Die Zulassung der Berufung im Verwaltungsprozess unter den Einwirkungen des Verfassungs- und des Unionsrechts [1 ed.] 9783428537105, 9783428137107

Im Berufungszulassungsverfahren der VwGO modifizieren Unions- und Verfassungsrecht die Anforderungen an das Darlegungsge

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Die Zulassung der Berufung im Verwaltungsprozess unter den Einwirkungen des Verfassungs- und des Unionsrechts [1 ed.]
 9783428537105, 9783428137107

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1210

Die Zulassung der Berufung im Verwaltungsprozess unter den Einwirkungen des Verfassungs- und des Unionsrechts Von Gert Armin Neuhäuser

Duncker & Humblot · Berlin

GERT ARMIN NEUHÄUSER

Die Zulassung der Berufung im Verwaltungsprozess unter den Einwirkungen des Verfassungs- und des Unionsrechts

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1210

Die Zulassung der Berufung im Verwaltungsprozess unter den Einwirkungen des Verfassungs- und des Unionsrechts

Von Gert Armin Neuhäuser

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz-Universität Hannover hat diese Arbeit im Jahre 2011 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Werksatz, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-13710-7 (Print) ISBN 978-3-428-53710-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83710-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

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Meinen Eltern Helga und Gert Neuhäuser

„Ein supranationales Recht, das nicht nur unmittelbare Anwendbarkeit, sondern auch Vorrang beanspruchen kann, über exklusive Rechtssetzungszuständigkeiten verfügt und eigenen Grundrechtsschutz besitzt, muss notwendig zu Verschiebungen in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten führen.“ Ulrich Haltern, Europarecht, Tübingen 2007, Rn. 37

Vorworte ... ... sind solche nur nach ihrem Standort; abgefasst werden sie regelmäßig nach dem Schreiben einer Dissertation, nach dem Ablegen der Disputation und damit nach getaner Arbeit. Sie sind damit als „materielle Nachworte“ der Zeitpunkt einer Rückschau und des Dankes. Diesen Dank möchte auch ich aussprechen: Insbesondere Herrn Prof. Dr. Veith Mehde für die umfassende Unterstützung und Betreuung im Rahmen dieser von der Juristischen Fakultät der Leibniz-Universität Hannover im Winter-Semester 2010/2011 angenommenen Dissertation, sowie Herrn Prof. Dr. Volker Epping für die gerade zur Erstellung der Druckfassung anregungsreiche Abgabe des Zweitgutachtens. Für die Perspektive, einige Jahre meiner beruflichen Tätigkeit in einer Zeit des dortigen umfassenden und beeindruckenden Wandels am Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht verbringen zu können, danke ich Herrn PräsOVG Dr. Herwig van Nieuwland; die Arbeit in den Senaten der ehemaligen VPräsOVG und jetzigen PräsOVG Bremen Ilsemarie Meyer und des VRiOVG Michael Munk hat mich fachlich und in Bezug auf den „richterlichen Habitus“ stark beeindruckt und geprägt. Meine „Lüneburger Jahre“ waren für mich bislang die schönste Zeit meiner beruflichen Tätigkeit. Die eigene „Betriebsblindheit“ in Bezug auf Selbstgeschriebenes erfordert freundschaftliche und geduldige Unterstützung beim Korrekturlesen; tritt noch – wie in der Person meines Freundes Diplom-Jurist Daniel Ciobanu – die Möglichkeit eines fachlich hochwertigen Diskurses gepaart mit tiefgründigem Witz hinzu, so versteht sich der Dank von selbst. Universitäre Arbeit ist neben Beruf, Ehrenämtern und Familie nur mit vollständiger Unterstützung letzterer möglich: Meiner Frau Doris und meinen Kindern Lorenza und Leandro danke ich für Geduld, aufmunternde Scherze und ständige Motivation. Ohne Euch wäre alles nichts. Rinteln, im September 2011

Gert Armin Neuhäuser

Inhaltsübersicht I.

Problemstellung und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

II.

Fallgruppen der unionsrechtlichen Rechtsanwendungsfehler durch die Verwaltungsgerichte und Probleme in dem Spannungsfeld zwischen Ergebnisrichtigkeit und Beschleunigungsfunktion des Berufungszulassungsverfahrens .

41

III.

Das Berufungszulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

IV.

Die Rechtsmittelzulassung wegen nicht dargelegter unionsrechtlicher Rechtsanwendungsfehler in Literatur und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

V.

Unionsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VI.

Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben für das Berufungszulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441

297

VII. Unionsrechtliche Rechtfertigung des Darlegungserfordernisses . . . . . . . . . .

471

VIII. Folgerungen für die Frage des gesetzlichen Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . .

478

IX.

Gesetzgeberische Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

496

X.

Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

499

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

503

Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

529

Inhaltsverzeichnis I.

II.

III.

Problemstellung und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

1.

Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

2.

Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Fallgruppen der unionsrechtlichen Rechtsanwendungsfehler durch die Verwaltungsgerichte und Probleme in dem Spannungsfeld zwischen Ergebnisrichtigkeit und Beschleunigungsfunktion des Berufungszulassungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

1.

Nicht- oder Falschberücksichtigung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . .

41

2.

Nichterkennen einer Vorlageberechtigung nach Art. 267 Abs. 2 AEUV

43

3.

Das Spannungsfeld zwischen Ergebnisrichtigkeit und Beschleunigungsfunktion des Berufungszulassungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Das Berufungszulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

1.

Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung nach den §§ 124, 124a VwGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) b) c) d) e) f)

Antragserfordernis und Beschwer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertretungszwang und Form des Antrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frist des Antrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adressat des Antrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bezeichnung des angefochtenen Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Darlegung des Zulassungsgrundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wortlautauslegung des Begriffs „darlegen“ . . . . . . . . . . . . . . bb) Systematische Auslegung: Darlegungsgebot und Vertretungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sinn und Zweck des Darlegungsgebotes . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Zusammenfassende Gesetzesinterpretation aufgrund des einfachen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Verfassungsrechtliche Wechselwirkungen . . . . . . . . . . . . . . .

51 51 52 55 55 60 61 61 62 64 64 66 67

14

Inhaltsverzeichnis (1) Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Der Grundsatz der Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Zusammenfassende Gesetzesinterpretation des Darlegungsgebotes unter Berücksichtigung der Anforderungen des Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Darlegungsgebot und Prozesskostenhilfebewilligung . . . . . . . g) Die Benennung des Zulassungsgrundes im Sinne des § 124 Abs. 2 VwGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Der Prüfungsmaßstab des Oberverwaltungsgerichts . . . . . . . . . . . . i) Notwendige Beiladung in dem Berufungszulassungsverfahren nach § 65 Abs. 2 VwGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.

Die einzelnen Berufungszulassungsgründe und die Anforderungen an ihre Darlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begriffsbestimmung der „ernstlichen Zweifel“ . . . . . . . . . . . . (1) Zweifelsbegründende Tatsachenfragen? . . . . . . . . . . . . . . (a) Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Ernstlichkeit des Zweifels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Begriffsbestimmung der „Richtigkeit des Urteils“ . . . . . . . . . (1) Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch das Oberverwaltungsgericht und Berücksichtigung neuen Tatsachenvortrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Berücksichtigung neuen Tatsachenvortrags . . . . . . . . . . . (a) Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Berücksichtigung von Rechtsänderungen . . . . . . . . . . . . (a) Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Einzelfälle der Geltendmachung „ernstlicher Zweifel“ . . . . . (1) Würdigung einer Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Fehlerhafte Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts der Beurteilung der Sach- und Rechtslage im Aufenthaltsrecht

68 74

81 83 84 88 92 94 94 94 95 95 96 96 96 99 105 105 111

116 116 116 119 132 132 136 140 140 142

Inhaltsverzeichnis ee) Anforderungen an die Darlegung der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Anforderungen an die Darlegung unionsrechtlich fußender Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung . b) Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Prüfungsmaßstab des Oberverwaltungsgerichts . . . . . . . . . . . cc) Anforderungen an die Darlegung der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Anforderungen an die Darlegung unionsrechtlich fußender besonderer rechtlicher oder tatsächlicher Schwierigkeiten . . . . ee) Abgrenzung zwischen dem Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils und dem der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Grundsätzliche Bedeutung aufgrund von Tatsachenfragen (2) Begriff des Rechtsmittelzuges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sinn und Zweck des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO . . . . . . . . . . . cc) Fallgruppen fehlender grundsätzlicher Bedeutung . . . . . . . . . dd) Fallgruppen des Vorliegens einer grundsätzlichen Bedeutung ee) Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Anforderungen an die Darlegung einer unionsrechtlich fußenden grundsätzlichen Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Divergenzberufung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO . . . . . aa) Divergenzgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Das Oberverwaltungsgericht als Divergenzgericht . . . . . (2) Exkurs: Der Europäische Gerichtshof als Divergenzgericht bb) Divergenzbegründende Tatsachenfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Vorliegen einer Divergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Normidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Bewusstsein der Abweichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zeitpunkt des Ergehens der divergierenden Entscheidung (5) Rechtsanwendungsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Stillschweigendes Übergehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

148 151 152 154 160

164 165

167 173 174 174 175 176 176 177 178 180 182 182 182 183 185 186 186 187 187 188 190 190

16

Inhaltsverzeichnis (7) Hilfsbegründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (8) Obiter dicta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Anforderungen an die Darlegung einer Divergenz . . . . . . . . . ee) Anforderungen an die Darlegung einer auf Unionsrecht fußenden Divergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Vorliegen eines Verfahrensmangels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begriff des Verfahrensmangels, der der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beruhenkönnen der Entscheidung auf dem Verfahrensmangel cc) Anforderungen an die Darlegung häufig gerügter Verfahrensmängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz VwGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verstoß gegen Denkgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Versagung rechtlichen Gehörs durch Nichtbescheiden wesentlichen Vorbringens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Unterbliebene notwendige Beiladung § 65 Abs. 2 VwGO (5) Übergehen einer Vorlageprüfung oder Verwerfung einer Norm des Unionsrechts durch das Verwaltungsgericht als Verfahrensmangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Abweisung der Klage durch Prozessurteil statt durch Sachurteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Besonderheiten der Darlegung eines auf Unionsrecht fußenden Verfahrensmangels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Besonderheiten bei Mehrfach- und Alternativbegründungen in dem angefochtenen Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.

191 191 192 193 194 194 195 195 196 205 205 207

210 213 213 214

Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die geltend gemachten und Umdeutung der Zulassungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfassungsrechtliche Notwendigkeit korrigierender Eingriffe in das Berufungszulassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Umdeutung im Zivilrecht und im Zivilprozessrecht . . . . (1) Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Prozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Umdeutung von Anträgen im Rahmen des § 88 VwGO . dd) Die Umdeutung eines fehlerhaften Verwaltungsaktes nach § 47 VwVfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Begriffsbestimmung in dem hier bestehenden Zusammenhang c) Fallgruppen der Umdeutung im Berufungszulassungsverfahren nach Rechtsprechung und Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215 217 217 218 218 220 221 222 223 224

Inhaltsverzeichnis

d) e) f) g) 4.

aa) Umdeutung des Vorbringens zu ernstlichen Zweifeln zu dem Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Umdeutung des Vorbringens zu ernstlichen Zweifeln zu dem Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung . cc) Umdeutung besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache in ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Umdeutung einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache in das Vorliegen einer Divergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Umdeutung des Vorbringens zu einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache in das Vorbringen zu einer Verfahrensrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Umdeutung des Vorbringens zu einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache in das Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Umdeutung des Vorbringens zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit der Entscheidung in die Darlegung eines Verfahrensmangels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) Umdeutung des Vorbringens im Rahmen der Divergenzrüge in die Geltendmachung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Umdeutung der Darlegung eines Verfahrensfehlers in das Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils . . . . jj) Umdeutung des Vorbringens zu dem Zulassungsgrund der Divergenz in das Vorliegen eines Verfahrensmangels . . . . . . . . kk) Umdeutung des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils in das Vorliegen einer Divergenz ll) Umdeutung des Vorbringens zu einer Divergenz in die Rüge der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache . . . . . . . . . . mm) Umdeutung wegen „greifbarer Gesetzeswidrigkeit“ . . . . . . . . nn) Umdeutung der dargelegten Gründe innerhalb eines Berufungszulassungsgrundes, insbesondere innerhalb des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . oo) Empirische Bewertung der Rechtsprechung zu einer Umdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiter anzuerkennende Fallgruppen einer Umdeutung . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhältnis der Umdeutung zu dem Darlegungsgebot . . . . . . . . . . . Gewährung rechtlichen Gehörs bei einer Umdeutung . . . . . . . . . .

17

225 232

232 235

238

238

239

239 240 240 241 242 243

246 249 250 250 252 260

Unterschiede zwischen einer Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht und einer Zulassung durch das Oberverwaltungsgericht . 260

18

Inhaltsverzeichnis a) Beschränkte Anzahl der Zulassungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . .

260

b) Das Darlegungserfordernis in einem Berufungszulassungsverfahren

261

c) Berücksichtigung zwischen dem Urteil des Verwaltungsgerichts und dem Ende der Antragsfrist eintretender Änderungen . . . . . . . . . . . 262 d) Vertretungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

262

e) Unterschiede in den Begründungsanforderungen . . . . . . . . . . . . . .

262

aa) Anforderungen an die Begründung einer von dem Verwaltungsgericht nach § 124a Abs. 1 VwGO in seinem Urteil zugelassenen Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 bb) Anforderungen an die Begründung einer von dem Oberverwaltungsgericht nach § 124a Abs. 5 VwGO zugelassenen Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 5.

Das weitere Verfahren nach Zulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 a) Anforderungen an die Rechtsmittelbelehrung des dem Berufungszulassungsantrag stattgebenden Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 b) Bestimmter Antrag und inhaltliche Anforderungen der Berufungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 c) Anschlussberufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

272

d) Der Überprüfungsrahmen des Oberverwaltungsgerichts . . . . . . . .

273

e) Entscheidung durch das Oberverwaltungsgericht im Wege des vereinfachten Verfahrens nach § 130a VwGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 6.

IV.

Bewertung der Praxis des Berufungszulassungsverfahrens aus der Sicht des Rechtsschutzsuchenden und seines Bevollmächtigten . . . . . . . . . . 275

Die Rechtsmittelzulassung wegen nicht dargelegter unionsrechtlicher Rechtsanwendungsfehler in Literatur und Rechtsprechung . . . . . . . . . 279 1.

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

279

a) Zulassung der Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

279

b) Zulassung der Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

283

c) Literaturmeinung zu einer Aussetzung und Vorlage nach Art. 267 AEUV in dem Zulassungsverfahren selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 2.

Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

286

a) Zulassung der Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

286

b) Zulassung der Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291

c) Rechtsprechung zu einer Aussetzung und Vorlage nach Art. 267 AEUV in dem Zulassungsverfahren selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

Inhaltsverzeichnis 3.

V.

19

Entscheidung der Streitfrage, ob eine Aussetzung und Vorlage in dem Berufungszulassungsverfahren selbst möglich ist . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Unionsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297

1.

Das Vorabentscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297

a) Sinn und Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens . . . . . . . . . . . aa) Gewährleistung der Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung bb) Individualrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Sicherung der Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes . . . . . . b) Die Berechtigung und die Verpflichtung zu einer Aussetzung und Vorlage zum Zwecke der Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV aa) Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens . . . . . . . . . . . . bb) Vorlageberechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Vorlageverpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Begriff des Rechtsmittels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Ausnahmen von der Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Bindungswirkung der Vorabentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . .

298 300 302 305 305

314 317 319 325

Die unmittelbare Wirkung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

329

a) Die unmittelbare Wirkung des Primärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die unmittelbare Wirkung des Sekundärrechts . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die richtlinienkonforme Auslegung als Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung des mitgliedsstaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

331 332 332 333 333

337

Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

342

2.

3.

306 307 311 314

a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 b) Der Vorrang des Unionsrechts in seinem Verhältnis zu der mitgliedsstaatlichen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 c) Verwerfung oder Nichtanwendung als Folge des Vorrangs des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 4.

„Effet utile“, Verpflichtung zu einer unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Prozessrechts und der allgemeine Rechtsgrundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

20

Inhaltsverzeichnis a) „Effet utile“ und Effektivitätsgrundsatz als Synonyme? . . . . . . . . . aa) Tradierte Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Differenzierung nach dem jeweiligen Adressaten des Effektivitätsgrundsatzes einerseits und der Auslegungsregel des „effet utile“ andererseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Verpflichtung zu einer unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Prozessrechts und das Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und kompetenzrechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vollzugsstruktur des Unionsrechts, Kompetenz der Union zu einer Regelung des Verwaltungsprozessrechts und Grundsatz der mitgliedsstaatlichen Verfahrensautonomie . . . . . . . . . . . . (1) Vollzugsstruktur des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Kompetenz der Union zu einer Regelung des Verwaltungsprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Der Grundsatz der mitgliedsstaatlichen Verfahrensautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Notwendige Einwirkungen des Unionsrechts auf das mitgliedsstaatliche Verfahrensrecht aus dem Charakter der Union als Rechtsgemeinschaft heraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Einschränkungen des Grundsatzes der nationalen Verfahrensautonomie durch das Effektivitäts- und durch das Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Folgerungen aus dem kompetenzrechtlichen Aspekt und dem Effektivitätsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gleichwertigkeits- bzw. Äquivalenzgebot . . . . . . . . . . . . (a) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Abgrenzung des Prüfungsumfangs des Gerichtshofs in Bezug auf den Grundsatz der Äquivalenz zu dem der mitgliedsstaatlichen Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Begriff der „gleichartigen Klagen, die allein mitgliedsstaatliches Recht betreffen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Erstarken einer Möglichkeit zu einer Berücksichtigung mitgliedsstaatlichen Rechts von Amts wegen zu einer unionsrechtlichen Berücksichtigungspflicht . . . . . . . (e) Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen bei (nicht, nicht hinreichend oder nicht fristgerecht umgesetzten) Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Effizienz- bzw. Effektivitätsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Schaffung von Rechtsbehelfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Ausschluss des Berufenkönnens eines Hoheitsträgers auf den Lauf einer Klagefrist bei verspäteter Richtlinienumsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

349 349

352 353

355

355 355 357 358

360

361 366 375 375

376 378

380

381 383 385

387

Inhaltsverzeichnis

21

(c) Mitgliedsstaatliche Entschädigungsobergrenzen, die nicht geeignet sind, diskriminierende Wirkungen richtlinienkonform angemessen auszugleichen . . . . . . . . 388 (d) Setzung angemessener Ausschlussfristen . . . . . . . . .

388

(e) Durchbrechung von Vorschriften des nationalen Rechts, in denen der Grundsatz der Rechtskraft verankert ist 391 (f) Die Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 (aa) Die Geltendmachung des Unionsrechts durch die Beteiligten als Voraussetzung seiner Anwendbarkeit im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 (α) Rs. C-87/90, C-88/90 und C-89/90 . . . . .

396

(β) Rs. C-430/93 und C-431/93 . . . . . . . . . . .

398

(γ) Rs. C-72/95 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

403

(δ) Rs. C-126/97 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

406

(ε) Rs. C-295/04 bis C-298/04 . . . . . . . . . . . .

408

(ζ) Rs. C-222/05 bis C-225/05 . . . . . . . . . . . .

412

(η) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

416

(bb) Vorhandensein positiver Verfahrensregelungen in Richtlinien und richtlinienkonforme Auslegung des mitgliedsstaatlichen (Prozess-)rechts . . . . . 418 (α) Rs. C-240/98 bis C-244/98 . . . . . . . . . . . .

418

(β) Rs. C-473/00 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

421

(γ) Rs. C-168/05 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

424

(δ) Rs. C-243/08 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

426

(ε) Rs. C-40/08 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

428

(ζ) Rs. C-227/08 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

430

(η) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

433

(cc) Ausstrahlungswirkung des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV . . . . . . . . . . . . 436

VI.

(α) Rs. C-312/93 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

436

(β) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

438

Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben für das Berufungszulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 1.

Nicht- oder eingeschränkte Anwendbarkeit des Darlegungsgebots des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO unmittelbar aus Art. 267 AEUV . . . . . . . 441 a) Einordnung der Oberverwaltungsgerichte in dem Berufungszulassungsverfahren und in dem Berufungsverfahren als letztinstanzliche oder als Instanzgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441

22

Inhaltsverzeichnis aa) Letztinstanzlichkeit des Oberverwaltungsgerichts nach einer die Berufung zulassenden Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 bb) Letztinstanzlichkeit des Oberverwaltungsgerichts in dem Berufungszulassungsverfahren selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 b) Vorgaben des Art. 267 AEUV in dem Berufungszulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 2.

Das Verhältnis des Darlegungsgebots zu den Prinzipien der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs des Unionsrechts sowie zu dem Effektivitätsgrundsatz und dem Auslegungsprinzip des effet utile . . . . . . . . . . . . . 460 a) Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO unter dem Gesichtspunkt der Effektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Länge der Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO bb) Das Darlegungsgebot als solches unter dem Gesichtspunkt der Effektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Unionsrechtskonforme Auslegung des Darlegungsgebots unter dem Gesichtspunkt der Effektivität . . . . . . . . . . . . (2) Darlegungsgebot und Effektivitätsprinzip . . . . . . . . . . . . c) Das Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO unter dem Gesichtspunkt der Äquivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Direkte Kollisionen sekundären Unionsrechts mit dem Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII. Unionsrechtliche Rechtfertigung des Darlegungserfordernisses . . . . . . 1.

460 461 461 462 462 463 467 469 471

Rechtfertigung des Darlegungserfordernisses durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Mitgliedsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 a) Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

472 473 474

2.

Unionsrechtliche Rechtfertigung des Darlegungserfordernisses unter dem Gesichtspunkt des Fehlens eines „Anspruchs auf einen Instanzenzug“ 475

3.

Rechtfertigung des Darlegungserfordernisses aufgrund einer „Hinnahme von Disharmonien in der Anwendung des Unionsrechts“ durch die Verträge selbst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477

VIII. Folgerungen für die Frage des gesetzlichen Richters . . . . . . . . . . . . . . . 1.

478

Einordnung des Gerichtshofs als gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Absatz 1 Satz 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478

Inhaltsverzeichnis 2.

Der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts für die Prüfung einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter . . . . . . . . . . 480 a) Herleitung des Willkürmaßstabs des Bundesverfassungsgerichts aus dem Verhältnis des einfachen zu dem Verfassungsrecht . . . . . . . . b) Fallgruppen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . aa) Grundsätzliche Verkennung der Vorlageverpflichtung . . . . . . bb) Bewusstes Abweichen von der Rechtsprechung des Gerichtshofs ohne Vorlagebereitschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Nichtvorlage trotz Unvollständigkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Beispielscharakter der Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bewertung der Prüfungsintensität des Bundesverfassungsgerichts

3.

23

480 483 483 484 484 485 487

Verschiebungen des bundesverfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabes der Willkür aufgrund des Unionsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 a) Verschiebung des bundesverfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabes der Willkür in den Fällen einer Verletzung der Vorlagepflicht aufgrund der Kriterien der CILFIT-Entscheidung des Gerichtshofs? 488 b) Verschiebung des Prüfungsmaßstabes aufgrund von Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV und einer unionsrechtskonformen Auslegung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490

4.

Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

493

IX.

Gesetzgeberische Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

496

X.

Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

499

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

503

Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

529

Abkürzungsverzeichnis a. A. a. a. O. ABl. Abs. AcP AEUV a.F. AG

AGB AGBG AgrarR Alt. a. M. Amtl. Begr. ÄndG ÄndVO Anh. Anm. AnwBl AO AöR AP ArbG ArbGG ArchBürgR ArchÖffR ArchVR Art.

andere Ansicht am angegebenen Ort Amtsblatt Absatz Archiv für die civilistische Praxis (Band und Seite) Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Aktiengesellschaft (Rechtsformbezeichnung) Die Aktiengesellschaft (Zeitschrift) Amtsgericht Ausführungsgesetz Allgemeine Geschäftsbedingungen Gesetz zur Regelung des Rechts der allgemeinen Geschäftsbedingungen Zeitschrift für das Recht der Landwirtschaft, der Agrarmärkte und des ländlichen Raumes Alternative anderer Meinung Amtliche Begründung Änderungsgesetz Änderungsverordnung Anhang Anmerkung Anwaltsblatt Abgabenordnung Archiv für Öffentliches Recht (Zeitschrift) Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts (Gesetzesstelle und Entscheidungsnummer) Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Archiv für bürgerliches Recht (Band und Seite) Archiv für öffentliches Recht Archiv für Völkerrecht Artikel

Abkürzungsverzeichnis AsylVfG Aufl. AUR AuR AuslG B. BAG BAGE BauGB BauNVO BauR Bay BayVBl BayVerfGH BayVGH BB BBauG Bd., Bde. BDG BDVR BDVR-Rundschreiben Begr. Bek ber. Beschl. BFH BFHE BFH / NV BGB BGBl I, II, III BGH BGHR BGHSt BGH VGrS BGHZ BörsG BR

25

Asylverfahrensgesetz Auflage Agrar- und Umweltrecht Arbeit und Recht Ausländergesetz Beschluss Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Baugesetzbuch Verordnung über die bauliche Nutzung der Grundstücke Zeitschrift für das gesamte öffentliche und private Baurecht (Jahr und Seite) Bayern, bayerisch Bayerische Verwaltungsblätter Bayerischer Verfassungsgerichtshof Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Der Betriebs-Berater Bundesbaugesetz Band, Bände Bundesdisziplinargesetz Bund deutscher Verwaltungsrichter Mitteilungsblatt des Bundes deutscher Verwaltungsrichter Begründung Bekanntmachung berichtigt Beschluss Bundesfinanzhof Sammlung der Entscheidungen und Gutachten des BFH (Band und Seite) Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bürgerliches Gesetzbuch vom 18. 08. 1896 Bundesgesetzblatt, mit I oder ohne Ziffer = Teil I, mit II = Teil II, mit III = Teil III Bundesgerichtshof Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Band und Seite) Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (Band und Seite) Bundesgerichtshof, Vereinigter Großer Senat Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (Band und Seite) Börsengesetz Bundesrat

26 BRat BR-Ds. BReg BSG BT BT-Ds. Buchholz BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE BVFG BVG CMLR DB dbovg.niedersachsen.de d. h. Diss. DÖV DRiZ DV DVBl. EAG EG EGKS EGMR EGV Einl. EMRK ESVGH EU EuG EuGH EuGRZ

Abkürzungsverzeichnis Bundesrat Drucksache des Bundesrats (Nummer und Jahr) Bundesregierung Bundessozialgericht Besonderer Teil Drucksache des Deutschen Bundestags (Wahlperiode und Nummer) Sammlung und Nachschlagewerk der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Band und Seite) Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (Band und Seite) Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge Bundesversorgungsgesetz Common Market Law Review Der Betrieb Rechtsprechungsdatenbank des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts das heißt Dissertation Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Deutsche Richterzeitung Die Verwaltung (Zeitschrift) Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Atomgemeinschaft Einführungsgesetz Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einleitung Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Entscheidungssammlung des VGH Baden-Württemberg Europäische Union Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte Zeitschrift (Zeitschrift)

Abkürzungsverzeichnis EuGVÜ EuR Eur-Arch EURATOM / EAG EUV EuZW e.V. EVR EWG EWGV, EWG EWiR EWS EzAR f.; ff. FamRZ FGO FR GewArch GG GmbH GmS-OGB GPR GrCh GrSen GRUR GVG HessJMBl i.d.F InfAuslR IStR i. S.v. i.V. m. IWB i.w. S. JA JMBl.LSA JR

27

Übereinkommen der Europäischen Gemeinschaft über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. 09. 1968 Europarecht (Zeitschrift) Europa-Archiv Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht eingetragener Verein Europäischer Verwaltungsrechtsschutz Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift) Entscheidungssammlung zum Ausländer- und Asylrecht folgende Seite; folgende Seiten Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht. Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Finanzgerichtsordnung Finanz-Rundschau (Zeitschrift) Gewerbearchiv (Zeitschrift) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. 05. 1949 Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht Charta der Grundrechte Großer Senat Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift) Gerichtsverfassungsgesetz Hessische Justiz- und Ministerialblätter in der Fassung Informationsbrief Ausländerrecht Internationales Steuerrecht im Sinne von in Verbindung mit Internationale Wirtschaftsbriefe im weiteren Sinne Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift) Justiz- und Ministerialblatt für das Land Sachsen-Anhalt Juristische Rundschau, Rechtsprechungsbeilage dazu (1925 –1936) nach Nr.

28 Jura Juris, juris jurisPR-ArbR jurisPR-BGHZivilR jurisPR-BVerwG jurisPR-SteuerR JuS JZ KG KJ KPdSU KrW- / AbfG LG lit. LKRZ LKV LM LMBG; LBFG LRE LSG LuftVG MDR MedR MOG NdsRPfl. NdsVwBl. NJ NJOZ NJW NJW-RR NordÖR Nr. NSW ZPO NuR NVwZ NVwZ-Beil.

