Kontinuitäten von außereuropäischen, historischen kolonialen und gegenwärtigen innereuropäischen Veränderungsprozessen auf und behandelt damit Kolonien und Metropolen als Bestandteil eines gemeinsamen analytischen Feldes. Dieser Zugang erlaubt es ihnen, die Zuschreibungen im Feld der Pflegeberufe, die in Deutschland von Arbeitgebenden sowie auf institutioneller Ebene vom Bundesministerium vorgenommen werden, in ihrer historischen Tiefe auszuloten und zu differenzieren. So verdeutlichen sie, dass innerhalb dieser Veränderung nochmals Unterscheidungen zwischen Frauen vorgenommen werden: Women of Color werden als besonders geeignet für den Pflegeberuf konstruiert, weil ihnen eine besondere Weiblichkeit, Mütterlichkeit und eine speziell wertschätzende Haltung gegenüber älteren Menschen attestiert wird. Schwarze Frauen erscheinen als v.a. für Putzarbeiten geeignet, da sie eher als männlich verstanden werden. Dass veränderte Frauen selber nicht als Mütter angerufen werden, macht die Intention eines Europas sichtbar, das sich als homogen zu reproduzieren versucht. Dies beinhaltet einerseits die Installierung einer heterosexuellen Strukturierung für die Erneuerung der Gesellschaft11 und andererseits ein Absprechen von Sexualität und Begehren veranderter Frauen. Franziska Schutzbach zeigt in ihrem Beitrag Bevölkerung, Krise, Nation. Koloniale Kontinuitäten in demografischen Fertilitätsdebatten einen ›Gattungsauftrag‹ auf, wie er in der WHO-Politik formuliert wird. So richten sich Maßnahmen zur reproduktiven Gesundheit an weiße, heterosexuelle Frauen. Diese Anrufung zur reproduktiven Selbstsorge setzt sie in einen globalen Kontext und zeigt somit auf, dass der ›Gattungsauftrag‹ sich in den kolonialen Topos des unterbevölkerten Europas einreiht und durch das Szenario einer drohenden Überbevölkerung des

 11 Für die Herausarbeitung einer heterosexuellen Strukturierung zur Erneuerung der Gesellschaft vgl. Yuval Davis (1997) und Alexander (1994).

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globalen Südens kontrastiert wird. Dieser historisch in die Aufklärungszeit zurückreichende Topos wirkt sich gegenwärtig auf Migrant_innen und Flüchtlinge aus, indem ihnen eine ›traditionelle‹ Rolle in Reproduktionsfragen zugeschrieben wird. Letztlich wird die Zukunft Europas als Auftrag an eine bestimmte Gruppe innerhalb Europas delegiert und damit das Leben selber innerhalb von Europa hierarchisiert. Der Beitrag von Kristiane Gerhardt dreht sich um eine Form der innereuropäischen Kolonisation. Ihr Beitrag Kolonialisierung in Mitteleuropa: Zivilisatorische Moderne und die Transformation jüdischer Männlichkeit verwirft die Auffassung von Europa als reines Subjekt der Kolonisierung. Die bürgerliche Verbesserung der Juden, ein Umbruch im 19. Jh., der üblicherweise als jüdische Emanzipation gefasst wird, liest sie aus einer (post-)kolonialen Perspektive als Zivilisierungsprozess. Diese Kolonisierung von ›inneren Fremden‹ verdeutlicht sich in der Abwertung neuzeitlicher, gelehrter jüdischer Männlichkeit zugunsten einer bürgerlichen Männlichkeitsvorstellung. Jüdische Männer mussten damit zunehmend ihre Position zwischen der modernen, aufgeklärten Kultur einerseits und der jüdischen Kultur andererseits aushandeln oder sich für eine der beiden entscheiden. Dieser Beitrag macht erkenntlich, inwiefern sich das europäische Selbst in Auseinandersetzung mit dem Judentum als christlich konstituiert(e). Die ersten drei Beiträge heben die Verknüpfung von vergeschlechtlichenden und rassifizierenden Veränderungsprozessen als intrinsisch verbundene hervor: Der Diskurs um Pflegeberufe, die Anrufung zur reproduktiven Selbstsorge wie auch die innere Zivilisierung von Juden verhandeln immer auch Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder sowie Stereotype über Kulturen, Ethnien und ›Rassen‹. Martina Tißberger argumentiert demgegenüber, dass die sexuelle Differenz genealogisch gesehen der rassischen Differenz vorausgeht. Whiteness trägt zur Konstitution des Subjekts bei, entzieht sich jedoch dem Bewusstsein und entfaltet gerade durch diesen Entzug seine große Wirkmächtigkeit. Ihr Beitrag »[…] ist doch auch das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes ein dark continent für die Psychologie« nimmt den Subjekt-Begriff der Psychoanalyse zum Gegenstand der Untersuchung. Ein solches Subjekt kann nur über verschiedene Ausschlüsse hervortreten, die in unterschiedlichen Anfangsfiguren sichtbar werden. Geschlecht bzw. die sexuelle Differenz stellt die Anfangsfigur dar und artikuliert sich durch den ›dunklen Kontinent‹, der als Allegorisierung Afrikas für ›Rasse‹ steht. Damit wird Rassismus zu einem verschobenen Anfang. Diesem geht wiederum Antise-

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mitismus als eine Form des Rassismus voraus, die sich in der Psychoanalyse nicht explizit formulieren kann und damit den verdrängten Anfang darstellt. Der Beitrag macht deutlich, dass das weiße Selbst in der psychoanalytischen Tradition grundlegend in Rassismen, Sexismen und Antisemitismen verankert wird. Die Bemächtigungsgeschichten der Moderne werden als Erbe auch in aktuellen Ansätzen weitertradiert. Doch genauso wie Rassismen, Sexismen und Antisemitismen Teil des Unbewussten sind, sieht Tißberger in einem anderen Teil des Unbewussten ein revolutionäres Potential, das sich jedoch erst durch eine interdependente Herangehensweise voll entfalten kann. (Post-)koloniale künstlerische Produktion Im Bereich der Kunst eröffnen sich Möglichkeiten, westliche Vorstellungen, Blickregime und Stereotypen zu thematisieren und kritisch zu hinterfragen. Angelika Böcks Beitrag Was bilden wir uns eigentlich ein? befragt Personen im Jemen wie auch in Deutschland zu ihren Assoziationen beim Anblick einer verschleierten Frau. Die Antworten machen unterschiedliche Blickregime erkennbar, welche jeweils durch geografisch und kulturell verortete Parameter determiniert scheinen. Während der jemenitische Blick den Schleier zu durchdringen vermag und zur Imagination eines weiblichen Lebensentwurf anregt, prallt der deutsche Blick daran ab. Der Schleier als Leinwand und Projektionsfläche wird hier zu einem Spiegel, der das Selbst des Gegenübers sowie seine Einbildungen lediglich rück-spiegelt. Böck selber exponiert sich in diesem Spiegel-Spiel, indem sie es nicht bei einer einseitigen Frage- resp. Antwortrichtung belässt, sondern ihre Sichtweise in die Befragung mit hinein bringt. So entstehen ›dialogische Porträts‹, die der Frage nach Identität im Zwischenbereich von Realität und Fiktion nachgehen und das klassische westliche Porträtverständnis an der interkulturellen und (post-)kolonialen Grenze erweitert. Die Reflexion als Blickverhältnis nimmt Ladina Fessler in ihrem Beitrag Das ›Going Native‹ des primitivistischen Künstlers und die exotische Frau. Victor Segalens kritische Ästhetik des Exotismus ebenfalls auf. Durch den Blick von Segalen verortet sie die Figur des Künstlers Gauguin und damit einer der wichtigsten Exponenten des Primitivismus in einem reflektierten kolonialen Rahmen. Dem Konzept des ›Going Native‹ folgend, verbrachte Gauguin die letzten Jahre seiner Lebens- und Schaffenszeit auf den Marquesas Inseln im Südpazifischen Ozean. Wie

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Segalen argumentiert, reproduziert Gauguin in seinen Bildern jedoch nicht einfach den gängigen Exotismus dieser Zeit, der in der Darstellung der ›fremden‹ Frau kulminiert. Stattdessen verortet er in diesen Bildern eine selbstreflexive Dimension, in der das Gegenüber als Subjekt gefasst wird, dessen Perspektive letztlich uneinnehmbar bleibt. Die Annäherung an das ›Fremde‹ – dessen grundlegende kulturelle und geschlechtliche Differenz in der Segalenschen Exotismuskonzeption festgeschrieben bleibt – muss damit misslingen. Der Künstler Gauguin bleibt hier in einer Ambivalenz – der Fremd- und Subjektsetzung zugleich – verfangen, die ihn aber gerade zu dem macht, wofür er steht: eine außergewöhnliche, schillernde und gar monströse Figur. In der Reflexion dieser Figur, wie sie in den Texten von Segalen stattfindet, ortet Fessler geschlechter- und kolonialkritische Momente. Dieser Beitrag weist nicht nur darauf hin, wie sehr Kolonien für die Bildung der europäischen primitivistischen Kunstform konstitutiv waren, sondern vermag auch aufzuzeigen, wie die Binarität von Geschlechtlichkeit in der Vermengung mit dem Außereuropäischen verwischt und hinterfragt wird. Kritik und Überwindung Während Fesslers Beitrag eine Utopie erkennen lässt, in der kulturelle und geschlechtliche Grenzen zu verwischen beginnen, setzt sich Karin Hostettler mit dem Beitrag Kritische Verwicklungen des kultivierten Begehrens. Bürgerliche Geschlechterordnung, eurozentrische ›Rassen‹theorie und die Frage der Kritik bei Immanuel Kant mit dem Themenfeld Kritik auseinander. Dabei fragt sie nach einer Perspektive, die eine kritische Hinterfragung der Moderne erlaubt – eine Moderne, welche sich gerade durch eine kritische aufklärerische Haltung charakterisieren lässt. Sie führt diese Diskussion anhand einschlägiger Texte von Kant und verdeutlicht, dass eine feministische Lesart es nicht versäumen darf, auch ›rassen‹theoretische und eurozentristische Elemente zu untersuchen. Sie argumentiert, dass das Geschlechterdenken mit der aufkommenden Theoretisierung von ›Menschenrassen‹ konstitutiv verbunden ist. Doch diese Kritik an der Kritik eröffnet weiter gehende fundamentale Fragen – gerade auch, weil Kant selber in einer kritischen Tradition zu verorten ist, die auch von Foucault weitergetragen wird. Kant bleibt – über Foucault – eine wichtige Referenz für Kritik, weshalb Hostettler hervorhebt, dass nur eine ambivalente und paradoxe Haltung eingenommen werden kann: mit der westlichen Kritiktradition gegen sie selber argu-

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mentierend versuchen, auf Ausschlüsse, Hierarchisierungen und Unsagbarkeiten hinzudeuten und subalternisiertes Wissen geltend zu machen. Damit lotet Hostettler aus, wie eine Kritik ›von innen heraus‹ nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist. Gabriele Dietze nimmt eine Traditionslinie der feministischen Kritik in den Blick und befragt sie auf deren Orientalismen hin. Ihr Beitrag Feministischer Orientalismus und Sexualpolitik. Spuren einer unheimlichen Beziehung beschreibt, wie der radikale Strang des amerikanischen und europäischen Feminismus und deren Fokus auf sexuelle Emanzipation mit einer orientalistischen Kontrastfolie verwoben ist: Der Orient wird immer wieder als Hort besonderer asymmetrischer Geschlechterverhältnisse konstruiert und für Primitivität, dekadente Raffinesse wie auch uferlose Sexualität und Gefangenschaft als exemplarisch gesetzt. Dietze erklärt sich diese kollektive okzidentalistische Imagination damit, dass orientalistische Konstruktionen es den feministischen Anliegen erlauben, im westlichen Kontext weniger Widerstand zu provozieren. Die Verlagerung radikaler Kritik nach ›außen‹ wirft eine ›okzidentalistische Dividende‹ ab, die eine bessere Durchsetzbarkeit feministischer Anliegen im Nahbereich verspricht. Diese Form einer ›okzidentalistischen Selbstaffirmation‹ – welche nicht widerspruchsfrei bleibt, da die Geschlechterasymmetrien eines imaginierten Orients und deren Emanzipationsdefizit an die Unvollständigkeit der eigenen Emanzipation erinnern – ist nach Dietze ›unheimlich‹. Die Durchbrechung dieser ›unheimlichen‹ Beziehung bleibt schwierig. Dietze fordert dazu eine Bewusstwerdung über die eigene Positionierung und Bündnisse zwischen Feminist_innen, um die Perspektive auf einen transnationalen, transkulturellen Feminismus verstreuter Hegemonien setzen zu können. Auf welcher Grundlage eine transnationale, transkulturelle Verschwisterung im Feminismus möglich ist, geht der Beitrag Global Sisterhood Revisited. Möglichkeiten und Fallstricke grenzüberschreitender Solidarität von Franziska Dübgen nach. Ihre zentrale Frage ist, ob eine in Westeuropa verankerte transnationale Verschwisterung durch die Fallstricke imperialer Ideologeme zum Scheitern verurteilt sei oder ob die Ideologiekritik und Dezentrierung Raum schaffen kann. In Anlehnung an Spivak und an ihre Diskussion von Kant argumentiert sie, dass der westliche Feminismus ›von innen‹ dekonstruiert werden muss, um dessen binäre Identitätskonstruktion und homogenisierende Politik zu kritisieren, aber auch um ermächtigende Elemente erneut zu reaktivieren. Erst diese dekonstruktive Arbeit ermöglicht laut Dübgen eine kritische An-

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eignung und Dezentrierung des westlichen Feminismus. Der Schritt hin zur konkreten solidarischen Praxis ist dadurch von einem langwierigen Lernprozess begleitet, der stets offen für Selbstkritik sein muss. Zugleich braucht es ein dialektisches Verhältnis zwischen Gleichheit – dies in Bezug auf Partizipationsrechte – und Differenz, die sie in Bezug auf differenzsensible Sprechweisen zur besonderen Stärkung besonders verwundbarer Akteur_innen einfordert. Dieser Beitrag eröffnet somit eine Perspektive zum Umgang mit imperialen Festschreibungen im westlichen Feminismus und macht klar: Eine Bewusstwerdung über die eigene Positionierung, eine fortlaufende Bildungsarbeit als strategisches Mittel und die Diskussion in konkreten Bündnissen zwischen Feminist_innen ist unbedingt notwendig für eine Erweiterung der Perspektive auf einen transnationalen, transkulturellen Feminismus hin. Editorische Anmerkung Die Autor_innen haben gemäß ihren Beiträgen unterschiedliche Formen geschlechtergerechter Sprache gewählt und machen die Konstruktion von Differenzkategorien auch auf verschiedene Art kenntlich. Da sich sprachliche Entscheidungen an Inhalte knüpfen, haben wir uns gegen eine Vereinheitlichung der diskriminierungsfreien Sprache entschieden. Auch die Ausführlichkeit der Verwendung von einfachen Anführungszeichen wurde den Autor_innen überlassen.12

L ITERATUR Alcoff, Linda Martín (2007): »Mignolo’s Epistemology of Coloniality«, in: The New Centennial Review Nr. 7 (3), S. 79-101. Alexander, Jacqui M. (1994): »Not Just (Any) Body Can Be a Citizen: The Politics of Law, Sexuality and Postcoloniality in Trinidad and

 12 Dieser Sammelband ist im Rahmen des Gender Studies Graduiertenkollegs Repräsentation, Materialität und Geschlecht an der Universität Basel entstanden. Wir danken all jenen herzlich, die uns bei der Arbeit an diesem Sammelband unterstützt haben: Katrin Meyer, Ute Kalender, Persson Perry Baumgartinger, Claudia Brunner, Patricia Purtschert, Karin Renold, Angelika Baier, Francesca Falk. Ein herzliches Dankeschön geht auch an jene, die auf indirekte Art die Arbeit am Sammelband unterstützt und ermöglicht haben.

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Koloniale Muster geschlechtsspezifischer Berufsorientierung Postkoloniale Anmerkungen

P ATRICIA B AQUERO T ORRES UND F RAUKE M EYER

Im Zuge der europäischen Aufklärung haben sich die Kategorien ›Rasse_Klasse_Geschlecht‹1 herausgebildet. Darüber re-etablierten sich hierarchische Gesellschaftsstrukturen, die den Zugang zu und den Ausschluss von gesellschaftlichen Ressourcen regeln. Bedeutsam ist, dass sich alle drei Kategorien nahezu zeitgleich entwickelten (vgl. z.B. Frietsch 2002: 165) und weder sprachhistorisch noch wirkungsanalytisch voneinander getrennt betrachtet werden können. Am Beispiel zweier Interviews mit ›weißen deutschen‹ 2 Einstellenden über die berufliche

 1

Mit der Schreibweise ›Rasse_Klasse_Geschlecht‹ möchten wir die Verwobenheit und Gleichzeitigkeit, mit der die Kategorien wirken, deutlich machen. Die Unterstriche stehen dabei symbolisch für die Untrennbarkeit der Kategorien und zugleich für die immer wieder neuen Zwischenräume, die sich durch das spezifische Ineinanderwirken in Zeit und Raum eröffnen. Wir setzen die Begriffe in Anführungszeichen, um auf deren Konstruiertheit zu verweisen.

2

Im Folgenden werden wir die binäre Konstruktion ›weiß‹ vs. ›Schwarz‹ in Anführungszeichen setzen, um auf deren Konstruktionsgehalt aufmerksam zu machen. Zudem verwenden wir die Großschreibung ›Schwarz‹ in Anlehnung an die Strategie afrodeutscher Theoretikerinnen als Selbstpositionierung und Verweis auf die Selbstermächtigungstrategie (vgl. Dietrich 2009: 254). Hingegen schreiben wir ›weiß‹ klein, um diese Kategorie von den Bedeutungsebenen des Schwarzen Widerstands, den die Begriffe ›Schwarz‹ und ›of Color‹ auch haben, abzusetzen (vgl. Eggers/Kilomba/Piesche/Arndt 2005: 13).

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Eignung ›geanderter Frauen‹3 im Pflegebereich arbeiten wir im Folgenden die Kontinuitäten und Transformationen kolonialer Muster in der geschlechtsspezifischen Berufsorientierung heraus. Dabei zeigen wir, wie die Kategorien ›Rasse_Klasse_Geschlecht‹ auf je spezifische Weise ineinander wirken und darüber gesellschaftliche Ordnungen etablieren. ›Of Color geanderte Frauen‹ erscheinen im Spiegel der Interviews insbesondere qua ihrer ›anderen Weiblichkeit‹ als geeignet für Pflegetätigkeiten. ›Schwarze Frauen‹ sind jedoch von dieser Zuschreibung ausgenommen. Sie werden insbesondere im Zusammenhang mit Putzjobs erwähnt. Wenn wir im Anschluss an das Anliegen ›Schwarzer Theoretikerinnen‹ der Frage nach den Ursachen dieser Benennung von ›of Color geanderten Frauen‹ als ›geborene Pflegerinnen‹ und dem beredten Schweigen über ›Schwarze Frauen‹ kolonialhistorisch noch einmal nachgehen, so lässt sich das Zuschreibungsmuster einer ›besonderen Weiblichkeit‹ bei ›Frauen of Color‹ und die Ausnahme ›Schwarzer Frauen‹ von diesem Muster als in verschiedenen Epochen gewachsenes historisches ›weißes‹ Wissen um die ›Andersartigkeit‹ von ›Schwarzen‹ und ›Frauen of Color‹ herausarbeiten. Bevor wir im zweiten Teil dieses Beitrags solche Zuschreibungsmuster unter die Lupe nehmen, werden wir zunächst auf vier Leit- und Kerngedanken unserer postkolonialen Lektüre des Diskurses der Aufklärung hinweisen. Sie stehen in enger Verbindung mit Anderungsprozessen und lassen die hegemoniale diskursive Kontinuität in den Deutungs- und Zuschreibungsmustern auf ›geanderte Frauen‹ im Kontext des aktuellen

 ›Of Color‹ verstehen wir analog zu ›Schwarz‹ als rassifizierendes Konstrukt und schreiben es deshalb in Anführungszeichen. Die Großschreibung verweist auf den Gehalt des Konstrukts als Selbstermächtigungs- und Widerstandsstrategie von ›People of Color‹ (vgl. Ha 2007). 3

Mit den Ausdrücken ›geanderte‹, ›Andern‹ bzw. ›Anderungsprozesse‹ verweisen wir in Anlehnung an den englischen Begriff ›Othering‹ auf jene Prozesse, in denen die ›Anderen‹ diskursiv zu ›Anderen‹ gemacht werden. Diskursiv verstehen wir in Anlehnung an Althussers Überlegungen zur Anrufung als Akte des Sprechens und Handelns. Althusser postuliert, dass dem Sprechen Handeln immanent sei und umgekehrt, denn Handeln bezieht sich in aller Regel auf vorgängige Ideen und damit auf Sprechen. Eine anrufende Person handelt durch ihr Sprechen, indem sie z.B. eine diskursive Positionierung der Angerufenen vornimmt und ihr so einen Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie zuweist (vgl. Althusser 1977).

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Diskurses zur geschlechtsspezifischen Berufsbildung erkennen. Darauf folgend werden wir im ersten Teil exemplarisch auf drei Zuschreibungsprozesse entlang von ›Rasse_Klasse_Geschlecht‹ im kolonialen Raum eingehen. Aus einer feministisch-postkolonialen Perspektive ist zum einen beim (wissenschaftlichen) aufklärerischen Diskurs ein hierarchischer Blick im Umgang mit der Markierung kultureller Differenzen und der Konstruktion von ›Rasse_Klasse_Geschlecht‹ zu beobachten. In diesem Zeitalter entstand verknüpft mit wissenschaftlichem Wissen und technischem Fortschritt Europas eine Vorstellung von Zivilisation, die zugleich mit einer abwertenden Betrachtung anderer Kulturen einherging. Andere Gesellschaften, sei es in Afrika oder in Amerika (›die Neue Welt‹), wurden als rückständig und unzivilisiert abgestempelt. Die wissenschaftliche Produktion von Wissen (wie die Anthropologie, Philosophie u.a.) lieferte die endgültige Legitimation dazu.4 Hieran anknüpfend ist ein weiterer Kerngedanke, dass die Repräsentationen der qua ›Rasse_Klasse_Geschlecht‹ ›Geanderten‹ ein immenses Gewicht bei der Konstitution des Selbstbildes, der Selbstdarstellung des zivilisierten und fortschrittlich aufgeklärten Europas darstellen. Aus diesen Selbstdefinitionsprozessen ableitend setzt sich das moderne Wissen als Paradigma par excellence durch, aus dem ›die Anderen‹ definiert bzw. imaginiert und nach wie vor bewertet werden. Im gleichen Kontext lässt sich drittens feststellen, wie die Konstruktion der rassifizierten_kulturalisierten_vergeschlechtlichten ›Anderen‹ ein konstitutives Moment zur Selbstpositionierung des kolonialisierenden, rationalen, wissenden, aufgeklärten, ›weißen, männlichen‹ Subjekts bildet. Daraus lässt sich nun ersehen, dass solche Selbstpositionierungsprozesse im engen Zusammenhang mit einem hierarchischen Repräsentationssystem stehen und diese Repräsentationen deshalb im Sinne der Dynamik von kolonialen Macht- und Herrschaftsverhältnissen betrachtet werden müssen. Aus feministisch-postkolonialer Perspektive ist schließlich anzumerken, dass die Konstruktionsprozesse sozialer Differenzierungen in der Verschränkung verschiedener sozialer Kategorien zu analysieren sind, da Zuschreibungen entlang von u.a. ›Rasse_Klasse_Geschlecht‹, wie bereits

 4

Für eine ausführliche Analyse dieser Anderungsprozesse in Bezug auf die ›Neue Welt‹ siehe Baquero Torres (2009).

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erwähnt, nicht voneinander isoliert ablaufen,5 sondern sie gerade in ineinandergreifenden Verhältnissen zueinander stehen und kontextabhängig komplexe gesellschaftliche Machtverhältnisse beleuchten können. Insofern gehen wir davon aus, dass Anderungsprozesse nur in wechselwirkenden Verhältnissen mehrerer interdependenter Kategorien sowie kontextuell zu betrachten und zu analysieren sind. Ausgehend davon, dass der Kolonialismus als epistemologisches System, als ein Repräsentationssystem, als Diskurs(e) zu verstehen ist, dem Machtverhältnisse innewohnen und der über den chronologischen Abschluss einer historischen Epoche hinausgeht, bringt eine postkoloniale Lektüre die kritische Frage hervor, wie sich neue Formen der kolonialen Diskurse in der Gegenwart artikulieren und wie sie auf hegemoniale Strukturen weiterhin einwirken. Sowohl die Frage nach einer neuen Artikulation von kolonialen Machtverhältnissen als auch die Frage nach neuen kulturellen Formationen, die als Folge der Kolonialisierung und Migration zu sehen und in den Metropolen entstanden sind, bilden den Gegenstand postkolonialer Reflexionen (vgl. ausführlich Baquero Torres 2009; 2011). Ein solcher analytischer Ansatz bedarf einer transnationalen und transkulturellen Perspektive, die die räumlichen und zeitlichen spezifischen Artikulationen über den nationalen Blick hinaus betrachtet, um Transferprozesse und symbolische, gesellschaftliche Verhandlungsprozesse zu beleuchten und zu erforschen. Kennzeichnend für eine postkoloniale Auseinandersetzung mit dem Thema Kolonialismus ist demnach eine Perspektiverweiterung, in der die Kolonien und die Metropolen als Bestandteil eines gemeinsamen analytischen Feldes aufgefasst werden. Das Augenmerk richtet sich damit nun auf die Interaktion bzw. den Transfer zwischen den Metropolen und den Kolonialgebieten und darauf, wie das koloniale Projekt auf die gesellschaftlichen Prozesse in den Metropolen selbst wirk(t)e. Auf die Form also, wie sich soziale Praktiken ›dort und hier‹ wechselseitig beeinfluss(t)en und beding(t)en. Eine feministisch-postkoloniale Reflexion impliziert, den Kolonialismus als Wissenssystem in den Fokus zu nehmen. Dimensionsüberschreitungen des ›Hier‹ und ›Dort‹, der Vergangenheit und der Gegenwart gewinnen so an Dynamik und epistemische Verbindungen bzw. diskursive Kontinuitäten und Diskontinuitäten lassen sich eruieren. Als Wissenssystem umfasst

 5

Diese Annahme prägte z.B. die Geschichtsschreibung bis in die 1990er Jahre, aber auch weitere Geisteswissenschaften wie etwa die Erziehungswissenschaften oder Soziologie folgten diesem Paradigma.

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der Kolonialismus einen diskursiven, symbolischen und performativen Gehalt, der in Handlungen und Praxen konkret wirksam und als Realität konstruiert wird. Insofern kann die heute durchgeführte Einstellungspraxis, die im Mittelpunkt dieses Beitrags steht, als konstitutiv für ein solches System betrachtet werden. Wie eine derartige feministisch-postkoloniale Lektüre aufklärerischer Deutungsmuster und Zuschreibungen am Beispiel des kolonialen deutschen Kontexts historisch ausgeführt werden kann, werden wir im Folgenden anhand dreier ausgewählter ineinandergreifender Konstruktionsprozesse in den ehemaligen deutschen Kolonien erläutern. Mit der Erarbeitung dieser Zusammenhänge wird es in einem nächsten Schritt möglich sein, die Postkolonialität gegenwärtiger Machtgeflechte sichtbar zu machen.

T EIL I – Z USCHREIBUNGSPRAKTIKEN KOLONIALEN R AUM

IM

Die folgenden Ausführungen befassen sich mit dreien für die deutsche Kolonialgesellschaft relevanten Prozessen. In ihnen zeigt sich die enge Wechselwirkung zwischen den in der Aufklärung hergestellten Kategorien ›Rasse_Klasse_Geschlecht‹ und der Zuschreibungspraxis auf die kolonialisierten ›Anderen‹. Zunächst liegt der Fokus auf der immensen Bedeutung der Konstruktion von ›Rasse_Klasse_Geschlecht‹ für die Etablierung einer bürgerlichen Geschlechterordnung in den deutschen Kolonien am Beispiel Deutsch-Südwestafrikas6 (i). Sodann gehen wir auf die Etablierung rassistischer gesellschaftlicher Strukturen ein, die den deutschen Kolonialismus konstituierten und beleuchten die Funktion der Kategorien ›Rasse_Klasse_Geschlecht‹ (ii). In einem dritten Schritt hinterfragen wir die Geschichtsschreibung der deutschen Krankenpflege und fragen nach der Funktion der rassistischen Kolonialpolitik für die Rollenzuweisung der kolonisierten ›Schwarzen Frauen und Männer‹ als Pflegepersonal in den Kolonien (iii).

 6

›Deutsch-Südwestafrika‹ war von 1885-1918 deutsche Kolonie und umfasste das Gebiet des heutigen Namibia. ›Deutsch-Südwestafrika‹ hatte als dezidierte Siedlungskolonie einen besonderen Stellenwert für das Deutsche Kaiserreich.

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(i)

›Rasse_Klasse_Geschlecht‹ und die Etablierung der aufklärerischen bürgerlichen Ideale im kolonialen Raum. Die hierarchische Repräsentation und Bewertung der Kolonialisierten

Dass die ›Frauenfrage in den Kolonien‹ eine erhebliche Rolle im Laufe der deutschen kolonialen Expansion spielte, zeigen mittlerweile ausführlich mehrere Untersuchungen. 7 Gerade in Deutsch-Südwestafrika, der einzigen wirklichen Siedlungskolonie des Deutschen Reichs, war die ›Frauenfrage‹ eine wichtige kolonialpolitische Fragestellung. Insbesondere in Anbetracht der dort mit Sorge beobachteten ›Vermischung‹ ›weißer deutscher Männer‹ mit kolonialisierten ›Schwarzen Frauen‹ und der damit verbundenen Angst des ›Abfalls vom Deutschtum‹ galt die Anwesenheit von ›weißen deutschen Frauen‹ in den Kolonien als Garant für die Erhaltung der ›deutschen Kultur‹ und ›weißen deutschen Rasse‹. Obwohl die aktive Beteiligung von ›weißen Frauen‹ am deutschen kolonialen Projekt zunächst umstritten war, stellte sie sich als unabdingbar dar, wenn – wie es in den deutschen Kolonien der Fall war – ›Rassenmischung‹, die Zunahme der ›Mischlingsbevölkerung‹ und ›Mischehen‹ verhindert werden sollten.8 Als Verkörperung der ›deutschen Kultur‹ galten dann die Frauen, die in die Kolonien ausgewandert waren. Mit ihrer Anwesenheit dort sollten die ›deutschen‹ Sitten, Traditionen, die ›weißen weiblichen‹ Werte und damit die bürgerliche Häuslichkeit in den Kolonien etabliert werden (vgl. Dietrich 2009: 186). Anna Gräfin von Zech, Leiterin der Deutschen Kolonial-Frauenschule in Witzenhausen9,

 7

Dazu siehe z.B. Dietrich (2007; 2009); Walgenbach (2005); BechhausGerst/Leutner (2009).

8

Zur Problematik der ›Mischehen‹ und der ›Rassenmischung‹ in Deutsch-

9

Unter den vielen Aktivitäten des Frauenbundes der Deutschen Kolonialge-

Südwestafrika siehe Henrichsen (2009). sellschaft ist die Partizipation an der Gründung von Frauenkolonialschulen in Deutschland hervorzuheben, in denen Töchter ›gebildeter Stände‹ (adeliger und bürgerlicher) in hauswirtschaftlichen Tätigkeiten für das Leben in der Kolonie vorbereitet werden sollten (vgl. Walgenbach 2005: 96) – was eindeutig auf die Klasseninteressen des Bundes hinweist. Da aber solche Tätigkeiten in Adel und Bürgertum vornehmlich Dienstboten überlassen wurden, fand diese schulische Ausbildung keine große Aufmerksamkeit unter den bürgerlichen Frauen. Diese Widersprüche führten dazu, dass die meisten Kolonial-

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bringt die besondere Stellung der ›weißen deutschen Frauen‹ wie folgt zum Ausdruck: »Nicht in freiem, burschikosem Wesen soll ihre Tatkraft sich äußern, sondern in echter Weiblichkeit soll sie dem neuen Deutschland über dem Meere den Stempel ihrer Wesensart aufdrücken, nicht bloß streben und arbeiten soll sie draußen, sondern sie soll sein, beseelt vom Geiste echten Christentums, die Hohepriesterin deutscher Zucht und Sitte, die Trägerin deutscher Kultur, ein Segen dem fernen Lande: Deutsche Frauen, Deutsche Ehre, Deutsche Treue über’m Meere!« (zit. n. Mamozai 2009: 20)

Dieses idealisierte aufklärerisch-bürgerliche Bild der ›weißen deutschen Frau‹ war dennoch insbesondere von jenen Frauen auszufüllen, die bereits als ›Damen‹, also Frauen aus höheren Gesellschaftskreisen, in den Kolonien u.a. als Ehefrauen von Beamten angekommen waren. Damit wird einerseits die Diskrepanz zwischen der Verallgemeinerung solchen aufklärerisch-bürgerlichen Bildes von Weiblichkeit deutlich. Andererseits zeigt sich die gesellschaftliche Realität, in der die soziale Position von ›weißen deutschen Frauen‹ auch im kolonialen Kontext abhängig von der Klassenzugehörigkeit war. Die aufklärerisch-bürgerliche Häuslichkeit war gekoppelt mit der Vorstellung einer sozialen Ordnung, in der ›weiße deutsche‹ Frauen für

 schulen für Frauen innerhalb weniger Jahre scheiterten (vgl. Walgenbach 2005:97). Relevant ist dennoch, dass die Entstehung der Kolonialfrauenschulen eng verbunden mit der Vorstellung war, dass im Gegensatz zu Frauen der unteren Schichten gerade die ›gebildeten Frauen‹ durch das Heiraten mit deutschen Männern in der Lage seien, das ›Deutschtum‹ in den Kolonien zu gestalten und so »für geordnete Verhältnisse und echt deutsches Familienleben« in den Kolonien zu sorgen (vgl. Lerp 2009: 34). Die adeligen und bürgerlichen Frauen sollten deshalb in diesen Schulen auf das Erfüllen ihrer Aufgabe als Kulturträgerinnen vorbereitet werden. So sollten sie beispielsweise in der Kolonialfrauenschule in Rendsburg – die als einzige Frauenkolonialschule bis 1945 bestand – die theoretische und praktische Ausbildung für die haus- und landwirtschaftlichen Berufe erhalten, wobei ebenso die bevölkerungs- und sexualpolitischen Aspekte offen thematisiert wurden (Linne 2008: 34). Neben Kochen, Tischlerei, Hygiene und Krankenpflege gehörten insbesondere während der NS-Zeit ›Nationalpolitischer Unterricht‹, ›Vererbungslehre‹, ›Rassenkunde‹ und ›Erbgesundheitslehre‹ dazu (ebd.).

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die Ausübung von Werten wie ›Disziplin‹, ›Sauberkeit‹, ›Ordnung‹ und ›Hygiene‹ zuständig waren. Wichtig ist an dieser Stelle, dass alle diese Werte als Synonym für Zivilisation gesehen und benutzt wurden, um die kolonialisierten Gesellschaften als unzivilisiert zu bewerten. Während ›weiße Frauen‹ Reinheit und zivilisatorischen Fortschritt repräsentierten, galten insbesondere kolonialisierte ›Schwarze Frauen‹ als primitiv, wild und unhygienisch (vgl. Dietrich 2009: 186-187), aber auch als hässlich im Vergleich zu ›weißen deutschen Frauen‹. Der Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft versprach den ›weißen deutschen Frauen‹ mit der Wertung als Trägerinnen ›deutscher Bildung, Zucht und Sitte‹ eine bevorzugte Stellung in der Kolonie. Die Absicht des Frauenbundes war nicht nur, die Auswanderung von ›weißen deutschen Frauen‹ voranzutreiben, sondern vor allem einen Platz für ›gebildete weiße deutsche Frauen‹ in der Kolonie zu schaffen. Im Sinne der bürgerlichen Frauenbewegung intendierte der Frauenbund die Verstärkung der gesellschaftlichen Partizipation von ›weißen Frauen‹. Der Bedarf an weiblichen Arbeitskräften stellte sich jedoch anders dar, so dass die Vermittlung von ›weißen deutschen‹ Arbeiterinnen fokussiert wurde. Hier lassen sich disparate Klassenpositionen und Interessen zwischen den Mitgliedern des Frauenbundes und ihren Klientinnen, die vorwiegend aus den unteren Schichten kamen und sich in der Kolonie soziale Mobilität bzw. sozialen Aufstieg erhofften, feststellen (vgl. Mamozai 2009: 18). Mit der organisierten Auswanderung sind schon ab den 1890er Jahren durch den Frauenbund ›einfache‹ ledige und heiratswillige ›weiße deutsche Frauen‹ zwischen 20 und 35 Jahren in den Kolonien, vor allem im heutigen Namibia, angekommen. Haushälterinnen, Köchinnen und Haus- und Farmgehilfinnen wurden vom Frauenbund ausgewählt, vorbereitet und betreut. Er vermittelte den ausreisenden Frauen einen Krankenpflegekurs, garantierte eine mindestens zweijährige Vertragseinhaltung und sorgte für die Rückreisekosten, sofern die Frauen nicht in der Kolonie bleiben wollten (vgl. ebd.). Die bisherigen Forschungen zeigen, dass sich mit der zunehmenden Anzahl von ›weißen Frauen‹ in der Kolonie soziale Distinktionen zwischen ihnen herausbildeten. Diese Klassentrennung war gekoppelt mit rassifizierten Positionierungslinien und zugleich mit der offiziellen kolonialen Geschlechterkonstruktion der ›weißen deutschen Frau‹, die doch eine bürgerliche war. So erhielten z.B. ›weiße‹ Dienstmädchen gegenüber kolonialisierten ›Schwarzen‹ Frauen und Männern eine privilegierte Position in der Arbeitsteilung, da letztere die schwersten und schmutzigs-

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ten Arbeiten im kolonialen Haushalt machen mussten. Diese Arbeitsteilung war eng mit der Zugehörigkeit zur ›weißen deutschen Rasse‹ verbunden, also zur Eroberernation (vgl. Mamozai 2009: 18). Im privaten kolonialen Haushalt galt also zwischen den ›weißen Hausfrauen‹, dem ›weißen deutschen‹ und dem ›Schwarzen‹ Dienstpersonal eine rassenund klassenspezifische Trennung. Daran wird anschaulich, wie eine nach außen homogen dargestellte Kollektivität anhand rassifizierter Prozesse gleichzeitig interne Ungleichheiten und Distinktionskämpfe auf der Grundlage von Klassenunterschieden aufweist. In diesem Zusammenhang ist die Verstrickung von deutscher Kolonialpolitik und den emanzipatorischen Zielen der bürgerlichen Frauenbewegung genauer zu betrachten. Die auch von der bürgerlichen Frauenbewegung befürwortete Frauenbildung und somit die bildungspolitischen Interessen kolonialer Schulen sind eng verknüpft mit der im Kaiserreich betriebenen kolonialen Politik, die die rassistische Dominanz der ›weißen deutschen‹ Kultur propagierte. Mit der für diese Schulen konzipierten Frauenbildung ging es darum, die Partizipation ›weißer deutscher Frauen‹ am kolonialen Projekt zu unterstützen, ja zu sichern. Ferner trugen sie zu einer Stilisierung der ›weißen deutschen Frauen‹ und ihrer vermeintlichen Überlegenheit qua ›Rasse_Kultur‹ gegenüber den kolonialisierten (›Schwarzen‹ und ›of Color‹) Frauen bei. Das koloniale Projekt fand unter Mithilfe solcher Bildungskonzepte in den ›weißen bürgerlichen Frauen‹ die prototypische Figur für die deutsche nationale Identität in den Kolonien. Auch die Frage der ›Mischlinge‹, die zunächst direkt die lokale Kolonialpolitik betraf, fand Eingang in die Diskussion um die nationale Identität im Kaiserreich. Hierbei nahm die Idee eines ›deutschen Volkes‹ eine zentrale Stellung ein. Diskutiert wurden die Fragen, ob und wie die Definition der deutschen Nation rassenanthropologischen Kriterien folgen sollte. Diese Debatte zielte darauf ab, die als homogen vorgestellte deutsche Bevölkerung ›reinrassig‹ und damit ›weiß‹ zu halten (vgl. Dietrich 2007: 228). Nach außen ging es darum, die koloniale Identität der Deutschen zu stabilisieren und dadurch die Überlegenheit qua ›Rasse‹ in den Kolonien zu sichern. Gegenüber anderen kolonialen Mächten sollte das Spezifische des sogenannten ›Deutschtums‹ definiert werden, um damit ein Profil als Kolonialmacht zu gewinnen. Zudem ist, wie Schuhmann konstatiert, eine Verbindung zwischen der Etablierung dieser rassifizierten Ordnung in den Kolonien mit den Gesetzgebungen in den Metropolen zu beobachten: Die Verbote der ›Mischehen‹ stehen so in direk-

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tem Zusammenhang mit der Novellierung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts (vgl. Schuhmann 2004: 76). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die hier dargestellten entgegengesetzten Zuschreibungen zwischen der idealisierten Stellung der ›weißen deutschen‹ und der ›unzivilisierten‹ kolonialisierten ›Schwarzen Frauen‹ als wesentliche imaginäre Bilder für die Gründung eines ›Neu-Deutschland in Übersee‹ fungierten. Sie waren unabdingbar für die Etablierung kolonialer Herrschafts- und Machtverhältnisse, die mit räumlichen und sozialen Grenzen zwischen kolonisierten ›Schwarzen‹ und der ›weißen deutschen‹ Bevölkerung einhergingen. Die soziale Funktion der ›weißen deutschen Frau‹ als ›Trägerin deutscher Kultur‹ verweist auf ihre Rolle in der Konstruktion einer ›weißen nationalen Identität‹ im kolonialen Raum. Mit dem Bild der Hausfrau, Mutter und Ehefrau an der Seite des ›weißen deutschen Mannes‹ trug der aufklärerisch-bürgerliche Diskurs zur Etablierung patriarchaler bürgerlicher Geschlechterverhältnisse in den Kolonien bei (vgl. Dietrich 2009: 181 und Mamozai 2009: 21f). Dabei war die gesellschaftliche Position ›weißer‹ Frauen nach wie vor an die eines Ehemannes gebunden. ›Weiße deutsche Frauen‹ haben kaum an wichtigen kolonialpolitischen Entscheidungsgremien partizipiert, die dort getroffenen Entscheidungen aber aufgegriffen und umgesetzt. Das wechselwirkende Verhältnis zwischen ›Rasse_Klasse_Geschlecht‹ im kolonialen Raum fungierte zugleich als Rechtfertigung für Kolonialismus und Sklaverei sowie für die Herausbildung einer bürgerlichen Ordnung und einer nationalen Identität in den Kolonien, die eine deutliche Trennung von den ›Unzivilisierten‹ und den Angehörigen ›niederer Rassen‹ beinhalteten. Mit dem Interesse, komplexe ineinandergreifende Zusammenhänge zwischen Selbst- und Fremddefinitionen und dabei ebenso komplexe koloniale Herrschafts- und Machtbeziehungen aus verschiedenen Perspektiven analytisch zu erfassen, richtet sich der Fokus im Folgenden auf die Definitionsmacht und Deutungsmuster im kolonialen Raum, die sich in der Konstruktion rassifizierender und rassistischer Zuschreibungen mit geschlechtlichen und klassenspezifischen Komponenten wiederfinden. Differenzen, aber auch Ähnlichkeiten in der Darstellung und den Zuschreibungen von Eigenschaften der unterschiedlichen kolonialisierten Gesellschaften und ihren Auswirkungen auf die jeweilige Artikulation kolonialer sozialer Praxen stehen im Mittelpunkt.

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(ii) ›Rasse_Klasse_Geschlecht‹ und die Herstellung eines rassistischen kolonialen Ordnungsprinzips Konstitutiv für die Etablierung des Kolonialismus im Allgemeinen und der deutschen kolonialen Herrschaft im Besonderen war die Herstellung von binären Repräsentationen. Die Konstruktion einer ›Herrenrasse‹ im Rekurs auf die ineinandergreifenden Differenzierungen qua ›Rasse_Klasse_Geschlecht‹ war entscheidend für die Legitimation hierarchischer Selbst- und Fremdpositionierungen im deutschen kolonialen Diskurs. Der Rassenbegriff erhielt dabei eine zentrale Stellung. Definitionsversuche und die Postulierung ›klarer‹ Kriterien für die Kategorisierungen von ›Rassen‹ wurden von Rassenforschern und Wissenschaftlern während der kolonialen Zeit unternommen. Trotz des gescheiterten Versuchs, eindeutige Kategorisierungen für die verschiedenen ›Rassen‹ zu bestimmen, stützte sich die koloniale Rassentrennungspolitik undifferenziert sowohl auf biologische Kriterien als auch auf kulturelle Erscheinungen wie Lebensweise und Bildung, um Menschen in die Grundkategorien ›Eingeborene‹ und ›Nichteingeborene‹ zu klassifizieren. Im Deutschen Reich dagegen scheiterte die von einigen Kolonialvertretern beabsichtigte Einführung der Kategorie Rasse in das deutsche Rechtssystem (vgl. Dietrich 2009: 180). Gleichwohl war ›Rasse‹ grundlegend für das deutsche Nationenverständnis sowie für die Frage der Staatsangehörigkeit. Wie El-Tayeb (vlg. 2001: 132) ausführt, vermischten sich die Begriffe ›Volk‹ und ›Rasse‹ vor allem durch die Bestimmung des Volksbegriffs über das ›Blut‹. Nur wer von ›deutschem Blut‹ war – und dies implizierte ›Weißsein‹ – konnte zum ›deutschen Volk‹ und somit zur Nation gehören (vgl. El-Tayeb 2001: 134f). Dadurch war ›Rasse auch im Deutschen Kaiserreich eine Ordnungskategorie, auch wenn sie juridisch nicht offiziell festgeschrieben war. Von großer Bedeutung für die Argumentation dieses Beitrags ist, dass in den verschiedenen Rassentheorien von der Aufklärung bis zur deutschen Kolonialzeit die ›Schwarze Rasse‹ als die niederste in der hierarchischen Skala galt (vgl. Dietrich 2009: 177-178; Baquero Torres 2009: 59-74). Insofern war die Gegenüberstellung der qua ›Rasse‹ bestimmenden ›weißen deutschen Frau‹ mit der kolonialisierten ›Schwarzen Frau‹ in Deutsch-Südwestafrika unabdingbar für die Etablierung und Legitimation kolonialer Herrschaftsverhältnisse, aber auch für die Affirmation der Überlegenheit der ›weißen Rasse‹. Die Fremdpositionierung der ›Schwarzen Rasse‹ auf der untersten Stufe der ›Rassenhierarchie‹

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wurde stets bestätigt und verfestigt. Dies lässt sich an den Zuschreibungen auf andere kolonialisierte Gruppen zeigen. Sie sind vor allem in autobiografischen Schriften und Berichten über das Leben in den Kolonien erschienen, z.B. im Vereinsorgan des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft: Kolonie und Heimat, in pädagogischen kolonialen Diskursen oder der sog. Kolonialliteratur.10 Auch fotografische Darstellungen zeugen von den Zuschreibungen ›Weißer‹ auf die kolonialisierten ›Anderen‹. Im Weiteren betrachten wir hauptsächlich Aussagen und Beschreibungen von ›weißen deutschen Frauen‹ näher. In der kolonialen Propaganda des Frauenbundes stand der idealisierten tugendhaften ›weißen deutschen Frau‹ die negative Abbildung kolonialisierter Frauen gegenüber. Sie seien schlechte Ehe- und Hausfrauen, hieß es dort (vgl. Loosen 2009: 46). ›Schwarze Frauen‹ seien zudem schmutzig, stinkend, dumm, faul, dreist und heimtückisch (vgl. Mamozai 2009: 29 und Dietrich 2009: 186). Das Bild der sittlichen und entsexualisierten ›bürgerlichen weißen Frau‹ wurde dem der zügellosen Sexualität der ›Schwarzen Frau‹ gegenübergestellt (vgl. Dietrich 2009: 178). Auch der ›Schwarzen Männlichkeit‹ wurde ein überdimensionaler Sexualtrieb zugeschrieben. Nicht zuletzt deshalb war die Angst vor der Vergewaltigung ›weißer‹ Frauen durch ›Schwarze Männer‹ ein fortwährendes Diskussionsthema im Deutschen Reich (vgl. ebd.).11 Allgemeine Zuschreibungen wie Wildheit, Naturnähe, Triebhaftigkeit und Kulturlosigkeit der kolonialisierten ›Schwarzen Frauen‹ und ›Männer‹ wurden benutzt, um die Überlegenheit der ›weißen deutschen Rasse‹ zu markieren. In diesem Zusammenhang verwundert nicht, dass die ihnen zugeschriebene ›Hässlichkeit‹ auch in diesem Sinne gedeutet wurde (vgl. Mamozai 2009: 24). Ein Ausdruck dessen ist z.B., wie ›weiße deutsche Frauen‹ ›Schwarze Frauen‹ als fotografisches Motiv entdeckten und sie im Rekurs auf die neue fotografische Technologie und den damals neuen Stil des Porträts aus einer gehobenen Position fotografierten, um damit ihre eigene Überlegenheit bzw. die Minderwertigkeit der ›Schwarzen Frauen‹ zu hervor-

 10 Siehe dazu Bechhaus-Gerst/Leutner (2009). 11 Insbesondere nach der Besetzung des Rheinlandes durch französische Truppen, zu denen auch ›Schwarze‹ Soldaten gehörten, nahm der Diskurs des ›Schwarzen‹ Vergewaltigers nahezu fanatische Dimensionen an (vgl. z.B. Ayim 1997: 48-52; auch Wigger 2006).

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heben – eine Perspektive, die gerade während der Kolonialzeit oft von ›weißen‹ FotografInnen benutzt wurde (vgl. Schilling 2009: 223).12 Das hierarchische rassifizierende Ordnungsprinzip, nach dem die ›Schwarze Rasse‹ sich am Ende der Hierarchie befand, wird verstärkt durch die Repräsentationen anderer kolonialisierter Bevölkerungen. So wurde die chinesische Bevölkerung im deutschen Pachtgebiet Kiautschou (dem heutigen Jiaozhou) z.B. als alte Hochkultur angesehen, die jedoch der rassistischen kolonialen Ideologie zufolge einer politischkulturellen Stagnation unterlag und daher als ›degeneriert‹ und ›minderwertig‹ galt (vgl. Dietrich 2009: 177). In den Darstellungen ›weißer deutscher Frauen‹ erscheinen auch die Chinesen, insbesondere die Dienstboten, als ›unsauber‹ und ›unehrlich‹ (vgl. Kaiser 2009: 109). Dennoch ist ein deutlicher Unterschied in den Zuschreibungen auf ›Schwarze‹ und ›chinesische Frauen‹ zu erkennen. Entsprechend dem deutschen Projekt zur Zivilisierung spielte die Durchsetzung des aufklärerisch-bürgerlichen Ideals der sorgenden Ehefrau und Mutter in Kiautschou eine zentrale Rolle. Mit dem Argument, ›chinesische Mädchen‹ seien wegen ihrer ›Erziehbarkeit‹ und ›Formbarkeit‹ für die zivilisatorische Aufgabe in ihrer zukünftigen Rolle als Mütter und Erzieherinnen ihrer Kinder besonders geeignet, nahm die Erziehung und Ausbildung von Mädchen eine besondere Stellung in Kiautschou ein (vgl. Leutner 2009: 203). So betont der Theologe, Kolonialfunktionär und Publizist Paul Rohrbach: »Sie sind ein bildsames und dankbares Material. Sie fassen sowohl den Unterricht in den geistigen Lehrfächern als auch den in Handarbeit, Haushalt und dergleichen im Durchschnitt rasch und leicht auf« (zit. n. Leutner 2009: 204). Im Kontrast dazu erscheinen ›Schwarze Mädchen‹ in den afrikanischen Kolonien als »viel schwerer erziehbar«, weil sie gegenüber der Zwangsarbeit im Haus und auf der Farm offensichtlich Widerstand leisteten (vgl. Mamozai 2009: 28). Auch gegenüber den BewohnerInnen der Südsee gab es Loosen (2009: 44) zufolge eine andere Haltung. Die EinwohnerInnen der Insel Samoa, die den KolonialisatorInnen als ›Perle der Südsee‹ galt und eher positiv konnotiert war, wurden anders als afrikanische ›Schwarze Frauen und Männer‹ als Schönheiten charakterisiert. Erotisierte und sexualisierte Bilder nackter samoaischer Frauen waren etwa Ende des 19. Jh. im Deutschen Reich sehr begehrt (vgl. Dietrich 2009: 177). Auch die ›Mische-

 12 Ausführlich dazu siehe Schilling (2009).

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hen‹, gegen die der Frauenbund so vehement agitierte, wurde auf Samoa nicht in demselben Ausmaß bekämpft. Bis zum Erlass des ›Mischehenverbots‹ im Jahr 1912 waren solche Ehen auf Samoa legitim. Zudem galten die aus diesen Ehen, aber auch aus illegitimen Beziehungen entstandenen Kinder offiziell als ›Weiße‹ (vgl. El-Tayeb 2001: 124), in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika z.B. hingegen stets als ›Schwarze‹ (vgl. El-Tayeb 2001: 128). Diese Differenzen lassen sich mit der Rassenhierarchie erklären. Wie El-Tayeb anmerkt, galten SamoanerInnen im Allgemeinen als ›fast weiß‹ und wurden daher als ›höherwertig‹ gegenüber ›Schwarzen‹ betrachtet (vgl. ebd., insbesondere Anm. 150). Die sog. ›Halbdeutschen‹ wurden auf Samoa dementsprechend nicht so negativ gesehen wie Nachfahren aus Beziehungen zwischen ›Schwarzen‹ und ›Weißen‹ in den afrikanischen Kolonien (vgl. Loosen 2009: 44). Frieda Zieschank beschreibt die Situation auf Samoa folgendermaßen: »Sie sind nun einmal da, die Kinder deutscher Männer, und deshalb sollten wir nicht nur das braune, sondern auch das weiße Blut in ihnen sehen, und das ist zum Teil von bester Art!« (zit. n. Loosen 2009: 46) Wie Loosen anknüpfend an Zieschanks Äußerungen verdeutlicht, war die koloniale Propaganda, wie sie sich u.a. in der Zeitschrift Kolonie und Heimat13 zeigt, verantwortlich für die Entstehung einer ablehnenden rassistischen Haltung gegenüber den kolonialisierten Frauen (vgl. ebd.). Vor allem die Beschreibung der kolonialisierten Frauen als schlechte Ehe- und Hausfrauen und nicht zuletzt als Gefahr für die Autorität der ›weißen Frauen‹ als Trägerinnen ›deutscher Kultur‹ habe für »böses Blut [auch dort] gesorgt« (Frieda Zieschank zit. n. Loosen 2009: 46). Außer dieser nicht zu unterschätzenden Rolle solcher Vereinsorgane und damit der aus den Metropolen transportierten rassistischen Denkweise ist in diesem Zusammenhang noch eine weitere diskursive Nuance zu beachten. Im Vergleich mit den ›Schwarzen‹ die, wie noch einmal betont sein soll, auf der letzten Stufe der Rassenhierarchie positioniert wurden, galten PolynesierInnen und MikronesierInnen als kulturell relativ hoch entwickelt und entsprachen zudem dem westlichen Schönheitsideal (vgl. ebd.). Gemäß der dem Eigenen zugeschriebenen ›Häuslichkeit‹, ›Hygiene‹ und ›Arbeit‹ wurden diesen kolonialisierten Frauen dennoch herabsetzende Eigenschaften zugeschrieben, jedoch nicht so niedere wie den

 13 Zu einer Diskursanalyse der Herstellung einer ›weißen Kultur‹ durch das Vereinsorgan des Frauenbundes in den deutschen Kolonien siehe Walgenbach (2008).

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›Schwarzen‹ Bevölkerungen in den afrikanischen Kolonien. So lässt es sich aus folgendem Zitat aus der Koloniale Zeitschrift lesen: »Wenn man bedenkt, wie arrogant und herausfordernd sich Neger gegen Weiße benehmen und desto mehr, je nachsichtiger sie behandelt werden, [...] so wird jeder, welcher sich längere Zeit unter Südsee-Eingeborenen aufhält, angenehm von dem maßvollen Benehmen derselben berührt werden.« (Antonie Brandeis zit. n. Loosen 2009: 48)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die negativen und rassistischen Beschreibungen der Kolonialisierten die direkte Aufwertung der ›weißen Rasse‹ beinhalten. Die binären Zuschreibungen speisen sich aus der Mischung biologischer Merkmale mit bürgerlichen Kulturfertigkeiten und Lebensweisen. Weiblich konnotierte ›Reinheit‹ und ›Sauberkeit‹ gelten hierbei als wesentliche Komponenten rassifizierender und rassistischer Zuschreibungen. Dies trug zur Strukturierung und Hierarchisierung der kolonialen Gesellschaften bei. Nicht zuletzt dienten diese binären Zuschreibungen, die die kolonialisierten Gesellschaften als rückständig erscheinen ließen, zur Legitimierung der zivilisatorischen Aufgabe seitens der deutschen Kolonisatoren. Wie die den Privatbereich prägende aufklärerisch-bürgerliche Weiblichkeitsvorstellung eine Erweiterung in der öffentlichen Sphäre der Pflegearbeit aufweist, wird im Folgenden dargestellt. (iii) ›Rasse_Klasse_Geschlecht‹ und die Ausbildung des Pflegepersonals für und in den Kolonien. Die Ausblendung ›Schwarzer Frauen‹ in der kolonialen deutschen Geschichtsschreibung der Pflegeausbildung »Etwas über die indigenen Pflegehelfer und Lazarettgehilfen zu erfahren, ist anhand des Quellenmaterials sehr schwierig. Die Schwestern [des Deutschen Frauenvereins für Krankenpflege] berichteten in der Regel nur dann von ihnen, wenn diese etwas besonders gut oder besonders schlecht gemacht hatten. Und auch in den Korrespondenzen der Behörden wurden sie selten erwähnt. Die besonders groben und schweren Arbeiten in den Krankenstationen in Afrika wurden in der Regel von indigenen Bediensteten erledigt. Die Schwestern beschäftigten häufig zudem weibliche Dienerinnen, ›Bambussen‹ genannt, die ihnen bei der Instandhaltung ihrer Kleidung, Reinigungsarbeiten und Ähnlichem

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zur Hand gingen bzw. diese Arbeiten erledigten. Ohne dass genaue Zahlen zur Verfügung stehen, gewinnt man aus den Schwesternbriefen den Eindruck, dass sowohl indigene Männer als auch Frauen in den Krankenstationen beschäftigt wurden.« (Schweig 2012: 90)

So beginnt Nicole Schweig das sechste Kapitel ihres vor kurzem erschienenen Buches Weltliche Krankenpflege in den deutschen Kolonien Afrikas 1884-1918, wo sie ausführlich die Ausbildung der ›weißen deutschen‹ Krankenpflegerinnen und ihre Arbeit in den afrikanischen Kolonien schildert. Außer der allgemeinen Information über die Beschäftigung ›Schwarzer‹ Kolonialisierter in den Krankenstationen ist an diesem Zitat abzulesen, dass, so wie in den privaten Haushalten der ›weißen deutschen Kolonialherren‹, die ›Schwarzen Frauen‹ und ›Männer‹ die schwere Arbeit übernehmen mussten und sie von ›weißen deutschen‹ Krankenschwestern beaufsichtigt wurden (vgl. Schweig 2012: 45). Die hierarchische Arbeitsteilung nach ›Rassen‹ zeigt sich damit auch in diesem Bereich. Ein besonderes Augenmerk verdient die Bemerkung der Autorin über die schlechte Quellenlage zur Ausbildung der ›Schwarzen‹ Krankenpflegerinnen. Diese Lücke kontrastiert mit der ausführlichen Berichterstattung zur Arbeit und den Arbeitsbedingungen der ›weißen deutschen‹ Krankenpflegerinnen sowie zur Organisation und Struktur der Vermittlung von ›weißen deutschen‹ Krankenschwestern in die Kolonien. Aus dem von Schweig analysierten Quellenmaterial lässt sich zur Rolle ›Schwarzer Frauen‹ in der kolonialen Pflege lediglich erfahren, dass die Ausbildung der ›Schwarzen‹ Pflegerinnen vor Ort, also in den Kolonien stattfand und sie nur in Ausnahmefällen im Deutschen Reich erfolgte, da die Verwaltung nur einzelnen Petitionen zugestimmt hatte. Im Grunde war die Ausreise ›Schwarzer‹ zur Ausbildung ausdrücklich unerwünscht. Über die Ausbildung der ›Schwarzen‹ Pflegegehilfen, ob männlich oder weiblich, gibt es keine Information (vgl. Schweig 2012: 91). Wie im obigen Zitat weiter zu lesen ist, sind die ›Schwarzen PflegerInnen‹ nur erwähnt worden, wenn sie etwas »besonders schlecht oder besonders gut gemacht hatten«. Die ›weißen deutschen‹ Krankenschwestern berichteten aber auch über die Ungeschicklichkeit und Unzuverlässigkeit der ›Schwarzen‹ HelferInnen in Haushaltsangelegenheiten (vgl. Schweig 2012: 93). Diese Beschreibungen erinnern an den bereits in den vorherigen Abschnitten enthaltenen Hinweis auf die Relevanz solcher Zuschreibungen für die Stilisierung der ›weißen Weiblichkeit‹ und der damit eng

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verbundenen ›deutschen Reinheit‹ und ›Hygiene‹ im bürgerlichen Haushalt, die hier noch mit dem Begriff der Pflege in Zusammenhang gebracht wird. Die Tatsache, dass aus dem Quellenmaterial des Deutschen Frauenvereins wenig über die Ausbildung, Arbeitsbedingungen usw. des ›Schwarzen‹ Pflegepersonals zu erfahren ist, ist u.E. relevant, weil sie ein eindeutiger Hinweis für die Ausblendung ›Schwarzer‹ KrankenpflegerInnen als handelndes Subjekt in der Geschichtsschreibung der deutschen Krankenpflege ist. Darauf macht auch Regina M. Banda Stein (2005) aufmerksam. Die einseitige Darstellung der deutschen Krankenpflege ist für sie Ausdruck der eigentlichen rassistischen Herrschaftsund Machtverhältnisse. Dies ist aus postkolonial kritischer Perspektive als vorhandene epistemologische Machtdimension in der (›weißen‹) Geschichtsschreibung zu verstehen. In diesem Sinne und anknüpfend an Stein unterstreichen wir die Notwendigkeit, uns von einer einseitigen und verallgemeinerten Vorstellung von Geschichte zu verabschieden und uns einer positionierten und mehrperspektivistischen Auffassung von Geschichtsschreibung, in der diverse Geschichtlichkeiten innerhalb größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge berücksichtigt und dargestellt werden, zuzuwenden. Stein zufolge muss der Akzent auf die besondere Konnotation der Pflegekultur im kolonialen Raum als koloniale Pflegekultur und in Verbindung mit einem kolonialen Pflegekonzept gesetzt werden (vgl. Stein 2005: 190). Aus dieser Perspektive gewinnt nun der Begriff der Pflege einen politischen Gehalt, den wir hier hervorheben möchten. Die NichtNeutralität bzw. die politische Konnotation des Pflegekonzeptes zeigt sich allein durch das vorrangige wirtschaftliche Interesse an der Erhaltung der Arbeitskräfte und im Allgemeinen durch die hierarchisierende Praxis, die von der getrennten Organisation der Pflege nach ›Rassen‹ ausgeht, welche in direkter Verbindung mit der Konstruktion der ›nationalen Identität_Rasse_Geschlecht‹ steht. Damit war die Pflege integraler Bestandteil des kolonialen Projektes Deutschlands. Der Begriff der ›Heimatpflege‹, so Stein, »ergibt sich aus der Überlegung, dass sich weiße deutsche Krankenschwestern und Missionsschwestern als vaterlandsliebende Frauen der Pflege der Kultur ihres Heimatlandes und Glaubens verpflichtet fühlten« (Stein 2005: 190). Dieser Gedanke knüpft an die gesellschaftlichen und politischen Aufgaben der ›weißen deutschen Frau‹ als Trägerin ›deutscher Kultur‹ an und steht hier in direkter Verbindung mit dem Begriff der Pflege, als Pflege

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der ›weißen deutschen‹ Bevölkerung in den Kolonien. So gesehen fungiert der Begriff der Pflege als Erhaltung und Schutz der eigenen ›Nationalität‹ und ›Rasse‹. Die Anwesenheit ›weißer deutscher‹ Krankenschwestern in den Kolonien war mit einer geschlechtsspezifischen Berufsorientierung verbunden. In der Vorstellung der Erfüllung des ›natürlichen weiblichen Berufes‹ als Ehefrau, Hausfrau und Mutter bedeutet der Beruf der Pflege so etwas wie eine Erweiterung der ›kolonialen Häuslichkeit‹, denn, so wurde stets betont, die Pflegetätigkeit sei ›typisch weiblich‹ (vgl. Loosen 2009: 42). Der Deutsche Frauenverein vom Roten Kreuz und der Frauenbund schickten deshalb nicht nur potentielle Ehefrauen, sondern u.a. Krankenschwestern in die Kolonien. Hintergrund dessen war die Suche nach besseren Lebensbedingungen und einer entsprechenden sozialen Position als ausgebildete Frauen in den Kolonien. Durch die Professionalisierung des Pflegeberufes erhofften sich viele Frauen eine gehobene und eigenständige Existenz wie sie im Deutschen Reich nicht möglich gewesen wäre. Die Professionalisierung beinhaltet somit eine klassenspezifische Komponente, denn mit der Ausbildung als Krankenschwester wurde ihnen ein höheres Gehalt garantiert als den einfachen ›weißen deutschen‹ Dienstmädchen. Im rassifizierenden kolonialen Geflecht muss die Durchsetzung von nach ›Rasse‹ getrennten Krankenstationen und der Versorgung im Zusammenhang mit der, insbesondere in den afrikanischen Kolonien, strikten Rassenpolitik gelesen werden, auch wenn, wie Schweig anmerkt, oft »gesundheitliche Gründe« als Argument für die getrennte Organisation der Pflege und Versorgung angeführt wurden (vgl. Schweig 2012: 93). Entsprechend des kolonialpolitischen Interesses, die Trennung der ›Weißen‹ von der ›Schwarzen Rasse‹ rigide einzuhalten, wurden Krankenstationen für ›Weiße‹ und ›Schwarze‹ räumlich getrennt gebaut sowie die ärztliche und pflegerische Versorgung der PatientInnen nach der Prämisse der Rassentrennung durchgeführt. Dass die ›Weißen‹ über bessere und komfortablere Raumbedingungen verfügten, dass die ›Schwarzen‹ PflegerInnen für die Versorgung der ›Schwarzen‹ Bevölkerung zuständig waren, dass die ›weißen deutschen‹ Krankenschwestern kaum die Pflege der einheimischen ›Schwarzen‹ Bevölkerung übernahmen (Schweig 2012: 93) und dass die Betreuung der ›weißen‹ PatientInnen durch die ›Schwarzen‹ PflegerInnen eher selten war (vgl. Stein 2005: 195), zeigt die rassifizierenden_klassifizierenden_vergeschlechtlichenden Hierarchien in den deutschen Kolonien.

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Ebenso muss die Tatsache, dass die gesundheitliche Versorgung der kolonialisierten ›Schwarzen‹ Bevölkerung nur dann gewährleistet war, wenn die ›weiße‹ europäische Bevölkerung in den Kolonien sich gesundheitlich gefährdet sah (vgl. Schweig 2012: 98) im Sinne der Etablierung rassistischer kolonialer Strukturen gesehen werden. Die gesundheitliche Fürsorge galt vor allem dem Erhalt der Arbeitskraft ›Schwarzer‹ Frauen, Männer und Kinder für die deutsche Kolonialmacht. So muss auch aufgrund der hohen Sterblichkeit von Säuglingen die Notwendigkeit einer Geburtshilfe für ›Eingeborene‹ in den Schutzgebieten nicht im humanitären, sondern vielmehr im Sinne des wirtschaftlichen Interesses kolonialer Politik verstanden werden (vgl. Stein 2005: 191; Schweig 2012: 96). Wie die koloniale Häuslichkeit mit der bürgerlichen Vorstellung von ›Sauberkeit‹, ›Ordnung‹ und ›Hygiene‹ als ›Tugenden der weißen deutschen Frau‹ auf die Pflegetätigkeit erweitert wurde, ist in diesem Abschnitt ebenso aufgegriffen worden wie die Verquickungen des Pflegeberufes mit klassengebundenen Differenzierungen und rassistischer Segregation. Nicht zuletzt haben wir in Anschluss an die Arbeiten ›Schwarzer‹ Theoretikerinnen auf die Ausblendung von ›Schwarzen‹ Frauen in der Geschichtsschreibung der Pflegetätigkeit hingewiesen, um zu zeigen, welche historischen Machtverhältnisse bis heute relevant sind. Mit diesen Erörterungen schließen wir den ersten Teil dieses Beitrags, in dem wir exemplarisch den Fragen nach den Zuschreibungen auf kolonialisierte Gruppen – insbesondere auf ›Schwarze Frauen‹ – und der sozialen Relevanz, die sie gewannen, nachgegangen sind. Die analysierte Praxis der Selbst- und Fremdzuschreibungen zeigt deutlich ihre enge Verbindung mit Berufserziehung und -positionierungen im kolonialen Raum. Hierarchische Strukturen markieren und bestimmen die soziale Positionierung unterschiedlicher Gruppen. Während die ›weißen deutschen Frauen‹ als homogene Gruppe die nationale Aufgabe als Trägerinnen der ›deutschen Kultur und Rasse‹ zugewiesen bekommen haben, differenzierten sie sich nach Schicht, Beruf, Bildung und sozialer Position. Die kolonialisierten Frauen hatten eine untergeordnete Stellung inne. Besonders relevant ist hierbei die Unsichtbarkeit und das Schweigen in Bezug auf die Berufsausbildung für ›Schwarze‹ Krankenpflegerinnen und deren Tätigkeiten. Ihre Position innerhalb der kolonialen Logik wurde von den strukturell markierten rassistischen Vorstellungen bestimmt.

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Inwieweit die gegenwärtige Berufsorientierung und Einstellungspraxis in Deutschland strukturell Kontinuitäten aufweisen, werden wir im folgenden Teil am Beispiel von Interviews 14 mit ›weißen deutschen‹ Einstellenden in Pflegeberufen untersuchen.

T EIL II – K OLONIALE D ENK - UND Z USCHREIBUNGSMUSTER IN DER B ERUFSORIENTIERUNG VON › GEANDERTEN F RAUEN ‹ (i)

»Weil die liebevoll und freundlich sind und weil bei denen Familie auch noch was zählt.« – Zuschreibungen ›weißer deutscher‹ Einstellender auf ›geanderte Frauen‹ in der Pflege

Frau Lehmann arbeitete zum Interviewzeitpunkt als Sozialpädagogin in einem Arbeitsvermittlungsprojekt für Langzeitarbeitslose. Viele der von ihr betreuten langzeitarbeitslosen Frauen gehörten zur Gruppe der ›Geanderten‹. Obwohl ihr die Teilnehmerinnen vom Arbeitsamt zugewiesen wurden, hatte Frau Lehmann die Möglichkeit, eine eigene Auswahl aus dem Pool der Bewerberinnen zu treffen. Auf diese Weise war Frau Lehmann als Einstellende in Bewerbungsverfahren involviert. Darüber hinaus konnte sie aufgrund ihrer vermittelnden und beratenden Funktion als Sozialpädagogin das Verhalten Einstellender in Pflegeeinrichtungen beobachten. Im Interview berichtet sie zunächst, dass ›geanderte langzeitarbeitslose Frauen‹ so gut wie keine Chance auf dem deutschen Arbeitsmarkt hätten. Dann jedoch sagt sie: »Also, im Altenbereich, in der Pflege, weil das viele nicht mehr machen wollen, sieht das auch anders aus. Zwar dass sie [gemeint sind Einstellende in Pflegeeinrichtungen; Anm. FM] keine Schwarze wollen, aber aus Korea, Iran, türkische Frauen, Frauen natürlich, weil die gerne genommen werden, weil die freundlich

 14 Die Interviews wurden im Rahmen des qualitativen Forschungsprojekts Interkulturelle Kompetenz als Schlüsselqualifikation von Zuwanderern im Verlauf industrieller Wandlungsprozesse und Veränderungen von Produktionssystemen (ikas) an der Universität Hamburg am Lehrstuhl von Prof. Dr. Ursula Neumann erhoben. Finanziert wurde das Projekt aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) und des Arbeitsamts Hamburg.

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sind. Weil die liebevoll und freundlich sind und weil bei denen Familie auch noch etwas gilt. [...] Da schon eher, weil das eine soziale Kompetenz darstellt, so Familie und alte Leute sind was wert und das wird dann auch gerne genommen.« (Frau Lehmann, Sozialpädagogin, Vermittlung/ Beratung, 39 J., ›weiß deutsch‹; I 11: 10)

Frau Lehmanns Aussage zufolge werden ›koreanische, iranische und türkische Frauen‹ aufgrund der ihnen zugeschriebenen weiblich konnotierten ›sozialen Kompetenz‹ als Altenpflegerin positioniert. Diese Positionierung ist insofern spezifisch, als dass sie die Position einer ›geanderten‹ Altenpflegerin oder genauer: einer ›of Color geanderten‹ Altenpflegerin darstellt. Sie hebt sich von ›Schwarzen‹ und ›weißen Frauen‹ ab. Das lässt sich über die Analyse des implizierten Wissens um unterschiedlich ›geanderte Frauen‹ und deren ›Kompetenzen‹15 bestimmen. Frau Lehmann stellt in ihrer Analyse des Einstellungsverhaltens in Pflegeeinrichtungen auf das spezifische Konzept der ›kulturell anderen Frau of Color‹ ab, in diesem Fall auf die Konzepte der ›koreanischen, iranischen und türkischen Frau‹, deren ›Kultur‹ mit einer besonderen Werthaltung gegenüber Familie und alten Menschen verbunden sei. Die geschlechtsspezifischen Zuschreibungen – Freundlichkeit, liebevoll Sein – verbinden sich hier mit kulturalisierten Werthaltungen gegenüber Familie und alten Menschen zu einer für die Altenpflege prädestinierenden Form ›sozialer Kompetenz‹ (in Frau Lehmanns Worten: »… das wird dann auch gerne genommen«). ›Frauen of Color‹ werden aufgrund des spezifischen Ineinandergehens von ›Rasse_Kultur_Geschlecht‹, das sich in der Zuschreibung einer ›besonderen‹ Weiblichkeit mit einer ›besonderen‹ Werthaltung gegenüber alten Menschen ausdrückt, eingestellt. Gehen wir in der Analyse noch einen Schritt weiter und betrachten die Nicht-Benennungen und vagen Andeutungen in ihrem historischgeografischen Kontext, zeigen sich weitere auf dem Ineinandergreifen von ›Rasse_Klasse_Geschlecht‹ beruhende Differenzierungsmuster. Frau Lehmanns Halbsatz »weil das viele nicht mehr machen wollen« deutet vor dem Hintergrund, dass Altenpflege in der BRD ein traditionell weiblich konnotierter Beruf mit hohen Anforderungen, aber vergleichsweise schlechter Bezahlung und geringen Aufstiegschancen ist, auf den Umstand, dass ›weiße deutsche Frauen‹ in der Altenpflege für sich keine

 15 Zur Problematik des Kompetenzbegriffs siehe die ausführliche Darstellung in Meyer (2012: 107-119).

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attraktive Berufsperspektive mehr sehen und sich – wenn sie können – beruflich möglichst anders orientieren. Der Umstand, dass zunehmend ›of Color geanderte Frauen‹ in der Altenpflege eingestellt werden, lässt sich mit Stein (2005) als Andeutung auf die rassifizierende_klassifizierende_vergeschlechtlichende Annahme lesen, Altenpflege sei ein angemessener Beruf für ›geanderte Frauen‹. Hingegen sei er für jene ›weißen deutschen Frauen‹, deren Qualifikation ihnen auch Zugang zu prestigereicheren Positionen eröffnen kann, nicht mehr angemessen. Während Stein diese Annahme als grundlegend für die Öffnung von Pflegeberufen für afrodeutsche Frauen ab Mitte der 1950er Jahre ansieht (Stein 2005: 196), sind ›Schwarze Frauen‹ in der kurzen Erzählung von Frau Lehmann von der Positionszuweisung als Altenpflegerin ausgeschlossen. Die ArbeitgeberInnen, mit denen Frau Lehmann zu tun hat, entheben ›Schwarze Frauen‹ offenbar von der für ›of Color Frauen‹ geltenden Zuschreibung einer rassifizierten Weiblichkeit. Der Platz ›Schwarzer Frauen‹ befindet sich anderswo, ohne dass die Positionierung genauer benannt würde. Der Ausschluss ›Schwarzer Frauen‹ von Pflegetätigkeiten nimmt sie zugleich von der Zuschreibung einer auf dem Ineinandergreifen von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ besonderen Weiblichkeit und den damit verbundenen sozialen Kompetenzen aus. Dies verweist auf die koloniale Enthebung ›Schwarzer Frauen‹ als weiblich. Da ›Schwarze Frauen‹ als Sklavinnen ähnliche Arbeiten verrichten mussten wie Männer, wurden ihnen u.a. männlich konnotierte Eigenschaften wie körperliche Stärke, Ausdauer, Zähigkeit, Unabhängigkeit zugeschrieben. Dadurch wurden ›Schwarze Frauen‹ jenseits des ›weiß bürgerlich weiblich‹ konnotierten Mütterlichkeitskonzepts positioniert. ›Schwarze Frauen‹ erschienen gewissermaßen als Kehrseite dieses Konzepts oder – wie Davis schon 1982 bemerkte – als dessen Anomalie (vgl. Davis 1982: 10). Inwiefern die Interviewpartnerin Frau Lehmann oder die von ihr beobachteten Einstellenden auf solche Konzepte zur ›Schwarz/weißen Weiblichkeit‹ rekurrieren, lässt sich mit dem vorliegenden Datenmaterial leider nicht weiter analysieren. Der von Frau Lehmann geschilderte Ausschluss ›Schwarzer Frauen‹ aus Pflegeberufen erinnert jedoch an pädagogische und bildungspolitische Wissensproduktionen zur Berufseinmündung ›Schwarzer deutscher Frauen‹ aus den 1950er Jahren. ›Schwarze deutsche Frauen‹ wurden mit der Begründung, die ›weiße deutsche‹ Klientel würde ›Schwarze‹ Sozialarbeiterinnen und Pflegefachkräfte nicht akzeptieren, von diesen ansonsten als für junge Frauen besonders passend erachteten Berufen zunächst ausgeschlossen (vgl.

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Lemke Muñiz de Faría 2001). ›Schwarze deutsche‹ Theoretikerinnen wie Ayim (1997) oder Stein (2005) weisen in ihren Arbeiten auf die kolonialen Bezüge dieses Ausschlusses hin. So prägte die Vorstellung, eine ›Schwarze‹ Pflegekraft sei ›Weißen‹ nicht zuzumuten, die Gesundheitspolitik in den deutschen Kolonien (vgl. Stein 2005: 195), wie im ersten Teil des Beitrags bereits ausgeführt wurde.16 Auch setzt die im Interview mit Frau Lehmann geschilderte Praxis, ›Schwarze Frauen‹ innerhalb der Altenpflege lediglich für Reinigungsarbeiten einzustellen, die koloniale Arbeitsteilung in der Krankenpflege fort. Gleichzeitig muss eine Verschiebung der kolonialen Hierarchie konstatiert werden. Erfolgte die Hierarchisierung in der kolonialen Pflege zwischen ›Schwarzen‹ bzw. ›of Color geanderten‹ Reinigungs- oder Pflegehilfskräften und ›weißen‹ Pflegerinnen, so geraten heute ›of Color geanderte Frauen‹ als qua ›Rasse_Kultur_Geschlecht‹ besonders geeignete Pflegerinnen in den Blick ›weißer deutscher‹ Einstellender. Vor diesem Hintergrund ist es sehr interessant, dass Frau Lehmann im Interview an anderer Stelle eben diesen kolonialen Diskurs aufgreift: »[...] Oft war es bei den Arbeitgebern so die Vorgabe: Keine dunkle Hautfarbe, das sind keine hochqualifizierten Jobs, das sind Putzjobs, das ist ein Witz, dass sie dann sagen, die Kunden wollen das nicht, die würden sonst gerne welche einstellen. Auf der anderen Seite hatte ich eine Frau gehabt, die war total motiviert, die ist dann bei einem Pflegedienst angekommen. Obwohl alle Pflegedienste, die ich angerufen habe, die haben gesagt, tut uns leid, aber alte Leute, wenn die eine Schwarze sehen, das können die nicht. Und dieser Pflegedienst, die haben gesagt, die Frau ist so motiviert, die ist so nett, die muss herkommen und die haben sie genommen. Der Kontakt ist jetzt nicht mehr da, ich weiß nicht, wie es weitergegangen ist. Wenn sich was ändern soll, dann müssen die Arbeitgeber auch sagen, okay, wir stellen die Leute trotzdem ein, die Kunden müssen sich eben daran gewöhnen. Es ist nicht immer so, dass die rassistisch sind von vornherein. Einfach so, weil sie kundenorientiert arbeiten wollen, aber wer ein bisschen mutiger ist, da müsste das eigentlich gehen.« (Frau Lehmann, Sozialpädagogin, Vermittlung / Beratung, 39 J., ›weiß deutsch‹; I 11: 8)

 16 Im Nationalsozialismus findet sich dieses Muster im Verbot für ›jüdische‹ ÄrztInnen und ›jüdisches‹ Pflegepersonal, sog. ›arische‹ PatientInnen behandeln zu dürfen in einer aktualisierten – in diesem Fall rassifiziertantisemitischen – Wiederholung. Einen fundierten Überblick über die Geschichte der Krankenpflege im Nationalsozialismus bietet Steppe (2001).

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Frau Lehmann kritisiert die ihr offenbar direkt mitgeteilte rassistische Vorgabe mehrerer ArbeitgeberInnen, ihnen keine ›Schwarze‹ zu vermitteln. Die Begründung der ArbeitgeberInnen für diesen Ausschluss ist dieselbe, wie in den 1950er Jahren: Alte Menschen würden eine ›Schwarze‹ Pflegekraft nicht akzeptieren. Aber welche alten Menschen? Die Vermutung der Nicht-Akzeptanz ›Schwarzer‹ allein aufgrund ihres ›Schwarz-Seins‹, d.h. ihrer ›Rasse‹ macht nur Sinn, wenn die alten Menschen als ›weiß‹ imaginiert werden und gleichzeitig ein unausgesprochenes Wissen um den zu berücksichtigenden kolonialen-nationalsozialistischen Rassismus ›alter weißer‹ Menschen gegenüber ›Geanderten‹ besteht. Frau Lehmanns Kritik an dieser Aktualisierung des rassistischen Diskurses aus den 1950er Jahren manifestiert sich in ihrem spontanen Kommentar »[…] das sind keine hochqualifizierten Jobs, das sind Putzjobs, das ist ein Witz, dass die dann sagen, die Kunden wollen das nicht.« Dieser in einem ›weißen Mittelschichtskontext‹ zunächst ›ganz normal‹ und ›selbstverständlich‹ wirkende Kommentar17 impliziert neben der Kritik an der rassistischen Vorgabe manches Arbeitgebers dreierlei: Erstens erforderten Putzjobs wenig Qualifikation, zweitens seien sie passend für ›Schwarze‹ und drittens wäre eine Auswahl per ›Rasse‹ für prestigereichere Jobs zwar weiterhin ungerechtfertigt, hätte aber doch eine gewisse Berechtigung. Dadurch reproduziert Frau Lehmann den in der BRD nahezu vollkommenen Ausschluss ›Schwarzer‹ ArbeitnehmerInnen von prestigereichen Positionen und platziert sie erneut am unteren Ende der Arbeitsmarkthierarchie. Reproduktion der ›weißen Norm‹ und Kritik daran koexistieren in Frau Lehmanns Äußerung. Das ist kein Widerspruch, sondern gehört zu den Funktionsweisen des Rassismus. Wie Albrecht-Heide darlegt, verbirgt Kritik die eigene Verwicklung in und Betroffenheit von rassistischen (Denk-)Strukturen und Sprechakten (vgl. Albrecht-Heide 2005: 445f). Diese Technik des Verbergens bestimmt zum einen die von Frau Lehmann kritisierten Arbeit-

 17 Die mit diesem Kommentar transportierte Botschaft ist mir (FM) erst nach einiger Zeit und vor allem erst nach der Lektüre von Texten ›Schwarzer‹ TheoretikerInnen aufgegangen. Er erschien mir ›normal‹ und ›zutreffend‹ einfach dadurch, weil ich ihn selbst als Kommentar zu rassistischen Arbeitsmarktpraktiken verwendet habe. Es sind solche Momente, in denen mir die Normalität rassistischer Sprechakte und meine Verwicklung darin bewusst wird. Ich muss lernen, die mittransportierten Botschaften zu hören.

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geberInnen: Sie verbergen ihre rassifizierten Wahrnehmungsmuster hinter dem tatsächlichen oder vermuteten Rassismus der ›weißen‹ Klientel bzw. hinter ihrer Kundenorientierung. Dadurch können sie rassistisch wahrnehmen, sprechen und handeln, ohne diese rassistische Praxis mit sich selbst in Verbindung bringen zu müssen und können sich frei davon wähnen. Entsprechend werden sie von Frau Lehmann entschuldigt (»es ist nicht immer so, dass die rassistisch sind«). Damit solidarisiert sie sich mit ›weißen‹ Machtpositionen und trägt sie trotz ihrer Kritik daran mit. Zum anderen zeigt sich die Technik des Verbergens in Frau Lehmanns eigener Kritik an der rassistischen Vorgabe der potentiellen ArbeitgeberInnen, indem sie den offenen Rassismus einiger ArbeitgeberInnen vehement ablehnt und dennoch implizit von einer gewissen Berechtigung rassistischer Auswahlkriterien für prestigereichere Positionen ausgeht. Kritik an und Reproduktion ›weißer‹ Normen, Wissensmuster und Vorstellungen gehen – wie dieses Beispiel zeigt – mitunter Hand in Hand. Es erfordert daher weniger Mut seitens ›weißer‹ Einstellender, ›Schwarze‹ trotzdem in der Altenpflege einzustellen, wie die Interviewpartnerin Frau Lehmann meint, sondern vielmehr eine Reflexion der dahinter liegenden Entscheidungsmacht ›Weißer‹, ob und wie viel ›Schwarzes‹ Personal (resp. ›weißes‹ Personal) sie für welche Position einstellen möchten. Eine solche Reflexion müsste die eigene Position ebenfalls zur Disposition stellen, um ›weiße‹ Normen und Hierarchien nachhaltig zu verschieben. Ein weiteres, auf dem Ineinandergreifen von ›Geschlecht‹ und ›Rasse‹ beruhendes Zuschreibungsmuster findet sich im Interview mit Herrn Schmidt. Er leitete zum Interviewzeitpunkt die Personalabteilung eines großen Krankenhauses. Kennzeichnet Herr Schmidt zunächst die Krankenhaushierarchie u.a. als ›ethnisch_national‹ geprägt mit einem ›türkisch‹ dominierten Arbeiterbereich und einem Ärztebereich, in dem es »auch Oberärzte als Ausländer« gebe (Schmidt, I 21: 2), berichtet er über den weiblich dominierten Pflegebereich: »Also wir haben einen großen Bereich, wir haben damals 1970 von Südkorea viele Pflegekräfte übernommen, die praktisch herkamen ohne Deutschkenntnisse, die sich hervorragend integriert haben. Das liegt aber an dem Menschenschlag, die gewohnt sind, nicht aufzubegehren, vielleicht auch zu schlucken, mag sein, weiß ich nicht. Aber dadurch gibt es keine Reibungspunkte. Konnten also hervorragend integriert werden, sind zum Teil auch heute noch hier.« (Herr Schmidt, Leiter Pers. Abt., 60 J., ›weiß deutsch‹; I 21: 2)

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Herr Schmidt führt den Umstand, dass sich viele der in den 1970er Jahren als ›Gastarbeiterinnen‹ angeworbenen Pflegekräfte aus Südkorea gut in die gegebenen Strukturen integriert hätten auf deren vergeschlechtlichte ›Rasse‹ bzw. das rassifizierte ›Geschlecht‹ zurück. Die ehemals aus Südkorea angeworbenen Krankenpflegerinnen gehören für Herrn Schmidt zu einem »Menschenschlag«, der es gewohnt sei, nicht aufzubegehren, evt. auch »zu schlucken« und sich daher sehr gut in den Krankenhausbetrieb integrieren lasse. In diesen Zuschreibungen lässt sich unschwer die koloniale Rassenkonstruktion der devoten, unterwürfigen und gleichsam arbeitsbeflissenen AsiatInnen erkennen (vgl. z.B. Amenda 2006: 9). Auch verweist der Terminus ›Menschenschlag‹ deutlich auf die der Rassenkonstruktion und fixen Kulturvorstellungen zugrunde liegenden Idee, an bestimmte Menschentypen oder -gruppen seien bestimmte Eigenschaften unwiderruflich gebunden. Allerdings schreibt Herr Schmidt in seiner postkolonialen Wiederholung das Wissen um die Eigenschaften ›Geanderter‹ unter einem positiven Vorzeichen fort: die Integrationsfähigkeit ›der Südkoreanerinnen‹ erscheint als eine positive, aber weiterhin rassifizierte Eigenschaft. Damit wird die koloniale Rassifizierung und Vergeschlechtlichung in einer Variante fortgeführt, die die Debatte um den Personalmangel in deutschen Pflegeeinrichtungen von der Nachkriegszeit bis heute prägt. Um die historischen Kontinuitäten, aber auch Brüche dieses Diskurses geht es im folgenden Abschnitt. (ii) Geschlechtsspezifische Berufsorientierung In seiner Ende 2012 erschienenen Broschüre »Chancen zur Gewinnung von Fachkräften in der Pflegewirtschaft« setzt das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) auf zwei Lösungen für den aktuellen Personalmangel in Pflegeberufen: 1. Aktivierung der sog. ›stillen Reserve‹ von noch nicht (voll) erwerbstätigen Frauen aus dem Inland (z.B. Umschulungen erwerbsloser Frauen, Umwandlung von Teilzeit- in Vollzeitverträge bereits pflegerisch tätiger Frauen) (vgl. BMWi 2012: 14ff). Zudem sollen arbeitslose Frauen und Männer zu AltenpflegerInnen umgeschult werden (vgl. BMWi 2012: 14). 2. Anwerbung ausländischer Fachkräfte (vgl. BMWi 2012: 20-41). Da der Studie des BMWi zufolge die ungesteuerte Einwanderung von Pflegepersonal aus den EU-Staaten, insbesondere den potentiell mit

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Deutschkenntnissen einwandernden Pflegefachkräften aus Mittel- und Osteuropa, nicht ausreiche, empfehlen die AutorInnen auch die Anwerbung aus außereuropäischen Staaten. Dabei werden PflegerInnen aus verschiedenen asiatischen Ländern (Indien, China, Korea, Vietnam, Philippinen) favorisiert (vgl. BMWi 2012: 30-37). Die beiden vorstehend genannten Lösungen können inzwischen durchaus als Klassiker bei der Suche nach Lösungen für Fachkräftemangel gelten. Historisch sind inländische Frauen und ausländische ArbeitnehmerInnen in Deutschland immer dann besonders angesprochen worden, wenn das Arbeitsaufkommen nicht (mehr) von Männern aus dem Inland gedeckt werden konnte oder inländische ArbeitnehmerInnen Tätigkeiten in schlecht bezahlten, arbeitsintensiven Bereichen verweigerten. So setzten bereits preußische Gutsverwalter auf weibliche Arbeitskräfte oder rekrutierten, als diese ebenfalls in die Industrie abwanderten, LandarbeiterInnen aus dem benachbarten Polen bzw. Russland (vgl. Herbert 1986: 21). Ein besonders perfides Beispiel für die Anwendung beider Lösungen findet sich während der nationalsozialistischen Zeit, als ›weiße deutsche Frauen‹ die sich im Krieg befindlichen Männer in nahezu allen Arbeitsbereichen ersetzten und ZwangsarbeiterInnen für die körperlich schwersten und prestigeniedrigsten Arbeiten eingesetzt wurden. Beide Lösungen sind, nicht nur, aber auch für die Pflege zwischen 1950 und 1970 angewandt worden. Mattes verweist etwa darauf, dass das Bundesministerium für Arbeit bereits in den frühen 1950er Jahren eine stärkere Einbeziehung verheirateter Frauen in die Erwerbsarbeit propagierte (vgl. Mattes 2005: 208). In Pflegeberufen war der Personalmangel Ende der 1950er Jahre so groß, dass einzelne Krankenhäuser Stationen schließen oder vorübergehend keine PatientInnen aufnehmen konnten (vgl. Mattes 2005: 217). Die Anwerbung von Pflegepersonal aus dem Ausland sollte diesen Personalmangel ausgleichen. Entsprechende Anwerbeverträge wurden damals – ähnlich wie es heute wieder angedacht wird – insbesondere mit Indien und Südkorea abgeschlossen. Stein macht darauf aufmerksam, dass die Öffnung des Pflegemarktes in den 1960er Jahren für ausländisches Personal zeitlich mit der Öffnung von Pflegeberufen für ›Schwarze deutsche Frauen‹ zusammenfällt. Die klassischen fürsorgerischen Mädchenberufe wie Erzieherin oder Krankenpflegerin erschienen ›weißen deutschen‹ BerufsberaterInnen und LehrerInnen zunächst als ungeeignet für ›Schwarze deutsche Frauen‹, weil die (›weiße‹) Kundschaft berücksichtigt werden müsse (vgl. Stein 2005: 194;

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Lemke Muñiz de Faría 2002: 182). Das ist dasselbe Begründungsmuster, das uns schon in der obigen Interviewsequenz mit Frau Lehmann begegnet ist. In den 1960er Jahren verschob sich die Argumentation ›weißer‹ Berufsberater- und LehrerInnen. ›Schwarze deutsche Frauen und Mädchen‹ erschienen nun ähnlich wie ›weiße Frauen‹ aufgrund ihres ›Geschlechts‹ und der damit konnotierten Eigenschaften wie Mütterlichkeit, Empathie, Hingabe als besonders für Pflege- und Erziehungsberufe geeignet. Dieser geschlechtsspezifische Diskurs greift mit rassifizierenden Zuschreibungsmustern ineinander. So befand die Zeitschrift des Hessischen Jugendrings Wiesbaden in einem 1963 zur Berufseinmündung der ›Mischlingskinder‹ erschienenen Artikel: »[…] auch in dieser Stadt würde es Proteste hageln, wollte der Sohn des Oberstadtsekretärs ein kraushaariges, dunkles Mädchen heiraten. […] Wir können den Mädchen nur empfehlen, Krankenschwester, Kindergärtnerin oder einen ähnlichen Beruf zu wählen; denn in diesen Berufen können sie ihren mütterlichen Neigungen nachgehen, vermögen sie einen Grad von Selbstständigkeit zu erlangen, den die wenigsten dieser Mädchen haben.« (Hessische Jugend 1963; zit. n. Ayim 1997: 99)

In diesem Zitat kommen zweierlei Überzeugungen zum Ausdruck. Zum einen erscheinen Ehen zwischen ›weißen Männern‹ und ›Schwarzen Frauen‹ ob des angeblich zu erwartenden öffentlichen Protests als undenkbar. Diese Überlegung verlagert ähnlich wie die Aussage, ›weißen‹ PatientInnen sei eine ›Schwarze‹ Pflegekraft nicht zuzumuten, eigene rassistische Denkmuster auf eine anonymisierte Masse. Zudem knüpft sie an das kolonial-rassistische, aber auch an das im Nationalsozialismus bestehende ›Mischehenverbot‹ zwischen ›Weißen‹ und ›Schwarzen‹ an,18 indem die Ehe zwischen einem ›weißen Bürgersohn‹ und einer ›Schwarzen deutschen Frau‹ grundsätzlich unvorstellbar scheint. Zum anderen erscheinen ›Schwarze Frauen‹ qua Geschlecht als mütterlich und damit mit einer Eigenschaft versehen, die sie – anders als

 18 ›Mischehenverbote‹ wurden zwischen 1905 und 1908 in verschiedenen ehemaligen Kolonien erlassen, so in ›Deutsch-Ostafrika‹ (heute: Staatsgebiet von Tansania und Teile von Ruanda und Burundi), ›Deutsch-Südwestafrika‹ und Samoa (vgl. z.B. El-Tayeb 2001: 98f). Im Nationalsozialismus waren Ehen zwischen Angehörigen ›verschiedener Rassen‹ im Zuge der sog. Nürnberger Gesetze verboten.

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›weiße Frauen‹ – nur im beruflichen Kontext ausleben könnten. Gewissermaßen als Ausgleich für die qua ›Rasse‹ entgangene Möglichkeit, die ›natürliche Mütterlichkeit‹ in einer eigenen Familie auszuleben, könnten ›Schwarze Frauen‹ durch eine Pflegeausbildung ein hohes Maß an Selbständigkeit erlangen. Der Ausschluss ›Schwarzer Frauen‹ aus Heirat und Mutterschaft legt nahe, dass die Fortpflanzung mit ›Schwarzen‹ in der jungen Bundesrepublik vermieden werden sollte. Gleichzeitig wird ein bipolares Konzept von Mütterlichkeit im Sinne von Fürsorge und Pflege auf der einen und Mutterschaft auf der anderen Seite etabliert. Während Mütterlichkeit als vergeschlechtlichte Eigenschaft ›Schwarzer‹ wie ›weißer Frauen‹ erscheint, die sie für Pflegeberufe prädestiniere, ist die tatsächliche Mutterschaft ausnahmslos ›weißen (verheirateten) Frauen‹ vorbehalten. Mit der Zuschreibung einer qua ›Geschlecht‹ vorhandenden Mütterlichkeit werden ›Schwarze Frauen‹ in das weibliche Kollektiv integriert, von dem sie in anderen (historischen) Arbeitskontexten mittels der Zuschreibung männlich konnotierter Eigenschaften ausgeschlossen wurden. Dies ist ein deutlicher Hinweis auf die Willkürlichkeit, mit der rassifizierte und vergeschlechtlichte Konstruktionen im Allgemeinen sowie berufliche Positionierungsprozesse im Besonderen in kontextspezifischen Machtverhältnissen vorgenommen werden. Ein weiteres Argument für die Ausbildung ›Schwarzer deutscher Frauen‹ in Pflege oder Erziehung war ab den 1950er Jahren die Internationalität dieser Berufe. Insbesondere galten ›Schwarze‹ per se als tropentauglich, weshalb für ›Schwarze deutsche Frauen‹ Tätigkeiten in Pflegeoder Bildungseinrichtungen in sog. Entwicklungsländern angeraten wurden (vgl. Stein 2005: 195). Damit wurde den Frauen erneut, wie Stein konstatiert, die Zuständigkeit für die vermeintlich eigene Gruppe zugewiesen und insofern an koloniale Pflege- und Bildungskonzepte angeschlossen (vgl. Stein 2005: 195). Ferner erfolgt eine Ontologisierung ›Schwarzer‹ sowie deren berufliche Verortung in der vermeintlichen Herkunftsregion. Diese Verortung prägte die Diskussion um die berufliche Bildung ›Schwarzer deutscher‹ Jugendlicher der 1950er und 60er Jahre (vgl. Lemke Muniz de Faría 2001: 187) und findet sich zu Beginn der 1980er Jahre in den ›Rückkehrprogrammen‹ der Bundesregierung für ehemalige ›GastarbeiterInnen‹ wieder. Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) gegenwärtig sowohl die Tradition der Anwerbung asiatischer Frauen und Männer für Pflegetätigkeiten, als auch das Argument einer impliziten Entwicklungshilfe erneut

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aufgreift, afrikanische Länder aber als potentielle Anwerbestaaten gar nicht erwähnt. Im Fokus des BMWi stehen vor allem Pflegefachkräfte aus Indien, China und Vietnam. Sie seien aufgrund der in diesen Ländern traditionellen Achtung alter Menschen, aber auch aufgrund ihrer Bereitschaft zur Mobilität gut für Tätigkeiten in deutschen Altenpflegeeinrichtungen geeignet. So schreiben die AutorInnen des BMWi über potentiell anzuwerbende chinesische PflegerInnen: »[…] das Berufsbild [Altenpflege; Anm. FM] (ist) im Allgemeinen in der chinesischen Gesellschaft als positiv und ehrenhaft angesehen. Hinzu kommt der generelle Respekt gegenüber Senioren in der chinesischen Gesellschaft, der auf eine kollektivistische und kulturell altershierarchische Struktur zurückzuführen ist. […] Chinesen sind zudem für ihre hohe Anpassungsfähigkeit sowie Mobilität bekannt. Diese Eigenschaften liefern gute Voraussetzungen für eine Tätigkeit in der deutschen Pflege. Hemmnisse eines Einsatzes chinesischer Pflegekräfte in Deutschland könnten fehlende Deutschkenntnisse sowie Berührungsängste seitens der deutschen Bevölkerung sein, die jedoch nach Einschätzung von Experten (Umfrage bei Vertretern der Überseechinesengruppen) mittelfristig überwunden werden können.« (BMWi 2012: 36)

›Chinesische‹ Pflegekräfte erscheinen nicht nur qua Kultur (altershierarchische Gesellschaftsstruktur) und Sozialisation (Respekt gegenüber Älteren) als ideale PflegeexpertInnen. Sie werden auch kollektiv als anpassungsfähig und mobil konstruiert. Diese Rassifizierung wendet das koloniale Zuschreibungsmuster asiatischer Unterwürfigkeit in die positiver bewertete Anpassungsfähigkeit und macht ›ChinesInnen‹ qua ›Rasse_Kultur‹ zu geeigneten PflegerInnen in deutschen Altenheimen. In ähnlich reifizierender Weise beurteilt das BMWi indische Pflegekräfte: »Während teils über einen ›Dienst nach Vorschrift‹ durch deutsche Pflegekräfte geklagt wird, zeigen indische Pflegekräfte eine besonders liebe- und würdevolle Zuwendung. Im Arbeitsalltag bleiben indische Ordensschwestern oft auch in Stresssituationen, bspw. im Umgang mit kognitiv eingeschränkten oder gereizten Pflegebedürftigen, ruhiger als deutsche Kollegen. Sie strahlen eine größere Gelassenheit aus. Zudem bauen sie eine hohe emotionale Bindung zu Pflegebedürftigen auf.« (BMWi 2012: 32)

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Im Vergleich zu deutschem Pflegepersonal schreiben die AutorInnen des BMWi indischen Ordensschwestern analog zum oben bereits herausgearbeiteten Zuschreibungsmuster qua ›Geschlecht‹ und ›Rasse_Kultur‹ eine ›besondere Weiblichkeit‹ (liebevoll, würdevoll, stressresistent, gelassen, empathisch) zu. Anders als im kolonialen Diskurs, der negative Eigenschaften der ›Anderen‹ identifizierte, um ihnen auf dieser Grundlage die rangniedrigeren Positionen zuzuweisen, erscheinen ›indische Ordensfrauen‹ hier positiv überhöht und insofern für den deutschen Pflegebereich besser geeignet als inländisches Personal. Eine neue Erscheinung in den Überlegungen des BMWi zur Anwerbung von Pflegepersonal ist – mit Ausnahme der Passage zu indischen Pflegekräften – die sprachlich konsequente Ausrichtung auf Frauen und Männer. Stets ist geschlechtsunspezifisch von ausländischen Pflegefachkräften die Rede. Dies könnte auf die gestiegene Sensibilität für eine geschlechtergerechte Sprache in Politik und Bildung zurückzuführen sein. Plausibel ist jedoch auch die Annahme, dass das BMWi an der gegenwärtigen Diskussion um die Rekrutierung von Männern für Pflegeberufe anknüpft. Unter dem Motto Mehr Männer in die Pflege! sollen gegenwärtig Männer für die Aufnahme einer Pflegeausbildung motiviert werden, um die weiblich Dominanz in Pflegeberufen aufzubrechen und eine geschlechtersensible Pflege realisieren zu können. 19 Auch junge ›geanderte Männer‹ sind in jüngster Zeit als interessante Zielgruppe für Pflegeausbildungen in den Fokus geraten. Das eigens auf diese Zielgruppe zugeschnittene hessische Ausbildungsprojekt »Ausbildung junger Männer mit Migrationshintergrund in der Altenpflege (AjuMa)« setzt an diesen beiden Punkten an und versucht, junge ›geanderte Männer‹ für eine Ausbildungsaufnahme in der Altenpflege zu gewinnen (vgl. AjuMa [o.J.]). Betrachtet man die Argumente, mit denen das Projekt ›geanderte Männer‹ bewirbt, so lässt sich feststellen, dass soziale Eigenschaften wie Fürsorglichkeit, Liebe, Freundlichkeit keine Erwähnung finden. Stattdessen wird sprachliches, kulturelles und religiöses Wissen betont, das ›geanderte Männer‹ in die Pflegeeinrichtungen für die Umsetzung einer

 19 Argumentiert wird in diesem Zusammenhang vor allem mit den Wünschen der zu Pflegenden nach Pflegepersonal desselben (oder des anderen) Geschlechts. Ähnlich wie in der Diskussion um die Erhöhung des Männeranteils in der frühkindlichen Erziehung wird zudem die Bedeutung von männlichem Pflegepersonal für männliche Patienten betont (vgl. z.B. Positionspapier zum Thema »Männer und Pflege« der EKD 2012).

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kultursensiblen Pflege mitbringen würden (vgl. ebd.). ›Geanderte Männer‹ werden somit nicht vordergründig mittels einer ›kulturbedingten‹ Fürsorglichkeit gegenüber alten oder kranken Menschen für Pflegeberufe angeworben. Vielmehr wird auf ›kulturelles Wissen‹ abgestellt, das ›Geanderten‹ qua ›Kultur‹ bzw. ›Migrationserfahrung‹ zugeschrieben wird.20 Das historische Muster, den anzuwerbenden Fachkräften aus dem Ausland positive oder negative Eigenschaften zuzuschreiben, die deren angedachte Positionierung rechtfertigen und ›Geanderte‹ quasi von Natur oder Haus aus als geeignet für bestimmte Tätigkeiten scheinen lassen, wird vom BMWi indes unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit weitergeführt. Es bricht allerdings mit der für die historischen Anwerbeprozesse zentralen Rückkehridee. Gleichwohl wird eine potentielle Rückkehr der anzuwerbenden Pflegekräfte in Erwägung gezogen: »Schließlich kann Migration heute nicht mehr ausschließlich auf dauerhafte Zuwanderung in ein bestimmtes Land reduziert werden. Die Lebensentwürfe vieler Migranten sehen zahlreiche vorübergehende Auslandsaufenthalte, die Rückkehr oder die Weiterwanderung in andere Staaten vor. Migration muss deshalb in der Pflege als Mobilität begriffen werden. Wandernde Pflegekräfte tragen das im Ausland erworbene Wissen weiter. Zurückkehrende Pflegekräfte können es in der Heimat verbreiten. In Bezug auf die Migration außereuropäischer Pflegekräfte nach Deutschland bedeutet dies: Geriatrisches und altenpflegerisches Know-how, das in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern vor dem Hintergrund der demografischen und sozialen Entwicklungen nötig, gleichzeitig aber rar ist, könnte in die Herkunftsstaaten transferiert werden. Das entwicklungspolitische Potenzial von Migrationspartnerschaften zwischen Deutschland und außereuropäischen Staaten in der Pflege erscheint dadurch groß.« (BMWi 2012: 37)

Im Unterschied zu den 1950er und 1960er Jahren geht das BMWi nicht von einer gesetzlich geregelten vorübergehenden Arbeitsaufnahme in der Bundesrepublik aus. Stattdessen verschiebt sich der Diskurs auf die Weiterwanderung oder freiwillige Rückkehr nach einer unbestimmt

 20 Zur Problematik, dass ›Geanderte‹ weder Wissen um ›Kulturen‹ und Sprachen per se in die Arbeitswelt mitbringen, noch dieses Wissen von Einstellenden durchgängig als ›gut‹ oder ›nützlich‹ bewertet wird, siehe die ausführliche Darstellung in Meyer (2012: 258-290).

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langen Aufenthaltsdauer in der BRD. Die Annahme, Pflegepersonal könnte nach einer gewissen Zeit (re-)migrieren, wird von den AutorInnen der BMWi-Studie auch als positiver entwicklungspolitischer Aspekt gedeutet: Zurückkehrende Pflegekräfte würden Fachwissen in ihre Herkunftsländer transferieren und damit einen Beitrag zur Entwicklung ihrer Länder im pflegerisch-gesundheitlichen Bereich leisten. Dieses Argument führt seinerseits die Überlegungen zur Berufseinmündung für junge ›Schwarze Deutsche‹ aus den 1950er und 1960er Jahren, die damals u.a. im Pflegebereich ausgebildet werden sollten, um sodann in sog. Entwicklungsländern zu arbeiten, in einer Verschiebung fort. Die Anwerbung ausländischer Fachkräfte wird nicht mehr wie die Ausbildung ›Schwarzer deutscher‹ Jugendlicher in den 1950er und 1960er Jahren per se als entwicklungspolitischer Beitrag verstanden, durch den die ›Geanderten‹ Deutschland verlassen sollen. Vielmehr erscheint der Fall der Rückkehr mit dem positiven Effekt der Entwicklungshilfe verbunden, um den möglichen kostspieligen Verlust der angeworbenen Arbeitskräfte zu mindern. Gleichzeitig hält die Verknüpfung von Entwicklungshilfe und Arbeitskraftanwerbung aus dem außereuropäischen Ausland die Option auf ›Rückführung‹ ins Herkunftsland, etwa im Fall einer Änderung in den Arbeitsmarktverhältnissen, offen und verleiht ihr einen humaneren Anstrich. Insbesondere die explizite Erwähnung der Migrationspartnerschaften zwischen Deutschland und außereuropäischen Staaten lässt darauf schließen, dass eine Rückkehr ins Herkunftsland nicht nur als freiwillige Entscheidung Einzelner, sondern im Bedarfsfall als zwischenstaatlich organisierte Zwangsmaßnahme gedacht wird. Migrations- oder Mobilitätspartnerschaften zwischen EU- und sog. Drittstaaten wurden insbesondere im Zuge der deutsch-französischen Initiative für eine neue europäische Migrationspolitik entwickelt (vgl. proasyl 2006: 4). Sie sehen unter der Bedingung, dass die Drittstaaten ihre illegalisiert in die EU eingewanderten StaatsbürgerInnen ›zurücknehmen‹ Quoten für eine gesteuerte, zirkuläre Migration aus den beteiligten Drittstaaten in die EU vor. Dieses System soll den EU-Partnern benötigte (qualifizierte) Arbeitskräfte und den Drittländern »positive Entwicklungseffekte« (Schwiertz 2011: 146) verschaffen. Zugleich soll mittels des Partnerschaftsabkommens die illegalisierte Einwanderung verringert bzw. durch entsprechende ›Rücknahmeabkommen‹ verhindert werden (vgl. Schwiertz 2011: 144-158). Die vom BMWi lancierte Strategie der Anwerbung (und Weiterbildung) ›asiatischer‹ Pflegefachkräfte steht inso-

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fern vermutlich auch im Kontext der europäischen Strategien zur Grenzsicherung und Migrationsverhinderung. Die hier analysierte Zuschreibungspraxis steht somit in direkter Verbindung mit dem Bedarf an Arbeitskräften und mit der herrschenden Migrationspolitik. Ob die anvisierte Anwerbung tatsächlich erfolgt und wie sie in die aktuellen Grenzregime der EU einzuordnen ist, muss die Zukunft zeigen.

F AZIT Ausgangspunkt dieses Beitrags war die Annahme einer diskursiven Kontinuität kolonialer Denkmuster in der Zuschreibungspraxis gegenüber ›geanderten Frauen‹ in Deutschland. Um der Frage nach einer ReEtablierung hierarchischer Gesellschaftsstrukturen nachzugehen, sind wir im ersten Teil des Beitrags auf die kontextspezifische Entstehung von Herrschafts- und Machtverhältnissen im kolonialen Raum eingegangen. Wir haben analytisch gezeigt, wie die koloniale Zuschreibungspraxis in der Verflechtung von ›Rasse_Klasse_Geschlecht‹ Konturen annahm und dennoch stets flexibel gehalten wurde. Die gesellschaftliche Position und Partizipation insbesondere von kolonialisierten Frauen steht strukturell in direkter Verbindung mit rassifizierenden_vergeschlechtlichenden_klassifizierenden und rassistischen_sexistischen_klassistischen Zuschreibungsmustern. Innerhalb der historischen Forschung zur Entwicklung der Krankenpflege in den deutschen Kolonien zeigt sich bezüglich der Beschäftigung und Ausbildung ›Schwarzer‹ Pflegekräfte eine Leerstelle. ›Schwarze‹ erscheinen bestenfalls als Randfiguren, obwohl ihnen i.d.R. die gesamte pflegerische Versorgung ›Schwarzer‹ PatientInnen oblag und obwohl sie die schwersten und unangenehmsten Arbeiten in den Krankenstationen für ›weiße‹ PatientInnen durchführten. In der aufklärerischen wie in der kolonialen Hierarchie standen ›Schwarze‹ auf den untersten Positionen. In der kolonialen Logik mussten sie nicht erwähnt werden, da sie ›nur‹ die SklavInnen oder DienstbotInnen waren. Aus einer transkulturellen Perspektive gesehen sind für die zukünftige kolonialhistorische Forschung der deutschen Krankenpflege zwei zentrale Fragen zu untersuchen: die Bearbeitung der Rolle ›Schwarzer‹ Heilerinnen und heilkundigen Frauen und deren Wissen sowie die Frage nach der Anwesenheit auszubildender Pflegerinnen aus den Kolonien im Kaiserreich. So gesehen müssen auch die besonderen gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnisse im Kaiserreich beleuchtet werden. Im gegenwärti-

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gen Kontext re-etablieren sich diese hierarchischen Strukturen wie sich anhand der unterschiedlichen Positionierungen von ›Schwarzen‹, ›of Color‹ und ›weißen Frauen‹ in Pflegeberufen zeigen lässt. Während ›weiße Frauen‹ möglichst versuchen, prestigereichere Berufe zu wählen oder aber in Leitungsfunktionen aufzusteigen, geraten ›of Color geanderte Frauen‹ aufgrund der ihnen qua ›Rasse_Kultur_Geschlecht‹ zugeschriebenen ›besonderen‹ Weiblichkeit als fürsorgliches und gegenüber alten Menschen freundliches Pflegepersonal in den Blick. ›Schwarze Frauen‹ erscheinen gar nicht; sie bleiben – ähnlich wie zu Kolonialzeiten – de-thematisiert. Im Spiegel der analysierten Interviews verweisen ›weiße‹ Einstellende, wenn sie ›Schwarze‹ im Kontext von Pflegeberufen benennen, auf Putzjobs und damit auf die ›Hilfstätigkeiten‹, die ihnen schon im kolonialen Pflegesystem oblagen: Wäsche waschen, Putzen, Aufräumen, Kochen. Die Platzierung von ›Schwarzen‹ auf den untersten gesellschaftlichen Hierarchiepositionen setzt sich somit fort. Gleichwohl werden ›Schwarze‹ nicht vollkommen von Pflegetätigkeiten ausgeschlossen. Sie scheinen, wie die Diskursverschiebung in den 1950er und 1960er Jahren deutlich macht, dann in den Blick ›weißer‹ Einstellender bzw. BerufsberaterInnen zu geraten, wenn ein akuter Fachkräftemangel besteht. In diesem Zusammenhang lässt sich eine Verschiebung der Zuschreibungen feststellen. Während ›Weiße‹ ›Schwarzen Frauen‹ eine Weiblichkeit implizit absprechen, wenn es darum geht, deren Eignung für schwere körperliche Arbeiten zu rechtfertigen, wird die ›Mütterlichkeit‹ ›Schwarzer Frauen‹ angeführt, sobald eine Legitimation für deren Rekrutierung in den arbeitsintensiven, von gut ausgebildeten ›weißen Frauen‹ zunehmend verlassenen, weiblich konnotierten Berufen benötigt wird. Die Zuschreibung von Weiblichkeit oder auch Mütterlichkeit auf ›Schwarze Frauen‹ ist somit willkürlich und deutlich an kolonialhistorische, aber auch arbeitsmarktpolitische Entwicklungen geknüpft. Es ist bezeichnend, dass ›Schwarze Frauen‹ noch in den 1950er und 1960er Jahren vom Konzept der tatsächlichen Mutterschaft ausgeschlossen waren. Sie erschienen gerade deshalb für die Pflege geeignet, weil sie – so der damalige Diskurs – aufgrund ihrer ›Rasse‹ in Deutschland keinen Heiratspartner finden würden und folglich auch nicht Mutter werden könnten. Um die Frauen vermeintlich inne wohnende Mütterlichkeit ausleben zu können, sollten ›Schwarze deutsche Frauen‹ als Pflegerinnen tätig werden. In dieser Zuschreibung setzt sich der koloniale Ausschluss ›Schwarzer Frauen‹ vom ›weiß‹ imaginierten bürgerlichen Ideal der verheirateten Mutter und Hausfrau fort. Gleichzeitig werden ›Schwarze

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Frauen‹ über die Zuschreibung einer per Geschlechtszugehörigkeit vorhandenen Mütterlichkeit aber in das weibliche Kollektiv aufgenommen. In den Interviews lässt sich zudem eine diskursive Fortsetzung der Rassentrennung erkennen und zwar in dem Moment, in dem ›weiße Einstellende‹ ›Schwarzes‹ Pflegepersonal potentiell als abschreckend und verstörend für ihre ›weiße‹ Klientel einschätzen und ›of Color Geanderte‹ – insbesondere aber ›of Color Frauen‹ – aufgrund der ihnen zugeschriebenen Sprach- und Kulturkenntnisse für die Pflege der jeweils eigenen ›Kulturgruppe‹ einstellen wollen. Diese Überlegung folgt dem auf der Rassentrennung basierenden kolonialen Muster, wonach Angehörige verschiedener ›Rassen‹ möglichst wenig gemeinsame Berührungspunkte haben sollten. Zwar wird heute nicht mehr mit ›Rassentrennnung‹ argumentiert, doch ist der Effekt, dass ›Geanderte‹ die ›besondere‹ Pflege ›geanderter‹ PatientInnen übernehmen sollen, ähnlich: ›Geanderte‹ werden auf ihre vermeintliche Gruppe reduziert. Insbesondere ›Schwarzen‹ und ›geanderten Frauen‹ werden so weiterhin gesellschaftliche Positionen jenseits der machtvoll konstruierten ›weißen‹ Norm zugewiesen.

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Bevölkerung, Krise, Nation Koloniale Kontinuitäten in demografischen Fertilitätsdebatten

F RANZISKA S CHUTZBACH »The reproduction of life has always been a central question in nation-states, concerning which kinds of families, and particularly which kinds of mothers, are suitable to raise new generations. The desirable form of the nation is shaped in discourses on reproduction. Who can reproduce the nation? What differences are acceptable in the nation?« (TUORI 2009: 123).

Demografische Veränderungen sind in den letzten Jahren oft als die größte Herausforderung für Europa diskutiert worden: die niedrigen Geburtenraten und die Überalterung gelten als Vorboten eines »Untergangs«, Europa erscheint als eine Nation1, die sich nicht länger reproduzieren will. Dieses Katastrophenszenario2 hat erstens zahlreiche politi-

 1

Im Anschluss an Arndt (2005) verstehe ich Europa als Metapher für Nation. Vgl. dazu auch Anderson (2005), der Nation als ein kulturelles gemeinschaftsbildendes System begreift: »Nation ist eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän« (Anderson 2005: 14).

2

Ich verstehe demografische Szenarien mit Rainer (2005: 11-17) als wissenschaftlich konstituiertes Phänomen und nicht als objektive Fakten – wenn

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sche Debatten und Strategien im Umgang mit Überalterung oder sinkenden Geburtenraten hervorgebracht. Zweitens hat die AussterbensPhantasie den Effekt, dass auch die Trope eines bedrohlichen überbevölkerten globalen Südens wieder verstärkt mobilisiert wurde. In den europäischen demografischen Krisendiskursen stehen drastische Maßnahmen wie Abtreibungsverbote oder Zwangssterilisationen zwar nicht länger auf der politischen Agenda. Auch koloniale Vorstellungen von außereuropäischen ›Wilden‹, die sich ungezügelt fortpflanzen und die Fortexistenz Europas bedrohen, kommen in den offiziellen Politiken nicht mehr vor. Und doch: Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass Fortpflanzung nach wie vor politisch reguliert wird. Und zwar nicht nur im Feld familienpolitischer Interventionen (vgl. dazu Schultz 2012; Krause 2001; Kahlert 2007), sondern auch im Rahmen von Gesundheitspolitiken. Am Beispiel von zwei WHO Programmatiken (Entre Nous 2006; WHO Agenda 2001) und der reproduktionsmedizinischen Expertise Zukunft mit Kindern (2011) möchte ich zeigen, wie an der Schnittstelle von Gesundheit, Medizin und Bevölkerung reproduktive Verhaltensweisen regulierbar gemacht werden. Dabei werde ich mich nicht auf die pränataldiagnostischen neo-eugenischen Wirkungsweisen dieses Feldes konzentrieren, 3 sondern die Aufmerksamkeit auf bislang eher unterbeleuchtete bevölkerungspolitische Implikationen richten: So gehe ich erstens der Frage nach, in welcher Weise die Fertilitätsdiskurse die Figur eines (hetero-)normativen, weiblichen und genuin europäischen ›Gattungs-Auftrags‹ re-installieren.4 Die Diskurse verweisen einerseits auf eine emanzipatorische Prämisse der Gesundheit und der individuellen Entscheidungsfreiheit, gleichzeitig werden dabei normative Geschlechter und Begehrensweisen durch die Hintertür konstituiert. In einem weiteren

 ihnen auch fraglos Realität zukommt. D.h. sie erhalten Bedeutung und Wirksamkeit im Rahmen von gesellschaftlichen Kollektivsymboliken wie z.B. Innen und Außen. 3

Vgl. dazu z.B. Lemke (2000).

4

Die Konstruktion von (biologischer) Weiblichkeit als bewahrendes und konstitutives Element der Nationalkultur ist in ihren verschiedenen Facetten bereits beleuchtet worden, vgl. z.B. Yuval-Davis (1997); zur Verbindung von Mutterschaft, Gattung und Nation vgl. Schuhmann (2004); Porter (1999); Toppe (1998); Sarasin (2001). Zum inhärenten Zusammenhang von Mutterschaft, Nation und ›Race‹ vgl. McClintock (1995, 1997); Hill-Collins (2000); Davis (1981).

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Schritt möchte ich argumentieren, dass der Diskurs des ›GattungsAuftrags‹ auf die koloniale Figur einer krisenhaften Bevölkerung verweist: Meine These ist, dass das Szenario der ›europäischen‹ Unfruchtbarkeit seine katastrophische Bedeutung im Rahmen eines globalen und hegemonialen Narrativs erhält, das dem ›unterbevölkerten‹ Europa eine drohende Überbevölkerung ›da unten im Süden‹ gegenüberstellt (vgl. Rainer 2005: 183). Wie ich im Anschluss an Tellmann (2013; 2010) zu zeigen versuche, ist die Konzeptualisierung von Bevölkerung als Krise und/oder Drohung eine koloniale Figur, die eine grundlegende Hierarchisierung des globalen Lebens mobilisiert. Im letzten Teil geht es um die Frage, in welcher Weise sich die Hierarchisierung des Lebens nicht nur im globalen Verhältnis, sondern auch innerhalb des europäischen Raumes zeigt: Die Fertilitätsdiskurse imaginieren – so meine Analyse – bestimmte Bevölkerungsgruppen als »future generations« (Ahmed 2004: 145) und andere nicht. Die Programmatiken der reproduktiven Gesundheit enthalten – nebst ihrem emanzipatorischen Anspruch, die sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung von MigrantInnen zu fördern – einen ethnisierenden Bias, der MigrantInnen und Flüchtlinge in Sachen Sexualität und Fortpflanzung als rückschrittlich und ausnahmslos heterosexuell positioniert.5 Mit El-Tayeb (2011) und Tuori (2009) möchte ich argumentieren, dass diese Positionierung von MigrantInnen als ›traditionell‹ und/oder ›konservativ‹ einen konstituierenden Aspekt von Nation darstellt mit dem festgelegt wird, wer als »suitable reproducers of the nation« (Tuori 2009: 148) in Frage kommt und wer nicht. Mein Anliegen ist es, die multidimensionale Verwobenheit von Vergeschlechtlichung, kolonialen Konzepten der Bevölkerung und Prozessen der Ethnisierung herauszuarbeiten. Teilweise wird jedoch die interdependente Bezogenheit dieser Ebenen zugunsten sprachlicher und formaler Strukturierung analytisch getrennt werden müssen.

1. G ESUNDHEIT

UND

F ORTPFLANZUNG

Im Folgenden möchte ich zunächst das internationale Diskursfeld der reproduktiven Gesundheit sowie seine bevölkerungspolitischen Implikationen und Entwicklungen historisch skizzieren. Sexualität, Fortpflan-

 5

Viele Menschen sind auf diese Weise doppelt unintelligibel: als Migrantinnen und bspw. als Lesben, vgl. dazu Charania (2005) und Lewis (2006).

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zung und Familienplanung standen nicht immer unter der Expertise von Gesundheit. Im 18. Jh. waren diese Bereiche der Bevölkerungstheorie zugeordnet, welche wiederum im Feld der Ökonomie angesiedelt war (Bashford 2004; 2006). Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh. wurde Familienplanung allmählich von internationalen Gesundheitspolitiken als Gesundheits-Thema übernommen.6 Die Verschiebung der Familienplanung vom ökonomischen in den gesundheitspolitischen Bereich fand ihre Zuspitzung in der Deklaration der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte an der UN-Konferenz von Kairo im Jahr 1994.7 Auf der Konferenz von Kairo wurden bevölkerungspolitische Zwangsmaßnahmen offiziell abgeschafft, Sexualität und Fortpflanzung wurden von einem internationalen Netzwerk aus Bevölkerungs- und Entwicklungsorganisationen – bekannt als population establishment8 – unter das Paradigma der Gesundheit gestellt und als menschenrechtsbasierte Politik der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte definiert. Damit wandten sich die internationalen AkteurInnen offiziell von bevölkerungspolitischen Interventionen ab und verpflichteten sich dem Prinzip der Gesundheitsförderung (Müttergesundheit, Zugang zu Verhütungsmitteln, AIDS-Prävention usw.).9 Von nun an wollte man die Gesundheit der

 6

Die WHO hat offiziell erst am 21. World Health Assembly 1968 Familienplanung als »important component of basic health services« begründet, vgl. Bashford (2004, 2006). Diese gesundheitliche Unterstreichung wurde dann mit Kairo 1994 paradigmatisch, vgl. Schultz (2006).

7

Das Programme of Action of the United Nations International Conference on Population & Development formuliert Einschätzungen und Empfehlungen zu Themen wie Müttersterblichkeit, AIDS, Schwangerschaft, Verhütung, Geschlechtskrankheiten, Abtreibung, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung, Teenage Schwangerschaft usw. Die Agenda gilt als globale Richtlinie. Die Länder werden jedoch dazu angehalten, die Direktiven für ihre spezifische Situation und Bedürfnisse anzupassen. In diesem Sinne hat die WHO Europa ihre Direktiven für den europäischen Raum spezifiziert (vgl. Schutzbach 2013).

8

Dazu gehören unter anderen: International Planned Parenthood Federation (IPPF), United Nations Population Fund (UNFPA), die WHO, US-AID, USEntwicklungsbehörde und die Weltbank.

9

Die Entwicklung zum Paradigma der Gesundheitsförderung wird im Anschluss an Foucault (2004) als Resultat eines allgemeinen Prozesses der Medikalisierung eingeschätzt (vgl. dazu Schultz 2006, 2003). Immer mehr Le-

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Frauen fördern, statt deren Fortpflanzungsverhalten zu kontrollieren. Susanne Schultz (2006) zeigt jedoch in der (bislang einzigen) umfassenden Analyse, dass im Zuge dieser paradigmatischen Verschiebung die geburtensteuernden Makro-Ziele nicht abgeschafft, sondern lediglich unsichtbar wurden: Am Beispiel von Entwicklungsprojekten im globalen Süden wie der Safe Motherhood Initiative zeigt sie, dass das Paradigma der Gesundheitsförderung bevölkerungspolitische Interventionen nun mit Hilfe einer individualisierenden Anrufung gesunder (reproduktiver) Subjektivierungsweisen legitimierte – das heißt Geburten senkende Direktiven wurden mit Gesundheitsförderung begründet.10 So begrüßenswert die Abschaffung von Zwangsmaßnahmen ist, und so sehr die einzelnen Programme in vielerlei Hinsicht wertvolle Gesundheitsversorgung bereitstellen oder mehr Selbstbestimmung ermöglichen: Problematisch bleibt, wenn (Frauen-)Gesundheit oder reproduktive Rechte in den Dienst geburtensteuernder Ziele gestellt werden. Christa Wichterich (1994) kritisiert, dass der von vielen NGOs als feministisch deklarierte Fokus auf die (»Dritte-Welt-«)Frau sich mit der Forderung an Frauen richtete, bestimmte reproduktive (westliche) Verhaltensweisen zu ›lernen‹. Selbstbestimmung erschien zunehmend als etwas, das den »DritteWelt-Frauen« erst durch die Programme beigebracht werden sollte. Anders gesagt: Die individualisierende Tendenz der neuen Programmatik

 bensbereiche – wie Sexualität und Fortpflanzung – geraten unter den Blick medizinischer Wissensformen. Der »health turn« fällt mit dem Erfolg neoliberaler Formationen zusammen, in denen Menschen nicht nur als selbstbestimmte, sondern auch als selbstverantwortliche Subjekte adressiert werden. Gouvernementalitätstheoretische Gesundheitsanalysen wie jene von Bröckling/Krasmann/Lemke (2000); Greco (2000) und Petersen/Lupton (1996) thematisieren die Propagierung von individueller Machbarkeit als eine Regierungs-Technologie, mit der Individuen steuernd auf sich selbst einwirken. Unter der Prämisse der Prävention sollen Menschen sich permanent optimieren und anpassen. Die löbliche Idee der Selbsthilfe und des Empowerments weist demnach widersprüchliche Element auf: Petersen/Lupton (1996) zeigen, dass Gesundheitsförderung einerseits sozialpolitisch ausgerichtet ist, gleichzeitig aber auch eine neoliberale Programmatik aktiver, eigenverantwortlicher Individuen installiert, deren Verhaltensweisen auf der Grundlage von Risikokalkulationen regierbar werden. 10 Zur kritischen Einschätzung der Prävention in der Bekämpfung der Müttersterblichkeit vgl. auch Berer/Ravindran (2000).

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delegierte globale und lokale sozioökonomische Probleme in die reproduktiven Verhaltensweisen der (weiblichen) Individuen – Unterstützungsformen wie Gesundheitsversorgung, der Bau von Krankenhäusern usw. gerieten unter dem Paradigma der Prävention in den Hintergrund. Die Kairo-Kritikerinnen zeigten außerdem, dass die Politiken der reproduktiven Frauengesundheit im globalen Süden nach wie vor im Dienst eines antinatalistischen Bias standen und die ›Dritte Welt‹ als übervölkert imaginierten. Die internationale Agenda der sexuellen und reproduktiven Gesundheit wurde im Jahr 2001 von der WHO Europa für den europäischen Raum spezifiziert. Dieser Transfer ist bislang kaum erforscht worden. Erste Einschätzungen (Schutzbach 2013) zeigen jedoch: Auch die europäischen Diskurse verstetigten das Paradigma der individuellen Gesundheit und der Rechte – und verschalteten sich gleichzeitig mit einer biopolitischen Konfiguration, in der Gesundheit und Gleichberechtigung von Frauen mit einem Fertilitäts-Soll verbunden wurden. Anders als in den Entwicklungsdiskursen wurde reproduktive Gesundheit im europäischen Raum mit dem Szenario des Geburtenrückgangs und der bedrohten Zukunft Europas verknüpft. Besonders die Verschaltung von reproduktiver Gesundheit mit dem Feld der Reproduktionsmedizin brachte im europäischen Raum auch einen Diskurs über die reproduktionstechnologische Lösung der demografischen Krise hervor. In ihrer Broschüre Entre Nous (2006: 3) mit dem bezeichnenden Titel Low Fertility – The Future of Europe?11 fragt die WHO Europa: »How important are these international agreements as well as the goal to achieve universal access to reproductive health services for the countries in the European Region of WHO, where more than half of the Member States have low fertility rates and a negative population growth?« Die ExpertInnen der WHO Europa geben die Antwort selbst, indem sie ihre Aufklärungspolitik als Chance be-

 11 Entre Nous ist ein jährlich erscheinendes Themenheft der WHO Europa, in der WHO-ProtagonistInnen sowie ExpertInnen aus verschiedenen Gesundheitsbereichen Einschätzungen und Empfehlungen zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit an Regierungen und NGOs im europäischen Raum abgeben. In den Broschüren wird nicht immer deutlich, ob die WHO alle Positionen der Expertinnen teilt – deshalb kann bei den Broschüren nicht von der Position der WHO Europa gesprochen werden. Vielmehr handelt es sich um ein Diskursfeld, das die WHO, aber auch andere ProtagonistInnen, maßgeblich mitgestalten.

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zeichnen, die reproduktiven Verhaltensweisen positiv zu beeinflussen: »Information and knowledge increases the possibilities of making informed choices and preventing mistakes in reproductive behaviour that may have long lasting consequences« (ebd.). Die WHO Europa lässt ExpertInnen (ReproduktionsmedizinerInnen, DemografInnen usw.) zu Wort kommen, die die Förderung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und die Rolle der Reproduktionsmedizin als Mittel gegen die demografische Krise in Europa einschätzen sollen: »We have invited authors, specialists in this field from academic institutions, professional associations and UN agencies to discuss the role of the health care services in increasing the birth rates« (Entre Nous 2006: 3). Die beiden ReproduktionsmedizinerInnen Nygren und Lazdane kommen in der Broschüre zu dem Schluss: »Fertility healthcare is part of the actions to increase the fertility of the population and consists of prophylactic measures and available and effective infertility treatment« (ebd. 11). Die Frage der Gesundheit gerät hier zu einer Frage nach der optimalen (weiblichen) Fertilitätsrate für die reproduktive Zukunft Europas. Dabei ist das Diskursfeld durchaus ambivalent: Die WHO diskutiert einerseits ein breites Feld sozioökonomischer- und struktureller Faktoren von Geburtenraten und Gesundheit – besonders für die Gesundheit von Frauen. Gleichzeitig installiert sie eine stark individualisierende Perspektive auf reproduktive Verhaltensweisen. Proklamiert wird eine Art (weiblicher) reproduktiver Homo Oeconomicus, eine Figur der planenden, emanzipierten und gesundheitlichen, sprich: reproduktiven Selbstsorge. In ihrer Agenda aus dem Jahr 2001 formuliert die WHO Europa: »People should be enabled, through information and education, to acquire and maintain behaviour that promotes their own reproductive health« (WHO Agenda 2001: 16). Sexualität und Fortpflanzung erscheinen als Frage eines individuellen Gesundheitsmanagements, reproduktive Verhaltensweisen dürfen frei und selbstbestimmt sein, sofern sie auf einem bestimmten Wissen basieren, mit dem eine optimale Gesundheit erreicht werden soll. Als ein Ziel formuliert die WHO Europa »[…] to increase the knowledge of individuals and couples on their right to make free and informed choices on the number and timing of children and to promote the goal of every child being a wanted child« (ebd. 14). Selbstbestimmung und individuelle Entscheidungsfreiheit werden – wie die Gouvernementalitätsstudien (vgl. Lemke 2000) bereits für viele sozial- und gesundheitspolitische Felder gezeigt haben – zu einer programmatischen Anrufung, in der Individuen sich richtig entscheiden müssen, im Dienst

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ihrer eigenen Kinder, ihrer Gesundheit und einer fruchtbaren (europäischen) Zukunft. Diese Verschränkung von Gesundheit, Demografie und optimaler (weiblicher) Fertilität ist besonders deutlich in reproduktionsmedizinischen Expertisen. So haben sich in den letzten Jahren im Rahmen von medizinischer Demografie, Biodemografie und Reproduktionsmedizin Forschungsprojekte und Forschungsgruppen gebildet, die Titel tragen wie: »Demographische Analyse der Fertilitätsentwicklung«, »Medizinische und biologische Aspekte der Fertilität«, »Reproduktionsmedizin und Fertilität« oder »Male reproductive health«.12 Exemplarisch für die Verschaltung von Demografie und Gesundheit ist auch die interdisziplinäre Forschungsgruppe Zukunft mit Kindern. 13 Ihre Expertise (Zukunft mit Kindern 2011) kann als beispielhaft betrachtet werden und ich werde deshalb im folgenden Abschnitt darauf eingehen.

2. G ATTUNGSAUFTRAG

UND

N ATION

Die Forschungsgruppe Zukunft mit Kindern hat das erklärte Ziel, beratende Empfehlungen zum Thema Fertilität für Politik und Öffentlichkeit abzugeben (vgl. Beier 2011: 88). Bereits das Editorial verweist auf die vergeschlechtlichende Konfiguration der Fortpflanzung:

 12 Im Rahmen der Unfruchtbarkeits-Debatten werden auch Männer – die sonst kaum Thema der reproduktiven Gesundheit sind – relevant: Ihr Sexualverhalten wird besonders im Bereich der Geschlechtskrankheiten und der zunehmenden Unfruchtbarkeit problematisiert (Nygren/Lazdane 2006: 11; Botev 2006: 6). Eine Analyse der Rolle von Männlichkeit kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. 13 Die Forschungsgruppe ist ein Zusammenschluss von ForscherInnen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) und der Nationalen Akademie der Wissenschaften, Leopoldina und befasst sich mit Fertilität und gesellschaftlicher Entwicklung. Das Projekt erforscht die Situation in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Forschungsschwerpunkte teilen sich auf in: «Fertilität und Familienpolitik«, »Demographische Analyse der Fertilitätsentwicklung«, »Medizinische und biologische Aspekte der Fertilität« sowie »Sozialwissenschaftliche Grundlagen der Fertilität«, vgl. Homepage http://www.zukunft-mit-kindern.eu (03.04.2013).

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»Fortpflanzung und Sexualität gehören zu den besonders interessanten Themen von Jugendlichen in der Zeit der Pubertät. Mädchen interessieren sich besonders auch für die biologischen Gegebenheiten des Monatszyklus und der Menstruation sowie die damit verbundene Realisierung eines Kinderwunsches […]. Diese besondere Aufmerksamkeit der Jugendlichen sollte […] genutzt werden, um gerade jungen Mädchen ein umfassendes Bewusstsein für ihre Fähigkeit zu vermitteln, Kinder bekommen zu können und so dazu beizutragen, den eigenen Körper kennen und schätzen zu lernen. Unverzichtbar sind auch die Kenntnisse zur hormonellen Kontrazeption und zu den die Fruchtbarkeit gefährdenden sexuell übertragbaren Krankheiten, damit die jungen Mädchen ihren Körper schützen können und die individuelle Fruchtbarkeit nicht schon auf der Wissensebene scheitert.« (Gille zitiert nach Beier 2011: 89)

Es wird deutlich, dass Fragen des Körpers, der Fruchtbarkeit aber auch der Verhütung Mädchensache sind, anders gesagt: Weibliche Körpermöglichkeiten werden mit reproduktiven Lebensweisen gleichgesetzt, denn Mädchen sind gemäß ExpertInnen in besonderem Maße auf die biologischen Gegebenheiten ihrer Körper verwiesen. Daraus wird auch abgeleitet, dass ein Kinderwunsch realisiert werden muss. Mädchenkörper werden zudem als besonders fragil und ›gefährdet‹ dargestellt – und zwar deshalb, weil sie Kinder bekommen können. Im Verlauf der Expertise wird zwar betont, dass auch sozioökonomische Dimensionen Fruchtbarkeitsraten beeinflussen, die Expertisen fokussieren jedoch auf die individuellen Verhaltensweisen von Mädchen und fragen, wie diese dazu gebracht werden können, sich für ihren reproduktiven Körper zu interessieren. Neben der Sorge um die zukünftige Fruchtbarkeit von Jugendlichen diskutieren die ExpertInnen auch das ›Problem‹ der Spätgebärenden (vgl. Beier 2011: 88-89 und Ritzinger/Dudenhausen/Holzgreve 2011: 112-122): »Leider ist das Allgemeinwissen über die biologische Uhr der Fruchtbarkeit und die Limitierung der Möglichkeiten, sie auf eigenen Wunsch zu verstellen, in unserer Gesellschaft […] völlig unzureichend« (Beier 2011: 89). In einem weiteren Schritt wird die Rolle der Reproduktionsmedizin ausgelotet: »Frauen, die über 35 Jahre alt sind, können heute […] die Hilfe der Reproduktionsmedizin in Anspruch nehmen, um mit hoher Wahrscheinlichkeit zu konzipieren« (ebd. 89). Trotz oder eher gerade im Zuge dieser technologischen Verheißung richtet sich das Augenmerk auf die Verhaltensweisen von Frauen und Mädchen. Denn Technologien allein – so die Expertise – reichen nicht aus. Es braucht auch eine Optimierung der generativen Lebensweisen (»Risikominimie-

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rung«, wie es anderer Stelle heißt).14 Die ExpertInnen empfehlen eine bessere Aufklärung von Mädchen und Frauen, damit diese die Risiken später Geburten kennen und optimal managen können, denn: »Gesunde Frauen im Lebensalter über 35 Jahren und Frauen, bei denen Risiken rechtzeitig erkannt und behandelt werden, erleben in der Regel eine normale Schwangerschaft und bringen gesunde Kinder zur Welt« (ebd. 89). Die Sorge um die Gesundheit von Frauen und Kindern wird – ähnlich wie in den WHO-Diskursen – als Ausgangspunkt genommen und mit der Krise des Geburtenrückgangs verknüpft. Eine »Zukunft mit Kindern« wird dann möglich, wenn Frauen lernen, Risiken optimal zu managen, wenn sie ihre reproduktiven Fähigkeiten einem kontinuierlichen (medizinischen) Blick aussetzen und wenn sie gleichzeitig Expertin der eigenen Fertilität werden. Ritzinger/Dudenhausen/Holzgreve bemängeln unter dem Titel Späte Mutterschaft und deren Risiken: »Es besteht ein großer Forschungsbedarf zu der Frage, was eine Frau präventiv dazu beitragen kann, damit bei aufgeschobenem Kinderwunsch der Schwangerschafts- und Geburtsverlauf später dennoch günstig verläuft« (Ritzinger/Dudenhausen/Holzgreve 2011: 121). Das wichtigste Ziel aber muss gemäß Experten sein, den Trend der späten Mutterschaft aufzuhalten – am besten bereits im Schulunterricht: »Bei den dargelegten Risiken muss präventives Denken versuchen, den Trend zur späten Mutterschaft aufzuhalten oder sogar umzudrehen: Junge Frauen müssen über die Risiken des Hinausschiebens der Mutterschaft und über die Möglichkeiten, die Grenzen und die Risiken der reproduktionsmedizinischen Techniken aufgeklärt werden. Am besten beginnt diese Aufklärung […] bereits im Schulunterricht. Darüber hinaus sollten Curricula entwickelt werden, mit deren Hilfe die Frauen und jungen (potenziellen) Eltern ihre individuelle Biographie inklusive einer erfüllten Familienplanung planen können und es ihnen ermöglicht, Beruf und Familie zu vereinbaren« (ebd.).

Folgt man dieser Argumentation, läuft die weibliche (heterosexuelle, paarförmige) Biografie maßgeblich auf die Optimierung der Fertilität hinaus.15 Die Frage der reproduktiven Gesundheit und der Fertilität wird

 14 Männer und Jungen spielen zwischendurch zwar eine Rolle, doch in weitaus

geringerem Maße. 15 Reproduktion wird in dieser Expertise stark heteronormativ kodiert. Im Zuge der Flexibilisierung von Lebensformen ist jedoch im Allgemeinen zu be-

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nicht auf reproduktive Organe, Schwangerschaftsbegleitung und Geburtshilfe beschränkt, sondern unter einem extrem ausgedehnten Gesundheitsbegriff16 auf das gesamte Leben der Frau ausgedehnt, von der Grundschule bis zur Berufsplanung oder Partnerwahl. Die Reproduktionsdiskurse installieren eine biologisierte Weiblichkeit, mit der weibliche Lebensweisen und Biografien unter die Prämisse von Gesundheit, Fortpflanzung und Demografie gestellt werden und der Einsatzpunkt einer heteronormativen Geschlechterdifferenz markiert wird.17 Die Expertisen folgen einer ambivalenten Diskursformation: Sie erheben zwar den Anspruch, soziostrukturelle Perspektiven zu berücksichtigen. Gleichzeitig werden jedoch komplexe soziale Bedingungen von Gesundheit und Fortpflanzung zurückgedrängt. Durch die Vergeschlechtlichung werden viele Gesundheitsfelder an die Konstruktion einer biologischen, heterosexuellen Geschlechterdifferenz gekoppelt, und diese damit verstärkt, statt hinterfragt (ähnliches stellt Schultz (2006) in Entwicklungsdiskursen heraus). Watkins (1993) hat die Vergeschlechtlichung von demografischen Diskurse untersucht und gezeigt, dass diese einen inhärenten und naturalisierenden Zusammenhang zwischen dem Status von Frauen und Fruchtbarkeit konstruieren. Obwohl durch die Frauenbewegung auch in demografischen Erhebungen zunehmend sozioökonomische Faktoren von Geburtenraten thematisiert wurden, und aus liberalfeministischer Perspektive die Zwänge des Pro- oder Antinatalismus kritisiert wurden, ist der Status von Frauen und Fruchtbarkeit als eine entscheidende Kopplung bisher nicht grundlegend hinterfragt worden. Auch die Prämisse der Selbstbestimmung bleibt oft auf halber Strecke stehen, weil sie in pauschalisierende Fragen des Zusammenhangs von Bildungsstand, Berufstätigkeit, Alter, Migrationshintergrund (oder anderen Einzelfakto-

 obachten, dass queeren Menschen vermehrt Zugang zur Reproduktion ermöglicht wird. Dieser Prozess ist ambivalent: Einerseits werden heteronormative Praktiken für queere Einsätze geöffnet, andererseits wird diese Öffnung auch mit der Hoffnung verbunden, europäische und bildungsnahe ›Queers‹ würden dabei helfen, den bedrohten Volkskörper zu reproduzieren, vgl. dazu Nay/Mesquita (2013). 16 Zur gesellschaftlichen Bedeutung eines zunehmend ausgedehnten Gesundheitsbegriffes vgl. Kickbusch (2006). 17 Zur historischen Entstehung medizinisch-biologischer Wissensregime und deren Rolle für die Fundierung der Geschlechterdifferenz vgl. Honegger (1991); Sarasin (2001).

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ren) und Anzahl Kinder mündet und ein Experten-Wissen über ›die (Dritte-Welt-)Frau‹ konstruiert. Anders gesagt: Die vergeschlechtlichende Perspektive in den oben beschriebenen Reproduktions-Diskursen führt dazu, dass komplexe Zusammenhänge pauschalisiert und in der Folge ›einfache‹ Interventionen vorgeschlagen werden können. Fortpflanzung wird gemäß einer bestimmten Geschlechterordnung und Positionierung von Frauen (heterosexuell, unbedingter Kinderwunsch, paarförmig, auf ihren Körper verwiesen) operationalisierbar gemacht und mit demografischen Sollwerten verbunden (vgl. dazu auch Schultz (2006); Watkins (1993) und Honegger (1991)). Die aktuelle Konjunktur demografischer Prognosen belebt das Phantasma von der Steuerbarkeit weiblicher Lebensweisen und damit der reproduktiven Zukunft Europas. Dabei handelt es sich um die Anrufung einer reproduktiven (Selbst)Steuerung, die sich mit einer individualisierenden neoliberalen Politik der Verhaltensweisen verbindet, die – wie ich weiter oben ausgeführt haben – verstärkt wird durch die medikalisierte und gesundheitliche Fundierung von Sexualität und Fortpflanzung. Die Demografisch-vergeschlechtlichten Expertisen legen zudem die Vorstellung nahe, die Entwicklungen der Bevölkerung unterliege bestimmten Zwangsläufigkeiten und die Zukunft sei dadurch kontrollierbar: »Demographisierung […] argumentiert mit zwangsläufigen Abläufen, unabwendbaren Folgen, und mit diesen Begründungen verengt sie den Raum für soziale Aushandlungsprozesse« (Barlösius/Schiek 2007: 27). Barlösius stellt eine Tendenz fest, gesellschaftliche Probleme zunehmend in demografische Probleme umzudeuten. Dadurch werde nahegelegt, gesellschaftspolitische Konflikte seien eine Frage der Geburtenraten und folglich über die präventive Steuerung reproduktiver (weiblicher) Verhaltensweisen kontrollierbar (vgl. ebd.). Gesellschaftspolitische Aushandlungsprozesse wie Geschlechterverhältnisse, Migration oder ökonomische Verteilung verschwinden hinter einer individualisierenden Politik reproduktiver Verhaltensweisen. Unter dem »naturalisierenden« Szenario der Demografie (ebd.) erscheint die Zukunft als Synonym für biologische und besonders weibliche Prozesse.18 Es fällt auf, dass in der demografisierenden Perspektive der Reproduktionsmedizin ein historischer Topos aus dem 18. Jh. re-aktiviert wird: In dieser Zeit wurde die Gebärfähigkeit von Frauen erstmals mit dem (demografischen) Fortbestehen der modernen Nation verknüpft, das heißt

 18 Weiterführend zur kritischen Demografie-Forschung vgl. Auth/Holland-Cunz (2007); Correll (2011); Kahlert (2007); Rainer (2005).

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weibliche Lebensweisen wurden auf die Tauglichkeit ihres Uterus reduziert. Der Topos eines weiblichen Gattungs-Auftrags entwickelte sich im Zuge europäischer Nationenbildung und vor dem Hintergrund eines zunehmend medizinisch-biologischen Wissens-Apparates (vgl. Porter 1999; Honegger 1991; Sarasin 2001; Schuhmann 2004; Toppe 1998; Yuval-Davis 1997). Dabei ist die Vorstellung des weiblichen GattungsAuftrags auch vor dem Hintergrund des Kolonialismus und Politiken der Rassifizierung einzuschätzen: die Reproduktion der Gattung wurde an eine bürgerliche, weiße bzw. europäische und hygienische Weiblichkeit gekoppelt.19 Für meine Frage nach den postkolonialen Kontinuitäten in Reproduktionsdiskursen erscheint mir ein Aspekt dieser vergeschlechtlicht-rassifizierten Zusammenhänge als besonders entscheidend: ihre grundlegende Verwobenheit mit einem Bevölkerungskonzept der Krise. Der reproduktive Zukunfts-Auftrag der europäischen weißen Frauen wurde maßgeblich durch die Figur einer drohenden, überbordenden Bevölkerung aus den Kolonien konstituiert, oder wie Tellmann schreibt:

 19 Die historische Forschung (z.B. Foucault 2004; Honegger 1991; Sarasin 2001) zeigt, wie ein erstarkender medizinisch-biologischer Wissens-Apparat Weiblichkeit biologisch konfigurierte und zum Ausgangspunkt einer biologisch begründeten Geschlechterdifferenz machte. Darin wurden Frauen als ›Andere‹, als vom Mann Unterschiedene, auf ihren Körper – d.h. auf den Uterus – verwiesen. Mit dieser Differenzierung der reproduktiven Weiblichkeit verband sich seit dem 19. Jh. die Dimension der »Rasse«, vgl. z.B. Randeria (2006); Sarasin (2001); Yuval-Davis (1997). Sarasin (2001) beschreibt, wie in hygienischen Diskursen reproduktive Weiblichkeit in Abgrenzung zu Konzepten der »bon sauvage«, des edlen Wilden, installiert wurde. Das Konzept des Wilden wurde insbesondere im 19. Jh. von Medizinern und Anthropologen popularisiert. Dabei begannen die Hygieniker, in Abgrenzung von der Inferiorität des schwarzen Körpers die ›bessere Gesundheit der Europäer‹ gegenüber den ›Anderen‹ zu thematisieren (in Deutschland gegenüber Juden und Schwarzen). So wurde auch der Gattungs-Auftrag der europäischen Frau in Abgrenzung zum kolonialen, devianten Körper konstruiert, vgl. auch Yuval-Davis (1997). In den aktuellen europäischen Reproduktions-Diskursen finden sich keine rassifizierten Verweise auf körperliche oder sexuelle Devianzen von Schwarzen Frauen. Die Diskurse konstituieren jedoch, wie ich weiter unten zeigen werde, eine ethnisierende Kulturalisierung, bei der eine neo-koloniale Unterscheidung von modern und traditionell einen Gattungsauftrag bestimmter europäischer Frauen nahelegt.

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Der Eintritt der Bevölkerung in die Geschichte markierte eine koloniale Zäsur, die eine grundlegende Hierarchisierung des Lebens zur Folge hatte (vgl. Tellmann 2010; 2013).

3. D ER KOLONIALE T OPOS B EVÖLKERUNG

EINER KRISENHAFTEN

Tellmann (2010; 2013) stellt in ihrer Genealogie der Bevölkerung heraus, dass das Szenario der Krise auf den Bevölkerungstheoretiker Robert T. Malthus (1986 [1798]) zurückgeht und eine grundlegende Hierarchisierung des Lebens einführte. Es überrascht nicht, dass die Hierarchisierung des Lebens vor dem Hintergrund des Kolonialismus paradigmatisch wurde. Ich möchte im Anschluss an Tellmann (ebd.) argumentieren, dass sich im aktuellen Bevölkerungs-Szenario nach wie vor der koloniale Topos einer hierarchisierten Bevölkerung spiegelt, in dem die Fortpflanzungsweisen bestimmter Bevölkerungsgruppen gegenüber der sozialen und der ökonomischen Ordnung als bedrohlich imaginiert werden. Tellmann (ebd.) zeichnet nach, wie Malthus die Theorie entwickelte, dass die Prozesse der Bevölkerung unkontrolliert und überbordend seien. Malthus erscheint als Krisentheoretiker des 18. und 19. Jh., dessen biopolitische Thesen für die politische Ökonomie und die Entstehung des Liberalismus entscheidend waren. Seine Bedeutung liegt in der grundlegenden Verknüpfung der Regeln der Bevölkerung und der ökonomischen Situation. Dabei ist die malthusische Bevölkerungsfigur anti-fortschrittlich, sie erscheint in ihrem Fortpflanzungsverhalten als ›von Natur aus‹ unzivilisiert, unökonomisch und unvernünftig. Der Eintritt der Bevölkerung in die Ökonomie ist – folgt man der Malthus-Lektüre Tellmanns (2010; 2013) – der Eintritt einer Katastrophe: Malthus war der Meinung, dass das Wachstum der Bevölkerung die Nahrungsmittelproduktion konstant übersteige, und dadurch eine permanente Drohung der Knappheit herrsche. Er nannte die Bevölkerung »of all monsters the most fatal to freedom« (Malthus 1986: 41, zitiert nach Tellmann 2010: 72), ein animalisches Monster, das weder unternehmerisch noch produktiv, sondern gierig, unkontrolliert, ja unzivilisiert agiere. Malthus’ Bevölkerungskonzept installierte ein Szenario der drastischen Limitation natürlicher Ressourcen. Er konstituierte die Vorstellung, dass die reproduktiven Prozesse kontinuierlich über die natürlichen Ressourcen hinausgingen und folglich immer ein Missverhältnis zwischen natürlichen Ressourcen und

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der Anzahl der Menschen bestehe (Tellmann 2010; 2013).20 Entscheidend ist, dass Malthus’ Ideen sich gegen die Vorstellungen des sozialen Fortschrittes, des Wachstums und der Entwicklung richteten – der Mensch ist in dieser Perspektive kein Homo Oeconomicus, sondern zutiefst unökonomisch. Tellmann (2013: 18) arbeitet heraus, wie vor dem Hintergrund dieses katastrophischen Bevölkerungskonzepts der Liberalismus mit seinen Vorstellungen der Sparsamkeit und des Homo Oeconomicus als ›zivilisierende‹ Gegen-Instanz installiert und die ökonomische Theorie zu einer Krisentheorie schlechthin wurde.21 Entscheidend für meine Argumentation ist, dass die Figur der bedrohlichen Bevölkerung bei Malthus vor dem Hintergrund des Kolonialismus erscheint.22 Tellmann (ebd.) zeigt, dass Malthus in seinen Szenarien sowohl den proletarischen, unkontrollierten und gierigen Mob in den europäischen Städten vor Augen hatte, als auch die ›Wilden‹ und ›Primitiven‹ in den Kolonien: »A close reading of the Essay on Population reveals that the principle of population is nothing but the ›law‹ of savage life« (Tellmann 2013: 144). Anders gesagt ist jenes malthusische Gesetz des »Wilden« eine koloniale Figuration: Der Drohung des Todes wohnt eine inhärente koloniale Zäsur inne – »[…] the catastrophism of the notion of population is linked to a colonial hierarchy, which differentiates between dangerous ›savage‹ and economic ›civilized life‹« (Tellmann 2013: 136-137). Malthus’ Figur der Bevölkerung ist eine Gefahr für die soziale Ordnung, die er unter den ›Wilden‹ in den Kolonien lokalisiert (sowie auch innerhalb der großen Städte von England). Malthus installiert eine hierarchi-

 20 Malthus war der Meinung, dass der überbordende »Mob« sich selbst überlassen werden müsse. Er forderte jedoch die bürgerlichen Schichten auf, sich enthaltsam zu verhalten und nicht mehr als drei Kinder zu bekommen. Erst die späteren Anhänger Malthus’ leiteten ab, Fortpflanzung umfassend regulieren zu müssen, vgl. dazu Ferdinand (1999); Rainer (2005). 21 An Malthus’ Bevölkerungslehre haben sich die wichtigen ökonomischen Theoretiker seiner Zeit (wie Adam Smith) orientiert. Der Liberalismus war nicht nur Ausdruck eines Fortschrittsgedankens, sondern auch einer fundamental krisenhaften Konzeptualisierung der Bevölkerung. Zur genauen Wechselwirkung zwischen malthusischer Bevölkerungslehre und liberalen Ökonomietheorien vgl. Tellmann (2010; 2013). 22 Insofern leistet Tellmannn auch einen wichtigen Beitrag zu der bislang unterbeleuchteten Frage, inwiefern der Kolonialismus nicht nur politische, sondern auch ökonomische Konzepte konstituierte.

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sierte Bewertung des Lebens, eine evolutionäre Ausdifferenzierung des Humanen in so genannte bedrohliche ›Wilde‹ auf der einen und das zivilisierte Leben auf der anderen Seite (vgl. Tellmann 2010; 2013). Anschließend an diese Perspektive möchte ich erstens die These aufstellen, dass der gleichzeitig erstarkende reproduktive Gattungs-Auftrag der europäischen Frau mit diesem hierarchisierten Bevölkerungs-Topos eng verwoben ist und gemeinsam mit der Figur des Homo Oeconomicus als zivilisierende und kontrollierende Gegen-Instanz fungierte und bis heute fungiert. Daran anknüpfend erscheint es naheliegend, dass sich in den aktuellen europäischen Aussterbensphantasmen eine Fortsetzung der malthusischen Bevölkerungs-Drohung zeigt. Die Krise der sinkenden Geburten23 und der Appell an einen europäischen, weiblichen Gattungsauftrag müssen in ein Verhältnis zum globalen Narrativ der drohenden Überbevölkerung aus dem Süden gestellt werden.24 In dieser Perspektive erscheinen die Bevölkerungsszenarien der reproduktiven Gesundheit als Kontinuum einer post- oder neokolonialen Krisen-Genealogie, in der die Norm der bedrohten, unterzähligen Menschheit die Menschen im Norden sind, denen die drohende und zu bekämpfende Überbevölkerung »da unten im Süden« gegenüber gestellt wird (Rainer 2005: 284).25 Anders

 23 In den europäischen WHO-Diskursen der reproduktiven Gesundheit erscheint der Geburtenrückgang als dramatische Existenzkrise: So wird die Frage nach der Notwendigkeit pronatalistischer Interventionen als Frage des »Seins oder nicht Seins« definiert. Der Reproduktionsmediziner Botev schreibt: »Pronatalist Policies: To Be or Not To Be. This Hamletian question has been on the minds of many policy-makers in Europe« (Botev in WHO Europa 2006: 6). 24 Schultz (2006) zeigt am Beispiel der internationalen Entwicklungsprogramme sehr genau, in welcher Weise die Programmatiken mit ihren Vorstellungen der geplanten Geburten ›zivilisierenden‹ Charakter aufweisen. 25 Die UNO hat im Hinblick auf die armen Länder ihre geburtensenkende Stoßrichtung kürzlich erneut konsolidiert, indem sie Verhütung als Menschenrecht deklarierte. Im Jahresbericht State of World Population 2012 des United Nations Population Fund (UNFPA) werden die Prozesse der Reproduktion mit der ökonomischen Situation verschaltet. Dem Bericht zufolge optimiert der Zugang zu Verhütungsmitteln das Leben von Frauen – »[…] women who use family planning are generally healthier, better educated, more empowered in their households and communities and are more economically productive« (UNFPA 2012: ii) – und der Zugang entscheidet auch über den ökonomi-

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gesagt entspringt die eurozentrische Definitionsmacht, wo zu wenige und wo zu viele Menschen sind, jener kolonialen Genealogie des Lebens, die in den Prozessen der Bevölkerung eine kontinuierliche Gefahr durch das unkontrollierte ›Wilde‹ lokalisiert.26 Das globale Bevölkerungs-Verhältnis zeigt seine Wirkung auch innerhalb Europas, denn in der Katastrophe des Aussterbens werden bestimmte Bevölkerungsgruppen als »future generations« (Ahmed 2004: 145) definiert und andere nicht. Im Folgenden möchte ich das bislang kaum beachtete inner-europäische Diskursfeld reproduktiver Gesundheit genauer beleuchten und fragen, inwieweit das Paradigma der europäischen Geburtenkrise auch hierarchisierte Reproduktionsformationen innerhalb Europas aufweist: Wer soll Europa reproduzieren? Am Beispiel von zwei Dokumenten der WHO Europa (WHO-Agenda 2001 und WHO-Broschüre Entre Nous 2006) zeige ich, wie MigrantInnen und Flüchtlinge im Feld der reproduktiven Gesundheit positioniert werden. Die ›inner-europäischen‹ Reproduktionsdiskurse führen das globale Bevölkerungsverhältnis insofern fort, dass MigrantInnen und Flüchtlinge als gesundheitliche Risikogruppe und damit als das konstitutive Außen europäischer Modernitäts-Phantasmen erscheinen. Im Vergleich zur malthusischen Idee hat sich der koloniale Topos des Wilden in einen Topos des Traditionellen bzw. Konservativen transformiert. Die Differenzierung verläuft in zeitgenössischen europäischen Reproduktionsdiskursen nicht zwischen den Polen unzivilisiert/zivilisiert, sondern traditionell/modern.

 schen und sozialen Fortschritt eines Landes – besonders der ärmsten Länder: »Government and development agencies have to invest more resources to realize the individual and broader social and economic gains that can be achieved through a rights-based approach to family planning« (UNFPA 2012: vii). Die Argumentationsweise des UN-Berichts folgt der Logik der Selbstbestimmung, legitimiert dabei aber auch die Direktive einer Geburten senkenden Makroebene, weil sozioökonomische Themen als Folge einer übermäßigen Fruchtbarkeit in den ›armen Ländern‹ erscheinen. 26 Eine Diskussion der unterschiedlichen Metaphern und Dramatisierungen des Bevölkerungsproblems ist bei Connelly (2006; 2008) zu finden.

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4. E UROPA

UND SEINE

A NDEREN

In der WHO-Broschüre Entre Nous (2006) mit dem Titel Low fertility – the Future of Europe? wird, wie ich bereits angedeutet habe, die Zukunft Europas mit der Fertilitätsrate von Frauen verknüpft. Dabei wird auf die Fiktion einer ursprünglichen, begrenzten europäischen Bevölkerung abgestellt. Schultz (2012) hält fest, dass die Politik der Geburten ganz allgemein auf der Nationen-Form beruht, denn die zu beeinflussende Bezugsgröße ist die nationale bzw. europäische Bevölkerung, deren Größe oder Zusammensetzung verändert werden soll. ›Grundmaxime ist die Verbesserung des Volkskörpers‹ (vgl. Schultz 2012). In den Texten der Broschüre bestätigt sich dies insofern, dass MigrantInnen und Flüchtlinge als spezielle Risikogruppen mit bestimmten (nicht-europäischen) Eigenschaften ethnisiert werden. Für einzelne Länder wie Italien oder Deutschland ist gezeigt worden (vgl. Kahlert 2007; Kemper/Weinbach 2009; Krause 2006), dass die aktuellen Prognosen der sinkenden Geburtenraten rassistische und sozialeugenische Implikationen aufweisen. Migrantinnen und/oder ›Unterschicht-Mütter‹ (vgl. Heinsohn in der »Welt« 2009) werden darin als gebärfreudige Sozialschmarotzer dargestellt und eine explizite Steigerung der ›einheimischen‹ und/oder ›akademischen‹ Geburten gefordert.27 Von einer solchen ausdrücklich selektiven Politik grenzt sich die WHO Europa in ihren pronatalistischen Überlegungen explizit ab: »Policies should also include an explicit provision covering non-discrimination for minority or indigenous populations« (Gauthier in Entre Nous 2006: 9). In der Broschüre werden die möglichen rassistischen Wirkungsweisen geburtensteuernder Direktiven reflektiert, gewarnt wird vor: »[…] the attempt of some politicians to give to the demographic situation an ethnic face« (Chernev/Stamenkova in Entre Nous 2006: 21). Diese Kritik an der Ethnisierung demografischer Debatten erweist sich jedoch als ambivalent, da MigrantInnen und Flüchtlinge in der Programmatik der WHO Europa teilweise ebenfalls ethnisiert28 werden, wenn auch nicht – wie in rechtspopulistischen Dis-

 27 Für Deutschland sind die Forderungen und Thesen Sarrazins (2010) und Heinsohns (2009) exemplarisch. 28 Zur Definition der Ethnisierung vgl. Han (2006: 159): »Im Gegensatz zum Konzept der Rasse wird das der Ethnizität benutzt, um die politische und wirtschaftliche Unterordnung von bestimmten Bevölkerungsgruppen zu erklären.« Ethnisierung meint demzufolge, dass Unterschiede nicht mehr biolo-

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kursen – als ›reproduktive Parasiten‹, sondern als Opfer ihrer konservativen Kultur. MigrantInnen und Flüchtlinge erscheinen im Feld der sexuellen und reproduktiven Gesundheit als weitgehend einheitliche, besonders verletzliche Gruppe, deren prekärer Status oft mangelnde Gesundheitsversorgung zur Folge hat. Die prekäre Situation wird einerseits als Folge soziostruktureller Bedingungen sichtbar gemacht und mit Forderungen nach besserem Zugang und Versorgung verbunden. Gleichzeitig werden aber auch die kulturellen Verhaltensweisen von MigrantInnen zur Zielscheibe gesundheitspolitischer Prävention. Die WHO Agenda (2001) begründet die Einführung der reproduktiven Gesundheit mit einem speziellen Bedarf im europäischen Raum. Regierungen, NGOs und Familienplanungsorganisationen werden von der WHO Europa dazu angehalten, sich verstärkt für die reproduktive Gesundheit einzusetzen und sich dabei auf die Direktiven der WHO zu stützen. Die Organisation adressiert sowohl EU-Staaten als auch nicht EU-Staaten und betont einen verstärkten Förderungsbedarf im Osten Europas (WHO Agenda 2001: 2).29 Die Agenda variiert in ihren Bezügen zwischen europäischen Gesamteinschätzungen, regionalen Ausdifferenzierungen und einer direkten Verortung von Problemen in bestimmten Risikogruppen. Auf den ersten Seiten werden die Bereiche der sexuellen und reproduktiven Gesundheit zunächst an Themen und Regionen festgemacht. Relativ unvermittelt geht die Problemdefinition in die Differenzierung der Risikogruppen »MigrantInnen« und »Flüchtlinge« über (ebd. 6). Bestimmte Probleme werden nun nicht mehr in Bereichen oder Regionen verortet, sondern in den Verhaltensweisen der Risikogruppen. Diese Individualisierung bestimmter Probleme positioniert MigrantInnen und Flüchtlinge jenseits Europas, als TrägerInnen dieser Probleme jenseits ihrer sozioökonomischen und örtlichen Bedingungen. Die WHO fokussiert auf MigrantInnen und Flüchtlinge als besondere Zielgruppe. Ihr Risiko-Status wird dadurch in ihrem Nicht-Europäischsein begründet

 gisch, sondern mit einer unterschiedlichen ›nationalen‹ und kulturellen Herkunft begründbar werden. 29 Die WHO Europa versteht sich zwar als transnationale Organisation, stellt in ihren Bezugnahmen jedoch gleichzeitig auf nationale Perspektiven, Besonderheiten und Verantwortlichkeiten ab. Die Unterscheidung Ost/West kann in diesem Text nicht bearbeitet werden. Zum Verhältnis nationaler und transnationaler Bio-Souveränitäten vgl. Caldwell (2007).

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und ihre Vulnerabilität als Ausdruck bestimmter kultureller Gepflogenheiten eingeschätzt: »Unwanted pregnancy is common [within migrants, Anm. FS], with its attendant risks of induced abortion and obstetric complications. Migrants are also at risk of STDs30 and HIV/AIDS as some of them are forced into unprotected sexual relations. There is a high rate of violence against women, including sexual assault such as rape« (ebd. 8).

Der spezielle Risiko-Status von MigrantInnen und Flüchtlingen wird durch den ausgedehnten Gesundheitsbegriff unter sozialen und politischen Aspekten wie Gewalt und Aufenthalts-Status problematisiert. Das macht es im Prinzip möglich, reproduktive Gesundheit von MigrantInnen in einem komplexeren Rahmen als statistischen Berechnungen von Abtreibungskomplikationen oder Müttersterblichkeit zu diskutieren. Gleichzeitig sind die Schwerpunkte stark individualisierend: Bestimmte Probleme werden in gewalttätigen Verhaltensweisen migrantischer Bevölkerungsgruppen verortet und nicht in den Rahmen gesellschaftlicher und politischer Diskriminierungsstrukturen gestellt. So wird auch die Forderung nach besseren und spezifischen Versorgungsstrukturen für MigrantInnen unter dem Motto diskutiert, dass kulturelle Gepflogenheiten verändert werden müssen, die bestimmte Gruppen daran hindern, die Angebote in Anspruch zu nehmen. So wird empfohlen: »To actively address all types of gender discrimination among migrant populations, which are violations of internationally accepted gender equity rights« (ebd. 32). Das Recht auf reproduktive Gesundheit gerät zu einer Frage der Veränderung von genderdiskriminierenden Verhaltensweisen unter migrantischen Bevölkerungsgruppen. Bezeichnend dabei ist, dass das Gleiche in Bezug auf ›einheimische‹ Risikogruppen nicht gefordert wird. Unter Nicht-MigrantInnen scheinen genderdiskriminierende Verhaltensweisen kein Thema zu sein (zumindest in den untersuchten Dokumenten, dieser Sachverhalt gilt nicht für sämtliche WHO-Programmatiken). Ähnliche Argumentationsweisen finden sich beim Thema Verhütung. Auch hier thematisieren ExpertInnen die »konservative Kultur der Verhütung« und die daraus resultierenden ungewollten Schwangerschaften: »The consequence of the conservative birth control model is the huge number of induced abortions« (Raševic und Sedlecki in Entre Nous 2006: 16). Die

 30 Sexually Transmitted Diseases.

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Repräsentation von Migrantinnen als konservativ spiegelt sich auch in ihrem Opferstatus: MigrantInnen und Flüchtlinge – insbesonders Frauen – erscheinen in den Reproduktionsdiskursen kaum als Akteurinnen, ihre Viktimisierung entspricht dem Bild der kultur-konservativen, unterworfenen, passiven (nicht-emanzipierten, nicht selbständigen) und ihrem Schicksal ausgesetzten Frau. Demgegenüber erscheinen die europäischen Frauen des Nordens (insbesondere der skandinavischen Länder) als emanzipierte, moderne Vorbilder mit den gewünschten hohen, aber kontrollierten Geburtenraten. Gleichstellung und Berufstätigkeit erscheinen als geburtensteuernde und geburtensteigernde Faktoren: »[…] countries with high labour force participation rates for mothers have relatively high rates of fertility and countries with low labour force participation for mothers have low fertility« (Gauthier in Entre Nous 2006: 9). Gleichstellung und Fertilitätsraten werden von der WHO in einen monokausalen Zusammenhang gestellt. Die ExpertInnen folgern: Wer die Geburtenrate steigern will, muss Frauen fördern. Damit wird Gleichstellung zum biopolitischen Einsatz in der fruchtbaren Zukunft Europas. »[…] gender equity in the workplace and in society generally is correlated to higher fertility […]. These agreements embrace the necessity of securing women’s rights and equality and involving women in the formulation of laws and policies relating to population and development« (ebd.). (Geschlechter-)Gerechtigkeit wird unter dem Motto verhandelt, wie viele gesunde Kinder europäische Frauen gebären (sollen): »It appears that the combination of the availability of highquality childcare, extensive equitable parental leave, and a general environment of equality between men and women, work together to contribute to higher levels of fertility« (ebd.). Die emanzipierte europäische Frau wird zur Hoffnungsträgerin für die reproduktive Zukunft Europas – während die Migrantin als Repräsentantin eine patriarchalen Kultur zuerst ›erzogen‹ oder befreit werden muss. Im Anschluss an Fatima El-Tayeb (2011: 97) möchte ich argumentieren, dass die Vorstellung, (Gender-)Ungleichheiten seien ein Problem traditioneller Kulturen, es ›dem Westen‹ ermöglicht, sich am strukturellen System von (Gender-)Ungleichheiten als unbeteiligt zu positionieren. Die Risikofiguration »MigrantIn« setzt ein koloniales Narrativ fort, in der MigrantInnen zwar nicht als »unzivilisierte Wilde« erscheinen, jedoch als Repräsentantinnen einer patriarchalen, konservativen und antimodernen Geschlechterkultur ethnisiert – und dabei fast immer als heterosexuell konstruiert werden. Gemäss El-Tayeb (2011: xxii) ist diese

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Form der Ethnisierungen »an integral part of global economic policies inseparable from the after-effects of European colonialism.« Und weiter: »It is precisely the process of ethnicization that permanently defines ethnicized citizens as ›migrants‹, creating a catch-22 inevitably reinforcing the positivistic view that ethnics are, indeed, aliens from elsewhere […]« (Chow 2002: 24, zitiert nach El-Tayeb 2011: xiv). Mit anderen Worten installieren die Fortpflanzungsdiskurse die Vorstellung einer ›richtigen‹ europäischen Fortpflanzungsweise – des Europäischen überhaupt – gegenüber dem ›nicht-Europäischen‹. MigrantInnen und Flüchtlinge erscheinen als einheitliche (passive) Extra-Gruppe, als »European others« oder auch »koloniale Andere«, deren Integration31 in eine bestehende Nation Europa davon abhängt, ob sie sich von den Gesundheitspolitiken adressieren lassen. In einer weiteren Ausgabe von Entre Nous (2011: 20) schreibt die WHO Europa: »Protection of migrants’ health and access to quality care are therefore […] vital to migrants’ integration«. Gesundheitspolitik ist also mehr als das Menschenrecht auf Versorgung. Gesundheitspolitik hat auch einen Integrations- und Gleichstellungs- und das heißt in diesem Fall einen Normalisierungs-Auftrag für (noch) nicht-EuropäerInnen. Ich schlage vor, die Repräsentation von MigrantInnen als europäische Andere im Feld der Fortpflanzungsdiskurse als einen konstitutiven Aspekt von Nation zu verstehen: »Representations of migrants relate to the ways in which Europe has portrayed itself, through sexuality and gender relations, as more civilised than the rest of the world« (Tuori 2009: 146). Gemäss Tuori (ebd.) haben sich diese Repräsentationen immer wieder verändert: dominierten noch bis vor kurzem Darstellungen der kolonialen (oder orientalen) Anderen als sexuell exzessiv (vgl. Gilman 1985: 83-89, zit. n. Tuori 2009: 146), so werden sie aktuell eher als »gender conservative« (Tuori 2009: 146) konstruiert. Darin manifestiert sich eine kulturalisierende Unterscheidung zwischen modern und konservativ, die Tuori als einen maßgeblichen Faktor im Selbstverständnis der modernen Nation herausarbeitet (vgl. ebd.). Dieses Gender-und Sexualitäts-Script ermöglicht eine Unterscheidung in traditionell versus modern, vor deren Hintergrund letztlich definiert wird, wer Teil der modernen Nation ist und wer nicht (vgl. ebd.). Anders gesagt lotet die Einteilung in traditionell und modern im Diskursfeld der Reproduktionspolitiken auch aus, wer als »suitable reproducers of the

 31 Zur kritischen Diskussion des Integrations-Begriffs und seine Festschreibung eines Innen-Aussen-Schemas vgl. El-Tayeb (2011).

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nation« (ebd.) infrage kommt und wer nicht. Wie Tuori (2009: 124) am Beispiel von Familienkonzepten in finnischen Integrationspolitiken zeigt, wird die biologische Garantie der Zukunft – »the reproduction of life« (Ahmed 2004: 145) – eng an die heterosexuelle Reproduktion der Nation oder der Kultur geknüpft. »The reproduction of life – in the form of future generations – becomes bound up with the reproduction of culture, through the stabilisation of a specific arrangement of living [...]« (Ahmed 2004: 145). In den Diskursen der sinkenden Geburtenraten erscheinen nicht alle gleichermaßen als potentielle »future generations«, gendertraditionelle MigrantInnen erscheinen als kulturalisierte ›Andere‹, deren Traditionalismus dem Zukunftsprojekt Europa entgegengesetzt ist. MigrantInnen fungieren als das konstitutive Außen europäischer Modernitäts-Phantasmen, und nicht als deren (Re)ProduzentInnen. Die Vorstellung Europas als möglicherweise aussterbende Kultur verweist auf ein Narrativ, das Stuart Hall (1991) das »internalist narrative of European Identity« nannte, und El-Tayeb (2011: xvii) in Anlehnung an Hall (ebd.) die europäische Identität als eine beschreibt, »[…] that is one in which Europe appears as a largely homogeneous entity, entirely self-sufficient. Its development uninfluenced by outside forces or contact with other parts of the world.«

5. D AS S CHEITERN BIOPOLITISCHER P ROGRAMMATIKEN Ich habe versucht zu zeigen, dass die Verschaltung von BevölkerungsSzenarien und Gesundheitsdiskursen eine Demografisierung des Gesellschaftlichen durch die Hintertür mobilisiert. Dabei ist deutlich geworden, dass die aktuellen Reproduktionsprogrammatiken auf ein grundlegendes Strukturierungsprinzip westlicher Gesellschaften verweisen: Auf den Eintritt der Bevölkerung in die Geschichte – um eine Redewendung von Foucault zu benutzen – der den Eintritt einer kolonialen Krise und eine Hierarchisierung des Lebens markiert (Tellmann 2010; 2013). Die Krise der sinkenden Geburten und der damit einhergehende Appell an einen europäischen, weiblichen Gattungsauftrag stehen, so habe ich argumentiert, in einem Verhältnis zum postkolonialen Narrativ der drohenden Überbevölkerung aus dem Süden. Weiter ging es mir um die Frage, in welcher Weise das globale Bevölkerungs-Verhältnis seine hierarchisierende Dimension auch innerhalb Europas zeigt, und bestimmte Bevölke-

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rungsgruppen als »future generations« (Ahmed 2004: 145) positioniert und andere nicht. Wer soll Europa reproduzieren? Das europäische Feld der reproduktiven Gesundheit installiert einen ethnisierenden und vergeschlechtlichenden Bias, der als konstituierender Aspekt von Nation erscheint und in diesem Sinne festlegt, wer als »suitable reproducers of the nation« (Tuori 2009: 148) in Frage kommt und wer nicht. Offen bleibt – unter vielen anderen – die Frage, inwieweit das Diskursfeld der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und der Reproduktionsmedizin überhaupt als universelles Programm gefasst werden kann, und unter welchen Umständen es soziale Wirkmächtigkeit erhält. Meine Analyse der Programmatiken sagt nichts darüber aus, wie Subjekte diese tatsächlich verinnerlichen und ihnen ihr Fortpflanzungsverhalten anpassen. Eine solche Programm-Analyse läuft Gefahr, Programme als universelle Machtformationen zu idealisieren, die scheinbar widerstandslos auf Subjekte übergestülpt und von ihnen widerstandslos umgesetzt werden. Ob Biopolitiken ›von oben‹ (durch den Staat) oder ›von unten‹ – durch Verinnerlichung und Subjektivierungsweisen – es bleibt zu fragen, unter welchen Bedingungen Individuen sie verinnerlichen, und wann dies nicht so reibungslos geschieht und die biopolitischen Zugriffe auch fehlschlagen. Krause (2001) zeigt in ihrer Studie über Italien, wie die Diskursformationen einer drohenden Unfruchtbarkeit (»blaming women for depopulation« (Krause 2001: 580) von vielen Frauen unhinterfragt verinnerlicht werden, und dass sie staatliche Interventionen in reproduktive Prozesse zunehmend akzeptieren. Andere Frauen wiederum reagieren widerständig und weigern sich, im Rahmen der fortbestehenden patriarchalen Strukturen Kinder zu bekommen. Auch historische Analysen zeigen, wie Fortpflanzungs-Programmatiken unterwandert wurden. Ross (1993) hat untersucht, wie sich im Amerika und Großbritannien des 19. Jh. Arbeiterfrauen gegen die Wohlfahrts-Interventionen in ihr Familien- und Sexualleben wehrten: »In England working class women adopted small families not to conform with middle class norms of respectability but in protest against projects to improve the quality of their children for the state at their expense« (Ross 1993: 50). Frauen erfüllen den an sie herangetragenen Gattungsauftrag nicht einfach, MigrantInnen lassen sich von ethnisierenden und exkludierenden Strukturen nicht einfach objektivieren, sie reagieren auch strategisch: Wie West (2011) für die Schweiz und Bledsoe/Houle/Sow (2007) für Spanien aufzeigt, treffen MigrantInnen aktive und widerständige reproduktive Entscheidungen, die sie bspw. auch im Sinne einer Verbesserung ihres Aufenthalts-Status nutzen. Ähn-

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lich widerständige Praktiken zeigen sich in den zunehmend vielfältigen queeren Familienkonstellationen. Die Vielfalt der reproduktiven Lebensweisen steht ebenfalls que(e)r zu den hegemonialen Programmatiken demografischer Optimalwerte. Und in doppelter Hinsicht que(e)r zu den hegemonialen Reproduktionsdiskursen stehen queere migrantische bzw. queere Familienkonstellationen von People of Color. Trotz dieser gelebten Praktiken der Unterwanderung scheint mir die Frage dringlich, wie reproduktive Selbstbestimmung und Gesundheit in normative/feministische Debatten geholt werden können, in denen andere Kriterien zur Grundlage individueller Entscheidung gemacht werden als die der demografischen Sollwerte und hierarchisierenden Prämissen.32

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 32 Dieser Text wurde möglich durch vielfältige Unterstützung: Ich danke Ute Kalender und Patricia Purtschert für ihre kritische Lektüre und ihre Ermutigungen. Ich danke Mikael Krogerus für seine vorbehaltlose Loyalität und meinen Kindern, dass sie mich immer wieder dem abstrakten Medium Computer überlassen. Und zuletzt danke ich den Herausgeberinnen für die vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit.