Abkürzungsverzeichnis Jura / Juristische Ausbildung Juristisches Informations-System (Datenbank) juris PraxisReport Arbeitsrecht juris PraxisReport BGH-Zivilrecht juris PraxisReport Bundesverwaltungsgericht juris PraxisReport Steuerrecht Juristische Schulung Juristen-Zeitung Kammergericht Kritische Justiz (Jahr und Seite) Kommunistische Partei der Sowjetunion Gesetz zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Beseitigung von Abfällen (Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz) Landgericht Buchstabe Zeitschrift für Landes- und Kommunalrecht Hessen / RheinlandPfalz / Saarland Landes- und Kommunalverwaltung (Zeitschrift) Lindenmaier-Möhring (Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs) Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz; heute: Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch (Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch) Sammlung Lebensmittelrechtlicher Entscheidungen Landessozialgericht Luftverkehrsgesetz Monatsschrift für Deutsches Recht (Jahr und Seite) Medizinrecht (Zeitschrift) Gesetz zur Durchführung der gemeinsamen Marktorganisationen und der Direktzahlungen (Marktorganisationsgesetz) Niedersächsische Rechtspflege (Zeitschrift) Niedersächsische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) Neue Justiz (Zeitschrift) Neue Juristische Online Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift NJW-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht Zeitschrift für Öffentliches Recht in Norddeutschland Nummer Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs Zivilprozessordnung Natur und Recht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Beilage zur Neuen Zeitschrift für Verwaltungsrecht

Abkürzungsverzeichnis NVwZ-RR NWVBl. OLG OVG RabelsZ RdL RiA RiW RmBereinVpG Rn. Rs. RuStAG SächsVBl. SGG Slg. StPO u. a. UPR UR UWG v. VBlBW VerfOGH VermG Verw VerwArch VG VGH v.H. V.n.b. VO VR VwGO VwGOÄndG VwKostG VwPO VwVfG

29

NVwZ-Rechtsprechungs-Report Öffentliches Recht Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) Oberlandesgericht, auch Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte (Band und Seite) ab 1995 vereinigt mit FG Prax Oberverwaltungsgericht, auch amtliche Sammlung PrOVG Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, begründet von Ernst Rabel (bis 1961: ZAIP) Recht der Landwirtschaft (Zeitschrift) Recht im Amt Recht der internationalen Wirtschaft Gesetz zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess Randnummer, Randnummern Rechtssache Staatsangehörigkeitsgesetz Sächsische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) Sozialgerichtsgesetz Sammlung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Strafprozessordnung unter anderem Umwelt- und Planungsrecht Umsatzsteuer-Rundschau (Zeitschrift, zit. Als „UR“ seit 1984, davor „UStR“) Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg (Zeitschrift) Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen Die Verwaltung (Zeitschrift) Verwaltungsarchiv (Zeitschrift) Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vom Hundert (-> Prozent) Veröffentlichung nicht bekannt Verordnung Verwaltungsrundschau (Zeitschrift) Verwaltungsgerichtsordnung Änderungsgesetz zur Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungskostengesetz Entwurf eines Gesetzes für eine einheitliche Verwaltungsprozessordnung Verwaltungsverfahrensgesetz

30 VwVG VwZG WehrPflG; WPflG WRV WuM ZaöR ZAR ZEuP ZfB ZfWG ZG ZPO ZRP ZZP

Abkürzungsverzeichnis Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz Verwaltungszustellungsgesetz Wehrpflichtgesetz Weimarer Reichsverfassung Wohnungswirtschaft und Mietrecht (Zeitschrift) Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Zeitschrift für Europäisches Privatrecht (Jahr und Seite) Zeitschrift für Bergrecht Zeitschrift für Wett- und Glücksspielrecht Zeitschrift für Gesetzgebung Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Zivilprozess (Band und Seite)

Die in eckigen Klammern gesetzten Parteibezeichnungen in den Urteilen des Gerichtshofs enthalten der jeweiligen mitgliedsstaatlichen Rechtsordnung entnommene Abkürzungen, überwiegend solche des Handels- und Gesellschaftsrechts, auf deren Aufnahme und Entschlüsselung hier mangels einer Relevanz verzichtet wird. Es wurden bezüglich des Primärrechts die aktuellen Textfassungen berücksichtigt und wörtliche Zitate gegebenenfalls durch eckige Klammerzusätze entsprechend angepasst.

I. Problemstellung und Gang der Untersuchung 1. Problemstellung Der Auftrag der nationalen Verwaltungsgerichte, effektiven Rechtsschutz in dem Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG zu gewähren, wird zunehmend durch Rechtsakte der Europäischen Union bestimmt. Diese Rechtsakte der „supranationalen Gemeinschaft“ 1 Europäische Union beanspruchen – anders als völkerrechtliche Verträge, die erst einer Transformation in nationales Recht durch den nationalen Vertragspartner 2 in dem Sinne der Erteilung eines entsprechenden Rechtsanwendungsbefehls bedürfen 3 – allein schon aufgrund der Autonomie der Europäischen Union in deren Mitgliedsstaaten Geltung: Unionsrecht bedarf keiner Umwandlung in mitgliedsstaatliches Recht, um Rechtswirkungen auf dem Boden der Mitgliedsstaaten hervorbringen zu können, da die Rechtsordnung der Union eine eigene Rechtsordnung darstellt, die neben der mitgliedsstaatlichen Rechtsordnung auf mitgliedsstaatlichem Territorium gilt 4. Die Wirkungen der europäischen Rechtsakte, mithin des im EUV 5 und im AEUV 6 abge1

Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 773. In Deutschland bestimmt das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (vom 23. Mai 1949 [BGBl. I S. 1], zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Juli 2010 [BGBl. I Seite 944] in seinem Art. 59 Abs. 1, dass der Bundespräsident den Bund völkerrechtlich vertritt. Der Bundespräsident schließt im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten. Er beglaubigt und empfängt die Gesandten. Abs. 2 des Art. 59 GG bestimmt, dass Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes bedürfen. Für Verwaltungsabkommen gelten die Vorschriften über die Bundesverwaltung entsprechend. Dieser Prozess wird als Transformation bezeichnet, vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004, – 2 BvR 1481/04 –, BVerfGE 111, 307 –332. 3 So etwa zur EMRK BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004, – 2 BvR 1481/04 –, BVerfGE 111, 307 – 332. 4 Zuleeg, Rolle der rechtsprechenden Gewalt, Seite 2; Frenz, Subjektiv-öffentliche Rechte, Seite 408; Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, Rn. 35. 5 Konsolidierte Fassung des Vertrages über die Europäische Union [im Folgenden: EUV], ABl. EU 2008/C115/01. 6 Konsolidierte Fassung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union [im Folgenden: AEUV], ABl. EU 2008/C115/01. 2

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I. Problemstellung und Gang der Untersuchung

bildeten Primärrechts 7 – dies ist das unmittelbar von den Mitgliedsstaaten geschaffene Recht 8 – und des Sekundärrechts – verstanden als der Gesamtheit der von den Unionsorganen erlassenen Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen (Art. 288 Abs. 1 AEUV 9), also des organgeschaffenen Rechts 10 –, und das Verhältnis dieser Rechtsmaterie zu dem mitgliedsstaatlichen Recht richten sich dementsprechend allein nach dem Recht der Europäischen Union 11. Demgegenüber ist das nationale Verwaltungsprozessrecht darauf ausgerichtet, in Ausschöpfung der Bundesgesetzgebungskompetenz für das gerichtliche Verfahren aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG umfassend Organisation, Zuständigkeiten und Verfahren der Verwaltungsgerichte gegenüber hoheitlichem, nationalem Handeln zu regeln und so den Anspruch des Bürgers auf wirksamen, möglichst umfassenden und lückenlosen gerichtlichen Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG zu realisieren. Diese Rechtsschutzfunktion der Verwaltungsgerichte umfasst auch und gerade die aus dem Unionsrecht folgenden subjektiven Rechte: Das Unionsrecht wird ganz überwiegend von den Organen der Mitgliedsstaaten, insbesondere den mitgliedsstaatlichen Behörden und Gerichten, vollzogen 12; parallel zu diesem überwiegend mitgliedsstaatlichen Vollzug des Unionsrechts haben die mitgliedsstaatlichen Gerichte im Regelfall Rechtsschutz gegen einen individualbelastenden Vollzug des materiellen Unionsrechts sowie zu einer Durchsetzung begünstigender unionsrechtlicher Rechtspositionen zu gewährleisten 13. Das materielle Unionsrecht ist hinsichtlich seiner verfahrensrechtlichen Durchsetzung 7 Zu diesem aktuell etwa Weber, Vertrag von Lissabon; Hagebölling, Ratifikation; Hanisch / Eisenhut, Vertrag von Lissabon; zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts etwa Lindner, Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts; Gas, De-facto-Subsidiaritätsklage; Schröder, Offene Flanke. 8 Borchardt, Grundlagen, Rn. 63; Von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, Seite 159 ff.; Weth / Kerwer, Einfluss des Europäischen Rechts, Seite 426; Rengeling, Quellen des Verwaltungsrechts, Seite 29 f.; Gündisch / Wienhues, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Seite 27; Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, Rn. 14 und 20; Burgi, Verwaltungsprozess und Europarecht, Seite 9; Gellermann, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 33 Rn. 5, der darauf hinweist, dass zu dem ungeschriebenen Primärrecht auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts gehören. 9 Art. 249 Abs. 1 EGV. 10 Rengeling, Quellen des Verwaltungsrechts, Seite 34; Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, Rn. 14; Gellermann, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 33 Rn. 7; Burgi, Verwaltungsprozess und Europarecht, Seite 12; Von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, Seite 174. 11 Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 773. 12 Oexle, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite1328, und dazu noch später. 13 Pache / Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis, Seite 17; Dörr, Grundstrukturen, Seiten 1402 und 1404.

1. Problemstellung

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daher auf das mitgliedsstaatliche Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrecht angewiesen 14. Von den Verwaltungsgerichten zu lösende Normkonflikte können insoweit nicht nur auf der materiell-rechtlichen Ebene eines Konfliktes zwischen unmittelbar wirksamen Normen des Unionsrechts einerseits und einschlägigen Bestimmungen des nationalen materiellen Rechts andererseits entstehen 15. Normkonflikte können vielmehr auch dann entstehen, wenn Unionsrecht mit dem – formellen – Rechtsschutzauftrag der nationalen Gerichte kollidiert 16. Da EUV und AEUV jenseits der Regelung des Art. 267 AEUV über das Vorabentscheidungsverfahren keine eigenen einheitlichen Verfahrensvorschriften für die Durchsetzung des materiellen Unionsrechts vor den mitgliedsstaatlichen Gerichten enthalten 17 und es nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EUV auch schon an einer entsprechenden Kompetenz der Union zu einer Vereinheitlichung des mitgliedsstaatlichen Prozessrechts fehlt 18, sind Streitigkeiten über aus dem Unionsrecht folgende Rechte und Pflichten, die in die Zuständigkeit der nationalen Gerichte fallen, von diesen in Anwendung des nationalen Prozessrechts zu entscheiden, soweit das sekundäre Unionsrecht die Materie nicht auch in Bezug auf Verfahrensvorschriften (ausnahmsweise) geregelt hat. Die mitgliedsstaatlichen Gerichte wenden daher in einem Verwaltungsprozess auch dann grundsätzlich ihr nationales Verwaltungsprozessrecht an, wenn in dem Unionsrecht begründete materielle Rechte im Streit stehen. Die nationalen Gerichte haben hierbei gleichwohl als „Gemeinschaftsrechtsgerichte“ 19 bzw. als „europäische Gerichte“ 20 für die volle Wirksamkeit der uni14

Schoch, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Seite 510. Zu der Entwicklung hin zu einem Europäischen Verwaltungsverbund vgl. Ruffert, Europäisierung des Verwaltungsrechts. 16 Gellermann, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 34 Rn. 23 f.; diese Fragestellungen werden für den Zivilprozess intensiver und auch schon seit längerer Zeit diskutiert: Herb, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationaler Zivilprozess. 17 Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 145; für den Bereich des Zivilprozesses auch zutreffend Herb, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationaler Zivilprozess, Seite 2; vgl. auch Steinbeiß-Winkelmann, Europäisierung des Verwaltungsrechtsschutzes, Seite 1233. 18 Schoch, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Seite 508; Brenner, Determinanten, Seite 308. 19 Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 778; Burgi, Verwaltungsprozess und Europarecht, Seite 58; Pache / Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis, Seite 17; ähnlich sprechen Fastenrath, Gesetzlicher Richter, Seite 462; Von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, Seite 276; Ehlers, Verwaltungsprozessrecht, Seite 1442; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 401; Hummert, Acte-clair-Doktrin, Seite 18; Lutz, Kompetenzkonflikte und Aufgabenverteilung, Seite 80; Fredriksen, Zusammenarbeit, Seite 9, und Otting / Olgemöller, Europäischer Rechtsschutz, Seite 156, 15

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I. Problemstellung und Gang der Untersuchung

onsrechtlichen Bestimmungen Sorge zu tragen und die den Unionsbürgern gewährten Rechte zu schützen; zutreffend kann man von einer Indienstnahme der nationalen Gerichte durch die Europäische Union 21, von einer Kooperationsverpflichtung 22 der Verwaltungsgerichte mit dem Gerichtshof und von einer „Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts“ 23 sowie von einem „europäischen Verwaltungsrechtsschutz“ 24 sprechen. Ferner obliegt es den mitgliedsstaatlichen Gerichten in diesem Rahmen, durch Anwendung des in Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV 25 niedergelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit den sich aus der unmittelbaren Wirkung der Unionsvorschriften ergebenden Rechtsschutz zu gewährleisten; hierbei ist es Sache der nationalen Rechtsordnung jedes Mitgliedsstaates, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und diejenigen Verfahrensmodalitäten der gerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen zu regeln, die den Schutz der den Einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts erwachsenden Rechte sichern sollen 26. Es gilt insoweit der „Grundsatz der institutionellen- und Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten“ 27: Die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung von Verfahren, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, sind mangels einer unionsrechtlichen Regelung auf diesem Gebiet Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedsstaaten 28.

von den mitgliedsstaatlichen Gerichten als „Gemeinschaftsgerichten“ im funktionalen Sinne. 20 Zuleeg, Rolle der rechtsprechenden Gewalt, Seite 2. 21 Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 778; Schoch, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Seite 514. 22 Schmidt-Aßmann, Aufgaben- und Funktionswandel, Seite 45. 23 Schoch, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Seite 507. 24 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 2. 25 Wie auch schon zuvor Art. 10 EGV: (1) Die Mitgliedsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben. Sie erleichtern dieser die Erfüllung ihrer Aufgaben. (2) Sie unterlassen alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrages gefährden könnten. 26 EuGH, Urteil vom 5. März 1980, Rs. C-265/78 [H. Ferwerda BV gegen Produktschap voor Vee en Vlees], Slg. 1980, 617. 27 Iglesias, Grenzen der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedsstaaten, Seite 289; Cahn, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Seite 975. 28 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93 [Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat], Slg. 1995, I-4599 [Rn. 12]; EuGH, Urteil vom 11. September 2003, Rs. C-13/01 [Safalero Srl gegen Prefetto di Genova], Slg. 2003, I-8679, [Rn. 49]; Iglesias, Grenzen der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedsstaaten, Seite 289.

1. Problemstellung

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Andererseits verpflichtet aber das unionsrechtliche Effizienzgebot – der „effet utile“ – die nationalen Gesetzgeber und Gerichte darauf, die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht praktisch unmöglich zu machen 29 oder übermäßig zu erschweren und zu gewährleisten, dass die Bedingungen für die Verfolgung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht ungünstiger gestaltet sind als für gleichartige Klagen, die allein mitgliedsstaatliche Rechtspositionen betreffen 30. Auch wenn in der Literatur teilweise Einwirkungen des Unionsrechts gerade auf das nationale Rechtsmittelrecht nicht gesehen oder – wenn überhaupt beachtet – als „gering“ angesehen werden 31, so ist nicht zu verkennen, dass das Unionsrecht zunehmend auch das Verwaltungsprozessrecht beeinflusst und modifiziert 32 und dass dieser Prozess auch Auswirkungen auf das Rechtsmittelrecht hat: Das Verwaltungsprozessrecht wird insgesamt betrachtet zunehmend europäisiert 33, der Verwaltungsrechtsschutz erfährt eine immer stärkere europäische Ausrichtung 34. Die Wertungen des mitgliedsstaatlichen Verwaltungsprozessrechts werden durch unionsrechtliche Maßstäbe und Direktiven zunehmend durchdrungen, überformt oder sogar verdrängt 35. Die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit findet daher auf zwei Ebenen statt, der nationalen und der europäischen, die untereinander in Verbindung stehen, sich gegenseitig beeinflussen, also zusammen gesehen und bewertet werden müssen 36. Deutlich wird dieser Prozess auch in dem Rechtsmittelrecht, bei dem in dem Spannungsfeld zwischen nationalem und Unionsrecht von den Oberverwaltungsgerichten als Rechtsmittelgerichten oftmals Entscheidungen über die Zulassung der Berufung nach §§ 124, 124a VwGO zu treffen sind. Jedenfalls für die Anwendung der Rechtsmittelvorschriften und insbesondere derjenigen über die Rechtsmittelzulassung sind die Vorschriften des Unionsrechts bedeutsam 37: Mitgliedsstaatliche Gerichte machen bei der eigenverantwortlichen Anwendung des Unionsrechts Fehler, die zu einer Ineffektivität und zu einer Unein29 EuGH, Urteil vom 5. März 1980, Rs. C-265/78 [H. Ferwerda BV gegen Produktschap voor Vee en Vlees], Slg. 1980, 617. 30 EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. C-33/76 [Rewe-Zentralfinanz eG und Rewe-Zentral AG gegen Landwirtschaftskammer für das Saarland], Slg. 1976, 1989 [Rn. 5]. 31 Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 464. 32 Kokott, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Seite 335. 33 Sommermann, Konvergenzen, Seite 133; Huber, Europäisierung, Seite 577; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 358. 34 Kaufmann, Untersuchungsgrundsatz und Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite 11. 35 Huber, Europäisierung, Seite 577; Huber, Europäisiertes Grundgesetz, Seite 575; Weth / Kerwer, Einfluss des Europäischen Rechts, Seite 425. 36 Stelkens, Aktuelle Probleme und Reformen in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite 155. 37 So sehr vorsichtig Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 464.

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I. Problemstellung und Gang der Untersuchung

heitlichkeit der Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedsstaaten führen 38. Dies gilt umso mehr, als die Anwendung des Unionsrechts aufgrund seiner Mehrsprachigkeit, der Komplexität der Unionsgesetzgebung und der durch sie zu regelnden wirtschaftlichen oder sozialen Lebenssachverhalte sowie wegen der greifbaren Tendenz der Unionsrechtsordnung, Interessengegensätze durch komplizierte technische Lösungen oder Formelkompromisse zu überbrücken, schwieriger ist als die rein mitgliedsstaatlichen Rechts 39. Wenn etwa ein nicht zu einer Vorabentscheidungsvorlage verpflichtetes, unterinstanzliches Gericht das Unionsrecht selbst fehlerhaft auslegt, so kann die einheitliche Auslegung des Unionsrechts zeitweise gefährdet sein 40. Diese Gefährdung ist prinzipiell zwar nur eine temporäre, da die Möglichkeit besteht, nach dem mitgliedsstaatlichen Recht mögliche Rechtsmittel zu nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vorlageverpflichteten Gerichten einzulegen, sodass letztlich die Gefahr einer divergierenden Entwicklung tendenziell vermieden wird 41; sie realisiert sich jedoch endgültig, wenn etwa aus wirtschaftlichen Gründen der Rechtsmittelweg nicht beschritten oder seine formellen Erfordernisse nicht erfüllt werden. Hat das Verwaltungsgericht in anderen Konstellationen die unionsrechtliche Prägung eines Falles insgesamt oder vorrangig anzuwendendes Unionsrecht – ebenso wie die Beteiligten – übersehen, so stellt sich bei gleichwohl vorhandener unionsrechtlicher Prägung des Streitfalles für das angegangene Rechtsmittelgericht dann die Frage, ob und in welchen Fällen dieses die Anwendung des Unionsrechts nachholen, rechtlich zutreffend durchführen oder aber bei Entscheidungsrelevanz sogar eine Vorabentscheidung des Gerichtshof nach Art. 267 AEUV einholen kann. Die Beantwortung dieser Frage setzt indes nach dem nationalem Prozessrecht die Erfüllung bestimmter Anforderungen an die Zulassung des Rechtsmittels – hier an die Zulassung der Berufung insbesondere mit der Erfüllung des Darlegungsgebots des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO in Bezug auf die unionsrechtliche Problematik und deren Unterfallen unter einen der Gründe für die Zulassung der Berufung im Sinne von § 124 Abs. 2 VwGO – voraus. Damit werden dann aber sowohl die Frage, ob die Rechtsakte der Union überhaupt beziehungsweise zutreffend angewandt werden, als auch die Frage, ob das Oberverwaltungsgericht letztinstanzliches Gericht und damit vorlageverpflichtet im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV ist, letztendlich durch das nationale Prozessrecht bestimmt und entschieden: 38

Haltern, Europarecht, Rn. 434; Braun / Kettner, Richterrechtliche Reform, Seite 61. Ehlermann, Europäische Gemeinschaft, Seite 1858; Magiera, in: Schulze / Zuleeg / Kadelbach, Europarecht, § 13 Rn. 39. 40 Pache / Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis, Seite 18. 41 Pache / Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis, Seite 18. 39

1. Problemstellung

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Hat das Verwaltungsgericht die unionsrechtliche Prägung einer Streitigkeit oder vorrangig anzuwendendes Unionsrecht – ebenso wie die Beteiligten – gänzlich übersehen, so werden Fragen der Auslegung des Unionsrechts naturgemäß schon nicht Gegenstand richterlicher Überlegungen gewesen sein. Erkennt das Instanzgericht die unionsrechtliche Relevanz nicht zureichend, so unterbleibt eine eventuell notwendige Befassung des Gerichtshofs 42. Existiert ferner zu einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage des Unionsrechts noch keine Rechtsprechung des Gerichtshofs, so besteht allein eine Vorlageberechtigung des Verwaltungsgerichts nach Art. 267 Abs. 2 AEUV, jedoch keine Vorlageverpflichtung. Ob in einem anschließenden Berufungszulassungsverfahren eine Verpflichtung des Oberverwaltungsgerichts zu einer Aussetzung und Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV oder zu einer Nachholung der (zutreffenden) Anwendung des Unionsrechts oder wenigstens eine entsprechende rechtliche Möglichkeit besteht, hängt – wenn nicht das Verwaltungsgericht die Berufung gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO zugelassen hat – jedoch nach der bislang herrschenden Meinung 43 von der Darlegung eines spezifisch die unionsrechtliche Problematik aufgreifenden Zulassungsgrundes (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) durch den Rechtsmittelführer ab 44. Diese Darlegung bestimmt gemäß § 124 Abs. 4 Sätze 4 und 5 VwGO den Prüfungsumfang des Oberverwaltungsgerichts und damit mittelbar auch, ob das Oberverwaltungsgericht letztinstanzliches Gericht ist oder nicht: Ist ein Grund für die Berufungszulassung dargelegt und liegt er tatsächlich vor (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO), so ist die Berufung zuzulassen – § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO räumt dem Senat insoweit kein Ermessen ein – mit der Folge, dass das Oberverwaltungsgericht nicht (mehr) letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV ist, da seine Entscheidung bei Zulassung der Revision mit der Revision zum Bundesverwaltungsgericht, bei Nichtzulassung der Revision durch das Oberverwaltungsgericht mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 1 Satz 1 VwGO angefochten werden kann. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung demgegenüber nicht zu, so ist nach der bislang herrschenden Meinung 45 das Oberverwaltungsgericht letztinstanzliches Gericht in dem Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV, da mit der Ablehnung des Zulassungsantrages das Urteil des Verwaltungsgerichts gemäß § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO rechtskräftig wird. Die Frage, ob das Oberverwaltungsgericht letztinstanzliches Gericht ist, wird damit schlussendlich nach der bislang herrschenden Meinung von dem Oberver42

Heß, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 66. Siehe die Nachweise unter IV. 2. a). sowie etwa OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 29. Januar 1998, – A 1 S 177/97 –, JMBl. LSA 1998, 327 –329. 44 Hierzu unten IV. 45 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 126 und hierzu noch die unter VI. angeführte Literatur und Rechtsprechung. 43

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I. Problemstellung und Gang der Untersuchung

waltungsgericht selbst entschieden und hängt aufgrund des Darlegungsgebots des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO unmittelbar von dem Umfang und der Qualität der Darlegungen des Rechtsmittelführers und damit eher von subjektiven Fähigkeiten statt von objektiven Kriterien, jedenfalls nicht von sich unmittelbar aus der VwGO ergebenden Maßstäben ab. Die Anwendung des Unionsrechts hängt vielmehr – da der Berufungszulassungsantragssteller auch die anzuwendenden Rechtssätze im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO darlegen muss – davon ab, wie gut oder schlecht sein Prozessvertreter das Berufungszulassungsverfahren führt. Nichts anderes gilt für die Fallgestaltungen des Übersehens der Einschlägigkeit des Unionsrechts oder dessen fehlerhafter Anwendung: Auch in diesen Fällen hängt die Zulassung der Berufung nach den §§ 124, 124a VwGO nach dem Wortlaut des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO wesentlich von der Darlegung dieses Fehlers und damit letztendlich von der „Qualität“ des Zulassungsantrages ab. Die Behandlung derartiger unionsrechtlicher Rechtsanwendungsfehler erscheint insoweit klärungsbedürftig, als bei der gerichtlichen Geltendmachung von in dem Unionsrecht wurzelnden Rechten die Ablehnung des Berufungszulassungsantrags dazu führen kann, dass aufgrund des Nichterfüllens des Darlegungsgebots des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO de facto auch das von dem Unionsrecht begründete materielle Recht untergeht: Ausschluss oder Beschränkung des Rechtsschutzes ist möglicherweise gleichbedeutend mit dem Verlust der materiellen Rechtsposition 46. Darüber hinaus kann die Wirksamkeit des Unionsrechts betroffen sein, wenn es den Beteiligten gestattet ist, über die Anwendbarkeit des materiellen Unionsrechts dadurch zu disponieren, dass man sich auf dieses beruft oder dieses eben lässt. Besonders virulent wird dieses Problem, wenn es sich um materielles Unionsrecht handelt, bezüglich dessen zum Beispiel die den Berufungszulassungsantrag stellende, vor dem Verwaltungsgericht unterlegene Behörde es zur Vermeidung einer als unbillig empfundenen Verjährung bewusst unterlässt, sich in einem Rückforderungsfall auf die ihrer Rechtsposition günstige weil längere Verjährungsfrist zu berufen 47. Unionsrecht kann so zur Disposition des Berufungszulassungsantragsstellers stehen. Derartige prozessrechtliche Reg46

Koch, Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts, Seite 78. Etwa kann fraglich sein, welche gemeinschaftsrechtlichen Verjährungsvorschriften bei der Rückforderung von zu Unrecht gewährten Agrarbeihilfen in Gestalt der Rindersonderprämie Geltung beanspruchen; entweder kann für die Verjährung die in Art. 49 Abs. 5 der Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 der Kommission – einer spezifischen Verordnung über ein Kontrollsystem bei Agrarbeihilfen – bestimmte zehnjährige Verjährungsfrist einschlägig sein, oder aber die kürzere achtjährige Verjährungsfrist des Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 des Rates, die als allgemeine Rahmenregelung dem Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union dienen soll. Hierzu hat etwa das Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht mit zwei Urteilen vom 19. Januar 2010 (-10 LC 148/09 – und – 10 LB 248/08 –, Juris) entschieden, dass die 47

2. Gang der Untersuchung

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lungen, die die Verwirklichung des Unionsrechts hindern können, vermögen zudem die Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen oder -behinderungen aufgrund nationaler Regelungs- und Vollzugsunterschiede zu begründen 48 und sind damit latent binnenmarktgefährdend. In all diesen Fällen stellen sich daher die den Gegenstand der vorliegenden Arbeit bildenden Fragen, ob und mit welchen Anforderungen insbesondere an die Darlegung im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO die Ungeklärtheit einer eigentlich in einem Vorabentscheidungsverfahren zu klärenden unionsrechtlichen Frage in einem Berufungszulassungsverfahren geltend gemacht werden kann, ob und mit welchen Anforderungen an die Darlegung eine in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren übergangene Einschlägigkeit materieller unionsrechtlicher Bestimmungen bei der Entscheidung über den Antrag auf Zulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht berücksichtigt werden kann oder gar muss, und wie das Verhältnis des Vorabentscheidungsverfahrens des Art. 267 AEUV zu der von dem Oberverwaltungsgericht im Zulassungsverfahren mit zu entscheidenden Frage ist, ob das Oberverwaltungsgericht letztinstanzliches und damit vorlageverpflichtetes Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV ist. Verfassungsrechtlich stellt sich weiterhin die Frage, ob die – wie zu zeigen sein wird – von der Praxis geforderten sehr strengen Handhabungen der Förmlichkeiten eines Berufungszulassungsverfahrens mit Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sind, und ob und inwieweit die genannten Verfassungsnormen auch bei rein nationalrechtlich geprägten Rechtsstreitigkeiten eine Neuausrichtung der Rechtsprechung fordern. Letztlich ist zu untersuchen, ob etwaige verfassungsrechtlich gebotene Neuausrichtungen der Rechtsprechung gleichzeitig eine Art „Einfallstor“ für die Berücksichtigung des Unionsrechts in einem Berufungszulassungsverfahren bilden.