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Kolonialisierung in Mitteleuropa: Zivilisatorische Moderne und die Transformation jüdischer Männlichkeit K RISTIANE G ERHARDT

Die »Heilige Gemeinde Fürth« (Kehilla Keduscha Fiorda) war »Sitz einer großen Jeschiwa mit hunderten Schülern« und Zentrum rabbinischer Gelehrsamkeit für ganz West- und Mitteleuropa der Frühen Neuzeit. Von wohlhabenden Mitgliedern der jüdischen Gemeinde unterstützt, saßen die Studenten (heb. bachurim) »zu Füßen berühmter Talmudgelehrter, berufenen Rabbinern aus allen Teilen Deutschlands und Polens« (Kohler 1931: 469). Anders als sein Vater, Moses Kohler, der auch als erwachsener Mann mehrere Stunden seines Tages dem Studium und der Diskussion der religiösen Traditionsliteratur widmete, wuchs Kaufmann Kohler (1843-1926), von dem diese Charakteristik über seine Heimatstadt Fürth stammte, nur mehr mit den letzten Resten gelehrter Frömmigkeit heran. Im Alter von fünf Jahren von seinem Vater in die Anfangsgründe der Tora eingeführt, hatte er bei Rabbinern in Fürth, später in Altona studiert, bevor er mit Anfang zwanzig ein Universitätsstudium begann. Gelehrtheit und das sogenannte »Lernen« im Judentum bildeten einen entscheidenden männlichen Identitätsbezug in der Frühen Neuzeit. Der gesellschaftliche Umbruch von einer traditionellen in eine bürgerliche Gesellschaftsordnung schlug sich – wie hier bei Kohler sichtbar wird – in einer generationellen Neuorientierung nieder, die für reformorien-

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tierte, konservative und orthodoxe junge Männer gleichermaßen galt.1 Auch der orthodoxe Neunzehnjährige, der sich »früher dem Studium widmete, der Verhältnisse halber dasselbe jedoch aufgeben mußte« und deshalb im Mainzer Israelit 1860 »als Buchhalter ein passendes Placement« suchte (Anonym 1860: 115), musste den Männlichkeitsnormen der bürgerlichen Gegenwart gerecht werden. Die Transformation von jüdischer Männlichkeit ist Teil kolonialer Prozessstrukturen gegenüber dem Judentum Mitteleuropas im 18. und 19. Jh. Diese Verwobenheit von Geschlecht und Zivilisierung soll im Zentrum der folgenden Seiten analysiert werden.

F ORSCHUNGSPERSPEKTIVEN : J UDENTUM , N ATION UND E UROPA In der älteren Forschungsliteratur werden die hier skizzierten biografischen Wege jüdischer Männer meist mit Akkulturations- oder auch Assimilationsprozessen, mit der Öffnung des Judentums im 18. und 19. Jh. gleichgesetzt. Diese Begrifflichkeiten kaschieren euphemistisch die zivilisatorischen Prozesse, weil sie als Integrationsprozesse positiv konnotiert sind. Der hinsichtlich älterer Forschung durchaus repräsentative Artikel zur »Jüdischen Emanzipation« auf Wikipedia veranschaulicht dieses Verständnis: Als ein »Weg […] vom Rand der christlichen Mehrheitsgesellschaft, wo sie [die Juden] eine rechtlich, religiös und sozial diskriminierte Minderheit waren, in die Mitte der Gesellschaft« gelten die Jahrzehnte zwischen 1780 und 1870. Am Anfang dieses Prozesses steht in der Regel das Zeitalter der Aufklärung, in dem neue Perspektiven auf und ein anderer Umgang mit dem Judentum entwickelt worden sei. Dort sei ein »judenfreundlicher Diskurs« aufgekommen, so etwa Klaus Berghahn, der die »uralten Vorurtei-

 1

Diese Ausdifferenzierung des frühneuzeitlichen Judentums in drei religiöse Strömungen ist ein Ergebnis des 19. Jh. Im Gegensatz zum orthodoxen Judentum hält das Reformjudentum die Halacha (jüdisches Gesetz) als Produkt eines historischen Prozesses für veränderbar. Das konservative Judentum nimmt zwischen beiden Flügeln eine Mittlerstellung ein. Von der historischen Veränderlichkeit ausgehend, ist das jüdische Gesetz für konservative Juden grundsätzlich verbindlich, soweit es mit modernen Lebensweisen vereinbar ist.

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le widerlegt« und »durch eine mitmenschliche Toleranz« ersetzt habe (Berghahn 2000: 49). Diese ideale Konstruktion von Aufklärung setzt an einem negativen Kontrast zur Frühen Neuzeit an. In der Grundfigur baut sie auf einer Zunahme von Rechtsgleichheit auf. Anstelle frühneuzeitlicher Rechtsprivilegien sei für die Juden ein Prozess zunehmender Gleichberechtigung eingeleitet worden (Aufhebung von Leibzöllen, Niederlassungsrechte, Stadt- und später auch Staatsbürgerrechte). Das Judentum sei damit – und das unterstreicht die Hypostasierung dieses Prozesses – aus seiner »jahrhundertealten sozialen Isolation« befreit worden (Rürup 2010: 29). Nicht auf alle diese Denkfiguren kann hier eingegangen werden, die das Meisternarrativ jüdischer Moderne mitbestimmt haben – und dies teilweise bis heute tun (exemplarisch: Gerhardt 2011: 19-34). Festzuhalten ist, dass sie dem Selbstverständnis der Aufklärung entsprechen. Als Produkte eines zivilisatorischen Anfangs in Mitteleuropa müssen sie wahrgenommen, analysiert und damit historisiert werden. Denn das Wissen über das, was jüdische Geschichte und das Judentum sei, haben sie ungemein geprägt. Ungeachtet ihres soziokulturellen Aufstiegs im 19. Jh. blieben die Juden Europas innere Fremde. Formen des modernen Antisemitismus wurden als »Grenzen der für die Aufklärung charakteristischen Toleranz« begriffen (Rückert 2005: 61), sie galten als Ergebnis »unausgeführt gebliebene[r] Reformwerke« (Schäbitz 2006: 71) oder wurden auf ein historisch gewachsenes Verständnis jüdischen Außenseitertums zurückgeführt, das unter veränderten Vorzeichen im 19. Jh. fortgewirkt habe (vgl. Alter/Bärsch/Berghoff 1999). Eine andere Forschungsrichtung, die sich an einer weniger idealen Konzeption von Aufklärung und Emanzipation orientiert, betont demgegenüber die »Janusköpfigkeit« der Aufklärung (Diner 1988: 12), die Gleichzeitigkeit von Inklusion und Exklusion im Selbstverständnis von Bürgerlichkeit und im Vollzug bürgerlicher Praktiken (vgl. Döcker 1994; Hettling/Hoffmann 2000) bzw. das Nebeneinander von »Partizipation und Aggression« in Nationalisierungsbewegungen des 19. Jh. (vgl. Langewiesche 2000: 35-54). Damit kommt man Dynamiken »innerer Kolonialisierung« (Hess 2002: 11) ziemlich nahe. Eine nachbarschaftlich lebende Minderheit musste nicht gewaltsam eingenommen werden; Formen kulturell begründeter, später rassisch legitimierter Ausgrenzungen des Judentums verliefen im Europa des 19. Jh. ›zivilisierter‹. Kolonialismus gilt in der Regel als ein imperiales Projekt Europas, das seine Bezugspunkte in der außereuropäischen Welt hat. Die damit

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verbundene ›kolonialfreie‹ Vorstellung von Europa ist symptomatisch für die weitgehende Aussparung der jüdischen Geschichte aus den Debatten um die Nachwirkungen des Kolonialismus und postkoloniale Kritik (vgl. aber: Heschel 1998; Heschel 1999: 61-85; Hess 2002). Vor allem in der deutschsprachigen Welt ist die Eingebundenheit in zivilisatorische Prozesse noch keineswegs selbstverständlich (vgl. kritisch: Eckert/Wirz 2002: 372-392). Die Vorstellung von Europa als einer autonomen, auf sich selbst bezogenen Welt bleibt charakteristisch (vgl. Conrad 2002). Noch in einem jüngeren Sammelband über Figuren des Europäischen bleibt Kolonialgeschichte entsprechend unerwähnt, weil, wie der Herausgeber konstatiert, die Theorien des Postkolonialismus »aus einem bestimmten identitätspolitischen Kontext hervorgegangen« seien, auf Europa somit kaum übertragbar wären (Weidner 2006: 17). Eine postkoloniale Kritik diesseits des Okzidents muss deshalb koloniale Strukturen in Europa in den Blick bekommen, wofür das Judentum ein markantes, historisch relativ frühes Beispiel ist. Auch seine Historiografie ist bis in die Gegenwart eine europäische Angelegenheit. Die jüdischen Geschichten folgen Meistererzählungen über die Genese europäischer Nationalstaatlichkeit mit unterschiedlichen Verlaufsmodellen jüdischer Emanzipation im Vergleich. Ausgelöst durch die Französische Revolution hätten etwa die Juden Frankreichs eine sofortige Gleichstellung erzielt (vgl. Hyman 1991). Großbritannien gilt als ein Imperium mit einer weit reichenden Toleranz gegenüber den Juden (vgl. Endelman 2002: 108-110). Vor allem im mitteleuropäischdeutschsprachigen Raum habe dem Umgang mit dem Judentum demgegenüber ein Erziehungskonzept zugrunde gelegen, sei eine allmähliche, immer wieder zurückgenommene rechtliche Gleichstellung erfolgt (vgl. zusammenfassend: Lässig 2004: 65-75). Diese Fokussierung verdankt sich nicht nur langjährigen Forschungsinteressen für einen deutschen Sonderweg im 19. Jh. Die zentrale Stellung des Judentums in den Diskussionen der letzten Dekaden bleibt ohne zeithistorisch wichtige Interessen, welche historischen Vorläufer den Holocaust mit konstituiert haben, unverständlich. Diese Perspektiven des 20. Jh. sind postkolonialen Perspektiven fraglos gleichfalls im Weg.2 Die Forderung nach An-

 2

Eine Konsequenz der Verarbeitung des Holocausts wie der Ökumene im 20. Jh. ist das historisch neue Konzept religionsgeschichtlicher Nähe zwischen Judentum und Christentum, das mit den Vorstellungswelten des 18. und 19. Jh. inkompatibel ist.

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passung der Juden, ihre über das gesamte 19. Jh. hinweg anhaltenden Ausgrenzungen und Stereotypisierungen waren, wie die neuere Forschung gezeigt hat, in allen Staaten Europas virulent (vgl. Brenner/Liedtke/Rechter 1999; Brenner/Caron/Kaufmann 2003). Während transnationale Bezüge innerhalb des europäischen Judentums in der jüngeren Historiografie intensiv diskutiert werden, ist das oben genannte Verständnis von Europa mitverantwortlich, dass es keinerlei übergreifende Studien zum Verhältnis von Kolonialstrukturen und jüdischen Entwicklungsprozessen in Europa selbst gibt. Deshalb muss sich dieser Beitrag auf den mitteleuropäischen Raum konzentrieren, der im 18. und bis in das 19. Jh. keine Kolonialbesitzungen in Übersee besaß, sondern nach innen gerichtet war (Heschel 1999: 63). Im deutschsprachigen Mitteleuropa sollten die Juden seit dem späten 18. Jh. ›bürgerlich verbessert‹, d.h. erzogen und zivilisiert werden, sich der deutschen (Hoch-)Sprache im alltäglichen Verkehr bedienen und Berufe im Handwerk und Agrarwesen erlernen. Auch ihre religiöse und rechtliche Autonomie, Teil der Pluralität frühneuzeitlicher Welten in Europa, wurde mit der wachsenden Verstaatlichung schrittweise aufgehoben, verrechtlicht und konfessionalisiert (vgl. Gotzmann 1997; Gotzmann 2008). Zentraler Teil dieses Zivilisierungs- und Überformungsprozesses einer traditionellen Kultur in Europa war die Transformation von jüdischer Männlichkeit, in der sich Elitevorstellungen, die Entwertung einer Kultur und die Veränderung von Lebenswelten bündelten. Das eingangs skizzierte frühneuzeitliche Männlichkeitsideal gelehrter Frömmigkeit, das in der jüdischen Orthodoxie bis heute Gültigkeit hat, weicht nicht nur graduell von anderen Männlichkeitsvorstellungen ab (vgl. Boyarin 1997). Der Kampf gegen die jüdische Kultur und ihre Praktiken gelehrter Männlichkeit waren ein Prozess. Das galt für aufgeklärte nichtjüdische wie für junge jüdische Männer gleichermaßen: Um die Wirkmächtigkeit der zivilisatorischen Veränderung zu verstehen, müssen deshalb Perspektiven beider Bestandteil der Darstellung sein.

G ELEHRTES J UDENTUM K ÖNIGREICH B AYERN

UND

Z IVILISIERUNG

IM

Von »zweierlei Art« seien diese jüdischen Studenten, notierte Johann Georg Nehr, königlicher »Kreisschulrath», nach seiner Hospitation 1820 in seinem Gutachten Über den Geist der jüdischen Studienanstalt in

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Fürth: »Die einen studieren den Talmud, um sich einer jüdischen Religionspflicht zu entledigen […] und nach einem Studium von 5-6 Jahren zur Handelsschaft überzugehen; die anderen studieren den Talmud, um Lehrer oder selbst Rabbiner zu werden«.3 Nehr wollte gemeinsam mit dem Stadtkommissär von Fürth, Johann Friedrich Zehler, die Jeschiwa einer Hospitation unterziehen. Schon im Vorfeld hatten die Beamten Informationen über die Hochschule eingeholt. So würde die Jeschiwa »jeden jungen Menschen aufnehmen ohne Rücksicht auf Alter, Zeit und Vorbildung«. Letztere spiele im Gegenteil für ein Studium vermeintlich keinerlei Rolle, »weil die Jünglinge erst durch den Unterricht über den Talmud und seine Schwierigkeiten zum Denken geweckt und ihre Denkkraft geübt« werde (Wilke 1998: 5). Der Besuch der Beamten bildete den Auftakt für einen zehnjährigen Kampf um die Fürther Jeschiwa, eine Institution unter vielen im Prozess der zunehmenden Auflösung autonomer jüdischer Bildungs- und Rechtsstrukturen, die zwischen 1820 und 1840 sukzessive von den Landkarten Mitteleuropas verschwanden oder in Israelitische Schulanstalten umgewandelt wurden. Das Edikt über Die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Bayern, das für Fürth maßgeblich war, hatte bereits 1813 »die Auflösungen bestehender Juden-Korporationen« beschlossen. Der »Wirkungskreis der Rabbiner« sollte auf »kirchliche Verrichtungen» beschränkt werden. Eine »Ausübung von Gerichtsbarkeit« sowie »alle Einmischung […] in bürgerliche oder Gemeindeangelegenheiten« wurde den Rabbinern und Gemeindevorstehern verboten. Dass die Juden in ihren Schulen »vorschriftsmäßig gebildete und geprüfte Schullehrer« einstellen und sich an einem zu dieser Zeit noch gar nicht existierenden »allgemeinen Lehrplan« orientieren sollten, war aber ebenso wenig praktikabel wie der Passus, die Voraussetzung eines Studiums der »jüdischen Gottesgelehrtheit« für jüdische Studierende an »ein günstiges Zeugnis« von einer öffentlichen Studienanstalt des Königreichs über »hinreichende Vorbereitungskenntnisse« zu binden (Döllinger 1838: 5-7). Relativ unbehelligt von außen wurden in den Jeschiwot, den Klausen und Lehrhäusern in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. gelehrte Frömmigkeit und Geselligkeit gepflegt: In den jüdischen Familien sah man es gern, wenn die Söhne »einiges aus der Bibel und den Commenta-

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Das Gutachten »Über den Geist der jüdischen Studienanstalt in Fürth« ist in Auszügen abgedruckt bei: Wilke 1998: 5-6, auf das hier Bezug genommen wird.

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ren, sowie ein wenig vom Talmud wussten« (Jost 1854: 142) – eine Normalität, die sich im 19. Jh. ändern sollte. Nehrs und Zehlers Visitation der Fürther Hochschule stand im Kontext wachsender Kontrolle der rabbinischen Institutionen durch den sich formierenden Staat. Als Beamte des Königreichs Bayern schufen sie zivilisatorische Praxis vor Ort. Bei ihrer Ankunft waren sie vom jüdischen Gemeindevorstand und den Dozenten der Jeschiwa begrüßt worden, die sich mit den Studenten auf den Besuch umfangreich vorbereitet hatten. Die Bachurim – junge Männer im Alter von zwölf bis 20 Jahren – hatten den Gästen Zeugnisse und Proben ihrer deutschen Handschrift vorgelegt. Den Beamten zu Ehren hielten die Rabbiner Wolf Hamburger und Josua Moses Falkenauer ihre Vorlesungen ausnahmsweise auf Deutsch. Die Talmudgelehrten bemühten sich um kulturelle Übersetzung: So erläuterten sie die religiöse Bedeutung etwa der Kopfbedeckung während des Unterrichts, die Spezifität des Hebräischen als religiöse Sprache und die Disputationskultur. Und während Falkenauer in seinem Vortrag die grammatikalische Bedeutung hebräischer Termini erläuterte und auch lateinische Begriffe verwendete, setzte Wolf Hamburger den Besuchern am Schluss seines Unterrichts mit einigem Stolz ein halachisches Problem auseinander (vgl. Wilke 1998: 6). Der »Beweis seines Scharfsinns«, so Johann Georg Nehrs Resümee, hätte sich aber »auf Nebendinge« eingelassen, welche »gar nicht zu der Sache gehörten«. Die Vorträge beider jüdischer Gelehrter wären »mühsam von einer Theilbemerkung zu der andern« voran gegangen. Einem vorgelesenen Satz sei »ein Strom von jüdisch ausgesprochenen deutschen Wörtern« gefolgt. Die Besucher begriffen die »Verdeutschung des Talmud« als ein »Kauterwelsch von verdorbenen lateinischen grammatikalischen und andern Kunstwörter«. Von »Eckel« war den Beamten zudem »das beständige Getöse der Schüler, welche jedes Wort dem Lehrer von dem Munde wegschnappen und seiner Erklärung durch die ihrigen zuvor zukommen suchten […]«. Nehr und Zehler störten sich am »Dareinschwatzen der Schüler«, an »mancherley Gewäsch und vielem Querreden« der jüdischen Studenten. Zudem hätten »die Bewegungen, welche viele [Juden] dabei wie beim Beten machten«, zusätzlich »das Auge beleidigt« (Wilke 1998: 6). Die stillsitzenden Schüler an den Gymnasien, die aufgeklärt-didaktischen Pädagogikkonzepte, auch die Autorität von Gymnasialprofessoren und Lehrern standen in einem scharfen Kontrast zur jüdischen Lehr- und Lernpraxis, zum Pilpul – einer jüdischen Streitkultur zwischen Lehrern und Schülern, die mit ihrer körperli-

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chen Lern- und Lehrkultur eine Form habitueller und akustischer Differenz bildete und in einem scharfen Gegensatz zu den kontrollierten, bürgerlich maßvollen Körperidealen und Verhaltensnormen stand. Mit ihren Vorstellungen von Bildung inkompatibel, nahmen die Beamten das rabbinische Ausbildungssystem als fremd und als verdorben wahr. Dies ist der eine Aspekt greifbarer Wahrnehmung von Differenz: Die hospitierenden Staatsdiener argumentierten aber – und dies ist der zweite Aspekt – auf der Grundlage neuer Vorstellungen über das Judentum. Ihre Perspektiven waren an einem eigenen Wissenssystem orientiert.

Z IVILISIERUNGSMISSION , GELEHRTE M ÄNNLICHKEIT H ISTORISIERUNG DES J UDENTUMS

UND DIE

Vom Kampf gegen ›despotische Rechtssysteme‹ in Hawai (vgl. Merry 2000) oder Zivilisierungsvisionen für Indien (vgl. Fischer-Tine/Mann 2004) war man in der Wahrnehmung des frühneuzeitlichen Judentums im Allgemeinen, der Talmudhochschule von Fürth im Besonderen nicht weit entfernt. Das lag weniger an den unterschiedlichen inner- bzw. außereuropäischen Geografien oder Kulturen. Vielmehr waren die Zivilisierungsvorstellungen, ein Produkt der europäischen Gelehrtenelite, von ähnlichen Grundannahmen zivilisatorischer Differenz und Erziehung gespeist.4 Auch die Halacha (Jüdisches Recht) im Europa der Frühen Neuzeit galt seit dem späten 18. Jh. als eine »fremde Gesetzgeberei«, die man samt ihren »Rabbinen aus der Wurzel ausrotten« müsse (Paulus 1831: 11). Im Grossen vollständigen Universal-Lexicon von Johann Heinrich Zedler wurde das »Policey-Gesetz der Jüden« 1741 noch als ein Gesetz charakterisiert, »welches die Jüden lehrete, wie in allerley Fällen alles möge in guter Ordnung gelassen, der Gerechte bey seinem Recht erhalten, die Boßheit verhindert und gestrafft werden« (Zedler 1741: 1504). Seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. galten Talmud und »mosaisches Gesetz« – eine auf das Alte Testament reduzierte Form des Jüdischen Rechts – breitenwirksam nicht mehr als »ein religiöses, sondern [als] ein politisches Gesetz« (von Spaun 1817: 7), das parallel zur Entwicklung eines modernen Staats- und Rechtswesens nicht länger geduldet werden sollte. Mit Wilhelm von Dohms breit rezipierter Schrift

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Auf Parallelen zwischen innerer und äußerer Zivilisierung verweist Jürgen Osterhammel (Osterhammel 2005: 369; 382).

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Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden von 1781 rückte ein Modell der Zivilisierung des Judentums in den Fokus gesellschaftspolitischer Debatten. Über Jahrzehnte wurde auf seiner Basis der Kampf gegen die graduell differente jüdische Religion und Kultur auf der einen Seite, die Erziehung und Angleichung der Juden auf der anderen Seite diskutiert und multipliziert. In diesen Zivilisierungsideen, die sich schnell im gesamten mittel- und westeuropäischen Raum verbreiteten (vgl. Bar-Chen 2005: 13-16), waren die antijüdischen Stereotype von jüdischen Brunnenvergiftungen oder Ritualmorden argumentativ kaum noch relevant. Vielmehr galt die traditionelle Kultur als das eigentliche und zentrale Hindernis für eine Kultivierung des Judentums, eine Gemengelage, die in der Spätaufklärung theoretisch diskutiert, seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. zunehmend in die Praxis umgesetzt wurde. Ersichtlich nahm das Rabbinat einschließlich seiner Männlichkeitsideale in den Diskursen der Überwindung des frühneuzeitlichen Judentums einen zentralen Stellenwert ein. Als »sogenannte Gelehrte« wurden die Rabbiner für einen »bis zum Eckel angehäuften Schwall von TempelReinigungs- und Enthaltungsgesetzen und talmudische Verordnungen mit aufgehäuftesten Schnörkeleyen« verantwortlich gemacht (Anonym 1799: 3). Sie galten als gefährliche »Müßiggänger«, die sich mit »Talmudgrübeln«, »kleinliche[n] Ceremonien« und intellektuellen Kopfspielen beschäftigen (Anonym 1834: 1452). Ihr kultureller Ort lag nicht in Europa, sondern als »strenge Despoten« herrschten sie »ganz im theokratischen Geiste des Mose« (Friedrich 1816: 19) über das jüdische Volk »nach asiatischer Sitte abgeschlossen von der Welt« (Hartmann 1835: 26). 5 Der kulturelle Ort des Judentums wurde an seine orientalischantiken Anfänge gekoppelt und auf das frühneuzeitliche Judentum übertragen. Auch die vermeintlichen Herrschaftspraktiken basierten auf dem Selbstverständnis der Aufklärung, das eine Befreiung »von dem schädlichen Einflusse des Rabbiners, welchen der denkende Jude nur verachten kann«, für immer dringlicher hielt. In der Regel wurde der neu entstehende Staat verantwortlich gemacht, statt der »schmutzigen Rabbiner« jüdische Seelsorger und Lehrer auszubilden und einzusetzen, damit »der ungebildete Jude bald eine Gestalt [annehme], welche der europäischen Bildungsstufe des neunzehnten Jahrhunderts nicht unwürdig ist« (Anonym 1834: 1454).

 5

Der Despotismus der Rabbiner war ein weit verbreiteter Topos, siehe exemplarisch: Riem (1801): VII; Anonym (1834: 1451); Hartmann (1835: 25).

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Es ist bereits angemerkt worden, dass diese kolonial-zivilisatorischen Perspektiven eminent selbstzentriert waren. In der Wahrnehmung gelehrter Sozialisation und dezidierter Kopfarbeit jüdischer Männer, der vermeintlichen kulturellen Abgeschlossenheit und ›asiatischen Prägung‹ der Rabbiner spiegelt sich ein zeitgenössisches Wissenssystem wider, das der jüdischen Kultur und Geschichte jegliche Gegenwartsrelevanz absprach. Verantwortlich dafür waren Prozesse der Verwestlichung der Wissenschaften und der Erforschung der globalen Welt, die, wie Jonathan Sheehan gezeigt hat, im 18. Jh. mit der Trennung von Altem und Neuem Testament Hand in Hand gingen. Die hebräische Bibel, das Alte Testament, sollte als Geschichtsbuch, als Kompendium für ethnologische, philologische und theologische Forschungen im 18. Jh. einen neuen, bahnbrechenden Stellenwert erhalten (vgl. Sheehan 2005). Einher ging diese Umbewertung mit einer Entsakralisierung des Alten Testaments. Der Theologe und Mitbegründer der historisch-kritischen Bibelwissenschaft, Johann Salomo Semler, betonte in seiner Abhandlung von freier Untersuchung des Canon die historische Bedingtheit der überlieferten heiligen Schriften sowie die geografische Pluralität des antiken Judentums wie des frühen Christentums. Während er aber an der Vollkommenheit der christlichen Religion festhielt, maß er dem Alten Testament nur mehr als Dokument »einheimischer Landeshistorie« für Israeliten Bedeutung bei (Semler 1771: 36). Für »einen Forscher des Wahren« und für die »christliche Kirche« müsse ein göttlicher Ursprung des Alten Testamentes verneint werden (ebd. 28). Semler vermittelt einen Eindruck des Erkenntnisinteresses der Aufklärer. Ihr Forschungsgegenstand war das antike Judentum, »das mehr als irgend eine Asiatische Nation auf andre Völker gewirket« (Herder 1790: 104). Das Alte Testament bildete die Quelle für eine politische Geschichte, bot aber auch Anlass für vielfältige ethnologische Spekulationen. Betrachtet wurden die antiken Hebräer in der Regel als ein Volk von Nomaden, »die als Hirten auf den freyen Auen des Orients herumzogen«. Sie galten als »rohe Naturmenschen« (Eichhorn 1817: 100), waren von ägyptisch-morgenländischen Sitten und Gebräuchen beeinflusst und standen auf der untersten Stufe menschlicher Kulturentwicklung. Als eine einschneidende Zäsur der Entwicklung jüdischen Volkslebens galt den Aufklärern gewöhnlich Moses, der als Gesetzgeber, als eigentlicher Führer »seine Nation aus ihrer ersten Kindheit durch politische und religiöse Bildung heben« wollte (Eichhorn 1790: 5). Neben der ›Einführung‹ des Monotheismus wurde ihm vor allem die Einsetzung einer »politisch-gottesdienstliche Verfas-

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sung« als Verdienst ausgelegt (exemplarisch: Büsching 1779: 35). Denn im zeitgenössischen Verständnis waren damit die Grundlagen für eine Niederlassung in festen territorialen Grenzen, die Transformation eines Nomadenvolkes in ein »Ackervolk« verbunden (Eichhorn 1817: 102). Politisch-jüdische Geschichte und Entwicklung war an den Besitz eines Territoriums gebunden, die Entstehung eines Staates wesentlich mit dessen rechtlicher Grundsetzung verknüpft. Angelehnt ist dieses Verständnis an ein Modell stetiger menschlicher und kultureller Weiterentwicklung; Sesshaftigkeit sowie ein eigenes Staats- und Rechtswesen galten als Grundbedingungen für die Entwicklung eines kulturellsittlichen Lebens überhaupt (vgl. Osterhammel 2010: 265-267). Deutlich negativer als Moses und als eigentliche Verfälscher wurden die späteren »Priester«, die Pharisäer und Rabbiner, im weiteren Verlauf jüdischantiker Geschichte begriffen, die »ohne Zweifel im Interesse der Hierarchie, das Recht ganz und gar entstellt[en]«. Für den Historiker und Hegelianer Heinrich Leo, für den jegliche Geschichte überhaupt mit einem Staatswesen begann, waren die späteren antiken Talmudgelehrten Geschichts- wie Rechtsfälscher, die »für das ganze System ihrer Usurpationen Rechtsquellen von angeblich altem Datum einschwärzten« (Leo 1829: 13, 16). Diese Setzungen waren willkürlich und veranschaulichen das Unverständnis für kulturelle wie religiöse Differenzen und die Selbstzentriertheit der Aufklärung. Die Trennung in ein positives ›mosaisches‹ und ein negativ talmudisch-rabbinisches Recht und Schrifttum trug maßgeblich zur Abwertung des frühneuzeitlich-rabbinischen Judentums bei. Denn in den weit ausgreifenden historischen Konzepten der Aufklärer galten die frühneuzeitlichen Rabbiner nicht selten als Stellvertreter einer von der Antike bis zur Neuzeit reichenden jüdischen Deformation: »Unter dem Volke der Juden [habe] die wissenschaftliche Bildung nie ein Gedeihen, selbst in ihrer blühendsten Epoche keine Pflege gefunden […]. Von den frühesten bis auf die neuesten Zeiten [nagten und grübelten] ihre Rabbinen oder Gelehrte nur am Buchstaben« (Knüppeln 1798: 5). Männlich diskursiviert war damit die Kritik an den rabbinischen Eliten auf der Grundlage neuer und wissenschaftlich seriöser Vorstellungen über das Judentum. Für das ›real existente‹ Judentum waren die Ambivalenz und Wucht dieser Transformation erheblich, stand doch mit der Zivilisierungsmission eine Kultur und Religion insgesamt in der Kritik. Als antike Zivilisation in den aufgeklärten Wissenschaften analysiert und kritisiert, besaß das Judentum auf der einen Seite keinerlei

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Gegenwartsrelevanz mehr. Auf der anderen Seite sollten sich die ›Israeliten‹ – so der Grundtenor aller Debatten – von Grund auf reformieren.

T RANSFORMATIONEN : M ÄNNLICHKEIT DER M ODERNE

IM

J UDENTUM

Als ein »Mosaikstein im gelehrten Kosmos« hatte in der Frühen Neuzeit jeder jüdische Mann gegolten, für den die Befolgung der jüdischen Gesetze an das Studium derselben gekoppelt war (Preuß 2007: 8). Dem Ideal nach verstand sich das frühneuzeitliche Judentum als eine männliche gelehrte Gesellschaft. »Reichthum, körperliche Vorzüge und Talente aller Art« genössen in den jüdischen Gemeinde zwar »einen Werth, und werden verhältnißmäßig geschätzt«, formulierte etwa der jüdische Aufklärer Salomon Maimon 1792. Das Studium der religiösen Traditionsliteratur wie eine gelehrte Erziehung waren vor allem anderen aber mit dem höchsten Ansehen verbunden. Jeder, »gleich welchen Alters und Standes« stehe in einer Versammlung vor einem gelehrten Mann »ehrerbietigst« auf. »Alle Aemter und Ehrenstellen der Gemeinde« wurden dem gelehrten Juden zugesprochen und sein »Urtheil« hatte »Rechtskraft in allen täglichen Angelegenheiten« (Maimon 1792: 59-60). Abgeleitet war und ist diese soziale Reputation von einer ideell für jeden jüdischen Mann gültigen religionsgesetzlichen Pflicht, über der Arbeit das heilige Studium des Gesetzes (Halacha) nicht zu vernachlässigen (Babylonischer Talmud, Mischnah Avoth, [Sprüche der Väter]: 4,12; 1,2.). Diese religiöse Prägung kultureller Normen und Praktiken schlug sich in gesellschaftlichen Differenzierungen nieder: »Frauen und Männer, die wie Frauen sind« waren der Gegenpol zum gelehrten Mann. Moses Henochs Altschul charakterisierte diese in seinem Brantshpigl von 1596 als diejenigen, die »nicht viel lernen können« (Altschul-Jeruschalmi 1993: 25). Sowohl jüdische Frauen als auch ungelehrte, des Hebräischen unkundige Männer bildeten ein »gemeinsames soziales Geschlecht« (Rohden 2001: 175). An den Chadarim, jüdischen Grundschulen, und den Jeschiwot, den eigentlichen Hochschulen, erwarben jüdische Jungen und junge Männer die Grundlagen und das Handwerkszeug für den Umgang mit der religiösen Traditionsliteratur. Diese waren für die Rechtsprechung wie für die alltägliche Regelung, etwa im Umgang mit Speisen, unerlässlich. Zudem galten die Beschäftigung mit und die Diskussion über Talmud, Tora und

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Kommentare selbst als Ausweis ausgezeichneter Frömmigkeit (vgl. Preuß 2007). Mit der Entwertung der rabbinischen Kultur seit der Aufklärung veränderten sich die Bewertungsmaßstäbe im Judentum selbst. Zwar erreichte die ältere Generation jüdischer Gelehrter dieser Umbruch nicht. Sie leistete vor allem im frühen 19. Jh. erheblichen Widerstand gegen die Homogenisierungspraktiken und versuchte »das Eigenthümliche des Thalmudunterrichts« zu retten, sollte doch »jeder Israelit […] im Stande gesezt seyn, die ihm obliegenden Religionspflichten auszuüben« (zit. n. Wilke 2003: 366). Konterkariert wurden ihre Proteste aber nicht nur vom Staat und seinen Beamten. Junge jüdische Männer, Aufklärer, später Reformjuden und die größer werdende Zahl jüdischer Studenten sorgten für einen Umschwung im Denken: An die Stelle frühneuzeitlicher Männlichkeitsideale traten ihre neuen Entwürfe von Kultur und Geschlecht. Plastisch thematisierte die anonym publizierte Schrift Altes und neues Judenthum diese neuen Männlichkeitsnormen. Ihr literarischer Held ist ein jüdischer Mann der Tradition. Die Darstellung handelt von seinen letzten Stunden, seinem Sterben und von seinen Versuchen, in der »Oberwelt«, im Himmel, Einlass zu finden (Anonym 1852: 38). Den Anfang markiert ein Schwächeanfall des Mannes an Jom Kippur, dem höchsten Feiertag im jüdischen Jahr, der für jüdische Männer (heute auch für jüdische Frauen) mit ganztägigem Fasten, mit Buß- und Betpraktiken verbunden ist. Nach mehrstündigem Kampf stirbt der Held. Denn er hatte die gesundheitsstabilisierenden Maßnahmen seines Arztes zurückgewiesen, sich aber nicht der religiösen Praxis verweigert (vgl. ebd. 39-41). Im Anschluss findet er sich im Vorhof des Himmels wieder, wo ihm ein großes Bund Schlüssel ausgehändigt wird. Sie stehen für seine guten Taten und wohltätigen Handlungen zu Lebzeiten, die ihm die eigentliche Himmelspforte öffnen sollen. Schnell stellt sich heraus, dass ihm trotz seiner vielen Schlüssel der Zugang verwehrt bleibt. Auch der Himmel wartet mit veränderten, zivilisierten Verhältnissen auf. Ein erster Schlüssel für seine »Betübungen« passt nicht. Zwar hatte er selbst seine Gebete am Morgen, am Abend, an den Samstagen und Feiertagen sowie alle »Tisch- und Nachtgebete« für wesentlich gehalten. Von seinem himmlischen Begleiter wird er aber vermahnt, er hätte »[b]esser wenig mit Andacht, als viel ohne Andacht« mit Gott gesprochen. Der Schlüssel für seine »Heiligung der Sabat- und Feiertage« ist inadäquat. Als traditioneller Jude sei er nämlich »die Woche hindurch ein Müssiggänger« gewe-

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sen. Seine Erfolge in der »Verbreitung der talmudischen Wissenschaft« – ein weiterer Schlüssel – nützen ihm nicht, weil er seine Schüler »einer nützlichen Beschäftigung entzogen [habe]. Nur sehr Wenige von ihnen wurden ganz talmudisch ausgebildet, diese Wenigen haben durch ihre krasse Unwissenheit in allen weltlichen Studien nur Unheil in den Gemeinden befördert; und die übrigen sind zu geringe Talmudisten, um sich nicht der Arbeit zu schämen, daher sie Bettler wurden« (alle Zitate ebd. 43-45).

Nicht ohne Schwierigkeiten gelangt er mit einem letzten Holzschlüssel doch noch an sein Ziel – für seine Wohltätigkeit, auf Erden Holz an Arme, wenngleich nur an »Frommgläubige« verschenkt zu haben (ebd. 46). Der frühneuzeitliche Jude ist ein negativer, rückständiger Typus, der sich über die neuen Zeiten belehren lassen muss. Kontrastiv ist ihm eine positive Figur, eine Frau, zur Seite gestellt. Der jüdischen Lehrerin einer Mädchenschule wird mit nur zwei Schlüsseln sofort Einlass gewährt. Ihr erster Schlüssel steht für ihre »pünktliche, strenge und ehrliche Berufserfüllung«, der zweite belohnt sie für ihren »stets redliche[n] Eifer, die Unwissenden und Verblendeten meines Volkes zu belehren« (ebd. 4748). Die Frau ist die Gewinnerin der bürgerlichen Gegenwart, die den modernen Normen in weit größerem Maß entspricht als der frühneuzeitliche Männertypus. Bezug nimmt die Geschichte damit auf neue bürgerliche Geschlechternormen (vgl. Baader 2006) und auf eine massive Kritik an frühneuzeitlicher Männlichkeit.6 Die jüdische Kultur der Frühen Neuzeit hatte mit ihrer Profilierung gelehrter Männlichkeit jüdische Geschlechtsidentität, familiale Lebenswelten und männliche Erwerbstätigkeit in starkem Maße strukturiert. Der Tod des frühneuzeitlichen Juden in der Geschichte war ein symbolischer wie reeller. Unter Männern (wie Frauen) schlug sich die zentrale Kritik an gelehrter Männlichkeit binnen kurzer Zeit in einer großflächigen kulturellen Entwertung der rabbinischen Eliten nieder: Die »Scham vor dem Name Bocher oder Rebbe« und »der herrschende Dummstolz«

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Die Kritik an der traditionellen Kultur ging im Judentum seit etwa 1800 mit einer erheblichen Aufwertung von Weiblichkeit im Kontext religiöser Transformationsprozesse einher. Anders etwa als der Pietismus war das frühneuzeitliche Judentum institutionell wie religiös stark patriarchal geprägt, vgl. grundlegend zu Aspekten dieser Transformation: Boyarin (1997: 151-186); Baader (2006: passim); Lässig (2004: 326-360).

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wurde auf dem süddeutschen Land so groß, dass für Isaac Thannhäuser um 1820 an eine Tätigkeit als Talmudlehrer nicht mehr zu denken war (Thannhäuser 1976: 108). Auch Isaac Bernstein in Posen, der, von seinem für die »Thalmudische Wissenschaft« begeisterten Vater animiert, zunächst bei verschiedenen Rabbinern studiert hatte, wollte als junger Mann dann doch »der Stimme des Inneren« folgen. Seine rabbinischen Studien betrachtete er jetzt als Zeitverschwendung, »da ein Talmudist nur einer kümmerlichen Zukunft entgegen geht«. Bernstein ging zu den Plänen seines Vaters auf Distanz, wechselte ins Kaufmannsfach und wanderte später nach Amerika aus. Seine Entscheidung rechtfertigte er vor sich selbst, dass »wir Menschen nicht das werden [müssen], was andere aus uns machen wollen, sondern der Vernunft folgen [müssen]« (Bernstein ohne Jahr: 2-3). Gelehrte Männlichkeit bekam in der Perspektive der sich verbürgerlichenden Männer einen kritischen Stellenwert. Denn bereits im späten 18. Jh. hatte sich ein neues Verständnis von Männlichkeit herausgebildet, das Ideal eines »masculine achievers«, das für jüdische wie andere Männer im 19. Jh. verbindlich werden sollte (Rotundo 1987: 36-37). An die Stelle rabbinischer Männlichkeitsnormen trat ein bürgerlich geprägtes Arbeitsverständnis, das Männer auf individuelle Leistungsbereitschaft, auf Broterwerb und den Erhalt einer Familie verpflichtete (vgl. exemplarisch: Schüler-Springorum 2001: 369-393). Die Lebensgewohnheiten des Großvaters von Louis Badt, der bis in die 1820er Jahre im östlichen Mitteleuropa als Wollhändler arbeitete, waren im 19. Jh. nicht mehr möglich: Dieser hatte seine geschäftliche Tätigkeit nur am »Montag« ausgeübt. An allen anderen Tagen war er mit dem »Talmudstudieren« beschäftigt. Wollte jener Großvater noch »seine Töchter nur solchen jungen Leuten« zur Frau geben, die sich durch Talmudkenntnis auszeichneten, so gerieten die ehemals begehrten gelehrten Schwiegersöhne zunehmend in Verruf (Badt 1909/10: 6). In jüdischen Familien waren im 19. Jh. zunehmend ›neue Männer‹ gefragt. Diese mussten – auch aufgrund der Forderungen von Frauen – eine bürgerliche Existenz vorweisen können, einen Beruf, der die zukünftige Familie ernährt – und sie mussten in zwei Welten, der jüdischen und bürgerlichen Kultur, zu Hause sein.

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A USBLICK Die Veränderung männlicher Lebenswelten und Geschlechternormen sowie das neue Wissenssystem über das frühneuzeitliche Judentum als eine rückständige und überholte Kultur waren zwei Seiten einer Medaille. Schon an der Wende zum 19. Jh. hatte sich der Berliner Fabrikant und Publizist, David Friedländer (1750-1834) von der frühneuzeitlichen Kultur distanziert: »Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht, hat er [der jüdische Mann, Anm. KG] entweder gewisse religiöse Handlungen zu beobachten, oder aufzumerken, ob er nicht gegen Vorschriften verstößt. Die positiven Gesetze sind peinlich, mit Kosten verknüpft und Zeit raubend«. Gegenüber anderen Menschen würden sie jüdische Männer »scheu, verlegen und oft unruhig« machen (Friedländer 1799: 9, 4). Jüdische Identität war in diesem Prozess vergeschlechtlicht (vgl. Habermas 2000: 22). In die Lebensentwürfe und Orientierungen junger Juden schrieb sich mit der Folge zunehmender Distanz und Entfremdung die Kritik der Aufklärung am Judentum ein. Sehr schnell bauten die ersten jüdischen Reformer für Entwürfe eines modernen Judentums auf Argumentationen der Zivilisierungsideologie. Der Prager Aufklärer Peter Beer etwa sah in der »Gelehrsamkeit« das einzige Mittel traditioneller jüdischer Ehrbarkeit, dass sich allerdings »auf scharfsinnige, mitunter auch sophistische Erklärungen« beschränke (Beer 1832: 47). In der Regel galten die frühneuzeitlichen Rabbiner jetzt als Männer, denen es vorzugsweise um Sozialprestige gehe und deren gelehrtes Spezialwissen von (gefährlicher) Weltfremdheit sei. Auch in der entstehenden Orthodoxie, die sich als rechtmäßige Erbin der frühneuzeitlichen Kultur verstand, fand die frühneuzeitliche Lernpraxis zunehmend weniger Akzeptanz (Breuer 1986: 22). Zwar waren die Perspektiven auf die Tradition dort von einer weniger polemischen Abgrenzung, sondern stärker von einer nostalgischen Verklärung bestimmt. Dennoch wurde die gelehrte Lernpraxis im Verlaufe des 19. Jh. auf das Feld tendenziell privater, zeitlich begrenzter Lernzirkel transferiert und an eine bürgerliche Lebens-, Arbeits- und Konsumkultur, soweit sie dem jüdischen Gesetz entsprach, angepasst. Der hier skizzierte Umbruch war Teil einer zivilisatorischen Umformung, der für alle neuen Strömungen im Judentum galt. Der Logik einer Anverwandlung einer ›höherwertigen‹ Kultur folgte so auch die Transformation jüdischer Geschlechterverständnisse. In Begriffen von »Selbstemancipation« verstanden jüdische Männer ihre Verwestlichung seit

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dem frühen 19. Jh.. Sigismund Stern, der auf den (geläufigen) Terminus für einen politikhistorischen Artikel im Staats-Lexikon zurückgriff (Stern 1863: 669), führte dazu den Kampf um politische Gleichberechtigung wie den Kulturumbruch an, den er mit der Mehrheit seiner reformorientierten Zeitgenossen als eine Befreiung »von den innern Fesseln und Schranken« begriff, in welche das Judentum »sich unter dem mehr als tausendjährigen Druck des Mittelalters einzuschließen genöthigt war« (ebd.). Nutzen und Wert der Übertragung postkolonialer Perspektiven auf Europa machen also nicht nur deutlich, dass Kolonialisierungsprozesse in Europa selbst virulent waren. Die Wucht, Tragweite und Wirkmächtigkeit dieser zivilisatorischen Wissensmodelle bis in die Gegenwart zu erkennen, ist von einiger Relevanz für die europäische wie für die außereuropäische Geschichte. Denn die jüdischen Kulturen Europas, ihre Programme und Orientierungen der Neuzeit sind und waren Teil einer (west-)europäischen Transformation. Wie etwa Aron Rodrigue und Eli Bar-Chen gezeigt haben, begegneten die jüdischen (West-)Europäer arabischen, afrikanischen und osteuropäischen Juden im Verlaufe des 19. Jh. mit der gleichen zivilisatorischen Überlegenheitsgeste, mit der sie zunächst selbst konfrontiert waren (vgl. Rodrigue 2005: 129-143 und Bar-Chen 2005). Analog zu den europäischen Hilfsorganisationen exportierten auch jüdische Verbände ihre zivilisierte Kultur in die Türkei, nach Marokko und in den Vorderen Orient. Sie gründeten Schulen, sammelten Informationen vor Ort und bemühten sich um eine Anhebung kultureller Standards in der muslimischen Welt. Dieser Transfer europäischer Werte hat nicht nur das 19. und 20. Jh. und die Gründung des Staates Israel mitbestimmt, der sich heute als ein europäischer versteht. Die Dominanz der aschkenasisch-europäischen Juden in der israelischen Politik, Kultur und Gesellschaft wird erst seit einigen Jahren durch eine zunehmende Partizipation arabischer und afrikanischer Juden aufgebrochen – und ist ein Prozess, der noch anhält (vgl. Kamil 2008 und Semyonov/LewinEpstein: 2004).

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»[] ist doch auch das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes ein dark continent für die Psychologie« M ARTINA T ISSBERGER

Mit Sigmund Freuds Allegorisierung weiblicher Sexualität als »Dark Continent« verweist er unbeabsichtigt auf zwei konstitutive Figuren der Psychoanalyse: Geschlecht und ›Rasse‹. Sie sind beide DifferenzFiguren, mit deren Hilfe Ausschlüsse vorgenommen werden, damit das Subjekt der Psychoanalyse hervortreten kann. Geschlecht beziehungsweise die sexuelle Differenz stellt die Anfangs-Figur dar. Der dunkle Kontinent als Allegorisierung Afrikas, das für ›Rasse‹ steht, ist der verschobene Anfang. Diesem geht ein weiterer voraus: der Antisemitismus als eine Form des Rassismus, den Freud erlebte. Er stellt den verdrängten Anfang der Subjektgenese in der Psychoanalyse dar. Der ›Kontinent weiblicher Sexualität‹ ist ein weißer Fleck in der Erkenntnislandschaft Freuds; etwas, das sich ihm beständig zu entziehen scheint und das zur ›Leerstelle Frau‹ (Phallus), dem konstitutiven Mangel des Subjekts der Psychoanalyse wird.1 Diese Leerstelle – das Unbewusste (in) der Psychoanalyse, ist also in interdependenter Weise rassistisch und geschlechtlich codiert. Ich nehme deshalb die ›Leerstelle in der Psychoanalyse‹ – ihr Unbewusstes – zum Ausgangspunkt für eine Historisierung und zugleich eine Dekonstruktion ihres Subjekts. Es wird sich zeigen, dass

 1

Mary Ann Doane schreibt über Freuds Begriff des Dark Continent: »The phrase transforms female sexuality into an unexplored territory, an enigmatic, unknowable place concealed from the theoretical gaze and hence the epistemological power of the psychoanalyst« (Doane 1991: 209).

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›Rasse‹ und Weiblichkeit gleichermaßen konstitutives Außen dieses Subjekts sind. Freud entwickelt seine Psychoanalyse im Wien des Fin de Siècle während der Kolonialismus noch im vollen Gange ist. Er verarbeitet die Diskurse des Kolonialismus ohne jedoch Bezug auf ihre Bedeutung für das Subjekt und die Kultur seiner Zeit zu nehmen. Zugleich ist die Psychoanalyse fundamental durch den Antisemitismus ihres Entstehungskontextes geprägt. Mit ihrer Konzentration auf Sexualität und Geschlecht nimmt die Psychoanalyse Freuds eine Zäsur in die damaligen Geschlechterverhältnisse vor. In kaum einem anderen Wissenskörper über Subjekt und Kultur sind deshalb die Verhältnisse von Kolonialismus, Antisemitismus und Sexismus derart konkret verarbeitet. Durch Freuds ambivalente Position als weißer Mann in einer sexistischen und kolonialistischen Gesellschaft und zugleich als Jude in einer antisemitischen Gesellschaft hat er uns eine Subjekttheorie hinterlassen, die ein ebenso revolutionäres wie reaktionäres Potential hat. Mit Daniel Boyarin werde ich argumentieren, dass Freud die konkret historische rassistische Differenz in Form des Antisemitismus (die Realität) – der verdrängte Anfang der Psychoanalyse – in letzter Instanz in die sexuelle Differenz (das Reale), welche in der Psychoanalyse als ahistorisch konstruiert ist, verschoben hat. Freuds Traumdeutung, in der er die Bedeutung des Unbewussten erarbeitet, gilt als eine der Gründungsgeschichten der Moderne. Ich werde argumentieren, dass er mit seiner Psychoanalyse nicht, wie behauptet, eine universale Subjekt- und Kulturtheorie entwickelte, sondern eben dieses Subjekt der abendländischen Moderne mitsamt seinem Eurozentrismus und Androzentrismus beschrieben hat. Freud formulierte zwei Dimensionen des Unbewussten: Die Topik und die Dynamik. Mit dem dynamisch Unbewussten wird die Verdrängung von Elementen menschlicher Erfahrung beschrieben, die – erinnert, wiederholt und durchgearbeitet – wieder zu Bewusstsein gebracht werden können. Mit der Topik konstruierte Freud ein Unbewusstes (das ›Es‹ der Strukturhypothese), das durch Weiblichkeit und ›Rasse‹ als Primitivität codiert und als triebhafte Vergangenheit figuriert ist. In Freuds Metapher des Dark Continent konfluieren ›Rasse‹ und Weiblichkeit, deren Primitivität mit dem Ödipuskomplex und seiner Inauguration des ›Ich‹ als Rekapitulation der phylogenetischen Überwindung der Natur im Übergang zur Kultur (in der ›Urhorde‹) überwunden wird. Dieses topisch Unbewusste bezeichne ich mit Foucault als sedimentierte Geschichte der

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Gegenwart. Hier hat Freud Diskursives über den Körper in die Psyche eingeschrieben und damit naturalisiert. Judith Butler hat in ihrer kritischen Lesart der Psychoanalyse gezeigt, dass ihre Episteme, die um die ›Leerstelle Phallus‹ (am Ort der Kastrationsdrohung) kreist, performativ hervorgebracht wird. Butler verdeutlicht nicht nur, dass der Phallus am Ort der Anatomie operiert und die Subjekte, die er konstituiert, vergeschlechtlicht und ihr Begehren determiniert. Durch ihre dekonstruktive Lesart der Subjektgenese der Psychoanalyse zeigt Butler auch, dass der Phallus dort performativ hervorgebracht und seine ontologische Beziehung zum Penis verschleiert wird. Der Fels des Realen (Urhorde, Ödipus) wird durch das Zitieren des Gesetzes re/produziert, genauso wie ›Ursprünglichkeit‹ (von Kultur; die Schnittstelle zwischen Natur und Kultur in Form des Schnitts des Signifikanten Phallus) performativ hervorgebracht wird. Über Butler hinaus werde ich zeigen, dass der Phallus der Psychoanalyse nicht nur männlich, also androzentrisch und heteronormativ, sondern auch weiß ist. Seine epistemische Gewalt erzeugt deshalb nicht nur heteronormative, sondern auch kolonisierende Effekte. Weil Freuds Psychoanalyse reaktionäres ebenso wie revolutionäres Potential hat, werde ich versuchen, ›the master’s house with the master’s tools‹2 zu dekonstruieren; ihre Dynamik gegen ihre Topik zu lesen. In dem ›topisch‹ Unbewussten sind die Bemächtigungsgeschichten der Moderne: Kolonialismus, Imperialismus, Sexismus, Antisemitismus gespeichert, und sie können mit einer postkolonial-kritischen Psychoanalyse bewusst gemacht und bearbeitet werden. Beginnen werde ich meine Untersuchung mit dem Phänomen ›Whiteness‹ als de-thematisiertes Machtzentrum der rassistischen Matrix; der Leerstelle im ›kulturellen

 2

Eine Formulierung, die Audre Lorde in ihrer Kritik des weißen Feminismus verwendet, um zu argumentieren: »the master’s tools will never dismantle the master’s house«. Seine Werkzeuge erlauben uns lediglich, ihn kurzfristig mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, sie befähigen uns aber nicht, eine grundlegende Veränderung herbeizuführen (Lorde 1984: 112). Meine Argumentation setzt an Freuds ambivalenter Position als Jude in einer antisemitischen und als weißer Mann in einer kolonialistischen und sexistischen Gesellschaft an, von der aus er eine Psychoanalyse entwickelte, die ebenso reaktionären wie revolutionären Zwecken dienen kann. Das ›Instrumentarium des Meisters der Psychoanalyse‹ kann deshalb Machtverhältnisse stabilisierend wie auch destabilisierend eingesetzt werden.

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Symbolischen‹ – das Unbewusste des Subjekts der abendländischen Moderne und seiner Kultur.

Z ENTRUM (G RENZE ) P ERIPHERIE . Z UR K ARTOGRAPHIE VON W HITENESS

MENTALEN

Projektion A) Ausdruck, der in einem sehr allgemeinen Sinn in der Neurophysiologie und in der Psychologie verwendet wird und die Operation bezeichnet, durch die ein neurologischer oder psychologischer Tatbestand nach außen verschoben und lokalisiert wird, entweder vom Zentrum zur Peripherie oder vom Subjekt zum Objekt. Diese Bedeutung läßt recht unterschiedliche Auffassungen zu. B) Im eigentlichen psychoanalytischen Sinne Operation, durch die das Subjekt Qualitäten, Gefühle, Wünsche, sogar ›Objekte‹, die es verkennt oder in sich ablehnt, aus sich ausschließt und in dem Anderen, Person oder Sache, lokalisiert. Es handelt sich hier um eine Abwehr sehr archaischen Ursprungs, die man besonders bei der Paranoia am Werk findet, aber auch in ›normalen‹ Denkformen. (LAPLANCHE/PONTALIS 1994/1967: 399-400) »Welche Marginalität? Marginal im Verhältnis zu wem? Zu welchem Ort? Wozu?« (TRINH T. MINH-HA 1996: 152)

Wenn Wissenschaftler_innen der kritischen Whiteness-Forschung die Konstitution und Wirkweise ihres Gegenstandes beschreiben, drängt sich schnell das Bild von Whiteness als einem Zentrum auf, das bemüht ist, seine rassistisch markierte Peripherie permanent zu re/konstruieren, diese gar wie einen Schatten um sich zu legen. Die Rede ist etwa von Whiteness als Struktur, die wie eine leere Mitte und als neutrales Zentrum wirkt,

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von dem aus mit Definitionsmacht eine Peripherie als das ›Andere‹ markiert wird, während sie sich selbst de-markiert (vgl. Ware/Back: 2002; Wachendorfer 2001 und Frankenberg 1993). Whiteness setzt sich als ›unmarked marker‹ oder ›empty signifier‹ (vgl. Frankenberg 1997), als neutrales Zentrum und mit ihm als Norm, von der aus Abweichung und Differenz bestimmt werden. Umgekehrt betrachtet – und das ist wesentlich – ist dieses ›weiße Zentrum‹ konstitutiv auf das Schwarze, seinen ›Schatten‹, ›das Andere‹ und das Ab-normale angewiesen, damit es sich als Eigenes und Eigentliches, als normativ und normal setzen kann. Weil Whiteness konstitutiv auf ›das Andere‹ angewiesen ist, besteht die Notwendigkeit, dieses permanent zu re/konstruieren. Die Existenz von Whiteness als Zentrum ist also von seiner Peripherie in der Weise abhängig, wie ein Zentrum es nur sein kann, da es keins wäre ohne das, wovon es sich abgrenzt. Whiteness ist nicht gleich Weißsein, obgleich die zwei Begriffe in der Übersetzung des Forschungsfeldes aus dem englischsprachigen (v.a. US-Amerikanischen) in den deutschsprachigen Raum oft synonym verwendet werden. Wie Rosa Schneider es formuliert, sind »mögliche Übersetzungen wie ›weiße Identität‹ oder ›Weißsein‹ irreführend«, da »Whiteness – analog zu Weiblichkeit – die sprachliche und soziale Konstruktion und nicht etwa eine, wie auch immer geartete Identität wie etwa ›Frausein‹ meint« (Schneider 2003: 36, Fußnote 75). ›Rasse‹ ist eine soziale Konstruktion, das heißt, sie muss permanent re/produziert werden, um existent zu bleiben. Rassismus dient dazu, die Menschheit aufzuspalten, in einzelne Gruppen einzuteilen und diese hierarchisch anzuordnen. ›Weißsein‹ und ›Schwarzsein‹, um die beiden ›Extrempole‹ der Konstruktion ›Rasse‹ zu bezeichnen, sind Effekte des Rassismus. Diese Effekte als Ausgangspunkt von Untersuchungen zum Rassismus zu nehmen, hieße, das Wesentliche des Rassismus – die Mechanismen seiner Re/Produktion, das Ein/Teilen von Menschen – auszublenden. Zwar ist es wichtig, die Effekte des Rassismus zu benennen und entsprechende Subjektpositionen, bspw. Weißsein oder Weiße_r. Whiteness bezeichnet jedoch mehr als diese ontologisierte Subjektposition. Whiteness ist eine Matrix – eine historisch gewordene Struktur, die aus konkreten politischen, ökonomischen und sozialen Machtkonstellationen heraus entstanden ist und die sämtliche Bereiche des Lebens durchzieht. Whiteness ist eine Macht, die ihren Namen nicht nennt. Man könnte sie mit Foucault als Dispositiv bezeichnen. Als de-thematisiertes Machtzentrum des Ras-

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sismus entstanden, ist sie eine wirkmächtige Imagination, die kollektiv wie individuell operiert; meist unbewusst. Ruth Frankenbergs 1993 veröffentlichte Arbeit White Women, Race Matters: The Social Construction of Whiteness war die erste Arbeit, die sich explizit mit dem Phänomen Whiteness auf einer qualitativempirischen Ebene beschäftigte und daher das Feld der Critical Whiteness-Studies mit begründete. In dieser damals sehr innovativen Untersuchung wollte Frankenberg das Terrain von Whiteness »explorieren« und »kartographieren«, wie sie schreibt (Frankenberg 1993: 1). Frankenberg stellt fest, dass ›Rasse‹ für das Leben weißer Frauen in den USA nicht nur aufgrund von strukturellem Rassismus Bedeutung gewinnt. Die von ihr interviewten Frauen nahmen zwar unwillkürlich ihre unbenannten und unmarkierten Orte in den ›rassistischen Landschaften‹, in die sie hinein geboren wurden, ein, sie reproduzierten diese Orte jedoch auch aktiv. Es sind die Individuen selbst, welche aktiv bestimmte Subjektpositionen einnehmen und damit die Lokalisierung von Privilegien und die Perpetuierung der Normativität weißer Kultur vornehmen. Ein ›undoing of Whiteness‹ sei deshalb nicht nur Angelegenheit der Politik, sondern der einzelnen Individuen, so das Resumée dieser Studie. Whiteness liegt also im Nexus von Subjekt und Kultur, Individuum und Diskurs. Was dem Bewusstsein zugänglich ist, kann verändert werden. Whiteness scheint allerdings genau dort am wirkmächtigsten, wo es sich dem Bewusstsein entzieht.

W HITENESS ALS L EERSTELLE – DES R ASSISMUS

DAS

U NBEWUSSTE

Auch wenn sich seine Manifestationen dekonstruieren lassen, taucht Whiteness als normatives Zentrum, das mit (Definitions-)Macht ausgestattet ist und ›seine‹ Peripherie mittels rassistischer und anderer Differenzbestimmung herstellt, immer wieder auf. Whiteness re-zentriert sich selbst unter den Theoretiker_innen und Aktivist_innen, die um die ›Abschaffung‹ von Whiteness bemüht sind und an der De-Zentrierung der Macht von Whiteness arbeiten (vgl. etwa Roediger 1994). Der im Zusammenhang mit der Diskussion um die De- versus Re-Zentrierung von Whiteness innerhalb der Critical Whiteness Studies entstandene Begriff des ›weißen Solipsismus‹ mag verdeutlichen, welcher notorisch selbstreferenziellen Dynamik Whiteness unterliegt. Einer Nabelschau glei-

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chend scheint diese Position keinen anderen Bezug zu ›ihrem Anderen‹ herstellen zu können, als ihn zur Selbstbespiegelung zu missbrauchen und ihn als konstitutives Außen zu reproduzieren. Die in diesen Debatten involvierten weißen Autor_innen stellen die Tendenz fest, dass auch bei ihrer kritischen Beschäftigung mit Whiteness auf ein rassistisch markiertes ›Anderes‹ oft nur in seiner Bedeutung für das ›Eigene‹, das ›Eigentliche‹, nämlich das weiße Selbst rekurriert wurde. Was da also dekonstruiert werden sollte, rekonstruierte sich lediglich. Whiteness ist ein Symptom der abendländischen Moderne, Teil ihrer Metaphysik und es kann analog des von Derrida entwickelten Konzepts des Phallogozentrismus verstanden werden. Es strukturiert das Denken und ordnet dieses nicht nur in Dichotomien wie Kultur/Natur; Geist/Körper; Subjekt/Objekt; Vernunft/Gefühl; Mann/Frau (vgl. Meißner 2010: 33) und eben Weiß/Schwarz, sondern hierarchisiert diese Gegensatzpaare auch. Whiteness ist mit Kultur, Geist, Subjekt, Vernunft und Männlichkeit assoziiert und sein konstitutives Außen (Natur, Körper etc.) wird zum ›kulturellen Unbewussten‹. Als solches entzieht es sich dem Bewusstsein und sucht das Subjekt von Whiteness heim. Pajaczkowska und Young argumentieren, dass ›the absent centre of Whiteness‹ aus der Leugnung des Imperialismus und der Ausblendung der destruktiven Effekte der Machtausübung (vgl. Pajaczkowska/Young 1992: 202) in der europäischen Geschichtsschreibung auf politischer wie subjektiver Ebene resultiert. Rassismus und Whiteness als sein de-thematisiertes Machtzentrum ist ein konstitutives Moment der abendländischen Moderne. Wie Charles Mills im Racial Contract beschrieben hat, geht es bei Whiteness um ein System. Durch den mit Imperialismus, transatlantischer Sklaverei und Kolonialismus institutionalisierten Rassismus sind Weiße weltweit »politically dominant, have higher racial status, enjoy the hegemonic culture, and [are] positioned ›ontologically‹ as the superior race, [and therefore] the threatened loss of these perks of whiteness may well outweigh for them the gains they will be able to make in straight financial terms in a deracialized system. One can only be white in relation to nonwhites. So some or many whites may calculate, consciously or unconsciously, that by this particular metric of value they gain more by retaining the present system.« (Mills 1999: 52)

Whiteness als Struktur durchzieht also nicht nur die Felder der Politik, der Ökonomie oder des Sozialen; die Systematik von Whiteness ist epistemologisch.

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Dass sich Whiteness als (Diskurs-)Macht immer wieder re-zentriert, ist mit historischen, politischen, ökonomischen oder psychologischen Analysen allein nicht zu erklären. Mein Vorschlag ist vielmehr, den Subjekt-Begriff selbst, wie er dem Politischen ebenso wie dem Psychologischen – den gesamten westlichen Sozial- und Geisteswissenschaften – zugrunde liegt und seine Genese zum Gegenstand der Untersuchung zu machen und zu prüfen, ob nicht seine Erfindung als die Idee des Individuums; des zivilisierten, autonomen Subjekts, das sich aus der Finsternis (des Mittelalters) heraus ins Licht (der aufgeklärten und aufklärerischen Moderne) entwickelt; der Erfindung von Whiteness selbst entspricht. Die Licht- und Schatten-Metaphorik der Aufklärung verweist bereits auf die Zusammenhänge vom ›en-light-ened‹ Selbst, und seinen ›Schattenseiten‹. Wie Leopold Sedar Senghor feststellt: »Die Emotion ist so Schwarz wie die Vernunft griechisch ist« (zitiert nach Trinh T. Minh-ha 1996: 153). Die Entwicklung aus der mittelalterlichen Finsternis, dem Dunkel und dem Schatten der Abhängigkeit von einem (Glauben an) Gott, einem Herrscher oder einer Gemeinschaft hin zur Selbständigkeit, Unabhängigkeit, ja gar der Illusion der ›Autonomie‹ des bürgerlichen Subjekts, ist ganz und gar kein Modell, das für alle gelten kann. Diese Entwicklung lässt einen Rest hinter sich, der als Vor-oder-Außerhalb3 der Zivilisation gedacht wird. In der Psychoanalyse kommt dies mit dem Abjekt, dem Verworfenen, das als Rest der Dialektik zwischen Subjekt und Objekt produziert wird, zum Ausdruck. Damit hat die Psychoanalyse die kulturelle Formation des konstitutiven Außen in ihre Subjektgenese eingeschrieben; eine Formation, die besonders deutlich in der Sklaverei zum Ausdruck kommt.

S UBJEKT – O BJEKT – A BJEKT D IE D IALEKTIK UND IHR R EST Die Literaturwissenschaftlerin Toni Morrison schreibt in Playing in the Dark, einem Gründungstext der Critical Whiteness Studies, im Rekurs auf den Soziologen Orlando Patterson, dass wir uns nicht darüber wundern sollten,

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Eine Formulierung, die ich Butlers Vorwort zu Patricia Purtscherts (2006) Arbeit über den Ethnozentrismus und Androzentrismus bei Hegel und Nietzsche entnommen habe.

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»dass die Aufklärung sich mit der Sklaverei abfinden konnte; wir müssten uns eher wundern, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre. Das Konzept der Freiheit entstand nicht in einem Vakuum. Nichts rückte die Freiheit derart ins Licht wie die Sklaverei – wenn sie sie nicht überhaupt erst erschuf.« (Morrison 1994: 65)

In der englischen Originalausgabe werden die semantischen Interdependenzen des Vokabulars des En-lighten-ment besonders deutlich: »Nothing highlighted freedom – if it did not in fact create it – like slavery. […] For in that construction of blackness and enslavement could be found not only the not-free [Herv. MT] but also, with the dramatic polarity created by skin color, the projection of the not-me [Herv. MT].« (Morrison 1993: 38)

Für das Licht der Aufklärung war die Schattenseite der Sklaverei konstitutiv. Für Sklav_innen bedeutete ihre Situation ein soziales Sterben. Die historisch spezifische Konstellation – der Widerspruch von Freiheit und Sklaverei im kulturellen Symbolischen der Moderne – spiegelt sich in den Theorien zur Genese des Subjekts der Moderne wieder. Morrisons mit Patterson formulierte Feststellung, dass das soziale Sterben der Sklav_innen, ihre Funktion als konstitutives Außen für das sich aufklärende Subjekt der Moderne, Grundstein ihrer Kultur ist, findet eine Parallele in der Psychoanalyse. Problematischerweise wird dieses konstitutive Außen dort als triebhafte Vergangenheit verfasst, deren Zurücklassen Bedingung für die Kultur ist. So gelesen bedingt das soziale Leben das soziale Sterben dessen, was mit dieser Triebhaftigkeit assoziiert ist. Die Dialektik von Subjekt und Objekt verlangt ein Abjekt. In der Dialektik von Ich und Nicht-Ich wird ein Rest zurück gelassen. Die Psychoanalyse, die Sigmund Freud im Wien der Jahrhundertwende entwickelte, ist exemplarisch dafür, wie ›koloniales Wissen‹ ganz unabhängig von einer nationalen Erfahrung in die Theoriegebäude der Wissenschaftler_innen Einzug nahm. Freud entthronte zwar das imperialistische Ich der Evolutionisten, die glaubten, dass der zivilisierte Mensch alles mit Primitivität Assoziierte zurück gelassen habe und nahm diesem Glauben zugleich seine Autonomie-Illusion, indem er argumentierte, dass überwundene Stufen der Evolutionsleiter in der Psyche sedimentiert werden und wie im Fall von Neurosen das Subjekt in Form von Regression heimsuchen. Indem er allerdings die libidinöse Entwicklung am sozioevolutionistischen Modell ausrichtete, produzierte er ein rassistisch

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codiertes Modell von Entwicklung, welches ein gewichtiges Erbe der Psychoanalyse geworden ist. Reife oder Mündigkeit werden an ihrer Entfernung zu Primitivität gemessen, eine Bewegung hin zum Weißsein und weg von dem, was als die Welt der psychologisch/kulturell ›dunkleren Rassen‹ galt – und gilt (vgl. Brickman 2003). Der Widerspruch der Moderne wird in der Psychoanalyse durch Temporalisierung überwunden. Die mit Primitivität assoziierten Subjektpositionen (Weiblichkeit und Nicht-Weißsein) bilden den einen Pol, der phylogenetisch und in der Ontogenese rekapituliert Anfang sowie Ursprung darstellt und zurück gelassen werden muss. Den anderen Pol der Entwicklungsachse bildet die mit Whiteness und Männlichkeit assoziierte Zivilisiertheit. Die phylogenetisch wie ontogenetisch verfasste Primitivität, die in der Entwicklung von Kultur wie Subjekt überwunden und zum Preis des Unbehagens in dieser Kultur wird, wenn der ›verlorene Referent spricht‹; die Triebhaftigkeit das Subjekt heimsucht; wird mit Weiblichkeit und NichtWeißsein assoziiert. Weiblichkeit und Schwarzsein werden zu Grenzfiguren von Subjekt und Kultur der Psychoanalyse. Freuds Begriff des Unbewussten hat, wie eingangs erwähnt, zwei Dimensionen: Topik und Dynamik. Mit der Beschreibung des dynamisch Unbewussten hat er seiner Psychoanalyse revolutionäres Potential gegeben. Mit den Abwehrmechanismen erklärt er, wie ein Individuum Erfahrungen, die zu schmerzhaft sind, um verarbeitet zu werden oder kulturell inakzeptabel, aus seiner Realität verdrängt. Diese Erfahrungen werden jedoch nicht einfach ›gelöscht‹, sondern sind in dem Bereich menschlicher Subjektivität ›gespeichert‹, die Freud das Unbewusste nannte. Diese Inhalte können das Subjekt heimsuchen – sie können im Verlauf des Lebens wieder ›auftauchen‹. Beispielhaft dafür sind Missbrauchserfahrungen in der Kindheit; psychische oder sexuelle Gewalt, die verdrängt wurde und das Subjekt im Erwachsenenalter heimsuchen. Eine Person, die dem_der Vergewaltiger_in ähnlich sieht, ›erinnert‹ an die Ereignisse der Kindheit und lässt die traumatische Erfahrung wieder ins Bewusstsein dringen. Psychotherapie kann durch die Analyse von Übertragung und Gegenübertragung solche traumatisierenden Ereignisse wieder zu Bewusstsein bringen; erinnern, wiederholen und durcharbeiten lassen. Freud entwickelte aber auch einen Bereich menschlicher Subjektivität, die er Topik nannte und wo meines Erachtens das reaktionäre Potential der Psychoanalyse liegt. Das triebhafte ›Es‹ seiner Strukturhypothese (Es – Ich – Über-Ich), welches das topisch Unbewusste (Ubw) darstellt, ist rassistisch und sexistisch durch Primitivität codiert. Wie Freud

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schreibt: »Den Inhalt dieses Ubw kann man einer psychischen Urbevölkerung vergleichen. Wenn es beim Menschen ererbte psychische Bildungen, etwas dem Instinkt der Tiere Analoges gibt, so macht dies den Kern des Ubw aus.« (Freud 2000 Bd. III: 154) Celia Brickman nimmt diesen Zusammenhang zum Ausgangspunkt für ihre Analyse der Bedeutung der Primitivität in der Psychoanalyse und stellt fest, dass sie bis heute nicht nur in psychoanalytischen Verfahren in der klinischen Arbeit eine wichtige Rolle spielt und dort zwangsweise eine Zivilisationsmission verfolgt. Das Netzwerk kolonialer Korrespondenzen durchzieht Freuds gesamte Arbeit und übt einen Sog aus, der über die Psychoanalyse nach Freud hinaus reicht (vgl. Brickman 2003: 159). Indem er ein topisch Unbewusstes als Es formuliert und ihm einen phylogenetischen Inhalt zufügt, diktiert er eine universale, ahistorische und vorkulturelle Schicht der menschlichen Psyche, die seit der Kindheit beziehungsweise der ›primitiven‹ Urzeit verdrängt ist (vgl. Brickman 2003: 206). Die mit dieser Primitivität assoziierten Subjekte stehen bereits seit der sozioevolutionistischen Anthropologie vor-und-außerhalb der Zeit. »›The primitive‹ […] has functioned as an ethnographic representation locating racial/cultural difference outside time, both in the sense of standing outside, and prior to, the grand narratives of history, and in the sense of not being subject to the diachrony of particular, local histories. […] That the primitive stands outside time altogether is an artifact of the colonial and/or anthropological relationship, produced by assumptions and methods undergirded by the historically formed and economically sustained privileged position of the western observer.« (Brickman 2003: 138).

Wenn nun das Unbewusste das Seelenleben der ›Primitiven‹ ist, haben dann ›Primitive‹ ein Unbewusstes? In ›Das Ich und das Es‹ (1923) sinnt Freud darüber nach, ob es das Es oder das Ich der primitiven Vorfahren gewesen sei, aus welchem sich Religion und Moral entwickelt haben oder ob vielleicht die Differenzierung zwischen Es, Ich und Über-Ich damals noch gar nicht vorhanden war. Er beantwortet seine eigenen Fragen im Rekurs auf Lamarcks und Haeckels Theorien und findet dabei heraus, dass es das Ich des Urmenschen war, welches den Ödipuskomplex erlebte und durch seine Wiederholung über die nachfolgenden Generationen hinweg wurde es ins heutige Es eingelagert. Das Ich der ›Primitiven‹ ist also zum Unbewussten des modernen Menschen geworden.

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Damit behauptet Freud nicht nur, dass das Es und das Unbewusste primitiv sind, sondern durch seine rekapitulationistische Logik, sagt er uns, dass die mentalen Formationen der Menschen, die ›Primitive‹ genannt werden, auf das beschränkt bleiben, was bei ›zivilisierten‹ Menschen das Unbewusste ist. Nur, indem der moderne Mensch das komplexe Repertoire des Sekundärprozesses zum Unbewussten hinzugewinnt, erlangt er seinen zivilisierten Status – ›Primitive‹ haben eine primitive Psyche, so schließt Freud. Das Primitive als Unbewusstes wird als Mangel figuriert während das Bewusstsein in der Psychoanalyse zum Lokus der wertgeschätzten und definierenden Qualitäten des modernen Westens wird: Geschichtlichkeit, Rationalität und Autonomie (vgl. Brickman 2003: 82). Mit dieser Konstruktion verbreitet die Psychoanalyse, die wie kaum eine andere Wissenschaft über ihre Disziplin hinaus in andere Wissenschaften und das Alltagsdenken Einfluss genommen hat, die Vorstellung, dass alle, die mit Primitivität assoziiert werden – neben Nicht-Weißen sind das bspw. auch die ›ungebildeten‹ Menschen der unteren Schichten und nach wie vor Frauen – minderwertige Subjekte sind. Sie sind weniger reflexions- und ›bewusstseinsfähig‹ und bedürfen daher der Führung, was ihre Unterordnung und Kontrolle legitimiert. Sie sind als das Voroder-Außerhalb; das Vorher-im-Dienst-des-Nachher (vgl. Butler 1991: 116) figuriert. Mein Vorschlag ist, statt solch einem evolutionistisch (und damit naturalisiert und unveränderbar) formulierten Bereich menschlicher Subjektivität – der psychoanalytischen Topik – diesen Bereich mit Butler und Foucault als sedimentierte Geschichte zu denken, in der Kolonialismus, Sexismus und andere Bemächtigungsgeschichten eingeschrieben sind. Das Unbewusste für Bereiche jenseits ›persönlicher‹ Erfahrung zu öffnen, also individueller Erlebnisse, die dynamisch verdrängt und unbewusst werden, ist sinnvoll. Es sind ebenso die Elemente des ›kulturellen Symbolischen‹ und des Sozialen (vgl. etwa Altman 2010; Dalal 2002), die individuell im Unbewussten ›gespeichert‹ werden und dadurch nicht mehr unmittelbar zu Bewusstsein gebracht werden können. Man kann das leicht beobachten, wenn etwa ›aufgeklärte‹, sich als ›tolerant‹ und ›offen‹ verstehende Menschen auf ihren verbal oder in Handlung zum Ausdruck gebrachten Rassismus angesprochen werden. Es folgt oft Abwehr in Form von Rationalisierung oder anderen ›Begründungsmustern‹. Die Wenigsten sind bereit, sich ihren Rassismus direkt einzugestehen und ihn zu reflektieren. Rassistisch zu sein ist ein Tabu in unserer heutigen Gesellschaft. Dennoch ist er konstitutiv für unsere gesellschaft-

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lichen Verhältnisse, wie ich oben mit Mills pointiert habe. Mit Sexismus verhält es sich ähnlich. Dieser Widerspruch manifestiert sich auch in den einzelnen Individuen. Als ›sedimentierte Geschichte der Gegenwart‹ – die Einschreibung kollektiver (Bemächtigungs-)Geschichte ins individuelle Unbewusste – formuliert, ist dieser Bereich menschlicher Subjektivität auch nicht unveränderbar, sondern genauso wie das dynamisch Unbewusste zu ›erinnern‹ und ›durchzuarbeiten‹. Der wesentliche Unterschied zu Freuds topisch Unbewusstem ist der Inhalt und die A/Historizität. Freuds topisch Unbewusstes ist, was Lacan ›das Reale‹ genannt hat; die phylogenetische ›Wahrheit‹ der Urhorde (ich werde darauf zurück kommen), die sich im Ödipuskomplex rekapituliert und mit der eine rassistisch und sexistisch codierte Primitivität als Triebhaftigkeit überwunden wird. Diese ›Wahrheit‹ ist, was Freud in der Topik verortet. Mein Vorschlag ist, diesen kolonialistischen Mythos zu dekonstruieren – »sich mit dem Realen anzulegen«, wie Butler schreibt (1997: 257) und die Realität wieder am Ort des Realen einzusetzen: Rassismus, Kolonialismus und Sexismus, die konstitutiv für unsere Realität sind. Zunächst jedoch möchte ich detaillierter auf den Mechanismus der Verwerfung eingehen, der mit der Logik der Topik in der Psychoanalyse einher geht, denn mit ihm werden diese kulturellen Zusammenhänge ontologisiert. Bei Freud sind es die Verwerfungen, die das Kind im Ödipuskomplex zwingen, die Mutter als Liebesobjekt und mit ihr Homosexualität zurückzulassen. Mit diesen Verwerfungen geht das Subjekt vom Primärprozess in den Sekundärprozess über; vom Es durch die Verinnerlichung der Inhalte des Über-Ich zum Ich. Im Subjekt bildet sich die Topik von Es – Ich – und Über-Ich. Julia Kristeva setzt mit ihrer Abjektionstheorie noch früher in der Ontogenese an. Ausschluss und Trennung als subjektkonstituierende Momente beginnen ihr zufolge bereits mit den ersten körperlichen Ausscheidungsprozessen.

J ULIA K RISTEVAS H EIMSUCHUNG : D IE M ÄCHTE DES G RAUENS Julia Kristeva hat in ihrer psychoanalytischen Abjektionstheorie – ein Text, der weit über die Psychoanalyse hinaus bspw. ausführlich von Judith Butler (1991) in ihrer Gender-Analyse oder in der Postkolonialen Theorie diskutiert wurde – postuliert, dass Ausschluss ein notwendiger Mechanismus der Ontogenese sei. In The Powers of Horror (1982) be-

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schreibt Kristeva die Verwerfung von infantilen Teilen der Subjektivität als Subjekt konstituierend. Ihr zufolge wird das Subjekt durch Ausschluss hervorgebracht, ein Vorgang, der im Prädiskursiven, dem Körperlichen seinen Ursprung nimmt. Das primäre Andere des Körpers, das erste Nicht-Ich, sei nicht das Objekt (in der Psychoanalyse die Mutter/brust), sondern das aus dem Körper Ausgeschiedene: Kot, Urin, Speichel, Erbrochenes etc. – die Vorgänge der Ausscheidung, eine erste Trennung; ein Ausschluss, Abjektion. Die Körpergrenze ist der Bereich, an dem, was zuvor ›Eigenes‹ war, zum ›Anderen‹ wird. Sie wird daher zum bedeutsamen Ort zwischen Ich und Nicht-Ich. Die aus der Mutterbrust gesaugte Milch – Leben – wird ›Ich‹ und im Prozess des Ausscheidens das Andere, Tod: »I abject myself within the same motion through which ›I‹ claim to establish myself « (Kristeva 1982: 3). Damit wird Abjektion, eine Trennung, der erste Schritt zum Subjekt; einem separaten Ich. Die Abjektion ist somit auch ein Sterben. Was Ich war, wird ausgeschieden, verworfen, es stirbt und bedroht in seiner unheimlichen Wiederkehr als Figur der Infektion das Leben des Ich. Indem das Abjekt vom Ich abgetrennt, ausgeschieden, und mit Tod signifiziert wird, wird erst das Leben dieses Ich ermöglicht. Was das Leben also garantiert, bedroht es zugleich. Die Trennung als Ausschluss ist der entscheidende Vorgang. Was Ich war, stirbt und nur indem ich es als Anderes begreife, bleibe ich am Leben. Hier klingt bereits die Parallele zu Morrisons beziehungsweise Pattersons Figur des Subjekts der Aufklärung und seinem konstitutiven Außen an: Das Nicht-Ich im sozialen Sterben der Sklav_innen. Ich werde darauf zurück kommen. Das Abjekt ist jedoch nicht Objekt, es ist Ekel/erregendes, nach Kristeva ›archaischer‹ als die Triebe, »it reacts, it abreacts. It abjects« (ebd.), also Ekel, der abreagiert wird. Abjektion ist ein ›borderline‹-Vorgang, angesiedelt zwischen Subjekt und Objekt, »the plane of abjection is that of the subject/object relationship (and not subject/other subject)« (Kristeva 1982: 64). Das Abjekt ist also weder Subjekt noch Objekt. Der Ort des Abjekts, die (Körper)Grenze, wird durch den Vorgang der Abjektion zum Objekt. Was es also mit dem Objekt gemeinsam hat, ist lediglich, dass es nicht (mehr) zum Ich gehört. »Jedem Ich sein Objekt, jedem Über-Ich sein Abjekt«, so Kristevas Kurzformel (ebd. 2). Kristeva verfolgt in The Powers of Horror die These, dass nicht nur das Subjekt, sondern auch die Kultur durch Ausschluss (Abjektion) konstituiert ist und Inhalt des Abjekten (Ausgestoßenen) vor allem der weibliche und mütterliche Körper ist. Wie die meisten psychoanalytischen

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Arbeiten, die sich mit kulturellen Phänomenen beschäftigen, rekurriert auch diese Studie auf Freuds Totem und Tabu. Kristeva lehnt ihre kulturtheoretischen Überlegungen zur Abjektion vor allem an Freuds Theorie zur Urhorde aus Totem und Tabu und das daraus abgeleitete Inzest- und Tötungstabu an; für Freud Voraussetzung für Kultur und Zivilisation. An Charles Darwins Hypothese des sozialen Urzustands anknüpfend geht Freud in diesem Text davon aus, dass die Menschheit ursprünglich in der Form einer ›Urhorde‹ lebte, die vom stärksten Mann, dem Vater, angeführt wurde. Dieses (Familien)Oberhaupt nahm sämtliche Frauen in seinen Besitz und verteidigte sie eifersüchtig gegen alle anderen Männer, die Söhne der Gruppe; vertrieb diese gar aus der Gemeinschaft, wenn sie sich ihm nicht unterwarfen. Jedoch taten sich die ausgetriebenen Söhne eines Tages zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und eigneten sich dadurch seine Stärke an. Gleichzeitig machten sie damit der Urhorde ein Ende. Nachdem die Brüder allerdings den Vater als Besitzer aller Frauen beseitigt hatten, begehrte jeder Einzelne seine Position, denn »das sexuelle Bedürfnis einigt die Männer nicht, sondern entzweit sie. Hatten sich die Brüder verbündet, um den Vater zu überwältigen, so war jeder des anderen Nebenbuhler bei den Frauen. Jeder hätte sie wie der Vater alle für sich haben wollen, und in dem Kampfe aller gegen alle wäre die neue Organisation zugrunde gegangen.« (Freud 2000 (Bd. IX): 427-428)

Die Brüder etablieren das Inzestverbot und verzichten damit alle auf die von ihnen begehrten Frauen. Die Brüder verzichten also nach wie vor auf das begehrte Objekt, haben jedoch die äußere Autorität durch Identifikation (Einverleibung) internalisiert und zwar wörtlich: Der Vater wurde in Stücke gehackt und von den Brüdern verspeist. Freud vermutet, dass die Totemmahlzeit, ein Opferritus – das erste Fest, das die Menschen feierten – eine Art Gedenkfeier an diese »ungeheure Tat« (ebd. 444) ist, die Anfang jeder sozialen Organisation, ihrer sittlichen Einschränkungen und der Religion war (ebd. 426). Demzufolge ist der Vatermord und das daraus entstehende Schuldgefühl der Söhne (aus dem später Das Unbehagen in der Kultur wird), die Reinigungsrituale und die Kastrationsangst, für den die ›Leerstelle Frau‹ Zeichen ist, als archaische Begründungsgeschichte für die Zivilisation und ihr Subjekt zu verstehen. Der Ödipuskomplex wiederholt die Urhorde, Ontogenese rekapituliert Phylogenese.

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Statt diese Konstruktion, in der Frauen lediglich als Sexualobjekte in einer männlichen Kultur- und Subjektgenese aufgeführt werden, zu problematisieren, übernimmt sie Kristeva in ihrer ›feministischen‹ Psychoanalyse und re-essenzialisiert ›Frauen‹ dann als Inbegriff der ›Macht des Horrors‹. Kristeva argumentiert, dass es der mütterliche Körper und nicht der väterliche ist, der am Anfang von Kulturgeschichte und Individualentwicklung steht. Freuds These: »Am Anfang war die Tat« (Freud 2000 Bd. IX: 444) (der Vatermord), die er in Anlehnung an Goethes Faust als abschließende Bemerkung zu Totem und Tabu formuliert, stellt Kristeva den Mutterkörper und das Inzesttabu voran. Für den Ursprung von Religion – und nachfolgend der Kultur – ist ihr zufolge nicht nur der Vatermord und das daraus folgende Tötungs-Tabu ausschlaggebend. Die Mutterphobie sieht sie als ebenso ursprünglich wie den Vatermord für die Genese von Moral und Zivilisation, wie sie Freud in seinem Buch Totem und Tabu beschreibt. Kristeva argumentiert, dass Freuds Text selbst von etwas heimgesucht wird: »The woman- or mother-image haunts a large part of that book and keeps shaping its background even when, relying on the testimony of obsessional neurotics […]« (Kristeva 1982: 57). Kristeva sucht also etwas im Unbewussten von Freuds Psychoanlyse und findet es in der Macht des Weiblichen/Mütterlichen, das angeblich Freuds Text ›heimsucht‹. Daraus formuliert sie einen feministischen, psychoanalytischen Ansatz, der zur Anschlussstelle für weitere Theorien über vermeintlich psychische Grundlagen für gesellschaftliche Ausschlussmechanismen wurde. Freuds Schrift zeugt allerdings nicht nur von einer Heimsuchung durch das ›Mütterliche‹ oder ›Weibliche‹, wie Kristeva feststellt. Freuds Text wird vor allem – ebenso wie Kristevas – von einem Phantasma heimgesucht, das die gesamten kulturtheoretischen Schriften der Psychoanalyse durchzieht. Nicht nur Frauen, Kinder und Verrückte als die Abweichung, über die Norm/ierung formuliert wird, sondern auch die ›Wilden‹ und ›Primitiven‹; die »armen, nackten Kannibalen« (Freud 2000 Bd. IX: 296), wie Freud sie in Totem und Tabu bezeichnet; stellen die ›Schattenseiten‹ der Psychoanalyse dar, »›savages,‹ a reference that is typically ignored or left unexamined« (Chanter 2006: 91). Es macht Kristevas Text jedoch nicht weniger interessant; vielmehr verweisen gerade die Leerstellen und Widersprüche zwischen Methodologie und Epistemologie in ihrem Text darauf, wie sich in der feministischen Theoriebildung bei einer Nichtbeachtung der Interdependenzen von ›Rasse‹ und Gender bspw., was dekonstruiert werden sollte, ledig-

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lich rekonstruiert. Kristeva ›findet‹ mit der psychoanalytischen Methode in Freuds Episteme dieses Textes Codes des Mütterlichen/Weiblichen als ›Heimsuchung‹ und übersieht die omnipräsenten Codes für ›Rasse‹ in diesem Text. ›Rasse‹ ist nicht nur ein Nebenschauplatz in der Konstruktion der phallogozentrischen Gesellschaftsordnung, gegen welche die (v.a. weiße) feministische Theorie anschreibt. Vielmehr stellt sie ein konstitutives Moment von Gender selbst dar. Gerade in Totem und Tabu sind Frauen und ›Wilde‹ gleichermaßen als Referenz für Primitivität figuriert. Die Kategorie Gender ist dort ohne ›Rasse‹ nicht zu denken. Der Phallus ist nicht nur männlich, sondern auch weiß. Ich werde später anhand von Freuds Begriff des dark continent, mit dem er (weiße) weibliche Sexualität allegorisiert, zeigen, wie Weiblichkeit und NichtWeißsein als Primitivität konfluieren und beide Codes – Gender und Primitivität – als Vehikel dienen, mit denen Freud seine eigene Antisemitismuserfahrung verschiebt. Ich werde argumentieren, dass der antisemitische Rassismus, den Freud erlebte, die (sexistische) Figur der sexuellen Differenz, an der sich Kristeva abarbeitet, in der Psychoanalyse präfiguriert.

A BJEKTION ALS PSYCHOANALYTISCHE E RKLÄRUNG ZUM R ASSISMUS Kristevas Abjektionskonzept wurde für viele postkoloniale- und Differenz-Theoretiker_innen zur Anschlussstelle weil es das Prinzip des Ausschlusses erklärt. Anne McClintocks Arbeit über die Zusammenhänge von ›Rasse‹, Sexualität, Gender und Kolonialismus, Imperial Leather (1995) bspw. macht sich Kristevas Abjektionstheorie zum Verständnis imperialistischer Kultur zunutze. Derek Hook (2006) formuliert im Anschluss an Kristeva einen sozialpsychologischen Ansatz ›prä-diskursiven‹ Rassismus als Technologie des Affekts. Tina Chanter (2006) verknüpft Kristevas Abjektion mit dem Melancholie-Konzept zu einer ›Feminist Epistemology of Ignorance‹. Iris Marion Young (1990) erklärt mit Abjektion nicht nur Rassismus, sondern sämtliche sozialen Ausschlüsse wie Homophobie, Ableismus oder Sexismus. Für Young ist Kristevas Abjektionstheorie für die Analyse von Rassismus, genauso wie für die von »sexism, homophobia, ageism, and ableism« nützlich, die Diskriminierung sozialer Gruppen, die symbolisch mit Tod, Degeneriertheit und Hässlichkeit assoziiert sind (Young 1990:

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142). Weil Sexismus, Rassismus, Heterosexismus, Altersdiskriminierung und Ableismus in der Öffentlichkeit, dem Diskursiven, nicht mehr ›salonfähig‹ sind; also aus dem diskursiven Bewusstsein verdrängt wurden; äußere sich die Angst vor diesen Gruppen auf unbewusster Ebene. Die Assoziation bestimmter Gruppen beziehungsweise ihrer Körper mit Degeneriertheit und Tod bleibt also erhalten, nur äußert sich die Reaktion auf sie nicht mehr diskursiv, sondern dem Bereich des Unbewussten gemäß körperlich und affektiv. Jene, die solch eine Epidermalisierung ihres Körpers erleben – die Objekte der Abjektion – entdecken ihren Status in Gesten, einer bestimmten Nervosität; im Vermeiden von Blickkontakt und in der Distanz, die andere – Subjekte der Abjektion – zu ihnen halten (vgl. ebd. 123). Kristevas Kategorie des Abjekten sei deshalb nützlich, weil ›abjekte Personen‹ Grenzangst auslösen; sie bedrohen »aspects of my basic security system, my basic sense of identity, and I must turn away with disgust and revulsion« (ebd. 146). Anne McClintock verweist in ihrer abjektionstheoretischen Rassismusarbeit dezidiert auf die Historizität der Psychoanalyse. Die Trennung von Geschichte und Psychoanalyse sei selbst ein Produkt von Abjektion. Sie fordert, Geschichte und Psychoanalyse (wieder) zusammen zu denken und legt eine Historisierung des Subjekts des Imperialismus und damit eine Rekontextualisierung der Psychoanalyse als koloniale Wissenschaft nahe (vgl. auch Khanna 2003; Tißberger 2006a; Tißberger 2006b). Der Ausschluss bestimmter Elemente aus ihrer Familienromantik wie Klasse (das proletarische Kindermädchen von Freud bspw.), ›Rasse‹, die Ökonomie, Homosexualität, Imperialismus, kulturelle Differenzen etc. suchen die Psychoanalyse »as the pressure of a constitutive, inner limit« (McClintock 1995: 72) heim, argumentiert McClintock. McClintock versteht Abjektion als spezifisches Moment des Imperialismus (und) der Moderne: »Under imperialism, I argue, certain groups are expelled and obliged to inhabit the impossible edges of modernity: the slum, the ghetto, the garret, the brothel, the convent, the colonial bantustan and so on. Abject peoples are those whom industrial imperialism rejects but cannot do without: slaves, prostitutes, the colonized, domestic workers, the insane, the unemployed, and so on. Certain threshold zones become abject zones and are policed with vigor; the Arab Casbah, the Jewish ghetto, the Irish slum, the Victorian garret and kitchen, the squatter camp, the mental asylum, the red light district, and the bedroom. Inhabiting the cusp of domesticity and market, industry and empire, the abject returns to haunt moderni-

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ty as its constitutive, inner repudiation; the rejected from which one does not part.« (Ebd. 72)

Derek Hook zufolge mangelt es diesen Ansätzen allerdings an einem tieferen Verständnis der psychoanalytischen Theorie der Subjektgenese, zumal Kristevas Abjektionstheorie. Mit seinem sozialpsychologischen Ansatz im Anschluss an Kristevas Abjektionstheorie will er herausarbeiten, wie Rassismus durch die Ausbeutung von Momenten der Ontogenese affektiv und körperlich wird. Sein ›tieferes psychoanalytisches Verständnis‹ von Abjektion als Erklärung für Rassismus wird uns allerdings lediglich zeigen, wie mit der Psychoanalyse – ihrem ›topisch Unbewussten‹ des Primärprozesshaften – die gesellschaftlichen Ausschlussverhältnisse von Sexismus und Rassismus ontologisiert werden. Das ›Gesetz‹ der Psychoanalyse immunisiert vor der Erkenntnis der ihr eingeschriebenen kolonisierenden Codes. Ich werde argumentieren, dass Kristevas Abjektionstheorie von Rassismus und Sexismus präfiguriert ist und nicht umgekehrt, wie Hook behauptet. Als politische Analysen stimme ich den abjektionstheoretischen Ansätzen zum Rassismus zu. Auf der entwicklungspsychologischen Ebene ist Abjektion allerdings äußerst fragwürdig. Das von Young benannte ›basale Sicherheitssystem‹ beziehungsweise die ›basale Identität‹ als psychische Grundlage, die letztendlich die Abscheu vor gesellschaftlich als abjekt markierten Subjekten erklärt, wird von der empirischen Säuglingsforschung nicht bestätigt. Auf der ontogenetischen Ebene ist Abjektion ein theoretikomorpher Mythos.

›P RÄDISKURSIVER ‹ DES A FFEKTS

R ASSISMUS

ALS

T ECHNOLOGIE

Hook plädiert für eine strategische Annäherung diskurstheoretischer und psychoanalytischer Ansätze in der Rassismusforschung, da erstere die affektiven Momente, den Rassismus, der ›vor der Sprache‹ ist, wie er es formuliert, nicht erfassen könnten. Er meint damit eine Form von Rassismus, »that is often less than conscious or intentional in nature, a racism of immediate response and of apparently unmediated affect. This is a racism that need not take verbal form, that is realized in impulses, played out in aversions and reactions of

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the body; a racism that appears to remain as of yet unconditioned by discourse« (Hook 2006: 209).

Ein epistemologischer Rahmen, der sich allein auf schriftliche Daten beziehe, könne nicht die ›eingefleischten‹, körperlichen und sinnlichen Bereiche des Rassismus beleuchten. Der Körper sei allerdings omnipräsent im Rassismus. Dieses ›Körperliche‹ sieht er besonders durch die Texte Frantz Fanons; ein in Martinique geborener, schwarzer Psychoanalytiker, der sich an der Algerischen Revolution beteiligt hatte; artikuliert: »Fanon’s writing mimics the ›bodiliness‹ of racism, reminding that however advanced its forms, racism never loses its localization in the body« (ebd. 208). Hook versucht eine Verknüpfung von Kristevas Theorie der Abjektion als frühkindliche, prädiskursive und damit körperliche Erfahrung der Individuation mit dem Fakt, dass Rassismus sich im Körper manifestiert. »One cannot but notice the prevalence of the body in Fanon’s (1952) Black Skin White Masks, black bodies in particular, as they are contrasted against insignias of disembodied whiteness. […] I, like Fanon, am concerned with the virtual omnipresence of the body in racism, but whereas he focuses on the bodily effects/affects of the victim of racism, I seek to explore racism as a mode of reactivity that has been routed through the dreads, aversions and nausea of the body. My focus, in short, is on an embodied form of racism that is played through, and substantiated by, the body’s economy of separations and distinctions.« (Ebd. 227)

Kristevas Theorie der Abjektion ermögliche, die Verschränkung von rassistischen Diskursen mit den ›prädiskursiven‹ Prozessen der Individuen zu verstehen und wie diese affektive Qualität in ihrer Rückwirkung rassistische Diskurse verstärkt und zu einem »personal racism of the ego« (ebd. 207) führe. Antizipierten Vorwürfen, mit seiner These eines ›prädiskursiven‹ Rassismus universalisierenden und essenzialisierenden Tendenzen der Psychoanalyse Vorschub zu leisten und Rassismus zu naturalisieren, entgegnet Hook: »If the theory of abjection essentializes anything, it essentializes the dynamics of disgust, revulsion and exclusion, the processes of expulsion and division that, admittedly, it views as universal and integral aspects of human experience« (ebd. 228). Er differenziert: Die Inhalte des Rassismus werden diskursiv hergestellt, rassistische Diskurse verwenden jedoch Abjektion – das ›Prädiskursive‹ des

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Subjekts – um ihre Wirkmacht zu entfalten. Er nennt diesen Mechanismus Technologie des Affekts. Das kulturelle Symbolische4 versteht Hook als diskursive Sphäre, in deren Zentrum ein ideologischer Kern die Zeichensysteme, Gesetze und Differenzierungen bindet. Gleichzeitig wirkt in diesem Gravitationsfeld von Werten eine Zentripetalkraft analog des Mechanismus auf der Ebene des Ichs, das die inakzeptablen Elemente ausstößt und eine ängstliche Grenzziehung vornimmt. »Just as the individual subject asserts and consolidates an ego (and indeed, a bodily schema) on the basis of a variety of repulsions, exclusions and differentiations, so that cultural symbolic would seem to work as an ›excluding machine‹ that produces its structural integrity on the basis of what it ejects and repudiates.« (Ebd. 224)

Die ›Integrität‹ des Subjekts der Abjektion und seines kulturellen Symbolischen basiert also auf dem, was sie ausstoßen und ablehnen. »What works on the level of the body, it seems, works also on the level of the ego, and on the level of the social formations: in each case a violent repulsion operating with the immediacy and urgency of a reflex action that consolidates a particular order of structure.« (Ebd.)

So potenzieren sich nach Hook prädiskursive und diskursive Momente der Abjektion gegenseitig in der Ausstoßung von Elementen, die nicht ins System passen. Obgleich Hook Whiteness als entkörperlicht beschreibt – um das bereits Zitierte zu wiederholen: »[…] black bodies […] as they are contrasted against insignias of disembodied whiteness« – bezeichnet er die Erfahrung des rassifizierten und damit Körper als ›Rasse‹ (g/b)eschriebenen Subjekts und die des als ›weiß‹ bezeichneten und damit entkörperlichten und frei von ›Rasse‹ symbolisierten Subjekts gleichermaßen als Erfahrung ›prädiskursiven‹ Rassismus; als »lived experience of racism:

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Hook schlägt vor, statt einer abstrakten Beschreibung einer universalen Struktur der Sprache (also Lacans auf Leví-Strauss basierendes linguistisches Modell, auf dem das ›Symbolische‹ der lacanianischen Psychoanalyse basiert) Winnubst (2004) zu folgen und von einer historisch spezifischen kulturellen Domäne zu sprechen – dem ›kulturellen Symbolischen‹.

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embodiment, affect, and that experiential domain […] i.e. that which comes before words, that which is not easily contained or assimilated into the symbolic domain of speech, language, identification« (ebd. 212). Hook zitiert das ›Körperliche‹ bei Fanon als Anschlussstelle für seine eigenen Ausführungen eines ›prädiskursiven Rassismus‹, obgleich es bei Fanon um die Effekte des Rassismus als Einschreibung von ›Rasse‹ in den Körper und im Fall des schwarzen Subjekts der Identifikation mit dem Verworfenen geht; meines Erachtens eine Rassifizierungserfahrung als Objekt der Abjektion. Hook sieht das Subjekt der Abjektion im selben Modus. Die Parallele, die Hook zwischen Kristevas Abjektionskonzept und Rassismus sieht, ist darin begründet, dass Kristevas Abjektionskonstrukt durch die Verhältnisse des Rassismus und Sexismus präfiguriert ist und nicht umgekehrt. Abjektion wird damit als ›Technologie‹ zur Hervorbringung hegemonialer Subjektpositionen erkennbar und nicht, wie Hook behauptet, als prädiskursiver Mechanismus der Ontogenese, dessen Affektivität durch rassistische Diskurse ausgebeutet würde, was er dann als ›technology of affect‹ oder ›prediscursive racism‹ bezeichnet. Das Abjekt ist kulturgeschichtlich bereits mit ›Rasse‹ assoziiert: »the wider culture’s association of blackness with uncleanliness, a racial fantasy in which the experience of having a black body is tantamount [at the level of both unconscious and cultural fantasy] to being smeared with shit« (Marriott 1998: 423). Schwarz sein bedeutet, Scheiße zu sein, es heißt, das Abjekt zu bedeuten. Dieser Zusammenhang wird bei Kristeva ebenso wie bei Hook ausgeblendet, was angesichts der Omnipräsenz dieser Assoziation im ›kulturellen Symbolischen‹ beider Autor_innen (Kristevas postkoloniales Frankreich und noch mehr Hooks Südafrika) eine eigenartige Leerstelle in ihrer Theoriebildung darstellt. Durch die Einschreibung der Verhältnisse von Sexismus und Rassismus in die Subjektgenese naturalisiert die Psychoanalyse die Verwerfung der mit Weiblichkeit und ›Rasse‹ assoziierten Körperlichkeit und Affektivität. Gleichzeitig verschleiert sie die Machtverhältnisse von Sexismus und Rassismus, indem sie sie dem Primärprozess, also dem Unbewussten der Ontogenese, zuordnet. Psychologisierung, schreibt Brickman, ist in der Psychoanalyse immer auch Temporalisierung (vgl. Brickman 2003: 172). Aus der Abjektion geht eine naturalisierte und zugleich verschleierte Machtposition für Weiße hervor, die Subjekte und Objekte der Abjektion zeitlich trennt; eine hierarchische Abhängigkeit; ein Vorher im Dienst des Nachher. Die Interdependenz wird durch die Darstellung von

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Subjekt und Objekt der Abjektion auf einer Zeitachse unkenntlich gemacht. Tina Chanter hat die daraus hervorgehende Position der Subjekte der Abjektion – Weiße – gegenüber den Objekten der Abjektion treffend beschrieben: »You too can become like us, but you can never be us, because we are what we are partly because of you. You are not one of us, and if we create you in our image, you will still always only ever be becoming us – even as you helped us become us, since we profited from your labor. We’ll make you no more than one of us, no different from us, since to acknowledge your difference might also be to acknowledge our guilt and your productivity.« (Ebd. 102)

Als Primärprozess imaginiert fällt der Widerspruch; diese Ungleichheit (von Frauen und Männern, Weißen und Schwarzen) in der Gleichheit (die Vorstellung in der Moderne, dass alle Menschen gleich sind); nicht mehr auf. Auch die Ökonomie des Verhältnisses, die Ausbeutung von Frauen und Schwarzen, die mit Körperlichkeit assoziiert sind, wird verschleiert. Wenn Hook behauptet, er interessiere sich wie Fanon für die Omnipräsenz des Körpers im Rassismus, nur fokussiere er eben auf Rassismus als körperliche Ekel-Reaktion während bei Fanon die körperlichen Effekte bei den Opfern von Rassismus im Vordergrund stünden (vgl. Hook 2006: 208), dann ›übersieht‹ er diese zeitliche Differenz, die Fanons und seinen Standpunkt strukturiert – den Effekt der Temporalisierung durch Abjektion. Fanon ist dazu verdammt, Objekt der Abjektion zu sein – Körper und Affekt – damit sich Weiße (und so auch Hook) – Subjekte der Abjektion – frei davon imaginieren können. Ihr Rassismus erscheint als Regression ins Triebhafte, ein Bereich ihrer Subjektivität, den sie in ihrer Subjektgenese – ein Zivilisationsprozess – zurückgelassen haben (und der mit Schwarzsein und Weiblichkeit assoziiert ist), so die psychoanalytische Logik. Die Temporalisierung verdeckt einen Widerspruch. Bei seinem Fokus auf die Schnittstelle zwischen rassistischem Diskurs und Prädiskursivem bleibt genau diese Schnittstelle eigenartig blass und unscharf. Hook kann uns nicht erklären, wie genau diese ›präverbalen‹ Qualitäten des Primärprozesses in den Raum erwachsener, weißer Subjektivität eindringen, also was am Übergang zwischen dem Bereich des ›Prädiskursiven‹ und des ›Diskursiven‹ geschieht. Wie haben wir uns die Heimsuchung durch das Affektive der Abjektion vorzustellen? Was genau provoziert diese ›Reaktion‹, worauf wird reagiert? Warum bricht

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im Rassismus ausgerechnet die ›Grenze‹ zwischen bewusst und unbewusst, zwischen Rationalität und Irrationalität, zwischen Intellekt und Körper/Affekt zusammen; diese Grenze zwischen Kultur und Natur? Wie Kristevas Literaturbeispiele zeigen, passiert das auch durch ›Weiblichkeit‹ (das Codewort für Gender in der Psychoanalyse) und mit der sexuellen Differenz als ›Hauptdifferenz‹ der Psychoanalyse – Grundlage für Hooks wie auch Seshadri-Crooks (die ich im Anschluss diskutieren werde) Rassismusanalysen. Es ist ein Naturalisierungsmechanismus, mit dem beide Autor_innen operieren. Deshalb ist er so anschlussfähig für Rassismus und Sexismus. Die Schnittstelle, die Hook beleuchten will, bleibt eine Leerstelle. ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ sind Fetische der Psychoanalyse, mit denen eins ins andere gewandelt wird. Ein Vorher im Dienst des Nachher. An dieser Leerstelle wird nicht nur durch den Fetisch Kultur zu Natur umgeschrieben, sondern findet an der Stelle auch eine Immunisierung statt. Rassismus und Sexismus werden nicht mehr als solche erkannt – der Aspekt der Bemächtigung fällt einer Amnesie heim. Kristeva entwickelt ihre Abjektionstheorie aus der ›Leerstelle‹ des Schweigens in der psychoanalytisch-therapeutischen Praxis eines postkolonialen Frankreichs. Die Übertragung ihrer Patient_innen in der Psychoanalyse, »the gift of their void« (Kristeva 1982: 207) erlaubte Kristeva eine Theorie zur Abjektion zu formulieren, so schreibt sie. Sie verweist weder auf konkrete Beobachtungen von Säuglingen, noch auf empirische Forschung, die ihre Theorie der Abjektion als Subjekt konstituierendes Moment der Ontogenese stützen würden, obgleich ihre gesamte Argumentation von den Ausscheidungsprozessen beim Säugling ausgeht, die ihr als erste Individuation gelten. Tatsächlich wissen wir nicht, was Babys empfinden im Prozess der Ausscheidung und ›gegenüber‹ ihrem Kot, Urin, Speichel, Erbrochenem. Vielmehr beobachten wir, dass sie interessiert mit diesen Substanzen spielen. Es sind die Erwachsenen, die ihren Ekel übertragen – den Kindern beibringen, dass Körpersekrete eklig sind und was noch mit Ekel assoziiert ist – im ›kulturellen Symbolischen‹. Der abhängige, symbiotische, der Individuation und einer Trennung durch den ›Schnitt des Signifikanten‹ oder Abjektion bedürfende Säugling, der Hooks Rassismustheorie zugrunde liegt, wird in der psychoanalytischen Säuglingsforschung seit den 1980er Jahren infrage gestellt (vgl. Stern 2007; Dornes 1993/2009; Dornes 1997/2003). Hooks Angebot einer Rassismustheorie, die »substantiated by, the body’s economy of separations and distinctions« (Hook 2006: 227) sein soll, der unheimli-

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chen Grenzangst des Säuglings, nicht zwischen Ich und Nichtich unterscheiden zu können (vgl. ebd. 217), gründet auf einer Psychoanalyse, die keine Säuglinge beobachtet, sondern sie aus der klinischen Erfahrung mit Erwachsenen (re)konstruiert. Hooks Rassismustheorie – auf den ersten Blick und ihrem Anspruch nach eine poststrukturalistische, postkoloniale Theorie, die innovativ Psychoanalyse und Dekonstruktionismus/ Diskursanalyse zusammen denken will – gründet genau auf den Elementen der Psychoanalyse, die in der postkolonialen (Brickman) und poststrukturalistischen (Butler) Theorie kritisiert werden. Das Prinzip von Ausschluss und Trennung – charakteristisch für die Hervorbringung hegemonialer Machtverhältnisse – in die Ontogenese eingeschrieben, naturalisiert diese Machtverhältnisse. Wie Celia Brickman schreibt: »The processes of separation from the maternal/primitive underwrite the formation of a culturally and historically specific form of subjectivity. The subjectivity that emerges from the exclusion of the maternal/primitive allows us to speak, but allows us to speak only one language: the language of a colonizing modernity. To take up one’s place in this language is to attain to the rules of representability legislated by the grand narrative of modernity, themselves predicated on the abjection of the primitive and the feminine. The subaltern cannot speak because the subaltern – the primitive – was that which needed to be excluded from the discursive codes of modernity in order for these codes to function. Psychoanalysis can be, and often has been, enlisted not only to disrupt but to consolidate and reinforce this exclusionary regime of the language of modernity.« (Brickman 2003: 119-129)

Meines Erachtens kann das politische Potential des Abjektionsgedankens nur dann entfaltet werden, wenn man Kristevas Konstruktion dieses frühkindlichen Moments der Subjektgenese einer Dekonstruktion unterzieht und dabei die eingearbeiteten ›Rasse‹- und Gender-Codes in ihrer Bedeutung für die psychoanalytische Konstruktion eines primären Prozesses der Individuation und Autonomiegewinnung in der Subjektgenese offen legt. Hooks Argument muss umgekehrt werden. Ontogenetische Abjektion ist eine Fantasie, nicht Realität. Als ontogenetisches Moment verstanden, können mit ihr gesellschaftliche Ausschlüsse naturalisiert werden. Rassismus und Sexismus gewinnen damit eine natürliche Basis. Auf diese Weise naturalisiert, enthistorisiert und ontologisiert, können sie nicht mehr politisiert werden; zumindest nicht auf der Subjektebene. Aber genau dort, so argumentiere ich, sollten diese Machtverhältnisse –

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jenseits der gesellschaftlichen, diskursiven Ebene – adressiert werden. Der Säugling ist weder rassistisch, noch sexistisch. Er wird es durch die Übertragung von Erwachsenen und diese Übertragungen geschehen auch jenseits der Worte – ›extra-diskursiv‹: Über Affekte, habituell, performativ. Es ist das dynamisch Unbewusste, auf dessen Ebene Machtverhältnisse übertragen und re/produziert – gegen-übertragen – werden. Was Freud als Topik beschrieb, ist die sedimentierte Geschichte der Realität, auch der von Machtverhältnissen, im Individuum. Kalpana Seshadri-Crooks (2000) hat einen weiteren psychoanalytischen Ansatz zur Rassismusanalyse vorgelegt. Auch in Seshadri-Crooks Untersuchung von Whiteness steht nicht das ideologische Kapital im Vordergrund, sondern interessiert sie, welche ›extra-symbolischen‹, ›prädiskursiven‹ Effekte und damit Affekte und sichtbaren Objekte Whiteness erzeugt und wie das geschieht. Wie Hook argumentiert SeshadriCrooks, dass, gerade weil ›Rasse‹ durch die Dekonstruktion ihres Biologismus, ihrer Funktion als Machtinstrument und -formation zwar entlarvt wurde, Rassen-Denken und -Fühlen jedoch unverändert geblieben sind, die irrationalen und affektiven – die widersprüchlichen und verleugneten – Seiten von ›Rasse‹ und Rassismus verstanden werden müssen. Auch sie glaubt, dass sich das diskursiv hervorgebrachte Konstrukt ›Rasse‹ im Körper manifestiert, indem es Momente der Subjektgenese ausnutzt, also ontologische Mechanismen ausbeutet und sich dadurch naturalisiert. Seshadri-Crooks Ansatz verspricht zu erklären, wie ›Rasse‹ seine Historizität verschleiert, wie ›rassische Objekte‹ entstehen (körperliche Markierungen wie Haut oder Haare, die als ›Rasse‹ gelesen werden) und warum Whiteness eine Leerstelle ist. Wie ich deutlich machen werde, können wir durch Seshadri-Crooks Parallelisieren von Whiteness mit Phallus, der Kernelement Lacanaianischer Subjektgenese ist, nicht nur lernen, wie Körper rassistisch markiert werden, sondern wie die Psychoanalyse auch die soziale Konstruktion von Geschlecht anatomisiert und damit ontologisiert und psychologisiert hat. Indem Seshadri-Crooks die Funktion von Whiteness analog des Signifikanten Phallus aufführt, führt sie uns an die Stelle, wo in der Psychoanalyse ›Rasse‹ und Gender konfluieren.

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Der Ausgangspunkt von Seshadri-Crooks Lacanianischer Analyse der Wirkweise von Whiteness ist die sexuelle Differenz, welche in der Psychoanalyse (Jacques Lacans) das konstitutive Moment der Subjektgenese bildet. Die sexuelle Differenz gilt der Autorin im Gegensatz zur ›rassischen‹ Differenz als ahistorisch, machtfrei und symmetrisch, ihr Hauptsignifikant ist der Phallus – Zeichen einer Leerstelle. Seshadri Crooks glaubt, dass sich Whiteness als Phallus maskiert, aber statt wie der Phallus ein unbestimmtes Begehren auszulösen, ein ›Regime der Sichtbarkeit‹ errichtet. ›Rasse‹ gewinnt ihr zufolge Zugang zum Affektiven und Körperlichen, dem ›Prädiskursiven‹ des Subjekts sowie zu seiner Begehrensökonomie, indem sein Hauptsignifikant ›Whiteness‹ als Phallus wirkt – Desiring Whiteness ist deshalb der Titel ihrer Studie. Whiteness wird hier zum Akteur, weil es als Phallus eine aktive Rolle in der Subjektgenese erlangt. Um seine Geschichtlichkeit zu verschleiern und ›Rasse‹ zu ontologisieren, erzeugt Whiteness in der Konfrontation mit seiner Historizität Angst und aus dieser Angst ›rassische‹ Objekte wie Haut, Haare, Knochen und andere Markierungen, die wir als ›Rasse‹ lesen. Der Phallus als leerer Signifikant steht für den Mangel, Whiteness füllt diese Leerstelle und bedeutet Ganzheit, so Seshadri-Crooks These. Wie haben wir die Funktion des Phallus als ›leerer Signifikant‹ zu verstehen und wie kommt Whiteness – ein Konstrukt und damit ›Kultur‹ – durch diesen ›Phallus-Schwindel‹ zu seiner ontologisierenden Wirkweise? Gehen wir einen Schritt zurück und betrachten das Subjekt der sexuellen Differenz. Lacans Psychoanalyse und sein Verständnis der sexuellen Differenz bauen auf Sigmund Freuds Psychoanalyse auf. Lacan hat sie – in Teilen radikal – umgearbeitet. Bei Freud stellt der Ödipuskonflikt mit seiner Kastrationsdrohung das zentrale Moment der Subjektgenese dar. Wenn der kleine Junge, von dem Freuds subjektwissenschaftliche Erkenntnisgewinnung ausgeht, in der so genannten phallischen oder ödipalen Phase (zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr, also zeitgleich zum Spracherwerb) sein Genital als Lustquelle entdeckt, beginnt er dieser Körperregion seine gesteigerte Aufmerksamkeit zu schenken. Im Zuge der Sittlichkeitserziehung hat er bereits gelernt, dass Masturbation verwerflich ist und sucht nun ängstlich den Beweis für die väterliche Strafe seiner verbotenen Taten. Diesen findet er schließlich in der Entdeckung der nackten Mutter, die er als kastriert begreift, weil sie sich wohl uner-

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laubter Regungen (Masturbation) schuldig gemacht haben muss und dadurch das Genital eingebüßt hat. Bei Freud gilt das Primat des Penis für die psychosexuelle Entwicklung beider Geschlechter. Freud geht davon aus, dass Kinder in der phallischen/ödipalen Phase den gegengeschlechtlichen Elternteil als Sexualobjekt begehren. Die Masturbation stellt gewissermaßen die Triebabfuhr hierzu dar. Während die Mutter inzestuös begehrt wird, richten sich gegen den Vater als Konkurrenten Vernichtungswünsche. Der Junge gibt schließlich durch die Kastrationsangst das begehrte Objekt (die Mutter) auf, akzeptiert die Vorherrschaft des Vaters (inklusive seines Besitzrechts über die Mutter) und internalisiert die väterliche Autorität, welche zugleich für die gesellschaftlichen Normen und Verbote steht (das Über-Ich). Durch die Internalisierung des väterlichen Gesetztes bildet sich das Ich und damit das wesentliche Merkmal des Subjekts der Kultur (beziehungsweise der Zivilisation) und der Sprache und damit des Bewusstseins.5 Damit rekapituliert der Junge die phylogenetischen ›Ereignisse‹ der ›Urhorde‹. Aus heutiger Sicht ist diese androzentrische Theorie, welche die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern naturalisiert, reaktionär. Lacan gilt einigen feministischen Lesarten als anschlussfähiger, weil er den Penis einer Symbolisierung unterzieht – ihn zum Phallus macht, dessen Unabhängigkeit vom Körper betont und behauptet, er hätte nichts mit dem Geschlecht zu tun, sodass Freuds Prämisse, dass Anatomie Schicksal sei, überwunden zu sein scheint. Lacan beharrt auf der Symbolisierung der sexuellen Differenz, indem er zwischen dem Realen (Penis/Vatermord) und dem Symbolischen (Phallus) unterscheidet. Er nennt das Fehlen des Penis (unter Kastrationsdrohung) als Negativ minus phi, die Leerstelle selbst bezeichnet er mit Phallus. Im Zentrum steht bei Lacan nicht wie bei Freud die Nicht/Existenz des Penis (minus phi), sondern konstituiert sein Mangel das Subjekt; Signifikant dieses Mangels: Der Phallus. Insofern ist nicht der reale Penis bedeutsam, sondern

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Diese Elemente von Freuds Psychoanalyse der Subjektgenese sind vor allem in seinen Texten zum Sexualleben im Band V der Gesammelten Werke nachzulesen, darin vor allem Der Untergang des Ödipuskomplexes (1924), Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds (1925) sowie die Texte zum Fetischismus: Fetischismus (1927) und Die sexuellen Abirrungen (ein Abschnitt aus Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie [1905]).

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werden beide6 Geschlechter – alle Subjekte – bei Lacan durch (s)einen Mangel konstituiert. Der Vater als Repräsentant dessen, was bei Freud das Über-Ich ist, wird bei Lacan zur ›Funktion‹, zum ›großen Anderen‹, der ›im Namen des Vaters‹ das Subjekt in die Ordnung des Symbolischen eingeführt und damit in die Ordnung der Sprache, des Diskurses, des Sozialen und seiner Normen. Diese ›Funktion‹ ist nicht länger an den (biologischen) Vater gebunden, sondern kann durch andere Autoritätspersonen (genannt werden in der Literatur hier dann Richter, Lehrer oder Ärzte, was den Androzentrismus dieser ›Funktion‹ verdeutlicht) eingenommen werden. Für Lacan verweist der Mangel der sexuellen Differenz auf /das/ M/mehr als das Subjekt/sein kann. Minus phi ist eine Art Restbestand, ein Rudiment eines spekulierten Ganzen.7 »This remainder is the phallus that ›appears in the form of a lack of a (minus phi)‹. […] The paradoxical notion that the phallus appears as a lack indicates that something of ›the subject‹ does not get imaged or symbolized, and this limit, which is also the mark of castration, is the object of desire.« (Seshadri-Crooks 2000: 37)

Der Phallus steht also für das, was dem Subjekt ›fehlt‹, was es in seiner psychosexuellen Entwicklung zurück lassen muss, um ein Subjekt der Kultur und der Sprache zu werden: Die Triebhaftigkeit und die Jouissance (Genuss), die mit dem semiotischen Stadium, dem ›Einssein mit der Mutter‹ und der Position des Urhordenvaters assoziiert ist. Was Freud als das Es bezeichnet hat, muss verdrängt und unbewusst werden, damit wir als Subjekte sozial und zivilisiert leben. Es bildet den Inhalt des Begehrens, der nie zur Sprache und zu Bewusstsein kommen darf. Das Subjekt der sexuellen Differenz ist durch einen Mangel konstituiert. Die Existenz eines Objektes an der Leerstelle würde Ganzheit bedeuten, Sein signifizieren und damit das Subjekt bestimmen – es als bestimmt konstituieren. Whiteness funktioniert Seshadri-Crooks zufolge genau so. An der Leerstelle (Phallus) signifiziert Whiteness Ganzheit,

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Ich folge hier der Theorie /Annahme der Zweigeschlechtlichkeit lediglich im Kontext von Lacan und Seshadri-Crooks.

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Lacans Spiegelstadium, das hier anklingt und das Frantz Fanon (und im Anschluss an ihn auch Homi Bhabha) zum Ausgangspunkt seiner Analyse von Rassismus nimmt, ist für Seshadri-Crooks nur von peripherer Bedeutung.

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erzeugt ›rassische‹ Objekte (analog objet petit a – geschlechtliche/sexuelle Objekte, der Penis) und determiniert das Begehren – das nennt sie ›Totalität‹. Judith Butler hat deutlich gemacht, dass bereits der Signifikant Phallus, der vom Penis abgeleitet ist, determiniert: er determiniert nicht nur das Subjekt, sondern auch sein Begehren und zwar geschlechtlich und sexuell.

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Butler stellt das Primat der sexuellen Differenz infrage und argumentiert, dass dieses Primat weite Teile des Feminismus – und nicht nur den psychoanalytischen – als weiß kennzeichnet. Sie widerspricht der Behauptung, »dass das symbolische Gesetz des Geschlechts von einer gesonderten Ontologie, die seiner Annahme vorhergeht und autonom ist«, profitiert (Butler 1997: 39). Vielmehr solle das Zitieren des Gesetztes als eigentlicher »Mechanismus seiner Herstellung und Artikulation« (ebd.) verstanden werden. Indem Seshadri-Crooks die sexuelle Differenz als Gesetz zitiert und behauptet, ›Rasse‹ könne nur wirksam werden, indem es durch Whiteness als ›fraudulent signifier‹ das Zeichen des Gesetzes imitiert, vollzieht sie genau diesen Mechanismus. Auf diese Weise kann sie Rassismus als Naturalisierung von Kultur beschreiben und ›sex‹ als Natur verschleiern. Butler verdeutlicht nicht nur, dass der Phallus am Ort der Anatomie operiert und die Subjekte, die er konstituiert vergeschlechtlicht und ihr Begehren determiniert. Durch ihre dekonstruktive Lesart der Subjektgenese der Psychoanalyse zeigt Butler auch, dass der Phallus dort performativ hervorgebracht und seine ontologische Beziehung zum Penis verschleiert wird. Butler widerspricht Lacans Behauptung, dass der Phallus nichts mit der Anatomie zu tun habe. Indem der Name des Penis von Lacan in ›der Phallus‹ geändert wird – eine sprachliche Operation der Symbolisierung – wird die ontologische Verbindung zwischen Phallus und Penis (Symbol und Symbolisiertem) lediglich verschleiert. Je mehr Symbolisierung statthat, desto mehr Verschleierung geschieht. Durch die Inauguration des Phallus als privilegierter Signifikant, der für das Ganze stehen soll, wird der Teilstatus des Penis als Organ »phantasmatisch und synekdochal überwunden« (ebd. 118). Da »der Phallus den Penis zu seiner eigenen Konstitution benötigt, schließt die Identität des Phallus

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den Penis ein, das heißt, zwischen ihnen besteht eine Identitätsbeziehung« (ebd. 124). Die Phallogenese ist ohne den Penis nicht zu denken. Ohne den Penis wäre der Phallus nichts. ›Sex‹ wird auf diese Weise essenzialisiert, »ontologisch gegen die Machtbeziehungen und seine eigene Geschichtlichkeit immun« (ebd. 144). ›Geschlecht‹ ist der »Realitäts-Effekt eines gewaltsamen Prozesses, der gerade durch seine Effekte verschleiert wird« (ebd. 170). Was Seshadri-Crooks als Funktion von Whiteness – jeweils als Negation der Funktion des Phallus – aufführt, ist, was Butler durch ihre dekonstruktive Lesart bereits in der Phallogenese offen legt. Seshadri-Crooks will, dass der Phallus alteroreferenziell, ahistorisch und machtfrei ist. Das Begehren, das er hervorbringt ist Seshadri-Crooks zufolge undeterminiert und weil er nichts mit der Anatomie zu tun hat, tauchen durch seine Signifizierung auch keine objet petit a – körperliche Markierungen – auf. Whiteness ist dagegen autoreferenziell, geschichtlich und hierarchisierend. Das durch Whiteness ausgelöste Begehren ist determiniert, totalitär, und bringt phobische, körperliche Objekte hervor. Sie führt an Whiteness aus, was bereits bei Phallus der Fall ist, aber durch die Symbolisierung verschleiert wurde. Durch Seshadri-Crooks repetitive Behauptung des Primats der sexuellen Differenz – auch bei ihr performativ – verschleiert sie, dass ›Rasse‹ in der Psychoanalyse immer genau dort war, wo sie ihr einen ›Schwindel‹ unterstellt. Wie ich mit Daniel Boyarin argumentieren werde, ist die ›rassische‹ Differenz (in Form des Antisemitismus, den Freud erlebte) der sexuellen Differenz in der Genealogie der Psychoanalyse vorgängig. Indem Seshadri-Crooks ›Rasse‹ durch das Konstrukt des Phallus als Subjekt bildenden Signifikanten treibt, deckt sie nicht nur auf, wie Körper rassistisch markiert werden. Sie zeigt ungewollt auf die Stellen in der Psychoanalyse, wo ›Rasse‹ durch ›Geschlecht‹ verdeckt wird – eine Verschiebung. Sie folgt unbeabsichtigt den Spuren, wo die Psychoanalyse die soziale Konstruktion des Geschlechts und mit ihr ›Rasse‹ über die Psyche anatomisiert. ›Rasse‹ und Gender konfluieren in Freuds Metapher des dark continent.

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IST DOCH AUCH DAS

G ESCHLECHTSLEBEN

DES

ERWACHSENEN W EIBES EIN DARK CONTINENT FÜR DIE P SYCHOLOGIE « Freud benutzt die Formulierung des dunklen Kontinents erstmals in seinen Ausführungen über »Die Frage der Laienanalyse« 1926, und dort heißt es: »Vom Geschlechtsleben des kleinen Mädchens wissen wir weniger als von dem des Knaben. Wir brauchen uns dieser Differenz nicht zu schämen; ist doch auch das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes ein Dark Continent für die Psychologie« (Freud 2000 Ergänzungsband: 303). Die weibliche Sexualität, die Freud mit der weiblichen Anatomie gleichsetzt, markiert auch die Geschlechterdifferenz, die Freud vor allem im Mangel des Penis bei der Frau sieht. Dieser Mangel ist es, der beim männlichen Kind in der ödipalen Phase den Kastrationskomplex auslöst, dessen Überwindung von Freud als Zivilisationsmoment in der Ontogenese gelesen wird. Der Beginn des Subjekts in der Psychoanalyse liegt mit Ödipus in Griechenland. Mit dem dunklen Kontinent sind koloniale Fantasiereiche gemeint, welche sich die Europäer gerade einverleiben, als Freud die Psychoanalyse entwickelt; ein Prozess der Bemächtigung, der von ihnen sexuell allegorisiert wird. Mit der Konfluenz von ›Rasse‹ und Gender als Dark Continent werden die Zusammenhänge von Kolonialismus, Rassismus und Sexismus als Teile des kulturellen Symbolischen in die Subjektgenese der Psychoanalyse eingearbeitet. Der dunkle Kontinent war bereits vorhanden, wie die Syntax des Zitats von Freud verdeutlicht, ehe das ›Geschlechtsleben des Weibes‹ als Leerstelle in der Psychoanalyse erscheint. Der kolonialistische Afrikadiskurs präfiguriert also die Konstruktion weißer, weiblicher Sexualität. Dieser ›Kontinent weiblicher Sexualität‹ ist ein weißer Fleck in der Erkenntnislandschaft Freuds, denn er scheint sich ihm zu entziehen; die ›Scham‹ über diese Unkenntnis besorgt Freud allerdings nicht sehr. Er nimmt sie recht selbstverständlich hin, lässt sich von ihr aus doch ein nahtloser Übergang zur Frau als Leerstelle finden, die den Penismangel und damit die Kastrationsdrohung symbolisiert. Diese ›Scham‹ (der Unkenntnis) sollte uns viel lieber sein als ihr Gegenstück, so legt Freud nahe: der kleine Knabe, wenn er sich weigert, »die Tatsache seiner Wahrnehmung, dass das Weib keinen Penis besitzt, zur Kenntnis zu nehmen« und damit vielleicht eine »ähnliche Panik« wie »der Erwachsene später erleb[t], wenn der Schrei ausgegeben wird, Thron und Altar sind in Gefahr« (Freud 2000 Bd. III: 384). Freud stellt das männliche

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Genital als Repräsentant von Macht und Gesetz ins Zentrum der psychischen Entwicklung und wie mit seinem Ausdruck deutlich wird, sind damit weltliche und religiöse Macht gemeint. Was bei Lacan zum Hauptsignifikanten Phallus wird – auch ›Herrensignifikant‹ genannt – referiert auf nichts anderes als göttliche Macht: den Herrn, Gott. Der Knabe »skotomisiert« jedoch nicht die Wahrnehmung des Penismangels beim Weibe, »so dass das Ergebnis dasselbe wäre, wie wenn ein Gesichtseindruck auf den blinden Fleck der Netzhaut fiele« (ebd.), sondern rettet seine Illusion und schützt sich damit vor der Kastrationsdrohung, indem er einen Fetisch bildet. Dieser »erspart es dem Fetischisten auch, ein Homosexueller zu werden« (ebd. 385). Der ›dunkle Kontinent‹ erscheint als (k)ein ›blinder Fleck‹ auf der Netzhaut, sondern er wird ›gerettet‹ und als ›weißer Fleck‹ in der Erkenntnislandschaft erhalten. Er wird zur ›Leerstelle‹, dem Mangel der sexuellen Differenz. Die Differenz zwischen weiblichem und männlichem Genital ist die Differenz zwischen Rudiment und Ganzheit ein und derselben Sache. Die Klitoris ist für Freud ein »minderwertige[s] Organ […] der reale kleine Penis des Weibes« (ebd. 388), und zwar das »einzige ›minderwertige‹ Organ, das ohne Zweideutigkeit diesen Namen verdient« (Freud 2000 Bd. V: 262, Fußnote 1).8 In der englischen Übersetzung heißt es gar, die weiblichen Genitalien seien »more primitive« als die des Mannes (zitiert nach McClintock 1995: 42). Die sexuelle Differenz ist also keine qualitative Differenz, sondern eine quantitative – das Mehr oder Weniger von ein und demselben Ding. Aus der horizontalen Differenz von Verschiedenem wird eine vertikale Zeitachse desselben. Dieses Organ der Frau wird zur Primitivität; ein anachronistischer Raum – ein unhistorischer Ort, der als Leerstelle zur Einschreibefläche wird – die Chora als Aufbewahrendes; das unheimliche Unbewusste – Caché. Freud sieht die ›Ursprünge‹ des Subjekts ontogenetisch in Griechenland: mit Ödipus, der ödipalen Phase, in der das männliche Kind ein Ich und damit einen Subjektstatus entwickelt. Phylogenetisch bedient er sich einer Fantasie: der Urhorde, die auf (wie er selbst schreibt) unwissenschaftlichen Untersuchungen von Anthropologen in den Kolonien fußt und aus deren Beschreibungen der ›Wilden‹ Freud in seinem Buch Totem und Tabu mit dem bemerkenswerten Untertitel: Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker den Anfang der Kul-

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Freud schreibt das in Anspielung auf Adlers Thesen der Organminderwertigkeit als organische Grundlage für Neurosen (vgl. Gay 2006: 247).

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tur durch den Vatermord, Tötungs- und Inzesttabu formuliert. Während der ›Ursprung‹, Griechenland, in den Zivilisationsdiskurs der Psychoanalyse eingeht, fällt sein phylogenetisches Pendant ins Prähistorische, Prädiskursive, einen anachronistischen Raum.9 Er wird zum Rest, den die Dialektik der Psychoanalyse zurück lässt. Die zeitgenössischen ›Wilden‹ in den Kolonien stellen dabei die Repräsentanten für die geschichtslose Vergangenheit Europas dar: Primitivität, aus der heraus sich die Zivilisation entwickelt. Die ›Wilden‹ und ›Frauen‹ (mit ihrer Klitoris als ›primitiver‹ Penis) treten als Figuren auf, durch die hindurch das Subjekt der Psychoanalyse erzählbar wird. Sie sind das Vorher im Dienst des Nachher. Sie sind die Grenzfiguren der Psychoanalyse und Vehikel für die Entwicklung ihres Subjekts, das dadurch weiß und männlich wird. Dieses Subjekt der Psychoanalyse rekapituliert in seiner ontogenetischen Entwicklung die Menschheitsgeschichte, ein linearer Pfad von Primitivität zu Zivilisiertheit, indem es den ›rohen‹, ›rudimentären‹, ›unentwickelten‹ und ›archaischen‹ Zustand seiner (phylogenetischen wie ontogenetischen) Kindheit überwindet (vgl. Brickman 2003: 2) und sich durch die Lösung ödipaler Konflikte enkulturiert. Psychopathologie stellt den umgekehrten Weg dar; eine Regression in diese ›primitiven‹, kindlichen Zustände und die Psychotherapie hat die Aufgabe, ihre Patient_innen über den Pfad der Zivilisation wieder in die ›Moderne‹ zu führen. Mit ›unentwickelt‹, ›roh‹ oder ›archaisch‹ sind in der Psychoanalyse neben kindlichen und regredierten – also pathologischen – Stadien auch jene Bevölkerungen gemeint, auf die bis heute als ›Primitive‹ verwiesen wird (ebd.).10 Das sind Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker im Untertitel von Freuds Totem und Tabu. Zwischen den Momenten des Sexismus als sexuelle Differenz in der Psychoanalyse und des evolutionistischen Kolonialrassismus, den Freud als Entwicklungsachse benutzt, um die psychosexuelle Entwicklung als Bewusstseinsevolution zu beschreiben – eine Entwicklung, in der Weib-

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Martin Bernal (1991) hat mit Black Athena herausgearbeitet, dass in der gesamten Geschichtsschreibung (und damit in allen Wissenschaften, die darauf aufbauen) der Austausch mit afroasiatischen Kulturen als Grundlage für die griechische Antike ausgeblendet wurde.

10 Fanon hat in Black Skin, White Masks (1967) eindrücklich beschrieben, wie Schwarzsein gleichsam Zeichen für Degeneriertheit, Infantilität wie auch rohe Gewalt, Primitivität und zügellose Sexualität ist. Vgl. auch Gilman (1985).

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lichkeit und Nicht-Weißsein als Primitivität zum Vorher im Dienst des Nachher eines weißen, männlichen und als solches zivilisierten Subjekts der Psychoanalyse werden – gibt es ein wichtiges drittes Moment: Antisemitismus. Celia Brickman stellt fest, dass, international, wenige Autor_innen Freuds ›persönliche‹ Anteile an der Psychoanalyse auf die Bedingungen des Antisemitismus zurückführen, unter dem Freud arbeitete (vgl. Brickman 2003: 161). Der ›Terror‹ im Herzen der Subjektkonstitution der Psychoanalyse ist nicht (nur) die sexuelle Differenz, die auf der psychoanalytischen Fantasie von Frauen als auch von primitiven Ursöhnen als ›bereits kastriert‹ gründet. Vielmehr gründet der Terror auf der antisemitischen Gewalt, die Juden auszulöschen sucht, deren Differenz zu Ariern in der Beschneidung des männlichen Genitals gesehen wurde. Wie Boyarin schreibt, verdeckt Freud in der binären Opposition Phallus/Kastration einen dritten Begriff: den beschnittenen Penis (vgl. Boyarin 1998: 229). In Das Unheimliche (Freud 2000 Bd. IV) beschreibt Freud 1919 den Horror, als er zufällig in den Spiegel sieht und imaginiert, jemand anderen zu sehen. Den Juden blendet Freud im Spiegel – Whiteness begehrend – aus. Daniel Boyarin (1998) versteht das in seiner Untersuchung zur politischen Bedeutung des Phallus bei Freud und Fanon im Rekurs auf den afroamerikanischen Philosophen W.E.B. Du Bois als doppeltes Bewusstsein. Es ist das gedoppelte Selbst des Kolonialismus und Juden waren die Kolonisierten innerhalb Europas. Die antisemitische Überdeterminierung des beschnittenen Penis bildet den unbewussten Ausgangspunkt von Freuds Genealogie des Subjekts mit seinem Kern, der Kastrationsdrohung – Mangel. Männliche Juden wurden in zentraleuropäischen kulturellen Imaginationen als Männer ohne Penis identifiziert, also als Frauen. Die Klitoris wurde in Wien zu Freuds Zeit ›Jude‹ genannt, weibliche Masturbation ›mit dem Juden spielen‹. Schwarze Männer wurden ebenfalls feminisiert, zugleich jedoch hypervirilisiert. Wie Fanon immer wieder fordert, ›Der Neger ist das Genital‹. Dem ›rassisch‹ Anderen ermangelt es am Phallus; ›er‹ ist immer schon kastriert. Der schwarze Mann ist der Penis; der männliche Jude ist eine Klitoris. Keiner hat den Phallus (Boyarin 1998: 223-224). Der Jude, den Freud im Spiegel ausblendet, verschwindet auch aus seiner Analyse des kleinen (jüdischen) Hans, die ihn zur Kastrationsangst

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führt.11 Genau an der Stelle des Textes, wo Freud mit dem verschobenen Wissen um die sexuelle Differenz beim kleinen Hans argumentiert, bietet er noch eine ganz andere Ätiologie für den Auslöser seiner Kastrationsangst. Man erzähle den kleinen Jungen im Kindergarten vom beschädigten (kastrierten) Penis des beschnittenen Juden. So verschiebt er den Anfang seiner Subjektgenese – Beschneidung – indem er behauptet, der Kastrationskomplex sei »die tiefste unbewusste Wurzel des Antisemitismus« (Freud 2000 Bd. II: 36); es gäbe keine stärkere unbewusste Wurzel für das Überlegenheitsgefühl über Frauen. Angetrieben von seinem eigenen Begehren von Whiteness hat Freud die antisemitische Differenz verschoben statt sie zu emanzipieren. Entlang seines Begriff der Beschneidung als »Leitfossil« wehrt Freud in seiner Abhandlung Der Mann Moses und die monotheistische Religion (Freud 2000 Bd. IX) die Feminisierung von Juden durch den Antisemitismus ab und schreibt die Juden zu den eigentlich überlegenen, maskulinen Männern; er tauscht also Antisemitismus gegen Sexismus ein. Aus der Differenz von Beschneidung und Nicht-Beschneidung wird die von Phallus haben/sein. Beschneidung wird dabei zum Zeichen für Triebverzicht; durch das Verbot von Gottesbildern wird die feminine Sinnlichkeit überwunden, die Entwicklung des Geistes voran getrieben und eine Art Bewusstseinsevolution findet statt. Freuds ›Rassendiskurs‹ kann also aus zwei Perspektiven gelesen werden. Aus der einen Perspektive ist Freud ein Weißer, der rassistisch über Schwarze schreibt und aus der anderen ein Jude, der unter der Herrschaft von Ariern lebt. Im ersten Fall ist Freud der Kolonisator, im zweiten der Kolonisierte (vgl. Boyarin 1998: 219).

R ESUMÉE Machtverhältnisse wie die des Sexismus, Rassismus oder Antisemitismus, das haben poststrukturalistische Analysen wie die von Foucault oder Butler gezeigt, sind nicht durch eindimensionale Emanzipationsprojekte zu überwinden. Handlungsfähigkeit muss jenseits des autonomen Subjekts gedacht werden (vgl. Meißner 2010). Mit dem Unbewussten hat

 11 Vgl. Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben von 1909 und Nachschrift zur Analyse des kleinen Hans (1922) von Sigmund Freud (Freud 2000 [Studienausgabe] Bd. II).

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die Psychoanalyse einen solchen Bereich menschlicher Subjektivität jenseits der Autonomie aufgerufen und erforscht. Er ist für das Verständnis von Machtverhältnissen unverzichtbar. Im dynamisch Unbewussten liegt das revolutionäre Potential der Psychoanalyse. Mit ihrer Topik hat sie allerdings Elemente in ihren Theoriekörper eingebaut, die reaktionäre Effekte erzeugen. So, wie die klassische Psychoanalyse die Realität verdrängt hat, indem sie sie zum topisch Unbewussten geschrieben hat – also performativ, diskursiv und wirkungsvoll – wird auch heute noch die Realität der Bemächtigungsgeschichte in Form von Rassismus und Sexismus performativ, diskursiv und wirkungsvoll auf sämtlichen gesellschaftlichen Ebenen verdrängt. Der Mechanismus der kulturellen Verdrängung der Bemächtigungsgeschichte in der Realität funktioniert, wie ich anhand der Psychoanalyse mit Butler dargestellt habe, durch die performative Hervorbringung ihres Gesetzes durch Zitation des Realen. Das Reale als Inhalt des Unbewussten eingesetzt, entleert die »›Kontingenz‹ ihrer Kontingenz« (Butler 1997: 270). Die Nervosität von Weißen im Rassismus rührt aus der Verleugnung der Bemächtigungsgeschichte her, auf welcher weiße Subjektivität gründet. Das Unbewusste des Rassismus ist dynamisch. Durch das ›Veräußern‹ von allem, was nicht zu weißer Subjektivität passt: Körper, Affekt und mit ihnen Weiblichkeit und Primitivität als Synonym für NichtWeißsein und die ökonomische, politische und nicht zu vergessen – psychische Ausbeutung jener ›abjekten Subjekte‹ entsteht eine instabile Konstellation. Die ›abjekten Subjekte‹ sind ausgeschlossen, aber unverzichtbar. Wenn jene, auf deren Ausbeutung mein Wohlstand gründet, einen Platz an meiner Seite beanspruchen, ist nichts Geringeres als »Thron und Altar […] in Gefahr« (Freud 2000 Bd. III: 384), wie Freud die Kastrationsangst beschreibt; der Phallus als Repräsentant von Macht und Gesetz, der im Zentrum der psychoanalytischen Subjektgenese steht: Leerstelle, Mangel, Fetisch, das Unbewusste. Die Verunsicherung, die bei Weißen zum Ausdruck kommt, wenn Nicht-Weiße den Raum betreten, als Konkurrent_innen für Arbeitsplätze und Führungspositionen auftauchen oder als Liebespartner_innen ihrer Söhne und Töchter in ihre Familien ›einzudringen drohen‹, gründet tatsächlich auf einem ›basic security system‹. Dieses ist allerdings kein universales, archaisches, sondern das einer imperialistischen Kultur. Kristevas Formel: »Abject and abjection are my safeguards – primers of my culture« (Kristeva 1982: 2), so behaupte ich, gilt für die weiße Dominanzkultur der Moderne, die auf Ausschluss gründet.

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Das Unbewusste ist eine Form über das Unbekannte, nicht Anerkannte, Verleugnete, Unbestimmte, Gestaltlose und Potentielle zu sprechen, das jenseits des Horizonts des Bewusstseins liegt und doch den Kern der subjektiven Erfahrung bildet (vgl. Brickman 2003: 205). Mit ihm lässt sich »an den Grenzen des Wirklichen das Mögliche erfinden« (Meißner 2010: 271). Es darf nicht in einen anachronistischen Raum verschoben und damit seiner Kontingenz und seines politischen Potentials beraubt werden, sonst bleibt Rassismus eine Geschichte, die »never really begins nor ends, even though there is a beginning and an end to every story, just as there is a beginning and an end to every teller« (Trinh T. Minh-ha 1989: 1).

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Was bilden wir uns eigentlich ein? A NGELIKA B ÖCK

Im Münchner Kunstarchiv kommt mir eine Frau entgegen. In der Kehre des Gangs. Ich halte an. Die Frau bleibt stehen, um mir den Vortritt zu lassen. Sie trägt eine taillierte schwarze Jacke, hat einen knallrot geschminkten Mund und lächelt mich an. Sicher Architektin oder Künstlerin, denke ich. Energisch, aber höflich. Sie schaut mir direkt in die Augen. Ich möchte, dass sie vorgeht. Sie deutet mit einer Handbewegung an, dass ich vorbeigehen soll. Ich erwidere ihren Blick. Da bemerke ich, dass ich es selbst bin. Mir gegenüber befindet sich ein raumhoher Spiegel. »Unter hundert Frauen erkenne ich meine Schwester«, ruft Mohammed aus. Wir passieren eine Gruppe verschleierter Frauen. Ich bin fasziniert von seiner Fähigkeit, eine einzelne Frau aus einer Menge von Gestalten zu erkennen, die unter einer schwarzen Ganzkörperhülle verborgen sind. Für mich sehen alle gleich aus. Bestimmt schenkt Mohammed der Körperform und Bewegung sowie den Details des schwarzen Kleidungsstückes große Aufmerksamkeit. Kann er einer verschleierten Frau ein spezifisches Aussehen oder gar Charaktereigenschaften zuschreiben? Ich überlege, wie unterschiedlich unsere Blicke geschult sind und wie sich in den Prozessen des Sehen und Erkennen die eigenen Prägungen und Wertvorstellungen mit dem wahrgenommenen Gegenüber überlagern. Ich nehme die Erfahrung in meine Reihe von Versuchsanordnungen zu alternativen Formen menschlicher Repräsentation auf. Mich reizt die Beschäftigung mit der Einbildungskraft, mit Hilfe derer man sich jemand so lebhaft ein Bild von etwas macht, dass man es sich ein-bildet, in sein/ihr Inneres aufnimmt. Es interessiert mich den Blick auf das ›Selbst‹ zu richten, das diese ›Einbildung‹ hervorbringt.

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V ERHÜLLUNG , I MAGINATION

UND

S ELBST

Das Stück Stoff, das dazu dient, den weiblichen Körper zu bedecken, hat in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erfahren, was nicht zuletzt einer besonderen Medienpolemik zu verdanken ist. Sie zeigt sich in einer Reihe von Ausstellungen, die sich um die orientalische Frau und ihre Verkleidung drehen und die das verstärkte Interesse auf den Punkt bringen. Veil: Veiling, Representation and Contemporary Art ist eine Wanderausstellung, die 2003/2004 im Schatten der Vorfälle vom 11. September 2001 vom Londoner Institute of International Visual Arts organisiert wurde. Sie versammelt künstlerische Positionen, die eine Erweiterung der möglichen Interpretationen des Schleiers anbieten. The veil: visible and invisible spaces wurde von der Journalistin und Aktivistin Jennifer Heath zusammengestellt. Die Kuratorin, selbst im Spannungsfeld des römischkatholischen und muslimischen Schleiers aufgewachsen, thematisiert das aufgeladene Kleidungsstück im interkulturellen Dialog. Die von Nilüfer Göle und Emre Baykal in Istanbul kuratierte Ausstellung Mahrem – Anmerkungen zum Schleier wurde 2008 von der Kunsthalle Wien übernommen. Sie versucht sich an der Präsentation eines widersprüchlichen Phänomens und zeigt dabei die Definitionsmacht und Konstrukte des kolonialistischen Blicks auf. L’Orient des femmes war schließlich 2011 im Musée du Quai Branly in Paris zu sehen und widmet sich der orientalisch gekleideten und verschleierten Frau aus Sicht des Modeschöpfers Christian Lacroix. Der aktuelle Trend ist nicht zu übersehen: Westliche Modemacher wie z.B. Maison Margiela, Alexander McQueen oder Giorgio Armani adaptieren den Schleier losgelöst von seiner religiöstraditionellen Funktion als zeitgenössisches Accessoire. Die Auseinandersetzung mit dem Schleier findet man in den Werken zahlreicher zeitgenössischer Künstler/-innen. Das fotografische und filmische Werk von Shirin Neshat bspw. bezieht sich auf die kulturellen und religiösen Codes der muslimischen Gesellschaft und die Lage der Frau in der muslimischen Welt. Ihre Arbeit Women of Allah (1993-97) besteht aus einer Reihe von SchwarzWeiß-Fotografien. Auf einem Bild sieht man das halb angeschnittene Gesicht einer Frau. Sie trägt ein schwarzes Kopftuch. Ihr Antlitz ist durch arabische Schriftzeichen verschleiert. Zwischen Kopf und Kopftuch ist der Lauf einer Pistole sichtbar. Ein anderes Foto zeigt die aneinander gelegten Fußflächen einer Frau. Sie sind mit arabischen Schriftzeichen ornamentiert. Zwischen ihnen ragt der Lauf einer Schusswaffe hervor.

W AS BILDEN WIR UNS EIN ? | 175

Abbildung 1: Freitag, digitaler Druck auf Aludibond, 4 Tafeln zu je 85 x 170 cm von Parastou Farouhar

Quelle: © http://www.parastou-forouhar.de (29.7.2013)

Die vierteilige Fotoarbeit Freitag (2003-2007) (Abb. 1) der iranischen Künstlerin Parastou Forouhar bezieht sich auf den feierlichsten Tag der islamischen Woche. Sie zeigt den Ausschnitt eines schwarz-gemusterten Tschadorstoffes. Ein Daumen und ein kleines Stück der Hand ragen durch einen Spalt. Halten sie den Stoff zusammen? Ist es eine Geste? Die Fragen bleiben offen. Die sichtbaren Körperfragmente stehen symbolisch für alles, was nicht gezeigt und nicht gesagt werden darf. Das macht sie sprechend und vieldeutig. Das Selbstporträt der algerischen Künstlerin Zineb Sedira (Abb. 2) untersucht auf der autobiografischen Ebene ihre Rolle als Frau sowie ihre interkulturelle Identität, Erinnerung, Übersetzung, Sprache und Diaspora. Die in Paris geborene Sedira reflektiert ihre Herkunft, indem sie den weißen algerischen Schleier mit der Verschleierung im Christentum konfrontiert.

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Abbildung 2: Self Portraits or the Virgin Mary I, 2000 Zineb Sedira, C-Druck auf Aluminium Triptych 170 x100 cm je

Quelle: © Zineb Sedira Courtesy the artist and kamel mennour, Paris

Während Sedira westliche Stereotype über den Haufen wirft (vgl. McGonagle/Sedira 2006: 617-628), fordert mein eigenes künstlerisches Projekt im Jemen den Umgang mit Blick und Bild heraus. Meine Annäherung an den Schleier behandelt ihn weniger in seiner kulturellen, sozialen und religiösen Funktion, sondern erklärt ihn vielmehr zur Leinwand, auf der sich die menschliche Vorstellung abbildet. Die Imagination der ›Anderen‹ wird auf dieser Projektionsfläche – ähnlich wie in meinem eingangs beschriebenen persönlichen Erlebnis – zum Spiegelbild des ›Selbst‹. Imagine Me reflektiert die Wechselbeziehung von Vorstellung und Darstellung. Sie befragt die unterschiedlichen Konzepte, die hinter den Praktiken des Verhüllens oder Enthüllens stehen und beleuchtet die zugehörigen Bildverständnisse. Ich habe die Teilnehmer/-innen meines Projektes aufgefordert, eine verschleierte Person anzusehen, sie sich vorzustellen und die mit ihr verbundenen Eindrücke und Fantasien zu beschreiben. Schließlich habe ich sie gebeten, sich selbst abbilden zu lassen. Kurzum: Zu erkennen geben sich die verschiedenen Aspekte des ›Selbst‹: Erinnern, Spiegeln, Erkennen, Dialog, Erzählen und Fiktion.

D ARSTELLUNG

DES I NDIVIDUUMS

Die Auffassung von Individualität, und mit ihr der künstlerische Umgang mit dem Porträt, hat über die Jahrhunderte hinweg eine weitreichende Veränderung erfahren: von der Entwicklung von Archetypen über identifizierbare Individuen

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bis zur Erforschung von Temperament und Charakter. Im selben Zug nimmt die Verneinung von Identität zahllose Formen an. Die Fotografie befreit das Porträt von seiner repräsentativen Aufgabe. Es geht plötzlich nicht mehr nur darum, die Person möglichst naturgetreu abzubilden, sondern auch um die Wiedergabe der bewusst oder unbewusst übernommenen Konzepte von Identität, die ihrerseits durch die jeweiligen humanistischen oder wissenschaftlichen Ideen ihrer Zeit bedingt sind (vgl. Calabrese 2006). Die Geschichte des Individuums hat sich erst in den letzten beiden Jahrhunderten mit der Auflösung der feudalen Gesellschaft entwickelt. Aus Sklaven, Bauern, Handwerkern, Mann, Frau, Vater oder Kind wurden Individuen (vgl. Baudrillard 2006: 68). Der Wunsch zur Differenz findet hier seinen Ursprung: »Ich bin, indem ich mich unterscheide« und »Was ich bin, erfahre ich nur im Unterschied zu den anderen« (Bianchi 2006: 47). Die Selbstdarstellung ist das Medium der Selbsterfahrung. Das Subjekt existiert nur als Distanzierung, Reflexivität, Rückzug – als Gegenteil dessen, was die Selbstdarstellung ausbildet (vgl. Bianchi 2006: 40). Die Darstellung und Selbstdarstellung des Individuums fasziniert noch immer, denn sie zeugt davon, wie Menschen sich im Laufe der Zeit wahrgenommen und dargestellt haben.

P ORTRÄT

ALS

D IALOG

Mein Verständnis von Porträt ist inspiriert von und reagiert auf die Konzepte des gesichtslosen Porträts. Sie finden sich bspw. in den Werken von Christian Boltanski, Hans-Peter Feldmann oder Felix Gonzalez-Torres. So verleiht Boltanski in seinen Installationen historischen Ereignissen ein kollektives Gesicht: Aus individuellen Objekten schafft er einen Erinnerungshaufen. Feldmanns künstlerische Forschungen, besonders seine Künstlerbücher, sind wiederum Typologien von weiblichen Körperpartien. Für eine einzelne Arbeit stellt er alle Kleidungsstücke einer Frau zu einem Porträt zusammen. Und GonzalesTorres bringt in seinen Dateline Portraits, die jeweils aus einer Liste von Namen und Daten bestehen, Individuen in Beziehung zu den politischen, sozialen und kulturellen Ereignissen, die sie persönlich und als Zeitgenossen betreffen. Seinen an einer AIDS-bezogenen Krankheit verstorbenen Partner stellt er in Untitled (Portrait of Ross in L.A.1991) allegorisch mit 175 Pfund Bonbons dar. Die Menge entspricht dessen Idealgewicht. Die Ausstellungsbesucher werden ermutigt, ein Bonbon zu nehmen. Der dahinschmelzende Haufen stellt eine Parallele zu Ross’ Gewichtsverlust und zu seinem Leiden bis zum Tod her. GonzalezTorres schreibt vor, dass die Bonbons ständig nachgefüllt werden. So garantiert er Ross metaphorisch ewiges Leben. Von großer Bedeutung ist ferner das künst-

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lerische Werk einer weiteren Künstlerin: Sophie Calles – besonders die Art und Weise, wie sie fiktionale und nicht-fiktionale Erzählungen für eine neue Form des Porträts und Selbstporträts einsetzt. Die Künstlerin dokumentiert in Suite vénetienne (1980) heimlich die Aktivitäten eines Mannes. Sie ist ihm zufällig in Paris begegnet und folgt ihm von dort nach Venedig. Für ein anderes Werk mit dem Titel The Shadow (1981) lässt sie ihre Mutter eine Detektei beauftragen, die sie beobachten soll. Ihr Bericht über die Aktionen von Sophie Calle ist ein Versuch, den fotografischen Beweis ihrer Existenz zu erbringen. Die Arbeiten der Künstlerin bestehen stets aus einer provozierten Situation, die sie in Text und Bildern fixiert. Die Position der Autorin erweitert sie um die Rolle der Akteur/-in. Prozesse der Aneignung und Vereinnahmung durch kollektive Autorenschaft oder Anonyme sind ein wesentlicher Bestandteil ihrer künstlerischen Strategie. Mit meiner Arbeit versuche ich, einen Beitrag zur aktuellen Diskussion innerhalb der Kunst und Kunsttheorie zur Erkundung von ›Selbst‹ und ›Individuum‹ zu leisten. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Menschen sich selbst und andere wahrnehmen, erforschen und darstellen. Relevant ist für mich die theoretische Arbeit von Grant Kester. Er sieht den Wert der künstlerischen Aktivität weniger im Prozess des ›Erschaffens‹ als in der Ermöglichung, im Vermitteln und in der Zusammenarbeit mit Teilnehmer/-innen außerhalb des Kunstkontextes (vgl. Kester 2004: 71). Als kunst- und praxisbasierte Forschung muss sich Porträt als Dialog der Frage stellen, welchen Platz das ›Selbst‹ des/der Forscher/-in, bzw. Künstler/-in in der Untersuchung einnimmt. Laut Morwenna Griffiths’ Modell erschafft sich das ›Selbst‹ in Beziehung zu anderen fortwährend neu (vgl. Griffiths 2011: 168). Dieses Verständnis deckt sich mit Martin Seels philosophischem Modell der Zwischenmenschlichen Begegnung. Es erklärt den ›Anderen‹ mittels ›dialogischer Handlung‹ zur Co-Autor/-in des ›Selbst‹ (vgl. Seel 1995: 86). ›Identität‹ ist ein sich in ständigem Wandel befindendes System, das gleichzeitig Konzept, Zeichensystem und Wissensordnung ist (vgl. Rogoff 2000). Die Konstruktion und Produktion von ›Selbst‹ und ›Identität‹ von Forscher/-in (Künstler/-in) und Feld finden sowohl während als auch im Anschluss an die Feldarbeit statt (vgl. Coffey 1999: 1). Die kollaborative Methode trägt daher ebenso viel zum Ergebnis meiner Arbeit bei wie sie ein Grund dafür ist, sie anzuwenden. Meine Strategie verbindet die Praxis von konzeptueller und sozial engagierter Kunst mit den Methoden der teilnehmenden Beobachtung. Ein zentraler Punkt meiner ›Feldarbeit‹ besteht in der strategischen Umkehrung der klassischen

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wissenschaftlichen Blickrichtungen. Die Rolle der Künstlerin als einzige Darstellerin und der Status der Forscherin als unbeteiligte Beobachterin wird gebrochen. In der Reihe von (Selbst-)Porträts – den ›Dialogischen Porträts‹ – platziere ich mich selbst als das durch meine Mitmenschen zu verhandelnde, studierende und repräsentierende Subjekt. Die Dialogpartner/-innen werden von mir (re-)präsentiert. ›Porträt als Dialog‹ zielt auf die wechselseitige Beziehung von Subjekt und Objekt, indem sie die traditionellen Rollen von Künstler/-in und Modell verschränkt und verkehrt. Mein Interesse gilt Methoden und Praktiken, die geeignet sind, ein Individuum zu identifizieren, zu charakterisieren, zu repräsentieren – kurz: zu ›porträtieren‹. Mit Hilfe eines/einer örtlichen Vermittler/in bestelle ich meine Projektbeteiligten. Ich beauftrage sie, meine Spuren zu lesen (Track Me), eine Joik-Melodie nach mir zu komponieren (Seek Me), einen Namen für mich auszuwählen (Name Me), anzugeben, was mein Geruch ihnen über mich mitteilt (Smell Me) oder welche Assoziationen meine verschleierte Erscheinung in ihnen hervorruft (Imagine Me). Einige Interpretationen meiner Person gehen aus flüchtigen Begegnungen hervor, andere erfordern einen längeren Aufenthalt. Die Arbeit Smell Me (2011) stellt das Begrüßungsritual des gegenseitigen SichBeriechens der mongolischen Hirten (vorwiegend der Tuwa) in den Mittelpunkt. Eine Versuchsleiterin hat mein jeweiliges Gegenüber gebeten auszudrücken, was er/sie von mir über die Berührung und meinen Geruch wahrnimmt. Die Einschätzungen wurden aufgezeichnet und übersetzt. In der Installation sind die gekürzten Statements auf weiße Glasflaschen geschrieben. Ihre Form ist der traditionellen mongolischen Tabakflasche nachempfunden. Damit wird der Bezug zu einer weiteren ritualisierten Geste beim Empfang eines Gastes hergestellt. Die Schnupfzeugbehälter werden zum gegenseitigen Begutachten und Beschnüffeln ausgetauscht. Die Begegnungen habe ich mit einer Stirnkamera aufgezeichnet. Die Videos sind auf die Rückseite einer Glasflasche projiziert. Seek Me (2005) beleuchtet eine uralte Tradition der Samen (Lappländer). Der Joik ist ein vokalreicher Obertongesang und am ehesten vergleichbar mit dem alpinen Jodeln. Er wird dazu verwendet, Menschen, Landschaften und besondere Tiere im Gedächtnis zu bewahren. Ich habe fünf Sami-Sänger/innen beauftragt, jeweils einen Joik über mich zu komponieren. Dafür habe ich eine Woche mit jeder/jedem Beteiligten verbracht. Wir haben zusammen gefischt, gekocht, Unkraut gejätet und Verwandte besucht. Die Melodien wurden in einem Tonstudio

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aufgezeichnet. Die Interpreten haben meinen laut- und rhythmusbezogenen Äußerungen wie Stimmlage, Lachen, Gang etc. große Aufmerksamkeit geschenkt. Die Soundinstallation stellt diese fünf Kompositionen meinen fünf Fotoporträts der Sänger/-innen gegenüber. Die Vorgehensweise leitet sich von einer Arbeit des deutschen Künstlers Timm Ulrichs ab – oder besser: von einer mit dieser korrespondierenden Filmschnitttechnik. Das getroffene Bild, das betroffene ich (1978) ist eine Performance, bei der der Künstler mit einem Gewehr auf die Linse einer laufenden Kamera, die ihn aufnimmt, schießt. Die Arbeit reagiert auf einen Zeitungsartikel aus dem Jahr 1973 über den Putschversuch in Chile. Die Reportage beinhaltet das letzte Foto des Fotografen Leonardo Henriksen. Es zeigt, wie sein Mörder das Gewehr auf ihn richtet (vgl. Ulrichs, 1980: 57). Mit Schuss-Gegenschuss wird im Film eine Sequenz von Einstellungen bezeichnet, die besonders in Dialogsituationen gebräuchlich ist. Dabei werden die Darsteller/-innen abwechselnd während ihres Dialoges gezeigt. So spricht Darsteller A (Schuss), daraufhin wird die Reaktion von Darsteller B gezeigt (Gegenschuss). Die Kamera bewegt sich nur auf einer Seite der Dialogachse. Der/die Zuschauer/-in zieht daraus den Schluss, dass sich beide Personen unterhalten. In meiner Arbeit ist der ›Dialog‹ ähnlich konstruiert: Wie in einem wissenschaftlichen Versuch erfahren meine Kollaborateure vor Abschluss des Projektes nicht, weshalb ich sie um ihre Interpretation bitte. Zu Beginn der Zusammenarbeit kläre ich sie darüber auf, dass das Resultat, das sich aus ihrem Mitwirken ergibt, ein Teil meines Kunstprojektes wird. Die Teilnehmer/-innen werden von mir beauftragt und entlohnt. Weder diskutiere ich mein künstlerisches Konzept, noch erkläre ich, was ich unter ›Porträt‹ verstehe. Ich sage nicht, dass ich die im Fokus stehende Kulturtechnik als alternative Möglichkeit definiere, ein solches herzustellen. Manchmal informiere ich die Projektbeteiligten über das Ergebnis der Arbeit oder über daraus hervorgehende Ausstellungen und Publikationen, in denen sie genannt sind. In vielen indigenen Kulturen spielt die Darstellung des Individuums keine Rolle. Bei den australischen Aborigines, den Sami, Tuwa oder den Kelabit wird die von mir in den Blick genommene Praktik nicht als Methode zum Porträtieren eines Menschen verstanden. Sie erfüllt eine konkrete Funktion oder eine Kombination von Funktionen: z.B. Jagen, Erinnern, Einordnen, Begrüßen oder Benennen. Die Konstitution von ›Identität‹ und die mit diesem Konzept einhergehende Wahrnehmung des ›Selbst‹ und des ›Anderen‹ sind untrennbar mit der westli-

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chen Vorstellung von ›Porträt‹ verbunden. Ich möchte dazu anregen, den Porträtbegriff zu überdenken und zu erweitern, ohne dabei einen bestimmten ›Blick‹ einem anderen vorzuziehen. Meine Arbeit versucht sich an einer Umwertung dessen, was die Darstellung eines Individuums in ›anderen‹ Kulturen bedeuten könnte. Indem sie spezifische nicht-westliche und subkulturelle Formen vorstellt, die verschiedene soziale Codes und Prozesse priorisieren und diese mit der westlichen Auffassung von Porträt konfrontiert, ist sie sowohl an ein westliches Publikum gerichtet als auch an das Publikum, dessen Praktik betrachtet wird. Ich bitte meine Teilnehmer/-innen ihren Blick auf mich zu richten und sich auf unterschiedliche Weise mit mir zu verbinden. Stets stelle ich ihnen implizit dieselben Fragen: Was ist Realität, was Fiktion in unserer Selbst- und Fremdwahrnehmung? Wo sind wir selbst mit im Bild, wenn wir andere ansehen, beurteilen oder darstellen? Vor allen Dingen möchte ich Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass neben den westlichen Porträtkonventionen reiche – als solche weitgehend nicht wahrgenommene oder erforschte – Traditionen zur Wahrnehmung und Repräsentation des Menschen existieren. Meine Sammlung versucht damit einen Beitrag zu unserem menschlichen Selbstverständnis zu leisten. Ich konzipiere und organisiere meine Projekte, führe sie in Zusammenarbeit mit anderen durch und präsentiere sie. Meine künstlerische Leistung besteht jedoch vornehmlich darin, Praktiken aufzuspüren, die sich auf die eine oder andere Weise auf ein Individuum beziehen lassen. Indem ich die jeweilige Methode zum ›Porträt‹ erkläre, erkenne ich ihre künstlerische Qualität an und weise ihr eine solche zu. Ich bin mir bewusst, dass meine Einschätzung und Einordnung im wissenschaftlichen Sinn ein Missverständnis ist. Ich riskiere, dass meine künstlerische Definition für die beteiligten Individuen oder ihre Gruppe inadäquat ist. Ich ziele darauf ab, neben die verallgemeinernde Wahrnehmung andere Formen zu setzen. Ich spreche hier bewusst nicht von Entgegensetzen, weil das Entgegengesetzte immer Teil desselben Systems bleibt und somit keine Alternative darstellt. Obwohl auch ich als Künstlerin nach einer Möglichkeit suche das Veränderbare, Vorläufige, die Besonderheit eines Menschen oder eines Dings und seinen Kontext möglichst weit zur Geltung zu bringen, betreibe ich keine ethnologische Forschung. Anders jedoch als eine Wissenschaftler/-in, die auf einen endgültigen, bleibenden Durchbruch und volle Integration in ihr Fachgebiet hofft, kann ich subjektiven Sichtweisen und Deutungen, sowie persönlichen Assoziationen und Reflexionen in meinen Darstellungen Raum geben. Genau hierin unterscheidet sich meine Forschung von der einer Wissenschaftler/-in.

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V ERSUCHSANORDNUNG In Sana’a, der Hauptstadt des Jemen, suche ich zunächst eine Übersetzerin und Versuchsleiterin. Abbildung 3: Angelika Böck

Quelle: Angelika Böck, Foto von Thomas Barnstein

Ich besorge mir eine möglichst neutrale Abaja, ein schwarzes, mantelartiges Kleidungsstück, das alle jemenitischen Frauen in der Öffentlichkeit tragen. Ich verberge meine für den Jemen untypischen grünen Augen unter einem schwarzen, blickdichten Gesichtsschleier und meine helle Haut mit schwarzen Handschuhen und Strümpfen. Derart ausgestattet trete ich gemeinsam mit meiner Versuchsleiterin dreißig jemenitischen Männern und Frauen gegenüber. Sie gehören verschiedenen Alters- und Gesellschaftsgruppen an. Die Interviewerin stellt allen dieselbe Aufgabe: Sie sollen eine Vorstellung der fremden, unkenntlichen und stummen Person entwickeln. Die Fragende fordert meine Betrachter/-innen dazu auf, mich sehr genau zu beobachten. Sie regt an, mein vorgestelltes Aussehen, mein angenommenes Wesen und meine vermuteten Lebensumstände zu beschreiben. Die Aussagen werden aufgezeichnet. Im Anschluss an das Interview gebe ich mich den Teilnehmenden zu erkennen. Findet das Interview im ›privaten Raum‹ statt, lege ich Abaja und Gesichtsschleier unmittelbar danach ab; sind wir im ›öffentlichen Raum‹ unterwegs, vereinbart die Versuchsleiterin ein weiteres Treffen bei dem ich unverhüllt in Erscheinung trete. Mit

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Hilfe meiner Versuchsleiterin/Übersetzerin bitte ich die Beteiligten sie fotografieren zu dürfen – Zuhause, im Büro oder Geschäft.

I NSTALLATION Abbildung 4: Imagine Me, 2007 Installation von Angelika Böck, 25 Fotos, je 20 x 26 cm, Kubus 200 x 200 x 200 cm, 16 Stoffbahnen bestickt, je 200 x 50 cm

Quelle: Foto von Angelika Böck

Imagine Me besteht aus einem, mit schwarzem Stoff bespannten Kubus und 25 Foto-Porträts (Abb. 4 und Abb. 5). Der Würfel ist in der Mitte des Ausstellungsraumes platziert. Jede Seite trägt vier Stoffbahnen. Auf jedem Feld steht ein Text in deutscher und arabischer Sprache. Die Schriftzeichen sind mit goldenem Garn in das Material gestickt. Jeder Teil repräsentiert eines der 16 ausgewählten Interviews. Der schwarze Körper ist zwei mal zwei mal zwei Meter groß. Die Abmessung gleicht der Reichweite eines Menschen mit ausgestreckten Armen. Der dunkle Stoff ist eine Referenz an die Abaja. Die goldene Farbe bezieht sich auf den Schmuck. Durch ihn sowie durch Schuhe und Handtaschen werden Frauen im öffentlichen Raum ›individualisiert‹. Die Fotos sind schnappschussartig aufgenommen. Die ›Projektionsflächen‹ auf dem Kubus sind von den Porträts aller Beteiligten, die einem Porträt zustimmten, umgeben. Diese sind ihm gegenüber an den vier Wänden des Raumes aufgehängt. Es gibt keine direkte Zuordnung von Bild und Zitat. Der Innenraum des würfelförmigen schwarzen Gebildes ist unzugänglich.

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Abbildung 5: Imagine Me, 2007 von Angelika Böck, Fotos von 4 Teilnehmer/innen

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Quelle: Fotos von Angelika Böck

Z ITATE Die Jemeniten und Jemenitinnen haben meine verschleierte Gestalt sehr unterschiedlich bewertet. Bei manchen der Befragten hat sie in kurzer Zeit detaillierte innere Bilder hervorgerufen. Andere haben sich auf die Beschreibung äußerer Merkmale beschränkt. Ein alter Händler auf dem Souq, dem arabischen Markt, sagt: »Die Frau sieht gut aus. Nur Gott weiß, wer sie ist.«

Eine junge Lehrerin findet: »Die Frau könnte ein Mann sein. Sie ist gebildet und arbeitet bestimmt. Sie ist nicht arm und nicht reich. Sie ist etwa Mitte 20.«

Ein älterer Geschäftsmann stellt sich vor: »Die Frau ist bestimmt keine Hausfrau. Sie ist mit dem Studium fertig und arbeitet. Sie ist sicher, unabhängig und ehrgeizig. Sie ist nicht reich, hat ein Handy, aber kein Auto. Sie tut, was sie will und steht zu ihrer Meinung. Sie handelt meistens richtig. Sie ist gläubige Muslimin, aber keine strenge. Sie mag die Natur und alles was schön ist. Sie hasst Gewalt. Ihre Eltern haben viel gestritten. Sie hat schöne Augen und eine schöne Nase, mittellanges schwarzes Haar und helle Haut. Sie singt gern unter der Dusche. Sie ist vernünftig und gesund. Sie hat noch keine Kinder. Sie ist zwischen 20 und 30 Jahren alt.«

Ein Geschäftsmann mittleren Alters ist überzeugt: »Die Frau ist nicht anziehend. Sie läuft wie ein Modell oder Soldat. Sie ist arm und ohne Interessen. Sie ist unzuverlässig, unordentlich und schlecht organisiert. Sie ist keine gute

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Hausfrau. Sie hat nur eine geringe Chance, ein Haus und einen Mann zu bekommen. Sie hat einen guten Körper, ohne etwas dafür zu tun. Ihr Gesicht ist weder schön noch hässlich.«

Eine Hausfrau mittleren Alters stellt fest: »Die Frau ist selbstbewusst. Sie ist gewohnt, mit Anderen umzugehen. Ihre Kleidung und ihre Haltung passen nicht zusammen. Sie ist wahrscheinlich unverheiratet und hat keine Kinder. Sie ist Hausfrau und Ende 30.«

Ein alter Schriftsteller meint: »Die Frau sieht in dieser schwarzen Hülle wie ein Geist aus. Sie stammt aus einer jemenitischen Mittelstandsfamilie. Sie hat wohl an der Hochschule studiert und arbeitet. Sie will durch ihre schweigende Beteiligung an diesem Projekt vielleicht eine These vorstellen. Sie hat einen Gang, der sagt, dass sie gewaltbereit ist. Unter ihrer Ruhe könnte sie Emotion verstecken. Sie hat schwarze Augen und Haare aber helle Haut. Sie ist bestimmt schick. Sie ist ganz gesund.«

Die formale Umsetzung der Installation bezieht sich auf Ludwig Ammann, der die Absonderung der Frauen im Islam als Erklärung des weiblichen Körpers zum sakralen Raum interpretiert (vgl. Ammann 2004: 86) und reagiert auf die Arbeit Cube Venice 2005 des deutschen Künstlers Gregor Schneider (Abb. 6). Er hatte ein freistehendes, 15 Meter hohes, mit schwarzem Stoff bespanntes ›würfelförmiges Bauwerk‹ (die übersetzte Bedeutung von Kaaba, dem heiligsten Ort im Islam, von dem sich Nichtmuslime fern zu halten haben) für die 51. Biennale Venedig geplant. Sie sollte auf der Piazza San Marco platziert werden. Trotz der offiziellen Einladung der Veranstalter wird das Kunstwerk kurz vor der Ausstellungseröffnung verboten. Die Entscheidung fällt in Rom. Sie wird getragen von Vertretern der Stadt Venedig, die befürchten, die Arbeit könne Muslime provozieren.

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Abbildung 6: (graphic elaboration) Cube Venice 2005 von Gregor Schneider

Quelle: 51. Internationale Kunstausstellung, Giardini della Biennale in Venedig, 12.06.2005-06.11.2005. © Gregor Schneider/VG Bild-Kunst, Bonn

Im Jahr 2007 zeigt die Hamburger Kunsthalle Cube Hamburg eine Nachbildung von Schneiders unrealisiertem Werk. Hier schwächen die Abwesenheit der umgebenden Architektur und die Funktion des Markusplatzes als touristische Pilgerstätte die Assoziation mit Mekka ab. Die Arbeit wird auf dem Plateau vor der Galerie der Gegenwart mit der Ausstellung Das schwarze Quadrat. Hommage an Malewitsch in Verbindung gesetzt. Das 1914/15 entstandene Gemälde Black Square des russischen Avantgarde-Suprematismus-Künstlers Kasimir Malewitsch, das eine radikale Erneuerung der Malerei einleitet, zeigt ein schwarzes Quadrat auf weißem Grund. Diese ›Ikone der neuen Kunst‹ wird 1915 erstmals bei der letzten futuristischen Ausstellung in Sankt Petersburg gezeigt. Es ist dort an der höchsten Stelle einer Ecke des Galerieraumes mit der Bildfläche leicht schräg nach unten befestigt, umgeben von anderen Bildern Malewitschs. Das Schwarze Quadrat nimmt damit die Position ein, die in einem traditionellen russischen Haus einer religiösen Ikone vorbehalten ist. Die Hängung stellt somit einen Bezug her zur Ikonenwand in einer orthodoxen Kirche. Sie wird von den Gläubigen als Schwelle und Grenze zwischen dem irdischen Bereich der Kirche und dem göttlichen Reich jenseits der Ikonostase angesehen. Sie will einerseits verhüllen, indem sie das Heilige dem Blick entzieht, andererseits will sie aber auch enthüllen, denn während sie verbirgt, was das leibliche Auge nicht sehen kann, stellt sie zugleich die göttliche Wirklichkeit im sichtbaren Bild der Ikonen dar. Zahlreiche Äußerungen Malewitschs deuten darauf hin, dass der Künstler das schwarze Quadrat, das im Betrachter das Gefühl der Gegenstandslosigkeit

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und Leere erwecken soll, als Schwelle und Passage in eine andere, spirituelle Welt verstand. Der deutsche Künstler Thilo Frank realisierte auf der Sharjah Biennale 2013 die Arbeit ›Infinite rock‹ (Abb. 6), einen schwarzen, betretbaren und innen verspiegelten Felsen. Die formale Anordnung der Skulptur erinnert an die Kaaba, die Herberge eines heiligen schwarzen Steins in Mekka. Abbildung 7: Thilo Franke, Infinite rock 2013, 6,6 x 4,5 x 13,5 m HWD, Stahl, Aluminium, Stoff, Glasspiegel, Holz mit spiegelnder Beschichtung, Seil, Licht.