2. Gang der Untersuchung In Teil II. der Arbeit werden die hier relevanten Fallgruppen insbesondere der unionsrechtlichen Rechtsanwendungsfehler durch die Verwaltungsgerichte beschrieben, aber auch Probleme in dem Spannungsfeld zwischen Ergebnisrichtigkeit und Beschleunigungsfunktion des Berufungszulassungsverfahrens aufgezeigt.

erstgenannte Regelung als die speziellere gemeinschaftsrechtliche Verjährungsregelung Vorrang hat. 48 Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 146.

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I. Problemstellung und Gang der Untersuchung

Entscheidend für die Beantwortung der Frage, ob und wenn ja auf welche Weise das Oberverwaltungsgericht Rechtsanwendungsfehler insbesondere in Bezug auf das Unionsrecht, aber auch bei rein durch mitgliedsstaatliches Recht geprägten Streitigkeiten korrigieren kann oder gar muss, sind Kenntnis des Inhalts und der Abläufe des Berufungszulassungsverfahrens und insbesondere der Anforderungen an die von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO geforderte Darlegung der Berufungszulassungsgründe im Sinne des § 124 Abs. 2 VwGO, wie sie die Oberverwaltungsgerichte in ihrer Rechtsprechungspraxis formulieren. Schwerpunktmäßig der Rechtsprechung, aber auch der diesbezüglich vorhandenen Literatur widmet sich Teil III. der Arbeit ebenso wie der zentralen Frage eines verfassungsrechtlichen Gebots zu einer Umdeutung der Berufungszulassungsgründe und den in diesem Fall zu stellenden Anforderungen an die Darlegung in dem Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO. In Teil IV. der Arbeit werden die bisherige Rechtsprechung und Literatur zu einer Berücksichtigungsfähigkeit insbesondere nicht dargelegter Rechtsanwendungsfehler in Bezug auf das Unionsrecht im Rechtsmittelzulassungsverfahren nach der Verwaltungsgerichtsordnung und zu einer Aussetzung und Vorlage in einem Berufungszulassungsverfahren selbst dargestellt. Um den Einfluss des Unionsrechts und der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf das Berufungszulassungsrecht zu verstehen, bedarf es der Klärung unionsrechtlicher Grundlagen. Teil V. der Arbeit behandelt daher diese unionsrechtlichen Vorgaben; Teil VI. behandelt die Folgerungen und Konsequenzen aus den unionsrechtlichen Vorgaben für die Frage der Berücksichtigungsfähigkeit insbesondere nicht dargelegter Rechtsanwendungsfehler in Bezug auf das Unionsrecht in einem Berufungszulassungsverfahren. In Teil VII. werden sodann etwaige gegenläufige unionsrechtliche Rechtfertigungen des Darlegungserfordernisses untersucht. In Teil VIII. werden Folgerungen der Untersuchung für die Frage des gesetzlichen Richters gezogen, Teil IX. behandelt mögliche beziehungsweise gebotene gesetzgeberische Folgerungen. In Teil X. werden die Ergebnisse der Arbeit in Thesen zusammengefasst.

II. Fallgruppen der unionsrechtlichen Rechtsanwendungsfehler durch die Verwaltungsgerichte und Probleme in dem Spannungsfeld zwischen Ergebnisrichtigkeit und Beschleunigungsfunktion des Berufungszulassungsverfahrens 1. Nicht- oder Falschberücksichtigung des Unionsrechts Oftmals gibt es verwaltungsgerichtliche Streitigkeiten, in denen die nationalen Verwaltungsgerichte die Einschlägigkeit des Unionsrechtes überhaupt nicht oder nicht hinreichend erkennen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn in aufenthaltsrechtlichen Streitigkeiten nicht erkannt wird, dass eine Freizügigkeitsberechtigung des Klägers vorliegt oder diese unionsrechtswidrig eingeschränkt wird 1, oder wenn etwa schon dem Grunde nach übersehen wird, dass ein Kläger mit türkischer Staatsangehörigkeit durch den Assoziationsratsbeschluss 1/80 2 begünstigt sein kann 3. 1 Vgl. EuGH, Urteil vom 29. April 2004, Rs. C-482/01, C-93/01, C-82/01 und C-493/ 01 [Georgios Orfanopoulos und andere (C-482/01) und Raffaele Oliveri (C-493/01) gegen Land Baden-Württemberg], NVwZ 2004, 1099; zu einer Rücknahme einer gerichtlich rechtskräftig bestätigten Ausweisungsverfügung nach Ergehen dieser Entscheidung des EuGH vgl. Hamburgisches OVG, Beschluss vom 14. Mai 2009, – 4 Bf 185/07 –, Juris. 2 Dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 liegt das am 12. September 1963 in Ankara unterzeichnete und im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) geschlossene Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei zugrunde (BGBl 1964 II S. 509, 1959). Durch dieses Abkommen, das nach seinem Art. 2 Abs. 1 zum Ziel hat, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien zu fördern, wird eine Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei begründet. Bezüglich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer haben die Vertragsparteien gemäß Art. 12 des Abkommens vereinbart, sich von den Art. 48, 49 und 50 EG-Vertrag a.F. leiten zu lassen, um untereinander diese Freizügigkeit schrittweise herzustellen. Der aus Mitgliedern der Regierungen der Mitgliedsstaaten, des Rates und der Kommission einerseits und Mitgliedern der türkischen Regierung andererseits gebildete Assoziationsrat ist befugt, zur Verwirklichung der Ziele des Abkommens und in den darin vorgesehenen

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II. Fallgruppen der unionsrechtlichen Rechtsanwendungsfehler

In anderen Fallkonstellationen können sich ordnungsrechtliche Verfügungen bundesdeutscher Behörden etwa auf Produkte beziehen, die ohne dortige rechtliche Beanstandungen der zuständigen Behörden in einem anderen Mitgliedsstaat hergestellt werden, oder auf Dienstleistungen, die in Übereinstimmung mit dessen nationalem Recht in einem anderen Mitgliedsstaat angeboten werden und die nun im Wege des Franchise-Systems auch in Deutschland angeboten werden sollen, was aber deutsche Behörden etwa aufgrund einer von ihnen gesehenen Verletzung der Menschenwürde im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG ordnungsrechtlich untersagen 4. Eine Verletzung der Grundfreiheiten des Vertrages oder der unionsrechtliche Bezug überhaupt können dabei übersehen werden. Im Subventionsrecht gibt es Fälle, in denen Beihilfen im Zusammenhang mit Marktordnungswaren bewilligt und anschließend nach der allgemeinen Vorschrift des § 10 MOG 5 zurückgefordert werden, obwohl bei richtiger Rechtsanwendung durch die Behörde und das Verwaltungsgericht diese Normen durch vorrangig anzuwendendes Unionsrecht verdrängt gewesen wären: Enthält nämlich das Unionsrecht in dem für die rechtliche Prüfung maßgebenden Zeitpunkt Rechtsvorschriften, die die Befugnis der Behörde gegenüber dem Beihilfeempfänger regeln, Bewilligungsbescheide über in Durchführung des Unionsrechts gewährte Prämien und Beihilfen zurückzunehmen, so sind diese Vorschriften vorrangig anzuwenden 6. Fällen Beschlüsse zu fassen (Art. 22, 23 des Abkommens). Der Assoziationsrat hat den Beschluss Nr. 1/80 zur Durchführung von Art. 12 des Abkommens und Art. 36 des Zusatzprotokolls erlassen. Die Bestimmungen des Assoziierungsabkommens EWG-Türkei vom 12. September 1963 bilden von dessen Inkrafttreten an einen integralen Bestandteil der Unionsordnung. Dies gilt auch für Beschlüsse des Assoziationsrates wegen ihres unmittelbaren Zusammenhangs mit dem ihnen zugrunde liegenden Abkommen; vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 20. September 1990, – Rs. C -192/89 [S. Z. Sevince gegen Staatssecretaris van Justitie], Slg. 1990, I-3461 [3503]. 3 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 05. November 1998, – 13 S 816/96 –, ESVGH 49, 119 -129. 4 BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2006, – BVerwG 6 C 17.06 –, GewArch 2007, 247 – 249; vorgehend das Urteil des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren: EuGH, Urteil vom 14. Oktober 2004, Rs. C-36/02 [Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH gegen Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn], Slg. 2004, I-9609 [I-9641]. 5 Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 MOG [Gesetz zur Durchführung der gemeinsamen Marktorganisationen und der Direktzahlungen, in der Fassung der Neubekanntmachung vom 24. Juni 2005, BGBl I 2005, 1847] sind rechtswidrige begünstigende Bescheide in den Fällen der §§ 6 und 8 MOG, auch nachdem sie unanfechtbar geworden sind, zurückzunehmen; § 48 Abs. 2 – 4 und § 49a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwVfG sind anzuwenden. Gemäß § 10 Abs. 3 MOG werden zu erstattende Beträge durch Bescheid festgesetzt. 6 BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2003, – BVerwG 3 C 22.02 –, NVWZ-RR 2004, 413; vgl. auch EuGH, Urteil vom 20. März 1997, Rs. C-24/95 [Land Rheinland-Pfalz gegen Alcan Deutschland GmbH], Slg. 1997, I-1591, wonach die Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe unter näher beschriebenen Vorbehalten grundsätzlich nach Maß-

2. Nichterkennen einer Vorlageberechtigung

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Die Liste derartiger Beispielsfälle ließe sich beliebig fortsetzen.

2. Nichterkennen einer Vorlageberechtigung nach Art. 267 Abs. 2 AEUV Abweichend von dem Regelfall, in dem das Verwaltungsgericht Unionsrecht – unabhängig von der Frage, ob Primär- oder Sekundärrecht betroffen ist – angewandt hat und / oder die Beteiligten im Zulassungsverfahren darüber streiten, ob dies in Bezug auf die Anwendbarkeit des Unionsrechts und / oder seine konkrete Anwendung zutreffend geschehen ist, gibt es ferner auch Fälle, in denen die nationalen Verwaltungsgerichte vor dem Problem stehen, Primär- oder Sekundärrecht der Union auszulegen, zu dem noch keine Rechtsprechung des Gerichtshofs existiert. Besonders virulent wird dieses Problem, wenn es etwa der nationale Gesetzgeber unterlassen hat, fristgemäß Richtlinien umzusetzen, wie dies etwa jüngst in Deutschland bei der so genannten Qualifikationsrichtlinie 7, der Aufnahmerichtlinie 8 und der Familienzusammenführungsrichtlinie 9 der Fall war, die erst durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union 10 in nationales Recht transferiert wurden und bei denen daher bis zu dieser Umsetzung im Rahmen der Rechtsanwendung durch die nationalen Verwaltungsgerichte auch die unionsrechtlichen Grundsätze über die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien 11 zu beachten waren, nach denen sich die einzelnen Unionsbürger – bzw. hier die durch die Richtlinie begünstigten Drittstaatsangehörigen – in all den Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, vor einem nationalen Gericht gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen können, wenn der gabe des einschlägigen nationalen Rechts stattfindet; hierzu Sommermann, Europäisches Verwaltungsrecht, Seite 892 ff. 7 Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. L 304 vom 30. September 2004, S. 2 –2, ABl. L 304 vom 30. September 2004, Seiten 12 – 23. 8 Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedsstaaten, ABl. L 31 vom 6. Februar 2003, Seiten 18 – 25. 9 Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, ABl. L 251 vom 3. Oktober 2003, Seiten 12 –18. 10 EURLAsylUmsG vom 19. August 2007, BGBl. I 2007, 1970. 11 EuGH, Urteil vom 4. Dezember 1974, Rs. C-41/74 [Yvonne van Duyn gegen Home Office], Slg. 1974, 01337 [Rn. 12]; EuGH, Urteil vom 22. Juni 1989, Rs. C-103/88 [Fratelli Costanzo SpA gegen Comune di Milano], Slg. 1989, Seite 01839 [Rn. 29 –31].

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II. Fallgruppen der unionsrechtlichen Rechtsanwendungsfehler

Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in nationales Recht umgesetzt hat. Denn nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gelten die Verpflichtungen, die sich aus diesen Bestimmungen ergeben, für alle Behörden der Mitgliedsstaaten 12. Nach dem Gerichtshof wäre es nämlich widersprüchlich, zwar zu entscheiden, dass die einzelnen Unionsbürger sich vor den nationalen Gerichten auf die Bestimmungen einer in unmittelbare Anwendung erwachsenen Richtlinie berufen können, um das Verhalten der Verwaltung beanstanden zu lassen, trotzdem aber die Auffassung zu vertreten, dass die Verwaltung nicht verpflichtet ist, die Bestimmungen der Richtlinie dadurch einzuhalten, dass sie die Vorschriften des nationalen Rechts, die damit nicht im Einklang stehen, unangewendet lässt. Wenn die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes einzuhaltenden Voraussetzungen dafür erfüllt sind, dass die einzelnen Unionsbürger oder Drittstaatsangehörige sich vor den nationalen Gerichten auf die Bestimmungen einer Richtlinie berufen kann, sind folglich alle Träger der Verwaltung einschließlich der Gemeinden und der sonstigen Gebietskörperschaften verpflichtet, diese Bestimmungen mittelbar durch Auslegung anzuwenden 13. Nichts anderes kann aber für die Gerichte gelten, die ebenfalls verpflichtet sind, das Sekundärrecht anzuwenden: Adressaten der unmittelbaren Wirkung sind alle staatlichen Stellen und damit auch die Gerichte. Das jeweilige materielle Sekundärrecht enthält damit gleichsam auch einen Rechtsanwendungsbefehl an die Gerichte 14. Übergeht das Verwaltungsgericht diesen Rechtsanwendungsbefehl, so wird damit die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie übergangen; angesichts des Darlegungsgebotes aus § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO stellt sich dann die Frage, ob und inwieweit dieser Rechtsanwendungsbefehl in einem Berufungszulassungsverfahren von den Oberverwaltungsgerichten gleichsam von Amts wegen zu beachten ist. In all diesen genannten Fallgruppen wird regelmäßig die Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs durch das Verwaltungsgericht nicht in Betracht kommen, entweder, weil das Verwaltungsgericht die unionsrechtliche Problematik schon nicht zutreffend erkennt, oder weil es wegen der Möglichkeiten, die Berufung selbst zuzulassen oder dass die Berufung durch das Oberverwaltungs-

12 EuGH, Urteil vom 22. Juni 1989, Rs. C-103/88 [Fratelli Costanzo SpA gegen Comune di Milano], Slg. 1989, Seite 01839 [Rn. 29 – 31]. 13 EuGH, Urteil vom 22. Juni 1989, Rs. C-103/88 [Fratelli Costanzo SpA gegen Comune di Milano], Slg. 1989, 01839 [Rn. 29 – 31] zu den besonderen Problemen der sogenannten objektiven Wirkung von Richtlinien und zu einer Anwendungsverpflichtung durch Auslegung durch sämtliche Behörden der Mitgliedsstaaten. 14 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 23. September 2008, – 2 LA 512/08 –, Veröffentlichung nicht bekannt.

3. Ergebnisrichtigkeit und Beschleunigungsfunktion

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gericht nach den §§ 124, 124a VwGO zugelassen wird, nicht letztinstanzliches Gericht und damit nicht vorlageverpflichtet nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist. Ist dann in dem anschließenden verwaltungsgerichtlichen Urteil das Unionsrecht nicht oder nicht hinreichend beachtet oder aber fehlerhaft ausgelegt worden, so stellt sich für das angegangene Rechtsmittelgericht die Frage, ob und in welchen Fällen dieses diese von ihm erkannte Anwendbarkeit nachholen, rechtlich zutreffend durchführen oder aber bei Entscheidungsrelevanz sogar eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV einholen kann oder nach Art. 267 Abs. 3 AEUV sogar einholen muss. Alle diese Fallgruppen unionsrechtlicher Rechtsanwendungsfehler setzten indes für ihre Korrektur durch das Oberverwaltungsgericht voraus, dass die Berufung überhaupt zulässig ist, sodass das Oberverwaltungsgericht überhaupt in der Sache entscheiden kann.

3. Das Spannungsfeld zwischen Ergebnisrichtigkeit und Beschleunigungsfunktion des Berufungszulassungsverfahrens Auch, aber nicht allein bei rein durch das mitgliedsstaatliche Recht geprägten Berufungszulassungsverfahren stellt sich die Frage, ob unter dem Gesichtspunkt des Gebotes der Gewährung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG die überwiegend auf dem Beschleunigungszweck des Berufungszulassungsverfahren fußende Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte zur Erfüllung der Zulässigkeitsvoraussetzungen – und hier insbesondere zu einer Erfüllung des Darlegungsgebotes des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO und zu der Bestimmung des für die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts maßgeblichen Zeitpunktes der Beurteilung der Sach- und Rechtslage – mit dem Ziel jedweden Rechtsmittels – der Erreichung einer richtigen Sachentscheidung – vereinbar ist. Diese Problematik stellt sich insbesondere dann, wenn Zweifel an der Ergebnisrichtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes jenseits der Darlegungen des Berufungszulassungsantragsstellers offen zu Tage treten oder sich solche nach Ablauf der zweimonatigen Darlegungsfrist in der bis zu einer Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag vergehenden Zeitspanne durch Änderungen der Sach- oder Rechtslage ergeben. Lässt – wie regelmäßig 15 – das Verwaltungsgericht die Berufung nicht selbst zu, so ist das im Folgenden zu erörternde Berufungszulassungsverfahren mit sei15 Etwa lauten die Zulassungsquoten für die niedersächsische Verwaltungsgerichtsbarkeit im Jahr 2009: Zulassung der Berufung durch die Verwaltungsgerichte in 5,8 vom

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II. Fallgruppen der unionsrechtlichen Rechtsanwendungsfehler

nen vielfältigen Zulässigkeitsvoraussetzungen dem eigentlichen Berufungsverfahren und damit in den genannten Fallgruppen der (unionsrechtlichen) Rechtsanwendungsfehler durch die Verwaltungsgerichte einer (unions-)rechtskonformen Sachentscheidung vorgeschaltet. In Fällen objektiv (unions-)rechtswidriger Ausgangsentscheidungen stellt sich damit das Berufungszulassungsverfahren als eine zunächst zu überwindende Hürde auf dem Weg zu einer (unions-)rechtskonformen Gerichtsentscheidung dar. Gleiches gilt für die Fälle, in denen sich jenseits der Darlegungen des Berufungszulassungsantragsstellers jedenfalls in dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts – etwa auch durch Änderungen der Sach- und Rechtslage – offen zu Tage tretende Zweifel an der Ergebnisrichtigkeit der Entscheidung der Vorinstanz ergeben. Die Kenntnis der normativen Voraussetzungen des Berufungszulassungsverfahrens, aber auch und gerade deren Ausgestaltung und Überformung durch die Rechtsprechung ist notwendig, um die Einwirkungen des Unions- und des Verfassungsrechts bestimmen zu können.

Hundert der erstinstanzlich durch Urteil entschiedenen Streitsachen; Zulassung der Berufung durch das OVG (Allgemeine Verfahren und Asylverfahren) in 14,3 vom Hundert der anhängig gewordenen Berufungszulassungsverfahren [Quelle: Auskunft des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, Veröffentlichung nicht bekannt].

III. Das Berufungszulassungsverfahren Durch das 6. VwGO-Änderungsgesetz 1 im Jahr 1996 ist zum 1. Januar 1997 die bis dahin zulassungsfreie und damit in das Belieben des Rechtsmittelführers gestellte Berufung abgeschafft und das Rechtsmittel der Berufung generell von einer vorherigen Zulassung durch das Oberverwaltungsgericht abhängig gemacht worden 2. Abweichend von der ursprünglichen Konzeption einer ausschließlichen Berufungszulassung durch das Oberverwaltungsgericht wurde durch Art. 1 Nr. 14 des Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess 3 auch die Möglichkeit einer Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht für zwei Konstellationen – grundsätzliche Bedeutung und Divergenz – begründet und die Frist zur Begründung des Berufungszulassungsantrags von einem auf zwei Monate verlängert. Durch Art. 6 Nr. 2a des Ersten Gesetz zur Modernisierung der Justiz 4 wurde die vorherige Regelung einer zwingend bei dem Verwaltungsgericht einzulegenden Begründung dahingehend modifiziert, dass nunmehr die Antragsbegründung, sofern sie nicht bereits mit dem Berufungszulassungsantrag bei dem Verwaltungsgericht vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht – und nicht mehr bei dem Verwaltungsgericht – einzureichen ist. Die Zielsetzung des Gesetzentwurfes des 6. VwGO-Änderungsgesetzes ist von ihrem Anspruch her auf eine Intensivierung der Effektivität verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG hin ausgerichtet. Insoweit betont der Gesetzentwurf 5, dass insbesondere die hohe Anzahl von Asylverfahren zu einer Erhöhung der Verfahrensdauer geführt habe; dies entwerte und gefährde den Rechtsschutzgewährleistungsanspruch des Bürgers. Alle Möglichkeiten zu einer Vereinfachung und Optimierung gerichtlicher Verfahren seien daher unter Berücksichtigung der berechtigten Anliegen der Rechtsschutz1 Vom 01. November 1996, BGBl. I Seite 1626; zu der Entwicklungsgeschichte der Berufungsbeschränkungen vor der Einführung der Zulassungsberufung umfassend Baumgärtel, Zulassungsberufung, Seite 17 ff. 2 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 3. 3 RmBereinVpG, vom 20. Dezember 2001, BGBl. I Seite 3987; hierzu Geiger, Berufungs- und Beschwerdeverfahren. 4 1. Justizmodernisierungsgesetz, vom 24. August 2004, BGBl. I Seite 2198. 5 BR-Ds. 30/96, Seite 1.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

suchenden auszuschöpfen, um den Rechtsschutz zu stärken. Ferner solle durch die Neuregelung dem Umstand Rechnung getragen werden, dass „die Verkürzung und Beschleunigung verwaltungsgerichtlicher Verfahren [...] ein wichtiger Standortfaktor im wirtschaftlichen Wettbewerb der Europäischen Gemeinschaft“ sei 6. Als Lösung dieses von dem Gesetzgeber gesehenen Problems 7 wird in dem Gesetzentwurf eine „Beschränkung von Rechtsmitteln“ 8 durch die Neuregelung der §§ 124, 124a VwGO vorgeschlagen; der Gesetzgeber hat mit der Neuregelung vor die Durchführung einer zweiten Instanz die „Hürde der Berufungszulassung“ 9 gesetzt. In dem Gesetzgebungsverfahren wurden massive Bedenken vorgebracht mit dem Ziel, die geplante Rechtsmittelbeschränkung zu verhindern 10. Diese Bedenken wurden damit begründet 11, dass die Rechte der Bürger unvertretbar beschränkt würden, dass das Berufungszulassungsverfahren kompliziert und für den Laien kaum durchschaubar sei, und dass in der Folge der Neuregelung eine Zurückweisung der Rechtsmittel die Regel sein werde. Ferner wurde darauf hingewiesen, dass sich die Berufungsgerichte nach einer Zulassung der Berufung ein zweites Mal mit der Sache befassen müssten, sodass kein Entlastungseffekt eintrete, und dass auch der Rechtsmittelführer einen überflüssigen Aufwand tä6 BT-Ds. 13/3933, Seite 1; in der Literatur ist diese Zielsetzung der Sicherung des Standortes Deutschland als „apodiktisches Postulat“ beschrieben worden, dem die gesetzgebenden Körperschaften eine ähnliche Rolle zukommen ließen wie die Katholische Kirche ihren Dogmen: Zweifel seien insoweit nicht erlaubt, so Ewer, Sechstes Gesetz, Seite 47; demgegenüber sieht Schoch, Herausforderungen, Seite 42, in der „Ökonomisierung der Rechtsordnung“ auch ein Indiz für bestimmte Entwicklungsrückstände des Justizsystems gegenüber anderen Lebensbereichen. Kritisch zu dem Versuch, durch Änderungen der VwGO wirtschaftliche Standortsicherung zu betreiben auch Quaas, 6. VwGO-Änderungsgesetz, Seite 702, und Hufen, Verwaltungsprozessrecht besteht, Seite 519, der von einer „Beschleunigungsgesetzgebung“ spricht, sowie Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 577, der ein „Beschleunigungs-Stakkato“ sieht, und Pitschas, Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite 30, der von einer „hektischen Prozessrechtsreform“ spricht. Auf „hausgemachte Ursachen“ für lange Verfahrensdauern weisen Kuhla / Hüttenbrink, Endstation Einzelrichter, Seite 717, hin; Schnellenbach, Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung, Seite 230 f., setzt sich kritisch mit vorherigen Verfahrensänderungen als angeblicher Folge der deutschen Einigung auseinander. 7 Ebenso kritisch zur Kontrolldichte der Verwaltungsgerichte und auch schon die Beschränkung auf eine Tatsacheninstanz fordernd Papier, Stellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, insbesondere Seite 14. 8 BR-Ds. 30/96, Seite 2. 9 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 1. 10 Änderungsantrag der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, BT-Ds. 13/5119, Seite 5. 11 Änderungsantrag der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, BT-Ds. 13/5119, Seite 5.

III. Das Berufungszulassungsverfahren

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tigen müsse, da er zunächst den Berufungszulassungsantrag und sodann die Berufung begründen müsse. Auch wurde geltend gemacht, dass es aus justizpolitischen Gründen abzulehnen sei, den Oberverwaltungsgerichten eine nicht auf justiziable Tatsachen gründbare Ermessensentscheidung darüber zuzubilligen, wann „ernstliche Zweifel“ bestünden oder wann dies nicht der Fall sei, was letztlich zu einer Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung, zu Verunsicherung und letztlich zu Staatsverdrossenheit führen werde. Diese Bedenken fanden kein Gehör 12. Der Gesetzgeber brachte mit dieser Neuregelung vielmehr zum Ausdruck, dass er grundsätzlich eine Tatsacheninstanz in einem Verwaltungsprozess für ausreichend erachtet 13 und eine zweite Tatsacheninstanz nur dann für geboten hält, wenn einer der in § 124 Abs. 2 VwGO enumerativ genannten Zulassungsgründe vorliegt 14. Nach der Begründung des Gesetzentwurfs soll „die zweite Tatsacheninstanz [...] nur in solchen Verfahren zur Verfügung stehen, in denen eine Überprüfung der Entscheidung erster Instanz von der Sache her notwendig ist“ 15. Während § 124 Abs. 1 VwGO den allgemeinen Grundsatz der Zulassungsberufung normiert, zählt § 124 Abs. 2 VwGO aus seiner Sicht abschließend 16 diejenigen Gründe auf, aus denen eine Zulassung der Berufung in Betracht kommt. Dies sind ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, eine Abweichung des Urteils von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts, wenn das Urteil auf dieser Abweichung beruht (so genannte Divergenzberufung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO), sowie das Vorliegen eines geltend gemachten und der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegenden Verfahrensfehlers, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO).