Quelle: Installation von Sharjah Bienniale SB 11, UAE 2013B. ©http://shares.thilofrank.net (29.7.2013)

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R EFLEXION Das Material von Imagine Me ist der Assoziationsraum des verhüllten menschlichen Körpers. Frauen der gebildeten jemenitischen Eliteschicht nehmen mich anders wahr als Hausfrauen. Die einen erblicken in mir eine Frau, die studiert hat und einem Beruf nachgeht. Die anderen nehmen an, ich sei, wie sie selbst, für Haus und Familie zuständig. Wie Frauen andere Frauen wahrnehmen – auch in der Funktion als Agentin für den Mann – scheint in der jemenitischen Gesellschaft von enormer Wichtigkeit zu sein. Frauen sind die Ehestifterinnen und haben deshalb eine große Bedeutung in Hinblick auf den Gewinn von sozialem Status. Er geht einher mit einem spezifischen Umgang mit dem weiblichen Körper und wird anhand des Körperschmucks verhandelt. Das entspricht jeweils den zwei verschiedenen Formen von Beziehungen, denen Frauen zugeordnet werden: Ehepaare oder Geschwister. Unverheiratete Frauen haben ihr geschlechtsspezifisches Potential noch nicht vollständig entwickelt. Sie werden als weniger vollständig (naqisah) als Ehefrauen und Mütter angesehen. Entsprechend dem islamischen Gesetz darf der weibliche Körper nur von anderen Frauen, dem Ehemann und Männern gesehen werden, die in einem so engen Grad an Blutsverwandtschaft (mahram) stehen, dass eine Heirat ausgeschlossen ist (vgl. Bruck 1997: 176). Ein traditionsbewusster, muslimischer Mann soll, mit Ausnahme seiner nächsten weiblichen Verwandten, keine Frau unbedeckt erblicken. Der Verschleierung der Frau im öffentlichen Raum entspricht ein ›Blickverbot des Mannes‹. Die Frau darf vom Mann nicht gesehen werden. Der Mann darf sie nicht ansehen und nicht über sie sprechen (vgl. Braun/Mathes 2007: 68). Die fantasievollsten Beschreibungen meiner verschleierten Figur stammen von gebildeten Männern. Die moderne Welt ist auch für den streng muslimischen Mann voller Bilder. Die Praxis wird daher keine Antwort liefern auf die hypothetischen Fragen: Nach welchen Mustern legt ein Mann das Bild einer Frau in sich an, bevor er sie, beschrieben von Frauen, selbst erblickt (was normalerweise erst nach der Hochzeit der Fall ist)? Wie wirkt sich das darauf aus, wie er sie später wahrnimmt? ›Porträt als Dialog‹ ist der Suche nach dem Porträthaften gewidmet. Imagine Me befasst sich darüber hinaus mit dem Blick und der Funktion der Bilder im ostwestlichen Spannungsfeld. »Der Blick wird in jeder Gesellschaft kollektiv eingeübt, obwohl ihn jeder als seinen eigenen Blick empfindet«, schreibt Hans Belting in seinem Buch Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks (Belting, 2008: 284). Der Autor weist auf die komplementäre Bedeutung von Vorstellung und Darstellung hin: Es sind zwar die gleichen Augen, mit

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denen wir blicken und die Welt wahrnehmen. Dennoch ist der Blick vor allem Ausdruck einer Person und sozialen Handlung. Übertragen auf die Bildgeschichte zeigt diese Unterscheidung, dass Bilder eine Doppelfunktion besitzen. Sie bedienen entweder die Wahrnehmung und ihre Codes oder repräsentieren symbolisch den Betrachter mit seinem historischen Weltbezug. Belting erklärt, dass die »Bilder in der Vorstellung geboren werden« und dass es eben diese mentalen Bilder sind, die auch in der arabischen Kultur, so sehr sie die Kritik an der Repräsentation zu ihrer Aufgabe macht, ihre feste Bedeutung hatten. Mit den Neurowissenschaften argumentiert er, dass sich die interne Repräsentation von der externen unterscheidet und weist auf die enorme Bedeutung hin, die der engen Wechselbeziehung von inneren und äußeren Bildern zukommt (vgl. Belting 2008: 283-284). Der englische Ausdruck I see ist gleichbedeutend mit ich verstehe und schwerlich aufs Geratewohl entstanden (vgl. Hustvedt 2006: 16). Was wir sehen, ist stattdessen ein hoch komplexer Prozess. Er setzt sich zusammen aus dem, wie unser Gehirn die visuelle Welt einschätzt. Er ist eine Kombination aus der Verarbeitung von externen Stimuli durch das visuelle System, dem gleichzeitigen Abfeuern von Neuronen in bestimmten Mustern, die uns bewusst machen, was wir sehen, dem Erlernen geeigneter Wahrnehmungsfähigkeiten zur richtigen Zeit und von Vorkenntnissen, die die gegenwärtige Wahrnehmung zum Tragen bringen. Wahrnehmung ist ein Prozess, der nicht nur das Netzhautbild nutzt, sondern auch die Person als Ganzes betrifft (vgl. Barry 1997: 65). Das Bewusstsein unterschiedlicher Perspektiven der Wahrnehmung lässt persönliche Identitätsstrukturen und soziokulturelle Wahrnehmungsmuster erkennbar werden, weist auf die Limits unserer Identität hin und lädt zu einem spielerischen und produktiven Umgang mit uns selbst, anderen und der von uns geschaffenen Wirklichkeit ein. Abhängig davon, ob bspw. ein autobiografisches Erlebnis, ein historischer Zusammenhang oder ein politisches Tagesereignis die Wahrnehmung der Betrachter/-in färbt, wird er/sie das, was er/sie soeben betrachtet, jeweils anders in seinen/ihren eigenen, veränderlichen Erfahrungs-Kanon einordnen und ihn später in vielfältigen Zusammenhängen zu immer neuen Wirklichkeiten zusammensetzen.

E XPERIMENT

IN

D EUTSCHLAND

Ich werde gefragt, wie meiner Meinung nach Westeuropäer/-innen auf die Aufgabe, die ich den Jemenit/-innen mit Imagine Me gestellt habe, reagieren. Die Frage macht mich neugierig. Ich beschließe eine Umfrage durchzuführen. Nicht als künstlerische Arbeit, sondern als Anregung für eine wissenschaftliche Unter-

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suchung. Für das Experiment überrede ich meine Mutter, meine jemenitische Verhüllung anzulegen. Wir identifizieren die Münchner Maximilansstraße als geeigneten Ort (Abb. 8). In dieser Umgebung ist der verschleierte weibliche Körper, dank shoppender Frauen, ein vertrauter Anblick. Ich spreche 15 Männer und Frauen an und bitte sie, sich kurz Zeit zu nehmen. Ich fordere sie auf, meine Mutter genau anzusehen, sie sich vorzustellen und mir ihre Fantasien mitzuteilen: Abbildung 8: Experiment auf der Münchner Maximilianstrasse

Quelle: Angelika Böck, Fotos von Thomas Barnstein

Elfriede, 72: »Die Frau ist vielleicht fünfzig Jahre alt und führt zuhause in ihrem Harem ein normales Leben. Sie wirkt nicht unterdrückt.«

Elvira, 48: »Ich bin nicht einverstanden damit, dass sich Frauen so verschleiern. Ich will Menschen in die Augen sehen und ihre Körpersprache erkennen. Das ist für mich sehr wichtig. Diese Leute lassen uns nicht an sich heran. Das macht mir Angst.«

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Eva, 32: »Man kann nichts von der Frau sehen, kein Gesicht, nicht einmal ihre Augen. Der Schleier verdeckt völlig ihre Individualität. Oft habe ich Mitleid mit diesen Frauen.«

Fritz, 79: »So voll verschleiert sind nur iranische Frauen. Es passt jedenfalls nicht hier ins Stadtbild und das fängt schon beim Kopftuch an.«

Marianne, 71: »Wenn ich so jemanden sehe, tut’s mir leid. Vor allem wenn ich mir vorstelle, dass die Frauen in einem heißen Land so gekleidet sein müssen. Das ist grausam! Aber man kann ihnen nicht helfen. Das geht bestimmt noch hundert Jahre so. Manche sind aber auch sehr selbstbewusst – da ist dann natürlich Geld dahinter.«

Irene, 40: »Man weiß nie, wer unter so einem Gewand steckt – es könnte ja auch ein Mann sein. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass die Frauen das freiwillig machen. Ich will jedenfalls nicht so herumlaufen. Ich finde es unfreundlich.«

Eckhart, 78: »Alles, was ich registriere, ist eine schwarz gekleidete Dame. Wie sie unter diesem Schleier aussieht, stelle ich mir nicht vor.«

Im Gegensatz zu den jemenitischen Teilnehmer/-innen hat sich keiner der 15 angesprochenen Personen tatsächlich auf die gestellte Aufgabe eingelassen. Die Befragten haben keine inneren Bilder entwickelt. Sie haben den Schleier und das Leben, das verschleierte Frauen ihrer Vermutung nach führen kommentiert. Die Jemenit/-innen dagegen, für die der Anblick einer verschleierten Person selbstverständlich ist, hatten keinerlei Schwierigkeiten ihre Sinne und ihre Vorstellungskraft zu bemühen. Die östliche Vorstellungskraft ›durchdringt‹ den Schleier. Die westliche kommt nicht an ihm vorbei. Diese Schlussfolgerung liegt nah. Nilüfer Göle erklärt in ihrem Impulsvortrag anlässlich der Eröffnung der Wiener Ausstellung Mahrem – Anmerkungen zum Schleier, dass sich Europa in der Begegnung mit dem Islam geformt hat. Dem Schleier im Westen kommt die Funktion eines Spiegels gleich, an dem sich westliche Werte brechen (vgl. Göle 2008). Sie erinnert an zwei bedeutende Vorfälle: Im Jahr 2004 beschließt das Französische Parlament nach langer Debatte, dass Schüler/-innen und Studenten/-innen das Tragen größerer religiöser Zeichen wie Kippa, Kopftuch und

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Habit verboten ist. Für den Lehrkörper staatlicher Schulen und Universitäten gilt dies bereits seit 1905. Seit der Verabschiedung des Gesetzes über die Trennung von Staat und Kirche dürfen Lehrer/-innen und Professor/-innen in Frankreich keine ›auffälligen religiösen Symbole‹ zur Schau stellen. Mit diesem Erlass, so Göle, wird die französische Säkularisation revitalisiert. Der zweite Vorfall im September 2005 wird durch Mohammed-Karikaturen ausgelöst. Die dänische Zeitung Jyllands-Posten hat sie veröffentlicht. Die Karikaturen werden im Februar 2006 von einigen deutschen und französischen Blättern nachgedruckt. Sie stellen den Propheten in entwürdigenden Posen dar, etwa als bärtigen Säbelschwinger und Zuhälter oder als Schwein und Schweinefresser. Die Verfasser verstoßen ganz bewusst gegen das religiöse Tabu des Verzehrs von Schweinefleisch und intendieren die Verunglimpfung des Islam (vgl. Braun/Mathes 2007: 61). Die Folge sind Demonstrationen und islamistisch motivierte, gewalttätige Ausschreitungen sowie diplomatische Konflikte zwischen der dänischen Regierung und Regierungen islamischer Staaten. Aus westlicher Perspektive geht es in der nachfolgenden weltweiten Diskussion um die Werte der Religions-, Presse-, Kunst- und Meinungsfreiheit. Abbildung 9: Turkish Delight von Olaf Metzel

Quelle: Installationsansicht aus der Staatsgalerie Stuttgart von 2006, Foto von Fritz Barth

Bei der Ausstellung in Wien wird auch die Skulptur Turkish Delight des deutschen Bildhauers Olaf Metzel gezeigt (Abb. 9). Es handelt sich um die lebensgroße Figur einer nackten Frau mit islamischem Kopftuch. Der Künstler will die Widersprüche in den Frauenbildern in Orient und Okzident sichtbar zu machen.

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Ähnlich dem schwarzen Kubus von Schneider ist die Skulptur auf dem Project Space vor der Kunsthalle im öffentlichen Raum aufgestellt. Kurze Zeit später stürzen sie Unbekannte vom Sockel. Gabriele Dietze führt in ihrer Okzidentalismuskritik, die sich vor allem als Perspektivierung oder Sichtachse versteht, deutlich vor Augen, dass es sich bei Enthüllung und Bedeckung um zwei unterschiedliche Sichtbarkeitsregime handelt. Christina von Brau und Bettina Mathes zeigen auf, dass sich zwischen Judentum, Christentum und Islam die Zugänglichkeiten zum Göttlichen unterscheiden. Sowohl die jüdische als auch die islamische Religion gehen von einem verborgenen Gott aus, der nicht abgebildet werden darf. Da er mit dem Gläubigen nicht unmittelbar in Kontakt treten kann, hat er sich zu verschleiern. Deshalb erfordert der Empfang des offenbarten Wortes sowohl bei Moses als auch bei Mohammed die Verschleierung des Hauptes. Als Enthüllungsreligion folgt das Christentum einer anderen Logik. Der Gedanke der Entschleierung besagt, die Wahrheit Christi, d.h. das Geheimnis Gottes, unverhüllt sehen und begreifen zu können (vgl. Braun/Mathes 2007: 60-61). Für den aufgeregten okzidentalistischen Blick ist in dieser Auseinandersetzung nur die Bedeckung sichtbar. Das Kopftuch wird zur Meistermetapher. Im Kontrast zu ihm wird die ›Freiheit‹ der okzidentalen Frau in der Nichtbedeckung – gegebenenfalls auch in der Nacktheit – inszeniert. Damit wird die ›bedeckte Frau‹ zu einem zentralen Signifikanten von ›Andersheit‹ (vgl. Dietze 2009: 34-37). Die Reaktionen der in meinem Münchner Experiment befragten Personen scheinen Dietzes Darstellung und Göles Beobachtung zu bestätigen. Während Mohammed durch den Schleier auf seine Schwester sieht, erkenne ich mich selbst nicht im Spiegel. In der Tat, der Spiegel ist der einzige Ort, an dem wir uns von Außen als visuelles Ganzes erfahren. Das ICH nimmt den Platz des DU ein. Im Alltag sehen wir uns stets in Teilen: unsere Hände, wie sie sich vor uns bewegen, unsere Arme, Finger, der Torso oder unsere Knie und Füße. Der komplette Anblick des Körpers im Spiegel veranlasste den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan seine Theorie des Spiegelstadiums zu postulieren. Er bedeutet für ihn den Moment, in dem ein Kind sich selbst als Person in einer Reflektion durch die Augen des ›Anderen‹ erkennt (vgl. Hustvedt 2006: 16, 163). In der unerwarteten und distanzierten Begegnung mit dem Bild meines eigenen Körpers werde ich mir selbst bewusst. Das Sehbild einer Frau und die Funktion des Ortes dient meiner Vorstellungskraft und dem schlussfolgernden Verstand als Zeichen für die Präsenz bestimmter Eigenschaften und Funktionen. Das als solches noch undurchschaute Spiegelbild wird erst durch einen plötzli-

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chen Umschwung in meiner Betrachtung (meinem Blick) zum Kippbild, das mich selbst hervorzaubert.1

L ITERATUR Ammann, Ludwig (2004): »Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Tradition«, in Nilufer Göle/Ludwig Ammann (Hg.), Islam in Sicht: Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum, Bielefeld: transcript Verlag, S. 311-325. Baudrillard, Jean (2006): »Lob der Singularität. Vom geteilten Subjekt zum unteilbaren Individuum«, in: Paolo Bianchi (Hg.) Kunstforum International: Die Kunst der Selbstdarstellung, Bd. 181, S. 68. Barry Seward, Ann Marie (1997): Visual Intelligence: Perception, Image, and Manipulation in Visual Communication, Albany, NY: State University of New York Press. Belting, Hans (2008): Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München: Verlag C.H. Beck. Bianchi, Paolo (2006): »Die Kunst der Selbstdarstellung. Ästhetisches Dasein zwischen Erscheinen, Existenzialismus, Existenzsetzung und Selbstkultur«, in: Paolo Bianchi (Hg.): Kunstforum International: Die Kunst der Selbstdarstellung. Bd. 181, S.47. Braun, Christina von/Mathes, Bettina (2007): Die verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Berlin: Aufbau-Verlag.

 1

Ich danke allen Interviewpartner/innen, die mit ihren Wahrnehmungen und Antworten zur Entstehung von Imagine Me beigetragen haben: Dr. Abdul Aziz Al-Muqualeh, Abdulkader Sabri, Abdullah Al-Mura’ai, Abdulnasser Al-Badani, Ali Al-Hutaibi, Ali Mohammed Ali Saleh, Ali Mohammed Al-Rada’ai, Ali Mohammed Auadh, Ameen Abdullah Mohammed Ali Saefan, Amin Dirham Mohammed Al-Areeki, Anwer AlGermani, Dr. Bilkis Abo-Esba’a, Faisa Ahmed Abdullmalik Al-Mutawakel, Dr. Entilak Al-Mutawakel, Iman Al-Aruma, Dr. Husnia Al-Khadri, Kahuthar Annabhani, Kefah Abdulrahman Taha, Khahtan Yahia Khaid, Lutf Hussain Al-Mahdi, Manal Abu Al-Ridschal, Mohammed Abdulsalam Al-Mansour, Mohammed Al-Hutaibi, Mua’ath Al-Fetahi, Raidan Mohammed Abdullmalik Al-Mutawakel, Rawda Ahmed Al-Amri, Sameer Mohammed Ali Ahmed, Schahd Hassan Al-Iriani, Soad Abdulaziz Mohammed Khadri Al-Saqaaf, Yahya Mohammed und Zeinah Dhia’a Addien.

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Bruck, Gabriele vom (1997): »Elusive Bodies: The Politics of Aesthetics among Yemeni Elite Women«, in: Chicago Journals 23 (1), http://www.jstor.org/ stable/3175156 (16.03.2012). Calabrese, Omar (2006): Die Geschichte des Selbstporträts, München: Hirmer Verlag. Coffey, Amanda (1999): The Ethnographic Self: Fieldwork and the Representation of Identity, London: SAGE Publications. Dietze, Gabriele (2009): »Okzidentalismuskritik. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung«, in: Gabriele Dietze/Claudia Brunner/Edith Wenzel (Hg.), Kritik des Okzidentalismus: Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld: transcript Verlag, S. 23-55. Göle, Nilüfer (2008): http://www.kunsthallewien.at/cgibin/mediazone/videos/list. pl?id=210&lang=de (28.04.2013). Griffiths, Morwenna (2011): »Research and the Self«, in: Michael Biggs/Henrik Karlsson (Hg.): The Routledge Companion to Research in the Arts, New York: Routledge, S. 167-185. Hustvedt, Siri (2006): A Plea for Eros: Essays, London: Hodder and Stoughton Ltd. Kester, Grant (1999/2000): »Dialogical aesthetics: A critical framework for littorial art«, in: Variant 9 (Winter), http://www.variant.org.uk/9texts/Kester Supplement.html (28.04.2013). McGonagle, Joseph/Sedira, Zineb (2006): »Translating Differences: An Interview with Zineb Sedira«, in: Signs 31 (3), http://www.jstor.org/stable/ 10.1086/498990 (16.03.2012). Rogoff, Iritt (2000): Terra Infirma: Geography’s Visual Culture, London: Routledge. Seel, Martin (1995): Versuch über die Form des Glücks: Studien zur Ethik, Frankfurt a.M: Suhrkamp. Ulrichs, Timm (1980): Timm Ulrichs: Totalkunst, Lüdenscheid: Ausstellungskatalog Städtische Galerie Lüdenscheid.



Das ›Going Native‹ des primitivistischen Künstlers und die exotische Frau Victor Segalens kritische Ästhetik des Exotismus

L ADINA F ESSLER »Le plus proche, le plus intime, ne peut se saisir que dans l’éloignement le plus radical.«

1

(DOLÉ 2008: 67)

E INLEITUNG Victor Segalen (1878-1919), französischer Marinearzt, angehender Literat, Ethnologe und Archäologe, verfasst Anfang 1904 den kurzen Text Gauguin dans son dernier décor, der im Juni desselben Jahres im Mercure de France erscheinen wird. Er ist dem Maler Paul Gauguin gewidmet, der im Mai 1903 auf der Marquesas-Insel Hiva-Oa verstarb. Der Text, nach Segalens Einsatz auf Hiva-Oa entstanden2, ist schwierig einzuordnen, denn der Autor zieht viele Register – er ist Reisebericht, Nachruf, Essay, Plädoyer und vor allen Dingen Poesie. Er handelt von Gauguin und seiner Wahlheimat in der Südsee, genauer vom Ort seines Sterbens. Segalen erzählt von der Insel und seinen BewohnerInnen, er rekonstruiert Gauguins letztes Atelier und skizziert seine Kunst als Auseinandersetzung mit der fremden Welt und den fremden »Formen« (Segalen 1995: 290f). Über mehrere Ebenen gesehen widmet sich der Text der Erforschung von Fremdem:

 1

»Das Nächste und Intimste kann nur mittels radikaler Distanzierung erfasst werden.«

2

Zu Segalens Aufenthalt auf Tahiti als Marinearzt und für allgemeine historische und

(Übersetzung Felix Bühlmann) biografische Informationen vgl. bspw. Cahn (1995) od. Dollé (2008).

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dem Fremden in der Gestalt der Südsee, der Indigenen, der exotischen Kunst und nicht zuletzt dem Fremden in der Person Gauguins. Auf dieser Ebene ist der Text die Erzählung einer vermittelten Begegnung, denn Segalen hat Gauguin nie getroffen.3 Er reflektiert die Möglichkeit der Annäherung an eine ungekannte Person, die im Falle Gauguins eine Über-Persönlichkeit ist, die schon damals in ihrem Mythos aufgegangen, von ihrer Kunst und vor allem ihrer Aura überblendet und mit der fremden Südsee unauflöslich verbunden war.4 Tatsächlich lässt Segalen Gauguin als Monster und Fremder unter Fremden auftreten und öffnet damit einem geheimnisvollen Alteritätsdiskurs Tür und Tor. Diesen gilt es in diesem Beitrag zu ergründen. Segalen schreibt: »Gauguin fut un monstre. C’est à dire qu’on ne peut le faire entrer dans aucune des catégories morales, intellectuelles ou sociales, qui suffisent à définir la plupart des individualités« (Segalen 1995: 288).5 Diese einführende Darstellung Gauguins, die Segalen im Weiteren ausbaut, ist überaus positiv gemeint. Segalen nimmt damit eine provokativ konträre Stellung gegenüber dem französischen kolonialen Establishment auf Tahiti und den MarquesasInseln ein, welches Gauguin als aufrührerischen, amoralischen, antikoloniale Propaganda verbreitenden Bohemien verteufelte.6 Segalen ereifert sich für den Künstler und ist einer der wenigen, die dessen Nachlass vor Verschacherung und Zerstörung retten (vgl. Cahn 1995: 147ff). Dieses fremde Wesen Gauguin, das in

 3

Vgl. Forsdick (2000: 5). Forsdick beschreibt Gauguin im Text Segalens als »[...] fundamentally absent, mourned figure, known only at second hand through reminiscences and the associations of metonymic objects.«

4

Zum Mythos Gauguin vgl. von Bismarck (2010: 27-42).

5

»Gauguin war ein Ungetüm. Das heißt, man kann ihn keiner der moralischen, intellektuellen oder sozialen Kategorien zuordnen, die zur Bestimmung der meisten Persönlichkeiten ausreichen.« (Segalen 2001: 37) Im Weiteren wird mit »Monster« eine direkte Übersetzung des frz. Originals bevorzugt.

6

Vgl. Eisenman (1997: 153ff; 168ff). Gauguin engagierte sich gegen koloniale Zwangsmaßnahmen (Steuern, pädagogische Maßnahmen), er unterrichtete die Indigenen in ihren Rechten und nahm an subversiven Aktionen teil. Gemäß Dokumenten der frz. Kolonialbehörde trug Gauguin, so Eisenman »a ›heavy responsibility‹ for the increasingly widespread pattern of indigenous resistance to colonial rule.« Zwischen 1899 und 1901 zeichnete sich Gauguin außerdem verantwortlich für das antikoloniale Skandalblatt Les Guêpes.

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keine Kategorie passt, lässt Segalen »dans son dernier décor«7 erscheinen. Die Südsee – Gauguins Südsee – ist als künstliche Theaterkulisse gestaltet, auf der sowohl dem Meister der exotischen Kunst8 wie seinen in seiner Kunst idealisierten TahitianerInnen und MarquesanerInnen eine klar umrissene Rolle zukommt. Segalen schreibt: »Ce décor, il fut somptueux et funéraire, ainsi qu’il convenait à une telle agonie; il fut splendide et triste, paradoxal un peu, et entoura de tonalités justes le dernier acte lointain d’une vie vagabonde qui s’en commente. Mais par reflets, la personnalité forte de Gauguin illumine à son tour le cadre choisi, le séjour ultimement élu, le remplit, l’anime, le déborde; si bien qu’on peut comprendre dans une même vision d’œuvre scientifique: lui, premier rôle; ses comparses indigènes; le milieu décoratif [Herv. LF].« (Segalen 1995: 287)9

Ein einziges Bild vermöge, so Segalen, den letzten Akt des Lebens von Gauguin zu versinnbildlichen und könne als »Vision« 10 seines gesamten Lebens und Schaffens erhellend wirken. Diese Konstellation zwischen dem Künstler und den Indigenen und vor allem dieses Bild, diese »Vision«, die Segalen aus dieser Konstellation heraus für den ganzen Text entwirft, ist Gegenstand dieses Beitrags. Was bedeutet die Hierarchie Hauptrolle – Komparsen für die interkulturel-

 7

Der Titel wurde mit »in seiner letzten Umgebung« etwas unglücklich ins Deutsche übertragen. »Umgebung« vermag die Theateranlage des Texts im Gegensatz zu »décor« nicht zu transportieren.

8

Vgl. bspw. Childs (2008: 2). Childs beschreibt Gauguin als »master of displacement and exotic longings«.

9

»Diese Umgebung war üppig und begräbnishaft, wie es zu einem solchen Sterben gehört; sie war glanzvoll und traurig zugleich, ein wenig widersprüchlich, und sie umgab diesen letzten Akt mit der angemessenen Stimmung, weit entfernt von einem unsteten Leben, auf das nun dieser letzte Akt sein erhellendes Licht wirft. Umgekehrt beleuchtet auch die starke Persönlichkeit Gauguins den gewählten Rahmen, den zuletzt erwählten Ort, und füllt ihn, belebt ihn, überströmt ihn; so, dass sich in einem einzigen Bild zusammenfassen lässt: er in der Hauptrolle; die Eingeborenen als seine Komparsen; das dekorative Milieu [Herv. LF].« (Segalen 2001: 37)

10 Auch hier ist die deutsche Übersetzung (»in einem einzigen Bild«) wenig nuancenreich. Im Original verleiht Segalen mit »vision d’œuvre scientifique« seiner Überzeugung über die Stichhaltigkeit seiner »Vision« außerdem viel mehr Nachdruck.

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len und zwischengeschlechtlichen Beziehungen?11 Bildet die Segalen’sche Vision ein starres, koloniales Verhältnis ab, in dem sich der Künstler und seine ›Objekte‹ bewegen? Welche Perspektive nimmt der Autor gegenüber den Indigenen ein, bzw. welchen Spielraum gewährt er in der Vision über Gauguin den Indigenen? Welchen zeichnet er für die exotische Frau, die im Zentrum der tahitianischen Werke des Künstlers steht? Inwiefern vermag der Theaterrahmen und die Darstellung des Künstlers als Monster das koloniale Setting und die hierarchische koloniale Konstellation zu verschieben? Segalen, so die These dieses Beitrags, gelingt es in Gauguin dans son dernier décor, eine hochreflexive Bühne zu erstellen, in der Exotismus, Kunst und Geschlechtlichkeit jenseits einer für die Südsee starren kolonialen Matrix verhandelt werden. Auf subtile Weise lässt er das Zusammenspiel ästhetischer und kolonialer Diskurse zu Beginn des 20. Jh. erfahren. Seine Darstellung des Künstlers, so die Argumentation, lebt von der Diskussion interkultureller Fragen und ist eine Stellungnahme zum Konzept des ›Going Native‹ des sogenannten ›Primitivismus‹. Mit der Figur Gauguins arbeitet er eine Position des Dazwischen aus: Er zeigt auf, wie eine ›echte‹ Annäherung an das Fremde – ein ›Going Native‹, das die Einnahme der Perspektive des/der Anderen bedeutet – immer misslingt, weil das Fremde sich dem Blick von Außen zu entziehen weiß und eine Begegnung außerhalb des kolonialen Rahmens nicht realisiert werden kann. Gleichzeitig aber deutet er mit Gauguin die Existenz eines Schlupflochs des Dazwischen an, von dem aus es gelingen kann, das Andere zu fassen, bzw. die eigene Stimme des/der Anderen zu vernehmen. Gauguin erfüllt Segalens Konzept des »Exoten«12 und bedarf moralischer, intellektueller und sozialer Sonderkategorien: Seine Sonderposition des Dazwischen ist eine Ästhetische. Der Beitrag zeigt auf, wie Segalen die Fragen nach dem Diesseits der imperialen Geschlechterordnung im Feld der Ästhetik verhandelt. Zur Diskussion steht die interkulturelle Figur des Künstlers in Segalens Exotismus-Konzeption und die Reichweite seiner Ästhetik in geschlechterpolitischen Fragen.

 11 Mit zwischengeschlechtlich ist hier die binäre Geschlechterbeziehung zwischen Mann und Frau gemeint. Mit dem uneindeutigen Begriff ist aber bewusst der Raum offen gelassen für eine Reflexion von Geschlechterbeziehungen, die über diese Binarität hinaus greift. Segalens multiperspektivische Reflexion der Interkulturalität, so wird im Beitrag argumentiert, färbt auf die Reflexion der Geschlechterbeziehungen ab. 12 Segalen 1978: 35; 37; 42; 46; 51f; 56ff; Segalen 1994: 39; 43; 49; 55; 61f; 70f.

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Im Zentrum der Analyse stehen zwei Texte von Segalen: Der literarische Text Gauguin dans son dernier décor (1904; im Folgenden Dernier décor) und seine Fragment gebliebene Exotismus-Theorie, der Essai sur l’Exotisme (1904/1918). Der literarische Text Dernier décor, der bisher in der Forschung wenig Beachtung fand, ist das konkrete Untersuchungsobjekt. Die Fragen nach Interkulturalität und Geschlecht im Universum des ›Primitivisten‹ Gauguin und seines Verehrers und Kritikers Segalen werden am literarischen Text geprüft. Der Text wird dafür als die poetische Entsprechung – die »Vision« Segalens – für seine spätere theoretische Arbeit zum Exotismus eingeführt. Um diese theoretische und poetische Ebene des Segalen’schen Konzepts von Exotismus und Interkulturalität im zweiten und dritten Teil meiner Ausführungen in ihrer kritischen Reichweite zu fassen, werde ich mich in einem ersten Teil mit allgemeinen Fragen zum Phänomen des ›Primitivismus‹ Anfang des 20. Jh. auseinandersetzen. In Bezug auf Gauguin skizziere ich das primitivistische Projekt des ›Going Native‹ und die Rolle der Frau in der exotischen Welt der KünstlerInnen. Diese Einführung in den Primitivismus und in Gauguins Welt ist aus der Perspektive der feministischen und (post-)kolonialen Kritik, die seit den 70er Jahren für Gauguin formuliert wurde, aufgegleist. Ein solches Vorgehen erlaubt mir drei Dinge auf einmal: Erstens die koloniale Verstrickung der KünstlerInnen in Bezug auf die Geschlechterfrage kritisch zu beleuchten, zweitens Gauguin als äußerst schwieriges, ambivalentes ›Forschungsobjekt‹ zu zeigen und drittens ist es über diese Skizzierung einer Geschichte der Kritik an Gauguin möglich, Segalens ästhetische Perspektive, die über eine koloniale Kritik und eine Kritik am ›Going Native‹ hinausgeht, klarer nachzuzeichnen.13

1. D ER P RIMITIVISMUS ALS »G AUGUIN -T RAUM « 14 DES ›G OING N ATIVE ‹ AUF K OSTEN DER INDIGENEN F RAU Gauguin ist die Vaterfigur der nach der Jahrhundertwende in der bildenden Kunst sich ausbildenden Bewegung des ›Primitivismus‹, unter der die Kunstgeschichte eine breite Palette an KünstlerInnen und Untergruppen zusammen-

 13 Zur Publikations- und Rezeptionsgeschichte vgl. Manceron, in: Segalen (1978: 8f, 17f); Bouillier (1986: 10f). Zur Frage der Postkolonialität Segalens vgl. bspw. Yee (2008: 83ff). 14 Dietrich 2004: 205.

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fasst.15 Die künstlerische Auseinandersetzung des Primitivismus mit außereuropäischen Kunst und Kunstbegriffen führt nicht nur zur Adaption fremder Formen, sondern manifestiert sich auch in einer neuen Dimension des künstlerischen Selbstverständnisses. Hierbei ist Gauguins ›Going Native‹ unter den ›Wilden‹ der Südsee ein einflussreiches, radikales Vorbild. Seine Kunst, die ein neues Sehen einleitet, bedeutet die Verabschiedung der europäischen Tradition und erprobt die ›totale‹ Aneignung und Verkörperung einer Kunst der ›ursprünglichen‹16 Formen. Um diese Aneignung zu beschreiben, die über das konkrete Kunstschaffen hinausgeht, kann die Kunstgeschichte auf den Begriff ›Going Native‹ zurückgreifen. 17 Das Projekt des ›Going Native‹ des europäischen Künstlers18 bedeutet in seiner Extremform eine radikale Abwendung von der europäischen Gesellschaft und den Versuch, auch jenseits der Kunst sich einem einfachen Leben zu verschreiben, ein ›ursprüngliches‹ Leben zu führen nach Vorbild der sogenannt ›primitiven‹ Kulturen. Gauguins Künstlergemeinschaft im bretonischen Pont Aven, sein mit van Gogh für kurze Zeit gelebtes »Atelier des Südens« und darauf sein »Atelier tropique« auf Tahiti sind sozialutopische Visionen: der Künstler soll (wieder) in ein soziales Kollektiv zurück eingebunden und als Schöpfer einer wirkungsmächtigen Kunst verstanden werden, die aus einer gemeinsamen Vorstellungswelt entsteht und die Gesellschaft nachhaltig prägt. Die sozialutopische Vision bedeutet aber im seltensten Fall die Propagierung interkultureller und zwischengeschlechtlicher Egalität und eine ernsthafte ›Entindividualisierung‹ des Künstlers. Der ›primitivistische‹ Künstler agiert innerhalb der kolonialen Matrix. Er formuliert seine Kolonialkritik und sein Kunstverständnis des radikalen Bruchs innerhalb des kolonialen Gefüges und mithilfe eines idealisierenden Blicks auf das nicht-europäische Gegenüber. Die exotische Frau ist die Verkörperung seiner Träume. Sie führt den Europäer in das ›ursprüngliche‹ Leben ein und repräsentiert eine naturverbundene ›Urkraft‹.

 15 Die frz. Künstler der »Fauves«, der Kubismus Picassos u. Co., die deutschen Vereinigungen der »Brücke« und des »Blauen Reiters« u.a. werden unter dem Begriff gefasst. Vgl. Goldwater (1986) od. Dagen (2010). Segalens Schriften können aus theoretisch konzeptueller Sicht einer kritischen Fraktion des »literarischen Primitivismus« zugeordnet werden. 16 Zur »Sucht nach dem Ur-Sprünglichen« im Primitivismus, vgl. Schultz (1995: 198f). 17 Vgl. Solomon-Godeau (1989: 314f; 323ff). 18 Im Folgenden ist bewusst nur vom männlichen Künstler die Rede. Diese Handhabung wird dem verschwindend geringen Anteil an Frauen im Primitivismus gerecht und ist dem im Folgenden beschriebenen künstlerischen primitivistischen Geschlechterverhältnis in Rechnung gestellt.

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Mit den indigenen Kunstwerken wird sie insofern in Verbindung gesetzt, als dass diese ›Urkraft‹ der Frau in der europäischen Vorstellung mit den Kräften der indigenen Fetische und Kunstwerke in Bezug gesetzt werden. Das ideale Bild der exotischen Frau, bzw. das der Südsee als Paradies der freien Liebe, ist zu Beginn des 20. Jh. intakt, und lockt immer noch, wie die Jahrhunderte zuvor, vor allem durch seinen ›schauerromantischen‹ Reiz. Im Diskurs über Tahiti wirken auch im 20. Jh. die Theorien um Hypersexualität und Kannibalismus nach, die den MissionarInnen, WissenschaftlerInnen und der Kolonialverwaltung im 18. und 19. Jh. für die Typologisierung der Bevölkerung der Archipele die mächtigsten Bilder lieferten (vgl. Eisenman 1997: 104). Der primitivistische Künstler, so führt die feministische Kunstgeschichte ab den 70er Jahren aus, bewegt sich in einer althergebrachten exotischen Imaginationswelt, die von der Verführung ins gegensätzlich Dunkle und von der Frau als Vermittlerin, resp. als Verkörperung dieses Dunklen lebt: »The far pole of the tropical journey is indeed the heart of darkness [...]. At her best she [the dark lady] is a natural woman, sensuous, dignified and fruitful. At worst she is a witch, representing loss of self, loss of consciousness, loss of meaning« (McNelly 1975: 9f). Der zivilisationsflüchtige Künstler, der sich auf die Seite der Indigenen schlägt, spielt lediglich, so kann man sagen, absichtlich mit dem Feuer und wendet die dunkle Seite des Mythos der Tropen bzw. der tropischen Frau verstärkt ins Positive.19 In einer für die feministische Kunstgeschichte einflussreichen Studie hat Griselda Pollock diese maskuline exotisch-erotische Imaginationswelt für den Fall Gauguin herausgearbeitet. Sie beschreibt dessen Kunst als eine Kunst des weißen, kolonialen Blicks, die auf der Animalisierung der exotischen Frau basiert. Gauguins Ästhetik, so Pollock, ist aus der kolonialen Projektion von Differenz erwachsen und funktioniert letztlich nur innerhalb dieser kolonialen ästhetischen Matrix. »A colonial perception and projection of difference becomes the form of an aesthetic difference deployed against the European culture within which alone Gauguin could be ›Gauguin‹ – an artistic author, an aesthetic commodity.« (Pollock 1992: 23) An Gauguins berühmtem Werk Manao Tupapau von 1892 führt Pollock vor, dass das Gauguin’sche Bild der exotischen Frau aus einer

 19 Vgl. bspw. Eisenman (1997: 164). In der offiziellen kolonialen Welt ist das verführerische Dunkle klar negativ besetzt. Die Verführungen der Südsee sind bspw. gemäß einer kolonialen Quelle, die Eisenman zitiert, folgendermaßen beschrieben: »laziness, drunkenness, gambling and excessively spending themselves with women». Das ›Going Native‹ im Nacheifern dieser ›wilden‹ Untugenden wird als Degenerierung und Barbarisierung des Zivilisierten beschrieben.

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Situation des inner-avantgardistischen Wettbewerbs verstanden werden muss, den sie als Höhepunkt der Verschränkung des kolonialen und sexuellen Diskurses begreift. Manao Tupapau beschreibt Pollock als Gauguins erfolgreichen Versuch, Manets Olympia zu übertrumpfen, als Schachzug einer avantgardistischen Inszenierungsschlacht. Tatsächlich, so merkt Pollock an, hätten Gauguins Zeitgenossen vom Bild als der tahitianischen oder braunen Olympia gesprochen (vgl. Pollock 1992: 16ff).20 Mit der Strategie der kunsthistorischen Referenznahme, so argumentiert sie, operiert Gauguin im Gegensatz zu Manet nicht sozialkritisch, sondern macht seine tahitianische Geliebte Teha’amana zur Prostituierten und fetischisiert ihren Körper: »The painting [Manao Tupapao] references the modernity of Olympia only to erase it with a racist fiction about the fascinating and desirable difference of a pre-modern world of simple, superstitious Tahitian women afraid of the spirits of the dead« (Pollock 1992: 40f). Schlussendlich bricht Pollock ihre Sicht auf das künstlerische ›Going Native‹ der Primitivisten auf folgende Gleichung herunter: »›Going Native‹ or The Politics of Prostitutionalization« (Pollock 1992: 35). Gauguin hat in seinem Buch über Tahiti (Noa Noa, 1893/5, publiziert 1901) und in seinen für seine Tochter Aline geschriebenen Erinnerungen (Cahier pour Aline, 1892/3) Manao Tupapao selber große Bedeutung zugemessen. In diesen Aufzeichnungen hat er die Hintergründe der Entstehung des Bildes festgehalten und es zum kunsttheoretischen Manifest seines ersten Aufenthalts auf Tahiti gemacht.21 Die Texte sind eine reichhaltige Quelle für unterschiedlichste Interpretationen seines Werks. Gauguin beschreibt, wie er nach einem Aufenthalt in der tahitianischen Hauptstadt Papeete in einer dunklen Nacht in die Hütte zurückkehrt, die er mit seiner 13-jährigen Vahine22 Teha’amana bewohnt, und wie er diese beim Eintritt in die Hütte zu Tode erschreckt. Das Mädchen habe geglaubt, von den Totengöttern gerufen worden zu sein. Nie wäre sie schöner

 20 s.a. Pollock 1992: 20f; Schmidt-Linsenhoff 2010: 103. 21 Noa Noa 1940: 60ff (Ms Louvre) / Noa Noa 1992: 56f (Ms 1893) / Cahier pour Aline 1963: 16-19 (Mss 227). Auch in Briefen schildert Gauguin diese Nacht, bzw. beschreibt die Entstehung des Gemäldes. Vgl. Gamboni (2003: 9). Zur Genese von Gauguins schriftlichem Œuvre vgl. Goddard (2008). 22 Vahine: Frau, Geliebte. vgl. Noa Noa (1992: 49f). Dort wird die sehr spontane ›Vermählung‹ der 13-jährigen mit dem damals 43-jährigen Künstler beschrieben. Der Vater Teha’amanas bietet Gauguin seine Tochter an, sie erscheint und erklärt sich bereit, mit Gauguin wegzugehen. Interessanterweise ist von einer Vertragsaufsetzung die Rede.

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gewesen als in ihrer Angst vor den Göttern der Toten. Für die feministische Kunstkritik ist klar: Diese Aussage ist der absolute Höhepunkt des gewaltsamen kolonialen Begehrens der exotischen Frau: Manao Tupapao ist das Bild der nackten, ängstlichen und wehrlosen, in ihrer Angst vor den Göttern der Toten radikal fremden Frau.23 Der Missbrauch der exotischen Frau als Statistin für die moderne Kunst scheint evident, der Primitivist entlarvt sich selbst: sein ›Going Native‹ wird als gewaltsamer Akt, als plakative Aneignung fassbar, jenseits einer ernsthaften Auseinandersetzung mit und Annäherung an das Fremde. Bis heute wurde diese feministische Kritik der 70er bis 90er Jahren, die neben Pollock bspw. Linda Nochlin und Abigail Solomon-Godeau für den Fall Gauguin geführt haben, mehrfach revidiert bzw. relativiert. Das Bild Gauguins als »pädophiler Sextourist und misogyner Diener kolonialer Ideologien« ist einem nuancenreicheren Bild gewichen (Schmidt-Linsenhoff 2010: 88). Bspw. hat Stephen Eisenman in Gauguin’s Skirt (1997) die Selbstinszenierung Gauguins als androgynen tahitianischen »Mahu« herausgearbeitet. Er sieht das ›Going Native‹ von Gauguin unter dem Stern der Annäherung an dieses dritte Geschlecht der TahitianerInnen und beschreibt seinen Kampf gegen das koloniale Frankreich, der sich vor allem in den letzten Lebensjahren intensiviert, parallel zu einer kontinuierliche Androgynisierung (vgl. Eisenman 1997: 113-119). In seinen tahitianischen Bildern hätte Gauguin, so Eisenman, ein kritisches Gegenbild zur europäischen Geschlechterpolarität geschaffen. Er sei vor allem aufgrund seines Äußern (lange Haare, Kleidung) von den TahitianerInnen als androgyn wahrgenommen worden, man hätte ihn »Taata vahine«/»Mann Frau« gerufen. Kraft dieser Androgynität hätte er exzeptionellen Zugang zum Geschlecht der Mahu und zur weiblichen Sphäre gefunden (vgl. Eisenman 1997: 108). »Gauguin’s very sexual indeterminacy or inadequacy may thus have permitted him a form of cultural intercourse – and therefore also a chance for rich and compelling artistic engagement – that few male colonials were ever granted« (Eisenman 1997: 112). Für seine These bemüht Eisenman eine andere berühmte Szene aus Gauguins Noa Noa, die von einer Reise ins tahitianische Hinterland unter der Führung eines androgynen Jünglings handelt und die Gauguin als Zäsur in seiner ›Erweckung‹ zum ›Wilden‹ inszeniert (Noa Noa 1992: 36-41). Die Überlegungen zu den tahitianischen Geschlechterverhältnissen, die auf diese Erweckungs-Szene folgen, liest Eisenman als »feminist tract« (Eisenman 1997: 115): »1. Le côté

 23 Eisenman (1997: 119ff) konstatiert zur Relativierung dieses Sachverhalts, dass Gauguins Aussage, er hätte seine Geliebte nie schöner gesehen, eine Paraphrase aus Honoré de Balzacs Roman Séraphîta (1834) ist, in dem Androgynität verhandelt wird. Gauguin war Balzacs Text bekannt, er erwähnt ihn auch in Cahier pour Aline.

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androgyne du sauvage, le peu de différence de sexe chez les animaux / 2. La pureté qu’entraîne la vue du nu et les mœurs faciles entre les deux sexes / L’inconnue vice chez des sauvages / Désir d’être un instant faible, femme.« (Noa Noa 1992: 38)24 Diese aus dem Zusammenhang gerissenen und mit wenig Angaben zu den Eisenman’schen Überlegungen unterfütterten Zeilen führen jedoch vor allem Gauguins Ambivalenz in Geschlechterfragen vor Augen. Die These, dass sie ein feministisches Plädoyer vorstellen, scheint übertrieben. Gauguins Faszination für das Androgyne und eine anders gelebte Geschlechtlichkeit stehen sein exotisches und koloniales Vokabular entgegen, mit dem er die Frau als schwach und die Indigenen als Tiere beschreibt. Auch Eisenman gesteht mit dem Blick auf die schriftlichen Äußerungen von Gauguin: »Gauguin’s writings on the subject of women [thus] comprise an odd and contradictory record of feminism and masculinism« (Eisenman 1997: 179f). Er merkt an, dass die polynesischen Bilder Gauguins meistens eine geschlechtliche und sexuelle Ebene hätten, und dass das Einzige sichere sei, dass sie sich darin nicht erschöpften. Schließlich versucht er Gauguins Kunstwerke zwischen ethnographischer Erfindung und Repräsentation zu verorten. In ihrer Mischung aus Beobachtung, Erinnerung und Imagination erkennt Eisenman das Potential einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Fremden. Er diskutiert an, wie Gauguin die Frage nach den Geschlechtern auf eine abstrakte Ebene hebt, sozusagen auf die Ebene der »Ästhetik der Differenz« ohne Segalen zu erwähnen (Eisenman 1997: 179f). Einer der wichtigsten zeitgenössischen Beiträge zu Gauguin, die diese Fährte einer ›interkulturellen Ästhetik‹ aufnehmen, scheint mir Viktoria SchmidtLinsenhoffs Aufsatz über Gauguin und Segalen zu sein, der im Rahmen ihrer in Hommage an Victor Segalen Ästhetik der Differenz genannten Textsammlung entstanden ist. Schmidt-Linsenhoff diskutiert die Widersprüche in Gauguins Haltung und die extremen Positionen, die der Mythos Gauguin produzierte, möglich machte und immer noch möglich macht. In Bezugnahme auf Gauguins vielgestaltige und von der Kunstgeschichte oft vernachlässigte Textarbeit und speziell aus der Auseinandersetzung mit seinen Kommentaren zu eben jenem

 24 »1. Die androgyne Seite des Wilden, der kleine Unterschied zwischen den Geschlechtern bei den Tieren / 2. Die Reinheit, die vom Anblick der Nacktheit ausgeht und die leichten Sitten zwischen den beiden Geschlechtern / Die Unbekanntheit des Lasters bei den Wilden / Der Wunsch für einen Augenblick schwach, Frau zu sein.« (Noa Noa 1992: 38)

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berühmten Manao Tupapao arbeitet sie Gauguins »künstlerische Selbstreflexion des männlichen, kolonisierenden Blicks« (Schmidt-Linsenhoff 2010: 105f) heraus: »Es ist zwar möglich, in ›Manao Tupapao‹ mit der feministisch-postkolonialen Ideologiekritik nur die sexuelle Verfügbarkeit eines abergläubischen Naturkindes dargestellt zu sehen oder im Sinne einer populistisch-ideologiefreien Rezeption nur die Leistung eines Malers zu bewundern, der das erschöpfte Genre des weißen, weiblichen Aktes zu revitalisieren wusste. Dass nur wenige Interpretationen die künstlerische Selbstreflexion des männlichen, kolonisierenden Blicks wahrhaben wollen, lenkt die Verantwortung des Publikums für die Bedeutungsproduktion.« (Schmidt-Linsenhoff 2010: 108)

Schmidt-Linsenhoff nimmt Gauguins Äußerungen aus Noa Noa und Cahier pour Aline ernst, die weg vom Sexuellen auf die Angst der Geliebten fokussieren und unterstreicht, dass Manao Tupapao nicht ohne den europäischen männlichen Blick funktioniert (wie Manets Olympia), und dass dieser für den Bildaufbau und das Bildverständnis wichtiger ist als der indigene Totengeist im Hintergrund, vor dem sich Teha’amana eigentlich fürchten sollte. Gauguin, so ihre These, hätte die Angst der Indigenen vor dem europäischen Blick in Szene gesetzt und die »mariage coloniale« als Gewaltverhältnis dargestellt. Um dieses interkulturelle Reflexionspotential von Manao Tupapao zu unterstreichen, kann bspw. aus dem Louvre-Manuskript von Noa Noa auch folgende Stelle zitiert werden: »Savais-je ce qu’à ce moment j’étais pour elle? Si elle ne me prenait pas, avec son visage inquiet, pour quelqu’un des démons ou des spectres, des tupapau dont les légendes de sa race emplissent les nuits sans sommeil? Savais-je même qui elle était en vérité? L’intensité du sentiment qui la possédait, sous l’empire physique et moral de ses superstitions, faisait d’elle un être si étranger à moi, si différent de tout ce que j’avais pu entrevoir jusque-là.« (Noa Noa 1924: 93)25

 25 »Wusste ich denn, was ich in diesem Augenblick für sie war? Ob sie mich mit meinen beunruhigten Gesicht nicht für einen jener Dämonen oder Geister hielt, jener Tupapaus, mit denen die Legenden ihrer Rasse die schlaflosen Nächte anfüllen? Wusste ich auch nur, wer sie in Wirklichkeit war? Die Intensität des Gefühls, von dem sie unter der physischen und moralischen Gewalt ihres Aberglaubens besessen war, machte sie zu einem fremden Wesen für mich, so verschieden von allem, was ich bisher gekannt« (Noa Noa 1940: 61). Vgl. Gamboni (2003: 8).

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Gauguin zeigt sich in diesen Zeilen tatsächlich selbstreflexiv und stellt ein ›Going Native‹ in Frage. Segalen, so argumentiere ich im Folgenden, hat diese Fähigkeit zur Selbstreflexion in Gauguins Werk gesehen. Und vor allem scheint er gesehen zu haben, dass Gauguins ästhetische Selbstreflexion aus der interkulturellen Situation und spezifisch aus der Begegnung mit der fremden Frau ihre Konturen gewann. Er führt die Kritik am ›Going Native‹, ähnlich wie dies Schmidt-Linsenhoff und Eisenman tun, auf eine ästhetische Ebene. Ihren nuancierten Blick auf Gauguin hat sich Schmidt-Linsenhoff erarbeitet, indem sie den Künstler mit Segalen zusammenbrachte. In den nachfolgenden Teilen meines Beitrags geht es darum, dieses Zusammendenken bewusst zuzuspitzen. Ich konzentriere mich auf Segalens Perspektive und nehme mich, von seiner Exotismustheorie ausgehend, seiner literarischen Figuration von Gauguin an. Im Literarischen lässt sich der »Kunstort»26 der Segalen’schen Ästhetik und Exotismuskritik bestens fassen.

2. E SSAI

SUR L ’E XOTISME – DAS INTERKULTURELLE U NVERSTÄNDNIS UND DIE Ä STHETIK DER I NTERKULTURALITÄT

»Ce qu’ils donnèrent d’eux-mêmes à Gauguin, ces êtres-enfants? Des formes splendides, qu’il ›osa déformer‹; des motifs, aussi, à faire sonner à travers les vibrations bleueshumides de l’atmosphère, de chaudes notes ambrées, les chairs onctueuses aux reflets miroitants sur lesquelles pulvérulent, au grand soleil, des parcelles dorées; des attitudes [Herv. i.O.], enfin, dans lesquelles il schématisa la physiologie maori, qui contient peutêtre toute leur philosophie. Il ne chercha point, derrière la belle enveloppe, d’improbables états d’âme canaque: peignant les indigènes, il sut être animalier [Herv. LF].« (Segalen 1995: 290f)27

 26 Schmidt-Linsenhoff 2010: 91. Schmidt-Linsenhoff bezeichnet das Tahiti von Gauguin und Segalen als »Kunstort der Avantgarde«. Sie skizziert mit diesem Begriff eine künstliche/künstlerische Interkulturalität, baut den Begriff aber in ihrem Aufsatz nicht weiter aus. Im dritten Teil meiner Ausführungen arbeite ich mit ihrem Begriff weiter. 27 »Was sie Gauguin von sich selber gaben, diese Kindwesen? Prächtige Formen, die er ›umzuformen‹ wagte; auch Motive, durch die feucht-blauen Schwingungen der Atmosphäre warme Bernsteintöne ziehen zu lassen, die öligen Leiber mit funkelnden Lichtreflexen, auf denen in der prallen Sonne goldene Teilchen zerbröseln; schließlich Haltungen [Herv. i.O.], nach denen er die Maori-Physiognomie schematisierte, die vielleicht ihre gesamte Philosophie enthält. Hinter der schönen Hülle suchte er keine un-

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So beschreibt Segalen in Dernier décor die Beziehung Gauguins zu den Indigenen. Er zerteilt ihre Gaben an Gauguin und will damit die verschiedenen Einflüsse des Exotischen und Fremden auf die Kunst Gauguins fassen. Es ist ein seltsames Aufrechnen (Formen, Motive, Haltungen), das dem Prozess der Abstraktion verpflichtet scheint, welcher aus der Begegnung von Gauguin und der Südsee resultiert. In diesem Zitat ist in nuce sichtbar, dass Segalens Darstellung des/der exotischen Fremden von einer ähnlichen Widersprüchlichkeit wie bei Gauguin geprägt ist. Das Gegenüber ist fortschrittlich »indigen«, wird aber auch mit dem klassisch kolonialen Wortschatz der Animalisierung gefasst. Die TahitianerInnen sind Tiere, »Kanaken« und »Kindwesen«. Und dies ist sein allgemeines Vokabular – Segalen benutzt auch gerne die zoologischen Begriffe »femelle«/»mâle«, was in etwa dem deutschen »Weibchen«/»Männchen« entspricht. Animalität ist aus Sicht Segalens »integraler Bestandteil« der Schönheit der Polynesierin (vgl. Cachot 1999: 26). Segalen schreibt in Hommage à Gauguin28: »[...] les divers dons animaux se sont incarnés en elle [la Maorie] avec grâce« (Segalen 1995: 359). Es lohnt sich, dieses Zitat weiter zu verfolgen. Anhand dieses Auszugs aus Hommage à Gauguin, in dem sich Segalen an einer Physiognomie der Maori-Frau versucht, ohne einen Bezug zu Gauguin und seinen Bildern herzustellen, kann gezeigt werden, wie Segalen allgemeine Aussagen macht, bzw. denselben Blickwinkel einnimmt, den er auch für Gauguin zeichnet. Es ist die ästhetische »Vision« der Frau, die Segalen von Gauguin adaptiert und die Eingang in die »Vision« aus Dernier décor genommen hat.29 »Ses membres ne sont pas faites des segments que balancent autour de nous les corps de nos âmes dites sœurs. De l’épaule au bout des doigts, la Maorie dessine, mouvante ou courbée, une ligne continue. Le volume du bras est très élégamment fuselé. La hanche est discrète et naturellement androgyne. Les hanches ne s’affichent point comme une raison sociale de reproduction, la raison d’être de la femme.« (Segalen 1995: 359)30

 wahrscheinlichen Zustände der Kanakenseele: beim Malen der Eingeborenen war er imstande, Tiermaler zu sein. [Herv. LF]« (Segalen 2001: 44) 28 Einleitung Segalens zur Edition des Briefwechsels zwischen Paul Gauguin und Georges-Daniel de Monfreid, 1916 geschrieben, 1919 kurz nach Segalens Tod publiziert. 29 Vgl. Cachot (1999: 17): »V. Segalen a rejoint la vision esthétique de la femme adoptée par le peintre.« / »V. Segalen übernimmt die vom Maler eingenommene ästhetische Vision der Frau.« (Übersetzung Felix Bühlmann) 30 »Und anmutig vereinigen sich in ihr die verschiedenen animalischen Gaben. Ihre Glieder sind nicht aus Segmenten gemacht, die die Körper unserer Seelen, die man Schwester nennt, um uns kreisen lassen. Von der Schulter bis zu den Fingerspitzen

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Der ästhetisierende, abstrahierende Blick ist derselbe wie in Dernier décor. Es ist in diesem Zitat ersichtlich, wie die Ästhetisierung und demonstrativ positive Setzung explizit jenseits des Sexuellen vorgenommen wird (»raison sociale de reproduction, la raison d’être de femme«). Es hat den Anschein, dass der sexuelle Diskurs mit dem Nebensatz, der bewusst steif formuliert erscheint und mit Wiederholungen spielt, ironisiert wird. Die Idealisierung der polynesischen Schönheit ist insofern im sexuellen Bereich gebrochen. Der »Tiermaler«/»animalier« aus Dernier décor ist wohl oder übel aber auch hier aktiv. Es ist eine ideale, losgelöste Ästhetik, für die Segalen in Dernier décor unterstreicht, dass sie keine »unwahrscheinlichen Zustände der Kanakenseele« hervorbringe. Mit dieser Äußerung definiert er die Ästhetik des Tiermalers dezidiert kolonialkritisch. Es ist dies ein Verweis auf und eine Kritik an der entwicklungsgeschichtlichen, eurozentrischen Anthropologie des 19. Jh., die auch im 20. Jh. das populäre Denken weiter beherrscht. Diese Einführung des ›Konzepts‹ des »Tiermalers« ist geschickt arrangiert: Segalen strapaziert das koloniale Weltbild, das auf der Animalisierung der Indigenen beruht. Er lässt sozusagen das koloniale Bild bestehen, koppelt es aber in einen ›neutralen‹ Bereich ab. Er hebt das Monster Gauguin auf eine Ebene jenseits moralischen, intellektuellen und sozialen Kategorien (s. Zitat weiter oben) – und verhandelt ihn und seine Kunst auf der Ebene der Ästhetik und Kolonialkritik, die er später in seiner Kritik am Exotismus in Essai sur l’Exotisme erprobt. Gauguin fungiert schon in Dernier décor als Botschafter des Segalen’schen »Exotismus zweiten Grades«31.32

 zeichnet die Maorifrau, in Bewegung oder gebeugt, eine fortlaufende Linie. Die Form des Armes ist sehr elegant zur Spindel gedrechselt. Die Hüfte ist zart angedeutet und von Natur aus zwitterhaft. Die Hüften sind nicht das Aushängeschild der Bestimmung zur Fortpflanzung, der Daseinsberechtigung der Frau.« (Segalen 1920: XVIII) 31 »un exotisme au deuxième degré«, vgl. Schmidt-Linsenhoff (2010: 95). 32 Zu Gauguin als Schlüsselfigur der Exotismus-Theorie Segalens vgl. Bouillier, in: Segalen (1995: VIII); Zinfert (2003: 64ff). In dem Zusammenhang ist der vielzitierte Satz Segalens über Gauguins Einfluss auf seinen Blick auf das/die exotische[n] Fremde[n] relevant: »Je puis dire n’avoir rien vu [Herv. i.O.] du pays et de ses Maoris avant d’avoir parcouru et presque vécu les croquis de Gauguin«, so Segalen im Brief an Georges-Daniel de Monfreid vom 29. Nov. 1903, vgl. Segalen (1978: 19f) / »Ich kann sagen nichts vom Land und seinen Maoris gesehen zu haben bevor ich Gauguins Skizzen durchreist und geradezu erlebt habe.« (Übersetzung Felix Bühlmann)

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Die beiden Texte Dernier décor und Hommage à Gauguin33 sind hymnische Verklärungen Gauguins. Dies muss unbedingt berücksichtigt werden. Segalen beschreibt Gauguin als Genie und Meister, der durch seine Schöpfungskraft ein ganzes Volk, eine ganze Rasse [sic!] aufwiegen würde.34 In seinem theoretischen Fragment operiert Segalen nicht in dieser Sphäre – die Notate sind größtenteils nüchtern.35 Aber gerade das Hymnische in den Texten zu Gauguin soll hier als theoretische Notwendigkeit begriffen werden. Segalen schreibt in Hommage à Gauguin, dass sich Gauguin aus purem, genialem Instinkt dem Exotischen zugewandt, und dass sich erst in der Auseinandersetzung mit dem Fremden seine Meisterschaft gezeigt hätte (vgl. Segalen 1995: 356/Segalen 1920: XIII). Dies scheint mir eminent wichtig. Segalen zeigt mit Gauguin einen neuen Exotismus: den »Exoten«36, dessen ästhetisches Können aus der Reflexion der interkulturellen Begegnung resultiert.

 33 Weitere Texte Segalens über Gauguin: La Marche du feu, 1908 geschrieben, nie erschienen; Maître-du-Jouir, Fragment, publiziert in Œuvres, 1995. 34 Segalen 1995: 294. »[...] il contenait en lui-même une sorte de génie d’espèce, impérieux, orgueilleux et gauche, fécond et tumultueux, comme il s’en lève parfois aux temps des origines chez les peuples en formation. Lui le tenait dans son seul individu. Par sa puissance de créer, il équivalait une race entière [Herv. LF].« / »Er hat in sich selber eine Art Gattungsgenie, herrisch, hochmütig und linkisch, fruchtbar und stürmisch, wie es sich zuweilen in den Ursprungszeiten der im Entstehen begriffenen Völker erhebt. Er trug es in sich selber. Durch seine Schöpfungskraft kam seine Bedeutung der einer ganzen Rasse [Herv. LF] gleich.« (Übersetzung Felix Bühlmann) Diese Aussage ist eine seltsame Mischung aus Ernst und Parodie nationalistischer hierarchischer Konzepte. 35 Segalen erwähnt Gauguin übrigens nur zweimal in seinen Notaten, beide Nennungen sind kursorisch und nicht ausgearbeitet. vgl. Segalen (1994: 31; 72). 36 Vgl. Fußnote 12; vgl. Schmidt-Linsenhoff (2010: 97). Mit dieser Bezeichnung für die (europ.) Betrachterperspektive zeigt Segalen plakativ an, dass er eine Umkehrung der Werte, bzw. den »choc en retour« erreichen will. Der Exot macht den neuen Exotismusbegriff fruchtbar, indem er die Perspektive des traditionellen Exoten/ischen miteinbedenkt. Von Segalen lediglich männlich verwendet, was hier aus diesem Grund ebenso gehandhabt wird.

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Essai sur l’Exotisme. Une Esthétique du Divers Segalens Exotismus-Essay ist das große theoretische Herzstück seines literarischen, ethnographischen und archäologischen Werks. 1904 entwirft er einen Plan für einen Essay und arbeitet vor allem im Zeitraum zwischen 1908 und 1918 am Projekt, das einen Essay bald deutlich übersteigt. Die Einträge sind von unterschiedlicher Qualität, es gibt umfangreiche, ausformulierte Passagen, aber auch stichwortartige Aufzeichnungen und längere Abschnitte mit Exzerpten. Mehrere Notizen betreffen die Strukturierung des Werks und machen die kontinuierliche Arbeit Segalens am Konzept sichtbar.37 Im Kern ist der Essai sur l’Exotisme das Resultat einer breiten Ausdifferenzierung und Neubestimmung des Exotismus-Begriffs. Segalen propagiert eine neue Definition von Exotismus, der ganz klar in Ablehnung des Exotismus und Kolonialismus des 19. Jh. seine Konturen gewinnt. Er wendet sich gegen die »Zuhälter des Exotismus« (Segalen 1994: 55), die er vor allem im dekorativen, romantischen Impressionismus ausmacht (er nennt bspw. Paul Bonnetain, Jean Ajalbert, Pierre Loti, aber auch Saint-Pol-Roux und Paul Claudel).38 Er betont, dass sein Exotismus jenseits von Palmen, Kamelen, Tropenhelmen, schwarzer Haut und gelber Sonne gedacht werden soll (vgl. Segalen 1978: 36)39 – er wolle kein »[...] protzige[s] Flitterwerk einer Rückkehr aus dem Lande eines Negerkönigs« bieten (Segalen 1994: 112). Segalen interessieren die Vorbedingungen und die Funktionsweise der interkulturellen Begegnung, die Vorgänge hinter der exotischen Oberfläche. Er will den Begriff Exotismus von »Rückständen, Verunreinigungen und Flecken, vom Makel und Schimmel« befreien und aus dieser Arbeit der Negation und Rekonstruktion sollen der Exotismus und das Diverse, die zwei zentralen Begriffe seiner Theorie, als klare, universelle Begriffe wieder aufleben (Segalen 1978: 36f/1995: 41f). Segalens Exotismus-Konzept beruht auf der fundamentalen

 37 Seit 1978 umfassen die Editionen des Textkonvoluts auch Briefe Segalens, die vom Fortgang seines Projekts zeugen. 38 Weitere Namensnennungen und Negativbeispiele: Segalen 1978: 31; 35f; 40; 46; 52; 55; 58ff; 82ff / Segalen 1994: 35; 39f; 46; 55; 62; 69; 73ff; 110ff. 39 »Jeter par-dessus bord tout ce que contient de mésusé de rance ce mot d’exotisme. Le dépouiller de tous ses oripeaux: le palmier et le chameau; casque de colonial; peaux noires et soleil jaune; et du même coup se débarrasser de tous ceux qui les employèrent avec une faconde niaise.« / »Alles, was das Wort Exotismus an Missbrauchtem und Abgestandenem enthält, über Bord werfen. Es von seinen fadenscheinigen Kleidern befreien: von den Palmen und Kamelen, dem Tropenhelm, der schwarzen Haut und der gelben Sonne.« (Segalen 1994: 41)

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Erkenntnis, dass das exotische Gegenüber über eine eigene Perspektive verfügt, die sich insofern nicht von der Perspektive des/der Betrachtenden unterscheidet, als dass sie ihrerseits einem/einer (exotischen!) Fremden gegenüber steht. Segalen beschreibt die interkulturelle Situation als Folge von Blicken, als ein Spiel der gegenseitigen Betrachtung und Beeinflussung. Er spricht vom exotischen Schock (bspw. Segalen 1994: 59), den der/die Reisende, der/die Beobachtende erfährt, und beschreibt diesen als Gewahrwerden des Blicks des/der Anderen, der (idealerweise) zu einem neuen Bewusstsein der eigenen Perspektive führt. Auf dieser Umkehrung der eigenen Perspektive baut seine Theorie. Es ist ein Exotismus auf der zwischenmenschlichen Dimension, wie Cachot schreibt: »Par ce regard réciproque, l’homme se désolidarise du paysage; il est ramené à sa dimension humaine. La conscience de la présence de l’autre induit la conscience de sa propre existence. De plus, le moi est contemplé en même temps qu’il contemple. Le choc, que le voyageur exprime, naît de cette découverte de soi à travers le regard de l’autre.« (Cachot 1999: 103)40

Segalen will die fremde Perspektive mitsamt den Konsequenzen, die aus der interkulturellen Begegnung resultieren, begreifen. Er will den »Gegeneindruck«/»Widerhall«/»Rückstoß« (Segalen 1994: 35f) aufzeigen und nicht den oberflächlichen sensationellen Schock der Wirkung des Exotischen auf sich selber wiedergeben: »Ils [Loti, Saint-Pol Roux, Claudel] ont dit ce qu’ils ont vu, ce qu’ils ont senti en présence des choses [Herv. i.O.] et des gens inattendus dont ils allaient chercher le choc. Ont-ils révélé ce que ces choses et ces gens pensaient en eux-mêmes et d’eux? [Herv. LF] Car il y a peut-être, du voyageur au spectacle, un autre choc en retour dont vibre ce qu’il voit.« (Segalen 1978: 31f)41Das fundamental Fortschrittliche an Segalens Exotismus ist, dass das Exo-

 40 »Durch diesen wechselseitigen Blick entsolidarisiert sich der Mensch von der Landschaft; er wird auf seine menschliche Dimension zurückgeworfen. Das Bewusstsein der Gegenwart des Anderen ruft ihm seine eigene Existenz ins Bewusstsein. Außerdem wird das ich, in dem es betrachtet, zugleich selbst betrachtet. Der Schock, den der Reisende fühlt, geht aus dieser Selbstentdeckung durch den Blick des Anderen hervor.« (Übersetzung Felix Bühlmann) 41 »Sie [Loti, Saint-Pol Roux, Claudel] haben gesagt, was sie in Gegenwart der unerwarteten Dinge [Herv. i.O.] und Menschen gefühlt haben, mit denen sie zusammenzustossen suchten. Haben sie auch aufgedeckt, was diese Dinge und Menschen in ihrem Innern und von ihnen dachten? [Herv. LF] Denn es gibt vielleicht vom Reisenden zu

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tische nur mittels Reflexion der eigenen Perspektive erfasst werden kann. Und dass er die Frage nach der Enthüllung der Perspektive des Exotischen und der Indigenen aus »ihrem Innern« als Wunschdenken entlarvt. »Ont-ils révélé ce que ces choses et ces gens pensaient en eux-mêmes et d’eux?« (s.o.) ist eine rhetorische, bzw. utopische Frage, denn Segalen geht davon aus, dass die fremde Perspektive uneinnehmbar ist. Er spricht von der undurchdringlichen Individualität des/der Fremden, dessen/deren »impénétrabilité« und einem ewigen Unverständnis, das zwischen den Kulturen, respektive den Individuen herrsche. »L’exotisme n’est donc pas cet état kaléidoscopique du touriste et du médiocre spectateur, mais la réaction vive et curieuse au choc d’une individualité forte contre une objectivité dont elle perçoit et déguste la distance. (Les sensations d’Exotisme et d’Individualisme sont complémentaires [Herv. i.O.]). L’Exotisme n’est donc pas une adaption; n’est donc pas la compréhension parfaite d’un hors du soi-même qu’on étreindrait en soi, mais la perception aiguë et immédiate d’une incompréhensibilité éternelle.« (Segalen 1978: 38)42

Der/die Fremde ist das Andere, das sich dem Begreifen entzieht. Es gibt keinen Exotismus, der das Leben des/der Anderen authentisch zeigt und keine Möglichkeit der Grenzüberschreitung im Nachleben dieses Lebens – »Der Exotismus ist also keine Anpassung«. Segalen zeigt damit das ›Going Native‹ als eine Illusion des traditionellen Exotismus. Segalen konzipiert den Exotismus als Erfahrung des Diversen nicht nur aus der Reflexion der Distanz zwischen den Kulturen. Sein Denkmodell der exotischen Konfrontation ist universell. Er redet vom Exotismus der Natur, der Ethnien, der Tiere und Wertsysteme und plant die historische, geographische und moralische Dimension des Exotismus auszudifferenzieren. Es geht Segalen darum, im Diversen das Andere zu sehen, eben nicht das traditionell Exotische (vgl. Segalen

 dem hin, was er sieht, einen Rückstoss, der das Geschehene erschüttert.« (Segalen 1994: 35f) 42 »Der Exotismus ist also nicht jener kaleidoskopische Zustand des Touristen oder des gewöhnlichen Zuschauers, sondern die lebhafte und neugierige Reaktion einer starken Individualität auf den Zusammenstoß mit einer Objektivität, deren Distanz sie wahrnimmt und auskostet. (Das Gefühl des Exotismus und des Individualismus ergänzen sich [Herv. i.O.]). Der Exotismus ist also keine Anpassung; es ist also nicht das vollkommene Begreifen eines Nicht-Ich, das man sich einverleiben könnte, sondern die scharfe, unmittelbare Wahrnehmung einer ewigen Unverständlichkeit.« (Segalen 1994: 44)

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1994: 111/Segalen 1978: 83f). Aus diesem Grund verhandelt er den »Exotismus der Geschlechter« auch primär unter dem Stichwort »Exotismus innerhalb [Herv. LF] einer Rasse« (Segalen 1994: 47/Segalen 1978: 41).43 In den Notaten zur Frage der Geschlechter ist Segalen wenig ausführlich und fokussiert vor allem darauf, das Unverständnis der Geschlechter parallel zum interkulturellen Unverständnis zu konstatieren.44 In Bezug auf die literarischen und ethnographischen Werke Segalens zeigt sich jedoch, dass Segalen mit der Darstellung des Blicks der indigenen Frau einen idealtypischen exotischen Schock inszeniert. Durch den Blick der exotischen Frau (speziell durch den Blick der liebenden exotischen Frau) wird der Mann seines eigenen Blicks gewahr. Cachot bemerkt dazu: »Le reflet de soi, présent dans le regard de la femme aimante, est certainement une représentation idéalisée. On peut y voir, sous forme du complexe de Narcisse, un sentiment d’auto-affection de l’homme dans sa recherche de l’image de lui-même.« (Cachot 1999: 105)45 Mit dieser ironisch formulierten Kritik Cachots haben wir das Grundproblem von Segalens Ästhetik des Diversen für die Geschlechterebene ausformuliert. Sein universeller Standpunkt lässt zahlreiche Fragen auf der ›konkreten‹ Ebene offen. Er legt es zwar an, dass sich das koloniale und interkulturelle Blickverhältnis, als Machtverhältnis gedacht, sich auf der Ebene der Geschlechter sozusagen ungeschönt reproduziert, bzw. verdichtet wiederfindet und er reflektiert auch die Gefahr der Reproduktion dieser Verhältnisse im Ästhetischen. Schmidt-Linsenhoff schreibt: »Er ist sich der Gefahr bewusst, dass das Du, das sein Exotismus zu Wort kommen lässt, nur ein maskiertes Sprachrohr des hegemonialen Ichs sein könnte« (SchmidtLinsenhoff 2010: 98). Das Grundproblem ist jedoch, dass seine theoretische und ästhetische Sichtweise viele Fragen in Bezug auf die koloniale, soziale und geschlechtertheoretische Dimension des Exotismus unbeantwortet lässt – lassen muss. Seine Formel aus dem Essay, dass das Koloniale exotisch ist, aber der

 43 Zur Geschlechterfrage: Segalen 1978: 33; 50; 53; 79f; 81 / Segalen 1994: 37; 60; 63; 106; 108. 44 Segalen 1978: 41. »Exotisme des sexes. Et là toute Différence, toute l’incompatibilité, toute la Distance, surgit, s’avère, se hurle, se pleure, se sanglote avec amour ou dépit. [...]« / »Der Exotismus der Geschlechter. Der tiefe Graben, der die Geschlechter trennt, der große Unterschied, die ganze Unvereinbarkeit bricht hervor, schreit, weint, schluchzt voller Liebe oder Verdruss.« (Segalen 1994: 47) 45 »Die Selbstspiegelung im Blick der liebenden Frau ist sicherlich eine idealisierte Vorstellung. Man kann darin, in Form eines narzisstischen Komplexes, die Selbstliebe des Mannes erkennen, der nach einem Bild von sich selbst sucht.« (Übersetzung Felix Bühlmann)

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Exotismus das Koloniale übersteigt – »Le ›colonial‹ est exotique, mais l’exotisme dépasse puissamment le colonial« (Segalen 1978: 83)46 – gilt sozusagen auch für die Ebene, auf der Segalen über die Begegnung der Geschlechter im Zusammenhang mit Exotismus reflektiert. Die Exotismusfrage übersteigt die Geschlechterfrage. Sein Exotismus konzentriert sich auf die Ebene der Wahrnehmung und ist schließlich auf das Ästhetische fokussiert. In letzter Konsequenz, so gibt Segalen zu bedenken, übersteigen darum auch die ästhetischen Maßstäbe, die er an den Exotismus heranführt, die Exotismusfrage. »Le principe esthétique est plus général que le principe de l’esthétique du Divers.« (Segalen 1978: 57) 47 Segalen lässt also einerseits Fragen unbeantwortet, andererseits denkt er die Mängel seines Begriffs durch. Er bekennt, dass sein ästhetisches Exotismus-Konzept nur singulär, individuell sein kann, dass es im »Sozialbereich der Kunst« völlig versage: »L’Exotisme est navrant dans l’art social. [...] L’Exotisme social amène des fortunes particulières et des désastres nationaux, ou bien, si ce n’est pas des désastres, le résultat est tout contraire à cet exotisme« (Segalen 1978: 55). 48 Der ästhetische Standpunkt von Segalens Theorie der Interkulturalität ist deren Dilemma und bedingt in gleicher Weise ihre postkoloniale Qualität. Im Folgenden soll der ästhetische Standpunkt, den Segalen in seiner interkulturellen Theorie einnimmt, im ›Konkreten‹ – am Text – geprüft werden. Dabei mache ich den »Spielraum einer postkolonialen Kritik aus der Perspektive der Kolonisierten« (Schmidt-Linsenhoff 2010: 93), den Schmidt-Linsenhoff Segalens Text Dernier décor zugesteht, am ästhetischen Verfahren Segalens fest. Die Analyse seiner literarischen Inszenierung von Interkulturalität kann abschließend die Möglichkeiten der Segalen’schen Ästhetik aufzeigen. Ich beschreibe Dernier décor in seiner Theatralität und Künstlichkeit als »Kunstort« einer angewandten kritischen Ästhetik und insofern als die Utopie eines künstlerischen ›Going Native‹.

 46 Zur Reflexion der kolonialen Situation: Segalen 1978: 52; 55; 72f; 83f / Segalen 1994: 62; 69; 93f; 110; 112. 47 »Das ästhetische Prinzip ist allgemeiner als das Prinzip einer Ästhetik des Diversen.« (Segalen 1994: 71) 48 »Der Exotismus versagt völlig im Sozialbereich der Kunst [...]. Der soziale Exotismus bringt private Reichtümer und nationale Katastrophen, oder, wenn es keine Katastrophen sind, dann ist das Ergebnis das Gegenteil von Exotismus.« (Segalen 1994: 69)

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3. G AUGUIN

DANS SON DERNIER DÉCOR ALS

EINES KÜNSTLERISCHEN

U TOPIE

›G OING N ATIVE ‹

Segalens Ästhetik des Diversen plädiert für eine Beziehung der Distanz zwischen dem Selbst und dem/der Anderen, und diese Distanz ist sowohl ein theoretischer als auch ein praktischer, ästhetischer Standpunkt. Das Fremde ist unassimilierbar, bzw. die »unassimilierbare[...], fremde[...] Fremderfahrung« (Schüttpelz 2005: 382f) kann nicht dargestellt werden. Aber gerade in dieser Unvereinbarkeit der Perspektiven liegt, so Segalen, ästhetisches Potential. Gilles Manceron beschreibt diese Überzeugung Segalens folgendermaßen: »[...] puisque c’est au moment où se trouvent confrontés les deux versant irréductibles du divers que jaillit pour Segalen l’image poétique.« (Segalen 1978: 11)49 Die Distanz in der interkulturellen und zwischengeschlechtlichen Begegnung verlangt nach einer ästhetischen Distanznahme, bzw., und das ist wichtig: sie gewährt dem Exoten die ästhetische Freiheit. Der Exot, der die Stimme seines Gegenübers fassen will, ist auf sich selber zurückgeworfen – was nicht in narzisstischer Selbstbespiegelung enden muss. Segalen beschreibt die ästhetische Freiheit des Exoten folgendermaßen: »Il se peut qu’un des caractères de l’Exote soit la liberté, soit d’être libre [Herv. i.O.] vis-à-vis de l’objet qu’il décrit ou ressent, du moins dans cette phase finale, quand il s’en est retiré.« (Segalen 1978: 51)50 In Bezug auf seinen Roman Les Immémoriaux, dem »Eingeborenenroman«51, wie ihn Segalen auch nennt, in dem er seinen theoretischen Standpunkt umsetzen will und den Exotismus aus den Augen der Fremden beschreiben will, den Exotismus »des Objekts für das Subjekt«, gibt er Ähnliches zu Protokoll: Er habe sich zuerst von den Exotismen durchdringen lassen und hätte sich dann schlussendlich von ihnen losgelöst, um sie »in ihrem ganzen objektiven Reiz« hervortreten zu lassen (Segalen 1978: 49).52 Die »Objektivität«53 ist nur aus der radikal subjektiven

 49 »[…] weil das poetische Bild für Segalen im Moment des Aufeinandertreffens der zwei unbezwingbaren Seiten des Diversen aufblitzt.« (Übersetzung Felix Bühlmann) 50 »Möglicherweise ist einer der Charakterzüge des Exoten die Freiheit: die Freiheit [Herv. i.O.] gegenüber dem Objekt, das er beschreibt und empfindet, jedenfalls in jener letzten Phase, wenn er sich ihnen entzogen hat.« (Segalen 1994: 61) 51 Segalen 1994: 99. Segalen in Presseankündigung seiner Schrift »Peintures«, 1916. 52 »[...] m’en imbiber d’abord, puis m’en extraire, afin de les laisser dans toute leur saveur objective (Comme les mêmes mots se retrouvent obstinément avec leur même force! Je dois aboutir à l’exotisme essentiel: celui de l’Objet [Herv. i.O.] pour le sujet)« / »[...] zunächst will ich mich von ihnen durchdringen lassen, mich dann von ihnen loslösen, um sie schließlich in ihrem ganzen objektiven Reiz hervortreten zu

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Distanz erreichbar. Mit einem ›bescheidenen‹ ästhetischen Mantra, das in diese Richtung zielt, endet auch der letzte Eintrag von Segalens Essay: »Terminer l’Avant-Propos par: Ceci, universel, n’est que ma vision à moi: artiste: voir le monde, et puis dire sa vision [Herv. LF] du monde.« (Segalen 1978: 85)54 Gauguin dans son dernier décor In Dernier décor spielt eine Vision, ein Bild eine große Rolle: die Theaterkulisse der dekorativen Natur auf Hiva-Oa, auf der Gauguin als Meister und die Indigenen als Statisten erscheinen. Diese Vision nimmt den Raum des gesamten Texts ein, denn Theaterkulisse und Theatermetaphern durchziehen den Text auf allen Ebenen. Man kann sagen, die Künstlichkeit ist allgemeine Vision des Texts. Segalen weist damit auf die interkulturelle Distanz und zeigt das künstlerische Bild des Fremden/der Fremden als Projektion; und vor allem demonstriert er damit eine radikale Annahme der Subjektivität, in die der Exotismus zwingt. Seine Vision von Exotismus ist zum Ausdruck gebracht, mit der er aber auch – indem er demonstrativ als ›Theatermaler‹ und Bilderarrangeur agiert – die Perspektive Gauguins verspinnt. Seine künstliche Vision ist eine Annäherung an den Künstler und eine Nachahmung von Gauguins künstlerischer Vision der Annäherung an die exotische Fremde. Die Theatermetaphern betreffen nicht nur das Setting und das Personal des Texts, sie gelten auch für die Kunstwerke von Gauguin. Segalen beschreibt die Werke, auf die er in und um die verlassene Hütte des verstorbenen Künstlers trifft, sehr kurz und knapp.55 Einzig einem Werk widmet er seine Aufmerksamkeit und verdeutlicht an ihm die Grundsätze der Kunst Gauguins. Es ist eine kleine Götterstatue [»Atua« (Gott)], mit der Segalen das Zusammengesetzte, Nicht-Authentische der Gauguin’schen Kunstwerke betont:

 lassen (wie sich doch immer wieder dieselben Worte mit derselben Kraft wiederfinden! Ich muss zum grundlegenden Exotismus kommen, nämlich jenem des Objekts [Herv. i.O.] für das Subjekt!)« (Segalen 1994: 58) 53 Segalen versucht sozusagen auch hier eine neue Begriffsbestimmung, vgl. Klammerbemerkung Fußnote 52. 54 »Das Vorwort beenden mit: Wenn auch universell, so ist es doch nur meine persönliche Sicht als Künstler: die Welt anschauen, um dann zu sagen, wie man sie sieht.« (Segalen 1994: 113) 55 Bspw. »Puis, deux silhouettes femelles nues, aux lignes grossières comme œuvre de préhistorique.« (Segalen 1995: 289) / »Dann zwei nackte weibliche Silhouetten mit groben Strichen wie ein prähistorisches Werk« (Segalen 1994: 41)

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»Et c’est bien une figuration de l’atua indéfini des jours passés; mais, issue des rêveries exégétiques de l’artiste, elle est étrangement composite. [...] c’est un Bouddha qui serait né au pays maori. Gauguin se plut ainsi à revêtir de poses hiératiques diverses les héros des mythes polynésiens. Il pouvait, en cela, relever que de lui-même; car ces peuples dédaignèrent de figurer leurs dieux.« (Segalen 1995: 288)56

Im Vorbeigehen erzählt also Segalen, dass die MarquesanerInnen keine solchen Götterdarstellungen kennen, wie sie Gauguin für sie geschaffen hat. Ohne mit der Wimper zu zucken, folgt die lakonische Bemerkung: »Les missionnaires seuls furent païens qui crurent à l’anthropomorphisme des indigènes, et les dissuadèrent d’adorer les ›dieux de bois‹.« (Segalen 1995: 289)57 Segalen führt damit aus, dass Gauguins Kunstwerke diesen Anthropomorphismus nicht haben und dass sie keinen Anspruch auf Verkörperung und Authentizität (»Kanakenseele«) formulieren. Es sind hochstilisierte Objekte, die ihre Zusammengesetztheit nicht verleugnen. Segalen betont, dass es Visionen des Künstlers sind, und dass diese Visionen qua ihrer exotistischen Interkulturalität über die fremde Perspektive Aussagen machen können.58 Gauguins Kunst ist das Paradox von Natürlichkeit und Nähe, die aus der distanzierten Haltung erwächst. Auch die erzählte Zeit ist in einem ambivalenten Verhältnis gestaltet. Segalen wird damit der Gesamtanlage des Texts als einer theatralischen Vision gerecht. Einerseits erzählt der Text vom Hier und Jetzt: Segalen datiert und verortet das Geschehen mit einem Eintrag, der an die Gepflogenheiten eines Reisejournals

 56 »Und es ist sehr wohl eine Darstellung des unbestimmten atua der vergangenen Tage; doch, hervorgegangen aus den exegetischen Träumen des Künstlers, ist sie merkwürdig zusammengesetzt. [...] es ist ein Buddha, wie er im Land der Maori geboren wäre. Gauguin gefiel sich dieser Art darin, die Helden der polynesischen Mythen mit verschiedenartigen hierarchischen Haltungen zu versehen. Er konnte sich dabei nur auf sein eigenes Wissen stützen, denn dieses Volk verschmähte es, seine Götter abzubilden.« (Segalen 2001: 39) 57 »Nur die Missionare waren so heidnisch, an den Anthropomorphismus der Eingeborenen zu glauben und ihnen abzuraten, die Götter aus Holz zu verehren.« (Segalen 2001: 40) 58 »Avant lui, bien moins que des dieux, nulle image d’homme maori vraisemblable [Herv. LF] ne s’était montrée à l’Europe.« (Segalen 1978: 113f) / »Vor ihm hatte sich kein auf Wahrheit [Herv. L. F] Anspruch erhebendes Bild eines Maorimenschen, geschweige denn eines Maorigottes, in Europa sehen lassen.« (Segalen 1920: XXI)

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oder Tagebuchs erinnert »(Îles Marquises – Tahiti, janvier 1904)« (Segalen 1995: 291), außerdem notiert er mitten im Text nochmals »Et voici, enfin, la mise en scène: ›De nos jours, en l’île d’Hiva-Oa, au district d’Atuana‹«59 (Segalen 1995: 291) – gleichzeitig inszeniert er aber das Geschehen auf einer höchst artifiziellen, zeit- und ortslosen Ebene.60 Das Interessante an dieser Doppelkonstruktion ist, dass der Bruch der nochmaligen »mise en scène« auf die Stelle folgt, wo Segalen Gauguin attestiert, ein Tiermaler gewesen zu sein, der eben gerade in der »Umformung« der Formen, die die Maori-Frau ihm am schönsten präsentierte, »Objektivität« erreichte. Nach der Szenenanweisung folgt also ein Stil- und Stimmenwechsel. Der Text mündet in eine kolonialkritische Klage des Untergangs der »›Wilden‹« (Segalen 2001: 45)61 und darauf in eine fiktive gespenstische Apokalypse. Der Theaterrahmen zerfällt, denn die dekorative Natur nimmt Besitz von der Insel, nachdem die Menschheit durch kolonialisationsbedingte Krankheiten ausgelöscht ist. Gauguin ist Teil dieses apokalyptischen Todes. In dieser Inszenierung zeugt sein Tod von der Stichhaltigkeit seiner kolonialkritischen Klage, für die er die Indigenen zu mobilisieren vermochte, und von seiner Verbundenheit mit ihnen. Der Text endet damit, dass Gauguins tahiti-

 59 »Und hier noch die Szeneanweisungen: ›In unserer Zeit, auf der Insel Hiva-Oa, im Distrikt von Atuana.‹« (Segalen 2001: 44) 60 An der Stelle ist auch wichtig zu wissen, dass Segalen die Authentizität der Szene bricht, indem er Kunstwerke beschreibt, die er zum Zeitpunkt des Besuchs der letzten Wohnstätte Gauguins dort gar nicht gesehen haben kann. Auch inszeniert er (sehr wahrscheinlich wider besseren Wissens) Gauguins Bild »Le village breton sous la neige«/»Bretonisches Dorf im Winter« (1888 od. 1895, nicht 1903) als symbolisches Bild der letzten Lebensjahre Gauguins. Es vermag den exotischen Schock des interkulturellen Zusammentreffens und die Ortslosigkeit des Exoten sehr gut zu verbildlichen, die Tatsache, dass es in Europa entstanden ist, ist zu vernachlässigen. Vgl. Schmidt-Linsenhoff (2010: 99); Zinfert (2003: 64ff). 61 »[…] sans plaintes ni récris, ils s’acheminent vers l’épuisement prochain. […] L’opium les a émaciés, les terribles jus fermentés les ont corrodés d’ivresses neuves; la phtisie creuse leurs poitrines, la syphilis les tare d’infécondité. Mais qu’est-ce que tout cela sinon les modes diverses de cet autre fléau: le contact des ›civilisés‹« / »Ohne Bedauern, ohne Klage oder Einspruch gehen sie [die Bewohner der MarquesasInseln] dem bevorstehenden Erlöschen entgegen. [...] Das Opium hat sie ausgezehrt, die fürchterlichen gegorenen Säfte haben sie mit neuen Trunkenheiten zerfressen, die Schwindsucht höhlt ihre Brust aus, Syphilis schlägt sie mit Unfruchtbarkeit. Aber was ist das alles außer einzelnen Abarten jener anderen Plage: des Kontakts mit den ›Zivilisierten‹.« (Segalen 2001: 45)

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anischer Freund Tioka zu Wort kommt. Dieses Schlusswort ist sozusagen der letzte Beweis der ›Wahrheit‹ der künstlerischen Vision Gauguins, bzw. der interkulturellen Kraft seiner Kunst. »Le fidèle Tioka, son ami indigène, le couronna de fleurs odorantes, l’enduisit, selon l’usage, du monoi onctueux, puis déclara tristement: ›Maintenant, il n’y a plus d’hommes‹ [Herv. LF].« (Segalen 1995: 291)62 In den Worten des Indigenen gelingt Gauguin also eine utopische Assimilation an eine universale Menschheit, ein ›Going Native‹, das Segalen in seinen Schriften zum Exotismus verneinte. In diese utopische Assimilation zum Schluss des Texts ist die exotische Frau implizit mit eingeschlossen. Sie nimmt in Dernier décor damit einen großen Weg auf sich. Von der extra plakativen tierischen Natürlichkeit, über die »zivilisierte« resp. »besondere« tierische ›Natürlichkeit‹ (Segalen 2001: 43) geht auch sie den Weg der Verwandlung, die aus den »trägen Komparsen« (Segalen 2001: 43) ein sprechendes Individuum machen. Dernier décor allgemein ist als Klagelied und Vision angelegt. Der Text kann darum jenseits der ›ersten‹ hierarchischen Vision (Hauptrolle/Statisten) in den klagenden und gleichzeitig visionären Worten Tiokas gebündelt werden. »Maintenant il n’y a plus d’hommes« – in diesem zweiten Konzentrat des Texts verlieren die Indigenen ihre Statistenrolle. Segalen beklagt mit dem Text das Verschwinden der ›Wilden‹ und als Theoretiker der Differenz und des Diversen den Verfall der Exotismen. Der Untergang ebnet das Diverse ein. Seine Maßnahme dagegen lautet Künstlichkeit: die Stimme des/der Anderen und speziell die der exotischen Frau sei mittels Kunst und Literatur heraufzubeschwören, so Segalen. Und dies, scheint mir, ist die Quintessenz zum Verständnis seiner kritischen Ästhetik der Interkulturalität in ihrer – besonders im Literarischen – paradoxalen Gestaltung zwischen Annäherung und Distanz. Im Essay gibt er kryptisch an, man müsse, um gegen den Verfall der Exotismen anzuarbeiten, sich den »heilen oder virtuellen Exotismen« annehmen und müsse diese verherrlichen. Und unter diese heilen und virtuellen Exotismen fasst er die Frau und die Kunst: »Les exotismes intacts ou en puissance: Femme, Musique et en général tout sentiment d’art« (Segalen 1978: 81).63 Segalen verherrlicht und exotisiert also – speziell die indigene Frau – und dies bewusst. Sein Exotismus ist in der Künstlichkeit und im Rückbezug auf traditionelle exotische

 62 »Der treue Tioka, sein eingeborener Freund, umkränzte ihn mit duftenden Blumen, bestrich ihn dem Brauch gemäss mit öligem Monoi und erklärte dann traurig: ›Jetzt gibt es keine Menschen mehr.‹ [Herv. LF]« (Segalen 2001: 46) 63 »Die heilen oder virtuellen Exotismen: die Frau, die Musik und ganz allgemein jegliches Gefühl für Kunst.« (Segalen 1994: 106ff)

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Bilder jedoch gebrochen. Seine interkulturelle Theorie verbietet ihm einen verharmlosenden, dekorativen und gewalttätigen Exotismus. In einer Utopie der Kunst gibt er den Indigenen und speziell der indigenen Frau eine eigene Stimme. Dernier décor vermag eigene Stimmen in ihrer Fremdheit zu generieren und eine transkulturelle und zwischengeschlechtliche Menschlichkeit zu zeigen.

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Kritische Verwicklungen des kultivierten Begehrens Bürgerliche Geschlechterordnung, eurozentrische ›Rassen-‹theorie und die Frage der Kritik bei Immanuel Kant K ARIN H OSTETTLER 1

Bei einem der wichtigsten Philosophen der Aufklärungszeit die Verbindung von Geschlechter- und ›Rassen-‹denken zu analysieren, ist kein einfaches Unternehmen. Dass die beiden Aspekte zumeist getrennt voneinander untersucht wurden, ist wohl auch disziplinären Aufteilungen geschuldet. Beides zugleich in den Blick zu nehmen – letztlich nach der Rolle der Kritik zu fragen –, bedarf deshalb zunächst einer Reflexion von aktuellen Forschungsperspektiven. Die folgenden Ausführungen beginnen mit Beobachtungen und Fragen, die sich am Kreuzungspunkt der (post-)kolonialen Theorie und der Gender Studies in Bezug auf die Aufklärung ergeben. In den Gender Studies hat sich die Einsicht etabliert, dass die Epoche der Aufklärung wegweisend war für die Herausbildung der sozialen und epistemischen Ordnung Europas, die für die ganze Moderne prägend war und teilweise immer noch ist. Thomas Laqueur (1992) hat in seiner einflussreichen Studie gezeigt, dass sich in dieser Zeit das »Zwei-Geschlechter-Modell« und damit die binäre Geschlechterordnung durchgesetzt hat. In der Aufklärung wird Geschlecht in der Biologie und Anthropologie verankert: ›Die Frau‹ erhält eine anthropologische Sonderstellung (vgl. Honegger 1991). Dieses Modell setzt sich als eine Ge-

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Der Artikel entstand im Rahmen eines Stipendiums des Schweizerischen Nationalfonds (SNF).

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schlechternorm durch, die nun für die ganze europäische Gesellschaft ihren Geltungsanspruch erhebt und nicht mehr nach Ständen stratifiziert ist (vgl. Maihofer 2009). Allerdings konzentriert sich das kritische Wissen der Gender Studies über den Umbruch der Geschlechterordnung im 18. Jh. auf europäische Ereignisse – ohne es explizit zu reflektieren. Demgegenüber haben (post-)koloniale Theoretiker_innen argumentiert, dass sich die Moderne nur in Verbindung mit dem Kolonialismus und der Sklaverei herausbilden konnte: Die globalen Geschehnisse sind konstitutiver Bestandteil dessen, was in Europa vor sich ging. Während jedoch Untersuchungen zum innereuropäischen Umbruch den globalen Rahmen ausblenden, behandeln (post-)koloniale Theoretiker_innen Geschlecht oftmals nur am Rande oder operieren mit zu kurz greifenden Ansätzen. Maria Lugones (2007) stellt etwa fest, dass der Ansatz von Aníbal Quijano, einem der wichtigen Theoretiker zur Entstehung des »modern/colonial systems«, geschlechtertheoretisch verkürzt vorgeht. Sie erweitert seinen Ansatz: »Colonialism did not impose precolonial, European gender arrangements on the colonized. It imposed a new gender system that created very different arrangements for colonized males and females than for white bourgeois colonizers. Thus, it introduced many genders and gender itself as a colonial concept and mode of organization of relations of production, property relations, of cosmologies and ways of knowing.« (Lugones 2007: 186)

Lugones argumentiert, dass im Kolonialismus das vorkoloniale Geschlechtersystem und der Heterosexismus Europas den außereuropäischen Gebieten nicht einfach übergestülpt wurden, sondern sich durch den Kolonialismus selbst unterschiedliche Geschlechterarrangements herausgebildet haben. Damit stratifizier(t)en sich die Geschlechterarrangements durch die koloniale Differenz. Während sich Lugones auf die Herausbildung und Auswirkungen des »modern/ colonial gender systems« in den außereuropäischen Gebieten konzentriert, interveniert Sabine Broeck in die Debatten der europäischen, weißen Gender Studies. Auch nach der postmodernen Wende haben sie sich nicht genügend um die innere Verzahnung von Geschlecht und ›Rasse‹ in ihrer Theoriebildung gekümmert: »[…] race appears, again, as a sign of difference from gender, as a particular materialization ›universal‹ theory only knows to address in the particular of black ›bodies that matter‹ (Butler), not as an interpellative force within which, and by way of which all genders has to be constituted.« (Broeck 2006: 106, Herv. i.O.)

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Vergeschlechtlichende und rassifizierende Prozesse müssen also nach Broeck nicht nur dort lokalisiert werden, wo Menschen Rassismus und Sexismus erfahren. Sondern auch jene sind davon geprägt, die sich auf der privilegierten Seite der Prozesse befinden. Zudem geht es ihr nicht allein um parallel geführte Ausschlüsse aus einer männlichen, weißen, bürgerlichen Norm. Vielmehr konstituieren sich Geschlecht und ›Rasse‹ wechselseitig. Damit rückt die Frage nach den konkreten Ausformulierungen der Verknüpfung von Geschlecht, Sexualität und ›Rasse‹ innerhalb des Westens ins Zentrum: Die Geschlechtertheorie muss die Genealogie der durch die Sklaverei und Sklavenhandel geprägten Moderne mitbedenken und einbeziehen, will sie die Verknüpfungen angemessen erforschen. Broecks Interventionen weisen darauf hin, dass die Aufklärungszeit nach wie vor nicht genügend als Verflechtungsgeschichte verstanden wird. (Post-)koloniale Analysen von Prozessen der Vergeschlechtlichung, Rassifizierung sowie der Etablierung von Eurozentrismen stehen für diese Zeit weitgehend noch aus.2 Lugones und Boeck werfen für den Umbruch der Geschlechterordnung in der Aufklärungszeit große Fragen auf: Inwiefern ist das europäische, moderne »Zwei-Geschlechter-Modell« (Laqueur) dadurch geprägt, dass es sich in einem kolonialen Kontext artikuliert hat?3 In welcher Art und Weise ist die »anthropologische Sonderstellung« (Honegger) der europäischen Frau in einer rassistischen, kolonialen Matrix verankert? Der Fokus des folgenden Beitrags liegt somit auf der Frage, wie sich in der Aufklärungszeit die Herausbildung der bürgerlichen Geschlechterordnung mit der Etablierung der wissenschaftlichen ›Rassen‹theorie und mit eurozentrischen Annahmen verschränkt hat. Mit Immanuel Kant steht eine Figur im Mittelpunkt, die zweifelsohne für das kritische Denken maßgebliche und nachhaltige Impulse gegeben hat. Folgt man jedoch den Überlegungen Michel-Rolph Trouillots (2002), muss auch diese Tradition kritisch auf ihre eurozentrischen Annahmen hinterfragt werden. Eine Aufmerksamkeit gegenüber kolonialen Mustern bedeu-

 2

Die Interventionen beziehen sich besonders auf den bürgerlichen, weißen Feminismus – und lassen frühere theoretische Beschäftigungen mit der Verbindung von ›Rasse‹ und Geschlecht außer Acht. So beobachtet Maihofer in der Dialektik der Aufklärung nicht nur Parallelen, sondern auch Überschneidungen in der diskursiven Logik beider Diskurse (Maihofer 2009: 31). Ähnliches stellen Carey/Festa (2009) für den amerikanischsprachigen Raum fest: Studien, die Aufklärung und postkoloniale Theorie zusammenbringen, fehlen bislang.

3

Vgl. dazu die Studie von Purtschert (2006).

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tet, die Grenzen des europäischen, aufklärerischen Diskurses aufzuzeigen. Trouillot (2002) hat in einem eindrücklichen Aufsatz erklärt, warum die haitische Revolution, ein erfolgreicher Aufstand der Sklav_innen gegen die Kolonialmächte, in der europäischen Wahrnehmung für sehr lange Zeit nicht aufgenommen wurde – und nicht aufgenommen werden konnte. So erlaubt die symbolische Ordnung der kolonialen Moderne nicht, ein eigenmächtiges Handeln versklavter Menschen in ihr Bild zu integrieren: Die haitische Revolution ereignete sich am Rande des Denkbaren. Diese Epistemologie wurde nicht nur von Vertreter_innen des Kolonialismus getragen, auch die radikalsten antikolonialen Schriften der Aufklärungszeit gingen von prinzipiellen Unterschieden zwischen Menschen aus (vgl. Trouillot 2002: 93). Die Unmöglichkeit, einen Sklavenaufstand zu denken, erstreckte sich ferner über Europa, sahen sich doch die Sklaven selbst nicht als denkende Subjekte – und vollzogen dennoch die Revolution (ebd. 95). Die Undenkbarkeit war dabei keineswegs auf die Aufklärungszeit begrenzt. Sie hatte historisch weitreichende Auswirkungen, wie Trouillot argumentiert. Mit Michel Foucaults Überlegungen lässt sich dieses Argument noch stärker fassen. Er hat mit Bezug auf Kant in mehreren Aufsätzen argumentiert, dass sich die Moderne durch eine kritische Haltung charakterisieren lässt, die sich in der Aufklärung herausgebildet hat (vgl. Foucault 1992; 2005). Damit wirft die Auseinandersetzung mit dem Geschlechterdenken, der ›Rassen‹theorie und dem Eurozentrismus Kants letztlich die Fragen auf: Wie kann eine Kritik am kritischen Erbe der Aufklärung vorgenommen werden? Und auf welcher Grundlage kann eine solche Kritik geübt werden? Auch (post-)koloniale (Geschlechter-)Debatten arbeiten sich zu grossen Teilen an westlichen Theorietraditionen ab, die sich als Bestandteil des Imperialismus global verbreitet und als ›richtiges‹ Wissen durchgesetzt haben. Eine extrinsische Kritik, die eine Verankerung komplett außerhalb der europäischen Denktraditionen vorweisen kann, ist deshalb unwahrscheinlich. Dennoch gibt es Stimmen, die durch ihre Identifikation mit subalternisiertem Wissen blinde Flecken und versteckte Implikationen des europäischen kritischen Diskurses aufgezeigt haben. Ich knüpfe an solchen Interventionen an und formuliere eine Kritik an Kant – jedoch eine Kritik, die nicht jenseits von Ambivalenzen und Paradoxien agiert, sondern sie vor allem sichtbar machen will.4 Das heißt konkret, einerseits Ausschlüsse und abwertende Passagen aufzuzeigen, zu problematisieren und ihre Reichweite zu fassen, andererseits aber auch an wichtige Einsichten des kritischen Denkens positiv anzuknüpfen, auch wenn die Gleichzeitigkeit von hierarchisierenden

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Das auch in Anlehnung an Spivak (1999), die ich hier aber nicht weiter berücksichtigen kann. Dübgen beschäftigt sich in diesem Band ausführlicher mit Spivak.

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Ausschlüssen und kritischem Denken sich zeitweise in einer starken Spannung befinden. Der folgende Beitrag versucht den Spuren der Verschränkung von Geschlecht und Sexualität, ›Rasse‹ und Eurozentrismus sowie der Frage der Kritik nachzugehen. Ein erster Teil untersucht die Artikulation der bürgerlichen Geschlechterordnung und zeigt, inwiefern sie auf einem eurozentrischen Denken beruht. Die Schilderung des triebhaften Menschen überlagert sich mit Annahmen über nicht-europäische Völker. Als nicht kultiviertes Wesen bildet der rein triebhafte Mensch zwar nicht das Hauptthema in der Ausformulierung der bürgerlichen Geschlechterordnung. Dennoch prägt seine Figur die Ausformulierung der heterosexuellen Geschlechterdifferenz. Ich zeige das anhand eines frühen kantischen Texts auf. Darin präsentiert Kant seine anthropologischen Ausführungen als reflektierte Beobachtungen. In seinen späteren Schriften geht Kant von anderen erkenntnistheoretischen Prämissen aus: Die Welt ist nicht unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung und ihrer spezifischen Strukturiertheit. Wie ich im zweiten Teil zeigen werde, sind gerade die ›rassen‹theoretischen Überlegungen mit kritischen Reflexionen und besonders mit der Frage nach der Möglichkeit des Zweckdenkens verwoben und diskutieren erkenntnistheoretische Aspekte. Die Komplexität, die sich dadurch eröffnet, wird vor allem durch Foucaults Interpretation der kantischen Anthropologie deutlich, die ich im dritten Teil diskutiere. Durch seine Linse kann die grundlegende Ambivalenz – die gleichzeitige Artikulation von Sexismen, Rassismen und Eurozentrismen sowie die Grundlegungen für kritisches Denken – tiefer ausgearbeitet werden. Damit bewegt sich der Beitrag letztlich zwischen zwei Stoßrichtungen: Wie und inwiefern ist eine Kritik ›von innen heraus‹ nicht nur notwendig, sondern auch möglich? (Wie) Lässt sich vermeiden, dass eine europäische (Selbst-)Kritik wiederum einen Ausschluss anderer, nicht-europäischer, nicht-weißer Perspektiven und Lebensrealitäten vornimmt und sich in eine okzidentalistische Figur5 der Selbstvergewisserung wendet? Anderseits stellt sich die Frage nach der Möglichkeit und der Grundlage einer dekolonisierenden Kritik: Wenn Kritik und kritische Traditionen selbst Elemente von Eurozentrismus und westlichem Sexismus transportieren, dann operiert auch die (post-)koloniale Theorie auf einem problematischen Fundament. Aus welcher Perspektive, mit welcher Haltung und mit welcher Begründung kann eine dekoloniale Kritik vorgetragen werden? Ohne diese Fragen klären oder die Gefahr der okzidentalistischen Selbstvergewisserung endgültig von mir weisen zu können, möchte ich dennoch eine kriti-

 5

Vgl. dazu Coronil (2002).

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sche Lektüre kantischer Texte wagen mit der Absicht, etablierte Sichtweisen auf Kant zu erschüttern und zu einem anderen Wissen über Kant beizutragen.

K ANT

UND DAS WILDE

B EGEHREN

Die Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764)6 war zu Zeiten Kants ein höchst populärer Text und hat eine große Verbreitung erfahren (vgl. Jauch 1988). In der Auseinandersetzung mit ästhetischen Begriffen thematisiert Kant das Geschlechterverhältnis ausführlich. Mit dem Publikationsjahr 1764 fällt der Text unter jene Schriften, die vor der Kritik der reinen Vernunft geschrieben wurden und die spätere metaphysische Einsichten noch nicht transportieren. So widmet sich Kant dem analytischen Versuch, auf Grundlage von empirischen Beobachtungen verschiedene Gemütsarten der Menschen zu unterscheiden. Er diskutiert zunächst die Gefühle des Schönen und Erhabenen sowie auch die Gegenseiten, das »Schrecklicherhabene«, »Läppische« und »Närrische« (Kant 1998 [1764]: A 15f). Mit Rückgriff auf die Temperamentenlehre, klassifiziert er verschiedene Gemütsarten der Menschen in Melancholiker, Phlegmatiker, Sanguiniker und Choleriker. Im zweiten Abschnitt des Texts kommt Kant anschließend auf die Geschlechtscharaktere zu sprechen. Er benennt das Geschlechterverhältnis im Titel des Abschnittes als ein »Gegenverhältnis«, das entlang der Achse ›Schön‹ und ›Erhaben‹ verläuft – ein Gegenverhältnis, das auf einer heterosexuellen Matrix operiert, sich aber nicht um eine physiologische Grundlage bemüht, sondern ausschließlich um Charaktereigenschaften dreht. Klar ist für Kant jedoch von Anfang an: Schön ist weiblich, erhaben ist männlich; eine Charakterisierung des Ideals, die er weiter präzisiert: Männer sind auch schön, aber dieses Element soll in ihrem Charakter dazu dienen, ihre Erhabenheit zu stärken. Auch Frauen können erhaben sein; letztlich soll das jedoch lediglich ihre Schönheit unterstreichen. Schönheit und Erhabenheit sind somit Leitbegriffe für Weiblichkeit und Männlichkeit. Kants Präzisierung verdeutlicht, dass das Gegenverhältnis nicht als ein absolut ausschließendes Verhältnis, d.h. als eine qualitative Differenz (vgl. Maihofer 2009: 28), gedacht ist. Stattdessen kann die jeweilige Charakterisierung als unterschiedliche Gewichtung und Ausformung gelesen werden. Zwischen den beiden Charakteren eröffnet sich im Text ein spannendes Spiel von Anziehung und Abgrenzung, wie ich im Folgenden aufzeige.

 6

Im Folgenden abgekürzt mit Beobachtungen.

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Obwohl die beiden Geschlechtscharaktere nicht als sich vollständig ausschließend gedacht sind, werden sie in Opposition zueinander skizziert. Kant nimmt eine Charakterisierung in Bezug auf den Verstand, die Tugend, das Aussehen wie auch das Wissen vor – und je nach Geschlecht werden die Bereiche unterschiedlich gefasst: Frauen handeln nicht aufgrund von Grundsätzen, sondern meiden etwas, weil es hässlich ist. Ihr Verstand ist nicht für tiefes Nachsinnen gemacht; sie sollen schließlich empfinden und nicht vernünfteln. Insofern das Erhabene seine Affinität mit moralischen Grundsätzen besitzt und ein »tiefer Verstand« ist, wird das Schöne und damit das Weibliche deutlich als abgewerteter Charakter erkennbar, jedoch gekoppelt mit dem Versuch, gegenüber der weiblichen Leserschaft höflich zu bleiben: »Ich glaube schwerlich, dass das schöne Geschlecht der Grundsätze fähig sei, und ich hoffe dadurch nicht zu beleidigen, denn diese sind auch äusserst selten beim männlichen.« (Kant 1998 [1764]: A 56) Mit dem Gegenverhältnis wird aber auch der Eindruck thematisiert, den das »schöne Geschlecht« bei den Männern hinterlässt. Dabei unterscheidet Kant zunächst zwischen dem »derben« und dem »feinen Geschmack« (ebd. A 63f). Der derbe Geschmack befindet sich zu nahe am »Geschlechtstriebe«. Die Feinheiten im Charakter sind hier »leere Tändelei«, denn es geht nur aufs Geschlecht. Zwar wird hier auf einfältige und sichere Art die Ordnung der Natur befolgt, kann aber gerade deswegen auch leicht in Liederlichkeit ausarten: Jeder kann das entfachte Feuer befriedigen (ebd. A 64f). Ein feinerer Geschmack hingegen achtet auf das Äußere der Frauen. Ihre Gestalt kann moralisch oder unmoralisch sein – das Unmoralische ist hier durchaus hübsch und wird von allen Männern gleichförmig beurteilt. Die Männer beurteilen einen moralischen Zug in ihrem Gesicht hingegen unterschiedlich, je nachdem wie es um ihr eigenes sittliches Gefühl bestellt ist. Die »grobe Neigung« führt nach Kant zwar zum Zwecke der Natur, den er in der Fortpflanzung sieht. Diese Neigung impliziert aber auch, dass das Begehren von einer beliebig anderen Person befriedigt werden kann und nicht nur von der Person, die es ausgelöst hat (ebd. A 64, Fußnote). Die Individualität des Gegenübers spielt also keine Rolle. Natur wird ohne kulturelle Überformung gedacht. Die »feine Neigung« hingegen beschränkt die Triebe auf wenige Gegenstände. Eine übertriebene Ausformung dieser Neigung kann nach Kant verhindern, dass die große »Endabsicht der Natur« damit durchaus verfehlt werden kann: Eine allzu distinguierte Person lässt sich selten glücklich machen. Mehr noch kann das Begehrte ein reines Produkt der Gedanken und Fantasie und damit ein Ideal sein, das die Natur ohnehin nur selten oder gar nie hervorbringt (ebd. A 71f). In dieser Passage blitzt damit eine Kulturkritik auf, insofern das allzu Distinguierte

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sich zu weit von der Natur entfernen kann. Andererseits wird das »grobe Begehren« als naturgemäß, aber unkultiviert abgetan. Insgesamt justiert Kant hier seine Position zwischen unkultiviertem und überkultiviertem Begehren – in deren Mitte, die als bürgerliche Gesellschaft erkennbar wird. In diesem gemitteten Bereich analysiert Kant das Gegenverhältnis als wechselseitige Einflussnahme weiter im Detail. Das Frauenzimmer habe ein Gefühl für das Schöne in Bezug auf sich selbst, für das Edle in Bezug auf das männliche Geschlecht. Dasselbe gilt umgekehrt für die Männer. Kant verdeutlicht damit, dass die Zwecke der Natur den Mann noch stärker veredeln und die Frauen verschönern. So differenzieren und verstärken sich die Geschlechtscharaktere. Die Geschlechterdifferenz hat also eine innere Dynamik, deren in sich stützendes und erhaltendes Moment von Kant positiv herausgehoben wird. Die Abgrenzung gegen das allzu spezifizierte und das unspezifizierte Begehren, die beide nicht Thema des Texts sein sollen, ist eine, die im Text dauernd vollzogen werden muss und zugleich den Bereich konturiert und strukturiert, der das eigentliche Thema abgeben soll. Anders gesagt: Die bürgerliche Geschlechterordnung artikuliert sich hier durch eine permanente Abgrenzungsbewegungen hindurch, indem die groben Neigungen als Nicht-Thema abgetan und ausgeschlossen werden, aber zugleich der bürgerlichen Geschlechterordnung ihre grundlegend Struktur gibt: »[...] man mag nun um das Geheimnis so weit herumgehen, als man immer will, die Geschlechterneigung [liegt] doch allen den übrigen Reizen endlich zum Grunde [...].« (Ebd. A 61f) Und etwas später schreibt Kant: »Diese ganze Bezauberung ist im Grunde über den Geschlechtertrieb verbreitet. Die Natur verfolgt ihre große Absicht, und alle Feinigkeiten die sich hinzugesellen [...] entlehnen ihren Reiz doch am Ende aus eben derselben Quelle.« (Ebd. A 64) Die Reize, die noch so moralisch daher kommen mögen, entlehnen ihre Kraft aus dem natürlichen Begehren. Die Dynamik zwischen den Geschlechtern soll der Veredelung der Männer dienen und idealiter bestärken die Frauen diese würdevollen Eigenschaften (vgl. ebd. A 76). Das wäre der positive, wünschenswerte, ideale Effekt. Das Ganze kann fehlschlagen, wie Kant in einer Fußnote (ebd. A 78) verdeutlicht. Folgen die »Triebfedern« dem Winke der Natur, ist es richtig. Zugleich wird, wie ich bereits oben gezeigt habe, die »Geschlechterneigung« als Teil des »derben Geschmacks« ausgeschlossen und nicht als Thema der Beobachtungen aufgenommen. Damit erhält die Geschlechterneigung die Rolle, das heterosexuelle Gegenverhältnis grundsätzlich zu strukturieren und zu leiten. Insofern der grobe Trieb die natürliche Richtung angibt, erhält er zudem die Funktion der Grundlage für eine Kritik an überkultivierten Umgangsformen. ›Abirrungen‹ können vor dem Hintergrund der Absicht der Natur erst als solche benannt und kritisiert werden. Zugleich bleibt dieses Begehren jedoch im Hin-

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tergrund und wird aus dem Themenbereich aktiv ausgeschlossen. Die Annahme der triebhaften Natur in Form des Geschlechtertriebs ist damit zugleich im Konzept eingeschlossen und ausgeschlossen, der pure Trieb wirkt von außen, justiert den kultivierten Trieb und bringt ihn im Idealfall auf den richtigen Pfad. Dieser ausgeschlossene Wegweiser strukturiert somit das ›normale Begehren‹ in seiner inneren Ausgestaltung. Kant beendet den Abschnitt mit Ausführungen zum ehelichen Leben und führt die teilweise überbordende Dynamik zwischen den Geschlechtscharakteren in ein geregeltes Maß zurück: »Indessen bringt es die weise Ordnung der Dinge so mit sich: daß alle diese Feinigkeiten und Zärtlichkeiten der Empfindung nur im Anfange ihre ganze Stärke haben, in der Folge aber durch Gemeinschaft und häusliche Angelegenheiten allmählich stumpfer werden und dann in vertrauliche Liebe ausarten, wo endlich die grosse Kunst darin besteht, noch genugsam Reste von jenen zu erhalten, damit Gleichgültigkeit und Überdruss nicht den ganzen Wert des Vergnügens aufheben, um dessentwillen es einzig und allein verlohnt hat, eine solche Verbindung einzugehen.« (Ebd. A 81)

Die ›wilde‹ Dynamik verliert ihre Stärke, die bürgerliche Ordnung wird durch ein Ehepaar hergestellt, das zusammen als Einheit funktioniert, das dennoch intern hierarchisch strukturiert bleibt: Der Verstand des Mannes und der Geschmack der Frau sollen diese Einheit leiten (vgl. ebd. A 79). Eine Einheit, die wiederum zugleich den Einschluss und Ausschluss der triebhaften Natur mit sich zieht: Ein kleiner Stachel darf bleiben, die Neigung soll erhalten bleiben, doch die fundamentale Gefahr wird durch die Vereinigung gebannt. Der Abschnitt über das Gegenverhältnis der Geschlechter in den Beobachtungen ist also deutlich als bürgerliches, heterosexuelles Modell lesbar, das normative Vorgaben artikuliert, die sich zwischen unkultiviertem Begehren und überkultiviertem Umgang ansiedeln. Das unkultivierte Begehren hat ferner einen geografischen Ort: Kant verschränkt Annahmen über das menschliche Begehren mit eurozentrischen Vorstellungen über die Welt. Besonders deutlich zeigen das die Ausführungen zu den Nationalcharakteren in den Beobachtungen. So teilt Kant zunächst Franzosen, Italiener, Deutsche, Engländer und Spanier in verschiedene Nationalcharaktere ein: jene, die eher ein Gefühl für das Schöne haben, und jene, die eher ein Gefühl des Erhabenen haben. Ob diese Unterschiede zufällig sind, ob sie von Zeitläufen, Regierungsarten oder dem Klima abhängen, all das interessiert ihn nicht (vgl. ebd. Fussnote A 80). Stattdessen fokussiert er auf Künste, Wissenschaft, Religion und Handel. Vor allem wird der Umgang der Völker mit den

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Frauen als Teil der Nationalcharaktere geschildert. Die Franzosen holen sich bspw. am meisten Verdienste, können sie ihren Witz, ihre Artigkeit und gute Manieren doch hier bestens zu Schau stellen (vgl. ebd. A 88f), auch wenn sie etwas vernascht sind (vgl. ebd. A 95). Die Deutschen hingegen verfahren eher methodisch in der Liebe (vgl. ebd. A 90f). Kant beschränkt die Charakterisierungen zunächst auf Europa, weitet sie aber im Verlauf des Texts auf andere Weltteile aus. Sie liefern für ihn jedoch kaum etwas Neues. Überhaupt gibt es außerhalb Europas kein »Geschlechter-Verhältnis« (ebd. A 105), das dem sinnlichen Reiz so viel Moralisches zufügen könnte. Inwiefern außereuropäische Verhältnisse nichts Neues darstellen, wird strukturell anhand einer Analogiebildung deutlich: Die Araber sind die Spanier des Orients, die Perser die Franzosen von Asien, die Japoneser können gut als Engländer ihres Weltteils angesehen werden, sind sie doch genauso standhaft und tapfer (vgl. ebd. A 100f). Allerdings begrenzt Kant die Analogie, sobald er auf Afrika zu sprechen kommt. Die Bewohner_innen dieses Weltteils überwinden das Läppische nicht. Und im Gegensatz zu den Weißen ist dort noch keiner aus dem niedrigsten Pöbel hervorgestiegen – was doch »bei uns« ab und zu geschieht. Sie sind so plauderhaft, dass sie mit Prügel auseinander gejagt werden müssen. Auch halten sie das weibliche Geschlecht in tiefster Sklaverei (vgl. ebd. A 102f) – was kaum erstaunlich ist, denn »so wesentlich ist der Unterschied zwischen diesen zwei Menschengeschlechtern [den Weißen und den Schwarzen], und er scheint eben so gross in Ansehung der Gemütsfähigkeiten, als der Farbe nach zu sein.« (Ebd. A 103) Wenn Kant das Geschlechterverhältnis als Charakterisierungselement von Nationalcharakteren nimmt, etabliert er damit einen sich stützenden Zirkel: Der Grad der Kultivierung bestimmt einerseits das Geschlechterverhältnis, das Geschlechterverhältnis gibt aber zugleich auch Auskunft über den Grad der Zivilisierung. Der im vorherigen Abschnitt beschriebene zugleich ein- und ausgeschlossene derbe Geschmack wird von einer weiteren Ausgrenzung begleitet. Während der Rest der Welt durchaus noch in Bezug auf Europa charakterisiert werden kann, liegt Afrika im Bereich jenseits des kultivierten Geschmacks – sprich: außerhalb der Analogie. Bei Menschen mit ›dunkler Hautfarbe‹ lässt sich kein moralisches Gefühl mehr ausmachen und eine fundamentale Kluft verhindert jeglichen Vergleich mit ›Weißen‹. Das unkultivierte Begehren dient also im Abschnitt über das Geschlechterverhältnis durchaus noch als Orientierungspunkt. Im späteren Abschnitt findet sich dann eine markante Abgrenzung gegenüber afrikanischen Menschen. Ihre Charakterisierung legitimiert ein autoritäres Eingreifen von ›Weißen‹ und damit letztlich auch das koloniale Unterfangen.

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Solche apodiktischen Aussagen über den wesentlichen Unterschied und das Merkmal der Hautfarbe sind keine singulären Äußerungen Kants, wie seine Schriften zur ›Rassen-‹theorie zeigen. Sie setzen sich auf theoretischer Ebene mit ›Menschenrassen‹ auseinander, nehmen jedoch eine andere Perspektive ein und bewegen sich von ästhetischen Betrachtungen weg. Die Schriften sind auch theoretisch komplexer, weil sie sich mit teleologischen Überlegungen verbinden. Bei Kant findet sich nicht nur ein reflexhafter, sondern durchaus ein reflektierter Rassismus, der auch in seinen Auswirkungen auf die Philosophie ernst genommen werden muss.

E NTWICKLUNGEN UND V ERWICKLUNGEN ›R ASSEN -‹B EGRIFFS

DES

Während Kant sich in den Beobachtungen vor allem zu den Nationalcharakteren äußert, befassen sich mehrere spätere Schriften ausführlich mit dem Begriff der »Menschenrasse«.7 In seinem früheren Text hat Kant tatsächlich Beobachtungen notiert und auf dieser Grundlage Geschlecht und Nationalcharakter in ästhetischer und moralischer Hinsicht analysiert. Seine später folgenden Überlegungen zum Begriff der »Rasse« sind einerseits von einem anderen Tonfall geprägt, andererseits diskutiert Kant in diesen Schriften theoretische und methodische Fragen. Den letzten Aspekt stelle ich im Folgenden ins Zentrum und diskutiere drei einschlägige Texte. Meine Lektüre von Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1777), Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse (1785) sowie Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788) konzentriert sich weniger auf die in empirischer Hinsicht lesbaren Behauptungen, sondern auf den darin formulierten expliziten und impliziten theoretischen Anspruch. Das Aufzeigen der Verwicklung der Vernunft mit dem Begriff der ›Menschenrassen‹ hat für eine Kritik an Kant zentrale Bedeutung. Eine Kritik, die sich auf die Diskussion von empirischen Beobachtungen und ihre historischen Verortungen konzentriert, kann die diskursive Verwobenheit Kants in seiner Zeit aufzeigen. Der Fokus auf philosophische Implikationen und von Kant selbst formulierte Ansprüche legen nahe, dass sich die Philosophie um eine weitergehende Diskussion dieser Schriften bemühen sollte. Das wäre ein erster

 7

Nationalcharaktere sowie Völkercharaktere tauchen nach wie vor auf, fungieren nun aber als Unterkategorie von ›Rasse‹. Zudem nimmt Kant in anderen Schriften eine Einteilung der Menschen entlang ihrer Lebensweise (nomadisch oder sesshaft) vor. Vgl. dazu Muthu (2003).

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Schritt und würde die Möglichkeit eröffnen, besonders in der Philosophie einen Umgang mit Aus- und Nachwirkungen von rassistischen und eurozentrischen Momenten zu finden. Kant macht bereits zu Beginn von Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775) klar, dass sich eine mögliche Erkenntnis nicht nach den Gegenständen richten soll und sich Gesetzmäßigkeiten nicht aus der Empirie ableiten lassen. Er beginnt zur Klärung mit einer Unterscheidung in Naturgattung und Schulgattung. Die Schulgattung fasst die Verschiedenheit der Gestalt innerhalb einer Gattung durch Ähnlichkeitsbeziehungen und erschafft dadurch ein Schulsystem für das Gedächtnis.8 Mit der Naturgattung, um die es Kant geht, verteidigt er die Monogenesis: Alle Menschen bilden letztlich eine große Familie, die aus einem Ursprung und nicht aus verschiedenen Lokalschöpfungen hervorgegangen sind. Die Einheit der Gattung ist dabei durch die Einheit der zeugenden Kraft gegeben: »Tiere, die mit einander fruchtbare Jungen erzeugen, (von welcher Verschiedenheit der Gestalt sie auch sein mögen) doch zu einer und derselben physischen Gattung gehören« (Kant 1998 [1777]: A2). Alle Menschen gehören demnach zu einer Naturgattung – was zur Zeit Kants durchaus umstritten war. Der zentrale Gewinn dieser Annahme liegt für Kant in der theoretischen Vereinfachung, weil damit nur ein Schöpfungsakt des Menschen angenommen werden muss: Die Geschöpfe werden unter wenige Gesetze gebracht und so kann ein passendes System für die Vernunft (und nicht für das Gedächtnis) geschaffen werden. Eine Verteidigung seiner Prinzipien findet sich in Von den verschiedenen Rassen (1785). Es ist eine Replik auf Einwände von Georg Forster auf die früheren Ausführungen zu den ›Menschenrassen‹, mit der Kant die Relevanz methodischer Fragen verdeutlicht. Er weist die Frage, wie etwas »anerben« könne, d.h. zu jenen Eigenschaften dazukomme, die sich von Generation zu Generation weitervererben, »das nicht zum Wesen der Gattung gehört«, als »missliches Unternehmen« zurück und ortet in einer solchen Annahme eine dunkle Erkenntnisquelle, in der »die Freiheit der Hypothesen« unzulänglich uneingeschränkt ist. »Ich meines Teils sehe in solchen Fällen nur auf die besondere V e r n u n f t m a x i m e , wovon ein jeder ausgeht, und nach welcher er gemeiniglich auch Facta auszutreiben weiss, die jene begünstigen [...].« (Kant 1998 [1785]: A 399) Kant interessieren die aufgeführten Fakten wenig, die sich immer auffinden lassen.

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Hier lässt sich mit der Ordnung der Dinge von Foucault (1974) argumentieren, dass diese Logik der früheren Episteme angehört, auch wenn sich Foucault nicht explizit auf Kant bezieht. Die Verbindung kann aber über die Einführung in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht hergestellt werden. Vgl. dazu Hemminger (2004).

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Vielmehr ist es das dahinter liegende Prinzip, das Kant verteidigt. Ein Grundsatz ist für ihn leitend: »dass in der ganzen organischen Natur bei allen Veränderungen einzelner Geschöpfe die Spezies derselben sich unverändert erhalten« (ebd. A 401). Damit verankert er die Monogenesis als seine Ausgangslage, d.h. die These, dass alle Menschen zu einer Gattung gehören. Innerhalb dieser Naturgattung gibt es dennoch Differenzen, die von größerem oder minderem Gewicht sind. So gibt es innerhalb einer Tiergattung Vererbungen, die entweder mit der Abkunft einstimmig sind und »Nachartungen« heißen, oder die davon abweichen und deshalb als »Abartungen« (ebd. A 3) bestimmt werden. ›Rassen‹ gehören laut Kant zu den ›Abartungen‹: »Unter den Abartungen, d.i. den erblichen Verschiedenheiten der Tiere, die zu einem einzigen Stamme gehören, heissen diejenigen, welche sich sowohl bei allen Verpflanzungen (Versetzung in andre Landstriche) in langen Zeugungen unter sich beständig erhalten, als auch, in der Vermischung mit andern Abartungen desselbigen Stamms, jederzeit halbschlächtige Junge zeugen, Rassen.« (Ebd.)

Diese Definition von ›Rasse‹ macht deutlich, dass der Begriff dauerhafte Differenzen zwischen Menschen statuiert. Ein zentrales Element darin ist die ›halbschlächtige‹ Vererbung. Sie benennt eine gleichmäßige Vermischung von Merkmalen des Vaters und der Mutter. Das wichtigste Beispiel ist die Hautfarbe: Sie dient Kant über die Jahre dazu, die ›halbschlächtige‹ Vererbung zu plausibilisieren. Hat ein Elternteil eine dunkle Hautfarbe und der andere eine helle, wird der Sprössling immer und notwendig eine braune haben. Die Abgrenzung zwischen jenen Merkmalen, die wesentlich sind für die ›Rassen‹bestimmung und jenen Vererbungen, die nicht zur Charakterisierung von ›Rasse‹ dienen können, verdeutlicht Kant durch die Absetzung von den »Spielarten«. Diese bezeichnen Differenzen, die »auf anderem Boden und bei anderer Nahrung (selbst ohne Veränderung des Klimas) in wenigen Zeugungen verschwindet.« (Ebd. A 4). Hier findet zwar ebenfalls eine Vererbung von Merkmalen statt, dennoch wären sie nicht für die Kennzeichnung von ›Rasse‹ tauglich. ›Rasse‹ ist bei Kant damit ein Begriff9, der manifeste und beständige Differenzen festlegt, ohne dass der übergeordnete Begriff der Gattung durchbrochen

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»Was ist eine Rasse? Das Wort steht gar nicht in einem System der Naturbeschreibung, vermutlich ist also auch das Ding selber nicht überall in der Natur. Allein der Begriff, den dieser Ausdruck bezeichnet, ist doch in der Vernunft eines jeden Beobachters der Natur gar wohl gegründet, der zu einer sich vererbenden Eigentümlichkeit verschiedener vermischt zeugenden Tiere, die nicht in dem Begriffe ihrer Gattung

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wird oder sich in unbedeutenden Differenzierungen verliert. Damit setzt sich ein Spiel in Gang, das eine Festlegung von wichtigen und unwichtigen Differenzen freisetzt und zudem eine Balance zwischen äußerer Einflussnahme und innerer Disposition sucht. Die Konzentration auf die Vererbbarkeit macht das Element der Fortpflanzung zum Dreh- und Angelpunkt. Weil das als begriffliche Etablierung konzipiert ist, steht umgekehrt mit der Vorstellung von unkontrollierter Einflussnahme auf Körper auch die Grenze der Vernunft auf dem Spiel. Eine Passage aus Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse (1785) verdeutlicht das. Ich zitiere sie im Folgenden ausführlich. Kant beginnt den Abschnitt mit ein paar Beispielen von Einflussnahmen, die er als unmöglich zurückweist: »[D]as Anerben durch die Wirkung der Einbildungskraft schwangerer Frauen oder auch wohl der Stuten in Marställen; das Ausrupfen des Barts ganzer Völkerschaften, so wie das Stutzen der Schwänze an englischen Pferden, wodurch die Natur genötigt werde, aus ihren Zeugungen ein Produkt, worauf sie uranfänglich organisiert war, nach gerade weg zu lassen; die geplätschten Nasen, welche, anfänglich von Eltern an neugebornen Kindern gekünstelt, in der Folge von der Natur in ihre zeugende Kraft aufgenommen wären [...]« (Kant 1998 [1785]: A 400)

Kant hat die Beispiele nicht frei erfunden; andere brachten sie in die zeitgenössische Diskussion ein. Das Problem für Kant besteht jedoch darin, dass hier aus gegebenen Erscheinungen Mutmaßungen abgleitet werden und nicht »besondere erste Naturkräfte oder anerschaffene Anlagen« (ebd.) angenommen werden. Er betont, sich an die Maxime zu halten, so wenige Prinzipien wie möglich anzunehmen und daraus möglichst viel erklären zu können. Das angewandte Prinzip lautet: »dass in der ganzen organischen Natur bei allen Veränderungen einzelner Geschöpfe die Spezies derselben sich unverändert erhalten«. Und weiter: »Nun ist es klar: daß, wenn der Zauberkraft der Einbildung, oder der Künstelei der Menschen an tierischen Körpern ein Vermögen zugestanden würde, die Zeugungskraft selbst abzuändern, das uranfängliche Modell der Natur umzuformen, oder durch Zusätze zu verunstalten, die gleichwohl nachher beharrlich in den folgenden Zeugungen aufbehalten würden: man gar nicht mehr wissen würde, von welchem Originale die Natur ausgegangen sei, oder wie weit es mit der Abänderung desselben gehen könne, und, da der Men-

 liegt, eine Gemeinschaft der Ursache, und zwar einer in dem Stamme der Gattung selbst ursprünglich gelegenen Ursache, denkt.« (Kant 1998 [1788]: A 43-45)

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schen Einbildung keine Grenzen erkennt, in welche Fratzengestalt die Gattungen und Arten zuletzt noch verwildern dürften.« (Ebd. A 400f)

Der Abgrund einer ungeregelten, generationenübergreifenden Transformation einer Gattung kulminiert in »Fratzengestalten« und »Verwilderung der Art« und nur der Bezug auf ein Original der Natur und die Annahme einer regelgeleiteten Verlaufsform einer Gattung kann die Menschheit hier schützen. »Dieser Erwägung gemäß nehme ich es mir zum Grundsatze, gar keinen in das Zeugungsgeschäft der Natur pfuschenden Einfluß der Einbildungskraft gelten zu lassen, und kein Vermögen der Menschen, durch äußere Künstelei Abänderungen in dem alten Original der Gattungen oder Arten zu bewirken, solche in die Zeugungskraft zu bringen, und erblich zu machen. Denn, lasse ich auch nur einen Fall dieser Art zu, so ist es, als ob ich auch nur eine einzige Gespenstergeschichte oder Zauberei einräumte. Die Schranken der Vernunft sind dann einmal durchbrochen, und der Wahn drängt sich bei Tausenden durch dieselbe Lücke durch.« (Ebd. A 400ff)

Das Zitat imaginiert den Verlust der Autorität der Vernunft. Die Einbildungskraft oder auch rituelle Handlungen dürfen keinen Einfluss auf die Gattungen von Tieren oder auch Menschen nehmen, ohne dass zugleich die Grenze der Vernunft infrage gestellt wird. Die Vernunftgrenze wird von Kant vehement verteidigt. Die drohende »Verwilderung« der Gattung geht einher mit den Abgründen von Wahnvorstellungen und Fantasien, die es strikt abzulehnen gilt. Kant etabliert in seinen Texten das Gesetz der »notwendig halbschlächtigen Zeugung« (ebd. A 398) ebenso wie die Autorität der Vernunft und vollzieht eine Grenzsetzung zwischen möglichen und unmöglichen Phänomenen. Ist die Autorität der Vernunft gefestigt, hofft Kant auf ihrer Grundlage die Frage zu klären, welche Differenzen sich innerhalb der Gattung als ›Rassendifferenzen‹ ausmachen lassen. Die wechselnden Kategorisierungen und Hierarchisierungen, die Kant im Laufe der Jahre in seinen Texten zu den ›Menschenrassen‹ vornimmt, weisen darauf hin, dass er selbst mit keiner seiner Antworten zufrieden war. Worauf Kant jedoch insistiert, ist die Unterscheidung von ›rassischen‹ Differenzen und ›Spielarten‹. Er führt ein Gedankenexperiment an, das sich auf zeitgenössische, koloniale Beobachtungen stützt. Das wesentliche Moment zur Scheidung zwischen beständigeren und unbeständigeren Differenzen ist neben dem Prinzip der ›halbschlächtigen‹ Vererbung die »Verpflanzung in andere Landstriche« (Kant 1998 [1777]: A 3). Weil mechanische Erklärungen für Kant nicht ausreichen, um menschliche physiologische Differenzen zu erklären, setzt er natürliche Anlagen voraus. Sie sind einem organischen Körper eigen

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und entwickeln sich je nach äußeren Bedingungen unterschiedlich. Klimatische Bedingungen können einer »zeugenden Kraft« nichts hinzufügen – damit wäre die Einheit der Gattung in Gefahr. Sie können aber durchaus die »Auswicklung« von bestehenden »Anlagen und Keimen« provozieren (Kant 1998 [1777]: B 139-B 160). Kant geht davon aus, dass der Mensch für alle Klimata und für jede Beschaffenheit des Bodens bestimmt war und sieht die menschlichen Anlagen als materielle Umsetzung dieser Bestimmung. Bestimmte Einflüsse wie Luft und Sonne können ihre Entwicklung provozieren, die danach weitervererbt werden. Nahrung hingegen kann diesen Effekt nicht haben (ebd. A8). Kant kann so ein Modell entwickeln, das einerseits bestimmte äußere Einflüsse aufnehmen kann und Differenzen zwischen Menschen zu erklären vermag, andererseits den physiologischen Entwicklungen Grenzen setzt. Das Modell impliziert zudem, dass die verschiedenen ›Rassen‹ als Effekte ihrer Umgebung gefasst werden. Kants Einteilung der Menschen in ›Rassen‹ zeigt auf, dass darin wiederum eine Varianz möglich ist: Während einige ›Rassen‹ ihre Merkmale vollständig entwickelt haben, gibt es andere, die sich noch sich im Prozess der Anpassung befinden. Die Anpassung der Menschen an »extreme Klimata« geschieht über Generationen hinweg. Haben sich die »Keime und Anlagen« einmal ›ausgewickelt‹, bleiben sie persistent erhalten, auch wenn sich die Menschen nun in einer klimatisch ›milderen‹ Gegend niederlassen. Eine Ergänzung in der Ausgabe B verdeutlicht das: Hat sich eine spezifische ›Auswicklung‹ von Anlagen ›eingeartet‹, ist sie nicht mehr veränderbar, auch wenn sich die Menschen in eine andere Klimazone begeben. Einige zeitgenössische ›Rassen‹ fasst Kant als »noch nicht vollständig eingeartet« – was Kant in diesem Text besonders in Bezug auf die Amerikaner verdeutlicht (ebd. A 9f). Ihre physiologische Erscheinung entspricht so nicht vollständig dem Klima, in dem sie leben. Damit werden in temporaler Hinsicht verschiedene ›Rassen‹ im Entwicklungsstadium unterschiedlich eingestuft.10 Die Diskussion der ›Menschenrassen‹ verdeutlicht: Lebende Körper unterliegen nicht nur physikalischen Gesetzen, die nach Ursache und Wirkung funktionieren, sie haben auch eine Zweckbestimmung, die berechtigterweise angenommen werden darf – gerade dieses Anliegen verfolgt Kant in seinen Überlegungen zu den ›Menschenrassen‹, noch bevor er in der Kritik der Urteilskraft zu einem späteren Zeitpunkt und ohne direkten Bezug auf ›Menschenrassen‹ das teleologische Denken ausführlich erörtert. Dieser Zweck ist letztlich durch die reine praktische Vernunft bestimmt und die Annahme von Naturanlagen und Keimen, die sich historisch ›auswickeln‹, sind die konkrete Anwendung dieses Denkens. Im Gegensatz zu den vernunftlosen Tieren, deren Existenz bloß als

 10 Vgl. dazu auch Fabian (1983).

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Mittel zum Zweck einen Wert haben, gibt es bei den Menschen eine größere Einhelligkeit der Zwecke und jene, die notwendig »anarten«, sind lediglich nützlich für die Erhaltung der Spezies in unterschiedlichen Klimata (Kant 1998 [1788]: A 106). Am Schnittpunkt zwischen mechanischen, d.h. theoretischen Erklärungen, die auf Ursache und Wirkung fokussieren, und teleologischem Denken, das nach dem Zweck von unterschiedlichen ›Auswicklungen‹ fragt, liegt der Begriff der ›Rasse‹ und artikuliert damit eine Körperlichkeit, die einerseits der klassischen Mechanik unterliegt, sich aber durch die organische Ausgestaltung davon auch unterscheidet. Der lebende Körper bildet sich als Physis11 heraus, wird als in sich geschlossenes System verstanden, dessen Teile aufeinander bezogen sind und das auch in naturhistorischer Sicht transformierbar ist, jedoch nur in einem begrenzten Maße und ausgerichtet auf den übergeordneten Zweck. Die Begrenzung der Transformation liegt im Begriff des Menschen. Die Gattungszuordnung darf nicht durch historische oder potentielle zukünftige Veränderungen überschritten werden. Die theoretischen Überlegungen scheinen auf den ersten Blick die moralische Dimension, die in den Beobachtungen deutlicher formuliert wurde, zu verabschieden. Dennoch sind die ›rassen‹theoretischen Texte durchzogen von einer normativen Ebene, die sich nicht auf biologische Unterschiedlichkeiten beschränken, sondern Verhaltensweisen daraus ableiten (vgl. Larrimore 1999). So nimmt Kant deutlich abwertende Zuschreibungen vor: »aber es gebricht den Eingebornen dieses Weltteils überhaupt an Vermögen und Dauerhaftigkeit.« (Kant 1998 [1777]: Fussnote A 10) »[...] und kurz, es entspringt der Neger, der seinem Klima wohl angemessen, nämlich stark, fleischig, gelenk, aber unter der reichlichen Versorgung seines Mutterlandes faul, weichlich und tändelnd ist.« (Ebd. B 151f) Weil sich auch in den theoretischen Reflexionen normative und extrem abwertende Formulierungen finden, lässt sich eine strikte Trennung der kantischen Schriften in moralische Überlegungen und rein (›rassen‹-)theoretische Annahmen nicht rechtfertigen. Neben der abwertenden Beschreibung nicht-europäischer Menschen birgt Kants Theorie einen weiteren hierarchisierenden Aspekt. Die Annahme der Einheit der Gattung verleitet Kant auch zur Überlegung, dass es einen Ursprungsort und eine ursprüngliche Form der Menschen geben muss. Kant merkt in der Fußnote seines ersten Texts an, dass jene ›Rasse‹, die am meisten Ähnlichkeit mit dem ersten Menschenstamm hat, die »Weisse Rasse« sein muss (welche auch nordafrikanische und asiatische Menschen umfasst) (ebd. A 12). Sie kann sich in alle Himmelstriche »einarten«, liegt sie schließlich in der Mitte

 11 Vgl. dazu auch Foucault (1974: 279-287).

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– zwischen den äußersten Grenzen der Zustände (ebd. B 158f). In Bestimmungen des Begriffs einer Menschenrasse (1785) verdeutlicht Kant nochmals, dass es der Annahme eines einzigen, ersten Stamms bedarf, der alle Anlagen zu den Verschiedenheiten in sich hatte, um vererbbare Unterschiede in einer Gattung erklären zu können. Er setzt hier aber die Weißen nicht mehr als direkte Abkömmlinge dieser ›Stammrasse‹ ein (Kant 1998 [1785]: A 403f). Genauso ändert sich in den Schriften die konkrete Klassifikation der ›Menschenrassen‹, auch wenn Kant die nominelle Zahl stets beibehält.12 Wie auch in der Forschungsliteratur festgestellt wurde, präsentiert Kant in seinen Diskussionen zur Bestimmung von den einzelnen ›Menschenrassen‹ variierende und teilweise widersprüchliche Ergebnisse. Doch das Kriterium der Hautfarbe gewinnt in der Diskussion zunehmend an Bedeutung und fungiert in Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse als zentrales Kriterium. Auch dieses Kriterium bedarf nach Kant allerdings einer genaueren Analyse, kann sich die Hautfarbe ja auch kurzfristig durch stärkere Exposition an der Sonne verändern, ohne dabei eine Bedeutung für die vererbbaren Anlagen zu bekommen. Um beurteilen zu können, ob die Hautfarbe zu einem Klassenunterschiede berechtigt, muss man dies am richtigen Ort vornehmen: »In Frankreich [könne man] von der Farbe der Neger […] weit richtiger urteilen, als in dem Vaterlande der Schwarzen selbst.« (Ebd. A 392) Denn in Frankreich fallen nach Kant jene besonderen Einflüsse weg, die die Haut verändert haben, und wenn sich die ›Dunkelheit der Haut‹ ohne die äußeren Einflüsse dennoch fortpflanzt, dann eignet sie sich zu einem Klassenunterschiede – denn so sieht man erst jene ›Schwärze‹, die von Geburt an da ist. Und es ist diese ›Schwärze‹, die als Aporie im Text von 1777 wie auch im späteren Text von 1788 auftaucht: »Die Ursache, Neger und Weiße für Grundrassen anzunehmen, ist für sich selbst klar.« (Kant 1998 [1777]: A 6). Und in einem späteren Text wiederholt Kant: »Herr F. ist darin mit mir einstimmig, daß er wenigstens e i n e erbliche Eigentümlichkeit unter den verschiedenen Menschengestalten, nämlich die der N e g e r und der übrigen Menschen, groß genug findet, um sie nicht für bloßes Naturspiel und Wirkung zufälliger Eindrücke zu halten, sondern dazu ursprünglich dem Stamme einverleibte Anlagen, und spezifische Natureinrichtung fordert.« (Kant 1998 [1788]: A 107)

 12 Lagier deutet darauf hin, dass sich Kant hier an die Temperamentenlehre anlehnt. Einteilungen, die auf empirische Beobachtungen stützen, sind dabei als Symptome zu sehen (Lagier 2004: 115).

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Dieses wiederholt artikulierte Postulat deutet auf die den theoretischen Erörterungen zugrunde liegende Notwendigkeit hin, beständigere Differenzen zwischen Menschen anzunehmen. Die normative Ebene umfasst damit einerseits Veranderungsprozesse, die Kant in seiner Erörterung zur ›Rassen-‹theorie explizit vornimmt, andererseits aber auch die Annahme, dass der Ursprung der Menschen in Europa liegt. Zudem wird in der Frage, an welchem Ort das richtige Urteil gefällt werden kann, eine epistemologische Arbeitsteilung vorgenommen: Erfahrungen sollen in allen Teilen der Welt gesammelt werden, in Königsberg machen Kants Publikationen klar, wie man bei empirischen Beobachtungen methodisch korrekt vorgehen soll.13 Die Erörterungen verfolgen das Ziel, Regeln für die Einordnung künftiger Erfahrungen festzusetzen und sind u.a. als Vorlesungen vorgetragen worden (vgl. Kant 1998 [1777]: A 12, Fußnote). Gerade die fortdauernde Diskussion, die Art der Thematisierung wie auch der Kontext legen nahe, die ›rassen-‹theoretischen Erörterungen als performativen Akt zu verstehen. Eine Äußerung, die performativ ist, stellt im Akt des Äußerns eine (neue) Realität her (vgl. Austin 1972, Butler 1991). Die wissenschaftliche Diskussion in der Aufklärungszeit bemüht sich darum, ›Rassendistinktionen‹ festzulegen und wissenschaftlich zu etablieren.14 Das wird u.a. durch die Theoretisierung selbst vollzogen. Ferner hat Kant seine Überlegungen als Vorlesungen gelehrt und damit den Studierenden als künftige Weltreisende ein Schema mitgegeben, das eine klare Hierarchie zwischen den einzelnen ›Menschenrassen‹ voraussetzte. Es macht den performativen Aspekt besonders einsichtig. Auf einer grundsätzlicheren Ebene ermöglicht diese Perspektive, dass Kants Erörterungen nicht als deskriptive Äußerungen gelesen werden, die eine Abbildung der Welt vornehmen – eine Sichtweise, die Kant selber zurückweist. Stattdessen lokalisiert er die Statuierung von zwischenmenschlichen fundamentalen Differenzen gerade im Bereich der Vernunft. Kant diskutiert den Begriff der ›Menschen‹, der, einmal etabliert, konstitutiv für die Wahrnehmung anderer Menschen ist. Es geht ihm folglich nicht um Aussagen darüber, wie andere Menschen sind, sondern wie sie gesehen und verstanden werden müssen. Und dies enthält einen performative Wirkungsmacht, indem die geäußerte Realität

 13 Die methodische Absicht verdeutlicht Kant in Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien (1788) nochmals, was ich im letzten Abschnitt zur Anthropologie erneut aufgreife. 14 Bernasconi (2001) zeigt auf, inwiefern Kant einen zentralen Beitrag zur Etablierung des Begriffs ›Rasse‹ geliefert hat, indem er dem Begriff eine hohe Definitionskraft gegeben hat.

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hergestellt wird. Eine Kritik an Kant läuft also fehl, wenn sie seine Äußerungen auf ontologische Behauptungen verkürzt. Stattdessen muss eine Kritik auch das kritische Denken Kants berücksichtigen – und sich damit in Ambivalenzen begeben, die ich im nächsten Abschnitt weiter auslote. Dabei gibt es verschiedene Herangehensweisen, wie Ambivalenzen aufgedeckt werden können. Pauline Kleingeld (2007) argumentiert, dass Kant seine hierarchischen Thesen zu den ›Menschenrassen‹ in den 1790er Jahren revidiert habe. Sie bezieht sich besonders auf die Schriften zum kosmopolitischen Recht (d.h. auf Metaphysik der Sitten und Zum Ewigen Frieden). Laut Kleingeld hat Kant in den Schriften Ungerechtigkeiten anklagt, die durch das europäische koloniale Unternehmen ausgeübt wurden und die Sklaverei kritisiert (vgl. auch Muthu 2003). Kleingeld macht jedoch eine Wende in den publizierten Schriften ab den 1790er Jahren fest und konstatiert, dass Kant dort keine rassischen Hierarchien mehr erwähnt. Im Gegenteil würden Zum ewigen Frieden und die Metaphysik der Sitten eine egalitärere Sicht auf ›Rassen‹ entwickeln und allen ›Nicht-Weißen‹ einen vollen juridischen Status zusprechen. Er deklariere die koloniale Eroberung und Aneignung von fremdem Land und fordere ein Vorgehen, das eine gegenseitige Vertragsschließung vorsehe und damit das Unwissen anderer nicht ausnutzen solle. Kant erachte damit offensichtlich auch asiatische, afrikanische und amerikanische Völker als fähig, einen Vertrag zu unterzeichnen (vgl. Kleingeld 2007: 586f). Zudem weist Kleingeld darauf hin, dass sich Kant eindeutig gegen Sklaverei ausspricht und sich mit den kosmopolitischen Überlegungen eine Welt vorstellt, in der Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe und aus verschiedenen Kontinenten eine friedvolle Beziehung miteinander aufbauen könnten (Kleingeld 2007: 589). Diese Einwände sind wichtig um die Verbindung zwischen den ›Rassen‹schriften und moralischen sowie politischen Fragen zu diskutieren. Kleingeld fokussiert jedoch auf die Hierarchisierung von ›Rassen‹ und stuft sie als problematisch ein. Damit ortet sie das eigentlich Problematische nicht in der Einteilung der Menschen in unterschiedliche ›Rassen‹, sondern lediglich in ihrer Verbindung mit moralischen und/oder intellektuellen Fähigkeiten – nur auf dieser Grundlage erscheint es mir sinnvoll, dass sie von »second thoughts« und somit einer Revision spricht, die Kant ab den 1790er Jahren vorgenommen hätte. Wie bereits hergeleitet, schlage ich demgegenüber eine Lektüre vor, die die detaillierte wissenschaftliche Diskussion in der Aufklärungszeit als performativen Akt interpretiert, in dem auf einer wissenschaftlichen Grundlage fundamentale Differenzen zwischen Menschen durch den Begriff der ›Rasse‹ etabliert werden. Die Differenzsetzung ist selbst Teil des problematischen Aspekts. Kant ist eine Stimme, die einerseits etliche Elemente des Diskurses aufgreift, wieder-

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holt und diskutiert, die andererseits eine eigene Position entwickelt und zur wissenschaftlichen Etablierung des Begriffs ›Rasse‹ wesentlich beiträgt. Mit dem letzten Abschnitt möchte ich deshalb auf einem anderen Wege auf Ambivalenzen in Kants Denken hinweisen. Der Fokus auf die kosmopolitischen und moralphilosophischen Schriften soll keine Stellen ins Zentrum rücken, die als Gegenargumente geltend gemacht werden können. Stattdessen stellt sich die Frage ob Kant auf der Grundlage seiner kritischen Philosophie eine anthropologische Perspektive entwickelt hat, die sich nicht auf einem essenzialisierenden Terrain bewegt, wie das die nachfolgenden Anthropologien tun. Foucaults Diskussion der kantischen Anthropologie in pragmatischer Hinsicht postuliert diese These. Mit seiner detaillierten Studie findet eine Bestimmung der Ebene statt, auf der die Aussagen wie die über Geschlecht und ›Rasse‹ beruhen. Foucaults Ansatz ist vor allem interessant, weil er Kants Anthropologie in Bezug auf seine kritische Philosophie diskutiert. Mit seiner Interpretation schält sich eine zutiefst ambivalente Lektüre heraus, weil der Text zugleich wiederum rassistische und sexistische Annahmen artikuliert, aber gleichzeitig auch eine Perspektive kenntlich macht, die als eine Grundlage für eine Kritik an solchen Annahmen dienen kann.

K RITIK

UND

A NTHROPOLOGIE

Die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist zwar 1798 publiziert worden und fällt damit in die Zeit, in welcher Kleingeld eine Revision von Kant in Bezug auf seine ›Rassen‹theorie lokalisiert. Die Entstehung dieses Buches lässt sich aber nicht auf dieses Jahr fixieren. Kant hat die Anthropologievorlesung ab den 1770er Jahren über Jahrzehnte hinweg vorgetragen. Wann er welche Passagen wie bearbeitet hat, lässt sich auch nach einer detaillierten Analyse, wie sie Foucault vornimmt, nur grob vermuten. Es ist ein Text, der, wie Foucault in seiner Einführung in Kants Anthropologie aufzeigt, jedoch durchaus als kritischer Text gelesen werden kann. Das Thema der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht beschreibt Kant in seiner Vorrede wie folgt: Sie handelt davon, was der Mensch, als frei handelndes Wesen, aus sich macht, machen kann oder soll. Die anthropologische Perspektive ist keine rein physiologische Beschreibung des Menschen, die erfassen würde, was die Natur aus dem Menschen gemacht hat. Stattdessen muss eine pragmatische Anthropologie Kenntnisse und Geschicklichkeiten der Menschen und besonders ihre Anwendung auf den Menschen selbst in den Blick nehmen. Die

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Kultur und der Fortschritt der Menschen in der Kultur stehen damit im Mittelpunkt der Schrift. Diesen Aspekt des Pragmatischen lotet Foucault in seiner Lektüre voll aus. Er spricht der Anthropologie einen eigenen epistemischen Bereich zu, der auf der kritischen Einsicht insofern implizit aufbaut, als dass sie die Struktur (also die Einteilung in die Kapitel) von der Kritik der reinen Vernunft übernimmt und damit den Erkenntnisprozess anleitet. Insofern es sich bei der anthropologischen Erkenntnis um eine Selbsterkenntnis handelt, werden Subjekt und Objekt dieses Erkenntnisprozesses gleichzeitig verhandelt.15 Foucault argumentiert, dass dadurch die Anthropologie letztlich die Kritik der reinen Vernunft übersteigt und diese auf einer anderen Ebene reflektiert, sie aber zugleich auch verschiebt: Die Grundfrage der Anthropologie dreht sich nicht um das Apriori der Erkenntnis, sondern um das Apriori der Existenz, welche den Erkenntnisprozess umfasst. Im Tun der Menschen vermengt sich die Notwendigkeit (aus der Vernunft abgeleitete Gesetze) damit, aus Freiheit heraus handeln zu können. »Der Mensch ist in der Anthropologie weder homo natura noch reines Subjekt der Freiheit, er wird in den bereits vollzogenen Synthesen seiner Verbindung mit der Welt erfasst.« (Foucault 2010: 48f) Für die Reflexion des Erkenntnisprozesses bedeutet das, dass das Objekt der Erkenntnis nicht von einer originären Passivität geprägt ist und im Gegensatz zur spontanen Vernunft steht. In diesem Punkt unterscheidet sich die Anthropologie von der Kritik der reinen Vernunft, die bei den erkennbaren Gegenständen von einer originären Passivität ausgegangen ist. Da das Objekt der Anthropologie der aus Freiheit handelnde Mensch ist, gilt diese PassivitätsAnnahme nun nicht mehr. Stattdessen findet sich in der menschlichen Existenz die Korrelation von Passivität und Spontaneität. Die Anthropologie nimmt jedoch nicht nur den Menschen als Teil der Welt in den Blick. Kant postuliert auch eine Gleichsetzung von Menschenkenntnis mit Weltkenntnis. 16 Diese etwas kryptische Anmerkung interpretiert Foucault so, dass die Kenntnis der Welt als vom Menschen erkannte erst mit Hilfe einer Reflexion über den Menschen erkannt werden kann. Die Welt ist nicht einfach

 15 Vgl. Kant (1998 [1798]: BA IX-X). 16 »Alle Fortschritte in der Kultur, wodurch der Mensch seine Schule macht, haben das Ziel, diese erworbenen Kenntnisse und Geschicklichkeiten zum Gebrauch für die Welt anzuwenden; aber der wichtigste Gegenstand in derselben, auf den er jene verwenden kann, ist der M e n s c h : weil er sein eigener letzter Zweck ist. – Ihn also, seiner Spezies nach, als mit Vernunft begabtes Erdwesen zu erkennen, verdient besonders, W e l t k e n n t n i s genannt zu werden; ob er gleich nur einen Teil der Erdgeschöpfe ausmacht.« (Kant 1998 [1798]: BA III-IV)

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eine Quelle für ein sinnliches Vermögen, auch nicht einfach ein Umfang für einen synthetischen Verstand oder eine Grenze für den Gebrauch von Ideen – stattdessen wird sie in einem grundlegenden Sinne als kosmopolitisch gefasst. Die Perspektive der Anthropologie unterscheidet sich damit von der Perspektive der oben referierten ›Rassen‹schriften, die sich explizit als kosmologisch verstehen und damit den Menschen als Teil der Natur erfassen (vgl. Kant 1998 [1777]: B 156, Fußnote). In kosmopolitischer Perspektive wird die Natur hingegen als bereits bewohnbare Form der Erde gefasst. Die Welt ist eine zu errichtende Stadt und kein gegebener und der menschlichen Existenz äußerlicher Kosmos. Die Existenz ist ferner eine gewordene, die aber den Rahmen der Möglichkeit von Erkenntnis nicht überschreiten kann: Sie hält sich an die Schranken des Wissbaren. Zugleich – und das macht die Einleitung Kants in der Anthropologie deutlich – ist diese Existenz normativ durchdrungen. Es geht gleichzeitig darum, was der Mensch machen soll und kann. Dadurch formuliert sich in der Anthropologie einerseits einen normativen Anspruch, andererseits widmet sie sich auch der ausführlichen Darlegung des Normalen und Abnormalen. Foucault argumentiert, dass anthropologische Erörterungen keine Grundlage bilden, dessen Menschenbild die kritische Philosophie organisiert, befehligt, geleitet oder orientiert hat (vgl. Foucault 2010: 15). Inhaltlich ließe sich dieser Verdacht durchaus stützen, übernehmen doch einige Passagen der Anthropologie Einsichten aus präkritischen Texten wie den Beobachtungen. Andererseits stellt sich die Frage, ob die Anthropologie einen homo criticus beschreibt und sich die kantischen Einsichten über die Menschen mit der Erarbeitung der kritischen Philosophie verändert haben. Gibt es eine Art kritische Wahrheit der menschlichen Existenz als Tochter der Kritik der Wahrheitsbedingungen? Foucaults Antwort: Diese Schrift ist einerseits eine anthropologico-kritische Wiederholung, die nichts anderes sagt, als was die Kritik bereits formuliert hat. Die Anthropologie deckt genau diesen Bereich des kritischen Unternehmens ab und richtet sich nach der Quelle, dem Umfang und der Grenze aus, die durch die Vernunftkritik gesteckt wurden. Sie geht aber zugleich darüber hinaus, indem sie eine Korrelation von Passivität-Spontaneität, transzendentale Korrelation von Notwendigkeit und Freiheit und Vernunft-Geist darstellt. Damit liquidiert die Anthropologie die Kritik letztlich auch. Sie fasst den Menschen nicht als Synthese, wie dies die Kritik vorschlägt, und auch nicht als reines Objekt. Sondern sie fasst ihn als empirische und manifeste Form, in der die synthetische Aktivität des Ich als bereits synthetisierte Figur erscheint. Sie bietet sich damit als irreduziblen Grund des Denkens an. Es geht in der anthropologischen Perspektive nicht um ein Apriori des Denkens, sondern um ein Apriori der Existenz. Die

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Zerstreuung des Gegebenen ist in der Anthropologie immer schon reduziert und durch eine Vielzahl von Synthesen beherrscht (vgl. ebd. 59f). Solche Synthesen finden sich in den »phänomenalen Ganzheiten«, die im zweiten Teil der Anthropologie, der Charakteristik, verhandelt werden – den Körper, das Paar, die ›Rasse‹, die Spezie. Sie sind nicht ein für allemal gegeben und in sich abgeschlossen, sondern verzichten auf die scheinbar unbewegliche Wahrheit der Erscheinung (vgl. ebd. 66). Denn die Anthropologie erforscht eine sich niemals darbietende Totalität, die von einer Bewegung ergriffen ist, bei der Natur und Freiheit in den Gebrauch, in das Pragmatische, eingepasst sind – das, was der Mensch aus sich machen kann. Kants Schrift deckt damit einen Bereich ab, der eine Verbindung zwischen dem Können und dem Sollen herstellt (vgl. ebd. 46). Die Bewegung, von der die Synthesen betroffen sind, konkretisiert Foucault als Bedrohung, als eine Gefahr der inneren Aushöhlung, des In-sichZusammensackens: Die Anthropologie ist ein Inventar dessen, was es an Nichtfundiertem im Bedingten geben mag (vgl. ebd. 63). Foucault arbeitet so heraus, dass es kein Wissen über Menschen gibt, das eine ewige, endgültige Wahrheit darstellen könnte (vgl. Hemminger 2004: 63). Das Transzendentale Kants wird hier durch das Historische ersetzt – eine wichtige Erkenntnis für Foucault, der auf dieser Grundlage sein historisches Apriori entwickelt und eine neue, ›wahre‹ Kritik einfordert und in der Folge eine »kritische Geschichte des Denkens« ausarbeitet (Hemminger 2004: 62). Anhand der Charakterisierung von Geschlecht in der Anthropologie verdeutliche ich Foucaults komplexe Interpretation. Kant skizziert dort die »Geschlechtsgemeinschaft in einer häuslichen Verbindung«. Sie erhalte dauerhaften Charakter, indem ein Teil dem jeweils anderen wechselseitig unterworfen werde. Es bedürfe einer wechselseitigen Überlegenheit, damit ein Fortgang in der Kultur möglich sei (vgl. Kant 1998 [1798]: A 284f). Im noch unzivilisierten Zustande hingegen wäre die Überlegenheit durch die rein physische Komponente nur auf Seiten des Mannes gegeben. Zudem: »Im rohen Naturzustande kann man sie [die weiblichen Eigentümlichkeit] eben so wenig erkennen, als die der Holzäpfel und Holzbirnen, deren Mannigfaltigkeit sich nur durch Pfropfen und Inokulieren entdeckt, denn die Kultur bringt diese weiblichen Beschaffenheiten nicht hinein, sondern veranlasst sie nur, sich zu entwickeln, und unter begünstigenden Umständen kennbar zu werden.« (Ebd. A 285)

Und weiter:

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»Das Weib ist da [im rohen Naturzustande] ein Haustier. Der Mann geht mit Waffen in der Hand voran, und das Weib folgt ihm mit dem Gepäck des Hausrats beladen.« (Ebd. A 286)

Während sich die Beobachtungen ausschließlich und ausschließend um das kultivierte Geschlechterverhältnis drehen und den kultivierten Umgang in ›entwickelten Kulturen‹ skizzieren, wird in der Anthropologie die Abgrenzung gegenüber einem Naturzustand expliziert. Die Differenziertheit von Geschlechtscharakteren erscheinen explizit als kulturelle Errungenschaft. Das Verhältnis im bürgerlichen Zustande bedeutet bei Kant: kein vorehelicher Sex für Frauen, Monogamie in der Ehe und Galanterie im Umgang der Eheleute miteinander (vgl. ebd. A 286f). Um das weibliche Geschlecht richtig charakterisieren zu können, müsse man sich vergegenwärtigen, welche Zwecke der Natur bei der Einrichtung der Weiblichkeit wirkmächtig waren. Für Kant sind das vor allem zwei: »Sie sind 1. die Erhaltung der Art, 2. die Kultur der Gesellschaft und Verfeinerung derselben durch die Weiblichkeit.« (Ebd. A 289) Deutlich wird hier, dass das teleologische Denken, das Kant anhand seiner Reflexion über ›Rassen‹ entwickelt und verteidigt hat, nun auch für die Ausbildung von Geschlechtscharakteren zum Tragen kommt. Der Charakter der Weiblichkeit ist in anthropologischer Hinsicht doppelt verankert: einerseits in der Natur, insofern der Fortbestand der Menschen in Kants Augen vor allem von ihr abhängt; andererseits im sozialen Umgang der Menschen, denn er ist maßgeblich durch ihr Handeln geprägt. Als Anregung zur ›Auswicklung‹ der Zwecke fungiert jedoch nicht das Klima, wie im Fall der ›Rassen‹diskussion, sondern die Kultur. Dennoch situiert sich der Geschlechtscharakter an der Schnittstelle von Natur und Kultur. Konkret wird das Geschlecht kulturalisiert und eine intrinsische Verknüpfung etabliert. Die Balance und das wechselseitige, gleichgestellte Verhältnis zwischen Mann und Frau, das bei Kant in Bezug auf den bürgerlichen Zustand anklingt17, sind einerseits kritisch zu betrachten, weil durch eine juristische Gleichstellung klare normative Vorstellungen von Geschlechterrollen nicht durchbrochen werden.18 Wichtiger für diesen Zusammenhang ist jedoch, dass das egalitärere Geschlechterverhältnis in Abgrenzung zu einer »rohen Verfassung« der Menschheit formuliert wird. Kant zieht in der Anthropologie die pragmatische Folgerung, dass »[d]as weibliche Geschlecht [...] sich im Praktischen selbst ausbilden und disziplinieren

 17 Vgl. dazu Kant (1998 [1785/86]: AB 105-111). 18 Die These gilt es weiter zu diskutieren, was aber im Rahmen des Beitrags nicht möglich ist.

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[muss]; das männliche versteht sich darauf nicht.« (Ebd. A 293) Er bringt die individuelle Handlungsanweisung mit der naturhistorischen Menschheitsentwicklung zusammen. Letzte wird nicht mehr als rein äußerlicher Einfluss gefasst, sondern als Vermischung einer durch das menschliche Handeln geprägten Natur. Damit bringt die anthropologische Geschlechterbestimmung zwei Ebenen zusammen, die der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung und die individuelle und kollektive Einflussnahme darauf. Das Geschlechterverhältnis gliedert sich in den von Foucault skizzierten anthropologischen Bereich ein.

Ü BER

DIE M ÖGLICHKEIT EINER VON INNEN HERAUS

A UFKLÄRUNG

Die Anthropologie kann nach Foucault als ein Buch der täglichen Übung gelesen werden, die zu einer gebieterischen Praktik einer vollständig gegebenen Kultur wird. Sie lehrt die Menschen, in seiner Kultur die Schule der Welt zu erkennen (vgl. Foucault 2010: 48). Gerade mit dieser Beschreibung wird die ganze Ambivalenz deutlich, in der sich die Anthropologie Kants bewegt. Foucault verdeutlicht hier einerseits den performativen Charakter, indem er die Schrift als tägliche Übung fasst und verdeutlicht zugleich den normativen Gehalt. Was er allerdings mit der »vollständig gegebenen Kultur« vor Augen hat und worin diese Vollständigkeit bestehen soll, thematisiert er nicht weiter. Allerdings reflektiert er explizit die deutsche Kultur und damit den Westen als Ausgangspunkt der Welt- und Menschenerkenntnis. Diese Verortung des anthropologischen Wissens verbindet Foucault mit zwei zentralen Charakteristika der Anthropologie: der Systematizität und der Popularität. Mit der Popularität benennt er, dass sich die anthropologische Schrift zwischen Philosophie und Alltagswissen bewegt. Es gibt einen ungeteilten Grund zwischen dem Autor und den Lesenden, die sich in dieser Alltagssprache bewegen. Gerade dieser gemeinsame Grund ermöglicht es der Anthropologie gemäß Foucault, dass sie von innen her aufklären könne. Das bedeutet aber auch, dass die Anthropologie in einem System des Ausdrucks und der Erfahrung wurzele, das ein deutsches System sei. Dies versuche Kant durch Analysen fremdländischer Praktiken oder auch durch Anmerkungen über andere linguistische Einheiten zu überwinden. Eine Überwindung dieser lokalen Verortung sieht Foucault im sprachlichen Austausch, worin der Mensch auch seine anthropologische Wahrheit entfaltet (ebd. 95). Damit spricht Foucault genau die Frage nach der Möglichkeit von (Selbst-)Kritik an, die zu Beginn aufgeworfen wurde. Foucault entwirft jedoch in wenigen Sätzen einen Ansatz zur Überwindung, der zu kurz greift. Ein uni-

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verseller Austausch wird gerade durch aporetische Annahmen innerhalb des westlichen Diskurses – wie die einer grundsätzlichen Entgegensetzung zwischen ›schwarzen‹ und ›weißen‹ Menschen – sabotiert. Ein Vorschlag zur Überwindung kann nur plausibel sein, wenn das Ausmaß des impliziten und expliziten Eurozentrismus zunächst anerkannt wird. Besonders eurozentrische und koloniale Denkmuster bedürfen einer eingehenderen Bearbeitung, die bei Foucault ausbleibt (vgl. Stoler 1995). Gerade diese Unterlassung erlaubt es, eine eurozentrische Traditionslinie von Kant zu Foucault zu ziehen. Auf der anderen Seite lässt sich im Anschluss an Foucaults Lektüre eine fundamentale Kritik formulieren. Die notwendige geografische und kulturelle Verortung des Menschen, ja die Verortung der anthropologischen Wahrheit im Westen, macht deutlich, dass die Differenzsetzungen zwischen Menschen einen Teil der westlichen, anthropologischen Wahrheit ausmacht. Anders gesagt: Die europäische Wahrnehmungs- und Existenzweise ist von Prozessen durchdrungen, die wesentliche und unwesentliche zwischenmenschliche Unterschiede statuiert und miteinander verknüpft. So artikuliert sich gerade auch die westliche, bürgerliche Geschlechterordnung in einem kolonial stratifizierten Diskurs, der zugleich die interne Diskussion um Geschlechterdifferenz im Wesentlichen prägt. Eine Kritik an westlichen Denkordnungen bewegt sich in einem unüberwindbaren Paradox: Sie muss sich zugleich auf die westliche Tradition der Kritik stützen und mit ihren Einsichten die Tradition selbst auch in ihrer ständigen Wiederholung von Differenzsetzungen kritisieren können. Eine Kritik ›von innen heraus‹ kann als ständige Überprüfung eigener Annahmen und Setzungen funktionieren, aber keine Absicherung gewährleisten, Eurozentrismen sowie Rassismen und Sexismen endgültig zu erkennen und zu stoppen. Zudem hat die Diskussion der kantischen Anthropologie gezeigt, dass auch Ansätze, die Binaritäten wie Natur und Kultur oder Objekt und Subjekt zusammenfügen und Essentialismen zu überwinden versuchen, nicht vor eurozentrische Wiederholungen gefeit sind. Der Wunsch nach einer besseren Denktradition kann sich aber in eine regulative Idee umsetzen, die subalternisiertes, marginalisiertes Wissen aufdeckt und miteinbezieht und eine ständige Überprüfung und transformative Kritik fordert.

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Feministischer Orientalismus und Sexualpolitik Spuren einer unheimlichen Beziehung

G ABRIELE D IETZE »Nord und West und Süd zersplittern, Throne bersten, Reiche zittern, Flüchte du, im reinen Osten Patriarchenluft zu kosten, Unter Lieben, Trinken, Singen, Soll dich Chisers Quell verjüngen.« (GOETHE 2011: 9)

E INLEITUNG 1992 zeigt ein Buchcover die Fotomontage einer mit schwarzem Tuch vollverschleierten Frau ohne erkennbaren Sehschlitz, deren Kopf mit einem roten Stacheldraht umwunden ist. Die Assoziationsanrufung geht in zwei auseinanderstrebende Richtungen. Einerseits wird auf eine Dornenkrone angespielt und andererseits auf eine Verhüllung und Einsperrung durch den Schleier. Letzteres verweist auf muslimische Weiblichkeit als eingekerkerter Entität, eine Imagination, die häufig in der rechtspopulistischen Bildproduktion auftaucht und den Sehschlitz der Burka als vergitterten zeigt. Der Metaphernraum Stacheldraht ist komplexer. Zunächst scheint der Verweis auf christliche Ikonografie und den leidenden Heiland befremdlich, denn schließlich wird mit der Darstellung einer Muslimin auf eine andere Religion verwiesen. Vergegenwärtigt man sich aber das Zeichen-Repertoire der ›kulturellen Hegemonie‹ des Okzidents gegenüber dem Orient, so kommt sofort die Vokabel ›Christliches Abendland‹ in den Blick.

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Über die Figuration ›Unterdrückte muslimische Frau‹ wird in dem diskutierten Buchcover christliches Mitleiden am Schicksal der muslimischen Schwester (dieselbe als gekreuzigter Christus gelesen) mit einer Idee von einem zivilisatorisch fortgeschrittenen ›Abendland‹ zusammengeschoben, das die Frauenunterdrückung hinter sich hat. Das beschriebene Buchcover gehört zu einer von Elizabeth Badinter, Alice Schwarzer und anderen herausgegebene Anthologie Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz (Badinter/von Donany et. al. 2002). Die Fotomontage fügt sich ein in eine ubiquitäre Proliferation von Bildern und Problematisierung verschleierter oder kopftuchbedeckter Frauen in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit seit Mitte der Neunziger Jahre, die inzwischen in mehreren geschlechterund/oder kulturkritischen Studien als Zeichensystem der Islamophobie diskutiert wird.1 Man könnte insofern vom Topos ›Verschleierte Migrantin‹ als einer ›Sozialfigur‹ sprechen, einer nach Moebius/Schroer »zeitgebundene[n] historische[n] Gestalt […], anhand derer ein spezifischer Blick auf die Gegenwartsgesellschaft geworfen werden kann« (Moebius/Schroer 2010: 8)2. Das Konzept ist einleuchtend, weil es Sichtachsen in das Wuchern von aktuellen Diskursexplosionen schlägt, aber es fehlen ihm historische und leibliche Dimensionen. Weiterführend scheint es zu sein, mit dem Begriff ›Figuration‹ zu arbeiten. Die kulturwissenschaftliche Forschergruppe Netzwerk Körper spricht von Figurationen als »gleichsam stabile[n] Verhärtungen grundsätzlich fluider, historisch kontingenter, immer unterschiedlicher Körper […] welche die Subjektivierung von Menschen sichtbar werden ließen und lassen« (Netzwerk Körper 2012: 13)3. Intenti-

 1

Siehe besonders die Studie Die Verschleierte Wirklichkeit (Braun/Mathes 2007), die Arbeiten von Silke Wenk zum ›Zu-Sehen-Geben‹ der verschleierten Frau (Wenk 2012) in der Anthologie Verschleierter Orient – Entschleierter Okzident (Dennerlein/Frietsch/Steffen 2012) und von Birgit Rommelspacher zur Kulturalisierung und Islamisierung von Geschlecht (Rommelspacher 2007).

2

In der üblichen Borniertheit deutscher Sozialwissenschaften kennt die Typologie unter 35 ›Sozialfiguren‹ nur eine weibliche – die ›Diva‹, charakterisiert von Elisabeth Bronfen (Bronfen 2010: 81-98) – allerdings gleich vier männliche aus dem Assoziationsraum Migration und Islamophobie: ›Der Terrorist‹, ›Der Flüchtling‹, ›Der Migrant‹ und ›Der Fundamentalist‹.

3

Die Forschergruppe bietet mit ihrem Figurationsbegriff, freilich ohne sich direkt darauf zu beziehen, eine handhabbare Variante der Figurationssoziologie von Norbert Elias (2006). Für eine genderkritische Lesart von Elias’ Figurationsbegriff siehe (Klein/Liebsch 1997).

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on einer Figurationsanalyse sei es, solche Verhärtungen zu dekonstruieren, und sie damit als »Effekte von Macht anzusprechen« (Netzwerk Körper 2012: 13). Ich habe aus Text- und Bilderflut der Figuration ›Verschleierte Migrantin‹, die vom rechten politischen Rand bis weit in die liberale Presse reicht, mit Bedacht ein Beispiel gewählt, das aus einem feministischen Kontext kommt. Denn ich gehe davon aus, dass frauenbewegte Investitionen in solche Bildräume eine lange Geschichte verwandter Denkformen oder Affektmuster hat, die ich hier ›Feministischer Orientalismus‹ nenne. Damit meine ich vereinfacht – zunächst heuristisch behauptet – eine historisch durchgängige Neigung, besonders von radikalen Feministinnen4, sich auf ein ›Orientalisches Patriarchat‹ als Kontrastfolie ihres eigenen Emanzipationsprogramms zu beziehen. Unter ›radikalen Feministinnen‹ verstehe ich Gruppierungen oder Einzelpersonen, die aus Positionen verfemter Minderheit ›revolutionäre‹ Angriffe auf herrschende Gender-Ordnungen unternommen haben wie Abolitionistinnen, Utopistinnen, Pazifistinnen im Krieg, Protagonistinnen sexueller Revolutionen oder Nackt-Aktivistinnen wie die ›Femen‹. Alle hier aufgelisteten Richtungen hatten und haben einen je unterschiedlichen Bezug zu einem imaginierten Orient. In allen Bezügen steht die Nemesis ›Orientalisches Patriarchat‹ im Mittelpunkt, das modellhaft als Institution gesehen wird, in der Frauen von und durch männliche Triebhaftigkeit und Sexualität beherrscht werden. Edward Said, dem das immens einflussreiche Konzept Orientalismus zu verdanken ist, entwickelt, dass die westlichen Kolonisierer sich vom imaginierten und ›erfundenen‹ Orient als einer »Art Behelfs- oder Schattenidentität« (Said 2009: 12) abgrenzen und dabei jeweils spezifische Okzidentalitäten konstruieren. Auch Feministischer Orientalismus variiert historisch. In der Ersten Frauenbewegung besteht die ›Schattenidentität‹ aus der Trias Harem, Polygamie, dekadente Sinn-

 4

›Radikaler Feminismus‹ wird in der angloamerikanischen Geschichtsschreibung des Second Wave Feminism mit liberalem Feminismus kontrastiert, siehe Echols (1989) und Crow (2000). In der deutschen Frauenbewegungsgeschichtsschreibung sind damit eher radikale Politiken der Ersten Frauenbewegung gemeint, die mit ›bürgerlicher‹ oder auch ›sozialistischer‹ Frauenbewegung kontrastiert werden. Die deutsche Neue Frauenbewegung bezieht sich oft positiv auf ihre radikalen Vorfahrinnen und reklamiert damit eigene Radikalität (Dünnebier/Scheu 2002), aber es gibt auch Analysen, die den radikalen Feminismus der Ersten Frauenbewegung in Kontext mit Rassenund Bevölkerungspolitik stellen, siehe Ferdinand (1999) und Herlitzius (1995).

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lichkeit. Der postkoloniale (Neo-)Orientalismus grenzt sich von einer völlig entgegengesetzten, aber ebenfalls sexualisierten Trias, ab, Verschleierung, Zwangsehe und ›Ehrenmord‹. Entscheidend ist also nicht, was die Figurationen darstellen, sondern dass immer wieder Figurationen hergestellt werden, die Kritik und Abwehr männlicher Herrschaft über ein gleichzeitig sexualisiertes wie orientalisiertes Muster verkörpern. Es ist bekannt, vielfach kritisiert und nachkorrigiert, dass Edward Said in seine Orientalismusanalyse keine systematische Gender-Dimension eingezogen hat.5 Insofern diskutiert er Sexualpolitik auch nur in der Form der Verneinung: »Gewiss könnte man auch darüber spekulieren, warum der Orient nicht nur Fruchtbarkeit, sondern auch sexuelle Lust (und Bedrohung), unermüdliche Sinnlichkeit, grenzenlose Begierden und tiefe Zeugungskraft zu verheißen scheint, aber das ist nicht mein Thema.« (Said 2009: 218)

Saids De-Thematisierung von Sexualität, und damit auch von Geschlecht, setzen postkoloniale Feministinnen Studien entgegen, die wie Meyda Yeenolu okzidentale Fantasien (veiled fantasies so der Titel eines Aufsatzes 1998) über den ›Orient‹ als sexualisierten Raum ins Zentrum von genderkritischen Analysen stellen.6 Die beiden hier erwähnten Stränge von Orientalismus-Kritik, die Konstruktion des Selbst über eine orientalisierte Schattenidentität und die Sexualisierung eines imaginierten Orients, motivieren auch die folgende Untersuchung. Zwei Thesen sollen dabei vorausgeschickt werden. 1. Die Affinität FeminismusOrientalismus könnte damit zu tun haben, dass insbesondere radikale Feministinnen aus anti-patriarchalisch revolutionärer Motivation Männergewalt wie Missbrauch, Zwangsehe, sexuelle Belästigung und insbesondere Vergewaltigung in den Vordergrund ihrer Politik stellen. Und 2.: Eine Projektion auf einen fernen Orient erlaubt Kritik an Männerherrschaft a) schärfer zu formulieren, b)

 5

Said streift westliche Phantasmen wie eine angeblich »gefährliche Sinnlichkeit« des Orients an (Said 2009: 195, 218, 220) und erörtert in einem kurzen Einschub am orientalistischen Diskurs »eine eigentümliche (und gehässige) männliche Weltanschauung […, die] sehr sexistisch eingestellt« sei (ebd. 238). Außerdem meint er im Prozess der Kolonialisierung selbst eine sexualpolitische Rhetorik zu erkennen: »[…] der Raum der schwächeren oder unterentwickelten Völker [wird] gleichsam als Einladung zur Penetration und Besamung – kurz Kolonisation – aufgefasst« (ebd. 251).