12

Vgl. auch Ewer, Sechstes Gesetz, Seite 48, mit weiteren Nachweisen. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BR-Ds. 30/96, Seite 29; Frenzen, in: Brandt / Sachs, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, Teil Q Rn. 2. 14 Frenzen, in: Brandt / Sachs, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, Teil Q Rn. 2. 15 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BR-Ds. 30/96, Seite 29; zutreffend weist Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 10, darauf hin, dass die Gesetzesmaterialien insoweit von einer „tagespolitischen Rhetorik“ geprägt seien. 16 Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 18 und 70; Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 6; Baumgärtel, Zulassungsberufung, Seite 53. 13

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Die Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte und der Verwaltungsgerichtshöfe hat in der Zeit seit 1996 das Berufungszulassungsrecht tiefgründig ausgelegt und systematisiert 17; in der Literatur ist davon gesprochen worden, dass diese Auslegung und Systematisierung das Berufungszulassungsverfahren zu einem „unvorhersehbaren Glücksspiel“ 18 für den Zulassungsantragsteller haben werden lassen. Da sich bei den einzelnen Oberverwaltungsgerichten, zum Teil sogar bei deren einzelnen Senaten 19, eine eigene Spruchpraxis zu dem Berufungszulassungsrecht herausgebildet hat, und da generell die Zulassungspraxis als restriktiv zu bezeichnen ist, ist als Folge auch ein Rückgang einer vereinheitlichenden Rechtsprechungspraxis des Bundesverwaltungsgerichts zu verzeichnen, die dann wiederum auch eine zunehmende Zersplitterung des materiellen Rechts nach sich zieht 20, da im Ergebnis materiell-rechtlich klärungsbedürftige Fragen im Berufungszulassungsverfahren „hängen bleiben“ und eine höchstrichterliche Klärung unterbleibt 21. Die restriktive Zulassungspraxis der Oberverwaltungsgerichte hat faktisch zur Folge, dass die Berufungsinstanz einen Bedeutungsverlust zu erleiden hat 22. Der Rechtsschutz des Bürgers beginnt in aller Regel bei dem Einzelrichter des Verwaltungsgerichts im Sinne von § 6 Abs. 1 VwGO und endet dort auch regelmäßig 23. Selbst in der Richterschaft hat sich teilweise das Bewusstsein entwickelt, dass die Rechtsprechung zu den Formalien der Zulassungsberufung und hier insbesondere auch zu den Darlegungserfordernissen durch eine zu strenge formale Handhabung 24 die Kluft zur materiellen Richtigkeit einer Entscheidung als dem Ziel der Verwaltungsgerichtsbarkeit vergrößert hat. So beschrieb etwa der Präsident des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts die Folgen der Einführung der Zulassungsberufung wie folgt 25: 17

Redeker, Reform der Reform, Seite 411. Redeker, Reform der Reform, Seite 411. 19 Seibert, Erfahrungen mit der 6. VwGO-Novelle, Seite 113; Hüttenbrink, 7. VwGO-Novelle, Seite 883; Geiger, Berufungs- und Beschwerdeverfahren, Seite 65; Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 665, spricht insoweit von „Buntscheckigkeit“. 20 Stüer / Hermanns, Kommt ein 7. VwGO-ÄndG?, http://www.stueer.business .t-online.de/7vwgo.pdf. 21 Hüttenbrink, 7. VwGO-Novelle, Seite 883. 22 Stüer / Hermanns, Kommt ein 7. VwGO-ÄndG?, http://www.stueer.business .t-online.de/7vwgo.pdf. 23 Hufen, Verwaltungsprozessrecht besteht, Seite 533; Stüer / Hermanns, 7. VwGOÄndG, http://www.stueer.business.t-online.de/7vwgo.pdf; Quaas, 6. VwGO-Änderungsgesetz, Seite 706 f. 24 Laudemann, Prozessuale Probleme, Seite 172. 18

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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„Das bestehende Zulassungsrecht ist weder der Anwaltschaft noch den beteiligten Behörden schmackhaft zu machen, von den rechtsuchenden Bürgern ganz zu schweigen. Ausgehend von dem vorgegebenen gesetzlichen Rahmen, der für sich gesehen schon kompliziert genug ist, treibt die Rechtsprechung hier eine Form von filigranem Feinschliff und subtiler Theoriebildung, die sich von der Suche nach der richtigen Entscheidung mehr und mehr entfernt und die unter dem Gesichtspunkt der Akzeptanz und der Nachvollziehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen nur schwer zu vermitteln ist. (...) Zunehmend sind es übrigens die Behörden, die, wenn sie im Verfahren 1. Instanz verloren haben, sich darüber beklagen, dass die Hürden des Zulassungsrechts für einen Normaljuristen kaum noch zu überwinden seien.“ Daher „müssen die Darlegungserfordernisse soweit zurückgeführt werden, dass die formellen Klippen nicht zur juristischen „Abseitsfalle“ auch für solche Prozesse werden, die für die Weiterentwicklung des materiellen Rechts unverzichtbar sind.“

Für die vorliegende Untersuchung sind die Kenntnis der von den Oberverwaltungsgerichten gestellten Anforderungen an die Erfüllung der formalen Voraussetzungen eines Berufungszulassungsantrages, das Verständnis der Berufungszulassungsgründe in ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung sowie eine Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Rechtsprechung an die jeweiligen Darlegungspflichten Voraussetzungen, um bestehende Möglichkeiten und / oder Verpflichtungen, dem Unions- und dem Verfassungsrecht in einem Berufungszulassungsverfahren Geltung zu verschaffen, mit diesen Anforderungen zu vergleichen und eventuell Neuausrichtungen der Rechtsprechung auf einer unionsbzw. verfassungsrechtlichen Grundlage einfordern zu können.

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung nach den §§ 124, 124a VwGO a) Antragserfordernis und Beschwer Das Berufungszulassungsverfahren wird durch die Stellung eines entsprechenden Antrages eingeleitet, der den in § 124a Abs. 4 VwGO gestellten Anforderungen genügt. Die Stellung des Antrags hemmt gemäß § 124a Abs. 4 Satz 6 VwGO die Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts. Der Antrag ist zwingend bei dem Verwaltungsgericht zu stellen 26. Die Zulässigkeit jedweden Rechtsmittels – und damit auch des Antrags auf Zulassung der Berufung – setzt grundsätzlich voraus, dass der Rechtsmittelführer durch die angegriffene Entscheidung rechtlich beschwert 27 und bestrebt ist, diese 25 26

Van Nieuwland, Antrittsrede, Seite 97. Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 18 und dazu noch unten III. 1. d).

52

III. Das Berufungszulassungsverfahren

Beschwer durch das Rechtsmittel zu beseitigen 28. Erforderlich ist für Rechtsmittel des Klägers, des Beklagten und des Beigeladenen eine formelle Beschwer in dem Sinne, dass ihm die angegriffene Entscheidung etwas versagt, was er in dem Verfahren, in dem die Entscheidung erging, beantragt hatte; eine materielle Beschwer genügt für den Beklagten und den Beigeladenen dann, wenn dieser keinen Antrag gestellt hatte 29. b) Vertretungszwang und Form des Antrags Für das Berufungszulassungsverfahren besteht Vertretungszwang. Nach § 67 Abs. 4 Satz 1 VwGO 30 müssen sich die Beteiligten vor dem Bundesverwaltungsgericht und dem Oberverwaltungsgericht, außer in einem Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Nach Satz 2 der Norm gilt dies auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht oder einem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird 31. Fraglich ist zunächst, ob der bei dem Verwaltungsgericht zu stellende Antrag auch mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle gestellt werden kann, oder ob insoweit das Erfordernis der Schriftform besteht. § 124a Abs. 4 Satz 2 VwGO nennt nicht die Möglichkeit, den Berufungszulassungsantrag auch mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichts stellen zu können.

27

BGH, Urteil vom 15. Oktober 1956, – III ZR 226/55 –, BGHZ 22, 43 –51; Blanke, in: Sodan / Ziekow, VwGO, Vorbemerkungen zu § 124 VwGO Rn. 59 ff.; Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 9; Happ, in: Eyermann, VwGO, Vor § 124 Rn. 23 ff.; Redeker, in: Redeker / von Oertzen, VwGO, § 124 Rn. 6 ff. 28 BGH, Urteil vom 20. Oktober 1982, – IVb ZR 318/81 –, BGHZ 85, 140 –145; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Vorbemerkung § 124 VwGO Rn. 39 ff. 29 Kopp / Schenke, VwGO, Vorbemerkung § 124 Rn. 39 mit weiteren Nachweisen; Niesler, Berufung im Verwaltungsprozess, Seite 731; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Vorbemerkung § 124 VwGO Rn. 39 ff. 30 In der Fassung des Art. 13 Nr. 2 des Gesetzes vom 12. Dezember 2007, BGBl. I Seite 2840 mit Wirkung vom 1. Juli 2008; zu dieser Novellierung umfassend Schenke, Probleme des Vertretungszwanges. 31 Zum Vertretungszwang für die Einlegung der von dem Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung nach § 67 Abs. 1 VwGO alte Fassung: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 08. Februar 2008, – 11 S 2915/07 –, Juris, mit umfassender Darstellung des Streitstandes; zu der entsprechenden Streitfrage in dem Rahmen des § 67 Abs. 1 VwGO alte Fassung, ob auch schon bei der Einlegung der Berufung Vertretungszwang bestand Ziegelmeier, Vertretungszwang.

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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Gegen diese Möglichkeit spricht die Regelung des Vertretungszwangs schon für die Stellung des Zulassungsantrags in § 67 Abs. 4 Satz 2 VwGO, durch den das Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird 32. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass der Berufungszulassungsantrag gemäß § 124a Abs. 4 Satz 2 VwGO bei dem Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird, zu stellen ist, und dass bei diesem kein Vertretungszwang bestünde. Denn nach dem klaren Wortlaut des § 67 Abs. 4 Satz 2 VwGO gilt der Vertretungszwang auch für ein solches Rechtsmittel, das bei dem Gericht einzulegen ist, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat und bei dem selbst kein Vertretungszwang besteht. Besteht jedoch schon für die Stellung des Berufungszulassungsantrages Vertretungszwang, so ist für den Berufungszulassungsantrag der sowohl in der Verwaltungsgerichtsordnung als auch in der Zivilprozessordnung geltende Grundsatz, dass Klagen und Rechtsmittel nur dann zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle erhoben beziehungsweise eingelegt werden können, wenn eine anwaltliche Vertretung nicht vorgeschrieben ist 33, anzuwenden. Denn in diesen Fällen besteht kein Anlass, dem sachkundigen Bevollmächtigten, von dem sich ein Beteiligter vertreten lassen muss, die Stellung des Berufungszulassungsantrags zur Niederschrift zu ermöglichen 34. Vielmehr soll durch die Regelung des Vertretungszwangs in § 67 Abs. 4 VwGO gerade der rechtskundige Vertreter eine eigene Prüfung, Sichtung und rechtliche Durchdringung des Streitstoffs vornehmen 35, was bei einer Antragserhebung zu der insoweit nur zu protokollierenden Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle nicht der Fall wäre 36. Vertretungszwang und Einlegung des Rechtsmittels zur Niederschrift schließen sich damit prinzipiell aus 37. Die Einhaltung der demnach einzuhaltenden Schriftform setzt voraus, dass die Berufungszulassungsantragsschrift von einem nach § 67 Abs. 2 VwGO postulationsfähigen Prozessbevollmächtigten mit dessen Nachnamen unterzeichnet ist.

32

Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124a VwGO Rn. 151. BVerwG, Beschluss vom 14. Oktober 1997, – BVerwG 1 B 164.97 –, NVwZ 1998, 170 [171]; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 23. April 1998, – 18 B 437/98 –, NJW 1998, 2844; Zieglmeier, Vertretungszwang, Seite 3467. 34 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 7. 35 BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 1989, – BVerwG 4 B 140.88 –, Buchholz 406.11 § 236 BauGB Nr. 1; Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124a Rn. 15. 36 BVerwG, Urteil vom 31. März 1995, – BVerwG 4 A 1.93 –, BVerwGE 98, 126 –132. 37 BVerwG, Urteil vom 31. März 1995, – BVerwG 4 A 1.93 –, BVerwGE 98, 126 –132; im Ergebnis auch Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 18. 33

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Für die Unterzeichnung des Berufungszulassungsantrags gelten die von der Rechtsprechung für die Unterzeichnung bestimmender Schriftsätze entwickelten Grundsätze. Voraussetzung für die Wirksamkeit einer gemäß § 81 Abs. 1 Satz 1 VwGO schriftlich erhobenen Klage ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 38 grundsätzlich die eigenhändige Unterschrift des Klägers oder seines Prozessbevollmächtigten unter der Klageschrift. Durch dieses Erfordernis soll die verlässliche Zurechenbarkeit des Schriftsatzes sichergestellt und gewährleistet werden, dass nicht nur ein Entwurf, sondern eine gewollte Prozesserklärung vorliegt. Daneben soll in Bezug auf die Urheberschaft garantiert werden, dass die abgegebene Erklärung von einer bestimmten Person herrührt und diese für den Inhalt die Verantwortung übernimmt 39. Für die in § 81 VwGO vorgeschriebene Schriftlichkeit der Klageerhebung wird daher von der Rechtsprechung in der Regel gefordert, dass die Urkunde von dem Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift unterzeichnet wird. Zur Begründung dieser Anforderung kann nicht auf § 126 BGB abgestellt werden. Zwar muss nach Absatz 1 dieser Vorschrift die Urkunde von dem Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichnet werden, wenn durch Gesetz schriftliche Form vorgeschrieben ist. Jedoch enthält die in dieser Rechtsnorm enthaltene gesetzliche Definition der Schriftform allein eine Regelung des bürgerlichen Rechts, die wegen der Eigenständigkeit des Prozessrechts weder unmittelbar noch entsprechend auf Prozesshandlungen angewendet werden kann 40. Jedoch entspricht es der Verkehrsauffassung und ist es auch dem Rechtsunkundigen geläufig, dass das Erfordernis der Schriftlichkeit unter dem Aspekt der Rechtssicherheit regelmäßig erst bei eigenhändiger Unterschrift erfüllt ist 41. Die eigenhändige Unterschrift ist das im Rechtsverkehr typische Merkmal, um den Urheber eines Schriftstücks und seinen Willen festzustellen, die niedergeschriebene Erklärung in den Verkehr zu bringen. Hieraus wird gefolgert, dass ein Schriftsatz ohne eigenhändige Unterschrift zunächst einen Entwurf und noch keine schriftlich zu erhebende Klage darstelle, weil erst die eigenhändige Unterschrift zum Ausdruck bringe, dass das 38 BVerwG, Urteil vom 06. Dezember 1988, – BVerwG 9 C 40.87 –, BVerwGE 81, 32 –41. 39 BVerwG, Urteil vom 26. August 1983, – BVerwG 8 C 28.83 –, Buchholz 310 § 81 VwGO Nr. 9. 40 Gemeinsamer Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 30. April 1979, – GmS – OGB 1/78 –, BVerwGE 58, 359 [364]. 41 BVerwG, Beschluss vom 15. Juni 1959, – BVerwG GrSen 1.58 –, BVerwGE 10, 1 [2].

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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Schriftstück, das bis dahin ein unfertiges Internum gewesen sei, nunmehr für den Verkehr bestimmt sei 42. Zur Wahrung der Schriftform gehört daher grundsätzlich das Bekenntnis zum Inhalt der Klageschrift durch die eigenhändige Unterschrift. Auch der Berufungszulassungsantrag ist daher von dem Prozessbevollmächtigten im Sinne von § 67 Abs. 4 VwGO eigenhändig zu unterschreiben. Nach der Rechtsprechung genügt es aber auch, dass sich die Urheberschaft aus anderen Umständen zweifelsfrei ergibt, etwa aus einer beigefügten beglaubigten Abschrift oder einem später eingegangenen Begründungsschriftsatz 43. c) Frist des Antrags Die Frist zur Stellung des Antrages auf Zulassung der Berufung beträgt gemäß § 124a Abs. 4 Satz 1 VwGO einen Monat. Auch bei Verkündung des Urteils beginnt die Frist nach der Norm mit der Zustellung des vollständigen Urteils, also mit der Zustellung einer die Erfordernisse des § 117 Abs. 1 und 2 VwGO (Rubrum, Tenor, Tatbestand, Entscheidungsgründe, Rechtsmittelbelehrung und Unterschriften der entscheidenden Richter) wahrenden Entscheidung 44. Die Frist des § 124a Abs. 4 Satz 1 VwGO ist als gesetzliche Frist einer Verlängerung gemäß § 57 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit § 224 Abs. 2 ZPO – anders als etwa die Frist zur Begründung der Berufung nach einer Zulassung durch das Oberverwaltungsgericht gemäß § 124a Abs. 5 Satz 3 VwGO in Verbindung mit § 124a Abs. 3 Satz 3 VwGO, die durch den Vorsitzenden verlängert werden kann – nicht zugänglich 45. d) Adressat des Antrags Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist gemäß § 124a Abs. 4 Satz 2 VwGO bei dem Verwaltungsgericht zu stellen, dessen Entscheidung angefochten wird 46. Die Stellung des Antrages auf Zulassung der Berufung bei dem Oberverwaltungsgericht wahrt die Antragsfrist dementsprechend nicht 47. 42 BVerwG, Beschluss vom 27. Oktober 1961, – BVerwG VI B 2.61, VI B 7.61 –, BVerwGE 13, 141 [143]. 43 BGH, Urteil vom 10. Mai 2005, – XI ZR 128/04 –, NJW 2005, 2086 –2089 mit weiteren Nachweisen. 44 Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124a VwGO Rn. 137. 45 Bayerischer VGH, Beschluss vom 27. Januar 2003, – 19 ZB 03.143 –, Juris; Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 41; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124a VwGO Rn. 134. 46 Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 44.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Nach der Rechtsprechung 48 soll der bei dem Verwaltungsgericht zu stellende Antrag auf Zulassung der Berufung selbst dann nicht die Rechtsmittelfrist wahren, wenn die Antragsschrift zwar bei dem Telefaxgerät des Verwaltungsgerichts tatsächlich eingeht, aber in ihrem Adressfeld willentlich an das Oberverwaltungsgericht adressiert ist. Insoweit wird angeführt, dass fristgebundene Schriftsätze zwar auch mit Telefax fristwahrend übermittelt werden könnten 49, jedoch sei durch die Übersendung eines Schriftsatzes auf das Telefaxgeräts des Verwaltungsgerichts keine Antragstellung bei dem Verwaltungsgericht erfolgt. Entscheidend sei dabei, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers den Zulassungsantrag eindeutig und allein an das Oberverwaltungsgericht adressiert habe, woraus nach außen hin zweifelsfrei dokumentiert werde, dass er den Antrag bei diesem Gericht – und eben nicht bei dem Verwaltungsgericht – habe stellen wollen 50. Allerdings besteht aufgrund der prozessualen Fürsorgepflicht 51 eine Pflicht zur Weiterleitung des Antrags im ordentlichen Geschäftsgang 52 durch das Oberverwaltungsgericht an das zuständige Verwaltungsgericht, wenn diese zur Fristwahrung führen könnte 53. Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine derartige Ausdehnung der Vorschriften über den Adressaten des Antrages nicht eine zu starke Verkürzung des Rechtsschutzes des Berufungszulassungsantragstellers darstellen. Bei der Auslegung von Anträgen und von bei einer Behörde einzulegenden Rechtsbehelfen sind ebenso wie bei der Auslegung von Prozesshandlungen gegenüber Gerichten 54 die für die Auslegung von empfangsbedürftigen Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts geltenden Rechtsgrundsätze der §§ 133, 47

Bayerischer VGH, Beschluss vom 09. Juli 2007, – 24 ZB 07.1380 –, Juris; Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 44. 48 Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 22. Oktober 2007, – 10 A 10735/07 –, DÖV 2008, 337 – 339. 49 BVerfG, Beschluss vom 11. Februar 1987, – 1 BvR 475/85 –, BVerfGE 74, 228 – 236 [234]. 50 Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 22. Oktober 2007, – 10 A 10735/07 –, DÖV 2008, 337 – 339; zustimmend Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124a Rn. 24 und Rn. 70 für eine Adressierung an das Oberverwaltungsgericht bei Eingang in einer gemeinsamen Briefannahmestelle mit dem Verwaltungsgericht. 51 Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 44. 52 Zu dem Inhalt dieses Begriffs sogleich. 53 Bayerischer VGH, Beschluss vom 09. Juli 2007, – 24 ZB 07.1380 –, Juris; Stüer / Hermanns, 7. VwGO-Änderungsgesetz, http://www.stueer.business.t-online .de/7vwgo.pdf; Rudisile, Berufungs(zulassungs)recht der VwGO, Seite 435. 54 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 04. April 2008, – 2 LB 7/ 07 –, Juris.

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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157 BGB anzuwenden 55. Nach § 133 BGB ist bei der Auslegung der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdruckes zu haften. Nach § 157 BGB sind Verträge so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Es kommt nicht auf den inneren Willen der erklärenden Partei, sondern darauf an, wie die Erklärung aus der Sicht des Empfängers bei objektiver Betrachtungsweise zu verstehen ist 56. Daher tritt der Wortlaut hinter Sinn und Zweck der Erklärung zurück. Entscheidend ist der geäußerte Wille des Erklärenden, wie er aus der Erklärung und sonstigen Umständen für den Erklärungsempfänger erkennbar wird 57. Maßgeblich für den Inhalt eines Antrages oder Rechtsbehelfs ist daher, wie die Behörde oder das Gericht ihn unter Berücksichtigung aller ihr oder ihm erkennbaren Umstände nach Treu und Glauben zu verstehen hat 58. Die Auslegung muss sich insoweit auf den Schriftsatz in seiner Gesamtheit und das mit ihm erkennbar verfolgte Rechtsschutzziel beziehen 59. Bei der Ermittlung des wirklichen Willens ist nach anerkannter Auslegungsregel zugunsten des rechtsunkundigen Bürgers davon auszugehen, dass er denjenigen Rechtsbehelf einlegen will, der nach Lage der Sache seinen Belangen entspricht und eingelegt werden muss, um den erkennbar angestrebten Erfolg zu erreichen 60. Dass für einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten ein anderes Auslegungsergebnis gelten könnte, ist nicht ersichtlich: Dieser will regelmäßig erst recht den in der Sache in Betracht kommenden Rechtsbehelf erheben. Auch sonst wird in der Rechtsordnung etwa im Recht der Willenserklärungen eine bloße Falschbezeichnung nach dem Grundsatz „falsa demonstratio non nocet“ 61 als unschädlich angesehen: Das übereinstimmend Gewollte hat nach diesem Prinzip den Vorrang vor einer irrtümlichen oder sogar vor einer absichtlichen Falschbezeichnung. Für das Vertragsrecht entspricht es der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass dann, wenn die Parteien eines Vertrages eine Willenserklärung übereinstimmend in einem bestimmten Sinne verstanden 55 BVerwG, Urteil vom 28. Mai 2003, – BVerwG 8 C 6.02 –, Buchholz 428 § 6 VermG Nr. 56. 56 BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 2001, – BVerwG 8 C 17.01 –, BVerwGE 115, 302 – 312 [307]. 57 Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 1990, – BVerwG 8 C 70.88 –, Buchholz 310 § 74 VwGO Nr. 9; BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 2001, – BVerwG 8 C 17.01 –, BVerwGE 115, 302 mit weiteren Nachweisen. 58 BVerwG, Urteil vom 15. November 2000, – BVerwG 8 C 28.99 –, Buchholz 428 § 3 VermG Nr. 40. 59 BVerwG, Beschluss vom 03. Dezember 1998, – BVerwG 1 B 110.98 –, Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 6. 60 BVerwG, Urteil vom 27. April 1990, – BVerwG 8 C 70.88 –, Buchholz 310 § 74 VwGO Nr. 9. 61 Ellenberger, in: Palandt, BGB, § 133 Rn. 8.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

haben, für den Inhalt der Erklärung dieser übereinstimmende Parteiwille, nicht jedoch ihr Wortlaut maßgebend ist 62. Dabei ist es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht erforderlich, dass sich der Erklärungsempfänger den wirklichen Willen des Erklärenden zu Eigen macht. Es genügt vielmehr, dass er ihn erkennt und in Kenntnis dieses Willens den Vertrag abschließt 63. Nichts anderes kann für empfangsbedürftige Willenserklärungen in der Form einer Prozesshandlung gelten. Diese sind ebenfalls nach dem Prinzip der falsa demonstratio non nocet auszulegen 64; hierbei ist maßgeblich, wie sie der Erklärungsempfänger nach Treu und Glauben und unter Berücksichtigung der Verkehrssitte verstehen musste. Geht nach den genannten Maßstäben ein im Adressfeld an das Oberverwaltungsgericht gerichteter Antrag auf Zulassung der Berufung bei dem Verwaltungsgericht auf dessen Telefaxgerät (oder sonst etwa in dessen Nachtbriefkasten oder dessen Poststelle) ein, so ist davon auszugehen, dass der Zulassungsantragsteller den in der Sache in Betracht kommenden Rechtsbehelf bei dem in der Rechtsmittelbelehrung genannten Gericht einlegen will, was er ja der Sache nach auch getan hat. An die fehlerhafte Adressierung die Wirkung der Unzulässigkeit eines Berufungszulassungsantrages zu knüpfen, stellt eine bloße Förmelei dar, die weder aus Rechtsgründen geboten noch unter Berücksichtigung des Prinzips effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG angemessen ist. In formeller Hinsicht ist bezüglich des Adressaten des Berufungszulassungsantrags weiterhin darauf hinzuweisen, dass auch der Norm des § 124a Abs. 4 Satz 5 VwGO in der Praxis häufig Bedeutung zukommt. Hiernach ist die Begründung des Berufungszulassungsantrags, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Für diese Begründung sieht § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO eine zweimonatige Frist ab der Zustellung des vollständigen Urteils vor. Nach der Rechtsprechung genügt es insbesondere nicht, die Begründung des Zulassungsantrages innerhalb der Zweimonatsfrist bei dem Verwaltungsgericht einzureichen. Vielmehr muss diese zwingend bei dem Oberverwaltungsgericht innerhalb der Frist eingehen. Der Berufungszulassungsantragssteller darf allerdings darauf vertrauen, dass dann, wenn ein fristgebundener Schriftsatz für das Rechtsmittelverfahren so zeitig bei dem in dem vorangegangenen Rechtszug mit der Sache befassten Gericht eingegangen ist, dass seine fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, eine solche Weiterleitung auch erfolgt 65.

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BGH, Urteil vom 20. November 1992, – V ZR 122/91 –, NJW-RR 1993, 373 –374. BGH, Urteil vom 26. Oktober 1983, – IVa ZR 80/82 –, NJW 1983, 721; BGH, Urteil vom 13. Februar 1989, – II ZR 179/88 –, BGHR BGB § 133 – Wille 6. 64 Ellenberger, in: Palandt, BGB, § 133 Rn. 4. 63

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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Unter „ordentlichem Geschäftsgang“ soll dabei jedoch lediglich eine solche Verfahrensweise zu verstehen sein, die einerseits zwar jede unnötige Verzögerung vermeidet, die andererseits aber auch auf außergewöhnliche Beschleunigungsmittel wie Eilvermerke, Telefaxe oder Anrufe bei dem Rechtsmittelführer verzichtet 66. In die Bestimmung dessen, was „ordentlicher Geschäftsgang“ ist, sind nach dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht 67 die tatsächlichen Umstände der Gerichtswirklichkeit einzubeziehen: Es sei zu berücksichtigen, dass die Weiterleitung eines Schriftsatzes, der unrichtig an das Verwaltungsgericht adressiert ist, obwohl er an ein anderes Gericht zu richten wäre, nicht einfach von der Geschäftsstelle selbst verfügt werden könne, sondern der Schriftsatz zunächst einem Richter vorgelegt werden müsse, sodass etwa eine Begründungsschrift, die erst am vorletzten Tag der Frist bei dem Verwaltungsgericht eintreffe, nicht mehr so zeitig eingegangen sei, dass mit ihrer fristgerechten Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres gerechnet werden könne 68, zumal „heutzutage bekanntlich die Geschäfts- und Poststellen der Verwaltungsgerichte oft nur noch halbtags voll besetzt“ seien „und auch ein Abtrag durch den Wachtmeisterdienst nicht mehr so häufig wie noch in der (ferneren) Vergangenheit“ stattfinde 69. Diese letztendlich die Personalausstattung der Oberverwaltungsgerichte sowie die der erstinstanzlichen Verwaltungsgerichte bedauernde und dramatisierende Sichtweise erscheint gerade angesichts des von dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht gewählten Beispiels eines am vorletzten Tag der Frist bei dem Verwaltungsgericht eingehenden Begründungsschriftsatzes weder unter dem Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG vertretbar noch mit der Lebenswirklichkeit bei den Oberverwaltungsgerichten vereinbar. Schon der gedankliche Ansatz, Eilvermerke, Telefaxe oder Anrufe bei dem Rechtsmittelführer als „außergewöhnliche Beschleunigungsmittel“ anzusehen, erscheint antiquiert. Geht am vorletzten Tag der Begründungsfrist ein irrtümlich an das Verwaltungsgericht adressierter Schriftsatz zur Begründung des Berufungszulassungsantrags ein, so wird dieser jedenfalls am Folgetag dem zuständigen Richter vorgelegt, der ja die fehlerhafte Adressierung jedenfalls erkennt. Zwar wird in der einhelligen Rechtsprechung vertreten, dass eine Weiterleitung 65

Vgl. zur Wiedereinsetzung BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 1995, – 1 BvR 166/93 –, BVerfGE 93, 99 [115 f.]. 66 Bayerischer VGH, Beschluss vom 23. Januar 2003, – 20 ZB 02.1325 –, DÖV 2003, 383 [384]; Rudisile, Berufungs(zulassungs)recht der VwGO, Seite 435. 67 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 30. Juni 2008, – 5 LA 372/07 –, Juris. 68 Bayerischer VGH, Beschluss vom 23. Januar 2003, – 20 ZB 02.1325 –, DÖV 2003, 383 [384]. 69 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 30. Juni 2008, – 5 LA 372/07 –, Juris.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

per Telefax grundsätzlich nicht mehr zum „ordentlichen Geschäftsgang“ gehöre, da der Schriftverkehr zwischen den Gerichten im Regelfall auf dem normalen Postweg abgewickelt werde 70. Dieses Postulat erscheint indessen durch die technische Entwicklung einerseits und die Lebenswirklichkeit in den Verwaltungsgerichten andererseits überholt: In der Praxis werden etwa zweitinstanzliche Entscheidungen den Verwaltungsgerichten per E-Mail lange vor einer Rücksendung der Gerichtsakten im Postwege übermittelt; bei Rechtsmitteleinlegungen werden die Akten von der Vorinstanz per E-Mail angefordert; und nahezu die gesamte Behördenkommunikation der Justiz wird in Niedersachsen per E-Mail abgewickelt. Das Postulat, dass ausschließlich der Schriftverkehr auf dem normalen Postwege den „ordentlichen Geschäftsgang“ bestimme, ist damit (heute) fehlerhaft. Aktuell gehören die Weiterleitung per Fax oder E-Mail vielmehr zum ordentlichen Geschäftsgang, und eine solche Art und Weise kann daher auch für eine Verpflichtung zu einer Weiterleitung verlangt werden, jedenfalls dann, wenn wie in dem genannten Beispiel ein Schriftsatz am vorletzten Tag der Frist eingeht 71. e) Bezeichnung des angefochtenen Urteils Nach § 124a Abs. 4 Satz 3 VwGO muss der Antrag auf Zulassung der Berufung das angefochtene Urteil bezeichnen. Der Berufungszulassungsantrag muss daher das Gericht, welches das angefochtene Urteil erlassen hat, das Aktenzeichen, das Datum des Urteils sowie die Verfahrensbeteiligten benennen. Fehlerhafte oder unvollständige Angaben schaden nicht, wenn aufgrund der sonstigen erkennbaren Umstände für das Gericht und für den Prozessgegner deutlich wird, welches Urteil angefochten werden soll. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn der Rechtsmittelführer in der Berufungszulassungsschrift auf die beigefügte Kopie der angefochtenen Entscheidung verweist, weil diese ein geeignetes Mittel ist, die infolge einer fehlerhaften Bezeichnung sonst auftretenden Zweifel zu beheben 72.