6

Siehe auch Nader (1989); Lewis (1995); Yeenolu (2003) und die Rezensionsessays von Abu-Lughod (2001); Lewis (2002).

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sich selbst als Mitglied einer ›zivilisierten‹ Gesellschaft zu konstruieren und c) der Konfrontation im Nahbereich (Väter, Brüder, Ehemänner, Söhne, Arbeitgeber) die Spitze zu nehmen. Beide Arbeitshypothesen sind darüber verbunden, dass ein so genannter ›Orient‹ in der kollektiven okzidentalen Imagination, etwa des osmanischen Harems, als Hort besonders asymmetrischer Geschlechterverhältnisse gilt. Insofern bildet diese spezifische Form von Orientalismus hier eine wichtige Anschlussstelle für Feminismen, die sich auf Sexualpolitik fokussieren. Für den Radikalen Feminismus hat die Fokussierung auf Sexualpolitik eine innere Logik, weil der Schwerpunkt der Argumentation auf die Herrschaft der Männer (des Patriarchats) über Frauenkörper gelegt wurde. Im Gegensatz zu konservativen und bürgerlichen Frauenbewegungen, die gesellschaftliche Anerkennung über Tugend, moralische Überlegenheit und Schutz der Familie anstrebten, und insofern Sexualität häufig in den Bereich der Unsagbarkeit verwiesen, forderten radikale Fraktionen Liberalisierung der Ehe, Rechtsgleichheit in derselben, Scheidungsrecht, später Entdiskriminierung von unehelicher Mutterschaft, Sexualreform und noch später ›sexuelle Befreiung‹ von hetero- wie homosexuellen Lebensformen. Eine solche Konzentration auf sexualpolitische ›Fortschritte‹ fädelt radikale Feminismen in einen Zivilisationsdiskurs von ›Sexual Exceptionalism‹ (vgl. Bracke 2011) ein, nämlich die Vorstellung, dass sexuelle Emanzipation von Frauen eine Signatur für den fortgeschrittenen Entwicklungsstand einer Gesellschaft sei. Die oben entwickelten Thesen werden im Folgenden an historisch und lokal auseinanderliegenden Feminismen erläutert: An den Schnittstellen von Race und Gender im US-Feminismus in Fragen von Sklaverei und Frauenrechten, an Orientalisierung von Sex-Gender-Verhältnissen in der europäisch/deutschen Geschichte des frühen Feminismus der Jahrhundertwende und an islamkritischen Positionierungen der Neuen Frauenbewegung, die auf die Siebziger Jahre des 20. Jh. rückdatiert aber heute noch präsent ist. Spezifische sexualpolitische Manifestationen eines so genannten Third Wave Feminism setzen neue Akzente, wie z.B. die Slutwalks, in denen das Recht, den weiblichen Körper zu inszenieren, ohne sexistischer verbaler oder körperlicher Gewalt ausgesetzt zu sein oder die Provokationen der ›Femen‹-Gruppe, die inzwischen weltweit mit entblößten Brüsten gegen sexuelle und politische Gewalt demonstriert. Im zweiten Teil wird der Geschichte und Entwicklung des Begriffs-Kompositums ›Feministischer Orientalismus‹ nachgegangen und Vorschläge für seine Weiterentwicklung gemacht.

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A MERIKANISCHE Z USTÄNDE A – Die ›Griechische Sklavin‹ Im amerikanischen Feminismus der ›Ersten Welle‹ (First Wave) wurden Frauenrechte in Analogie zum Anspruch auf ›rassisch‹ Entrechtete formuliert. Alle Frauenrechtlerinnen, die sich 1848 mit der Declaration of Sentiments zu einer politischen Frauenbewegung zusammenfanden, waren Abolitionistinnen (Aktivistinnen für Abschaffung der Sklaverei) und sprachen von ihrer Situation als Frau von einer ›Slavery of Sex‹ (Hersh: 1978). Diese ›Rassisierung‹ (racialization) blieb lange wirkmächtig. Noch im Second Wave Feminism des 20. Jh. sprach man von ›Women as Niggers‹ (Rubin 1969). 7 Die frühe US-amerikanische Allianz zwischen Race und Gender der Ersten Frauenbewegung fand ihren bildlichen Ausdruck in einer kleinen Vignette, die eine kniende, betende (oder flehende) schwarze Sklavin in Ketten und mit entblößtem Oberkörper zeigte. Der Figur – es gab sie gedruckt, gestanzt und als Halbrelief auf Porzellan oder Keramik geprägt – war eine Textbanderole unterlegt, worauf stand »Am I not a Woman and a Sister« (Abb. 1). Abbildung 1: Sklaverei Vignette

Quelle: http://www.dhr.history.vt.edu/modules/us/mod04_women/images/9.jpg (10.10.2013)

 7

Für eine ausführlichere Erläuterung dieses Zusammenhangs siehe meine Studie Weiße Frauen in Bewegung (Dietze 2013a: 45-100).

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Dieser Appell war für abolitionistische ZeitgenossInnen unmittelbar einsichtig: Es sollte Mitleid für eine schuldlos versklavte und sexuell verfügbare ›Schwester‹ erzeugt werden, wobei die Bezeichnung Schwester doppelt denotiert war, nämlich als ›Schwester im Herrn‹, also Mit-Christin, als auch als ›Schwester‹ im Frauenrechtsdiskurs. 8 Unterdrückte weiße Frauen setzten sich mit ihren versklavten ›Schwestern‹ gleich und fühlten sich über den oben bereits erwähnten Überbegriff ›Slavery of Sex‹ solidarisch verbunden. Die klare Bezüglichkeit der gemeinsamen Unterdrückung von SklavInnen und weißen Frauen wurde bei einem zu einer ähnlichen Zeit entstandenen skandalträchtigen Kunstwerk, der Skulptur ›The Greek Slave‹ (1841) des amerikanischen Bildhauers Hiram Powers9, aufgelöst. Der Titel der Statue verweist auf die ›Versklavung‹ (weißer) griechischer Frauen (i.e. Zwangsverheiratung in osmanische Harems) unter türkischer Herrschaft, ein zu dieser Zeit politisch aufgeladenes Thema. Die ›Griechische Sklavin‹ wird durch eine nackte weiße Frau mit zur Seite gedrehtem, leicht geneigtem Kopf, schönen ebenmäßig ›idealen‹ Körpermaßen und locker vor dem Torso gehaltenen gefesselten Händen dargestellt. Auf einen Pfahl gestützt, der mit Tuch und Kappe drapiert ist und insofern auf eine – bevorstehende – orientalische Verschleierung hinweisen könnte, steht sie entspannt, wobei Stand- und Spielbein vorteilhaft ihre Figur modellieren (Abb. 2). Dass es sich bei der Abgebildeten um eine Christin handelt, wird durch ein aus der Draperie hervorlugendes kleines Kreuz, möglicherweise ein Rosenkranz, manifestiert.

 8

Zu Schwesterlichkeit als ›Begriffsfigur‹ im Feminismus erscheint demnächst Mertlitsch (2013).

9

›The Greek Slave‹ von Hiram Powers war die erste ›nackte‹ Skulptur zeitgenössischer amerikanischer Kunst und war u.a. deshalb eines der herausragendsten Kunstereignisse der Zeit. Zum Hintergrund siehe Yellin (1989: 99-124) und Kasson (1992).

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Abbildung 2: The Greek Slave

Quelle: http://picturinghistory.gc.cuny.edu/lessons_burnsbrown.php (10.10.2013)

Da es sich um eine amerikanische Skulptur vor dem Bürgerkrieg handelt, sticht zunächst einmal ins Auge, dass das zeitgenössisch erfolgreichste Kunstwerk zur Sklaverei eine weiße Frau zum Gegenstand hat. In Europa wurde diese Merkwürdigkeit auch prompt in der Zeitschrift Punch mit einer schwarzen Statue in ähnlicher Haltung und der Unterschrift The Virginian Slave karikiert. Weniger irritiert zeigten sich amerikanische radikale Feministinnen und Abolitionistinnen. Lucy Stone, eine radikale Sexreformerin, die eine Bewegung, ›Stonerism‹ provoziert hatte, in der Frauen beim Heiratsakt die Gehorsamsformel verweigerten, berichtet ergriffen von einem Ausstellungsbesuch im Jahre 1848: »I went to see the […Greek Slave] one morning. No other person was present. There it stood in silence, with fettered hands and half-averted face – so emblematic of women [Herv. GD] – I remember how hot tears came to my eyes at the thought of millions of women who must be freed.« (Zit. n. Kerr 1992: 51)

Am Abend nach dem bewegenden Anblick sprach die abolitionistische Rednerin bei einem Vortrag mit besonderer Leidenschaft darüber, dass nicht nur Sklavinnen, sondern alle Frauen in Ketten gelegt seien. Ihr Auftraggeber und Finanzier, der zufällig anwesende Abolitionismus-Führer Samuel May, rügte seine Kontraktsprecherin. Sie vernachlässige ihre abolitionistische Aufgabe und mutiere

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zur Frauenrechtlerin. Darauf antwortete Lucy Stone: »I was a woman before I was an abolitionist. I must speak for the woman« (ebd.). Stones Rezeption der ›Griechischen Sklavin‹ signifiziert eine Ersetzungs- und Verschiebungsoperation, in der sich der Grund für die abolitionistische Kampagne – die Sklaverei – in das Kampagnenmotiv – die physisch und rechtlich problematische Lage der weißen Frau in der Ehe – aufgelöst hat. Die Tatsache, dass die Sklavin nur noch als Geschlechtswesen wahrgenommen wird, machte es möglich, die Lage schwarzer Frauen, zu erblicher Zwangsarbeit und sexueller Verfügbarkeit verurteilt zu sein, aus dem Bild zu schieben.10 Bei dieser kulturellen ›Operation‹ wurde die allgemeine Patriarchatskritik der frühen Frauenrechtlerinnen auf die ›Orientalischen Patriarchen‹, des Osmanischen Reiches verschoben. Wie Hilla Frübis anlässlich orientalischer Malerei des 19. Jh. anmerkt, wird der Orient »zu einem Paradox von gleichzeitiger Nähe und Ferne« (2012: 141). Die Stone-Geschichte selbst ist zudem ein frühes Beispiel für einen Feministischen Orientalismus. Interessant ist hier, dass der ›Schleier‹, dessen Repräsentationsgeschichte Meyda Yeenolu als »metaphorical excess« beschreibt (2003: 594), nur in der Draperie zitiert wird, denn die ›Griechische Sklavin‹ ist nackt.11 Subtext ihrer Nacktheit ist, dass man sie der Kleider beraubt hat, um sie ihrem zukünftigen ›Besitzer‹ wie eine Sklavin anzubieten.12 Interessant ist nun, dass es dieses narrativen Vorwandes der verschobenen Sklaverei-Diskussion bedurfte, um in den USA überhaupt erstmals die Skulptur einer nackten Frau zeigen zu können. Um voyeuristische Effekte zu vermeiden,

 10 Jean Fagan Yellin drückt diesen Zusammenhang folgendermaßen aus: »But precisely by asserting gender identity, this reading makes it possible to ignore the crucial difference between the situation of white free women and black slave women, to conflate the condition of free women and slaves« (Yellin 1989: 24). 11 Die ›Griechische Sklavin‹ ist eher in der Tradition der Frau als Allegorie zu lesen, wo die Körper nackter oder teilentblößter Frauen dazu dienen, abstrakte Begriffe zu verkörpern, die sie selbst nicht sein dürfen. Prominentestes Beispiel ist Delacroix’ Signaturgemälde der Französischen Revolution Liberté guidant le peuple, siehe Wenk (2012: 60). 12 Hortens Spillers hat darauf hingewiesen, dass der Körper der Sklavin, z.B. dargeboten auf dem Auktionsblock lediglich als »female flesh ungendered« begriffen wird, siehe Spillers (2003: 207). Die hier diskutierte Figuration ›Griechische Sklavin‹ dagegen ist eine sublime Figur, ›The Greek Slave‹ sei zwar nackt, aber mit Keuschheit bekleidet. Die Formulierung lautete »Naked yet clothed with chastity«, (zit. n. Kasson 1992: 180f).

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– genaugenommen, um Männer daran zu hindern, vor ›anständigen‹ Frauen eine nackte Frau anzustarren, und um umgekehrt Frauen vor der Lüsternheit des erotisierten männlichen Blickes zu bewahren – zeigte man die Statue weitgehend vor nach Geschlechtern getrenntem Publikum. Wir haben es hier mit einem Knoten sich kreuzender Blickregime zu tun: orientalisierender Blick des Bildhauers und post festum des Publikums, männliches voyeuristisches Starren, verhinderte weibliche Zeugenschaft von männlich voyeuristischem Starren und kontemplative Erhebung des ›feministischen‹ Blickes zu frauenrechtlichem Aktivismus, De-thematisierung des lesbischen Blickes und Installation von Heteronormativität. Sie alle inspirieren sich an der sexuellen Verfügbarkeit oder ›Ausgesetztheit‹ einer weißen Frau. Die pornotopische Dimension des begehrlichen Betrachtens 13 wird durch das orientalisierende Narrativ überspielt. Die Figuration ›Griechische Sklavin‹ verführt Lucy Stone zu einem ›feministischen Orientalismus‹, der sie über den Umweg eines ›fremden‹ grausamen Patriarchats zu einem gerechten Kampf für Frauen motiviert. Hier kann ein Strukturelement von Feministischem Orientalismus beobachtet werden, den ich als Zusammenhang von Steigerungslogik und Proximitätsangst bezeichnen möchte. Indem patriarchale Herrschaft als weit weg, im Orient, und als sehr grausam imaginiert wird, sind in Aussicht genommene, weiß-männliche Allianzpartner für das Frauenrechtsprojekt weniger verschreckt und persönlich angegriffen. Konkret heißt das im Fall von Lucy Stone, dass sie für den zivilen Ungehorsam ihrer Heiratsprozedur ohne Gehorsamsformel (Stonerism) nur dann männliche Verbündete finden kann, wenn sie orientalisch rückständige gegen okzidental emanzipationsfähige Gender-Regime ausspielen kann. B – Das ›Orientalische Patriarchat‹ Vierzig Jahre später hat sich Feministischer Orientalismus in ein anderes Muster verschoben, das nun ganz deutlich als ›Ersatz- und Schattenidentität‹ zur westlichen Gesellschaft konzipiert ist. Radikale Feministin und Sex-Reformerin Charlotte Perkins Gilman schlug Versorgungshäuser mit Kollektivküchen vor, um die Frauen von der Geschlechtssklaverei der Hausarbeit zu entlasten und entwarf in

 13 Linda Hentschel hat die Denkfigur ›pornotopische Technik des Betrachtens‹ zusammen mit ›Raumsex‹ eingeführt, um zu zeigen, dass »die Interaktion zwischen Betrachter, seinem Körper und dem Bildraum analog der Sextechnik der Penetration strukturiert werden kann; […] diese Art der Bildraumöffnung kann als die akademisch goutierte Variante zu der vermeintlich minderwertigen Lust an der weiblichen Körperöffnung gelesen werden« (Hentschel 2001: 12).

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ihrer Utopie Herland (1905) gar eine Frauengesellschaft, die mit Parthenogenese statt mit männlicher Zeugung auskam (Gilman 1979). Zum Patriarchat schrieb sie 1898: »Its injurious effect may be broadly shown in the Oriental nations, where the female in curtained harems is confined most exclusively to sex-functions and denied most fully the exercise of race-functions. In such peoples the weakness, the tendency to small bones and adipose tissue of the over-sexed female, is transmitted to the male, with a retarding effect on the development of the race. Conversely, in early Germanic tribes the comparatively free and humanly developed women – tall, strong, and brave – transmitted to their sons a greater proportion of human power and much less of morbid sex-tendency.« (Gilman 2007: 24)

Im Gegensatz zu Stone, die das ›Orientalische‹ als die ältere Struktur auf der Zeitachse liest, produziert Gilman hier ein raumzeitlich rassisierendes Muster mit etwa folgender Narration: »Bei ›uns‹ hat es früher kraftvoll ›primitive‹ (arische) Geschlechteregalität gegeben, an die ›wir‹ Frauen heute anknüpfen können. Bei ›den Orientalen‹ dagegen ist die Asymmetrie der Geschlechterverhältnisse konstitutiv für ihre ›Kultur‹«. Mit den solchermaßen zu Geschlechterdemokraten erhobenen alten Germanen deutet sich ein Muster an, das für (radikal-)feministischen Orientalismus in der Spätmoderne charakteristisch werden wird, nämlich das Lob der westlichen Gesellschaften als sexualpolitisch ›fortgeschritten‹ gegenüber ›orientalischen‹ Sitten. Obwohl im weißen amerikanischen Feminismus noch weitgehend kanonisiert, kann Charlotte Perkins Gilman nach heutigem Verständnis durchaus als spezifisch feministische Rassistin gelesen werden, d.h. sie konstruiert für die angeblich zivilisatorisch notwendige Kolonisierung ›primitiver‹ Gesellschaften eine Überlegenheit germanischer Geschlechterverhältnisse. Im Gegensatz zur damals gültigen darwinistischen Auffassung von Zivilisationshierarchie, die darin besteht, dass je höher eine Zivilisation, desto ausgeprägter der Geschlechtsunterschied sei (vgl. Markowitz 2000), vertritt Gilman ein ›feministisch‹ dissidentes Zweistufenmodell der Evolution. Als Gipfel der Evolution bedürften Weiße Frauen keiner Ausdifferenzierung von Geschlechtsunterschieden mehr, sondern wären mit Männern gleichzustellen. In anderen Texten überträgt sie ihre Vorstellung von weiß/germanischer Zivilisationsüberlegenheit auf die im Bürgerkrieg befreiten Sklaven und ihre Nachkommen. Ähnlich wie die Orientalen hätten Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen die erforderliche Zivilisationsstufe noch nicht erreicht. Um diese zu erreichen entwarf sie ein Zwangsregime für die zurückgebliebenen Teile der

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schwarzen Bevölkerung bestehend aus einer der Sklaverei ähnlichen Art von Konzentration in Arbeitslagern. Nach Gilman könnte die afroamerikanische Mittelklasse in dem Maße in die bürgerlichen Freiheiten entlassen werden, indem deren Männer sich dazu durchringen würden, verantwortliche Ernährer ihrer Familien zu werden. Eine patriarchalische Familienstruktur mit der daraus folgenden konventionell weißen Arbeitsteilung aushäusiger Ehemänner und Hausfrauen wäre nach Gilmans evolutionärem Modell also eine notwendige Zwischenstufe der Zivilisation.14 In einem Artikel von 1908 Suggestions for the Negro-Problem schrieb sie: »We have to consider the unavoidable presence of a large body of aliens, of a race, widely dissimilar and in many respects inferior [...] an alien race in a foreign land under social and religious conditions to which they are hereditary a stranger.« (Ebd. 78)

Gilman naturalisiert mit dieser Aussage – »an alien race in a foreign land« – die Präsenz weißer Menschen auf dem amerikanischen Kontinent und dethematisiert damit die Conquista und den Siedlerkolonialismus der weißen Europäer und verschweigt Einwohner mit älteren Rechten wie die ›Native Americans‹ und Amerindians. Darüber hinaus teilt sie mit ihrer Fixierung auf ›chromatischen Rassismus‹ Vorurteile vieler ›progressiver‹ ZeitgenossInnen, die im ›wissenschaftlichen Rassismus‹ der Epoche sozialdarwinistischen eugenischen, ›rassenhygienischen‹ Vorstellungen anhingen. So spricht auch die bedeutende deutsche Sexreformerin und radikale Feministin Helene Stöcker 1917 von der notwendigen »Herrschaft der weißen Rasse« für eine »künftige höhere Organisation der Völker« (Stöcker 1917: 141, zit. n. Omran 2000: 428).16 Interessant an Gilman ist, dass ihre Vorstellung vom Spitzenplatz der weißen Rasse in einer Hierarchie der Zivilisationen17 ›feministisch‹ mit Existenz primitiver Patriarchate gerechtfertigt wird. 1912 schreibt Gilman in ihrer Zeitschrift Forerunner: »Nearly all savage races are decadent and grossly androcentric« (zit. n. Lanser

 14 Zu einer Vorstellung von Zivilisationsstufen, die eine Sukzession von Matriarchat, Patriarchat und späterer Geschlechterdemokratie vorsehen, siehe Newman (1999: 135f). 15 Zu einer ausführlichen Diskussion von Gilmans Rassismen in der ›Negerfrage‹ siehe Bederman (1995: 121-169). 16 Siehe für die Nähe von feministischer Sexualreform und ›Rassenhygiene‹ in Deutschland auch Janssen-Jurreit (1979); Herlitzius (1995); Ferdinand (1999). 17 Zu Vorstellungen einer ›feministischen‹ Hierarchie der Zivilisationen besagter Epoche siehe Dietze (2013a: 128-150).

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1993: 244). Für das Fine-Tuning der Thematisierung sexueller Unterdrückung jedoch wählt Gilman wie Stone einen orientalischen Bildraum. Jedoch ist hervorzuheben, dass Lucy Stone einer früheren Phase des amerikanischen Feminismus entstammt und eine kompromisslose Kämpferin für die Abschaffung der Sklaverei war, und insofern auch antirassistische Elemente verkörpert, während Gilman einer zweiten Phase des frühen Feminismus zuzurechnen ist, die die Kränkung, nach dem Bürgerkrieg für weiße Frauen kein Wahlrecht erhalten zu haben, in einen rassistischen Diskurs der arischen Zivilisationsüberlegenheit übersetzt.

D EUTSCHE Z USTÄNDE A – Die Orientreise Feministischer Orientalismus der Ersten Frauenbewegung muss nicht mit dem zeitgenössisch üblichen Rassismus verbunden sein. Die beiden wohl schillerndsten deutschen Radikalfeministinnen Anita Augspurg und Lida Heymann beschämten 1924 ihre amerikanischen Genossinnnen, indem sie in den USA die Regeln der Rassensegregation missachteten und mit schwarzen AmerikanerInnen vertrauten Umgang pflegten (vgl. Dünnebier/Scheu 2002: 271). Auch die deutsche Kolonialherrschaft in Afrika kritisierten sie entschieden. Sie prangerten z.B. an, dass schwarze Frauen als beliebige ›Sexualware‹ benutzt werden, die die Kolonialherren gebrauchen, missbrauchen und dann wieder wegwerfen konnten (vgl. ebd. 177) und verwahrten sich in einem kolonialismuskritischen Artikel von 1926 auch gegen den zeitgenössisch herrschenden sozialdarwinistischen Diskurs, Menschen in ›niedere‹ und ›überlegene‹ Rassen aufzuteilen (Heymann 1926: 1-3, zit. n. Dünnebier/Scheu 2002: 283). In einer Frage jedoch verließ die beiden Freidenkerinnen ihr egalitärer antirassistischer Kompass. In der Frage des Schleiers. Bei einer Ägyptenreise 1926 trafen sie auf eine Gruppe von Frauen in einem Park, die fröhlich zusammen saßen und rauchten. Diese winkten die beiden Fremden zu sich und boten ihnen von ihren Zigaretten an: »Alle hatten den Schleier abgetan; das gefiel mir, und ich lachte sie vergnügt an, sie winkten […] Nun ging es ans Erzählen, aber weniger mit Worten als mit Pantomimen; da sprachen die Augen, die Hände, alle Sinne, die Dinge auf die wir deuten konnten, wie Schleier usw.. Wir machten Revolution: weg mit dem Schleier! Laßt Euch von den Männern nichts bieten, stellt Euch auf Euch selbst wie Ägyptens Frauen im Altertum, wie die

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Frauen anderer Länder es tun. Besinnlich nachdenklich schauten sie uns an, nickten bejahend. Wir schieden mit dem Gefühl, wo immer selbstbewußte Frauen zu geknechteten, aber von der modernen Zivilisation unbeschwerten Frauen von Frauenwürde, Frauenwesen und Befreiung aus Knechtschaft sprechen, springt ihnen lebendiges Verständnis entgegen. Auch dann wenn sie nicht dieselbe Sprache sprechen.« (Heymann/Augspurg 18

1992: 285)

Bettina Dennerlein, Elke Fritsch und Terese Steffen haben 2012 im Titel ihrer Anthologie den Verschleierungsdiskurs unter der Dichotomie Verschleierter Orient – Entschleierter Okzident gefasst und deuten ihn als ›Dispositiv‹, »[…der] Sichtbarkeit an der Schnittstelle von Visualisierung, Semantisierung und Politisierung« reguliert (ebd. 11). Dass es sich bei dem Zitat um die Schilderung eines Semantisierungs- und Politisierungsprozesses handelt, ist unübersehbar. Selten ist die ›Erfindung des Orients‹ durch den Okzident, von der Said so eindringlich spricht, so in Reinform zu beobachten. Praktisch keine der gemachten Aussagen lassen sich durch die präsentierte nicht-sprachliche Kommunikationssituation belegen: LeserInnen können nicht wissen, ob die Zigaretten anbietenden Frauen ›von der modernen Zivilisation unbeschwert‹ sind, man kann nicht wissen, ob die Pantomime in Richtung der abgelegten Schleier als Patriarchatskritik verstanden wurde, man kann nicht wissen, ob die Ägypterinnen sich in ihrer ›Frauenwürde‹ angesprochen fühlten oder den ausländischen Besucherinnen ein ›lebendiges Verständnis‹ bezüglich ihrer notwendigen Befreiung aus der Knechtschaft entgegen gebracht haben. Alles, was dem Text mit Sicherheit zu entnehmen ist, ist, dass man die

 18 Interessant ist, wie die gleiche Passage der Nacherzählung in einer Doppelbiografie von Heymann/Augspurg aus dem Jahre 2002 aus dem Umkreis der EMMA klingt »Sie waren gesprächslustig – nur leider verstanden sie sich nicht. Heymann versuchte es mit einer Pantomime: Sie tat sich einen der Schleier an, die die Frauen neben sich gelegt hatten, riss ihn dann mit Leidenschaft ab und rief: Frauenbefreiung! Revolution! Das fröhliche Lachen und Klatschen nahm sie für Zustimmung.« (Dünnebier/Scheu 2002: 282) Hier ›reißt‹ Heymann den Schleier mit ›Leidenschaft‹ ab. Man könnte die Differenz der Darstellung so interpretieren, dass sich der feministische Orientalismus der Zweiten Frauenbewegung in den gegenwärtigen Turbulenzen und Nahostkriege und muslimische Migration in europäische Länder verschärft hat, und wie in der Sozialfigur ›Verschleierte Migrantin‹ bereits entwickelt, sie sich auf den Schleier als Bedeutungsträger fixiert hat und in der Folge Verschärfungen und Schleierfixierungen auf historische Quellen rückprojiziert wurden.

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Fremden freundlich empfangen hat, ihnen Zigaretten angeboten hat und sich nickend von ihnen verabschiedet hat. Interessant ist auch, dass die beiden deutschen Feministinnen die Frauenemanzipation allein als Frage der Befreiung vom ägyptischen Mann lesen. Die Unterdrückung durch den Britischen Kolonialapparat – den sie durchaus kritisch wahrnehmen – und die ja ägyptische Männer und Frauen betrifft, wird in einem anderen Register abgelegt, das die Frauenfrage nicht berührt. Das zeigt, dass das phantomatische Gegenüber die Figur des ›Orientalischen Patriarchen‹ ist. Ein solcher bleibt er sogar dann, wenn die für 25 £ ›gekaufte‹ Gattin eines Ägypters augenscheinlich glücklich mit ihrem Los ist: »Der Mann war nicht daheim, die gekaufte Frau war von bezaubernder Anmut und Schönheit. Voller Stolz zeigte sie uns ihr Bübchen, ihre seidenen Gewänder und Stöckelschuhe. Sie schien zufrieden. Wer vermag zu sagen, wie es wirklich war. Sie kannte nichts besseres, war Sklavin.« (Heymann/Augspurg 1992: 288)

Der kulturelle Subtext dieser Aussage ist: Wenn sie schon nicht konkret unglücklich ist, dann ist sie das aber abstrakt und weiß es nur nicht. Hier kommt eine weitere Dimension des Feministischen Orientalismus erstmals in den Blick, nämlich die Bewegung, ›orientalisierten‹ Frauen jegliche Handlungsmacht abzusprechen. Diese Blindstelle des okzidentalen Feminismus hat viele aus dem arabischen Raum kommende Feministinnen erbittert und empört und einen sehr differenzierten postkolonialen Feminismus befördert.19 B – Verhüllung – Entblößung Alice Schwarzer, als prominente Frontfigur des Neuen Deutschen Feminismus der Zweiten Welle, positioniert sich ausdrücklich in die Tradition des ›Radikalen Feminismus‹ von Anita Augspurg und Lida Heymann. In dem Geleitwort zu einer Doppelbiografie beider Protagonistinnen schreibt sie: »[…] Feministinnen wie ich stehen in dieser Tradition. Nur nennen sich die einstigen Radikalen heute ›Universalistinnen‹ oder ›Gleichheitsfeministinnen‹ – in Abgrenzung zu ›Differenzialistinnen‹« (Dünnebier/Scheu 2002: 8f). Hier wird mit kargen Begriffen ein Kulturkampf angedeutet, der weit in die akademischen Gender-Studies hineinreicht. ›Gleichheitsfeminismus‹ würde dort eher in (falschen) Universalismus übersetzt und zumindest in den kulturwissenschaftlich ausgerichteten Zweigen als problematisch hegemonial betrachtet. ›Differentialismus‹ wird aus Schwar-

 19 Siehe Nader (1989); Ahmed (1992); Abu-Lughod (2002).

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zers Perspektive als prinzipienloser Kulturrelativismus verstanden, der »mit falscher Toleranz« (siehe den Titel des Eingangs zitierten Buches) einem ›orientalischen Patriarchat‹ Tor und Tür öffne.20 Wie das lesbische Paar Augspurg/Heymann, das aus seiner Verachtung der bürgerlichen Ehe (auch im ägyptischen Gewand) keinen Hehl macht, war auch Alice Schwarzer als Sex-Rebellin angetreten. Ähnlich wie Helene Stöcker mit ihrer Sexualreform und ›Neuen Ethik‹, brach sie mit Der kleine Unterschied und seine großen Folgen (1975) in eine sexualpolitische Tabuzone von männlichem Selbstverständnis und damit auch männlicher Herrschaft ein, nämlich in den ›Mythos vom vaginalen Orgasmus‹21 und die Vorstellung, dass ›Heterosexueller-Beischlaf-Vulgaris‹ für Frauen eine befriedigende Angelegenheit sein könnte. Im Vorwort zum kleinen Unterschied schrieb sie: »Mir ist heute klar geworden, dass die Sexualität der Angelpunkt der Frauenfrage ist: Spiegel und Instrument der Unterdrückung der Frauen. Hier fallen die Würfel. Hier liegen Unterwerfung, Schuldbewusstsein und Männerfixierung von Frauen verankert. Hier steht das Fundament der männlichen Macht und der weiblichen Ohnmacht. Hier entzieht sich scheinbar ›Privates‹ jeglicher gesellschaftlicher Reflexion. Hier wird die heimliche Wahrheit mit der öffentlichen Lüge zum Schweigen gebracht.« (Schwarzer 1975: 10)

Sexuelle Selbstverwirklichung, d.h. nicht abhängig von einem unfähigen, gewaltsamen oder verständnislosen männlichen Liebhaber zu sein, ist dabei nicht gleichbedeutend mit einer ›autonom‹ sexualisierten Selbstdarstellung, wie sie z.B. die feministische Initiative der weltweiten Slutwalks gegen männliche Übergriffe zu verteidigen sucht. Im Gegenteil. Schwarzer setzt hier ›Entblößung‹ mit Verschleierung in eins. Auf das Argument einiger (konvertierten) Schleierbefürworterinnen, die Verschleierung sei ›emanzipierter‹ als ein nacktes Objekt zu sein, antwortet sie: »Nein. Denn Verhüllung und Entblößung sind nur zwei Seiten derselben Medaille, auf der da geschrieben steht: Frauen sind der Besitz

 20 In den Gender-Studies ist ›Differenzfeminismus‹ etwas anders besetzt. Terminologisch wird darunter eher ein aus der französischen Feministischen Theorie kommender Feminismus gesehen, der die Kategorie Frau als zentrale Differenz setzt. Dagegen wird ein poststrukturalistischer Feminismus à la Judith Butler, der das Subjekt ›Frau‹ nur als Effekt einer ›heterosexuellen Matrix‹ liest. 21 Hier bezieht sich Schwarzer auf Anne Koedts Streitschrift The Myth of the Vaginal Orgasm (2000).

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der Männer, sie gehören einem (bei Verhüllung) – oder allen, bei Entblößung.« (Schwarzer 2002: 16)22 Dem strukturell puritanischen Orientalismus des Gleichheitsfeminismus Schwarzer’scher Prägung stehen Strategien des – vergleichsweise jungen – Third Wave Feminism entgegen, die das Zeigen des sexuell expressiven weiblichen Körpers emanzipativ besetzen und das Recht auf eine solche Selbstpräsentation gegen sexistische Angriffe verteidigen. So geschehen bei den Slutwalks 2012. Interessanterweise ist man sich aber mit Schwarzer einig im Angriff auf muslimische Verhüllung. Auf dem Berliner Slutwalk zeigten sich vor dem Brandenburger Tor zwei Frauen halb entblößt und schwarz angemalt – auch die Gesichter, allerdings mit einer nicht-bemalten rechteckigen Aussparung für die Augen, die auf den Sehschlitz der Burka anspielte – mit Schildern ›Right for Women’s Liberation from Religious Oppression‹ und der iranischen Entschleierunginitiative ›Unveil Women’s Right to Unveil‹. 23 Hier wird die Schwarzer’sche Gleichstellung von Bedeckung und Entblößung untergraben und die Kritik am Orientalischen Patriarchat mittels Entblößung betrieben. Zwischen den beiden schwarz/nackten Nemesisgestalten gegen muslimische Kleiderregime steht eine junge Frau mit dem Signalement der ukrainischen Nacktaktivistinnen ›Femen‹ (beide nackte Bürste sind angemalt und durch einen Strich getrennt, was das Logo der Femen ist, und sie trägt einen Blumenkranz als Zeichen der Unschuld im Haar). Auf ihrem Poster steht: ›Kein Kleidungsstück rechtfertigt sexuelle Gewalt‹. Sollte man daraus schließen, dass es sich hier um die Verteidigung des Rechtes auf alle denkbaren Kleidercodes, also auch der des Schleiers, handelt, wird das von der Politik der Femen nicht gedeckt. Zu Beginn der Olympischen Spiele protestierten sie gegen die Einladung von Staaten, die sie dem politischen Islamismus zurechneten. Wie immer traten sie barbusig auf, trugen Sportlerinnen-Shorts mit aufgenähten Startnummern und hatten mit Fettstift ›Olympic Shame‹ und ›No Sharia‹ auf ihre Brüste gemalt (Abb. 3).

 22 Zur Islamismuskritik bedeutender Fraktionen europäischer Feministinnen siehe auch Marx (2009). 23 Für den Hinweis auf die Bilder und diesen besonderen feministischen Orientalismus danke ich Francesca Schmidt.

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Abbildung 3: Femen ›Olympic Shame‹

Quelle: http://ivabellini.blogspot.ch/2012/08/femen-londra-contro-shariaislamica.html#.UleRIyRRm2w (10.10.2013)

Mit den Slutwalks und der Politik der Femen nimmt Feministischer Orientalismus eine neue Volte. Die »Kunst der Entblößung« ist sozusagen zur zweiten Natur geworden, wie Christina von Braun und Bettina Mathes (2007) in Verschleierte Wirklichkeit im Kapitel Ex occidente looks. Blickmacht und entblößter Körper entwickeln: »Fragt man nach den historischen Kontexten, die zur Entschleierung der westlichen Frau geführt haben, dann stellt man fest, dass ihre Blöße kaum mit Natur und Freiheit zu tun hat, sondern das Ergebnis kultureller Zwänge und Disziplinierungen ist, die sich im Laufe abendländischer Geschichte wie eine zweite Haut um den entkleideten Körper der Frau gelegt haben […] Bevor der Westen der Frau erlaubte, sich zu entblößen, mußte sie lernen, die Blöße wie ein Kleid zu tragen.« (Ebd. 154)

Trotz dieser von Slutwalks und den Femen betriebenen performativen Entpuritanisierung des Feminismus bleibt auch für die ›Dritte Welle‹ der Frauenbewegung ein ›Orientalisches Patriarchat‹ ›Schattenidentität‹ des politischen Aktivismus. An den Kampagnen der Femen lässt sich zeigen, dass das ›orientalische Patriarchat‹ nicht einfach als eine Radikalisierung, Verlängerung oder Verstärkung des westlichen Patriarchats aufgefasst werden kann, denn die Femen protestieren mit gleicher Radikalität gegen ›westliche‹ Patriarchate und männlichen Sexismus und insbesondere gegen Prostitution und Freierwesen.24

 24 Mitte April 2013 z.B. griffen sie, wie immer halbnackt, in Brüssel einen deutschen EU Politiker an, der angeblich auf einer Dienstreise in der Ukraine Prostituierte besucht habe http://www.bild.de/politik/ausland/femen/nackt-attacke-auf-eu-abgeordne ten-29625136.bild.html (25.03.2012).

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Nackt gegen westlichen Sexismus aufzutreten und nackt gegen Geschlechtssegregation und Schleier zu demonstrieren sind zwei sehr unterschiedliche kulturelle Operationen. Die Demonstration gegen westlichen Sexismus ist eine Art von paradoxer Intervention: ›Ihr wollt uns nackt und verfügbar? Gut, dann machen wir das zu einer Waffe, Euch zu beschämen‹. Nackt gegen verhüllende Geschlechterregime aufzutreten ist dagegen eine angsterzeugende Provokation, ein Tabubruch: ›Wir tun das, was ihr am meisten fürchtet, nämlich unsere Geschlechtskörper aller Welt zu zeigen‹. Beim letzteren könnte man mit dem dekolonialen Theoretiker Walter Mignolo von einem ›Epistemischen Ungehorsam‹ (2009)25 sprechen, beim ersteren von einer parodistischen Übererfüllung verletzender Besitzfantasien des Patriarchats, oder von einer ›Disidentifikation‹ im Sinne von Esteban Muñoz (1997)26.

F EMINISTISCHER O RIENTALISMUS Was hier ›Feministischer Orientalismus‹ genannt wird, ist ein fließendes, immer wieder Form und inhaltliche Pointierung veränderndes Gebilde. Mal insinuiert es zu viel, zu üppige und uferlose Sexualität, dann wieder Gefangenschaft, Zwang und Askese. Mal dient er als Marker für ›Primitivität‹, mal als Marker für dekadente Raffinesse. Sara Ahmed hat auf die etymologische Verwandtschaft von ›orientieren‹ und ›Orient‹ hingewiesen: »It is not incidental, that the word ›orientate‹ refers both to the practices of finding one’s way, by establishing one’s direction (according to the axes north, south, east, and west) and to the east itself as one direction privileged […] as ›the horizon‹ over which the sun rises […]. We could even say that Orientalism involves a form of ›world-facing‹ that is a way of gathering things around, so they ›face‹ a certain direction.« (2006: 113, 118)

Ein gemeinsamer Nenner des Ideologems Feministischer Orientalismus ist demnach, dass er – so vielgestaltig er auch sein mag – immer in dieselbe Richtung

 25 Die Kategorie ›epistemischer Ungehorsam‹ ist hier etwas verfremdet verwendet, weil Mignolo von einer Haltung der Dominierten gegenüber denjenigen, die sie dominieren, spricht und die Femen-Aktion ja nicht von Muslimischen Frauen, sondern von Aktivistinnen, die ›für sie sprechen‹, ausgeht. 26 Nach Muñoz ist Disidentifikation eine Strategie von Minderheiten, die ihnen zugeschriebenen vom dominanten Diskurs verachtete ›Identitäten‹ in besonderer Deutlichkeit vorzuspielen. Ein disidentifizierendes Subjekt ist jemand, der »tactically works on with and against a cultural form« (ebd. 12).

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›orientiert‹ ist, nämlich ein ›orientalisches Patriarchat‹ als innere Wahrheit oder schlimmste oder älteste oder ›eigentliche‹ Version von männlicher Herrschaft begriffen wird, die als sexuelle Herrschaft über den Körper der Frau verstanden wird. Insofern kann man von Feministischem Orientalismus im Sinne Foucaults als einer ›diskursiven Formation‹ sprechen, weil seine Wissenselemente sich über historisch und lokal auseinanderliegende Äußerungen zu einer Formation von immer schon gewussten Wahrheiten verdichtet haben. Nach Foucault bildet sich eine diskursive Formation über »[…] in ihrer Form verschiedenen, in der Zeit verstreuten Aussagen [… als] eine Gesamtheit, wenn sie dasselbe Objekt haben« (1981: 49). Das Objekt der diskursiven Formation Orientalistischer Feminismus wäre dann, wie weiter oben unter verschiedenen Perspektiven dargelegt worden ist, sexualpolitische Patriarchatskritik. Bevor ich auf weitere Aspekte vom operativem Wert und Adaptionsmöglichkeiten der Kategorisierung zu sprechen komme, muss eine kurze Begriffsgeschichte nachgeholt werden. ›Feministischer Orientalismus‹ – oder auch seltener ›orientalistischer Feminismus‹27 – sind keine fest eingeführten oder definierten Begriffs-Komposita, aber sie werden implizit und explizit immer wieder verwendet. Soweit ich sehe, können zwei Genealogien ausgemacht werden. Roksana Bahramitash benutzt beide Begriffe in einer Rezension ›feministischer‹ USBestseller, die sich im Zuge des ›War on Terror‹ an der Dämonisierung des Mittleren Ostens (als Frauen unterdrückende Region) beteiligen (2005). Sie bezieht sich dabei auf eine Studie von Parvin Paidar über Iranische Frauen und Öffentlichkeit im 20. Jh., die angelehnt an Saids Orientalismusvorgaben drei für westlichen Feminismus spezifische Denkfiguren ausmacht: a) binäre Entgegensetzung von Okzident und Orient, wobei letzterer als schlechtmöglichstes Umfeld für Frauen beschrieben wird; b) ›orientalische‹ Frauen werden dabei nur in Opferposition und nicht als mit Handlungsmacht ausgestattet begriffen und c)

 27 Feministischer Orientalismus unterscheidet sich nach meinem Verständnis von orientalistischem Feminismus insofern als bei letzteren ›Feminismus‹ in Anführungszeichen zu setzen wäre. Der Begriff Feminismus wird hier als eine Art Rauchschleier eingesetzt, mit der z.B. militärische Interventionen in den Irak und in Afghanistan mit der Befreiung (oder Entschleierung) der Frau gerechtfertigt werden. Diese Haltung wird von neo-imperalistischen westlichen Kriegsherren, Präsident Bush und auch von ihren Gattinnen betrieben – man erinnere sich an Laura Bushs Rechtfertigung der Afghanistanintervention zur Befreiung der Frau in einer Radioansprache. Siehe dazu Ho (2010). Christina Ho spricht dabei folgerichtig in der Nachfolge von Christa Hunt (2006) von ›Embedded Feminism‹. Zu ›Embedded Feminism‹ siehe auch Brunner (2011).

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deswegen müssen ›orientalische‹ Frauen von westlichen Feministinnen gerettet werden (Paidar 1995). Die mit einem Feministischen Orientalismus einhergehende Missachtung von Frauen aus der Region oder westlichen muslimischen Diasporas wird auch gelegentlich anders bezeichnet: So spricht Birgit Rommelspacher im gleichen Zusammenhang in Bezug auf westliche Feministinnen von »hegemonialer Weiblichkeit« (2007: 260) und Leila Ahmed von »colonial feminism« (1992: 151).28 Eine zweite Genealogie von ›Feministischem Orientalismus‹ macht die Historikerin Charlotte Weber (2001) in einer Analyse über den Orientalismus der International Alliance of Women (1911-1950) und bezieht sich dabei auf eine Arbeit der Literaturwissenschaftlerin Joyce Zonana über den Orientalismus des britischen Romans Jane Eyre (ebd. 127). Zonana bietet als eine der wenigen Theoretikerinnen, die mit dem Begriffskompositum umgehen, eine Definition an: »[…] feminist Orientalism is a rhetorical strategy (and a form of thought) by which a speaker or writer neutralizes the threat inherent in feminist demands and makes them palatable to an audience that wishes to affirm occidental superiority.« (1993: 594)

Feministischer Orientalismus wäre demnach ein sich überkreuzendes Unternehmen von unterschiedlichen Verschiebungen. 1. Feministische Argumente stoßen im westlichen Kontext auf Widerstand, 2. Feministische Argumente als Kritik an ›orientalischen‹ Zuständen zu verkleiden, gibt ihnen eine höhere Sozialverträglichkeit, und 3. Über die Kritik ›Orientalischer Zustände‹ können sich Feministinnen und ihre direkten Gegner, westliche Patriarchate, auf ihre gemeinsame Überlegenheit gegenüber dem ›Orientalischen Anderen‹ einigen. Insofern streicht Feministischer Orientalismus eine ›okzidentalistische Dividende‹29 ein. Nach Zonana ist Feministischer Orientalismus weniger auf den Eurozentrismus von Feministinnen und deren Verkennung und Generalisierung muslimischer Frauen ›orientiert‹, sondern mehr auf deren Fixierung auf das Patriarchat als eigentlich orientalischem Element, das aus dem Westen ausgetrieben werden müsse und das trotzdem okzidentale Männer immer wieder dazu verführe, sich ›rückständig‹ zu verhalten. Sie spricht von dem feministisch orientalistischen Projekt als einem notwendigen »removal of Eastern Elements from Western life« (ebd. 594). Zunächst erscheint der Topos von der zu verhindernden ›orien-

 28 Siehe eine zusammenfassende Darstellung zu Postkolonialität und Gender an anderer Stelle Dietze (2013c). 29 Siehe dazu Dietze (2009: 35f).

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talischen‹ Rückständigkeit westlicher Männerherrschaft nicht schlüssig, weil er ›orientalisch‹ und ›aufgeklärt okzidental‹ auf einer Zeitachse anordnet, die suggeriert, als gäbe es eine europäische Geschichte von Geschlechtssegregation, Harems-Einschließung, Polygamie und Verschleierung vor Zivilisation, Aufklärung und ›Entwicklung‹. Außerdem de-thematisiert ein solcher Zugang jegliche Gleichzeitigkeit von Islam und christlichem Europa. Damit wird die maurische Hochkultur in Spanien, islamisch-christliche Koexistenz in Venedig, Konstantinopel und im osmanischen Balkan und die Existenz von muslimischen Minderheiten in den europäischen Metropolen als Diplomaten, Militär-Attachees, Sprachlehrer in ›orientalistischen‹ Instituten und Hafenstädten unsichtbar gemacht. Weniger befremdlich wird die oben erwähnte Denkfigur, es habe eine ›orientalische‹ Frühzeit europäischer Zivilisation gegeben, wenn man sie mit dem kolonialistischen Ideologem interpretiert, das Johannes Fabian mit seinem Essay Time and the Other. How Anthropology makes ist Objects (1983) auf den Punkt gebracht hat. In der europäischen Perspektive werden die ›Anderen‹ als in der Menschheitsgeschichte zeitlich zurückliegend begriffen. Dieser teleologische Zug okzidentalen Denkens, sich selbst als die Krone der Schöpfung zu begreifen, überblendet damit sowohl die unterschiedlichen kulturellen Traditionen als auch die Tatsache, dass der ›Orient‹ ›ganz woanders‹ ist. Der ›wirkliche Orient‹ wird dann als geografisch weit entfernter Rest verstanden, auf dem die Zeit stehengeblieben ist. Sexualisierte männliche Herrschaft wird danach als etwas ›Fremdes‹, das wieder in die Fremde zurückgedrängt werden muss, gelesen. Oder anders gesagt, sich auf ein phantomatisches ›orientalisches Patriarchat‹ zu fixieren bedeutet, Sexismus-Kritik weg aus der problematischen Kritik im Nahbereich in die ›Fremden‹ zu ethnisieren.30 Eine solche Denkrichtung ist nach meiner Auffassung bislang am besten in einem von der einschlägigen Sekundärliteratur oft übersehenen Aufsatz der Anthropologin Laura Nader, »Orientalism, Occidentalism, and the Control of Women« von 1989 entwickelt worden (1989). Nader benutzt zwar das Kompositum Feministischer Orientalismus nicht, argumentiert aber ganz im Geiste seiner Kritik. Sie bezieht sich dabei direkt auf Said, dessen Blindheit in Genderfragen sie zum Ausgang eines eigenen Einsatzes nimmt. Zwei zentrale Dimensionen postkolonialen Machtdiskurses gerieten bei einer nicht vergeschlechtlichten

 30 Zur Unmöglichkeit im Nahbereich, Familie, Paarbeziehung, berufliches Umfeld Sexismusmkritik zu äußern siehe Sara Ahmed zum Unbehagen (discomfort) feministischer oder queerer SpielverderberInnen (killjoys), das normative Vorstellungen von Glück (happiness) als hegemonial deutlich macht (2010: 30f).

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Orientalismuskritik aus dem Blick: Erstens der strategische Einsatz von ›Frauenunterdrückung‹ für die Behauptung der ›positionalen Überlegenheit‹ und der ›kulturellen Hegemonie‹ einer ›Kultur‹ über die andere (vgl. ebd. 326). Und zweitens – und das erscheint mir noch wichtiger – der Effekt dieser Strategie, Patriarchate in der ›eigenen‹ Kultur unsichtbar zu machen. Für die westliche Perspektive macht Nader einen Entwicklungsbegriff verantwortlich, der die Lage der Frauen an einem unüberprüften Modell ansteigendem Fortschritts misst,31 wobei der Blick nach Osten ein ›orientalisches Patriarchat‹ identifiziert, das geschichtslos und statisch ist und Frauen unmündig hält und sexuell ausbeute.32 Nur eine Entwicklung ›Western Style‹ könne den ›Orient‹ aus dieser Lage befreien. Nader hält dagegen, dass in der postkolonialen Phase die Übertragung westlicher Emanzipationsmodelle große Probleme erzeugt habe. Z.B hätten modernisierende ›Staatspatriarchate‹ wie in Libyen oder im Jemen Frauen von familiären Netzwerken abgeschnitten, in Kleinfamilien isoliert und in städtische Wohnblöcke übersiedelt. Falls der Ehemann dann als Arbeitsmigrant außer Landes gegangen sei, wären die Frauen vollständig vereinzelt worden und auf Gedeih und Verderb von der Existenz und Regelmäßigkeit von Auslands-Überweisungen abhängig gewesen. Das relative Missglücken solcher ›Emanzipationen‹ sei nicht etwa das Ergebnis rückständiger orientalischer Patriarchate, sondern ein Effekt des Zusammenwirkens von zwei Patriarchaten, dem westlichen und dem östlichen (vgl. ebd. 325). Im Gegenzug dazu verursache eine östlich ›okzidentalistische‹ (anders als in meiner Verwendung hier als phobisch dem Okzident gegenüber verstanden) Abwehr westlicher Einmischung in Geschlechterverhältnisse eine Islami(isti)sche Wagenburgmentalität unter Vorgabe, Frauen vor westlicher Verderbnis zu ›schützen‹. Das Ergebnis dieses ›kontrastierenden Vergleichs‹ von Geschlech-

 31 Nader präsentiert sozialwissenschaftliche Evidenz, dass dem nicht so ist, aber das Ideologem persistent bleibt (vgl. Knudsen 1969). Für feministische Geschichtswissenschaft ist es inzwischen etabliert, dass Gesellschaftsfortschritt oft auch Frauenrückschritt ist, begonnen mit Joan Kellys Aufsatz Did Women had a Renaissance von 1977 (2004) und für den deutschsprachigen Bereich den Arbeiten von Karin Hausen (2001) und Claudia Honegger (1996). 32 Diese Form von ›Orientalismus‹ findet man erstaunlicherweise auch bei Simone de Beauvoir in Das andere Geschlecht (1949): »Ich werde diese Entwicklungen im Abendland untersuchen, denn die Geschichte der Frau im Orient, in Indien und in China war eine lange, stets gleichbleibende Sklaverei. Frankreich, wo die Situation besonders typisch ist, soll Mittelpunkt dieser Untersuchung vom Mittelalter bis heute sein« (de Beauvoir 1999: 108; Fussnote 32: 904).

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terverhältnissen im Kampf um kulturelle Hegemonie sei, dass beide Gesellschaftssysteme damit ihre Frauen effektiv kontrollieren, im Westen damit, dass sie die weiterhin bestehenden okzidentalen Patriarchate unsichtbar machen, und im Osten damit, dass sie Frauen zu Symbolen des Abwehrkampfes gegen westliche Hegemonie machen. Ein Effekt solch manichäischer Gegenüberstellungen sei eine stetige Rücknahme von bereits garantierten Frauenrechten. Nader bezieht Feministinnen ausdrücklich in diese Strategien ein, so sagt sie »feminists are often part of the controlling male dogmas« (ebd.), gibt ihnen aber keine initiierende Funktion. In dieser Frage würde und möchte ich deutlich über Naders brillante Analyse hinausgehen und bestimmte Feminismen nicht nur als einen gelegentlichen ›Teil‹ männlicher Kontrollstrategien lesen, sondern gewissermaßen als einen – natürlich nicht intentionalen – Stoßtrupp derselben. In diesem Zusammenhang möchte ich nochmal auf Alice Schwarzers Plädoyer für den ›Gleichheitsfeminismus‹ zurückkommen. Sexualpolitisch argumentierender Gleichheitsfeminismus sieht sich mit einem universellen ›Mandat‹ für den Kampf gegen Frauenunterdrückung ausgestattet. Danach ist es eine Pflicht jeder Feministin, allen als von ihr als unterdrückt identifizierten Frauen zur Hilfe zu kommen. Eine solche Position ›autorisiert‹ auch einen orientalistischen Männerdiskurs, weil dieser dadurch ›progressiv‹ wird, indem er radikalen Feminismus kooptiert. Zwar glaubten die Gleichheitsfeministinnen die Spitze des Eisbergs anzugreifen – also der am wenigstens ›entwickelten‹ – Version einer überall vorhandenen patriarchalischen Frauenunterdrückung mit ihrer Polemik gegen ›orientalische‹ Verschleierung. Jedoch scheitert ihre Gleichheitspolitik immer am ›falschen Universalismus‹ der eigenen Positionalität, nämlich der Vorgabe, dass der Geschichtsverlauf den weißen Positionen als ›Fortgeschrittensten‹ folgen sollte. Postkoloniale Feministinnen haben solche Auffassungen vom historischen Ende her kritisiert. D.h. sie haben auf die historische Kontinuität von kolonialer Unterwerfung und den damit einhergehenden verächtlichen Blick auf die Rückschrittlichkeit lokaler Gender-Regime und postkolonialer Missachtung unter den Auspizien eines ›Entwicklungsparadigmas‹ hingewiesen. Dabei haben sie beklagt, dass große Teile des Feminismus die kulturelle Hegemonie dieser Wahrheitsproduktion nicht reflektieren. ›Dekoloniale Feministinnen‹33 haben die hier benannten Probleme vom historischen ›Anfang‹, der Szene der Kolonisierung,

 33 Zur lateinamerikanischen vom spanischen Kolonialismus inspirierten Dekolonialen Theorie (im Gegensatz zur arabisch/indischen vom britischen Kolonialismus inspirierten postkolonialen Theorie) siehe Mignolo/Escobar (2009).

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die sie die ›Power of Coloniality‹ nennen, aufgezäumt. Maria Lugones z.B. weist in Decolonizing Gender (2012) darauf hin, dass schon im Kolonisierungsprozess selbst den Kolonisierten westlich patriarchale Strukturen als Entwicklungsprogramm aufoktroyiert worden seien, die Frauen nicht nur dem Patriarchat der Eroberer, sondern sich auch erstmals einem importierten Patriarchat der eigenen Männer unterworfen habe.34

A BSCHLIESSENDE Ü BERLEGUNGEN Die Figuration ›Feministischer Orientalismus‹ ist der Ausdruck eines Paradoxes, das auf der Fokussierung eines großen Teils des westlichen Feminismus auf Sexualpolitik basiert: Es wird im Angesicht der ›Slavery of Sex‹ sexuelle Autonomie gefordert, womit man sich selbst an der Sichtbarwerdung und Sexualisierung des weißen weiblichen Körpers beteiligt. Die ›Griechische Sklavin‹ als moralisches Fanal und die erste Nackte in der amerikanischen Skulptur sind dafür ein gutes Beispiel. Konsumierbar und sublimierbar (d.h. Lucy Stones kathartisches Erlebnis befördernd) wurde der Skandal erst durch die Transferierung der ›Schuld‹ in den Orient und auf den Haremsherrn. Gleichzeitig ist der auf diese Weise veröffentlichte Körper (der ›Griechischen Sklavin‹) verstärkt sexualisierten Blicken und Angriffen ausgesetzt. Durch die Externalisierung und ›Veranderung‹ der strukturellen und symbolischen Gewalt, die mit dieser Form von Verletzbarkeit einhergeht, d.h. der Verschiebung und Übersetzung des heimischen Patriarchats in ein ›Orientalisches Patriachat‹, kommt es zu einer ›Ethnisierung von Sexismus‹ (vgl. Jäger 1996). Man kann eine solche Entwicklung im erweiterten auf ›Race‹ übertragenen Sinn in den großen sexualpolitischen Tribunalen in den USA der Neunziger Jahre studieren. Wichtige von Feministinnen vorangetriebene gesellschaftliche Verhandlungen über sexualisierte Männergewalt wurden in von Medienhype begleiteten Verfahren gegen prominente schwarze Männer geführt: Häusliche Gewalt (O.J. Simpson), Date Rape (Mike Tyson), Kindesmissbrauch (Michael Jackson) sexuelle Belästigung (Clarence Thomas). 35 Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass der ›figurative Gebrauch von Blackness‹ nicht ganz deckungs-

 34 Siehe auch meinen im Erscheinen begriffenen Aufsatz zu ›Decolonizing Gender‹ (Dietze 2013b). 35 Für eine ausführliche Analyse dieser Phänomene siehe das Kapitel ›Black-PosterBoys‹ und die Großen Tribunale (Dietze 2013a: 353-419)

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gleich mit dem von ›Orient‹ gesetzt werden kann. Joyce Zonana hat darauf hingewiesen, dass bei schwarz/Weiß »Rasse« erzeugt wird und bei Orient/Okzident »Kultur« (Zonana 1993: Fußnote 2: 2). Um der Logik und der inzwischen über 200 Jahre alten Geschichte der vielgestaltigen Diskursformation Feministischer Orientalismus auf die Spur zu kommen und ihre epistemische Gewalt zu durchbrechen,36 ist es unumgänglich, im Dialog mit ›orientalischen‹ Feministinnen zu denken und politisch zu handeln, denn diese haben die hier diskutierte Struktur zuerst und am klarsten gesehen. Besonders aufschlussreich sind dabei ›ältere‹ Texte, wo die Verletzung durch okzidentalistische feministische Arroganz frisch, verwundet und auch verwundert ist und sozusagen noch mit ›offenem Visier‹ argumentiert wird. Zentrale Interventionen wie die der im Libanon geborenen Feministin Laura Nader wurden bereits weiter oben diskutiert. Die in Ägypten geborene und heute in den USA lehrende Feministin und Spezialistin für den Mittleren Osten, Leila Ahmed, berichtet 1982 in ihrer glänzenden Polemik Western Ethnocentrism and the Perception of the Harem, wie sie bei ihrer Ankunft im Westen zunächst empört darauf reagiert habe, wenn arabisch-stämmige Wissenschaftlerinnen den Harem als einen Raum von weiblicher Autonomie interpretiert hätten, wo doch nach ihren eigenen schlechten Erfahrungen zuerst die im arabischen Raum spezielle Frauenunterdrückung thematisiert werden müsse. Im Laufe der Zeit habe sie festgestellt, dass eine provokative Affirmation des Harems gegenüber der geballten und unbeeindruckbaren Arroganz westlicher Feministinnen nicht nur angebracht, sondern auch in der Sache notwendig und fruchtbar ist (vgl. ebd. 521). Ahmed weist darauf hin, dass die vereinfachende Darstellung der Unterdrückung muslimischer Frauen strukturell aus der gleichen Position von »guardians of Western civilization« kommt wie das bis tief ins 19. Jh. reichende und von den Faschisten wieder aufgenommene ›Wissen‹ über die natürliche Ungleichheit des weiblichen Geschlechts. Ahmeds Angebot und Aufforderung, in Allianzen und Strukturähnlichkeiten zu denken und gemeinsame Gegner des feministischen Projekts zu identifizieren statt zu spalten, ließe sich trefflich auf die Beurteilung von westlichen Institutionen sexualisierter Herrschaft von Frauen und Männern übertragen. Ihre knappe Definition des Harems als einem System, das Männern sexuellen Zugang zu mehr als einer Frau erlaube (vgl. ebd. 524), kann man umstandslos mit dem okzidentalen Doppelstandard der staatlich regulierten Prostitution in Beziehung setzen, ein Anliegen, das einige der hier diskutierten

 36 Zu ›epistemischer Gewalt‹ im Zusammenhang mit orientalisierten Wissensobjekten siehe Brunner (2011).

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radikalen Feministinnen, wie Gilman, Augspurg/Heymann energisch verfolgt haben, ohne eine kognitive Dissonanz mit dem gleichzeitig produzierten Orientalismus zu empfinden. Saba Mahmood interpretiert solche systematische Blindheiten als Kosten eines unreflektierten Vertrauens in liberale Normen, da sie sowohl verfälschte Vorstellungen vom nicht-westlichen Subjekt produziere, als auch eine kritische Beleuchtung der Normativität liberaler Vorannahmen verhindere (2005). Oder anders gesagt, Orientalismen sind nötig, um okzidentale Vernunfts- und Diskursüberlegenheit zu konstruieren und vor allem sie erhalten zu können. Radikale Feministinnen können in dieser Struktur eine Heimstatt finden, weil sie ja ihr Mandat, für alle Frauen dieser Welt zu kämpfen, über eine ›progressive‹ Rationalität begründen. Der Prozess verläuft jedoch nicht widerspruchsfrei. Die Geschlechterasymmetrien eines imaginierten Orients und die Figuration ›Verschleierte Migrantin‹ als verkörpertes Emanzipationsdefizit erinnern subkutan an die Unvollständigkeit der eigenen Emanzipation. Birgit Rommelspacher argumentiert, dass je größer die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit sei, desto größer das Bedürfnis, über eine forcierte Emanzipationsrhetorik die eigene Fortschrittlichkeit unter Beweis zu stellen (2007: 258f). Rommelspacher spricht hier im psychologischen Bildraum der Überkompensation. Noch eine Schraubendrehung weiter argumentiert Helmuth Berking, dass eine diskursive Ethnisierung der Migration zu einer mentalen Erhöhung der »Freiheitsspielräume […] nationalstaatlich formierter Sprachgemeinschaften« führe und dass es zu einer Verschärfung der kulturellen Distanz der Mehrheitsgesellschaft gegenüber einer als rückständig und traditionalistisch angerufenen Migrationsbevölkerung kommt (2010: 297). Nach Berking hebt Orientalismus nicht nur die Stimmung der Autochthonen, sondern erzeugt auch die Illusion einer erweiterten Handlungsmacht. Der Wunsch nach Agency scheint mir eine wichtige ›dichte Stelle‹ zu sein, um den anhaltenden Erfolg der Diskursformation Feministischer Orientalismus zu erklären. Das bohrende Unbehagen und die Demütigung, auch im Okzident sexualisierte Männerherrschaft keineswegs überwunden zu haben, wie es sich z.B. an der leidenschaftlichen Sexismus-Debatte in Deutschland im Winter 2013 zeigen lässt, befeuert das Bedürfnis, wenigstens in orientalisierten und ethnisierten äußeren und inneren Fernen radikal, entschieden und kompromisslos Sexismus zu bekämpfen. Ich habe die Überlegungen an Protagonistinnen radikaler Feminismen aufgezäumt, weil diese strukturell und zu recht am meisten bewundert werden, ob ihrer Kompromisslosigkeit, ob der persönlichen Risiken, die sie eingehen und

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auch weil sie den Gedanken ins Leben brachten und auch heute am Leben halten, dass die herrschende Geschlechterordnung nur durch Revolutionen und Umstürze beseitigt werden könne. Und dass es anderen Vorstellungen von Natur, Kultur und Körper bedarf, um die ewigen Neuformierungen patriarchaler Herrschaft unter wechselnden und auch spätmodernen Bedingungen zu unterbrechen. Nach Simone de Beauvoir träume der okzidentale Mann davon, ein emanzipiertes weibliches Gegenüber zu bekommen. Ich teile diesen Optimismus nicht, zumal auch hier de Beauvoir eine okzidentale Überlegenheit gegen ein imaginäres ›orientalisches Patriarchat‹ konstruiert: »[…] the Oriental careless of his own fate is content with a female who is for him [an object of pleasure]; but the dream of the Occidental, once he rises to consciousness of his own uniqueness, is to be taken cognizance of by another free being, at once strange and docile.« (de Beauvoir 1952: 170, zit. n. Markowitz 2009: 170).

Die Untersuchung sollte gezeigt haben, dass feministische Radikalität notwendigerweise mit Forderungen nach ›Sexuellen Revolutionen‹ verbunden ist, da die Autonomie weiblicher Körper auf dem Spiel steht. Wenn der Untertitel des Aufsatzes von dieser Verbindung als einer ›unheimlichen Beziehung‹ spricht, so will das sagen, dass ein westliches Projekt sexueller Befreiung aus dem Männerjoch, mit einiger Wahrscheinlichkeit ›Sexuellen Exzeptionalismus‹ und ›Okzidentalistische Selbstaffirmation‹ nach sich ziehen wird. Eine Unterbrechung dieser ›unheimlichen Beziehung‹ ist nur sehr bedingt möglich: 1. über eine Positionierung der westlichen Akteurinnen im intersektionalen Spektrum, nämlich ein in Rechnung Ziehen eigener Whiteness und Okzidentalität als ›Default Position‹; 2. über Bündnisse mit Agency und Subjektposition postkolonialer Feministinnen aus der Region, d.h. wirkliches ›Powersharing‹ unter Feministinnen. Und 3. über Verschiebung der Perspektive von einem ›methodischen Nationalismus‹ (Beck/Sznaider 2006) auf einen transnationalen und transkulturellen Feminismus ›verstreuter Hegemonien‹ (Grewal/Kaplan 1994), der sich versteht als »situated practice within complicated and constitutively related histories and communities, open to mutual illumination« (Shohat 2006: 12). Nun kann man sich natürlich fragen, ob die Verschiebung eines Konflikts um westliche Geschlechtergerechtigkeit alles ist, was die (Neo-)Orientalisierung von Sexismus bewerkstelligt, oder ob mit der identifizierten Diskursexplosion noch andere Fragen im Gramsci’schen Sinne artikuliert werden. Ich möchte mit dieser Nachfrage Aufmerksamkeit darauf lenken, dass seit geraumer Zeit Konflikte

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geopolitischer Dimension wie Nahost-Konflikte und -Kriege und Migration muslimischer Einwanderer nach Westeuropa über Kulturalisierung von Differenz (Mamdani 2000) ausgehandelt werden. Hierarchie wird nicht nur über chromatischen oder biologistischen Rassismus installiert, sondern auch über angeblich rückschrittliche Religion, die die aufklärungsfähig und damit auch nicht zukunftsfähig seien und modernisierungsfeindliche ›Traditionen‹. Eine entscheidende Kurzformel dafür ist die Kulturalisierung von Geschlecht37. Damit wäre am Schluss der Untersuchung noch eine weitere These in den Raum zu stellen: ›Kulturalisierung‹ ist eine Strategie, Hegemonie zu konstruieren, die Rassismus hinter Markern kultureller Überlegenheit wie Zivilisation, Fortschritt und Entwicklung zum Verschwinden bringt. ›Kulturalisierung von Geschlecht‹ greift dabei auf das naheliegendste Modell von ›kulturalisierter‹ Herrschaft zu, nämlich der des Mannes über die Frau.

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 37 Hiermit möchte ich der Möglichkeit danken, unter dem Titel Kulturalisierung von Geschlecht im Netzwerk Gender Studies Schweiz während des Herbst/Winter 2011 eine Gastprofessur in Basel und Zürich erhalten zu haben. Andrea Maihofer und Bettina Dennerlein danke ich für die vielen Anregungen, die ich zum Thema im gemeinsam veranstalteten Seminar erhalten habe und auch den Studierenden für ihre kreativen Beiträge.

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Global Sisterhood Revisited Möglichkeiten und Fallstricke grenzüberschreitender Solidarität F RANZISKA D ÜBGEN 1 You taught me language and my profit on’t Is, I know how to curse. (SHAKESPEARE 1999: I.II. 368-370)

Immanuel Kant sei nicht einfach als ein bürgerlicher Apologet Europas abzuhandeln, sondern müsse als ein Prospero der Aufklärung verstanden werden, behauptet Spivak in Anspielung auf den ambivalenten Helden der Literaturgeschichte Prospero aus Shakespeares Theaterstück The Tempest (vgl. Spivak 1999: 37). Prospero betrat in dem Stück als Herrscher und Lehrer eine ihm unbekannte Insel, unterwarf die dortigen Bewohner und beeindruckte sie zugleich mit seiner schillernden Persönlichkeit und seinem umfassenden Wissen. Das Erbe der Aufklärung sei metaphorisch ein solcher Prospero, behauptet Spivak; auftretend in Form eines imperialen Unterwerfungsgestus, der nicht abgetrennt von seiner historisch-ideologischen Funktion analysiert werden darf. Und zugleich kann sich die postkoloniale Theorie nicht länger damit zufrieden geben, sich einzig mit der Rolle des Calibans – dem auf der Insel unterworfenen, belehrten und rebellischen Sklaven – zu identifizieren. Eine solche Identifikation führe lediglich zu einer Umkehrung der Ausbeutungsverhältnisse und produziere eine gefährliche Nostalgie für eine nie dagewesene Vergangenheit (vgl. Spivak 1985: 245). Es bedürfe stattdessen einer kritischen Aneignung, einer Dekon-

 1

Der Artikel entstand im Rahmen eines Fellowships am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS), Potsdam.

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struktion der »axiomatics of imperialism« (ebd. 37). Ganz in diesem Sinne argumentiert Spivak in einem Interview: »I feel that it is useful for us to revisit Kant and, in the way in which history offers the possibility of a correction, a revision of Kant in today’s world rather than take a bad faith position of the Enlightenment defined as a time in history where bourgeois capitalism began to rule the world.« (Gallop/Spivak 2004: 189)

Ich nutze diesen Aufruf Spivaks, um der Frage nachzugehen, wie mit emanzipatorischen Skripten, die klassischerweise Europa zugeordnet werden, aus postkolonialer Sicht umgegangen werden soll. Nicht nur das Erbe der Aufklärung gilt bei vielen postkolonialen Autoren als imperial und repressiv. Auch der westliche Feminismus befindet sich seit mindestens zwei Jahrzehnten auf der Anklagebank. Er sei hierarchisch, soziokulturell einsilbig und in seinem Protektionismus entmündigend. Angesichts dieser verheerenden Kritik lässt sich bezweifeln, wie grenzüberschreitende emanzipatorische Kämpfe heute überhaupt noch möglich sein können – verbleiben sie doch, zumindest in Westeuropa, stets unweigerlich im imperialen Archiv der hegemonialen Sprache des Politischen verstrickt. Spivak behauptet entgegen dieser Skepsis, dass das Denken der Aufklärung und der westliche Feminismus zwar imperial seien, aber auch Gaben darstellten, die man sich differenziert aneignen und bewohnen könne. Sie seien repressiv und emanzipatorisch gleichermaßen. Diesem Paradoxon, dem von ihr als Double bind gekennzeichneten Widerspruch, und dessen praktisch-politische Konsequenzen werde ich daher im Folgenden nachforschen. Zunächst wende ich mich ihrer Rezeption von Immanuel Kants Denken der Aufklärung zu und zeichne anhand einer Lektüre von A Critique of Postcolonial Reason (1999) nach, wie Spivak den rassifizierten und geschlechtlich kodierten Anderen in Kants Schriften herausschält und dabei zugleich das politische Potenzial der Philosophie der Aufklärung hervorkehrt. Diese dekonstruktive Lektüre setzte ich in einem zweiten Schritt in Beziehung zu Spivaks kritischer Auseinandersetzung mit dem westlichen Feminismus und analysiere die Parallelen beider Argumentationswege. In Three Women’s Texts and a Critique of Imperialism (1985) verwebt Spivak durch die Zusammenschau dreier Romane unterschiedliche Ebenen des Aufbegehrens: gegen die Klassenherrschaft im England des 19. Jh, gegen die spezifisch patriarchale Färbung dieser sozialen Unterdrückungsverhältnisse und gegen den Rassismus einer europäischen Kolonialherrschaft. Dieses Panorama unterschiedlicher Unterdrückungsbeziehungen bildet den Hintergrund des dritten Teils meines Beitrags, der sich mit der Möglichkeit grenzüberschreitender politischer Praxis befasst und für die Notwendigkeit reflexiver Solidarität auf transna-

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tionaler Ebene argumentiert. Er vollzieht eine Reflexion auf die Grenzen und Möglichkeiten einer aktualisierten »Global Sisterhood« (Morgan 1996), wie sie internationalistisch orientierten Aktivistinnen2 seit den 1980er Jahren als Inkarnation einer solidarischen Utopie über konventionelle Grenzen hinweg vorschwebte.

I.

A UFKLÄRUNGSPHILOSOPHIE

UND

S UBALTERNITÄT

Im Rahmen ihrer dekonstruktiven Lektüre von Kants Werk widmet sich Spivak der Frage, warum sich die Philosophie der Aufklärung eigentlich im Laufe der Geschichte politisch als Projekt des Imperialismus desavouiert habe (vgl. Gallop/Spivak 2004: 179). Ihr wohne schließlich ein kritisches Potenzial inne, welches erneut in der zeitgenössischen Welt an Bedeutung gewinnen könnte. Provokativ wendet sie sich gegen das Klischee des bürgerlich abgehobenen idealistischen Aufklärungsdenkens (vgl. Gallop/Spivak 2004: 183) und grenzt sich von einer Spielart des kulturellen Konservatismus ab, welche die Idee der Vernunft zugunsten einer romantisierten mystischen Denkform der Subalternen ablehnt (vgl. ebd. 199). Die Zurückweisung der Vernunft sei keine angemessene Antwort auf die imperialen Spuren im Denken Kants. Spivaks Strategie dagegen ist es, die Aporien und Bruchzonen von Kants kritischer Philosophie aufzuzeigen, die seinen moralphilosophischen Universalismus untergraben. Ihre Analyse von Kant mündet in der These des Double binds der praktischen Vernunft: Diese wirke als befähigende Gewalt (vgl. Spivak 2008: 79) verletzend und könne zugleich emanzipatorisch nutzbar gemacht werden. Es geht mir in meiner nun folgenden kurzen Rekonstruktion von Spivaks Kantlektüre nicht darum, einen Beitrag innerhalb der postkolonialen Kant-Debatte zu leisten, um Kant entweder als ›Antiimperialisten‹ (vgl. Muthu 2000) oder, insbesondere aufgrund seiner anthropologischen Schriften, als Rassisten abzuurteilen. Mein Augenmerk wird sich dagegen auf Spivaks Umgang mit dem Erbe der Aufklärung richten und

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Ich verwende im Folgenden in weiten Teilen die grammatikalisch weibliche Form zur Bezeichnung der aktiven Subjekte innerhalb des transnationalen Feminismus um hervorzuheben, dass die Akteurinnen dieser Bewegung vornehmlich Frauen sind. Männliche Aktivisten, oder Aktivisten zwischen den Geschlechtern, die sich für Geschlechtergerechtigkeit einsetzten, sollten an dieser Stelle jedoch mitgedacht werden, auch wenn sie in der binären Grammatik unserer Sprache nicht vorkommen, bzw. die Autorin im Akt des Schreibens stets gezwungen wird, sich für ein grammatikalisches Geschlecht zu entscheiden.

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ihre Aneignung von Kant für ihren spezifischen Modus postkolonialer Kritik und dessen Folgen für einen transnationalen Feminismus aus postkolonialer Perspektive analysieren. Spivaks dekonstruktive – von ihr auch als irrtümlich oder verpfuschend bezeichnete – Interpretation (vgl. Spivak 1999: 9) von Kants drei Kritiken setzt sich zum Ziel, performativ zu zeigen, inwiefern es nicht einfach möglich ist, Kant aus der Perspektive der Subalternen neu ›von unten‹ zu lesen. Dabei bezieht sich Spivak auf die anthropologisch begründeten Urteile Kants gegenüber anderen »Racen« (Kant 2003: 159). Ihre Lektüre kann insofern als verpfuschend bezeichnet werden, als dass sie über die Primärtexte hinausgeht, intertextuell vergleichend moralphilosophische, ästhetische und anthropologische Schriften aus unterschiedlichen Schaffensphasen zusammenbringt und diese zugleich historisch als Artefakte des Imperialismus liest. Ihre These lautet: Die Perspektiveinnahme der rassifizierten kolonialen Anderen in Kants Werk – innerhalb seiner Anthropologie wie auch seiner Ästhetik und Moralphilosophie – sei unmöglich und münde in einer ›Travestie‹, einem Rollentausch. Schließlich könne die Subalterne den Master Discourse der Kantschen Kritik der reinen Vernunft gar nicht rezipieren, da sie als ›Neuholländer‹ oder ›Feuerländer‹ – wie Kant die oder den kolonialen Anderen stellvertretend umschreibt (vgl. Nancy 1983) – von vornherein diesbezüglich ausgeschlossen sei. Als ›Wilder‹ sei die Subalterne bei Kant schließlich per se unfähig zu einer solchen rationalen, emanzipatorischen Lektüre. Sie verfüge, anthropologisch betrachtet, nicht über die Naturanlagen, um sich ihrer Vernunft zu gebrauchen und sich dadurch zu einem Subjekt moralischer Handlungen emporzuheben. Eine subalterne Gegenlektüre von Kants kritischer Philosophie sei demnach bereits semantisch verunmöglicht worden. Eine emanzipatorische Lektüre müsse dagegen vielmehr von innen heraus operieren. Insbesondere in seinen frühen anthropologischen Schriften differenziert Kant in der Tat zwischen unterschiedlichen ›Racen‹: Aufgrund diverser geografischer Faktoren hätten sich die in der menschlichen Stammgattung angelegten Keime in den einzelnen ›Racen‹ auf unterschiedliche Weise ausgeprägt. Er bezeichnet den Prozess der »Auswicklung« auch als denjenigen der »Abartung« aus einem gemeinsamen Urstamm der menschlichen Gattung aus den ihm beigegebenen Keimen (Kant 2003: 144). Bei der Auswicklung dieser Keime entstünden je nach ›Race‹ unterschiedliche Naturanlagen, die sich nach der Migration einzelner Subjekte in andere Klimazonen nicht weiter verändern könnten (vgl. ebd. 159). Einmal als schwarzer ›Neger‹ oder als olivgelber ›Indianer‹ ausgewickelt, blieben diese Naturanlagen selbst bei Übersiedlung in einen anderen Kontinent konstant: »Die ›Einartung‹ einer Rasse vollzieht sich organisationslogisch, und

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zwar irreversibel, sodass die Aktualisierung der virtuellen Naturanlagen nicht wiederholbar ist«, erklärt Rölli Kants Theorie der ›Racen‹ (Rölli 2011: 93). Für Spivak folgt aus diesen rassentheoretischen Überlegungen, dass das denkende Subjekt bei Kant geopolitisch verortet wird: »[…] the New Hollander or the man from Tierra del Fuego cannot be the subject of speech or judgment in the world of the Critique. The subject as such in Kant is geopolitically differentiated.« (Spivak 1999: 26-27)3

In den Kritiken bleibe die Differenzierung zwischen dem zu jeder Kultur unfähigen4 ›Wilden‹ und dem Menschen als rationalem Wesen im Subtext bestehen. Die aufklärerische Mission des Imperialismus zur Zivilisierung des Wilden sei deswegen zum Scheitern prädestiniert, weil der ›Wilde‹ durch seine mangelhaften Naturanlagen sich als gar nicht lernfähig erweisen müsse, argumentiert Spivak. Zwar impliziere das Denken der Aufklärung den Imperativ, der Mensch solle durch Bildung, durch zivile Gesetzgebung und durch den christlichen Glauben kultiviert werden. Zugleich sei ebendieses Unterfangen der Zivilisierung Anderer von Anbeginn an zum Scheitern verurteilt gewesen. Spivak schränkt ihre ›irrtümliche‹ Lektüre, welche bewusst über das, was das Textmaterial Kants explizit sagt, hinausgeht, zugleich auch wieder ein: »Kant’s text cannot [Herv. FD] quite say this and indeed cannot develop this argument. But its crucial presence in The Critique of Judgment cannot be denied.« (Ebd. 27)

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Vgl. für diese These auch Eze (1997), Farr (2005), Serequeberhan (1996) und McCarthy (2004). Für eine Interpretation, welche der hier aufgezeigten Verknüpfung von Rassentheorie und Moraltheorie widerspricht und davon ausgeht, alle ›Racen‹ könnten nach Kant eine Phase moralischen Fortschritt durchlaufen, vgl. Ypi (2010) und Wood (1998). Andererseits lässt sich Kant auch als »inkonsistenten Universalisten« interpretieren (Kleingeld 2007: 584), der in seinem Spätwerk seine rassentheoretischen Überlegungen revidiert habe.

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Kant weist in seiner Schrift Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien (1788) auf die fehlenden Naturanlagen des ›Wilden‹ hin (vgl. ebd. 14). Vgl. dazu »Dass aber ihr [American Indians] Naturell zu keiner v ö l l i g e n Angemessenheit mit ihrem einen Klima gelangt ist, läßt sich auch daraus abnehmen, dass schwerlich ein anderer Grund angegeben werden kann, warum diese Race, zu schwach für schwere Arbeit, zu gleichgültig für emsige, und unfähig zu aller Kultur [Herv. FD][…] noch tief unter dem Neger selbst steht, welcher doch die niedrigste unter allen übrigen Stufen einnimmt, die wir als Rassenverschiedenheiten genannt haben.« (Kant 2003: 159)

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Die geopolitische Kodierung des moralphilosophischen Subjekts schließe die Subalterne als Vertreterin der Aufklärung folglich apriorisch aus. Allein jenem aufgeklärten Europa, dessen ›Racen‹ über die Naturanlagen zur Selbstkultivierung verfügten, wohne folglich auch die Pflicht inne, als globale Gesetzgeber aufzutreten. Durch diesen argumentativen Kunstgriff Kants, der implizit sage, was er nicht explizit sagen könne, mutiere die Kritik der reinen Vernunft (Kant 1974) zum Rechtfertigungsnarrativ des Imperialismus (vgl. Spivak 1999: 26). Jedoch – und an dieser Stelle wird Spivaks Text aporetisch – sei in ebendiesem Rechtfertigungsnarrativ des Imperialismus zugleich auch dessen Dekonstruierbarkeit angelegt und mache Kants kritische Philosophie wiederum attraktiv für die Postkoloniale Theorie: Und zwar basiere die Moralphilosophie bei Kant schließlich auch auf der kognitiven Fähigkeit eines entwickelten Menschen, sich seiner Vernunft zu bedienen und dadurch das moralische Gesetz zu erkennen. So bedürfe es des subjektiven ästhetischen Vermögens, um das Erhabene, dessen Quelle letztlich Gott sei, anerkennen zu können. In dieser Aporie, diesem Wechselverhältnis, zwischen der Autonomie des menschlichen Willens und dem höheren Gesetz, offenbart durch das Erhabene, situiert Spivak den Angelpunkt für eine Dekonstruktion von Kants Philosophie von innen heraus. In Kants Kritik der Urteilskraft (Kant 1997) findet sich im §23 zur Analytik der Erhabenen folgende Textpassage, welche die Aporie des Erhabenen als nicht abbildbar und doch ästhetisch erfassbar verdeutlicht: »[…] das eigentlich Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft: welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung möglich ist, eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen lässt, rege gemacht und ins Gemüt gerufen werden.« (Kant 1997: 166)

Das Erhabene kann nach Jean-François Lyotard auch als Element des Sprachfeldes des Weiblichen als Antipode zum männlich kodierten moralischen Gesetz interpretiert werden (vgl. Lyotard 1994: 179, zit. in Spivak 1999: 29). Gegen diese Lesart, die das Gesetz als männlich und die Ambivalenz als weiblich kodiert, wendet sich Spivak jedoch ebenfalls vehement. Für sie bezeichnet das Erhabene bei Kant vielmehr eine »Struktur«, die das markiert, was wir als Menschen nicht erfassen und letztlich bestimmen können (Spivak 2004: 94). Das Erhabene sei zu groß für den Menschen, zu gewaltig, um es zu fixieren. Es markiert demnach die Grenzen der menschlichen Vernunft im Allgemeinen – und auch die Grenzen des Imperialismus. Dieser Widerspruch zwischen der Fähigkeit zur ästhetischen Erziehung und der Starrheit naturalisierter Differenz bildet für Spivak die Bruchzonen aufkläre-

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rischen Denkens. Lese man die Kritiken auf diese Weise gegen sich selbst, so erwiesen sie sich einerseits als imperiale Rechtfertigungsnarrative und begründeten andererseits die Möglichkeit der Imperialismus-Kritik, da sie sich selbst in ihre natürlichen Schranken verweisen. Darin bestehe ihr vielbesagtes Double bind. Denn, so die Schlussfolgerung von Spivaks Kantlektüre, sei es zwar nicht möglich, aus einer subalternen Perspektive Kant neu zu lesen, jedoch könne er genutzt werden, um das Fortwirken des Imperialismus und dessen zivilisatorische Rechtfertigung (durch nationale und transnationale neoimperiale Eliten) mit Rückgriff auf die Vernunft aufzuzeigen und zu kritisieren: »To read a few pages of master discourse allowing for the parabasis operated by the native infomant’s impossible eye makes appear a shadowy counterscene. Yet the binary opposition between master and native cannot bear the weight of a mere reversal […]. One task of deconstruction might be a persistent attempt to displace the reversal, to show the complicity between native hegemony and the axiomatics of imperialism.« (Spivak 1999: 37)

Kant schränkt folglich die Fähigkeit des Westens, als globaler Gesetzgeber aufzutreten, in dem Moment ein, in welchem er die reflektiert urteilende Vernunft innerhalb ihrer natürlichen Grenzen als menschliche Vernunft verorte (vgl. ebd. 24), und zwar als zu klein, um das göttlich Erhabene jemals völlig zu erfassen. In seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) weist Kant der ästhetischen Vorstellungskraft die Aufgabe zu, »reason’s calculative moral laziness« (Spivak 2004: 109) zu ergänzen und durch Imagination und Kontemplation die Grenzen rationaler Vernunft auszuloten. Die drei Kritiken führten somit ihre eigene Dekonstruktion vor, indem sie die Grenzen ihres Denkens markieren, und zwar im Angesicht des Erhabenen, NichtMenschlichen. Sie dienen damit als Kritik von jeglichem Dogmatismus sowie von Gewalt, die sich im Namen des Universellen rechtfertigt und behauptet, sich der Kritik der Anderen entziehen zu können.

II. I DEOLOGIE

UND I MPERIUM »›All women, all colours, nothing but fools. Three children I have. One living in this world, each one a different father, but no husband, I thank my God. I keep my money. I don’t give it to no worthless man.‹

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›When must I go, where must I go?‹ ›But look me trouble, a rich white girl like you and more foolish than the rest. A man don’t treat you good, pick up your skirt and walk out. Do it and he come after you‹ ›He will not come after me. And you must understand I am not rich now, I have no money of my own at all, everything I had belongs to him‹ ›What you tell me there?‹ she said sharply. ›That is English law‹« (RHYS 1997: 69)

Dieser Wortwechsel stammt aus Jean Rhys Wide Sargasso Sea (1966) und beschreibt das komplexe Verhältnis zwischen zwei Frauenfiguren des postkolonialen Romans, und zwar zwischen Christophine, einer ehemaligen Sklavin aus Martinique, und Antoinette, einer mit einem Engländer verheiratete Kreolin. Christophine ist ihrer Herrin Antoinette strukturell unterlegen, dennoch wirkt sie in diesem Textausschnitt stärker und unabhängiger, betont ihre finanzielle Selbstständigkeit und ihre Freiheit, sich von den Männern, die ihr Bedürfnis nach Liebe nicht erfüllen, zu trennen. Dagegen zeigt sich die Kreolin Antoinette in der völligen ökonomischen und emotionalen Abhängigkeit gegenüber ihrem europäischen Mann, an den sie finanziell qua viktorianisches Recht durch einen Ehevertrag gebunden ist und der ihr eigentlich einen gesellschaftlichen Aufstieg versprechen sollte. Das Emanzipationsversprechen im Namen Europas wird an dieser Textstelle von Christophine kritisch infrage gestellt und durch die Beschreibung der legalen und finanziellen Situation von Antoinette seiner Prekarität enttarnt. Ähnlich wie in ihrer Auseinandersetzung mit der Aufklärung, als einem gewaltsamen und zugleich befähigenden Skript des Imperialismus, befasst sich Spivak anhand des Textes von Rhys mit dem westlichen Feminismus in seiner Doppelbödigkeit. Das Emanzipationsversprechen der westlichen Frauenbewegung erweise sich als falsch und imperial gleichermaßen. Dennoch könne auch der Feminismus als Emanzipationsbewegung nicht aus der Perspektive der Subalternen einfach neu geschrieben werden. Vielmehr müsse auch hier die spezifische ideologische Formation des westlichen Feminismus historisch informiert von innen heraus dekonstruiert werden. Diese Form der Lektüre kann meines Erachtens dafür genutzt werden, politisch konstruktiv mit den Aporien komplexer Herrschaftsverhältnisse, in denen Frauen zuweilen gleichermaßen strukturell

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Opfer wie Täterinnen darstellen, umzugehen. Kritik bedeutet auch hier das Heraustreten aus binären Identitätskonstruktionen und homogenisierender Politik. In dem bereits 1985 veröffentlichten Text Three Women’s Text and a Critique of Imperialism schreibt Spivak dem westlichen Feminismus zwei zentrale Eigenschaften zu: Erstens sei dieser stark individualistisch orientiert und zweitens auf zwei primäre Funktionen ausgerichtet, und zwar Mutterschaft und Barmherzigkeit (vgl. Spivak 1985: 244). Anhand einer Relektüre von literarischen Texten beschreibt sie deren jeweilige Bezugnahme auf dieses Dispositiv. Ich werde mich lediglich auf zwei der drei Textinterpretationen und deren Verhältnis zueinander konzentrieren, um die Entfaltung des Double binds in diesem Text nachzuvollziehen, und zwar auf den Roman von Charlotte Brontës Jane Eyre (1847) und Jean Rhys Wide Sargasso Sea (1966). Letzterer Roman kann als postkoloniale Replik auf den prototypischen viktorianischen Emanzipationsromans Brontës gelesen werden (vgl. Ashcroft/Griffins/Tiffin 2002). Die Handlung des Romans von Brontë lässt sich folgendermaßen verdichtet zusammenfassen: Die junge Waise Jane wird von der Familie Reed aufgezogen, die sie jedoch schlecht und abfällig behandelt. Jane findet daraufhin Aufnahme in einer Waisenschule und nach ihrer Ausbildung eine Anstellung als Erzieherin am Hof von Thornfield. Jane und der dort lebende Gutsherr Edward Rochester verlieben sich trotz der sie trennenden sozialen Kluft ineinander und Rochester bittet Jane, seine Frau zu werden. Kurz vor der geplanten Hochzeit verkündet der Anwalt Briggs, dass Edward Rochester bereits verheiratet sei. Seine Frau ist Bertha Mason, eine Kreolin, die er ihres Geldes wegen geehelicht hat und die, als wahnsinnig stigmatisiert, eingesperrt und von der Krankenschwester Grace Pool betreut versteckt auf dem Hof von Thornfield lebt. Jane verlässt daraufhin aus moralischer Empörung und persönlicher Enttäuschung Thornfield und kommt bei dem Geistlichen St. John Rivers unter. St. Rivers träumt davon, als Missionar nach Indien zu gehen und bittet Jane, ihn als seine Ehefrau zu begleiten. Jane entscheidet sich gegen diese Vernunftehe mit einem Mann, den sie weder liebt noch begehrt. Überdies erfährt sie durch einen Brief, dass sie mit St. River verwandt und Erbin eines Vermögens von zwanzig Tausend Pfund durch den Tod ihres Onkels geworden ist. Von ihrer Armut befreit kehrt sie nach Thornfield zurück, da sie meint, einen Ruf von Rochester zu vernehmen. In der Zwischenzeit hat Bertha sich und den Hof in einem Akt des Wahns in Brand gesetzt. Edward Rochester, der berichtet, er habe sie retten wollen, wird in dem Feuer schwer verletzt. Daraufhin heiraten der fast blinde Rochester und Jane, leben in glücklicher Ehe und bekommen Nachwuchs.