70 BFH, Beschluss vom 11. August 2005, – VIII B 291/04 –, BFH / NV 2006, 80; BFH, Beschluss vom 24. Oktober 2004, – XI B 130/02 –, BFH / NV 2005, 563; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 09. August 2007, – 11 ME 290/07 –, NJW 2007, 3225; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 09. Januar 2004, – 6 A 2026/ 02 –, Juris. 71 So zu einer Weiterleitung per Telefax Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 22. 72 BVerfG, Beschluss vom 9. August 1991, – 1 BvR 630/91 –, NJW 1991, 3140.

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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f) Die Darlegung des Zulassungsgrundes Neben die im Folgenden zu erörternden einzelnen Berufungszulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO tritt – als selbständige Zulässigkeitsvoraussetzung des Antrages auf Zulassung der Berufung nach § 124a VwGO – das Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO. § 124a Abs. 4 VwGO statuiert zahlreiche, bereits erwähnte formelle Anforderungen an den Berufungszulassungsantrag. Das Darlegungserfordernis ist in § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO geregelt: Hiernach sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die gesetzliche Frist zu einer Darlegung der Berufungszulassungsgründe ist eine Ausschlussfrist und gemäß § 57 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit § 224 Abs. 2 ZPO einer Verlängerung nicht zugänglich 73. Inhalt und Anforderungen des Darlegungserfordernisses aus § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO sind umstritten beziehungsweise werden in der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte – zum Teil sogar zwischen deren jeweiligen einzelnen Senaten 74 – höchst unterschiedlich gehandhabt. Nicht nur deshalb stellt die Begründung des Berufungszulassungsantrages den Bevollmächtigten vor „besondere Herausforderungen“ 75. Durch das Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO wird das Verfahren weitgehend formalisiert: Die Prüfung des Berufungszulassungsantrages durch das Oberverwaltungsgericht erfolgt in seinem gedanklichen Ansatz anhand der angefochtenen Entscheidung und des Berufungszulassungsantrages ohne eine weitere Aktenprüfung 76. aa) Wortlautauslegung des Begriffs „darlegen“ Darlegen bedeutet zunächst mehr, als einen bloßen Hinweis geben 77. Von seinem Wortlaut her bedeutet „darlegen“ soviel wie „erörtern, auseinander setzen, zeigen, demonstrare, explicare“ 78. Auch schon nach dem allgemeinen Sprach73

Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 28. Hüttenbrink, 7. VwGO-Novelle, Seite 883. 75 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 37; Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 49. 76 Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124a VwGO Rn. 181; Hüttenbrink, 7. VwGO-Novelle, Seite 883. 77 Laudemann, Prozessuale Probleme, Seite 173. 78 Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, „Darlegen“. 74

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

gebrauch bedeutet „Darlegen“ mehr als lediglich einen allgemeinen Hinweis; „etwas darlegen“ bedeutet vielmehr auch hiernach soviel wie „erläutern“ 79, „erklären“ oder „näher auf etwas eingehen“ 80 bzw. „substantiieren“ 81. An dieser Wortlautauslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „darlegen“ wird schon deutlich, dass gerade diese inhaltliche Unbestimmtheit der Vorschrift mancherlei Auslegungs- und Anwendungsvarianten als denkbar erscheinen lässt. bb) Systematische Auslegung: Darlegungsgebot und Vertretungszwang Zugleich mit § 124a VwGO wurde die Regelung des § 67 Abs. 1 Satz 1 VwGO alte Fassung eingeführt, mit der ein Vertretungszwang vor dem Oberverwaltungsgericht eingeführt wurde. Bei der Einführung der Zulassungsberufung ging der Gesetzgeber davon aus, dass insoweit ein Zusammenhang mit dem in § 124a Abs. 1 des Gesetzentwurfs geregelten Begründungszwanges bestehe. Der Vertretungszwang soll verhindern, dass der Erfolg eines Zulassungsantrags an mangelnder Rechtskenntnis des Rechtsschutzsuchenden scheitert 82. Die Regelung des § 67 Abs. 1 Satz 1 VwGO alte Fassung entspricht im Wesentlichen § 67 Abs. 4 VwGO neue Fassung 83. Nach § 67 Abs. 4 VwGO müssen sich die Beteiligten vor dem Bundesverwaltungsgericht und dem Oberverwaltungsgericht, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt nach Satz 2 der Norm auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht oder einem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind nach § 67 Abs. 4 Satz 3 VwGO nur die in Absatz 2 Satz 1 bezeichneten Personen zugelassen; dies sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinn des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO bestimmt, dass sich Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von 79

Günther, Berufungszulassung wegen „ernstlicher Zweifel“, Seite 472. BVerwG, Beschluss vom 09. März 1993, – BVerwG 3 B 105.92 –, NJW 1993, 2825 – 2826; BVerwG, Beschluss vom 02. Oktober 1961, – BVerwG 8 B 78.61 –, BVerwGE 13, 90 [91]. 81 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 44; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124a VwGO Rn. 194. 82 BR-Ds. 30/96, Seite 30. 83 In der Fassung des Art. 13 Nr. 2 des Gesetzes vom 12. Dezember 2007, BGBl. I Seite 2840 mit Wirkung vom 1. Juli 2008. 80

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen können. Vor dem Oberverwaltungsgericht sind nach § 67 Abs. 4 Satz 5 VwGO auch die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 bezeichneten Personen und Organisationen 84 als Bevollmächtigte zugelassen. Ein Beteiligter, der nach Maßgabe der Sätze 3 und 5 zur Vertretung berechtigt ist, kann sich nach § 67 Abs. 4 Satz 6 VwGO selbst vertreten. Sinn und Zweck des Vertretungserfordernisses des § 67 VwGO für bestimmende Schriftsätze ist es, dass der Bevollmächtigte durch seine eigene Unterschrift mit der gebotenen Klarheit über die Wirksamkeit der Stellung eines Berufungszulassungsantrags nach außen zeigt und offen legt, dass er die fachliche und rechtliche Verantwortung für den Berufungszulassungsantrag unmittelbar übernimmt. Das Gericht und die übrigen Verfahrensbeteiligten müssen aus der Antragsschrift entnehmen können, wer den Beteiligten vor Gericht vertritt und diese Verantwortung wahrnimmt 85. Aus den zeitgleich mit den Vorschriften über die Zulassung der Berufung eingeführten Vorschriften über das Vertretungserfordernis auch in einem Berufungszulassungsverfahren ist daher gefolgert worden, dass gesteigerte Anforderungen an die fachliche und rechtliche Durchdringung des Streitstoffes zu stellen seien. Mit dem Vertretungserfordernis solle erreicht werden, dass die dem Rechtsmittelgericht unterbreiteten Ausführungen ein bestimmtes fachliches Niveau hätten 86. 84

§ 67 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 3 – 7 VwGO: „3. Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer und vereidigte Buchprüfer, Personen und Vereinigungen im Sinn des § 3 Nr. 4 des Steuerberatungsgesetzes sowie Gesellschaften im Sinn des § 3 Nr. 2 und 3 des Steuerberatungsgesetzes, die durch Personen im Sinn des § 3 Nr. 1 des Steuerberatungsgesetzes handeln, in Abgabenangelegenheiten, 4. berufsständische Vereinigungen der Landwirtschaft für ihre Mitglieder, 5. Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder, 6. Vereinigungen, deren satzungsgemäße Aufgaben die gemeinschaftliche Interessenvertretung, die Beratung und Vertretung der Leistungsempfänger nach dem sozialen Entschädigungsrecht oder der behinderten Menschen wesentlich umfassen und die unter Berücksichtigung von Art und Umfang ihrer Tätigkeit sowie ihres Mitgliederkreises die Gewähr für eine sachkundige Prozessvertretung bieten, für ihre Mitglieder in Angelegenheiten der Kriegsopferfürsorge und des Schwerbehindertenrechts sowie der damit im Zusammenhang stehenden Angelegenheiten, 7. juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in den Nummern 5 und 6 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.“. 85 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 08. Mai 2008, – 5 LA 46/04 –, Juris.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Das Berufungsverfahren soll nur noch als Forum der professionellen Rechtsanwender verstanden werden 87. Dieser systematische Zusammenhang spricht – trotz der empirisch nicht immer zutreffenden Gleichsetzung von Urheberschaft und fachlichem Niveau – zunächst dafür, bestimmte Qualitätsanforderungen an die Darlegung als solche zu stellen, sagt indes noch nichts über deren Inhalt aus. cc) Sinn und Zweck des Darlegungsgebotes Der Sinn und Zweck des Darlegungsgebotes aus § 124a Abs. 2 Satz 4 VwGO ist ein doppelter 88: Das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dient zum einen der Entlastung der Gerichte durch eine Beschränkung des Prüfprogramms im Zulassungsverfahren 89. Es verfolgt zum anderen den Zweck, den Rechtsmittelführer in die Prüfung der Berufungswürdigkeit der Sache mit einzubeziehen. Es hält ihn – und über den Vertretungszwang des § 67 VwGO auch seinen Bevollmächtigten – an, sorgfältig zu prüfen, ob die für eine Berufung vorgeschriebenen Zulassungsgründe vorliegen und ob es unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Umständen aus seiner Sicht sinnvoll ist, das Rechtsmittel überhaupt einzulegen 90. Hieraus ist zu folgern, dass das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO grundsätzlich den Sinn und Zweck hat, dass nur von dem jeweiligen Prozessbevollmächtigten gesichteter und geprüfter Prozessstoff dem Oberverwaltungsgericht unterbreitet werden soll. Anforderungen an die Qualität oder Zielrichtung der Sichtung und Prüfung folgen hieraus indes unmittelbar nicht. dd) Entstehungsgeschichte Aus der Entstehungsgeschichte der Vorschriften über das Zulassungsverfahren folgt, dass der Zwang, die Gründe für die beantragte Zulassung der Berufung im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO „darzulegen“, nach dem gesetzlichen Regelungsziel im Interesse einer Verfahrensbeschleunigung und einer Verkürzung der gerichtlichen Bearbeitungszeiten erfolgte und damit der Entlastung 86 Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 21. Januar 2008, – 2 L 126/ 07 –, Juris. 87 Berkemann, Verwaltungsprozessrecht, Seite 454. 88 Bayerischer VGH, Beschluss vom 27. Februar 2008, – 10 ZB 07.1644 –, DÖV 2008, 425 – 426. 89 Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124a VwGO Rn. 180. 90 Bayerischer VGH, Beschluss vom 27. Februar 2008, – 10 ZB 07.1644 –, DÖV 2008, 425 – 426.

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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der Rechtsmittelgerichte dienen soll. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers, die in den gesetzlichen Regelungen ihren Niederschlag gefunden haben, reicht „regelmäßig“ eine Tatsacheninstanz aus und soll die zweite Tatsacheninstanz nur in solchen Verfahren zur Verfügung stehen, „in denen eine Überprüfung der Entscheidung erster Instanz von der Sache her notwendig ist“ 91. Dementsprechend hat der Gesetzgeber in dem § 133 Abs. 3 bis 5 VwGO nachgebildeten § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO im „Interesse der Entlastung der Berufungsinstanz“ einen Begründungszwang eingeführt, um zugleich auch „den Aufwand für die Bearbeitung des Zulassungsantrags“ zu reduzieren 92. Dieser auf eine Entlastung der zweiten Instanz gerichtete sowie der Verfahrensbeschleunigung dienende Gesetzeszweck ist für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite des Darlegungsgebotes aus § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO zentral. Dieser Sinn und Zweck und die Entstehungsgeschichte kehren den in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht geltenden Satz „iura novit curia“ für das Berufungszulassungsverfahren in den Satz „iura novit advocatus“ um: Die Verantwortung für die zutreffende rechtliche Beurteilung des Prozessstoffs liegt nicht mehr bei dem Oberverwaltungsgericht, das auch damit nicht mehr die alleinige Verantwortung für die von ihm getroffene Entscheidung trägt. Vielmehr hat der Bevollmächtigte – in der Regel der Rechtsanwalt – über die in erster Instanz bestehenden Mitwirkungsrechte und -pflichten hinaus in dem Berufungszulassungsverfahren eine Entscheidungspflicht dahingehend, dass sein Vorbringen nach der bislang herrschenden Meinung den rechtlichen Überprüfungsrahmen im Berufungszulassungsverfahren vorgibt; das Vorbringen ist damit die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Berufungszulassungsantrag zentral bestimmend. Andererseits ist es gerade wegen dieser Entstehungsgeschichte des Darlegungsgebotes des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht von vornherein ausgeschlossen, auch andere als die dargelegten Berufungszulassungsgründe zu berücksichtigen, wenn diese derart offen zu Tage treten, dass auch bei ihrer Berücksichtigung der für die Neuregelung zentrale Beschleunigungszweck jedenfalls erreicht, wenn nicht sogar besser erreicht wird. Dies gilt für offenkundige Fehler des Verwaltungsgerichts 93.

91 Vgl. dazu die Begründung für den Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 06. März 1996 zu Nr. 15 (§ 124 VwGO) in BT-Ds. 13/3993, Seite 13. 92 Vgl. den Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 06. März 1996 zu Nr. 16 (§ 124a VwGO), BT-Ds. 13/3993, Seite 13. 93 Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124a VwGO Rn. 203 f.; ohne erkennbaren Grund sehr viel enger demgegenüber in Rn 205. Zu dieser Thematik ausführlich sogleich.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

ee) Zusammenfassende Gesetzesinterpretation aufgrund des einfachen Rechts Dem Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ist nach Wortlaut, Sinn und Zweck sowie nach der Entstehungsgeschichte der Vorschrift des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO und ihrem systematischen Zusammenhang zum zeitgleich eingeführten Vertretungserfordernis in § 67 VwGO nur dann genügt, wenn innerhalb der Antragsfrist aus sich heraus verständlich näher auseinander gesetzt wird, dass und aus welchen Gründen der jeweilige Zulassungsgrund vorliegen soll. Die Zulassung der Berufung erfordert, dass einer der in § 124 Abs. 2 VwGO bezeichneten Zulassungsgründe eindeutig geltend gemacht wird und innerhalb der Antragsfrist aus sich heraus verständlich näher erörtert und gezeigt wird, dass und aus welchen Gründen dieser Zulassungsgrund vorliegen soll 93a. An die Darlegung sind nach Rechtsprechung 94 und Literatur 95 nicht geringe Anforderungen zu stellen. Denn die dem Revisionsrecht nachgebildete Darlegungspflicht bestimmt als selbständiges Zulässigkeitserfordernis den Prüfungsumfang des Rechtsmittelgerichts, das eben nur die fristgemäß dargelegten Berufungszulassungsgründe prüft. Die Darlegungspflicht soll den Aufwand für die Bearbeitung des Zulassungsantrages „reduzieren“ 96, dadurch das Zulassungsverfahren beschleunigen und verlangt qualifizierte, ins Einzelne gehende, fallbezogene und aus sich heraus verständliche, auf den jeweiligen Zulassungsgrund bezogene und geordnete Ausführungen, die sich mit der angefochtenen Entscheidung auf der Grundlage einer eigenständigen Sichtung und Durchdringung des Prozessstoffes auseinandersetzen. Das bloße Benennen oder Geltendmachen eines Zulassungsgrundes im Sinne des § 124 Abs. 2 VwGO genügt dem Darlegungserfordernis daher ebenso wenig wie eine bloße Wiederholung des erstinstanzlichen Vorbringens oder gar eine – ergänzende – Bezugnahme hierauf 97. Eine – auch nur ergänzende – Bezugnahme auf erstinstanzliches Vorbringen genügt vielmehr schon deshalb nicht dem Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, weil dieses Vorbringen zwangsläufig noch in Unkenntnis der instanzbeendenden Entscheidung 93a

Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 8. Juli 2010, – 2 LA 278/09 –, Juris. 94 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 26.Oktober 2004, – 2 LA 413/03 –, NdsRpfl 2005, 80 – 81; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 16. September 1997, – 12 L 3508/97 –, NdsVBl. 1997, 282. 95 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124a Rn. 77; anderer Ansicht Schenke, „Reform“ ohne Ende, Seite 92. 96 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 26. August 2002, – 12 LA 522/02 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 97 OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 20. März 2003, – 3 L 347/02 –, NVwZ-RR 2003, 695; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 13. April 2005, – 2 LA 166/05 –, NVwZ-RR 2006, 258 –259.

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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erfolgt ist, und sich deshalb schon gedanklich nicht mit dieser auseinander setzen kann 98. Die Antragsbegründung muss sich aber immer substanziell mit der Argumentation der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen 99. Eine Ausnahme, in der eine solche Verweisung ausnahmsweise zulässig ist, wird in der Rechtsprechung 100 nur dann anerkannt, wenn die Prozessbevollmächtigten die Bezugnahme auf ihre im ersten Rechtszug eingereichten Schriftsätze in eine Argumentation eingebunden haben, die in Kenntnis der angefochtenen Entscheidung und in konkreter Auseinandersetzung mit ihr erfolgt, oder wenn sich der Verweisung entnehmen lässt, welche Teile des früheren Vortrags zur Untermauerung welchen Zulassungsgrundes dienen sollen. Ebenso wenig genügt wegen des erläuterten systematischen Zusammenhangs zwischen den Vorschriften über die Zulassung der Berufung und der Einführung eines Vertretungszwanges vor dem Oberverwaltungsgericht eine Bezugnahme auf – noch so qualifiziertes – Vorbringen des Zulassungsantragstellers selbst; aus dem nach § 67 Abs. 4 Satz 1 VwGO bestehenden Vertretungserfordernis vor dem Oberverwaltungsgericht folgt vielmehr grundsätzlich, dass die Darlegung der Zulassungsgründe auf einer eigenen Prüfung, Sichtung und rechtlichen Durchdringung des Streitstoffs durch den Rechtsanwalt bzw. Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule beruhen muss. Dieser muss grundsätzlich selbst darlegen, aus welchen Gründen ein Zulassungsgrund in dem Sinne des § 124 Abs. 2 VwGO gegeben sein soll und darf nicht auf Vorbringen des Vollmachtgebers verweisen 101. Mit dem Vertretungserfordernis des § 67 Abs. 4 VwGO soll erreicht werden, dass dem Gericht nur ein von einem Rechtsanwalt geprüfter und gesichteter Streitstoff unterbreitet wird, sodass es deshalb nicht genügt, dass die Beschwerdebegründung die Unterschrift eines Rechtsanwalts trägt; vielmehr muss sie auch von dem Rechtsanwalt erarbeitet worden sein 102. ff) Verfassungsrechtliche Wechselwirkungen In einem weiteren systematischen Zusammenhang besteht jedoch ein Wechselspiel zwischen der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG in dem Bereich des Öffentlichen Rechts (vergleichbar dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG in dem Bereich des Zivilrechts 103) einerseits sowie der Auslegung des Darlegungserfordernisses des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO 98

Bayerischer VGH, Beschluss vom 24. Januar 2008, – 11 ZB 07.524 –, Juris. Bayerischer VGH, Beschluss vom 16. Juli 2008, – 5 ZB 08.500 –, Juris. 100 Bayerischer VGH, Beschluss vom 24. Januar 2008, – 11 ZB 07.524 –, Juris. 101 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Januar 1999, – 7 S 2408/98 –, VBlBW 1999, 260 [261]; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2002, – 1 S 1925/01 –, NVwZ-RR 2003, 117 – 118. 102 BVerwG, Beschluss vom 20. Juli 2000, – BVerwG 1 B 37.00 –, Juris. 99

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

andererseits, das die von der Rechtsprechung postulierten Anforderungen an die Darlegung wieder relativiert 104. Verfassungsrechtliche Wechselwirkungen bestehen ferner unter dem Gesichtspunkt der Rechtsanwendungsgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG. Methodisch sind diese verfassungsrechtlichen Wechselwirkungen durch eine verfassungskonforme Auslegung und Handhabung des Darlegungsgebotes des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO umzusetzen 105. (1) Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG Ausgangspunkt der Auslegung der Vorschriften über die Zulassung der Berufung nach §§ 124, 124a VwGO unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist für den Bereich des Öffentlichen Rechts Art. 19 Abs. 4 GG. Die „verfassungsrechtliche Zentralnorm“ 106 des Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 1 Abs. 3 GG gewährleisten zusammen den Schutz der Grundrechte auch und gerade in einem Verwaltungsprozess 107. Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ist hierbei als „dem Gewölbe des Rechtsstaats den Schlussstein“ einfügend und als eine „Kerngewährleistung des Grundgesetzes“ 108 bezeichnet worden 109; sie formt das grundgesetzliche Bild der Rechtsstaatlichkeit entscheidend mit 110. Art. 19 Abs. 4 GG enthält hierbei eine grundrechtliche Gewährleistung 111 des Einzelnen auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt 112, genauer gesagt: gegen die behauptete Verletzung der Rechtssphäre des Einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen 103 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Februar 2008, – 1 BvR 2588/06 –, NJW 2008, 2170 – 2171, zu dem Erfordernis einer grundsätzlichen Waffengleichheit und einer gleichmäßigen Verteilung des Prozessrisikos in einem Zivilprozess; BVerfG, Beschluss vom 11. März 2010, – 1 BvR 290/10 –, NJW 2010, 2567, zu dem insoweit bestehenden Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes; zu dem dogmatischen Verhältnis des Art. 19 Abs. 4 GG zu dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes Epping, Grundrechte, Rn. 911. 104 BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2009, – 1 BvR 2524/06 –, NVwZ 2009, 515 – 518 mit umfassenden Nachweisen; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124a VwGO Rn. 181; Gaier, Zulassung der Berufung, Seite 389. 105 Berkemann, Verwaltungsprozessrecht, Seite 446 ff. 106 Schmidt-Aßmann, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Einleitung A. I. Rn. 2. 107 Hufen, Verwaltungsprozessrecht besteht, Seite 520. 108 Dörr, Europäisierter Rechtsschutzauftrag, Seite 2. 109 Thoma, Grundrechte, Seite 9. 110 Schmidt-Aßmann, Art. 19 IV GG als Teil des Rechtsstaatsprinzips, Seite 2. 111 Epping, Grundrechte, Rn. 913. 112 BVerfG, Beschluss vom 02. Mai 1984, – 2 BvR 1413/83 –, BVerfGE 67, 43 [58]; BVerfG, Beschluss vom 12. März 2008, – 2 BvR 378/05 –, InfAuslR 2008, 263 –264.

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Gewalt 113. Bei den subjektiven Rechten, denen Art. 19 Abs. 4 GG zu dienen bestimmt ist, nehmen wiederum die Grundrechte die Vorrangstellung ein 114. Der durch Art. 19 Abs. 4 GG gebotene Gerichtsschutz ist mit dem Maßstab praktischer Wirksamkeit verknüpft 115. Die grundrechtsgleiche Bestimmung 116 des Art. 19 Abs. 4 GG begründet damit als Kernfunktion der Verwaltungsgerichte die Pflicht zu einem wirksamem Individualrechtsschutz 117. Dies ist auch im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG eine rechtsstaatliche Forderung 118. Der durch Art. 19 Abs. 4 GG den Gerichten erteilte Rechtsschutzauftrag kann nur dann verwirklicht werden, wenn die Anwendung einer Norm durch die in die Rechtssphäre des Grundrechtsträgers eingreifende Exekutive von den Gerichten nachprüfbar ist 119. Der durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete, möglichst lückenlose gerichtliche Schutz darf sich dabei nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpfen, sondern muss zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch ein mit zureichender Entscheidungsmacht ausgestattetes Gericht führen 120: Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte gegen jede behauptete Verletzung subjektiver Rechte durch ein Verhalten der öffentlichen Gewalt anzurufen, sondern auch die Effektivität dieses Rechtsschutzes 121. Hierfür muss der Gesetzgeber – unter Zubilligung eines weiten Gestaltungsspielraumes – die normativen Voraussetzungen schaffen und organisatorische und personelle Vorkehrungen treffen 122, und die Richter müssen das Prozessrecht in dem Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG interpretieren 123. Der in diesem Sinne effektive verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz schließt den Schutz der Grundrechte selbstverständlich ein 124. 113

BVerfG, Beschluss vom 12. November 1958, – 2 BvL 4/56, 2 BvL 26/56, 2 BvL 40/56, 2 BvL 1/57, 2 BvL 7/57 –, BVerfGE 8, 274 [326]; BVerfG, Beschluss vom 02. Mai 1984, – 2 BvR 1413/83 –, BVerfGE 67, 43 [58]. 114 Schmidt-Aßmann, Art. 19 IV GG als Teil des Rechtsstaatsprinzips, Seite 3. 115 Dörr, Europäisierter Rechtsschutzauftrag, Seite 20; Buscher, Zulassungsberufung, Seite 62. 116 BVerfG, Beschluss vom 13. April 2010, – 1 BvR 3515/08 –, Juris [Rn. 48]. 117 Schmidt-Aßmann, Aufgaben- und Funktionswandel der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite 45. 118 BVerfG, Beschluss vom 12. November 1958, – 2 BvL 4/56, 2 BvL 26/56, 2 BvL 40/56, 2 BvL 1/57, 2 BvL 7/57 –, BVerfGE 8, 274 [326]; Schmidt-Jortzig, Effektiver Rechtsschutz, Seite 2569. 119 BVerfG, Beschluss vom 12. November 1958, – 2 BvL 4/56, 2 BvL 26/56, 2 BvL 40/56, 2 BvL 1/57, 2 BvL 7/57 –, BVerfGE 8, 274 [326]. 120 BVerfG, Beschluss vom 02. Mai 1984, – 2 BvR 1413/83 –, BVerfGE 67, 43 –64. 121 BVerfG, Beschluss vom 24. September 2009, – 1 BvR 1304/09 –, Juris, zu der alleinigen Wirksamkeit eines auch zeitgerechten Rechtsschutzes. 122 Erichsen, Verfassungsrechtliche Vorgaben, Seite 145. 123 Epping, Grundrechte, Rn. 911.