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Spivak zufolge repräsentiert Jane den Prototyp der westlichen Frauenbewegung: In ihrer »self-marginalized uniqueness« als Protagonistin sei sie einerseits eine starke Individualistin, andererseits ziele ihr Leben auf die Verwirklichung einer romantischen heterosexuellen Liebesbeziehung und dem Gebären von Kindern. Sie stehe im Roman allegorisch für »Europa« in der Konfrontation mit seinem (noch) nicht menschlichen, kolonialen Anderen, repräsentiert durch ihre Rivalin Bertha, der legalen Ehefrau von Rochester (vgl. Brontë 1960: 247). Bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Bertha, von deren Existenz sie bisher nicht wusste, beschreibt Jane ihre Rivalin als tierhaft und fremdartig (vgl. Brontë 1960: 295). Jedoch, so lässt sich gegen Spivaks Lesart einwenden, hegt Jane auch Sympathien mit Bertha und identifiziert sich mit ihr aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte mit dem Leiden der Marginalisierung und Isolation, dass sie ebenfalls als armes Waisenkind erfahren hat. Darüber hinaus verweigert sie aus moralischen Gründen eine weitere Liebesbeziehung mit Rochester, nachdem sie von der Existenz von Bertha Rochester als legitimer Ehefrau erfahren hat. Auf diese mögliche Verschwisterung geht Spivak jedoch bewusst nicht ein und konzentriert sich dagegen auf die Konstruktion der Romanfigur als emanzipatorische Heldin in Opposition zu Bertha als dem wahnsinnigen, tierhaften Anderen. Den Tod von Bertha gegen Ende des Romans durch Selbstverbrennung und die bewusste Zerstörung des Anwesens von Thornfield seien narrative Voraussetzungen dafür, dass Jane überhaupt eine legale Ehe mit Rochester schließen könne. Spivak analysiert diese Dreieckskonstellation zwischen Jane, Bertha und Rochester folgendermaßen: »In this fictive England, she [Bertha] must play out her role, act out the transformation of the ›self‹ into that fictive Other, set fire to the house and kill herself, so that Jane Eyre can become the feminist individualist heroine of British fiction. I must read this as an allegory of the general epistemic violence of imperialism, the construction of a self-immolating colonial subject for the glorification of the social mission of the colonizer.« (Spivak 1985: 251)

Bertha müsse der Logik des Romans zufolge durch Selbstverbrennung erst sterben, damit Jane ihre Sehnsucht erfüllen kann. Janes Eheglück gehe demnach zulasten der kolonialen Anderen. Um die zweite Funktion der Heldin der westlichen Frauenbewegung zu erfüllen, die Barmherzigkeitsmission, wird Spivak zufolge Janes Cousin St. John Rivers an ihrer Stelle bemüht. Der Pfarrer St. John Rivers entscheidet sich am Ende des Romans dafür, als Missionar nach Indien auszuwandern. Als Tangente des Hauptszenarios um Janes Liebesgeschichte sei St. John das Privileg vorbe-

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halten, den Text abzuschließen. Seine geplante Auswanderung nach Kalkutta wird von Jane mit einem frühzeitigen Tod wegen der gleißenden Sonne in Indien assoziiert. St. John Rivers »labours for his race« (Brontë 1960: 455, zit. in Spivak 1985: 24), beurteilt die Erzählstimme Janes die altruistische Handlung des Mannes. Die barmherzige Mission wird demnach nicht von der Heldin des westlichen Feminismus selber, jedoch von einem ihr persönlich und familiär verbundenen Charakter ausgeführt. Demnach erfülle dieser Emanzipationsroman die wesentlichen Funktionen des westlichen Feminismus, die für ihre Erfüllung gleichermaßen von der unterworfenen Anderen abhängig blieben: Familie, Kinder und die moralische Selbstaufgabe für eine größere Sache. In Wide Sargasso Sea (1966) beschreibt die dominikanische Autorin Rhys die Vorgeschichte zu der Handlung von Jane Eyre als Liebesgeschichte zwischen Antoinette (später in der narrativen Folge von Rochester umbenannt in Bertha) und Edward Rochester auf Jamaika. Der Roman schildert die Zeit der beiden Charakter in Jamaika, quasi zeitlich vorgelagert vor der Geschichte Jane Eyres und Rochesters. Während Antoinette Vertrauen und Liebe für Rochester entwickelt, beginnt dieser, sich von ihr schnell nach der Eheschließung zu distanzieren und sie so entwürdigend zu behandeln, dass eine Flucht in den Wahnsinn – wie sie bei Jane Eyre ohne Erklärung als quasi-natürliches Ereignis passiert – bei Rhys als eine kausale Folge dieses rassistischen und sexistischen Verhältnisses erscheint. So schläft er mit dem Hausmädchen Amelie hörbar lustvoll im Nebenzimmer, verweigert Antoinette jedoch jegliche körperliche und emotionale Zuneigung. Christophine, das bereits oben zitierte Kindermädchen und später Dienerin von Antoinette aus Martinique, ist die einzige Vertraute der Protagonistin und durchschaut dieses ungleiche und ausbeuterische Verhältnis. Christophine wird nachgesagt, dass sie eine »obeah woman« (Rhys 1997: 79) sei und die Praktiken dieser kreolischen Religion mit weißer und schwarzer Magie beherrsche. Sie mischt Antoinette einen Trunk, mit dem diese sich wieder die Begierde ihres Mannes zurückerobern möchte. Durch Antoinettes Halbbruder über einen erblichen Wahnsinn innerhalb der Familie und einer angeblichen amourösen Beziehung von Antoinette vor ihrer Eheschließung in Kenntnis gesetzt, wendet sich Rochester sukzessive von seiner Frau ab. Antoinettes verteidigt sich, ihre Familie sei nicht erblich ›wahnsinnig‹ und der Alkoholsucht zugeneigt. Vielmehr habe die harte Realität der beständigen Ausgrenzung als ›Mulattin‹ und die Verarmung nach dem Tod ihres Mannes ihre Mutter in den ›Wahnsinn‹ und den Alkoholismus getrieben (vgl. ebd. 8285). Der Wahnsinn sei also vielmehr ein Produkt des Kolonialismus und keine biologisch erklärbare Tatsache.

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Anhand des Romans von Rhys zeigt Spivak, dass eine reine Umkehrung der Perspektiven durch das ›writing back‹ der Subalternen (vgl. Ashcroft/Griffins/ Tiffin 2002) zum Scheitern verurteilt ist. Man kann eben auch nicht in der Literatur die Figur des Calibans für sich vereinnahmen und authentisch bewohnen. Analog könne sich die koloniale Andere des viktorianischen Emanzipationsromans aus der Metropole nicht einfach bemächtigen. Man solle die Literaturgeschichte nicht auf den Kopf zu stellen versuchen, in dem man sie ›von unten‹ lese: »No perspective critical of imperialism can turn the Other into a self, because the project of imperialism has always already historically refracted what might have been the absolutely Other into a domesticated Other that consolidates the imperialist self.« (Spivak 1985: 253)

Ähnlich wie bei Kant sei bereits der oder die Andere des viktorianischen Emanzipationsromans durch die imperiale Logik überdeterminiert und könne daher auch keine eigenständige Subjektposition einnehmen. Deshalb müsse hier die Dekonstruktion von innen heraus operieren: Spivak veranschaulicht ihre Kritik anhand des Charakters der Dienerin Chistophine, welche die eigentliche Subalterne im Roman darstelle. Christophine beschwört die Emanzipation der Sklaven in Jamaika als Garant ihrer Freiheit und entlarvt als einzige Rochester als Mann mit mangelnder Liebe für Antoinette, dessen pragmatisches Interesse mehr ihrem frisch ererbten Reichtum gelte. Christophine müsse jedoch am Rande des Narrativs verbleiben und könne nicht ihr neues Zentrum werden. Nach ihrer hellsichtigen Analyse der realen Ausbeutungsverhältnisse verschwinde ihr Charakter sogar aus dem Erzählverlauf, und zwar ohne jegliche dramaturgische Rechtfertigung (vgl. ebd. 253). Weder innerhalb der literarischen Form des viktorianischen Romans noch auf einer ideologischen Ebene könne Jane Eyre ›von unten‹ aus der Perspektive der befreiten Sklavin gelesen werden und dadurch die kolonialisierte Andere durch die Erzählfigur vereinnahmt werden: »Attempts to construct the ›Third World Woman‹ as a signifier remind us that the hegemonic definition of literature is itself caught within the history of imperialism. A full literary reinscription cannot easily flourish in the imperialist fracture or discontinuity, covered over by an alien system masquerading as Law as such, an alien ideology established as only Truth, and a set of human sciences busy establishing the ›native‹ as selfconsolidating Other.« (Ebd. 254)

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Während in Kants Philosophie die eigentliche Crux darin liegt, dass sich der koloniale Andere aufgrund der mangelnden Naturanlagen nicht zur Vernunft begabt zeigt und sich daher als Subalterner seiner Vernunft nicht bemächtigen kann, liegt bei Jane Eyre die Schwierigkeit für eine postkoloniale Perspektiveinnahme darin, dass die Strategien zur Befreiung, die wesentlichen Funktionen des westlichen Feminismus, die Unterdrückungsverhältnisse zugleich auch vernebelten. Da er ein Instrument zur Unterdrückung der Dritte-Welt-Frau sei, der auf einer Projektion eines tiefhaften und hilfsbedürftigen Subalternen basiere, gegenüber der sich die westliche Feministin als altruistische Individualistin inszeniert, kann die Subalterne definitorisch nicht die Position der Heldin einnehmen. Innerhalb dieser ideologisch überformten Wirklichkeit könne sich die Subalterne den Feminismus des Master Discourse nicht zu eigen machen. Eine »neue Politik des Lesens« (Spivak 1999: 110) in Form von historisch informierter Ideologiekritik müsse der kritischen Aneignung demnach überhaupt erst vorausgehen, bevor der Feminismus dezentriert und erneuert werden könne.

E XKURS : A LTERNATIVE W ISSENSARCHIVE DES F EMINISMUS – A GAINST S ISTERARCHY ! Als Versuche der Dezentrierung des westlichen Feminismus durch Ideologiekritik können die theoretischen Interventionen einiger afrikanischer Feministinnen in diese Debatte verstanden werden, die ich hier exemplarisch kurz vorstellen möchte. Interessanterweise beziehen sich die beiden Autorinnen ebenfalls auf Brontës Roman Jane Eyre, den sie als Gegenfolie für ihre afrozentrische Theoriebildung nutzen: Chikwenye Okonjo Ogunyemi und Molara Ogundipe-Leslie entwickeln ihre Theorien explizit als Gegenfolie zur ›imperialen Geschlechterordnung‹ und werden in Europa bisher nur marginal rezipiert. Ogunyemi, die sich selbst in Abgrenzung zum westlichen Feminismus als Womanistin betitelt, 5 nimmt in einem Aufsatz aus demselben Jahr, in dem Spivak ihren Text publiziert hat, ebenfalls Jane Eyre zum Ausganspunkt ihrer Reflexionen über postkolonialen Feminismus. Sie identifiziert im Roman eine »white survival ethics« (Ogunyemi 2006: 23), welche aus Bertha eine unsichtbare Frau mache, derer die ›tugendhafte‹ Jane bedürfe, um sich einen Mann zu sichern. Berthas Tod, der mit Janes Ausweg aus der Armut und dem damit ver-

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Sie gibt an, dieses Terminus parallel zu Alice Walker eigenständig für ihre Version eines schwarzen Feminismus entwickelt zu haben (Arndt 2000: 31).

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bundenen Patriarchat zeitlich einhergeht, bilde eine tragische Vision des ›weißen Feminismus‹ für schwarze Leserinnen: »Such an ending makes the novel ambivalent; or is it, perhaps, that feminist utopia is for white women only? For black women who would be feminists the lesson is simple: in fighting the establishment, the black woman must not be so mad as to destroy herself with the patriarchy. […] Hence their womanist stance.« (Ebd. 23)

Der afrikanische Womanism grenze sich vom poststrukturalistischen Radikalfeminismus westlicher Provenienz dagegen insofern ab, als dass er auf die harmonische Einheit von Männern und Frauen abziele (vgl. Ogunyemi 2006: 25) und nichtsdestotrotz die Verbindung von Rassismus, ökonomischer Marginalisierung und Sexismus, die das Leben vieler afrikanischer Frauen präge, bedenkt. Er sei als literarische und künstlerische Strömung eine Überlebensstrategie gegenüber dem Wahnsinn des Realen und der fortwährende Gewalt des Kolonialismus – eine Strategie, um mit den Traumata der Vergangenheit umzugehen. Ogundipe-Leslie, Begründerin des Stiwanismus6, fordert in dem von ihr verfassten Gedicht To A »Jane Austen« Class at Ibadan University (1985) in ähnlicher Manier ihre afrikanischen Schwestern zur ideologiekritischen Analyse des europäischen Emanzipationsskriptes auf: »Sons of farmers – descendants of slavers – born of traders in oil and liberty – offspring of riverain folk who plied to horror ships with eyes quick white in hope – ask why the Austen folk carouse all day and do no work – play cards at noon and dance the while – the while the land vanished behind closures – mothers’ seeds into holds or marts – and pliant life into pits – and in the south our souths, the sorrow songs rake the skies – while death the autocrat stalks both bond and free?« (Ogundipe-Leslie 1985, zit. n. Ogundipe-Leslie 1996: 232-233)

Sie ermahnt ihre Studentinnen, den historischen und geopolitischen Kontext des Romans zu beachten. Ogundipe-Leslie folgt damit inhaltlich Spivaks Programmatik, die Verwebungen einzelner Emanzipationsbestrebungen in ihrer Komplexität und in ihren heterogenen Effekten zu beschreiben und dadurch eine eindimensionale Lesart des westlichen Feminismus zu umgehen. Allein die Komplexität einer angemessenen Analyse könne die Grundlagen für eine andere Form der feministischen Politik säen. Ogundipe-Leslie begründet in ihrer Monografie

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Stiwanism ist ein Akronym für »Social Transformation Including Women« (Ogundipe-Leslie 1996).

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Re-creating Ourselves. African Women and Critical Transformations (1996) die Strömung des Stiwanismus. Sie möchte mit ihrem Feminismus ebenfalls den (Neo-)Kolonialismus, Sexismus und die ökonomische Ausbeutungsbeziehungen gleichermaßen adressieren und Frauen in Afrika stärker politisieren (vgl. Ogundipe-Leslie 1996: 231). Afrikanische Frauen sollten radikaler hinterfragen, wie der Reichtum, der Glanz und der Müßiggang der Menschen in der fiktionalen Welt Jane Eyres mit derjenigen der Armut, der Versklavung und der harten Arbeit der Frauen in Nigeria und Indien (beides ehemalige britische Kolonien) in Verbindung ständen – statt sich unkritisch Fotos der Royal Family an die Wände ihrer Zimmer zu hängen und sich von diesen Heile-Welt-Bildern einlullen zu lassen. Zugleich befreie eine solche antikoloniale Kritik jedoch nicht von der Notwendigkeit einer selbstkritischen Analyse der innerafrikanischen Ausbeutungsbeziehungen zwischen Männern und Frauen, der starren Geschlechterrollen, der Homophobie und des allgemeinen kulturellen Konservatismus, der auch Frauen in Afrika zusätzlich zum Neokolonialismus in Abhängigkeit halte (vgl. ebd.). Diese Form der internen Kritik, die sich nicht allein an einem als homogen stilisierten ›Westen‹ abarbeitet, macht Ogundipe-Leslie zu einer besonders interessanten Vertreterin eines afrikanischen postkolonialen Feminismus.

III. G LOBAL S ISTERHOOD R EVISITED – E INE NEUE P OLITIK DER S OLIDARITÄT ? Was folgt praktisch-politisch auf das hier entfaltete Double bind emanzipatorischer Skripte? Ist das Streben nach grenzüberschreitender Verschwisterung, insbesondere wenn es in Westeuropa oder in den U.S.A. seinen Ausgangspunkt nimmt, durch zu viele Fallstricke imperialer Ideologeme zum Scheitern verurteilt? Oder ebnen Dezentrierung und Ideologiekritik des sogenannten westlichen Feminismus Wege für eine neue ›Global Sisterhood‹? Aus der Perspektive eines reflexiven Eurozentrismus (vgl. Dübgen 2009) lässt sich überdies fragen, inwiefern Aktivistinnen im ›Westen‹ oder des globalen Nordens mit dieser Neukonfiguration der gendertheoretischen Landschaft umgehen sollten. Wenn wir davon ausgehen, dass der transnationale Feminismus durch imperiale Denkformen und Machtasymmetrien durchzogen ist, so bedeutet dies in der Spivakschen Lesart jedoch noch lange nicht, dass eine alleinige Ablehnung dieser Emanzipationsbestrebung eine angemessene politische Strategie darstellen könnte. Mit Spivak ließe sich vielmehr fordern, diejenigen Elemente der Aufklärung wie auch des Feminismus zu reaktivieren, die empowern – sie von innen heraus zu destruieren und dabei zu erneuen. Dies bedeutet einerseits

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für das Anliegen transnationaler Geschlechtergerechtigkeit, dessen theoretische Skripte ideologiekritisch im Hinblick auf neoimperiale Ausbeutungsverhältnisse zu beleuchten und ihre Fallstricke zu benennen. Andererseits stellt sich die Frage nach den politischen Konsequenzen dieser Kritik. Infolgedessen lässt sich fragen, wie die globale Verschwisterung, Utopie der internationalen Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre, postkolonial informiert wiederbelebt werden könnte. Als Verbindung der theoretischen und der aktivistischen Diskurse werde ich daher abschließend die Idee und Praxis einer grenzüberschreitenden, transnationalen Solidarität aus postkolonialer Perspektive diskutieren.

P OSTKOLONIALE K RITIK AN S OLIDARITÄTSKONZEPTEN

KONVENTIONELLEN

Ein wichtiger kritischer Impuls der postkolonialen Theorie besteht darin, die Verwobenheit von Solidaritätsbekundungen mit globalen Herrschaftsmechanismen anzuprangern und dadurch den bloßen Schein mancher solidarischer Allianzen zu entlarven (vgl. Dhawan 2009: 3; Žižek 2009). Nikita Dhawan fokussiert in ihrem Aufsatz Zwischen Empire und Empower: Dekolonisierung und Demokratisierung (2009), wie Nichtregierungsorganisationen rhetorisch zwar im Namen der Solidarität operierten, jedoch zugleich in ihrer konkreten Praxis als »Komplizen« des globalen Kapitalismus agierten und in hegemoniale Sprechweisen verstrickt blieben (vgl. ebd. 5). Dekonstruktiv analysiert sie das Sprechen über Solidarität als geschichtsvergessen: Es bedürfe einer Verdrängung von Kolonialismus und Sklavenhandel, um heute großzügig Solidaritätsbekundungen mit den Anderen zu tätigen und sich selber im globalen Norden als ein Subjekt der Solidarität zu inszenieren, wenn diese Fähigkeit auf Ungerechtigkeiten der Vergangenheit aufbaue. Dhawan argumentiert vorrangig gegen »unreflektierte Solidarität« (ebd. 7), die nicht selbstkritisch genug die eigene Verwobenheit in Prozesse der Subalternisierung mitbedenke. Als Antwort auf diese Kritik lassen sich zwei Strategien identifizieren: Es bedarf erstens der machtreflexiven Selbstaufklärung der vermeintlich solidarischen Subjekte, die bisher die eigenen Verflechtungen in historische Ausbeutungsverhältnisse übersahen oder ausgeblendet haben. Zweitens sollte Bildungsarbeit als strategisches Mittel genutzt werden, um die Aktivierung demokratischer Fähigkeiten der subalternen Subjekte herbeizuführen (vgl. Spivak 2008). Diese Formen der Solidarität fokussieren beide primär die Bewusstseinsebene und fordern einen »epistemischen Wandel« (Dhawan 2009: 8) bei den Akteurinnen. Beide Strategien lassen jedoch offen, wie die privilegierten Akteurinnen aus

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dem globalen Norden, nachdem sie sich ihrer Macht und ihrer historischen Verkettung – ihrer unreflektierten Solidarität – selbst vergewissert haben, wieder in einen transformativen Prozess politischen Wandels hineintreten könnten. Chandra Mohanty (2003) geht in ihrer Befragung des Begriffs der Solidarität ähnlichen Problemen wie Spivak und Dhawan nach. Allerdings erweitert sie den Fokus ihrer Analysen auch auf Fragen der politischen Ökonomie und bietet neue Lösungswege für die hier skizzierten Dilemmata an. Als postkoloniale Intellektuelle, ausgestattet mit den Privilegien der ›Ersten Welt‹, sich jedoch zugleich mit den ›Two-Third-World‹-Menschen identifizierend, besteht Mohantys theoretischer Anspruch darin, das Denken über Solidarität zu ›dekolonialisieren‹. In ihrem Essay Under Western Eyes: Feminist Scholarship and Colonial Discourses bereits aus dem Jahr 1984 (Mohanty 2003: 1743) zielt sie darauf ab, den universalistischen Gestus des selbstzentrierten und von Eigeninteressen gesteuerten Mainstreams der anglo-europäischen feministischen Forschung zu destabilisieren. Machtdifferenzen würden im Sprechen über einen weltweiten Feminismus einfach ausgeblendet und die jeweiligen Aktivistinnen, die der Metropole nicht angehörten, missrepräsentiert. In diesem Sinne verursachten weltweite feministische Allianzen neue Gewalt und reproduzierten globale Dominanzverhältnisse auf vielschichtigen Ebenen der Unterdrückung. Insofern müsse diese Gewalt zuvörderst aufgearbeitet und politisch diskursiviert werden, um den transnationalen Feminismus aus postkolonialer Perspektive heraus zu erneuern. Daher bedarf es für Mohanty ebenfalls in einem ersten Schritt epistemischen Wandels. In ihren etwa zwanzig Jahre später editierten Essays zur Solidarität, zusammengefasst im Sammelband Feminism without Borders. Decolonizing Theory, Practicing Solidarity (2003), versucht Mohanty als nächsten Schritt, Grundlagen zu artikulieren, anhand derer grenzüberschreitende gemeinsame politische Aktionen im Namen der Solidarität praktisch wieder möglich werden sollen. Zum einen nennt sie das konkrete gemeinsame materielle Interesse, welches einen gemeinsamen politischen Kampf begründen könne (vgl. ebd. 143): Häufig litten die Arbeiterinnen über geografische und kulturelle Grenzen hinweg an ähnlichen Ausbeutungsmechanismen, die auch in ähnlichen Identitätskonstruktionen mündeten und zu »common ways of reading the world« (ebd. 145) führten. Mohanty bezeichnet die von ihr geforderte Solidarität als politische Solidarität. Sie verortet sich selber als Intellektuelle in der ›Ersten Welt‹, die sich jedoch bewusst durch ihre persönliche »political choices, struggles, and vision for change […] alongside the Two-Third World« (ebd. 228) positioniert. Damit argumentiert sie für die Möglichkeit von grenzen- und klassenüberschreitender Solidarität: Kein essenzialisierender Kulturrelativismus, sondern die vielschichtige Analyse von

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Unterdrückung müsse die inhaltliche Kernforderung eines dekolonisierten grenzüberschreitenden Feminismus bilden. Mohanty plädiert folglich dafür, vorrangig auf die kapitalistische Ausbeutung der Frau in der Dritten Welt zu fokussieren und hebt das mehrfach marginalisierte Subjekt (durch Rassismus, Sexismus und Klassenherrschaft) ins Zentrum ihrer Analyse. Dabei dürften die Machtdifferenzen zwischen den Akteurinnen nicht ausgeblendet werden. Vielmehr soll deren spezifischen Bedeutung für die gemeinsame Praxis nachgegangen werden (vgl. ebd. 242). Dieses Denken von Differenz – zwischen den Subjektpositionen, sowie zwischen Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen – bezeichnet Unterschiede, die sich durchaus in einem herrschaftssoziologischen Vokabular artikulieren lässt und dadurch für die Erste-Welt-Intellektuelle erfassbar wird. Die von Mohanty geforderte Zentrierung der marginalisierten Frau bestimmt zwar den Fokus herrschaftskritischer Diskurse, verursacht dabei jedoch keine unüberbrückbaren epistemischen Hürden zwischen den Akteurinnen. Die jeweilige Solidarität von Intellektuellen und Aktivistinnen aus machtungleichen Milieus kann demnach in Mohantys politischer Solidaritätskonzeption die hierarchisierende und ungleiche Sisterarchy neo-imperialer Feminismen überschreiten, sofern die solidarische Praxis die ihr grundlegenden Dominanzverhältnisse machtkritisch reflektiert. Überdies müssten sich die privilegierten Subjekte auch das konkrete emanzipatorische Interesse der Unterdrückten zu eigen machen, an dem sich die gemeinsame solidarische Praxis orientieren soll. Die Theorie von Mohanty verlangt schließlich ein »(concrete, not abstract) common interest« (Mohanty 2003: 143), welches sich in seinen Zielen an der Emanzipation der mehrfach unterdrückten Dritte-Welt-Frau ausrichtet. Überdies fordert Mohantys Solidaritätstheorie eine stärkere Verschränkung von Wissenschaft und politischer Praxis, in der auch in akademischen Diskursen Subjekte zur Sprache kommen, die im globalen Raum Subalterne sind und deren verstärkte Präsenz den Fokus akademischer Forschung zukünftig modifizieren soll. Insofern ist es für Mohanty durchaus möglich, die bestehenden Differenzen zwischen Akteurinnen im postkolonialen Raum reflexiv einzuholen und zu einer gemeinsamen emanzipatorischen Sichtweise zu gelangen, die sich an der Stärkung der Schwächsten innerhalb eines gemeinsam geführten politischen Kampfes orientiert.

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R EFLEXIVE S OLIDARITÄT

ALS WIDERSTÄNDIGE

P RAXIS

In Anbetracht dieser postkolonialen Kritik am Solidaritätsbegriff möchte ich nun abschließend eine philosophische Konzeption von Solidarität skizzieren, die sich als sensibel für die Blindflecken konventioneller Solidaritätskonzepte zeigen soll und die postkoloniale Kritik theoretisch innerhalb der philosophischen Debatte um den Begriff der Solidarität verortet. Ich integriere damit verschiedene Ansätze, die sich als Theorien reflexiver Solidarität beschreiben lassen. Zum einen speist sich diese Konzeption aus dem Machtbegriff von Hannah Arendt (Allen 1999; Arendt 1995; Calhoun 2002); zum anderen aus diskursorientierten Ansätzen (Dean 1996; Calhoun 2002; Habermas 1986). Ziel ist die Begründung eines Verständnisses von Solidarität, welches Solidarität als erfahrungsgenerierende ›Praxis‹ beschreibt; und zwar als gemeinsames politisches Handeln im transnationalen, postkolonialen Kontext über konventionelle Grenzen und Gruppenidentitäten hinaus. Beginnen möchte ich mit einem Begriff von Macht innerhalb einer diversifizierten globalen Welt. Arendt zufolge entspricht Macht »[…] der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz der Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält.« (Arendt 1995: 45)

Macht bleibt bei Arendt eng verbunden mit einem Verständnis von der Souveränität des Subjekts, gegenüber anderen Menschen ein Versprechen einzugehen (vgl. Arendt 2007: 313). Diese existentialistische Annahme der Fähigkeit eines Subjekts zu souveränen Handlungen bereitet den Boden für eine Theorie auf der Basis eigenständiger Reflexivität. Arendt geht in ihrer politischen Philosophie zugleich von der irreduziblen Diversität menschlichen Lebens aus: »Das Faktum menschlicher Pluralität, die grundsätzliche Bedingung des Handelns wie des Sprechens, manifestiert sich auf zweierlei Art, als Gleichheit und als Verschiedenheit. Ohne Gleichartigkeit gäbe es keine Verständigung unter Lebenden, kein Verstehen der Toten und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr von uns, aber doch immer noch von unseresgleichen bevölkert wird. Ohne Verschiedenheit, das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung.« (Ebd. 213)

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Die Sprache ist für Arendt das zentrale Medium, Differenzen innerhalb eines pluralistischen Kontextes zu überschreiten und gemeinsames politisches Handeln zu ermöglichen. Im gemeinsamen Handeln entstehe eine Macht, die nur so lange existiere, wie sich die Akteure aus freiem Willen zusammenschlössen und für ein gemeinsames Anliegen kämpften. Solidarität kann demnach in ihrem Vollzug spezifische Identitätskonstruktionen weder ignorieren, noch zur exkludierenden Grundlage gemeinsamer Politik erheben (vgl. Butler 2007). Solidarität, die auf einer gemeinsamen Identität basiert (vgl. Shelby 2002), kann dem Ziel zuwiderlaufen, eben diese Identitätskonstruktion zu durchbrechen. Die dichotomen Sprechweisen und Zuschreibungen des ›imperialen Archivs‹, welche eine selbstbewusste Aktivierung der eigenen Handlungsmacht behindern, können in einem identitätsbasierten Solidaritätskonzept unangetastet bleiben. Allein an die verbindenden Elemente innerhalb einer Gruppe zu appellieren, sei daher zutiefst unpolitisch, argumentiert auch Amy Allen (vgl. Allen 1999: 107). Politik besteht vielmehr darin, durch das Medium der Sprache bestehende Differenzen diskursiv zu überbrücken und gemeinsam aktiv Ideologiekritik zu üben. Identitätskonzepte werden insbesondere dann repressiv, wenn sie interne Differenzen ausklammern (vgl. Dean 1996: 100) und zum Schweigen bringen, warnt auch Jody Dean. Beispielsweise dann, wenn Geschlechterkämpfe im antikolonialen Kampf oder im Aktivismus rassifizierter Minderheiten unterdrückt oder zum Schweigen gebracht werden. Sisterhood allein auf der Basis einer gemeinsamen Hautfarbe oder eines geteilten Geschlechts zu begründen, verhindert die Transformation sozialer Identitätskonzepte und macht eine grenzüberschreitende Form der Politik schwierig, wenn nicht gar unmöglich (vgl. Butler 2007). Ganz in diesem Sinne lässt sich dafür argumentieren, die interne Heterogenität eines solidarischen Bündnisses anzuerkennen und zur Grundlage für gemeinsames Handeln zu erheben: »In knowing difference and particularities, we can better see the connections and commonalities because no border or boundary is ever complete or rigid.« (Mohanty 2003: 226) Aus diesem Grunde ist es bedeutsam, dass das ›Wir‹ in solidarischen Kontexten als ein offenes diskursives Geflecht konzipiert wird, das sich seinem konstitutiven Außen immer wieder öffnet und aufgrund neuer Ansprüche transformiert. Als Solidargemeinschaften müssen wir »accountability for our exclusions« (Dean 1996: 34) übernehmen: Dann bleibt das ›Wir‹ prinzipiell verantwortlich gegenüber denjenigen, die es übersieht, die es nicht erreicht, und die es (mitunter zu Unrecht) als politische Gegnerinnen markiert. Statt sich ein starres Gegenüber zu konstruieren, gegen das sich eine Solidargemeinschaft als identitäre Gemeinschaft in Abgrenzung definiert, speist ein reflexives ›Wir‹ seine

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Geltung vielmehr aus den gemeinsam geführten politischen Diskursen und diskursiv eingeholten erlebten Praktiken. Dieses ›Wir‹ konstituiert sich über gemeinsame politische Aktion, durch ein gemeinsames »world-making«, wie Craig Calhoun in Bezugnahme auf Arendt diese Praxis umschreibt (Calhoun 2002: 148). Es ist offen für die Menschen an seinen Rändern, statt sein Zentrum zu reifizieren und neue Machtverhältnisse zu verfestigen. Ebenso wie sich die hier skizzierte »reflexive Solidaritäts«-Konzeption von identitätsbasierten Begründungszusammenhängen abwendet, grenzt sich diese Idee auch von konventionellen Solidaritätskontexten ab, bspw. dem Nationalstaat oder dem sozialen Zusammenhalt einer naturalisierten, durch ›ethnische‹ Zugehörigkeit definierten, Gemeinschaft. Das Innen und Außen wird in konventionellen Solidaritätskonzepten als statisch und exklusorisch begriffen und widerspricht dadurch der Idee von Solidarität als reflexiver, politischer Praxis. Die Politik innerhalb eines konventionellen Solidaritätskontextes ist nicht notwendigerweise emanzipatorisch: Sie kann sich gegen die Subjekte richten, die nicht Teil der gewachsenen, scheinbar natürlichen Gemeinschaft sind und sich durch die Privilegierung der eigenen sozialen Gruppe gegenüber Anderen als ungerecht erweisen. Einen weiteren Begründungszusammenhang, welcher eine transnational reflexive Solidarität überschreiten sollte, ist neben der jeweiligen Identität derjenige eines geteilten (materialistisch definierten) ›objektiven Interesses‹; beispielsweise aufgrund einer gemeinsamen Klassenzugehörigkeit als Ausgebeutete oder Unterdrückte. Auch wenn ein solches verbindendes Element, wie es zum Teil auch von Mohanty (vgl. 2003: 145) in Rekurs auf geteilte Interessen von Arbeiterinnen im globalen Kontext vertreten wird, zwar überzeugende Gründe liefert, warum Menschen sich für einen gemeinsamen politischen Kampf verbünden sollten, so generieren solche Theorien jedoch nicht diejenigen Gründe, die Subjekte dazu verleiten, sich für soziologisch divergente Gruppen einzusetzen und sich mit den Privilegien der eigenen Gruppe zu desolidarisieren. Da Solidarität in einer reflexiv-politischen Wendung kein Schicksal, sondern vielmehr eine bewusste und aktive politische Wahl darstellt, kann sich aus einer geteilten Lebenssituation zwar Solidarität ergeben, doch ist die spezifische Lesart dieser Lebenslage weitaus relevanter als das pure Faktum, unter bestimmten Umständen geboren worden zu sein. So kann eine afrikanische Aktivistin sich durchaus von ihren Leidens-›Schwestern‹ desolidarisieren und gegen ihre vermeintlichen Interessen agieren; dagegen sich eine privilegierte Chinesin für ihre ›Schwestern‹ auf dem afrikanischen Kontinent engagieren und sich deren Interessen im Sinne Mohantys zu eigen machen. Für eine solche gelungene Verschwisterungs-

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politik bedarf es jedoch einiger wesentlicher Voraussetzungen: Horizontalität, Reziprozität und Offenheit sind nach Gould (2007) entscheidende kategoriale Merkmale für transnationale Solidarität: Solidarität kann schließlich nicht als Einbahnstraße der Mächtigen gegenüber den Ausgebeuteten und scheinbar Hilflosen verstanden werden. Vielmehr, wie von Spivak und Dhawan betont, stellt sie eine epistemische Praxis dar, die Kommunikationsräume öffnet und konventionelle Zuschreibungen radikal infrage stellt. Gould bezeichnet Solidarität daher auch als eine ethische Rezeptivität gegenüber konkreten Anderen (vgl. ebd. 160).7 Horizontalität bezeichnet für sie die Notwendigkeit, vom konkreten Anderen zu lernen und ihm aufmerksam zuzuhören (vgl. ebd. 158). Offenheit ist dagegen eng mit der Norm der Inklusivität verbunden und impliziert die Fähigkeit, Beziehung mit einer Vielzahl Anderer zu etablieren, die ähnliche Ziele der Gerechtigkeit verfolgten. Solidarität in ihrer reflexiven Variante basiert also weder auf einer gemeinsamen Identität noch zwangsläufig auf einem geteilten objektiven Interesse. Vielmehr bedarf sie der gemeinsamen normativen Grundlagen und auf einer darauf fußenden gemeinsamen historisch informierten und kontextualisierten Analyse des Status quo. Dabei können sich unterschiedliche Erzählungen und Beschreibungsweisen der Problemlage ergänzen, ohne dass die eine unter die andere subsumiert werden muss. Was sich vielmehr als entscheidend erweist, ist, dass die Akteurinnen »based on principle« agieren (Allen 1999: 111). Eine horizontale Beziehung, als ethischer Horizont, zwischen den solidarischen Akteuren ist daher eine zwingende Notwendigkeit, um überhaupt zu einer angemessenen, geteilten Beschreibung der Ausgangslage zu gelangen. Dabei bleibt die sensible Artikulation der internen Differenzen, der Hierarchien und unterschiedlichen politischen Interessen eine bleibende entscheidende Prämisse, um zwischen einzelnen Interessen und Erfahrungswerten zu vermitteln. Schließlich kann ein solidarischer Diskurs nicht realitätsblind die Gleichheit aller Akteure einfach voraussetzten, wenn er versucht, gesellschaftliche, ökonomische und machtpolitische Differenzen zu überwinden. In diesem Sinne

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Ein Vergleich mit Spivaks Konzept der ethischen Singularität liegt an dieser Stelle nahe: Spivak fordert im Anschluss an Lévinas und Derrida eine ethische Singularität im Engagement gegenüber subalternen Gruppen. Allein das konkrete Verhältnis zwischen zwei Individuen könne die epistemische Abgeschlossenheit der Subalternität durchbrechen. Dominante Weisen der Repräsentation von Gruppen, die keinen Zugriff zu Macht, Ressourcen und Wissensproduktion haben, brächten ebendiese Gruppen zum Schweigen (Spivak 2008).

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lässt sich abschließend mit Allen für eine Dialektik zwischen Gleichheit und Differenz plädieren (vgl. Allen 1999: 98f): Gleichheit in Bezug auf die Partizipationsrechte und Differenz in Bezug auf differenzsensible Sprechweisen zur besonderen Stärkung verwundbarer Akteure (vgl. Castro Varela 2006: 107) und mit dem Ziel, konventionelle Erzählweisen zu durchbrechen und damit die Grundlagen für eine neue Form der Politik zu säen. Als gemeinsam gelebte politische Praxis müsste eine postkolonial informierte Solidarität demnach die Lage und das Verständnis aller Akteure verändern und als langwieriger Lernprozess stets offen für Selbstkritik bleiben. Deshalb ist sie reflexiv: auf sich selbst, die gemeinsame Praxis sowie auch auf die Ziele, die sich auf dem Weg solidarischer Bündnisse immer wieder wandeln können. Schließlich ist Solidarität als utopische Denkform ein »penser autrement« (Foucault 1989: 16); ein Denken außerhalb etablierter Denkgewohnheiten als eine Öffnung der permanenten Schließungen politischer Imagination (vgl. Rancière 2002: 33-54). Zur Handlungsorientierung erwachsen aus der gemeinsamen Praxis bestenfalls vielerlei »shared projects of imagining a better future« (Calhoun 2002: 171).

C ONCLUSIO Ausgangspunkt meiner Reflexionen über das Double bind der Kritik in Form des Denkens der Aufklärung und des ›westlichen‹ Feminismus war der postkoloniale Umgang von Gayatri Spivak mit diesen beiden Strömungen. In Abgrenzung gegenüber den Subaltern Studies wendet sich Spivak gegen eine Relektüre und ein ›writing back‹ (vgl. Ashcroft/Griffins/Tiffin 2002) des imperialen Kanons aus der Perspektive der Subalternen. Sie warnt die postkoloniale Theorie vor dem Irrglauben an die Möglichkeit einer einfachen Umkehrung der Blickweisen, welche die Geschichte der Aufklärung und der feministischen Literatur ›von unten‹ neu artikulieren könnte. Dieses manichäische Weltbild müsse vielmehr zerstört und erneuert werden. Zudem wenden sich ihre Texte gegen eine simplifizierende Kritik und die daraus resultierende Abwendung von dem philosophischen Erbe der Aufklärung und des Feminismus. Eine solche Absage verkenne die Bruchzonen und Aporien jener emanzipatorischen Schriften – und damit ihr politisches Potenzial. Einerseits lässt sich in Anschluss an Spivak für eine ideologiekritische Lesart des ›imperialen Archivs‹ argumentieren, welche die Historizität, die geopolitische Verortung und die symbolischen Machtverhältnisse, in die ein Text eingewoben ist, aufdeckt. Andererseits fordert eine dekonstruktive Politik der philo-

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sophischen Lektüre, Bedeutungszusammenhänge im Lichte dieser Ideologiekritik zu verschieben und zu destabilisieren. Für die Auseinandersetzung mit Kants Philosophie besteht eine Lektürestrategie darin, herauszuarbeiten, was dessen Texte implizit sagen könnten, auch wenn sie es explizit nicht sagen. Insbesondere die dritte Kritik, die Kritik der Urteilskraft (Kant 1997), verweist für Spivak auf die Grenzen dessen, was menschliche Vernunft zu erfassen und zu verallgemeinern vermag. Im Angesicht des Erhabenen dekonstruiert sich der Imperativ zur aufklärerischen Zivilisierung der ›wilden‹ Anderen von selbst. Politisch nutzbar gemacht werden kann demnach auch die Fähigkeit der selbständigen Kritik an etablierten Denkgewohnheiten und festgefahrenen Herrschaftsverhältnissen als empowerndes Instrument. Ähnlich verhält es sich für Spivak in Bezug auf den westlichen Feminismus. Auch dieser kann nicht einfach durch eine Umkehrung der Blickweisen subalternisiert werden. Denn die Subalternisierte ist durch den westlichen Blick bereits kodiert und als handlungsunmächtig stigmatisiert. Es bedürfe auch hier einer Politik der semantischen Verschiebung (engl. displacement) und der Imperialismuskritik als makrostruktureller Analyse der Bedingungen des Diskurses über eine neue Geschlechterordnung – in dem dieser Diskurs auch heute eingebettet bleibt. Als mögliche Antwort auf diese Notwendigkeit der doppelten Kritik habe ich im dritten Teil einen Begriff skizziert, der nach den praktischen Implikationen dieser Debatte für einen grenzüberschreitenden politischen Aktivismus fragt: Wie lässt sich diese Dekolonisierung des Denkens als politische Praxis imaginieren? Was folgt aus dem Projekt der Dekonstruktion politisch? Mit dem Konzept der reflexiven Solidarität, der sich auch diskurs- und machttheoretischen Ansätzen speist, versuchte dieser Beitrag abschließend angesichts der Paradoxien der Kritik – die beständige Verwobenheit in neo-imperiale Sprechweisen – mögliche Praktiken politischer Praxis zu skizzieren. Solidarität strebt nach Verschwisterung »across class, race, and national boundaries« (Mohanty 2003: 145). Als Idealform stellt sie eine machtsensible epistemische Praxis dar und betont das Erfordernis des Lesens alternativer Skripte und des aktiven Zuhörens anderer, differenter Erzählweisen. Zugleich erlebt Solidarität das Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und der Differenz und transformiert dieses in Macht. Eine Macht verstanden als Modus kollektiven Handelns in einer pluralistischen Lebenswelt, der sich an der Stärkung der Schwächsten orientiert. Eine solche Idealform der transformativen Politik über etablierte Grenzlinien hinweg ist in ihrer Reinform in der bestehenden Welt unmöglich – lässt sich mit und gegen Spivak gegen die Utopie reflexiver Solidarität einwenden. Sollte man

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jedoch darauf verzichten, nach ihr zu streben? Ihre aporetische Antwort lautet: Nein. Gerade dann nicht. »GS: [...]The best of Enlightenment. To save it from the history of European capitalism. See what I mean? That is where I was putting myself. JG: Um-hmm. Um-hmm. GS: Fiction is the experience of the impossible, to coin a phrase. JG: [laughing.] Therefore… GS: [laughing.] The effort that is involved in this will never succeed. But on the other hand, can one not make the effort if one has thought this? No.« (GALLOP/SPIVAK 2004: 196)

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Nachwort Hegemoniale Selbstaffirmierung und Veranderung

A NDREA M AIHOFER

Ich möchte im Folgenden das Verhältnis von Selbstaffirmierung und Veranderung als zentrale Mechanismen der Reproduktion westlicher bürgerlicher Gesellschafts- und Geschlechterordnungen etwas genauer betrachten. Mein Anliegen ist, einige Verkürzungen sichtbar zu machen, die meinem Eindruck nach in der aktuellen Diskussion bezogen auf das Verständnis dieser Prozesse wie auch deren Verhältnis zueinander bestehen. So liegt der Schwerpunkt bislang meist auf den Prozessen der Veranderung – wie dies auch kritisch von den Herausgeber_innen dieses Bandes angemerkt wird. Damit zusammenhängend werden die Prozesse der Selbstaffirmierung vor allem als Hegemoniebildung nach außen verstanden (z.B. des Okzidents gegenüber dem Orient) sowie als deren Rückwirkungen, wonach der Selbstentwurf Europas als modern der Absetzung vom vormodernen Orient oder vom archaischen Afrika bedarf. Dass Selbstaffirmierung und Veranderung ebenso Motor wie Effekt innergesellschaftlicher Auseinandersetzungs- und Hegemoniebildungsprozesse sind, kommt dagegen selten in den Blick (vgl. u.a. El-Tayeb 2011; Harris 2007). Was ich zeigen möchte, ist: Selbstaffirmierung und Veranderung stehen nach ›innen‹ wie nach ›außen‹ in einem konstitutiven und zugleich dialektischen Zusammenhang. Die Analyse dieses Zusammenhangs ist daher für ihr Verständnis zentral. In diesem Sinne versuche ich abschließend »Hegemonie(selbst)kritik« (Dietze 2008), d.i. die

 1

Viele der folgenden Überlegungen verdanke ich intensiven Diskussionen mit Gabriele Dietze und Bettina Dennerlein sowie mit Studierenden in unserem gemeinsamen Seminar »Kulturalisierung und Geschlecht«.

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kritische (Selbst-)Reflexion auf diese Prozesse und Zusammenhänge, als unabdingbares Moment von Kritik als emanzipatorischer Praxis zu fassen.

D AS V ERHÄLTNIS V ERANDERUNG

VON

S ELBSTAFFIRMIERUNG

UND

In Das andere Geschlecht (2005 [1949]) fasst Simone de Beauvoir »Alterität« als »eine grundlegende Kategorie des menschlichen Denkens« (ebd. 13) und die Zweiteilungen in das Eine/das Andere, das Gleiche/das Differente sind »so ursprünglich wie das Bewusstsein selbst« (ebd. 12). Alterität ist nach ihr eine anthropologische Konstante, Teil des menschlichen Wesens, ihm essentiell jenseits seiner konkreten gesellschaftlich-kulturellen Existenz. Begreiflich wird dieses Phänomen nur, wenn – und hierbei greift Beauvoir auf Hegel zurück – von einer »grundlegenden Feindseligkeit gegenüber jedem anderen Bewusstsein« (ebd. 13) bzw. zwischen den Menschen ausgegangen wird. Auch das ist als anthropologische Aussage zu verstehen. Das Verhältnis zwischen Selbstaffirmierung und Veranderung beschreibt Beauvoir folgendermaßen: »Das Subjekt setzt sich nur, indem [Herv. AM] es sich entgegen-setzt: es hat den Anspruch, sich als das Wesentliche zu behaupten und das Andere als das Unwesentliche, als Objekt zu konstituieren« (ebd.). Selbstaffirmierung ist ihr zufolge ein aktiver, selbstbestimmter Akt der Selbstpositionierung des Subjekts. Das Subjekt kann sich jedoch nur als Subjekt setzen, indem es sich einem Anderen oder einer Anderen entgegensetzt. Seine Selbststilisierung und Bejahung des eigenen Selbst braucht unabdingbar diese Entgegensetzung eines von ihm verschiedenen Anderen. Nur in dieser Abgrenzung kann es die eigene inhaltliche Bestimmung finden. In diesem Akt setzt sich das Subjekt nicht nur als das Wesentliche, sondern zugleich das Andere als das Unwesentliche. Oder genauer: Indem es das Andere als das Andere, das Unwesentliche, das Defizitäre setzt, setzt das Subjekt sich selbst als das Eine, das Wesentliche, als den Maßstab. Der Prozess wird also als Machtverhältnis gedacht, als hierarchisierendes Verhältnis: ein Subjekt (ein Individuum, eine Gruppe, eine Nation) verfügt über die hegemoniale Position zur Selbststilisierung und -affirmierung, indem es sich selbst durch die Konstruktion eines defizitären Anderen als positiven Maßstab zu setzen vermag. Das Andere wird als Objekt gefasst, dem im Rahmen eines hegemonialen Macht- und Herrschaftsverhältnisses eine Zuschreibung, eine Veranderung, aufgezwungen wird. Wenn Beauvoir hier von einem »Anspruch« spricht, den das Subjekt »erhebt«, sich als das Wesentliche

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zu setzen, verweist sie darauf, dass gesellschaftliche Hegemonie nicht einfach ›da‹ ist, sondern Resultat ist von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Während der Mechanismus der Zweiteilung Beauvoir zufolge etwas Anthropologisches und Ahistorisches ist, stand er nach ihr »zunächst nicht im Zeichen der Geschlechtertrennung« (ebd. 12). Die Zweiteilung der Geschlechter, wonach der Mann den Status des Einen, des Subjekts, einnimmt und die Frau den des Anderen, des Objekts, »ist durch keine empirische Gegebenheit bedingt« (ebd. 12). Sie ist vielmehr Ergebnis gesellschaftlich-kultureller Prozesse. Das heißt: Die Mechanismen der Selbstaffirmierung und Veranderung sind als anthropologische Konstanten nach Beauvoir nicht völlig zu überwinden. Die inhaltlichen Zuschreibungen und welche gesellschaftlichen Zweiteilungen vorgenommen werden, sind dagegen kontingent und veränderbar. Brüchig wird dieses Herrschaftsverhältnis für Beauvoir dann, wenn z.B. die ›Anderen‹ »Wir« zu sagen beginnen (ebd. 15), sich selbst aktiv und bewusst als Subjekt setzen, wie das im Rahmen der Arbeiterbewegung, der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA oder der Frauenbewegung geschehen ist. Damit wird der Fremdzuschreibung eine Eigenzuschreibung, der Veranderung eine Selbststilisierung und -affirmierung entgegengesetzt. Zugleich wird das andere, zuvor dominante Subjekt verandert. Es wird zum Objekt von Zuschreibungen, Grenzziehungen und Normalisierungsanforderungen von Seiten des ›neuen‹ Subjekts, deren Ausmaß und Wirkmächtigkeit allerdings von den jeweiligen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen abhängig sind. Diese wechselseitigen Prozesse der Selbstaffirmierung und Veranderung können nach Beauvoir (potentiell) so ausbalanciert sein, dass kein einseitig hierarchisches Verhältnis mehr existiert. Dies ist bislang freilich kaum der Fall. Entscheidend ist: Die jeweils bestehende gesellschaftliche Hegemonie sowie die mit ihr einhergehenden Prozesse der Selbstaffirmierung und Veranderung müssen als ständig umkämpfte Kräfteverhältnisse vorgestellt werden. Die Hegemonie muss in ihnen andauernd neu reproduziert werden, bis sich unter Umständen eine neue Hegemonie herauszubilden und nach und nach zu etablieren beginnt. Das Verhältnis von Selbstaffirmierung und Veranderung, ob nun zwischen einzelnen Individuen, Gruppen oder Gesellschaften, findet also Beauvoir zufolge stets im Rahmen komplexer gesellschaftlich-kultureller Kräfteverhältnisse statt, in denen es fortwährend um den Erhalt oder die Herstellung individueller bis hin zu gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen geht. Auch emanzipatorische Prozesse der Selbstaffirmierung sind davon letztlich nicht ausgenommen (vgl. Dietzes Beitrag zum feministischen Orientalismus in diesem Band). Zumal sie selbst oft darauf zielen, gesellschaftlich hegemonial oder zumindest Teil einer neuen Gesellschaftsordnung zu werden. Möglicherweise entkommen sie diesem

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Mechanismus von Selbstaffirmierung und Veranderung auch dann nicht, wenn sie ihn explizit durchbrechen wollen. Denn selbst wenn, wofür ich plädiere, dieser Mechanismus als historisch und gesellschaftlich-kulturell begriffen wird, ist es bislang nur schwer möglich, sich ihm zu entziehen. Seine Kontingenz verweist indes nicht nur auf die Möglichkeit emanzipatorischer Kritik, alternative Selbstverhältnisse und Praxen aufzuzeigen, sondern auch auf die Chance seiner Überwindung. Diese Vorstellung Beauvoirs, wonach die binär-hierarchische Dichotomisierung sowie die Feindseligkeit gegenüber Anderen und Fremden zur menschlichen Natur gehören, ist im herrschenden westlichen Denken und politischen Handeln dominant. Dies wird in der aktuellen Debatte um ›den‹ Islam besonders deutlich. Anders als bei Beauvoir wird mit dieser Einsicht aber gemeinhin nicht die Notwendigkeit verbunden, die jeweiligen historisch konkreten Prozesse der Selbstaffirmierung und Veranderung einer permanenten kritischen (Selbst-)Reflexion zu unterziehen. Im Gegenteil, ihre Essentialisierung und Naturalisierung dient dazu, diese, weil menschlich, als unvermeidlich zu legitimieren und gerade der Kritik zu entziehen. Ausgangspunkt von Edward Said ist demgegenüber in seinem Werk Orientalismus (2010) die These, dass weder der »Orient« noch der »Okzident« »simple Naturgegebenheiten« sind (ebd. 13). Ebenso wenig ist die binäre Hierarchisierung eine anthropologische Konstante. Beides sind »geographische und kulturelle Konstrukte« (ebd.), deren Konstruktion einem spezifischen »Muster der Dominanz« folgt (ebd. 15). Die »Beziehung zwischen Okzident und Orient« ist nach ihm »ein hegemoniales Macht- und Herrschaftsverhältnis«, wie es sich insbesondere in »der Orientalisierung des Orients« (ebd. 14) zeigt. Dabei besteht Said zufolge eine enge Verbindung zwischen dem Orientalismus und der »Idee Europas«, »mit der ›wir‹ Europäer uns von all ›jenen‹ Anderen abgrenzten« (ebd. 16). In diesem Sinne bildet »gerade das nach innen und [Herv. AM] außen wirksame Leitmotiv des Hegemonialen das Hauptmerkmal der europäischen Kultur […]: die Vorstellung einer allen anderen Völkern und Kulturen überlegenen europäischen Identität. In dieses Bild passen auch die hegemonialen europäischen Vorstellungen vom Orient, die ihrerseits dessen Rückständigkeit und die eigene Überlegenheit bekräftigen.« (ebd. 16)

Nach Said gehört also nicht nur der Anspruch auf Hegemonie konstitutiv zur »europäischen Kultur« und damit zur Selbstaffirmierung Europas, sondern auch die spezifische Form, in der diese Selbstaffirmierung stattfindet, nämlich in der Form der Veranderung. Was bei Beauvoir eine anthropologische Konstante ist,

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wird bei Said als konstitutiver Teil des sich mit Europa herausbildenden hegemonialen epistemischen Regimes, der herrschenden westlichen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen, begriffen. Der Fokus der Analysen Saids liegt allerdings nicht auf der Entstehung dieses epistemischen Regimes und seiner Wirkungen nach »innen«. Vielmehr geht es um die Wirkungen nach »außen«: die Prozesse der »Orientalisierung des Orients« als kulturell unterlegen und rückständig. Diese Veranderung ist für ihn die Basis für die Selbststilisierung Europas, des Okzidents, als überlegen und modern. Selbststilisierung und affirmierung kommen also lediglich als ›intendierter‹ Effekt – als Rückwirkung der Veranderung – in den Blick. Stuart Hall geht in der Bestimmung des Verhältnisses von Selbstaffirmierung und Veranderung in seinem Aufsatz Rassismus als ideologischer Diskurs (2000) noch einen Schritt weiter. Die binär-hierarchische Struktur ist nach ihm zentrales Merkmal rassistischer Diskurse. In ihr werden die den jeweiligen Gruppen zugesprochenen Charakteristika in zwei binär entgegengesetzte Gruppen gebündelt (ebd. 14). In Halls Worten: »Die ausgeschlossene Gruppe verkörpert das Gegenteil der Tugenden, die die Identitätsgemeinschaft auszeichnet. Das heisst also, weil wir rational sind, müssen sie irrational sein, weil wir kultiviert sind, müssen sie primitiv sein, wir haben gelernt Triebverzicht zu leisten, sie sind Opfer unendlicher Lust und Begierde, […]. Dieses System der Spaltung der Welt in ihre binären Gegensätze ist das fundamentale Charakteristikum des Rassismus.« (ebd. 14)

Hiernach setzt sich das Selbst – anders als bei Said – nicht, indem es einen Anderen konstruiert, also gleichsam rückwirkend. Die Selbstaffirmierung des Selbst als »rational« und »kultiviert« ist nach Hall vielmehr Ausgangspunkt und Bedingung dafür, dass in Folge – gewissermassen in einem ›zweiten‹ hegemonialen Akt – die Anderen als »irrational« und »primitiv« bestimmt werden. Eine weitere Formulierung spezifiziert diese Aussage etwas. Danach können wir uns selbst nur »in Beziehung zu diesem Anderen verstehen. Deshalb ist zu bezweifeln, dass unsere kulturellen und nationalen Identitäten authentisch von innen definiert werden. Wer wir kulturell sind, wird immer in der dialektischen Beziehung zwischen der Identitätsgemeinschaft und den Anderen bestimmt.« (ebd. 15)

Das heißt, Selbstaffirmierung und Veranderung finden Hall zufolge in einer »dialektischen Beziehung« statt. Der hegemoniale Akt der Selbststilisierung des

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Subjekts, die Identitätsdefinition einer Gruppe oder einer Kultur z.B. als »rational« und »kultiviert«, ist auch hier als erster Schritt gedacht, der dann den Prozess der Veranderung in Gang setzt. Jedoch wird nun betont, dieser Akt könne sich »nicht authentisch von innen« her, sprich nicht völlig unabhängig, vollziehen. Die genauere inhaltliche Bestimmung dessen, was mit »rational« und »kultiviert« gemeint ist, hängt vielmehr sowohl davon ab, wie »irrational« und »primitiv« inhaltlich gefasst werden, als auch davon, wer, welche Gruppe oder Kultur auf diese Weise verandert wird (z.B. ob ›die‹ Schwarzen oder ›die‹ Muslime). Die Bedeutung dieser Überlegungen möchte ich an zwei historischen Beispielen noch etwas genauer illustrieren. Das kann hier indes nur in groben Zügen geschehen. Die Entwicklung des westlichen bürgerlich patriarchalen Geschlechterdiskurses, wie sie Ende des 18. Jh. einsetzte, sowie seine Etablierung und zunehmende Verallgemeinerung im 19. Jh. wurden lange Zeit vor allem als hegemonialer Akt der Zuschreibung, der Veranderung der Frauen durch Männer, verstanden. Beauvoirs (2005) Thesen sind dafür ein plastisches Beispiel. So wurde der entscheidende hegemoniale Akt in der Konstruktion von Weiblichkeit als z.B. emotional und passiv sowie als Hausfrau und Mutter gesehen. Sie galt als Grundlage für die Selbststilisierung und -affirmierung von Männlichkeit als rational und aktiv sowie als Erwerbstätiger und Familienernährer. Zudem wurde auch diese Selbststilisierung als hegemonialer Akt vor allem, wenn nicht ausschließlich gegenüber Frauen wahrgenommen. Oder wie es Karin Hausen formuliert: die »Polarisierung der Geschlechtercharaktere« diente »zur ideologischen Absicherung patriarchale[r] Herrschaft« (Hausen 1976: 377). Inzwischen wird die Entwicklung des bürgerlichen Geschlechterdiskurses vermehrt als ein multidimensionaler Prozess begriffen und dahingehend präzisiert, dass es sich um die Konstruktion weißer, westlicher, bürgerlicher und heterosexueller Männlichkeit und Weiblichkeit handelte. Bislang wurde dies jedoch nur ansatzweise als konstitutiv zusammenhängende Hegemoniebildungsprozesse nach innen ausgearbeitet: also auch als Herausbildung der bürgerlichen Hegemonie gegenüber Männern und Frauen anderer Klassen und Schichten, anderer ethnischer oder kultureller Gruppen sowie anderer sexueller Orientierungen (Ansätze zu unterschiedlichen Aspekten finden sich u.a. bei El-Tayeb 2011; Dietze 2009; Eder 2009; Maihofer 2001; Connell 1999; Mosse 1996). Das würde beispielsweise bedeuten, die Entstehung bürgerlicher Männlichkeit im 18./19. Jh. auch als gesellschaftliche Auseinandersetzung zwischen Männern zu rekonstruieren – zwischen Männern, der um die gesellschaftliche Hegemonie ringenden bürgerlichen Klasse, des noch herrschenden Adels und der aufkommenden Arbeiterklasse (vgl. Gerhardt in diesem Band). Dabei würde

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deutlich, dass der Prozess der Selbststilisierung bürgerlicher Männlichkeit immer auch und möglicherweise sogar ›zunächst‹ vor allem ein Prozess der Selbstfindung und Selbstbindung und damit ein hegemonialer Prozess der Selbstaffirmierung und Selbstformierung gegenüber und innerhalb der eigenen Klasse war. So haben bürgerliche Männer im Zuge der Etablierung der kapitalistischen Gesellschaft und der mit ihr einhergehenden ökonomischen, politischen und gesellschaftlich-kulturellen Veränderungen neue Denk-, Gefühls- und Handlungsweisen, neue Körperpraxen und neue Subjektivierungsweisen entwickelt und entwickeln müssen. Das ging mit einer Neudefinition von Männlichkeit einher: Männlichkeit wurde als bürgerlich, weiß, heterosexuell und westlich bestimmt und u.a. mit Rationalität, Selbstdisziplin, Erwerbstätigkeit, Sport und Krieg verbunden. Und dies hatte ›zunächst‹ mit den neuen materiellen Bedingungen, Lebensweisen und Praktiken sowie den neuen Anforderungen an bürgerliche Männer zu tun und implizierte eine entsprechende Zurichtung, Disziplinierung und Normalisierung gegenüber sich selbst.2 Damit wurde jedoch nicht nur zugleich eine Abgrenzung gegenüber feudalen und proletarischen Männern und ihrer Veranderung in Gang gesetzt, sondern überhaupt eine langanhaltende Auseinandersetzung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen um die Bestimmung von Männlichkeit. In ihr wurden sowohl die Selbststilisierung bürgerlicher Männlichkeit als auch die Veranderung feudaler und proletarischer Männlichkeit weiter konturiert, freilich auch vice versa. Genau besehen ging es in diesen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen noch um mehr – um eine neue Geschlechterordnung.3 Die Etablierung bürgerlicher Männlichkeit und die damit verbundenen Prozesse der Selbstaffirmierung und Veranderung werden so als zentrale Mechanismen der Selbstfindung und -bindung der bürgerlichen Klasse sowie der Hegemoniebildung nach innen sichtbar. Dies ging konstitutiv mit der Entwicklung

 2

Vgl. dazu auch Foucault (2003: 320ff.): Nach ihm findet z.B. die Bekämpfung der Onanie im 18./19. Jh. in ihren Anfängen vor allem innerhalb des bürgerlichen Milieus statt und richtet sich in ihren Disziplinierungsanforderungen vornehmlich an dieses. Er bringt die Kampagne überdies in Zusammenhang mit der Entstehung der bürgerlichen Familie.

3

Die Beteiligung bürgerlicher Frauen an der Konstruktion bürgerlicher Weiblichkeit und ihrer Selbststilisierung und -affirmierung als Teil der Hegemoniebildung der bürgerlichen Klasse ist bislang kaum detaillierter in den Blick genommen worden. Dies scheint eine Art Tabu und so stehen die Forschungen und Diskussionen um »hegemoniale Weiblichkeit« noch ganz am Anfang (vgl. u.a. Baker 2008; Schippers 2007; Scholz 2010; Rommelspacher 2009).

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der modernen Rassentheorien im 18./19. Jh. einher, die zu Beginn nicht selten zugleich mit Klassentheorien verbunden waren (vgl. Mosse 1996), als auch mit der Hegemoniebildung Europas, der westlichen Kultur gegenüber Afrika und dem Orient. Ich möchte dies am Beispiel der Persischen Briefe von Montesquieu noch etwas erläutern. In den Persischen Briefen (1991 [1721]) beschreiben Reisende aus Persien ihre Eindrücke und Erfahrungen in Frankreich und anderen europäischen Ländern und vergleichen sie mit den Verhältnissen zu Hause. Diese Anlage des Textes erlaubt es Montesquieu in einer komplexen Verbindung von Selbstaffirmierung und Veranderung, von Selbststilisierung Europas und Orientalisierung des Orients mehrere Diskursstränge miteinander zu verknüpfen: zum einen die Beschreibung und Kritik an der eigenen Gesellschaft, des Okzidents aus der Perspektive der Reisenden aus dem Orient, zum anderen die Beschreibung des Orients und dessen teils zunehmende Problematisierung durch die Reisenden selbst. Bei genauerem Hinsehen erweist sich die Kritik an der eigenen Gesellschaft (meist durch die Stimme der persischen Reisenden) jedoch als Kritik von Teilen der sich neu etablierenden bürgerlichen Klasse an der Feudalgesellschaft – und zwar aus der Perspektive der aufkommenden bürgerlichen Aufklärung. So lässt Montesquieu die Reisenden immer wieder Philosophen und Gelehrte der Aufklärung zitieren. Im Namen der natürlichen Freiheit und Gleichheit aller Menschen und der Idee einer republikanischen Verfassung problematisieren sie vehement die Willkür des absolutistischen Staates, die vernunftwidrige Herrschaft der Kirche sowie die ewigen Religionskriege bis hin zur Sklaverei. In dieser grundlegenden Kritik an den bestehenden feudalen Verhältnissen werden neben neuen Vorstellungen von Kirche, Staat und Politik auch Ansätze zu einer neuen Geschlechterordnung mit neuen Normen von Männlichkeit und Weiblichkeit formuliert. In den Beschreibungen der Situation und des Verhaltens der europäischen Frauen wird durch die Stimme der Reisenden besonders an den Frauen des höfischen Adels heftige Kritik geübt: »Die Frauen haben hier jede Zurückhaltung verloren: Ohne ihr Gesicht zu verbergen, bieten sie sich den Männern dar, als ob sie deren Schwäche herausfordern wollten; sie suchen sie mit ihren Blicken; sie sehen sie in den Moscheen, auf den Spaziergängen und bei sich zu Hause […]. Statt der edlen Natürlichkeit und der liebenswerten Schamhaftigkeit bei uns herrscht hier eine rohe Schamlosigkeit, an die man sich unmöglich gewöhnen kann.« (Montesquieu 1991: 55)

Die Frauen des höfischen Adels sind in einem fort mit ihrem Äußeren beschäftigt, mit ihren Kleidern und ihrem Schmuck; sie sind gefallsüchtig, schamlos und

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verführerisch und möglicherweise sogar ihren Männern untreu (ebd. 56). Außerdem werden ihre große informelle Macht an den Höfen und ihr bedeutsamer Einfluss auf die Politik als problematisch hervorgehoben. All dies sind bekanntlich zentrale Elemente der bürgerlichen Kritik an den feudalen Geschlechterverhältnissen. Zugleich wird immer wieder die Situation der »europäischen« und »persischen Frauen« (ebd. 56) verglichen und ihr Recht auf Freiheit und Gleichheit betont. Sie sollen frei sein und nicht den Männern unterstellt, »denn die Natur hat niemals ein solches Gesetz aufgestellt! Unsere Herrschaft über die Frauen ist eine wahre Tyrannei« (ebd. 75). Ebenso wird ganz im Sinne der Aufklärung auf den gleichen Fähigkeiten der Frauen insistiert, wenn sie nur die gleiche Erziehung wie die Männer erhielten (vgl. ebd.).4 Wie sich in den Briefen zeigt, findet im Zuge der Etablierung der Hegemonie der neuen bürgerlichen Gesellschafts- und Geschlechterordnung konstitutiv miteinander verwoben eine Selbststilisierung und -affirmierung der bürgerlichen Klasse sowie eine Veranderung des Adels statt. In diesen innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen um eine neue gesellschaftliche Hegemonie konstituiert sich das Bürgertum mit seinen Idealen der Aufklärung, seinen Vorstellungen von Rationalität, Menschenrechten und Geschlechterverhältnissen als fortschrittlich, frei und modern gegenüber dem veralteten, unfreien Feudalismus mit seinem religiösen Fanatismus, seiner absolutistischen Willkürherrschaft und seinen dekadenten Geschlechterverhältnissen. Ebenfalls konstitutiv damit verwoben ist die Selbststilisierung Europas als Ort des Fortschritts gegenüber dem statischen Orient und dessen Veranderung als rückschrittlich, despotisch und unfrei. Die bis heute andauernde »Orientalisierung des Orients« erweist sich, wie schon Said betont, auch hier als wesentliches Moment der Selbstaffirmierung Europas. Zugleich aber ›folgt‹ die Orientalisierung zu großen Teilen dem Muster der Selbststilisierung des Bürgertums und der Veranderung des Adels im Zuge des

 4

Im Übrigen spielt in diesen Briefen die Unfreiheit der Kastraten ebenfalls eine wichtige Rolle. Als quasi drittes Geschlecht stehen die Kastraten nicht nur für die ständige Furcht vor Entmännlichung, sondern jetzt widersprechen sie auch zunehmend der mit der bürgerlichen Geschlechterordnung entstehenden binär-hierarchischen heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit. Dies dürfte, so Grotjahn, »ein entscheidender Grund für das Verschwinden der Kastraten aus dem Musikleben« in Europa sein (Grotjahn 2004: 46). In der bürgerlichen Kritik an der höfischen Musikkultur verschränkt sich zudem exemplarisch Selbstaffirmierung und Veranderung, und zwar sowohl nach innen, dem höfischem Adel, als auch nach außen, dem Orient gegenüber.

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Ringens um die bürgerliche Hegemonie.5 Genau diese Überdeterminiertheit der Prozesse sichtbar zu machen, war mein Anliegen. Des Weiteren wird die zentrale Rolle deutlich, die in dieser Hegemoniebildung Europas die Stilisierung der eigenen Geschlechterverhältnisse als fortschrittlich und modern spielen. Vor diesem Hintergrund wird verständlicher, weshalb die Geschlechterverhältnisse auch in der derzeitigen Debatte um ›den‹ Islam und die von ihm ausgehenden Bedrohungen eine solch grosse Bedeutung einnehmen. Sie sind ein entscheidender Eckpfeiler der Selbststilisierung Europas als fortschrittlich, modern und Ort der Menschenrechte. Zudem wird – ohne dass dies hier weiter ausgeführt werden könnte – die Selbststilisierung der eigenen Geschlechterverhältnisse als gleichsam vollendete Emanzipation auch als Teil aktuell zunehmender innergesellschaftlicher Auseinandersetzungen um die Geschlechterverhältnisse erkennbar. Deren genauere Analyse steht derzeit allerdings noch aus (vgl. Demirovic/Maihofer 2013). Mit anderen Worten: Die Prozesse der hegemonialen Selbstaffirmierung und Veranderung stehen nach ›innen‹ wie nach ›außen‹ in einem konstitutiven und zugleich dialektischen Zusammenhang. Deshalb ist es problematisch, wenn der Fokus, wie häufig, vor allem auf der kritischen Analyse der Veranderungen liegt. Im Gegenteil, gilt es die Prozesse der Selbstaffirmierung stärker als ›eigenständige‹ Prozesse in die Analyse und Konzeptionalisierung einzubeziehen (vgl. auch Hostettler in diesem Band). Auf diese Weise wird zudem sichtbar, dass die gemeinsame innere Logik der Konstruktion des ›Anderen‹ nach ›innen‹ wie nach ›außen‹ (z.B. von Rasse, Klasse Geschlecht und Sexualität), bei aller jeweils eigenen inneren Logik, in ebendiesem konstitutiv und zugleich dialektischen Zusammenhang begründet ist. Die Überwindung der Prozesse der Veranderung kann folglich nicht für sich gelingen. Vielmehr bedarf es der grundlegenden Überwindung dieser dialektischen Beziehung von Selbstaffirmierung und Veranderung als gegenwärtig vorherrschender (individueller wie kollektiver) Subjektivierungsweise.

 5

So beschreibt beispielsweise Harries wie Schweizer Forschende die interne Veranderung der Alpenbewohner als primitive Wildheit auf die Bewohner Afrikas übertrugen: »In particular, they carried to Africa the European images, themes and attitudes employed to describe the Alps as a primitive wilderness« (Harries 2007: 201).

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H EGEMONIE ( SELBST ) KRITIK – ALS UNABDINGBARES M OMENT VON K RITIK ALS EMANZIPATORISCHE P RAXIS In ihrem Aufsatz Okzidentalismuskritik (2009) unterscheidet Dietze im Anschluss an Said zwei unterschiedliche Weisen, wie sich Prozesse der »Orientalisierung« untersuchen lassen: In der einen liegt der Schwerpunkt auf der Analyse der »Logik des ›Othering‹« (ebd. 26). Was für ein Bild des Orients entsteht? Welche Ausgrenzungen, Diskriminierungen, Hierarchisierungen werden dabei vorgenommen? In der anderen wird »auf den Benefit« fokussiert, »den solche ›Othering‹-Prozeduren für ein okzidental hegemoniales Selbst erbringen« (ebd.). Dietze verschiebt damit den Blick auf das Selbst und die Effekte, die die Veranderung für dieses haben. Untersucht wird jetzt: Welches Selbstbild des Okzidents, welche inhaltlichen Selbstzuschreibungen, welche Identitätsfindung entstehen in diesem Prozess der Orientalisierung? Und welche Funktion, welchen Gewinn hat das für das okzidentale Selbst? Dietze konstituiert damit das, was sie »die Perspektive der Okzidentalismuskritik« (ebd. 23) nennt. Das ist ein sehr bedeutsamer Schritt. Das Verständnis von (Selbst)Kritik verbleibt jedoch in der oben angesprochenen reduzierten Betrachtungsweise. Selbststilisierung und -affirmierung, die Konstruktion und inhaltliche Bestimmung des Selbst, werden weiterhin vor allem als Rückwirkungen der Veranderung, hier der Rückwirkungen der Orientalisierung auf das okzidentale Selbst wahrgenommen und der hegemoniale Akt der Selbstaffirmierung nur als Effekt der Veranderung untersucht und begriffen. So betont Dietze denn auch: »Die Okzidentalismuskritik versteht sich in diesem Zusammenhang als systematische Aufmerksamkeit gegenüber identitätsstiftenden Neo-Rassismen, die sich über eine Rhetorik der ›Emanzipation‹ und Aufklärung definieren« (ebd. 24). Die Prozesse hegemonialer Selbstaffirmierung und Veranderung und ihr dialektisches Verhältnis zueinander kommen damit nicht ›insgesamt‹ in den Fokus der Kritik. Allerdings wird mit dieser Perspektivverschiebung, oder genauer: Perspektiverweiterung, der Raum eröffnet für »Hegemonie(selbst)kritik« (2008), wie es Dietze in einem früheren Text allgemeiner gefasst bezeichnet hat. Ein Begriff, den ich für ausnehmend produktiv halte und den ich im Folgenden als konstitutives, wie unabdingbares Moment von Kritik als emanzipatorischer Praxis aufzeigen möchte: ein Verständnis von Kritik, wie es sich in den westlichen Gesellschaften mit der bürgerlichen Aufklärung zu entwickeln beginnt. Exemplarisch dafür sind Kants berühmte Ausführungen in »Was ist Aufklärung?« (Kant 1964 [1785]), in denen er Denken als eine Tätigkeit definiert, sich seines eigenen Verstandes »ohne Leitung eines anderen zu bedienen« (ebd. 53).

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Denken ist wirkliches Denken nur, wenn es frei ist, ohne Gängelung (ebd. 54), und kritisch gegenüber den herrschenden Autoritäten (wie Staat oder Kirche) sowie den Gesellschaftsverhältnissen, die es in diesem »Joch der Unmündigkeit« (ebd.) halten. Der »neuzeitliche Begriff der Vernunft« wird also, wie Adorno betont, »mit Kritik gleichsetzt« (Adorno 1977: 786). Dieses Verständnis von Denken als genuin kritischer Tätigkeit impliziert die Aufkündigung des Gehorsams und mit ihm beginnt nach Foucault – mit ausdrücklichem Verweis auf Kant – die »Entunterwerfung« (1992: 15). Bei Kant wird jedoch die Vernunft als Instanz von Kritik transzendental, also ahistorisch und universal gefasst. Sie wird zwar auf ihre Grenzen verwiesen, aber letztlich selbst der Kritik entzogen. Das heißt, der kritische Gebrauch der Vernunft wird bezogen auf sich selbst stillgestellt und gezügelt (vgl. Adorno 1977: 786). Doch Denken tut sein Geschäft nur dann, wenn es sich auch kritisch gegen sich selbst wendet, kritisch ist gegenüber den eigenen Denk- und Lebensweisen (vgl. Horkheimer/Adorno 2009: 44). In der selbstkritischen Reflexion auf das hegemoniale epistemische Regime, das das eigene Denken konstituiert, wird erkennbar, wie sehr die eigenen Wissens- und Lebensformen immer zugleich Teil gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsmechanismen sind. Aus diesem Grund ist Hegemonie(selbst)kritik, die Kritik an den herrschenden Weisen des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens und Handelns unabdingbar für Kritik als emanzipatorischer Praxis. Nichts darf der Kritik entzogen, alles muss ihr ausgesetzt sein: auch das eigene Selbst in seinen Verstrickungen in die Gesellschaft. Kritik und Widerständigkeit richten sich nicht bloß »gegen die äußere Welt, sondern dieser Widerstand müsste sich allerdings in uns selber gegen all das erweisen, worin wir dazu tendieren mitzuspielen« (Adorno 2010: 249). Dies impliziert nach Adorno auch – und hier wird deutlich, wie sehr diese Überlegungen mit der Frage der hegemonialen Prozesse der Selbstaffirmierung und Veranderung zu tun haben – das Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit und der ständigen Aufmerksamkeit darauf, nicht »sich selbst und seine Gruppe, zu der man gehört, als Positives [zu setzen] und das, was anders ist«, zu negieren (ebd. 251). Es gilt vielmehr durch die Erkenntnis der eigenen Historizität und gesellschaftlich-kulturellen Bedingtheit zu lernen, »auch dem sein Recht zu geben, was anders ist, und zu fühlen, dass das wahre Unrecht eigentlich immer genau an der Stelle sitzt, an der man sich selber blind ins Rechte und das andere ins Unrecht setzt. Dieses Nicht-sich-selber-Setzen [...] das scheint mir eigentlich das Zentrale, was heute überhaupt von dem einzelnen Menschen zu verlangen ist [Herv. AM]« (ebd.). Wird Kritik in diesem Sinne verstanden und im doppelten Sinne des Wortes geübt, findet die Tätigkeit der Kritik von vornherein in einer entschieden anderen Haltung statt, nicht in einer Aura der Selbstgewissheit,

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sondern in einem Ethos der Ungewissheit und der Einsicht, dass es diese auszuhalten gilt. Aber vor allem wird offenbar, dass Hegemonie(selbst)kritik die gegenwärtig hegemonialen Prozesse von Selbstaffirmierung und Veranderung als zentrale Mechanismen der Reproduktion westlicher bürgerlicher Gesellschaftsund Geschlechterordnungen selbst in den Fokus der Kritik rückt: – Selbstkritik »von innen heraus«, wie es Hostettler nennt (vgl. in diesem Band).

L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1977): Kritik, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 10, 2, Frankfurt a.M: Suhrkamp, S. 785-793. Adorno, Theodor W. (2010): Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt a.M: Suhrkamp. Baker, Paul (2008): Sexed Text. Language, Gender and Sexuality, London: Equinos Publishing. Beauvoir, Simone de (2005 [1949]): Das andere Geschlecht, Hamburg: Rowohlt. Connell, Robert W. (1999): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise der Männlichkeit, Opladen: Leske & Budrich. Demirovic, Alex/Maihofer, Andrea (2013): »Vielfachkrise und Geschlecht – Überlegungen zu einigen gesellschaftstheoretischen Herausforderungen«, in: Hildegard Nickel/Andreas Heilmann (Hg.), Krise, Kritik, Allianzen, Weinheim: Juventa (im Erscheinen). Dietze, Gabriele (2008): »Intersektionalität und Hegemonie(selbst)kritik«, in: Wolfgang Gippert (Hg.), Transkulturalität. Gender und bildungshistorische Perspektiven, Bielefeld: transcript, S. 27-45. Dietze, Gabriele (2009): »Okzidentalismuskritik. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung«, in: Gabriele Dietze/Claudia Brunner/Edith Wenzel (Hg.), Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld: transcript, S. 23-54. Eder, Franz X. (2009): Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität, München: C.H. Beck. El-Tayeb, Fatima (2011): European Others. Queering Ethnicity, Postnational Europe, Minnesota: University of Minnesota Press. Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik?, Berlin: Merve. Foucault, Michel (2003): Die Anormalen Vorlesungen am Collège de France (1974-1975), Frankfurt a.M: Suhrkamp.

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Autor_innen

Baquero Torres, Patricia ist zurzeit Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität von Antioquia in Medellín/Kolumbien. 2009 promovierte sie in Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind: Postkoloniale Theorie, Migrations- und Rassismusforschung sowie Gender- und Migrationspädagogik. Ihr aktuellstes, abgeschlossenes, von der EU finanziertes Forschungsprojekt heißt: Self-defenceIT – Migrantinnen wehren sich gegen Gewalt in Neuen Medien. Böck, Angelika studierte Innenarchitektur und Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste in München. Die menschliche Wahrnehmung und Darstellung stehen im Zentrum Ihrer künstlerischen Arbeit, die auf dem Prinzip des Dialogs beruht. Ferner ist das Gespräch Grundlage vieler ihrer partizipativen und ortsbezogenen Arbeiten. Im Rahmen ihrer künstlerischen Forschung Porträt als Dialog spürt sie alternative Formen des ›Porträtierens‹ auf und fordert damit herkömmliche Begriffe und Konventionen von ›Porträt‹ heraus. Seit 1999 realisiert sie Arbeiten in der Republik Elfenbeinküste, in Norwegen, Zentralaustralien, Jemen, Malaysia und der Mongolei (vgl. www.angelika-boeck.de). Dietze, Gabriele lehrt Kulturwissenschaften, Gender- und Medienforschung mit den Schwerpunkten ›Rasse‹/Ethnizität, Migration und Geschlecht und ist Mitglied der Forschergruppe Kulturen des Wahnsinns an der Humboldt-Universität zu Berlin. Aktuellste Publikationen sind: Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht herausgegeben mit Claudia Brunner und Edith Wenzel bei transcript, 2009; und Weiße Frauen in Bewegung. Genealogien und Konkurrenzen von Race- und Genderpolitiken ebenfalls bei transcript, 2013.

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Dübgen, Franziska ist derzeit Fellow am Institute for Advanced Sustainability Studies, Potsdam. Sie promovierte in Frankfurt im Rahmen des Exzellenzcluster Die Herausbildung Normativer Ordnungen mit einer philosophischen Dissertationsschrift zu Gerechtigkeitstheorien, Solidarität und postkolonialer Kritik. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Kritischen Theorie, der zeitgenössischer politischen Theorie und der transkulturellen Philosophie. Sie lehrte an der Humboldt-Universität, der Universität Kassel und der Goethe-Universität Frankfurt Seminare zur afrikanischen Philosophie, kritischer Theorie, postkolonialer Theorie und zum Film. Fessler, Ladina forscht im Bereich der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Basel im interdisziplinären Sinergia-Projekt Imitation – Assimilation – Transformation. Epistemologien, Semantiken und Praktiken der Anverwandlung im 19. und 20. Jahrhundert des Schweizerischen Nationalfonds. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind literarischer Primitivismus, Expressionismus und Kunst und Literatur. Das Dissertationsprojekt behandelt primitivistische Künstlerfiguren in der Literatur des deutschen Expressionismus und untersucht deren interkulturelles, (post-)koloniales und medientechnisches Reflexionspotential. Gerhardt, Kristiane war Mitglied des Graduiertenkollegs Generationenforschung in Göttingen (2005-2008), und Visiting Scholar am Department of Hebrew and Judaic Studies an der New York University. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte im 18. und 19. Jh. sind (Jüdische) Kolonialgeschichte in Mittel- und Westeuropa und im 18.- 20. Jh. Theorie der Geschichte und Historiografiegeschichte. Ein weiteres Forschungsgebiet sind Gender Studies mit Schwerpunkt auf historische Männerforschung. Hostettler, Karin ist zurzeit wissenschaftliche Assistentin im Bereich Gender und Diversity an der Universität St. Gallen und Doktorandin am Zentrum Gender Studies der Universität Basel. Sie forscht und lehrt in St. Gallen und Basel im Schnittbereich der Themen Gender Studies, Postkoloniale Theorie und Philosophie. In ihrer Dissertation untersucht sie die rassentheoretischen Schriften des Philosophen Immanuel Kants in Verwicklung mit geschlechtertheoretischen Annahmen aus einer postkolonialen Perspektive. Maihofer, Andrea ist Professorin für Geschlechterforschung und Leiterin des Zentrums Gender Studies an der Universität Basel. Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte sind die Analyse von Wandel und Persistenz in den Geschlechterverhältnissen (insb. Familie, Sozialisation, Beruf, Männlichkeit, Sexualisie-

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rung/Sexualität) sowie Moral- und Rechtstheorie. Aktuellste Publikationen sind: »Familiale Lebensformen zwischen Wandel und Persistenz. Eine zeitdiagnostische Zwischenbetrachtung«, in: Cornelia Behnke et al. (Hg.): Wissen – Methode – Geschlecht: Erfassen des fraglos Gegebenen bei VS Verlag 2013 und »Virginia Woolf. Zur Prekarität feministischer Kritik«, in: Bettina Hünersdorf et al. (Hg.): Was ist Kritik und wozu betreiben wir Kritik in der Sozialen Arbeit? Disziplinäre und interdisziplinäre Diskurse bei VS Verlag 2012. Meyer, Frauke ist zurzeit Bildungsreferentin bei einem Weiterbildungsträger in Hamburg. Nach dem Studium der Erziehungswissenschaft, Islamwissenschaft und Soziologie in Berlin und Hamburg war sie von 2000-2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin in Drittmittelprojekten der Universität Hamburg. 2010 promovierte sie in Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind: Postkoloniale Theorie, Migrations- und Rassismusforschung, Gender und Queer Studies, Flucht und Asyl, moderner Islam und qualitative Forschungsmethoden. Schutzbach, Franziska ist wissenschaftliche Assistentin am Zentrum Gender Studies der Universität Basel und assoziiertes Mitglied im Basler Graduiertenkolleg Geschlechterverhältnisse – Normalisierung und Transformation. Sie forscht und lehrt im Bereich der Gesundheits- und Bevölkerungspolitik, der Reproduktionsverhältnisse, der kritischen Demografieforschung und der Bioökonomie. In ihrem Dissertationsprojekt untersucht sie aktuelle Bevölkerungspolitiken an der Schnittstelle von Gesundheit und Demografie. Tißberger, Martina forscht und lehrt am Center for Education, Migration and Cultural Studies (Institut für Pädagogik) der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Critical Whiteness, Postkoloniale Theorie, Gender und Psychoanalyse. Sie war von 1999 bis 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FU Berlin mit einem Forschungsaufenthalt an der UC Berkeley und promovierte 2012 als Dr. phil. in Psychologie. Zu ihren Publikationen zählen Weiß – Weißsein – Whiteness bei Peter Lang 2009 und ›Dark Continents‹ und das ›Un‹Behagen in der weißen Kultur, erscheint bei Unrast, 2013. Vögele, Sophie ist zurzeit Lehrbeauftragte am Zentrum Gender Studies der Universität Basel und an der Berner Fachhochschule, Bereich Soziale Arbeit. Sie promoviert in Soziologie an der York University, Toronto, mit Schwerpunkt Gender Studies, Postkolonialer und Kritischer Theorie und absolviert dort ebenfalls ein Diploma for Asian Research. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunk-

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te sind: Diskriminierung im transnationalen Kontext, Entwicklungs-Konzepte mit universalistischem Anspruch, politische Partizipation in Indien sowie Performativität von populärem Hindi Film.

Postcolonial Studies Anette Dietrich Weisse Weiblichkeiten Konstruktionen von »Rasse« und Geschlecht im deutschen Kolonialismus 2007, 430 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-807-0

Kien Nghi Ha Unrein und vermischt Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolonialen »Rassenbastarde« 2010, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1331-5

Wulf D. Hund (Hg.) Entfremdete Körper Rassismus als Leichenschändung 2009, 252 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1151-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Postcolonial Studies Gesine Müller, Natascha Ueckmann (Hg.) Kreolisierung revisited Debatten um ein weltweites Kulturkonzept Februar 2013, 336 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2051-1

Julia Reuter, Paula-Irene Villa (Hg.) Postkoloniale Soziologie Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention 2009, 338 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-906-0

Markus Schmitz Kulturkritik ohne Zentrum Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation 2008, 434 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-975-6

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Postcolonial Studies Eva Bischoff Kannibale-Werden Eine postkoloniale Geschichte deutscher Männlichkeit um 1900

Julia Verse Undoing Irishness Antirassistische Perspektiven in der Republik Irland

2011, 382 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1469-5

2012, 412 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1682-8

Sérgio Costa Vom Nordatlantik zum »Black Atlantic« Postkoloniale Konfigurationen und Paradoxien transnationaler Politik 2007, 292 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-702-8

Shadia Husseini de Araújo Jenseits vom »Kampf der Kulturen« Imaginative Geographien des Eigenen und des Anderen in arabischen Printmedien 2011, 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1646-0

Cassis Kilian Schwarz besetzt Postkoloniale Planspiele im afrikanischen Film 2012, 400 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2142-6

Patricia Purtschert, Barbara Lüthi, Francesca Falk (Hg.) Postkoloniale Schweiz Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien (2., unveränderte Auflage 2013) 2012, 422 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1799-3

Burkhard Schnepel, Gunnar Brands, Hanne Schönig (Hg.) Orient – Orientalistik – Orientalismus Geschichte und Aktualität einer Debatte 2011, 312 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1293-6

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