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Diese, durch Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes wird in erster Linie durch das jeweils geltende Prozessrecht, also in dem Bereich des Öffentlichen Rechts insbesondere durch die VwGO, gesichert 125. Die jeweiligen Prozessordnungen treffen Vorkehrungen dafür, dass der Rechtsträger seine Rechte auch tatsächlich wirksam durchsetzen kann und die Folgen staatlicher Eingriffe im Regelfall nicht ohne fachgerichtliche Prüfung zu tragen hat 126. Die Auslegung der Regelungen der Prozessordnungen hat damit immer auch unter dem Blickwinkel des Art. 19 Abs. 4 GG zu erfolgen. Zwar gewährleisten weder Art. 19 Abs. 4 GG noch andere Verfassungsbestimmungen einen Instanzenzug 127 oder gar auf die Einrichtung eines bestimmten Instanzenzugs 128 und gewährleistet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG den Rechtsweg nur in dem Rahmen der jeweiligen einfach-gesetzlichen Prozessordnungen. Auch darf die Norm nicht als ein absolutes Optimierungsgebot verstanden werden 129. Der Weg zu den Gerichten, insbesondere auch zu einer inhaltlichen Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung, darf daher von Verfassungs wegen auch von der Erfüllung und dem Fortbestand bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig gemacht werden 130. Es ist die Sache des Gesetzgebers, zu entscheiden, ob Rechtsmittel gegen Gerichtsentscheidungen statthaft sein sollen; das Grundgesetz selbst trifft dazu keine Bestimmungen 131 und fordert lediglich eine Kontrolle durch ein unabhängiges Gericht 132. Sieht der Gesetzgeber allerdings ein Rechtsmittel vor, so ist 124

Steiner, Staats- und verfassungsrechtliche Bedeutung, Seite III. BVerfG, Beschluss vom 12. März 2008, – 2 BvR 378/05 –, InfAuslR 2008, 263 – 264. 126 BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996, – 2 BvR 1516/93 –, BVerfGE 94, 166 [213]. 127 BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 1994, – 2 BvR 131/94 –, Juris; BVerfG, Beschluss vom 30. April 2003, – 1 PBvU 1/02 –, BVerfGE 107, 395 –416 [401]; BVerfG, Beschluss vom 12. März 2008, – 2 BvR 378/05 –, InfAuslR 2008, 263 –264; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 Rn. 179; Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 4; Quaas, 6. VwGO-Änderungsgesetz, Seite 702; grundsätzlich Sendler, Instanzenzug; Schmidt-Aßmann, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Einleitung Rn. 28; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124a VwGO Rn. 89; Blanke, in: Sodan / Ziekow, VwGO, Vorbemerkungen zu § 124 VwGO Rn. 27 ff.; Happ, in: Eyermann, VwGO, Vor § 124 Rn. 1; Bickenbach, Grundfälle, Seite 911; Gaier, Zulassung der Berufung, Seite 386. 128 BVerfG, Urteil vom 04. Juli 1995, – 1 BvF 2/86, 1 BvF 1/87, 1 BvF 2/87, 1 BvF 3/87, 1 BvF 4/87, 1 BvR 1421/86 –, BVerfGE 92, 365 [410]; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Vorbemerkung § 124 VwGO Rn. 4. 129 Dörr, Europäisierter Rechtsschutzauftrag, Seite 21. 130 BVerfG, Beschluss vom 17. März 1959, – 1 BvL 5/57 –, BVerfGE 9, 194 [199 f.]; BVerfG, Urteil vom 12. Januar 1960, – 1 BvL 17/59 –, BVerfGE 10, 264 [267 f.]; BVerfG, Beschluss vom 09. Mai 1973, – 2 BvL 43/71, 2 BvL 44/71 –, BVerfGE 35, 65 [72 f.]; BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975, – 2 BvR 630/73 –, BVerfGE 40, 272 [274]; BVerfG, Beschluss vom 02. Dezember 1987, – 1 BvR 1291/85 –, BVerfGE 77, 275 [284]. 125

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er in der Ausgestaltung der Zugangs- und Zulässigkeitsvorschriften nicht völlig frei: Entscheidend ist insbesondere, dass der Zugang zu den Gerichten allen Bürgern auf möglichst gleichmäßige Weise eröffnet wird 133. „Die Grundsätze über die Einlegung und Begründung von Rechtsmitteln müssen sich daher durch ein besonderes Maß an Gleichheit, Klarheit und innerer Logik auszeichnen“ 134. Sehen prozessrechtliche Vorschriften die Möglichkeit vor, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten, so verbietet ferner Art. 19 Abs. 4 GG eine Auslegung und Anwendung dieser Rechtsnormen, die die Beschreitung des eröffneten (Teil-) Rechtswegs in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschweren 135. Denn der von der Prozessordnung vorgesehene Instanzenzug ist dann der von Art. 19 Abs. 4 GG garantierte Rechtsweg 136. Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes (Teil-)Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leerlaufen“ lassen 137. Wegen der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG darf der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden 138. Eröffnet daher das Prozessrecht eine 131 BVerfG, Beschluss vom 21. Oktober 1954, – 1 BvL 9/51, 1 BvL 2/53 –, BVerfGE 4, 74 [94 f.]; BVerfG Beschluss vom 11. Februar 1987, – 1 BvR 475/85 –, BVerfGE 74, 228 [234]. 132 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Vorbemerkung § 124 VwGO Rn. 4; zur Kritik ausführlich Buscher, Zulassungsberufung, Seite 66 ff. 133 Quaas, 6. VwGO-Änderungsgesetz, Seite 704. 134 BVerfG Beschluss vom 11. Februar 1987, – 1 BvR 475/85 –, BVerfGE 74, 228 [234]. 135 BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 2009, – 1 BvR 812/09 –, NJW 2010, 1062 [1063]; BVerfG, Beschluss vom 29. Juli 2010, – 1 BvR 1634/04 –, Juris [Rn. 48]; BVerfG, Beschluss vom 23. Februar 2011, – 1 BvR 500/07 –, Juris [Rn. 13]; Erichsen, Verfassungsrechtliche Vorgaben, Seiten 147, 154; Himstedt / Schäfer, in: Fehling / Kastner, Verwaltungsrecht, § 124 VwGO Rn. 53. 136 Blanke, in: Sodan / Ziekow, VwGO, Vorbemerkungen zu § 124 VwGO Rn. 29; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 Rn. 179, spricht insoweit von einer „eingefahrenen“ Rechtsprechung. 137 BVerfG, Beschluss vom 17. März 1988, – 2 BvR 233/84 –, BVerfGE 78, 88 [99]; BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1993, – 2 BvR 1058/92, 2 BvR 1059/92 –, NVwZ 1993, 465 f.; BVerfG, Beschluss vom 21. März 1994, – 2 BvR 211/94 –, NVwZ 1994 Beil. 4 S. 27; BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 1994, – 2 BvR 131/94 –, Juris; BVerfG, Beschluss vom 08. Mai 1995, – 2 BvR 513/95 –, Juris; BVerfG, Beschluss vom 30. April 1997, – 2 BvR 817/90, 2 BvR 728/92, 2 BvR 802/95, 2 BvR 1065/95 –, BVerfGE 96, 27 [39]; BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2000, – 2 BvR 2125/97 –, DVBl. 2000, 407. 138 BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975, – 2 BvR 630/73 –, BVerfGE 40, 272 [274 f.]; BVerfG, Beschluss vom 17. März 1988, – 2 BvR 233/84 –, BVerfGE 78, 88 [99]; BVerfG, Beschluss vom 02. März 1993, – 1 BvR 249/92 –, BVerfGE 88, 118 [124].

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes in dem Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle 139 und damit in dem Sinne einer verfassungsrechtlichen Wirksamkeit auch der Vorschriften über die Rechtsmittelzulassung. Dem wird in der Literatur entgegen gehalten, dass es einen Wertungswiderspruch bedeute, einen Instanzenzug nicht als von der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG umfasst, mithin auch die Abschaffung von Rechtsmitteln als nicht dem Grundrecht unterfallend anzusehen, andererseits aber inhaltliche Beschränkungen eines einfachgesetzlich normierten Rechtsmittels an dem Maßstab des Art. 19 Abs. 4 GG zu messen 140. Eine grundgesetzliche Bestimmung, die die Bereitstellung eines Rechtsmittels nicht verlange, könne dann auch nicht Auslegungsmaßstab des einfachen Rechts sein 141, wenn dieses das Rechtsmittel normiere. Dem ist zunächst entgegen zu halten, dass die Bestimmung des Inhalts und der Tragweite verfassungsrechtlicher Begriffe auch anhand der Maßstäbe des einfachen Rechts auch zu anderen Verfassungsnormen anerkannt ist; etwa wirken bürgerliches Recht und öffentlich-rechtliche Gesetze gleichzeitig auf die Bestimmung der verfassungsrechtlichen Rechtsstellung des Eigentümers in dem Sinne des Art. 14 GG ein 142. Auch welcher Richter der gesetzliche in dem Sinne des Art. 101 GG ist, ergibt sich erst aus außerverfassungsrechtlichen Regelungen 143. Zudem verkennt diese Sichtweise, dass aus Art. 19 Abs. 4 GG zwar kein Gebot an den Gesetzgeber folgt, Rechtsmittel zu schaffen, dass aber von ihm geschaffene einfachgesetzliche Normen von den anderen Staatsgewalten immer in dem Sinne der grundgesetzlichen Vorschriften auszulegen sind. Dadurch, dass die genannte Ansicht die rechtsetzende und die rechtsanwendenden Gewalten gleichsetzt, verkennt sie den Unterschied zwischen dem auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 19 Abs. 4 GG weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum und den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Auslegung des einfachen Rechts durch die rechtsanwendenden Gewalten. 139 BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975, – 2 BvR 630/73 –, BVerfGE 40, 272 [274 f.]; BVerfG, Beschluss vom 15. April 1980, – 2 BvR 970/79 –, BVerfGE 54, 94 [96 f.]; BVerfG, Beschluss vom 30. April 1997, – 2 BvR 817/90, 2 BvR 728/92, 2 BvR 802/95, 2 BvR 1065/95 –, BVerfGE 96, 27 [39]; BVerfG, Beschluss vom 30. April 2003, – 1 PBvU 1/02 –, BVerfGE 107, 395 – 416 [405]; BVerfG, Beschluss vom 12. März 2008, – 2 BvR 378/05 –, InfAuslR 2008, 263 –264. 140 Buscher, Zulassungsberufung, Seite 77 ff. 141 Buscher, Zulassungsberufung, Seite 79. 142 BVerfG, Beschluss vom 09. Januar 1991, – 1 BvR 207/87 –, BVerfGE 83, 182 [195]; Papier, in: Maunz / Dürig / Herzog, Scholz, GG, Art. 14 Rn. 35 und 37. 143 Hierzu VIII. 1.

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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Der Rechtsweg, den Art. 19 Abs. 4 GG dem Einzelnen als staatliche Leistung gewährleistet, existiert im Übrigen nicht als solcher, sondern muss einfachgesetzlich in seinen Voraussetzungen erst geschaffen und seiner Art und seinem Umfang nach näher bestimmt werden 144. Dies spricht dann aber auch entscheidend dafür, den so ausgestalteten Rechtsweg an dem Effektivitätsgebot des Art. 19 Abs. 4 GG zu messen. Aus dem Gezeigten ist daher für die Auslegung des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO zu folgern, dass die Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe gemäß § 124 Abs. 2 VwGO nicht derart überspannt werden dürfen, dass die Möglichkeit, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten, für den Rechtsmittelführer de facto leer läuft 145. Ebenso gilt das Verbot, den beschrittenen (Teil-)Rechtsweg zu einem Leerlauf zu bringen, für die Auslegung und Anwendung der Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO selbst; auch an deren Begriffsinhalt dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden 146. Daraus folgt, dass ein Gericht nicht durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar verkürzen darf 147. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die hier zu behandelnden öffentlichrechtlichen, sondern auch für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten. Denn aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes in Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG ist für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten im materiellen Sinn ebenso wie soeben dargestellt aufgrund der Rechtsschutzgewährung des Art. 19 Abs. 4 GG für die gerichtliche Geltendmachung öffentlich-rechtlicher Positionen die Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes abzuleiten 148. Dieser Rechtsschutz muss auch für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten die grundsätzlich 144

[123].

BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1999, – 1 BvR 385/90 –, BVerfGE 101, 106

145 BVerfG, Beschluss vom 8. März 2001, – 1 BvR 1653/99 –, NVwZ 2001, 552 [553]; BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2005, – 1 BvR 2615/04 –, NVwZ 2005, 1176 [1177]; BVerfG, Beschluss vom 26. März 2007, – 1 BvR 2228/02 –, NVwZ-RR 2008, 1 [2]; BVerfG, Beschluss vom 11. Februar 2008, – 2 BvR 2575/07 –, Juris; BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2009, – 1 BvR 2524/06 –, NVwZ 2009, 515 –518; BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 2009, – 1 BvR 812/09 –, NJW 2010, 1062 [1063]. 146 BVerfG, Beschluss vom 24. Januar 2007, – 1 BvR 382/05 –, NVwZ 2007, 805 [806]; BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2009, – 1 BvR 2524/06 –, NVwZ 2009, 515 – 518; BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 2009, – 1 BvR 812/09 –, NJW 2010, 1062 [1063]; BVerfG, Beschluss vom 11. März 2010, – 1 BvR 290/10 –, NJW 2010, 2567. 147 BVerfG, Beschluss vom 08. Oktober 1991, – 1 BvR 1324/90 –, BVerfGE 84, 366 [369 f.]. 148 Dörr, Europäisierter Rechtsschutzauftrag, Seite 34 ff.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes durch den Richter ermöglichen 149. Auch in diesem Bereich ist es nicht ausgeschlossen, die Durchsetzbarkeit des jeweiligen materiellen Anspruchs des rechtsuchenden Bürgers von formellen Voraussetzungen abhängig zu machen. Dem Richter ist es jedoch auch hier verwehrt, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Schranken den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen 150. Jedenfalls darf es dem Rechtsuchenden kraft Verfassungsrechts nicht von vorneherein unmöglich gemacht werden, eine umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung seines Begehrens zu erreichen. (2) Der Grundsatz der Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG Fraglich ist, ob auch der Grundsatz der Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG Auswirkungen auf die Auslegung des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO hat. Aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgt das Gebot der Rechtsschutzgleichheit 151. Dieses besagt, dass die in einer Rechtsnorm für den Fall des Vorliegens eines dort bestimmten Tatbestandes angeordneten Rechtsfolgen auf jeden Menschen angewendet werden müssen, auf den der Tatbestand zutrifft. Ein Verstoß gegen das Gebot der Rechtsschutzgleichheit liegt vor, wenn ein vernünftiger, sachlich einleuchtender Grund für eine Differenzierung nicht zu finden ist oder wenn Willkür vorliegt. Welche konkreten Grenzen sich aus Art. 3 Abs. 1 GG ergeben – etwa ein bloßes Willkürverbot oder aber eine strenge Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse –, ist je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmal unterschiedlich 152. Durch die Grundrechtsnorm des Art. 3 Abs. 1 GG soll in erster Linie eine ungerechtfertigte verschiedene Behandlung von Personen verhindert werden 153. Aus diesem Grunde unterliegt der Gesetzgeber bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen regelmäßig einer strengeren Bindung als bei einer Ungleichbehandlung nach Sachgruppen 154. 149

BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 1980, – 1 PBvU 1/79 –, BVerfGE 54, 277 [291]. BVerfG, Beschluss vom 23. April 1974, – 1 BvR 6/74, 1 BvR 2270/73, 1 BvR 6/74, 1 BvR 2270/73 –, BVerfGE 37, 132 [141 ff.]; BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 1978, – 1 BvR 180/77 –, BVerfGE 49, 244 [248 ff.]; BVerfG, Beschluss vom 12. März 1980, – 1 BvR 759/77 –, BVerfGE 53, 352 [356]; BVerfG, Beschluss vom 08. November 1988, – 1 BvR 1527/87 –, BVerfGE 79, 80 [84 f.]. 151 BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2008, – 1 BvR 1421/08 –, Juris. 152 BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2008, – 1 BvR 1421/08 –, Juris. 153 BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2008, – 1 BvR 1421/08 –, Juris. 154 BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2008, – 1 BvR 1421/08 –, Juris. 150

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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Allerdings kann auch eine Ungleichbehandlung von Sachverhalten mittelbar eine Ungleichbehandlung von Personengruppen bewirken 155 mit der Folge, dass dann wiederum eine engere Bindung des Gesetzgebers anzunehmen ist. Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers sind im Übrigen umso engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann 156. Außerhalb des Bereiches der Ausübung grundrechtlicher Freiheiten lässt der Gleichheitssatz dem Gesetzgeber weitgehende Freiheit, Lebenssachverhalte je nach dem Regelungszusammenhang verschieden zu behandeln 157. Die Grenze einer Ungleichbehandlung in diesem Bereich bildet insoweit allein das Willkürverbot 158. Da das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nur den Berufungszulassungsantragsteller betrifft, hingegen der Zulassungsantragsgegner keinerlei Beschränkungen seines Vortrages – weder in inhaltlicher noch in zeitlicher Hinsicht – unterliegt, und da diese gesetzliche Differenzierung zumindest mittelbar die Rolle der Parteien als Berufungszulassungsantragssteller und Zulassungsantragsgegner betrifft, spricht dies entscheidend für eine strengere Bindung des Gesetzgebers über das bloße Willkürverbot hinaus in dem Sinne eines grundrechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeitserfordernisses. Auch unter dem Gesichtpunkt der Verhältnismäßigkeit sprechen jedoch gegen das Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO keine durchgreifenden Bedenken. Durch § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO wird dem Berufungszulassungsantragssteller eine fristgebundene Darlegungslast für Berufungszulassungsgründe, die gegen eine zu seinem Nachteil ergangene Entscheidung sprechen, aufgebürdet, während der Berufungsantragsgegner die Möglichkeit hat, ohne inhaltliche und zeitliche Begrenzung zu dem angefochtenen Urteil und zu dem Berufungszulassungsantrag Stellung zu nehmen. Maßgebliches Differenzierungskriterium ist insoweit die Beschwer durch ein Urteil des Verwaltungsgerichts. Die mit § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO vorgenommene Differenzierung dient nach der wiedergegebenen Begründung der Bundesregierung der Verfahrensbeschleunigung im Interesse der in erster Instanz erfolgreichen Partei und der 155 BVerfG, Beschluss vom 11. Januar 1995, – 1 BvR 892/88 –, BVerfGE 92, 53 [68 f.]. 156 BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2008, – 1 BvR 1421/08 –, Juris. 157 BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2008, – 1 BvR 1421/08 –, Juris. 158 BVerfG, Beschluss vom 11. Januar 1995, – 1 BvR 892/88 –, BVerfGE 92, 53 [68 f.]; BVerfG, Beschluss vom 18. Februar 1998, – 1 BvR 1318/86, 1 BvR 1484/86 –, BVerfGE 97, 271 [290 f.].

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Entlastung der Spruchtätigkeit der Oberverwaltungsgerichte. Der Gesetzgeber wollte insoweit einen Filter für die Berufungsinstanz schaffen 159. Ein derartiger Filter- und Beschleunigungszweck ist verfassungsrechtlich unbedenklich 160. In dem Rahmen des weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraumes sind Bedenken gegen seine Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne nicht erkennbar. Bei der Auslegung des Darlegungserfordernisses des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ist indes zu beachten, dass dieses unter dem Gesichtspunkt der Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG von Verfassungs wegen einer Auslegung nicht zugänglich ist, die die Steuerung der Arbeitsbelastung der Oberverwaltungsgerichte in den Blick nimmt. Mit dem Grundsatz der Rechtsanwendungsgleichheit unter diesem Aspekt hat sich das Bundesverfassungsgericht maßgeblich in einer Plenarentscheidung aus dem Jahre 1980 161 befasst. Gegenstand des Plenarverfahrens 162 war die Frage, ob sich aus dem Grundgesetz Bestimmungsgründe und Grenzen für die Auslegung des § 554b der Zivilprozessordnung ergeben. Der heute nicht mehr in Kraft stehende § 546 ZPO 163 bestimmte in seinem Absatz 1, dass in Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche, bei denen der Wert der Beschwer vierzigtausend Deutsche Mark nicht übersteigt, und über nichtvermögensrechtliche Ansprüche die Revision nur stattfand, wenn das Oberlandesgericht sie in dem Urteil zugelassen hatte. Nach Satz 2 der Norm ließ das Oberlandesgericht die Revision zu, wenn 1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hatte oder 2. das Urteil von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes abwich und auf dieser Abweichung beruhte. Nach Satz 3 des Absatz 1 des § 546 ZPO war das Revisionsgericht an die Zulassung gebunden. Absatz 2 des § 546 ZPO regelte, dass in Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche das Oberlandesgericht den Wert der Beschwer in seinem Urteil festsetzte. Das Revisionsgericht war nach § 546 Abs. 2 Satz 2 ZPO an die Wertfestsetzung gebunden, wenn der festgesetzte Wert der Beschwer vierzigtausend Deutsche Mark überstieg.

159

Siehe oben III. 1. f) dd); Niesler, Berufung im Verwaltungsprozess, Seite 728. BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2008, – 1 BvR 1421/08 –, Juris. 161 BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 1980, – 1 PBvU 1/79 –, BVerfGE 54, 277 –300. 162 Zu diesem auch Gaier, Zulassung der Berufung, Seite 386. 163 In der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Rechts der Revision in Zivilsachen, vom 08. Juli 1975, BGBl. I Seite 1863. 160

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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Die heute ebenfalls außer Kraft stehende Fassung des § 554b ZPO 164 bestimmte in ihrem Absatz 1, dass das Revisionsgericht in Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche, bei denen der Wert der Beschwer vierzigtausend Deutsche Mark überstieg, die Annahme der Revision ablehnen konnte, wenn die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hatte. Absatz 2 der Norm sah für die Ablehnung der Annahme eine Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen als erforderlich an. Nach Absatz 3 des § 554b ZPO konnte die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss ergehen. Zu der Plenarentscheidung des Bundesverfassungsgerichts kam es wie folgt: Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte mit Beschluss vom 9. August 1978 165 entschieden, dass § 554b Abs 1 ZPO mit dem Grundgesetz vereinbar sei, wobei die Vorschrift unter den Blickwinkeln des Rechtsstaatsprinzips und des Gleichheitssatzes nicht dahingehend ausgelegt werden dürfe, dass Revisionen in nichtgrundsätzlichen Rechtssachen, bei denen der Wert der Beschwer 40.000 DM übersteige, im Interesse der Arbeitsentlastung des Revisionssenats durch Nichtannahme erledigt werden dürften, wenn eine Überprüfung im Annahmeverfahren ergebe, dass das Rechtsmittel im Endergebnis Erfolg verspreche. Mit einem weiteren Beschluss vom 16. Januar 1979 166 hatte der Zweite Senat ausgesprochen, dass die Annahme einer Revision ohne grundsätzliche Bedeutung nur dann abgelehnt werden dürfe, wenn das Rechtsmittel nach der in diesem Stadium gebotenen Prüfung im Endergebnis keine Aussicht auf Erfolg habe. In dieser Entscheidung hatte der Zweite Senat es als verfassungswidrig zurückgewiesen, dass sich die Prüfung der Erfolgsaussicht darauf beschränken dürfe, ob ein schwerwiegender Verfahrensfehler vorliege oder ob die vom Berufungsgericht gezogenen rechtlichen Folgerungen im Ergebnis mindestens vertretbar gewesen seien. Die Erfolgsaussicht in diesem Sinne fehle auch dann, wenn zwar auf Grund revisionsrechtlich relevanter Fehler an sich die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung in der Sache geboten wäre, dies jedoch nicht zu einem anderen Ergebnis des Rechtsstreits führe. In Kenntnis dieser Rechtsprechung des Zweiten Senats hatte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in dem Rahmen eines bei ihm anhängigen Verfahrens 167 mit Beschluss vom 16. Januar 1979 das Plenum angerufen. Er stimmte dem Zweiten Senat darin zu, dass die Entscheidung über die Annahme einer aussichtsreichen Revision nicht von der jeweiligen Arbeitsbelastung eines Senats des Revisionsgerichts abhängig gemacht werden dürfe. Der Erste Senat wollte 164 In der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Rechts der Revision in Zivilsachen, vom 08. Juli 1975, BGBl. I Seite 1863. 165 BVerfG, Beschluss vom 09. August 1978, – 2 BvR 831/76 –, BVerfGE 49, 148 ff. 166 BVerfG, Beschluss vom 16. Januar 1979, – 2 BvR 1148/76 –, BVerfGE 50, 115. 167 BVerfG, Beschluss vom 18. November 1980, – 1 BvR 194/78 –, BVerfGE 55, 205 – 206.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

aber von der Rechtsauffassung des Zweiten Senats insoweit abweichen, als es verfassungsrechtlich nicht geboten sei, die gesetzlich vorgesehene Befugnis des Revisionsgerichts, die Annahme von Revisionen ohne grundsätzliche Bedeutung abzulehnen, auf Sachen zu beschränken, die im Endergebnis keine Aussicht auf Erfolg hätten. Denn verfassungsrechtlich sei eine Nichtannahme derartiger Revisionen beispielsweise auch dann statthaft, wenn das Revisionsgericht zu dem Ergebnis gelangt sei, dass schwerwiegende Verfahrensfehler nicht vorlägen und dass die von dem Berufungsgericht gezogenen rechtlichen Folgerungen im Ergebnis mindestens vertretbar gewesen seien. In der Plenarentscheidung 168 stellten beide Senate des Bundesverfassungsgerichts ihre Übereinstimmungen zunächst dahingehend fest, dass § 554b ZPO nach herkömmlichen Auslegungsregeln eine Auslegung gestattete, wonach das Revisionsgericht mit Rücksicht auf die jeweilige Arbeitsbelastung des Spruchkörpers die Annahme einer Revision ablehnen durfte. Ebenfalls übereinstimmend wurde ein solches Auslegungsergebnis als im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip und den allgemeinen Gleichheitssatz insoweit als nicht mit dem Grundgesetz im Einklang stehend angesehen, als es dazu führte, dass bei Revisionen, die nach der in diesem Stadium gebotenen Prüfung Aussicht auf Erfolg im Endergebnis besaßen, die Annahme des Rechtsmittels aus Gründen der jeweiligen Arbeitsbelastung abgelehnt werden durfte. Auch stimmten beide Senate in ihrem Ausgangspunkt darin überein, dass dem Gesichtspunkt der Erfolgsaussicht des Rechtsmittels bei der Entscheidung über seine Nichtannahme erhebliches Gewicht zukomme zumindest in dem Sinne, dass mangelnde Erfolgsaussicht einen sachgerechten Grund bildet, seine Annahme abzulehnen. In der Plenarentscheidung wurde weiter festgestellt, dass § 554b Abs 1 ZPO von Verfassungs wegen nicht dahin ausgelegt werden dürfe, dass die Annahme von Revisionen, die nach der in diesem Stadium gebotenen Prüfung Aussicht auf Erfolg im Endergebnis besäßen, abgelehnt werden dürfe. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass § 554b ZPO für Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche den bisherigen Grundsatz des – jenseits der Revisionsmindestsumme – „freien“, das heißt von keinem Gericht, sei es dem Vorderrichter, sei es dem Revisionsrichter, kontrollierten Zugangs zum Revisionsgericht dahingehend beseitigt habe, dass nunmehr Grundprinzip des Revisionszugangs die richterliche Zugangskontrolle sei; sie sei in dem Bereich der vermögensrechtlichen Streitsachen mit einem Wert der Beschwer von über 40.000 DM allerdings nur eine Kontrollmöglichkeit gewesen. Sachlicher Maßstab dieser Zugangskontrolle sei neben der Abweichung eines Urteils von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, auf der es beruhen musste, weithin die grund168

BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 1980, – 1 PBvU 1/79 –, BVerfGE 54, 277 –300.

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sätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 546 Abs 1, § 554b Abs 1 ZPO gewesen. Mit § 554b Abs 1 ZPO, wonach die Revision in vermögensrechtlichen Streitigkeiten mit einem Wert der Beschwer von über 40.000 DM auch dann eröffnet gewesen sei, wenn die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung aufgewiesen habe, das Revisionsgericht in diesem Fall die Annahme der Revision habe ablehnen dürfen, sei eine Ablehnungsbefugnis geschaffen worden, die dem Revisionsgericht eine Zugangskontrolle gewähre. Das durch die Norm gewährte „Ablehnungsermessen“ sei durch den Norminhalt nicht weiter vorgegeben. Jedoch lasse die unterschiedliche Regelung in Bezug auf Rechtssachen mit grundsätzlicher Bedeutung und solche ohne diese Bedeutung in dem Rahmen des § 554b ZPO den Schluss zu, dass die Ermessensregelung in erster Linie getroffen worden sei, um dem Revisionszweck der Einzelfallgerechtigkeit Raum zu geben. Denn die allgemeinen Revisionszwecke sollen über die Divergenzrevision und die Grundsatzrevision gewahrt werden. Zugleich werde damit die Möglichkeit einer Kontrolle gegenüber den Vordergerichten eröffnet. Auch bei einer derartigen Gestaltung des Rechtsmittelzuges weist das Bundesverfassungsgericht 169 den Gesetzgeber aber ebenso wie den Rechtsanwender darauf hin, dass die Wahrung der Einzelfallgerechtigkeit auch bei in dem Allgemeininteresse stehenden Revisionsgründen zu beachten sei: Denn auch eine dem Revisionsgericht nur begrenzt gegeben Nachprüfungsbefugnis lasse nicht den Schluss zu, die Revision diene – verglichen mit ihren weiteren Zwecken – nur in zweiter Linie der Wahrung der Einzelfallgerechtigkeit. Auch wenn die Nachprüfungsbefugnis des Revisionsgerichts begrenzt sei, so sei sie doch gerade auch zu dem Zweck gegeben, die rechtliche Richtigkeit der Entscheidung des Falles zu gewährleisten. Denn die Revision sei ein Rechtsmittel der Parteien im Dienste der Entscheidung ihres Falles. Dieser Revisionszweck der Wahrung der Einzelfallgerechtigkeit gehe Hand in Hand mit den anderen Revisionszwecken: Aus Anlass der Einzelfallentscheidung werde die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und Rechtsfortbildung angestrebt und die Kontrollfunktion gegenüber den Vordergerichten wahrgenommen. Der Weg zu diesem Ziel soll nach der gesetzlichen Regelung über die richtige Einzelfallentscheidung führen 170. Die Gewährleistung der Einzelfallgerechtigkeit könne den übrigen Rechtsmittelzwecken nicht hintangesetzt werden, wenn das Rechtsmittel so ausgestaltet ist, dass in seiner Bezugsmitte die rechtlich richtige Einzelfallentscheidung steht 171. Hieran anschließend weist das Bundesverfassungsgericht auf den Sinn und Zweck von Rechtsbehelfssystemen jeglicher Art hin: Nach dem Bundesverfassungsgericht ist das Grundanliegen, das mit der Einrichtung von gerichtlichen 169 170 171

BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 1980, – 1 PBvU 1/79 –, BVerfGE 54, 277 –300. BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 1980, – 1 PBvU 1/79 –, BVerfGE 54, 277 –300. BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 1980, – 1 PBvU 1/79 –, BVerfGE 54, 277 –300.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Rechtsbehelfssystemen verfolgt zu werden pflegt, zum einen, eine tendenziell bessere Gewähr der Einzelfallgerechtigkeit, das heißt – gemessen am jeweils anzuwendenden Recht – der Richtigkeit gerichtlicher Entscheidungen zu erzielen, und zum anderen, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung, darunter auch der richterlichen Rechtsfortbildung, und dadurch die Einheit der Rechtsordnung institutionell zu sichern. „Denn die Einheit der Rechtsordnung ist im Kern bedroht, wenn gleiches Recht ungleich gesprochen wird.“ 172 Rechtsbehelfe haben daher immer auch das Ziel der Wahrung der Einzelfallgerechtigkeit. Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts behandelt weiterhin diejenigen verfassungsrechtlichen Erfordernisse, die immer eingreifen, wenn staatliche Gerichtsbarkeit wahrgenommen wird: Dies sind neben den Gewährleistungen der richterlichen Unabhängigkeit, des gesetzlichen Richters und des rechtlichen Gehörs vor Gericht aus Art. 92, 97, 101, 103 Abs. 1 GG die Anforderungen, die aus dem Rechtsstaatsprinzip sowie aus den Grundrechten resultieren. Hiernach 173 ist „es ein zentraler Aspekt der Rechtsstaatlichkeit, die eigenmächtig-gewaltsame Durchsetzung von Rechtsansprüchen zwischen Privaten grundsätzlich zu verwehren“. Also haben das innerstaatliche Gewaltverbot und das staatliche Gewaltmonopol eine Ausstrahlungswirkung auf die Normen über den Zugang zu den Gerichten, den Verfahrensgang und die Ausgestaltung der Rechtsmittel für die Wahrung der Rechtsordnung mit der Folge, dass die Regeln über den Zugang zu Rechtsmittelgerichten für den Einzelnen möglichst klar erkennbar und hinreichend konturiert sein müssen. Denn gerade diese Normen bestimmen für den Einzelnen Grenzen und Form der Rechtsdurchsetzung. Dass hiervon ausgehend das Kriterium der Selbststeuerung der eigenen Arbeitslast des Revisionsgerichts verfassungsrechtlich viel zu unbestimmt ist, es sich also nicht gegen erfolgversprechende Revisionen durchsetzen kann, liegt auf der Hand. Denn ein derartiges Kriterium birgt die Gefahr einer Handhabung in sich, die nicht mehr auf die einzelne Rechtssache bezogen ist, sondern vielmehr von ihr unabhängig und mehr oder minder zufallsbestimmt und damit willkürlich ist 174. Dies verstößt dann aber gegen das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit aus Art 3 Abs 1 GG 175. Aus dieser zutreffenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist für die vorliegende Problematik zu folgern, dass bei der Auslegung eines Rechtsmittelgrundes, der in dem Interesse der Einzelfallgerechtigkeit geschaffen wurde – dies sind in dem vorliegenden Zusammenhang insbesondere die Nummern 1, 2 und 5 des § 124 Abs. 2 VwGO – 176, diesem Gesetzeszweck auch eine entscheidende Bedeutung für die Auslegung der Vorschrift zukommt 177. Gleich172 173 174 175

BVerfG, BVerfG, BVerfG, BVerfG,

Beschluss Beschluss Beschluss Beschluss

vom vom vom vom

11. Juni 1980, – 1 11. Juni 1980, – 1 11. Juni 1980, – 1 11. Juni 1980, – 1

PBvU PBvU PBvU PBvU

1/79 –, 1/79 –, 1/79 –, 1/79 –,

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

54, 54, 54, 54,

277 –300. 277 –300. 277 –300. 277 –300.

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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wohl haben weiterhin aber sämtliche Rechtsmittelgründe – und damit auch die der Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO – auch das Ziel, die Einzelfallgerechtigkeit zu verwirklichen: Ein von dem Rechtsmittelführer betriebenes Rechtsmittel hat das Ziel, für ihn Einzelfallgerechtigkeit zu erzielen; nur der Weg dorthin ist es, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder die Fortbildung des Rechts zu fördern 178. Denn die Beseitigung von Fehlurteilen liegt immer im Sinne des Gesetzeszwecks der Gewährleistung möglichst richtiger Einzelfallentscheidung 179; sie ist im Übrigen der Grund, aus dem der Rechtsmittelführer überhaupt ein Rechtsmittel ergreift 180. Eine Auslegung allein oder ganz überwiegend unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsentlastung der Oberverwaltungsgerichte oder der Verfahrensstraffung ist demgegenüber verfassungsrechtlich ausgeschlossen; gleiches gilt für eine Auslegung, die die Gewährleistung der Einzelfallgerechtigkeit, die jedwedem Berufungszulassungsgrund (auch) innewohnt 181, aus dem Blick nimmt 182. (3) Zusammenfassende Gesetzesinterpretation des Darlegungsgebotes unter Berücksichtigung der Anforderungen des Verfassungsrechts Für das Berufungszulassungsverfahren bedeuten diese verfassungsrechtlichen Implikationen, dass dann, wenn das Prozessrecht – wie hier die §§ 124, 124a VwGO – den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit gibt, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten, diese Rechtsnormen nicht derartig übermäßig streng gehandhabt werden dürfen, dass der Anspruch auf Durchsetzung des materiellen Rechts gefährdet wird 183. Zwar können die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung der §§ 124, 124a VwGO ein Mindestmaß an Substantiierung 176

Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 10. BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 1980, – 1 PBvU 1/79 –, BVerfGE 54, 277 –300; anderer Ansicht Buscher, Zulassungsberufung, Seite 126, der „weitreichende Abstriche“ von der Einzelfallgerechtigkeit als durch die Entlastungsfunktion gerechtfertigt ansieht. 178 List, Nichtzulassungsbeschwerde, Seite 574 f. 179 BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 1980, – 1 PBvU 1/79 –, BVerfGE 54, 277 –300. 180 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, vor § 124 VwGO Rn. 8. 181 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Vorbemerkung § 124 VwGO Rn. 8. 182 Happ, in: Eyermann, VwGO, Vor § 124 Rn. 9; demgegenüber sieht Schafft, Rechtsmittelverfahren, Seite 119, den Ressourcenaufwand für das Justizsystem als den zentralen Faktor an, dessen Höhe mit dem gewünschten Maß an Richtigkeitsgewähr ins Verhältnis gesetzt werden müsse; die Richtigkeitsgewähr sei ein relatives und kein absolutes Ziel. 183 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, DVBl. 2000, 1458; BVerfG, Beschluss vom 08. März 2001, – 1 BvR 1653/99 –, NVwZ 2001, 552. 177

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

verlangen 184 und etwa für die Darlegung des Berufungszulassungsgrundes im Sinne von § 124 Abs. 2 VwGO im Zulassungsrecht vom Grundsatz her lediglich allgemeine Hinweise als unzureichend ansehen und die Durchdringung des Prozessstoffes durch den Rechtsmittelführer verlangen 185. Für die von den Oberverwaltungsgerichten im Berufungszulassungsverfahren zu stellenden Anforderungen an die Darlegung der Berufungszulassungsgründe im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ist aber zu beachten, dass diese nicht derart erschwert werden dürfen, dass sie auch von einem durchschnittlichen, nicht auf das gerade einschlägige Rechtsgebiet spezialisierten Rechtsanwalt mit zumutbarem Aufwand nicht mehr erfüllt werden könnten 186. Das Rechtsmittelgericht darf das von der Verwaltungsgerichtsordnung eröffnete (Teil-)Rechtsmittel nicht über eine derartige Anforderungen statuierende strenge Handhabung der Darlegungserfordernisse des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leerlaufen“ lassen 187. An die Erläuterung und Substantiierung dürfen daher jedenfalls denn keine zu hohen Anforderungen gestellt werden, wenn die Fehlerhaftigkeit des Ergebnisses der erstinstanzlichen Entscheidung greifbar ist 188: „Berufungswürdige“ Fälle müssen auch wirklich in die Berufungsinstanz gelangen können 189. Materieller Anspruch und prozessuale Durchsetzbarkeit sind damit unter der gemeinsamen Brücke des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 GG und der Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG miteinander verbunden und verwoben. Zusammenfassend ist bei dem Darlegungserfordernis daher zu beachten, dass es nicht in einer Weise ausgelegt und angewendet werden darf, welches die Beschreitung des eröffneten (Teil-)Rechtsweges in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert 190. Es hat daher im 184

BVerfG, Beschluss vom 07. November 1994, – 2 BvR 2079/93 –, BayVBl. 1995, 178 [179]; BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, NdsVBl. 2000, 244; BVerfG, Beschluss vom 08. März 2001, – 1 BvR 1653/99 –, NVwZ 2001, 552. 185 BVerfG, Beschluss vom 07. November 1994, – 2 BvR 2079/93 –, BayVBl. 1995, 178 [179]. 186 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, DVBl 2000, 1458; BVerfG, Beschluss 08. März 2001, – 1 BvR 1653/99 –, NVwZ 2001, 552 f.; kritisch hierzu Atzler, Zulassung der Berufung, Seite 410. 187 BVerfG, Beschluss vom 17. März 1988, – 2 BvR 233/84 –, BVerfGE 78, 88 [99]; BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1993, – 2 BvR 1058/92, 2 BvR 1059/92 –, NVwZ 1993, 465 f.; BVerfG, Beschluss vom 21. März 1994, – 2 BvR 211/94 –, BayVBl 1994, 530; BVerfG; Beschluss vom 30. April 1997, – 2 BvR 817/90, 2 BvR 728/92, 2 BvR 802/95, 2 BvR 1065/95 –, BVerfGE 96, 27 [39]. 188 Laudemann, Prozessuale Probleme, Seite 173. 189 Lotz, Abgrenzung der Rechtsschutzaufgaben, Seite 743. 190 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 26.Oktober 2004, – 2 LA 413/03 –, NdsRpfl 2005, 80 – 81.

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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Einzelfall durch das Oberverwaltungsgericht eine Prüfung stattzufinden, ob die jeweils konkret gestellten Anforderungen an das Darlegungserfordernis auch einer verfassungsrechtlichen Überprüfung in diesem Rahmen standhalten. Darlegungen, welche etwa als bloße Schreibarbeit die Gefahr in sich trügen, „zur leeren Form zu werden“ 191, dürfen nicht verlangt werden. gg) Darlegungsgebot und Prozesskostenhilfebewilligung Nach herrschender Meinung sind die beschriebenen Anforderungen, die an die Darlegung eines Zulassungsgrundes zu stellen sind, bei dem Antrag, Prozesskostenhilfe für ein beabsichtigtes Berufungszulassungsverfahren zu gewähren, im Lichte der Art. 3 Abs. 1 GG, 19 Abs. 4 Satz 1, 20 Abs. 3 GG – gleicher Zugang zu dem Gericht für Unbemittelte sowie die Rechtschutzgarantie 192 – im Hinblick auf die hier gemäß § 67 Abs. 4 Satz 1 VwGO ausdrücklich nicht gebotene anwaltliche Vertretung 193 weiter abzusenken und dahin zu bestimmen, dass nur in Umrissen deutlich werden muss 194, auf welchen Zulassungsgrund der Rechtmittelführer sein Begehren stützt; denn die Darlegung muss es ermöglichen, die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs zu prüfen, wie es die §§ 166 VwGO, 114 ZPO verlangen. Nach anderer Ansicht 195 braucht ein nicht anwaltlich vertretener Berufungszulassungsantragssteller nicht darzutun, welcher Berufungszulassungsgrund geltend gemacht werden soll; die für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu überprüfende Erfolgsaussicht des Berufungszulassungsantrags ist hiernach anhand der Entscheidungsgründe und des Tenors des erstinstanzlichen Urteils zu prüfen 196. Der letztgenannten Ansicht ist zuzustimmen. § 67 Abs. 4 VwGO gebietet für den Berufungszulassungsantrag gerade eine anwaltliche Vertretung wegen der Schwierigkeiten, die mit der hinreichenden Darlegung eines Berufungszulassungsgrundes in dem Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO verbunden sind. Auch eine Subsumtion in abgeschwächter Form von einem Laien zu verlangen, überspannt die aus der Rechtsschutzgleichheit folgenden Anforderungen in einem Berufungszulassungsverfahren. 191

BVerfG, Beschluss vom 07. November 1994, – 2 BvR 2079/93 –, BayVBl. 1995, 178 [179]. 192 BVerfG, Beschluss vom 17. März 1988, – 2 BvR 233/84 –, BVerfGE 78, 88; BVerfG, Beschluss vom 13. März 1990, – 2 BvR 94/88 –, BVerfGE 81, 347. 193 Bader, Praktische Erfahrungen, Seite 403. 194 BVerwG, Beschuss vom 01. September 1994, – BVerwG 11 PKH 4.94 –, FamRZ 1995, 1239; Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 54.1. 195 Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 42. 196 Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 42.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

g) Die Benennung des Zulassungsgrundes im Sinne des § 124 Abs. 2 VwGO In der Rechtsprechung differieren die Anforderungen, die an die Bezeichnung des Zulassungsgrundes gestellt werden. Streitig ist, ob die einzelne Gesetzesvorschrift von dem Berufungszulassungsantragssteller konkret bezeichnet werden muss. In Rechtsprechung 197 und Literatur 198 wird zu dieser Frage vertreten, dass es auch zu einer Darlegung gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO gehöre, dass einer der Zulassungsgründe „deutlich“ 199 bezeichnet und „eindeutig geltend gemacht“ 200 werde. Der Berufungszulassungsgrund, der in Anspruch genommen werde, müsse „konkret angeführt“, „deutlich bezeichnet“ und – „etwa durch Absatzbildungen oder andere Untergliederungen deutlich hervorgehoben“ 201 werden. Nach dieser Ansicht 202 ist es bereits zweifelhaft, ob eine Antragsbegründung, die keinen der Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO ausdrücklich bezeichnet, den Darlegungserfordernissen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügt. Denn es sei nicht Aufgabe des über einen Zulassungsantrag entscheidenden Gerichtes, aus einer Reihe von ohne Bezug auf einen bestimmten Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 VwGO erhobenen Einwendungen gegen die angefochtene Entscheidung die Darlegung herauszusuchen, die einen der im Gesetz bezeichneten Zulassungsgründe betreffen könne und möglicherweise zu tragen geeignet sei. Sähe man dies anders, so müsste jedweder Vortrag eines Berufungszulassungsantragsstellers im Berufungszulassungsverfahren, der die inhaltliche Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung angreife, dem Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugeordnet werden, was die mit dem Zulassungsverfahren verbundenen Darlegungserfordernisse ins Leere laufen lasse 203.

197

OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22. Oktober 2008, – 1 L 122/08 –, NVwZ-RR 2009, 136, mit weiteren Nachweisen. 198 Himstedt / Schäfer, in: Fehling / Kastner, Verwaltungsrecht, § 124a VwGO Rn. 41. 199 OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22. Oktober 2008, – 1 L 122/08 –, NVwZ-RR 2009, 136. 200 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 13. April 2005, – 2 LA 166/05 –, NVwZ-RR 2006, 258 – 259. 201 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 19. Juli 2000, – 12 M 2617/00 –, Juris. 202 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 14. März 2001, – 11 LA 565/01 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 203 Bayerischer VGH, Beschluss vom 13. Mai 2009, – 19 ZB 09.7 –, Juris.

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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Insoweit wird es daher als nicht ausreichend angesehen, wenn in der Zulassungsbegründung lediglich tatsächliche bzw. rechtliche Ausführungen gemacht und verschiedene Zulassungstatbestände durch Angabe der jeweiligen Nummer des § 124 Abs. 2 VwGO angeführt werden 204. Gefordert wird vielmehr, dass derjenige, der die Zulassung der Berufung gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts beantragt, dem Gericht klar deutlich machen muss, welche Gesichtspunkte er zu welchem Zulassungsgrund vorträgt 205. Es müsse eine hinreichend eindeutige Zuordnung konkret fallbezogener rechtlicher bzw. tatsächlicher Ausführungen zu einem jeweils konkret benannten Zulassungsgrund durch den Berufungszulassungsantrag gegeben werden 206. Das Oberverwaltungsgericht sei nicht gehalten, unter Umgehung der gesetzlichen Darlegungserfordernisse eine hinreichende Zuordnung des Antragsvorbringens zu Zulassungsgründen selbst vorzunehmen 207. Argumentativ angeführt wird auch der Unterschied zwischen der Berufungsbegründung im Sinne von § 124a Abs. 3 und der Begründung des Berufungszulassungsantrags im Sinne von § 124a Abs. 4 VwGO, der dazu führe, dass für die Darlegung im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 zu fordern sei, dass der Berufungszulassungsantrag den konkret von dem Berufungszulassungsantragssteller in den Blick genommenen Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 VwGO durch Nennung der Vorschrift oder in anderer Weise unmissverständlich bezeichne 208. An eine demgegenüber nur konkludente Benennung des Zulassungsgrundes werden in der Rechtsprechung teilweise hohe Anforderungen gestellt: Da es nicht dem Oberverwaltungsgericht obliege, sondern gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO Aufgabe des Rechtsbehelfsführers sei, einzelne Zulassungsgründe ausdrücklich oder konkludent – etwa durch Umschreibung des entsprechenden Tatbestandes 209 – zu bezeichnen und ihnen dann jeweils diejenigen Elemente seiner Kritik an der erstinstanzlichen Entscheidung klar zuzuordnen, mit denen er das Vorliegen des jeweiligen Zulassungsgrundes darlegen möchte, folge aus dem Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO auch, dass es nicht Aufgabe des Oberverwaltungsgerichts sei, „sich aus einem „Darlegungs-Gemenge“ 204 Hanseatisches OVG, Beschluss vom 27. Januar 1997, – Bs IV 2/97 –, NVwZ 1997, 689 – 690; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 20. Mai 2005, – 7 A 1516/04 –, Juris. 205 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 25. März 1999 –6 A 2208/98 –, Juris. 206 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 20. Mai 2005, – 7 A 1516/04 –, Juris. 207 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 20. Mai 2005, – 7 A 1516/04 –, Juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 26. Mai 2000, – 4 S 588/00 –, VBlBW 2000, 446. 208 Hamburgisches OVG, Beschluss vom 24. April 1998, – Bf V 97/97 –, NordÖR 1998, 305. 209 Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 14. Februar 2007, – 3 Q 163/06 –, Juris.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

dasjenige herauszusuchen, was sich bei wohlwollender Auslegung den einzelnen Zulassungsgründen zuordnen ließe“ 210. Es sei insbesondere nicht die Aufgabe des Oberverwaltungsgerichts, anstelle des Berufungszulassungsantragstellers beziehungsweise seines Prozessbevollmächtigten „aus einem Gemenge von Darlegungen, die ohne Bezug zu einem der Zulassungstatbestände des § 124 Abs. 2 VwGO vorgebracht werden, mit Überlegungs- und Auslegungsaufwand zu ermitteln, welcher Teilaspekt des Vorbringens sich welchem Zulassungsgrund – zutreffend – zuordnen“ lasse 211. Insoweit bestehe auch keine Verpflichtung des Oberverwaltungsgerichts, eine Berufungszulassungsantragsschrift regelmäßig dahingehend auszulegen, dass der Berufungszulassungsantrag jedenfalls auf das Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützt werde. Denn dies würde dem Sinn des Zulassungsverfahrens insoweit zuwiderlaufen, als eine Auslegung dahingehend, dass jede Rechtsmittelbegründung, die sich inhaltlich mit der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzt, dem Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuordnen sei, die Regelung betreffend die mit dem Zulassungsverfahren verbundenen Darlegungserfordernissen im Ergebnis ins Leere laufen lassen würde, weil anderenfalls jegliche Darlegungen, mit denen sich der Rechtsmittelführer gegen die erstinstanzliche Entscheidung wende, immer (auch) als Darlegung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO angesehen werden könnten 212. Die wohl überwiegende Auffassung der Rechtsprechung verlangt demgegenüber nicht, dass hinsichtlich des geltend gemachten Zulassungsgrundes die herangezogene Gesetzesvorschrift ausdrücklich, d. h. mit der genauen Paragraphenbezeichnung, benannt wird. Hiernach genügt es vielmehr, wenn sich für das angerufene Gericht dem Antrag im Zusammenhang mit dessen Begründung unmissverständlich und zweifelsfrei entnehmen lässt, welcher der gesetzlichen Zulassungsgründe der gerichtlichen Prüfung unterworfen sein soll 213. Dem wird in der Literatur gefolgt 214. Nur dann, wenn der – gemäß § 67 VwGO durch einen Bevollmächtigten, im Regelfall durch einen Rechtsanwalt oder Rechts210 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 28. Oktober 2008, – 6 AD 2/08 –, NVwZ-RR 2009, 360. 211 Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 14. Februar 2007, – 3 Q 163/06 –, Juris; Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 20. März 2008, – 2 A 33/08 –, Juris. 212 OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22. Oktober 2008, – 2 L 122/08 –, NVwZ-RR 2009, 136. 213 Bayerischer VGH, Beschluss vom 20. Juli 2000, – 10 ZE 00.1863 –, Juris; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 20. März 1997, – 8 B 334/97 –, NVwZ 1997,1232. 214 Schmidt, 6. VwGO-Änderungsgesetz, Seite 695.

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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lehrer an einer deutschen Hochschule vertretene – Zulassungsantragsteller in seiner Begründung des Zulassungsantrages eine hinreichende Bezeichnung des von ihm geltend gemachten Zulassungsgrundes (oder gegebenenfalls mehrerer Zulassungsgründe) unterlasse, fehle es bereits aus diesem Grunde an einer zwingenden gesetzlichen Voraussetzung für die Zulassung der Berufung. Denn das angerufene Rechtsmittelgericht prüfe den Antrag auf Zulassung der Berufung nur hinsichtlich der von dem Antragsteller dargelegten Zulassungsgründe, was nur deren unmissverständliche, nicht aber eine einem gesetzlichen Tatbestand zugeordnete Begründung erfordere. Gegen die erstgenannte, strengere Ansicht spricht, dass das Darlegungsgebot des § 124 Abs. 4 Satz 4 VwGO – wie ausgeführt – allein Darlegungen, dass und aus welchem oder welchen der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO die Berufung zuzulassen ist, verlangt. Die dargelegten Tatsachen- und Rechtsfragen dann unter die einzelnen Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO zu subsumieren, ist demgegenüber die ureigenste Aufgabe des Oberverwaltungsgerichts, für die es einer konkreten Benennung des in den Blick genommenen Zulassungsgrundes nicht bedarf 215. Eine konkrete, paragrafenmäßige Benennung des Berufungszulassungsgrundes zu verlangen, stellt sich demgegenüber als eine bloße Förmelei dar, die ohne sachlichen Grund die Anforderungen, die an eine Darlegung im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO zu stellen sind, überspannt, und die daher gegen Art. 19 Abs. 4 GG verstößt 216. Daher ist auch die Ansicht des Niedersächsisches Oberverwaltungsgerichts 217, das eine wohlwollende Auslegung und Zuordnung des Vorbringens zu den einzelnen Zulassungsgründen ablehnt, als den Rechtsschutz verkürzend ebenso abzulehnen wie die des OVG Sachsen-Anhalt, die eine Auslegung des Vorbringens und seine Subsumtion unter den Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO verweigert 218. Es liegt vielmehr in der Natur der Sache, dass sich der Inhalt eines Berufungszulassungsantrags zumindest (teilweise) verschiedenen Berufungszulassungsgründen im Sinne von § 124 Abs. 2 VwGO zuordnen lässt: Etwa kann eine fehlerhafte Tatsachenermittlung sowohl mit dem Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils im Sinne von § 124 215 BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2010, – 1 BvR 2011/10 –, NVwZ 2011, 546 [Rn. 25]. 216 BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2010, – 1 BvR 2011/10 –, NVwZ 2011, 546 [Rn. 25]. 217 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 28. Oktober 2008, – 6 AD 2/08 –, NVwZ-RR 2009, 360. 218 OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22. Oktober 2008, – 2 L 122/08 –, NVwZ-RR 2009, 136.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Abs. 2 Nr. 1 VwGO als auch – etwa bei Übergehen eines in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrages – mit demjenigen des Vorliegens eines geltend gemachten und der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegenden Verfahrensmangels, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO), in Verbindung gebracht werden 219. Auch führen letztlich alle von einem Berufungszulassungsantragssteller vorgetragenen Gründe zu aus seiner Sicht bestehenden Zweifeln an der Ergebnisrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung und damit letztlich zu dem Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO: Auch ein Berufungszulassungsantragssteller, der eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geltend macht, möchte diese Rechts- oder Tatsachenfrage anders als von dem Verwaltungsgericht und ihm günstig beantwortet haben; wird eine Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO geltend gemacht, dann auch mit dem Ziel, die Entscheidung in ihrem Ergebnis zu korrigieren – in beiden Fällen hat der Berufungszulassungsantragssteller nicht das eherne Ziel, zu einer Rechtsfortbildung beizutragen. Dieses Vorbringen des Berufungszulassungsantragsteller dann materiell zuzuordnen ist die Aufgabe ureigenster Subsumtion des Oberverwaltungsgerichts, die nicht über das Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO übergangen werden kann 220. Die noch weitergehende Forderung nach „Absatzbildungen oder anderen Untergliederungen“ 221 mag die richterliche Arbeit erleichternd sein, findet indes in dem geltenden Recht keine Stütze und stellt sich damit ebenfalls als eine als an Art. 19 Abs. 4 GG zu messende, sachlich nicht zu rechtfertigende Rechtsschutzverkürzung dar. h) Der Prüfungsmaßstab des Oberverwaltungsgerichts Nach einer in der Rechtsprechung 222 und Literatur 223 verbreitet geäußerten Auffassung ist bei der Prüfung des Berufungszulassungsvorbringens allein eine 219

Wie es etwa in dem dem genannten Urteil des Niedersächsisches Oberverwaltungsgerichts zugrunde liegenden Fall war: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 28. Oktober 2008, – 6 AD 2/08 –, NVwZ-RR 2009, 360. 220 Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 579. 221 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 19. Juli 2000, – 12 M 2617/00 –, Juris, das indes als selbständig tragende Erwägung das Zulassungsvorbringen von Amts wegen den Berufungszulassungsgründen des § 124 Abs. 2 VwGO zuordnet und so dem Gebot effektiven Rechtsschutzes der Sache nach in dem Ergebnis noch gerecht wird. 222 So OVG Brandenburg, Beschluss vom 8. Mai 2002, – 2 A 407/00 Z. –, LKV 2003, 91; Bayerischer VGH, Beschluss vom 19. Oktober 2005, – 14 ZB 05.1895 –, Juris; Baye-

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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„summarische Prüfung“ geboten. Andere Judikate 224 und ein Teil der Literatur 225 sprechen von einer „kursorischen Prüfung“, also einer „fortlaufenden, von einem zum andern gehenden“ 226 Prüfung, ohne damit einen Prüfungsmaßstab begrifflich vorgeben zu können. Auch das Bundesverfassungsgericht 227 spricht für die Prüfung des Berufungszulassungsvorbringens von einer „gebotenen summarischen Prüfung“. Der Begriff der summarischen Prüfung ist kennzeichnend für die Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach den §§ 80, 80 a, 123 VwGO. Eine summarische Prüfung bedeutet in den Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, dass die Sach- und Rechtslage aufgrund der präsenten Beweismittel, des unstreitigen Sachverhalts und der gerichtsbekannten Tatsachen geprüft wird 228. Daher ist etwa anerkannt, dass die Aussetzungsentscheidung des Gerichts entsprechend des Charakters des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO aufgrund summarischer Prüfung und anhand präsenter Beweismittel ergeht 229. Bei einer summarischen Prüfung ist es in der Regel nicht geboten, schwierige Sach- und Rechtsfragen abschließend zu bescheiden. Nur in den Fällen, in denen infolge Zeitablaufs irreversible Fakten eintreten können und jeder Hauptsacherechtsschutz dann zu spät käme (z. B. in Verfahren zu Wahlen), ist eine dem Hauptsacheverfahren angenäherte vertiefte Prüfung der Sach- und rischer VGH, Beschluss vom 23. September 2008, – 21 ZB 08.784 –, Juris; Bayerischer VGH, Beschluss vom 18. August 2008, – 19 ZB 07.931 –, Juris; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 17. Juli 2008, – 13 A 2916/06 –, Juris; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 16. Dezember 2008, – 13 A 2085/07 –, Juris; ähnlich auch Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 12. Februar 2008, – 5 LA 326/04 –, Juris. 223 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 41: „Summarische prognostische Prüfung der Sach- und Rechtslage“; Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7; Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 15 und 19; Schmieszek, Sechstes Gesetz, Seite 1153; Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 671; Schenke, „Reform“ ohne Ende, Seite 91; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 104; Geiger, Berufungs- und Beschwerdeverfahren, Seite 69. 224 Bayerischer VGH, Beschluss vom 25. Oktober 2005, – 9 ZB 04.371 –, Juris. 225 Rudisile, Berufungs(zulassungs)recht der VwGO, Seiten 425 und 442; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124a VwGO Rn. 131; Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 11; Geiger, Berufungs- und Beschwerdeverfahren, Seite 69. 226 http://www.duden-suche.de/. 227 BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2009, – 1 BvR 2524/06 –, NVwZ 2009, 515 – 518. 228 Vergleiche zum Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nach der FGO Finanzgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31. Juli 2008, – 13 V 13119/08 –, Juris. 229 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. November 1991, – 9 S 2743/91 –, NVwZ-RR 1993, 19; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10. Januar 2007, – 11 S 2616/06 –, NVwZ 2007, 609 – 611.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Rechtslage geboten 230. Für Verfahren mit einem intensiven Bezug zur Grundrechtsausübung – so etwa unter dem Gesichtpunkt des Art. 12 Abs. 1 GG für Prüfungsverfahren – ist die summarische Prüfung zu verdichten: Es entspricht zwar der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 12 Abs. 1 GG, dass die Fachgerichte in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Möglichkeit haben, ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache auszurichten und diese summarisch zu prüfen. Bei Wahl dieses Prüfungsmaßstabes sind die Fachgerichte dann aber gemäß Art. 19 Abs. 4 GG gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes jedenfalls dann auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen, wenn diese Versagung zu schweren und unzumutbaren Nachteilen führt. Dies bedeutet auch, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen muss, wenn dazu Anlass besteht 231. Auch bei sonstigen schwerwiegenden Folgen – wie etwa bei einer Ausweisung 232 – müssen trotz des Prüfungsmaßstabes einer summarischen Prüfung bereits in dem Eilverfahren hinreichend belastbare Feststellungen vorliegen und darf das entscheidende Gericht auf die Zuordnung von Fakten zu den einzelnen Tatbestandsmerkmalen der Befugnisnorm nicht verzichten 233. Werden in dem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes schwierige Sach- und Rechtsfragen aufgeworfen, ist die Streitsache von hoher Komplexität und gebietet sie etwa eine vertiefte Befassung mit Fragen des Verfassungsrechts und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, so bedarf es der Durchführung eines Hauptsacheverfahrens, bevor vollendete Tatsachen geschaffen werden 234. Gegen die Vorgabe einer summarischen Prüfung in einem Berufungszulassungsverfahren und die Übertragung dieses Begriffs aus dem Regelungszusammenhang des vorläufigen Rechtsschutzes auf das Berufungszulassungsrecht sprechen zweierlei Gründe: Zwar widerspricht die Berücksichtigung „gerichtsbekannter Tatsachen“, wie sie in dem Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO unabhängig von dem Vortrag der Beteiligten unter Wahrung des Grundsatzes rechtlichen Gehörs möglich und anerkannt ist, nicht zwingend dem Darlegungsgebot im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO mit seinem oben beschriebenen Inhalt, wenn man davon ausgeht, dass gerichtsbekannte, aber nicht 230 Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 26. Mai 2006, – 1 B 10405/06 –, ZfB 2006, 170 – 175. 231 BVerfG, Beschluss vom 25. Juli 1996, – 1 BvR 638/96 –, EuGRZ 1996, 476 –478; so auch Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 12. Januar 2009, – 2 ME 607/08 –, Veröffentlichung nicht bekannt. 232 Bayerischer VGH, Beschluss vom 17. Juli 2009, – 19 CS 08.2512 –, Juris. 233 BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2005, – 2 BvR 485/05 –, NVwZ 2005, 1053. 234 BVerfG, Beschluss vom 29. März 2007, – 2 BvR 304/07 –, NVwZ 2007, 948 [949 f.].

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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dargelegte Tatsachen im Grundsatz von dem Oberverwaltungsgericht bei der Entscheidung über das Berufungszulassungsbegehren jedenfalls dann berücksichtigt werden können, wenn sie bereits im Zulassungsverfahren feststehen und aus anderen Gründen als den von dem Verwaltungsgericht genannten oder im Zulassungsantrag dargelegten Gründen die Ergebnisrichtigkeit der Entscheidung ergeben 235. Jedoch verkennt die dem summarischen Verfahren wie dargelegt immanente Beschränkung auf präsente Beweismittel, dass etwa allein schon die Notwendigkeit, Beweis zu erheben, zu einer Zulassung der Berufung etwa wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO führen kann, ohne dass es auf eine Präsenz des Beweismittels in dem Sinne des Begriffsinhalts der summarischen Prüfung ankommen kann. Zum anderen verkennt das Abstellen auf eine summarische Prüfung auch für die Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag, dass in den Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eine summarische Prüfung alleine deswegen regelmäßig auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 19 Abs. 4 GG ausreicht, weil es nur um die vorläufige Sicherung von Rechten geht, deren endgültiges Bestehen oder Nichtbestehen ja noch in dem sich anschließenden Hauptsacheverfahren geklärt werden kann. An einem solchen anschließenden Hauptsacheverfahren fehlt es aber gerade bei der negativen Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag, da mit der Ablehnung des Zulassungsantrages das Urteil des Verwaltungsgerichts gemäß § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO rechtskräftig wird. Weiterhin ist vertreten worden 236, dass alle nicht offensichtlich aussichtslosen Berufungen nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen seien, der Prüfungsmaßstab dementsprechend der einer „Offensichtlichkeit“ ihres Misserfolgs sei. Insoweit ist zur Begründung ausgeführt worden, dass schon dann, wenn der Berufungszulassungsantrag nicht offensichtlich aussichtslos sei, es ebenfalls nicht auszuschließen sei, dass die angefochtene Entscheidung unrichtig sei und das Rechtsmittel Erfolg haben werde. Nach dieser Ansicht hat das Oberverwaltungsgericht in jedem Fall das angefochtene Urteil einer Plausibilitätskontrolle zu unterziehen und in diesem Rahmen immer dann die Berufung zuzulassen, wenn es das Urteil für objektiv unrichtig halte 237. Hiergegen spricht, dass das Abstellen allein auf ein Fehlen einer offensichtlichen Aussichtslosigkeit, um den Erfolg eines Berufungszulassungsantrags zu bejahen, mit der Funktion und dem System des Berufungszulassungsverfahrens, das auch darauf ausgerichtet ist, die Rechtsmittelverfahren zu beschleunigen 238, 235 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Februar 1998, – 7 S 216/98 – NVwZ 1998, 645 – 647. 236 Roth, Berufungszulassungsgrund der „ernstlichen Zweifel“, Seite 432. 237 Stüer / Hermanns, Erfahrungen, Seite 259.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

nicht vereinbar ist: Bei einem derartig „niedrigen“ Maßstab wäre ein solcher Beschleunigungseffekt nur sehr eingeschränkt zu verzeichnen 239. Zudem dreht ein derartiger Maßstab die Blickrichtung der Prüfung entgegen der Intention des Gesetzgebers um: Bei der Prüfung des Vorliegens ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geht es eben nicht um den Ausschluss offensichtlich aussichtsloser Berufungszulassungsanträge – also um die Perspektive auf den Berufungszulassungsantrag –, sondern um eine Perspektive, die die Ergebnisrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung – also auf diese gerichtet – unter Berücksichtigung der Erwägungen des Berufungszulassungsantrags in den Blick nimmt. Aus den genannten Gründen ist es zusammenfassend allein zutreffend, für das Berufungszulassungsverfahren von einer Vollprüfung – allerdings nur der in dem Sinne der weiteren Ergebnisse dieser Arbeit dargelegten oder ansonsten zu berücksichtigenden – Berufungszulassungsgründe zu sprechen, und die Begriffe der summarischen Prüfung und der Offensichtlichkeit als jeweilige Prüfungsmaßstäbe in dem Recht der Berufungszulassung ebenso wenig zu verwenden wie den Maßstab einer darlegungslosen Fehlersuche durch das Oberverwaltungsgericht „von Amts wegen“ im Rahmen einer sogenannten bloßen Plausibilitätsprüfung. Letztlich ist darauf hinzuweisen, dass bei dem Vorliegen der Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung diese zwingend zuzulassen ist, ohne dass dem Oberverwaltungsgericht bei der Entscheidung über die Zulassung ein Ermessen zustünde 240. i) Notwendige Beiladung in dem Berufungszulassungsverfahren nach § 65 Abs. 2 VwGO Streitig ist, ob eine Beiladung in einem Berufungszulassungsverfahren zulässig ist. Nach einer Ansicht 241 dient das in § 124a Abs. 4 und 5 VwGO geregelte Zulassungsverfahren ausschließlich der Klärung der Frage, ob ein Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 VwGO besteht und deshalb der Rechtsmittelzug zu eröffnen ist 242. Durch die Entscheidung hierüber können hiernach daher keine rechtlichen 238

BT-Ds. 13/3993, Seite 13. Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 18. Januar 1999, – 12 L 5431/98 –, DVBl. 1999, 478 – 479. 240 Stüer / Hermanns, 7. VwGO-ÄndG, http://www.stueer.business.t-online.de/7vwgo .pdf. 241 Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26. Mai 2008, – 2 N 164.07 –, Juris. 239

1. Förmlichkeiten des Antrags auf Zulassung der Berufung

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Interessen an dem Verfahren bisher nicht beteiligter Dritter im Sinne des § 65 Abs. 1 VwGO berührt werden 243. Während des Verfahrens über die Zulassung der Berufung sei eine Beiladung daher nicht zulässig 244. Da sich das Verfahren auf die Prüfung der geltend gemachten Zulassungsgründe beschränke, könne es den wesentlichen Zweck der Beiladung, nämlich eine einheitliche Sachentscheidung gegenüber allen an dem streitigen Rechtsverhältnis Beteiligten zu ermöglichen, nicht erfüllen 245. Nach der Gegenansicht 246 ist eine Beiladung auch in einem Berufungszulassungsverfahren möglich, da in einem Berufungszulassungsverfahren „bereits wesentliche Argumente ausgetauscht“ und dem Dritten sonst „ohne Not die Instanz verkürzt würde“. Gegen die Möglichkeit einer Beiladung nach § 65 VwGO auch in einem Berufungszulassungsverfahren spricht entscheidend, dass sich das Berufungszulassungsverfahren wie dargelegt auf die Prüfung der geltend gemachten – der (in dem Sinne der Ergebnisse dieser Arbeit) dargelegten – Zulassungsgründe beschränkt. Damit kann das Berufungszulassungsverfahren den wesentlichen Zweck der Beiladung, nämlich eine einheitliche Sachentscheidung gegenüber allen an dem streitigen Rechtsverhältnis Beteiligten zu ermöglichen, nicht erfüllen 247. Ist eine Beiladung in dem Verfahren vor der Vorinstanz unterblieben, so bindet ein rechtskräftiges Urteil über den Streitgegenstand – wie es etwa bei Ablehnung des Berufungszulassungsantrags gemäß § 124a Abs. 5 Satz 3 VwGO dann vorliegt – den betreffenden Dritten gemäß § 121 VwGO nicht. Würde eine Beiladung demgegenüber im Berufungszulassungsverfahren erfolgen, so würde gerade hierdurch dem Beizuladenden die erste Instanz genommen.

242

Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 38. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. November 1999, – 8 S 2599/ 99 –, NVwZ-RR 2000, 814; Bayerischer VGH, Beschluss vom 29. März 2006, – 25 ZB 04.2406 –, Juris; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 31. März 2008, – 10 LA 73/08 –, Juris; Bier, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 65 Rn. 30; Kopp / Schenke, VwGO, § 65 Rn. 4. 244 Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124a VwGO Rn. 265 a. 245 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 31. März 2008, – 10 LA 73/08 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 246 Czybulka, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 65 Rn. 56 f. 247 Bayerischer VGH, Beschluss vom 29. März 2006, – 25 ZB 04.2406 –, Juris; Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 38; für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren: BVerwG, Beschluss vom 20. Oktober 2000, – BVerwG 7 B 58.00 –, NVwZ 2000, 202. 243

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe und die Anforderungen an ihre Darlegung a) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO Die in der Praxis größte Bedeutung 248 im Berufungszulassungsrecht dürfte der Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO haben, da der eine zweite Instanz anstrebende Berufungszulassungsantragssteller die Ergebnisrichtigkeit einer für ihn negativ ausgegangenen erstinstanzlichen Entscheidung des Verwaltungsgerichts zumeist „ernstlich anzweifeln“ und anderer Auffassung als das Vordergericht sein wird 249. Dieser Berufungszulassungsgrund dient nach seinem Sinn und Zweck klar der Einzelfallgerechtigkeit 250. Zu nahezu jedem einzelnen Wort dieses Berufungszulassungsgrundes haben die Oberverwaltungsgerichte unterschiedliche Interpretationsansätze entwickelt 251. aa) Begriffsbestimmung der „ernstlichen Zweifel“ Unter welchen Voraussetzungen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestehen, war schon in dem Gesetzgebungsverfahren 252 und ist auch noch in der Rechtsprechung und der Literatur 253 umstritten. Wesentlich unterschiedliche Ansätze ergeben sich insoweit sowohl zu der Frage, ob allein Rechts- oder auch Tatsachenfragen ernstliche Zweifel begründen können, sowie zu der Frage, wann Zweifel „ernstlich“ sind und wann nicht. Insoweit bestehen zahlreiche Auslegungsvarianten des Berufungszulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO 254: Es ist davon gesprochen worden, dass die genaue Bedeutung des zentralen Begriffs der „ernstlichen Zweifel“ selbst ernstliche Zweifel hervorrufe 255. 248 Uechtritz, 6. VwGO-Novelle, Seite 1219; Niesler, Berufung im Verwaltungsprozess, Seite 729. 249 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 40. 250 Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 6. 251 Stüer / Hermanns, 7. VwGO-ÄndG, BayVBl, Seite 386. 252 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BR-Ds. 30/96, Seite 6 f.; Stellungnahme des Bundesrates, BR-Ds. 30/96 (Beschluss), Seite 12; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, BT-Ds. 13/4069, Seite 2; Empfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages, BT-Ds. 13/5098, Seiten 8, 24. 253 Rudisile, Berufungs(zulassungs)recht der VwGO, Seite 453 f. 254 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 40.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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(1) Zweifelsbegründende Tatsachenfragen? (a) Streitstand Streitig ist zunächst, ob innerhalb dieses Zulassungsgrundes allein materielle Fehler des angefochtenen Urteils – also solche, die die inhaltliche Richtigkeit des Urteils unter dem Gesichtspunkt der richtigen Anwendung des geltenden Rechts betreffen – gerügt werden können, oder ob sich die ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils auch daraus ergeben können, dass das Urteil auf einem unvollständig oder unzutreffend ermittelten Sachverhalt beruht, sich also die ernstlichen Zweifel auch in tatsächlicher Hinsicht ergeben können. Es wird insoweit vertreten 256, dass eine fehlerhafte oder unvollständige Sachverhaltsermittlung allein als Verfahrensfehler im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO mit einem Berufungszulassungsantrag geltend gemacht werden könne 257. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO umfasse demgegenüber nur materielle Fehler. Hierbei könne der Rechtsmittelführer auch eine fehlerhafte Tatsachen- oder Beweiswürdigung rügen, die dem materiellen Recht zuzurechnen sei. Das angegriffene Urteil werde aber nicht dadurch fehlerhaft im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, dass das Verwaltungsgericht von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen sei. Solche Verfahrensfehler könnten nur nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO geltend gemacht werden. Dies gelte insbesondere für Verletzungen des rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 103 Abs. 1 GG, aber auch für Verstöße gegen den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, nach dem das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheide. Für derartige Fehler lasse § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO auch genügen, dass die Entscheidung auf dem Mangel beruhen könne, weshalb die Richtigkeit des Entscheidungsergebnisses in diesem Zusammenhang grundsätzlich unerheblich sei. Wenn aber der Rechtsmittelführer die tatsächlichen Feststellungen, die das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zu Grunde gelegt hat, nicht mit Verfahrensrügen nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO angreife, müsse das Berufungsgericht von diesen tatsächlichen Feststellungen ausgehen. Würden in dem Zulassungsverfahren nur ernstliche Zweifel geltend gemacht, könne kein neuer Sachverhalt in das Zulassungsverfahren eingeführt werden, insbesondere sei das Zulassungsverfahren nicht der Ort für weitere gerichtliche Ermittlungen oder gar für eine Beweisaufnahme. Anders lägen die Verhältnisse auch insoweit bei den Rügen nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO, wo die Geltendmachung des Mangels nicht ausreiche, 255 256

211.

Roth, Berufungszulassungsgrund der „ernstlichen Zweifel“, Seite 416. OVG Berlin, Beschluss vom 26. Februar 1998, – 8 SN 28.98 –, NVwZ-RR 1999,

257 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Februar 1998, – 7 S 216/98 –, NVwZ 1998, 645 f.; Bader, Zulassungsberufung, Seite 410.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

sondern dieser auch tatsächlich vorliegen müsse. Die in diesem Zusammenhang erforderlichen Feststellungen könne das Berufungsgericht auch unschwer an Hand der Akten und mit geringem Aufwand in dem Zulassungsverfahren treffen 258. (b) Stellungnahme Gegen den Ausschluss zweifelsbegründender Tatsachenfragen spricht, dass schon der Wortlaut des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht danach differenziert, ob die ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils auf einer fehlerhaften oder unvollständigen Rechtsanwendung oder einer fehlerhaften oder unvollständigen Sachverhaltsermittlung beruhen 259. Ferner ist es Sinn und Zweck des Berufungszulassungsrechts und insbesondere auch des Berufungszulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, Einzelfallgerechtigkeit zu erzielen 260. Für die Erzielung von Einzelfallgerechtigkeit ist es aus Sicht des betroffenen Rechtsmittelführers indes unerheblich, ob die Richtigkeit der Entscheidung aus einer fehlerhaften Rechtsanwendung oder aus einer fehlerhaften Sachverhaltsermittlung resultiert 261. Hierfür spricht auch die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Tatsachenfeststellungen und der gerichtlich ausgesprochener Rechtsfolge: Nur wenn feststeht, worauf es rechtlich ankommt, kann geprüft werden, ob diese tatsächliche Grundlage auch den rechtlichen Schluss trägt 262. Daher sind auch Tatsachenfragen geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu begründen 263. Die genannte Ansicht ist daher abzulehnen 264. (2) Ernstlichkeit des Zweifels (a) Streitstand Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegen nach herrschender Meinung dann vor, wenn der Erfolg des Rechtsmittels (mindestens) 258

VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Februar 1998, – 7 S 216/98 –, NVwZ 1998, 645 f. 259 Rudisile, Berufungs(zulassungs)recht der VwGO, Seite 424; Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 b; Schmidt, 6. VwGO-Änderungsgesetz, Seite 697. 260 Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 6. 261 BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2003, – BVerwG 7 AV 2.03 –, NVwZ 2004, 744. 262 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 14. 263 Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 b. 264 So ohne Begründung auch Niesler, Berufung im Verwaltungsprozess, Seite 730.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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ebenso wahrscheinlich ist wie der Misserfolg 265. Hierbei reicht es aus, dass ein die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden 266. Das Bundesverfassungsgericht 267 sieht mit anderer Formulierung ein Zulassungsvorbringen als ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO begründend an, das die Auffassung des Verwaltungsgerichts schlüssig infragestellt. Die gegenteilige Ansicht fordert als weitergehendes Erfordernis, dass der Erfolg des Rechtsmittels wahrscheinlicher sein müsse als der Misserfolg 268; die Bedenken gegen die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung müssten also derart überwiegen, dass der Erfolg des Rechtsmittels wahrscheinlicher ist als der Misserfolg 269. Dass sich die für und gegen die Richtigkeit der Entscheidung der Vorinstanz sprechenden Gesichtspunkte die Waage halten, genügt hiernach nicht für einen Erfolg des Berufungszulassungsantrags 270. Nach dieser Ansicht sind ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nur dann zu bejahen, wenn gegen dessen Richtigkeit nach summarischer Prüfung 271 gewichtige Gründe sprechen und der Erfolg des Rechtsmittels wahrscheinlicher ist als dessen Misserfolg. Ein anderes Gesetzesverständnis bürde dem Rechtsmittelführer nur zusätzliche Lasten und Kosten auf 272. Nach anderer Formulierung dieser Ansicht liegen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO dann vor, wenn für das von dem Zulassungsantragsteller favorisierte Entschei265 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 18. Januar 1999, – 12 L 5431/98 –, NdsVBl. 1999, 93; Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7. 266 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 16. Dezember 2008, – 13 A 2085/ 07 –, Juris; Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7. 267 BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2009, – 1 BvR 2524/06 –, NVwZ 2009, 515 – 518. 268 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 22; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 75; Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 15 a; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 26 d. 269 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 12. Mai 1997, – A 12 S 580/97 –, DVBl. 1997, 1327; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Februar 1998, – 7 S 216/98 –, NVwZ 1998, 645; Hessischer VGH, Beschluss vom 4. April 1997, – 12 TZ 1079/97 –, NVwZ 1998, 195; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 31. Juli 1998, – 1 L 2696/98 –, NdsRpfl. 1999, 87; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 26 d.; Bader, Zulassungsberufung, Seite 409. 270 Zur Zulassung der Beschwerde vergleiche Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 6. November 1997, – 11 B 2005/97 –, NVwZ 1998, 283. 271 Zur Kritik dieses Begriffs in dem Berufungszulassungsrecht siehe oben III. 1. h). 272 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Februar 1998, – 7 S 216/98 –, NVwZ 1998, 645.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

dungsergebnis die „besseren Gründe“ sprechen, das heißt, wenn sein Obsiegen in der Hauptsache wahrscheinlicher ist als sein Unterliegen. Zur Begründung wird insoweit angeführt, dass der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung ausdrücklich an den in § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO in Bezug auf die Aussetzung der Vollziehung eines öffentliche Abgaben und Kosten betreffenden Verwaltungsaktes genannten Begriff der „ernstlichen Zweifel“ an der Rechtmäßigkeit anknüpfe, sodass es nahe liege, den Inhalt des Begriffs der „ernstlichen Zweifel“ im Berufungszulassungsrecht ebenso zu bestimmen wie im Rahmen des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO 273, für den die herrschende Meinung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit des Obsiegens fordere 274. Vereinzelt 275 wird als Maßstab für das Vorliegen ernstlicher Zweifel auch gefordert, dass die Entscheidung „grob ungerecht“ und nicht mehr „vertretbar“ sein müsse. Dem Erfordernis der Einzelfallgerechtigkeit sei schon dann genügt, wenn die Streitsache „gut vertretbar“ und „fachgerecht“ entschieden worden sei 276, denn selbst eine abweichende Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts sei keine gerechtere, sondern lediglich eine andere Entscheidung 277. Auch wird vertreten 278, dass der Begriff der „ernstlichen Zweifel“ in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG 279 zu bestimmen sei. Nach dem Bundesverfassungsgericht ist der Begriff der „ernstlichen Zweifel“ in Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG in einem Zusammenhang der Gesamtregelung des Art. 16a GG eigenständig zu bestimmen. 273

Oberrath / Hahn, Ende des effektiven Rechtsschutzes, Seite 245. Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 26. März 2008, – 8 TG 2493/ 07 –, LKRZ 2008, 186 – 189; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Januar 1984, – 14 S 2429/83 –,DVBl. 1984, 345 [346]; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 26. März 1984, – 14 S 2640/83 –, NVwZ 1985, 202 [203]; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 17. November 1989, – 9 B 2594/89 –, DVBl. 1990, 720; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 17. März 1994, – 15 B 3022/93 –, NVwZ-RR 1994, 617; anderer Ansicht BVerwG, Beschluss vom 3. Juli 1981, – BVerwG 8 C 83/81 –, BayVBl. 1982, 442; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 13. Januar 1989, – 9 M 1/89 –, NVwZ-RR 1989, 328. 275 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10. Juni 1997, – 7 Seite 662/97 –, NVwZ-RR 1998, 31 – 34 zu einer Zulassung der Beschwerde. 276 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 20. 277 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 20. 278 Bader, Sechstes Gesetz, Seite 446; Schenke, „Reform“ ohne Ende, Seite 91. 279 Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG: „Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 [Einreise durch sogenannte sichere Drittstaaten] und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben.“ 274

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Maßgeblich ist hiernach nicht ein – wie auch immer zu qualifizierender – innerer Zustand des Zweifelns, dessen Intensität nicht messbar ist. Nach dem Bundesverfassungsgericht kommt es vielmehr auf das Gewicht der Faktoren an, die Anlass zu Zweifeln geben. „Ernstliche Zweifel“ im Sinne des Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG liegen in diesem Sinne dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten wird 280. Weiterhin wird es für das Vorliegen „ernstlicher Zweifel“ auch als ausreichend angesehen, dass eine andere Auffassung als die des Verwaltungsgerichts „mit gewichtigen Gründen vertretbar“ sei 281. Ähnlich abgesenkt stellt sich der Prüfungsmaßstab der „ernstlichen Zweifel“ dar, wenn alle „nicht offensichtlich aussichtslosen“ Berufungen als zuzulassen eingestuft werden 282, oder wenn als Voraussetzung der Zulassung angesehen wird, dass „die Zulassungsschrift Anlass gibt, das Ergebnis der angefochtenen Entscheidung in Zweifel zu ziehen“ 283. (b) Stellungnahme Gegen die Ansicht, die an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG anknüpft, ist einzuwenden, dass das Bundesverfassungsgericht 284 gerade eine eigenständige Bestimmung des Begriffs der „ernstlichen Zweifel“ aus dem Gesamtzusammenhang der Regelung des Art. 16a GG heraus vornimmt, sodass deren Ergebnisse nicht ohne Weiteres auf andere Rechtsbereiche übertragen werden können 285. Die übrigen Mindermeinungen werden durch eine Auslegung des Begriffs der „ernstlichen Zweifel“ an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO entkräftet. Auszugehen ist zunächst von dem Wortlaut des Berufungszulassungsrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Der Zustand des Zweifels wird im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm 286 abgeleitet von dem substantivierten Adjektiv „zweifelhaft“ umschrie280

BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996, – 2 BvR 1516/93 –, BVerfGE 94, 166 [194]. Berkemann, Verwaltungsprozessrecht, Seite 455. 282 Roth, Berufungszulassungsgrund der „ernstlichen Zweifel“, Seiten 426 ff., 432; Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 40. 283 Redeker, in: Redeker / von Oertzen, VwGO, § 124 Rn. 15 a. 284 BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996, – 2 BvR 1516/93 –, BVerfGE 94, 166 [194]. 285 Umfassend Roth, Berufungszulassungsgrund der „ernstlichen Zweifel“, Seite 425 f.; vergleiche auch Huber, Auswirkungen, Seite 1082; Buscher, Zulassungsberufung, Seite 147 ff. 281

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

ben als zwischen zwei Meinungen, Haltungen, Bedeutungen, Naturen stehend, als ‚unsicher in der Bildung eines Urteils‘, im religiösen Sinne als ‚im Glauben schwankend‘; als ‚unentschlossen‘; als ‚ungläubig‘ gegenüber unwahrscheinlichen Meinungen, Geschehnissen, oder als ‚vom ungewissen Ausgang‘. Der Begriff des „Zweifels“ bezeichnet den Zustand des Menschen, gespaltenen, zweigeteilten Sinnes zu sein 287: Die Grundbedeutung der Zweiheit tritt als Ungewissheit angesichts zweier Möglichkeiten des Entscheidens oder Handelns hervor. „Ernstlich“ bedeutet gravierend, wohl gerüstet, streitbar 288, in hohem Maße; der Begriff „Ernst“ meint insoweit das wirklich Gemeinte, Wahre, Feste und Eifrige, im Gegensatz zu Scherz und Spaß 289. „Ernstlich“ ist etwas nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, wenn es nachdrücklich, gewichtig und eindringlich ist 290. Die Bedeutung der Begriffe „ernstlich“ und „Zweifel“ in ihrer Summe macht daher vom Wortlaut her zwar deutlich, dass die Bedenken gegen die Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung von gewissem Gewicht sein müssen. Welches Gewicht diese Bedenken erreichen müssen, um die Zulassung des Rechtsmittels zu rechtfertigen, lässt sich dem Wortlaut der Vorschrift dagegen nicht entnehmen 291. Die Forderung, dass die Ausgangsentscheidung „grob ungerecht“ und nicht mehr „vertretbar“ sein müsse 292, findet daher schon in dem Wortlaut der Norm ebenso wenig eine Stütze wie die von Berkemann 293 geäußerte Auffassung, dass eine andere Auffassung als die der Vorinstanz allein mit gewichtigen Gründen „vertretbar“ sein müsse, um ernstliche Zweifel begründen zu können, oder die Auffassung von Roth, der alle nicht offensichtlich aussichtslosen Berufungen zulassen will 294. Denn die letztgenannten Auffassungen lassen allein Zweifel genügen. Aus der genannten Wortlautauslegung hat der Bundesfinanzhof 295 für den Bereich der Aussetzung der Vollziehung eines Verwaltungsaktes im Abgabenrecht 286

Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, „Zweifel“. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, „Zweifel“. 288 Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, „ernstlich“. 289 Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, „Ernst“. 290 Roth, Berufungszulassungsgrund der „ernstlichen Zweifel“, Seite 418 ff. 291 Zu einer Zulassung der Beschwerde vergleiche Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 6. November 1997, – 11 B 2005/97 –, NVwZ 1998, 283; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 76; Baumgärtel, Zulassungsberufung, Seite 68. 292 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10. Juni 1997, – 7 S 662/97 –, NVwZ-RR 1998, 31 – 34; Bader, Sechstes Gesetz, Seite 446; Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 20. 293 Berkemann, Verwaltungsprozessrecht, Seite 455. 294 Roth, Berufungszulassungsgrund der „ernstlichen Zweifel“, Seite 432. 295 BFH, Beschluss vom 10. Februar 1967, – III B 9/66 –, BFHE 87, 447. 287

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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gefolgert, dass der Begriff der „ernstlichen Zweifel“ im Sinne eines bestimmten Maßes der Unentschiedenheit, der Unsicherheit oder der Unklarheit bei der Prüfung, ob der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig oder rechtswidrig sei, seiner Intensität nach mit Hilfe des Verstandes weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht messbar sei, und dass sich insoweit gedankliche Abstufungen einer rationalen Kontrolle entzögen. Denn messbar auf ihr Gewicht seien allenfalls die Faktoren, die Anlass zum Zweifel gäben, nicht aber die Zweifel selbst 296. Hiergegen spricht jedoch, dass der Begriff der „ernstlichen Zweifel“ an der Richtigkeit des Urteils in § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wie jeder unbestimmte Rechtsbegriff einer Auslegung fähig und bedürftig ist. Die Auslegung derartiger unbestimmter Rechtsbegriffe ist vielmehr tägliche juristische Arbeit. So wird der Begriff der „ernstlichen Zweifel“ etwa auch in der Regelung des § 87a Abs. 5 Satz 2 der Abgabenordnung 297 über die elektronische Kommunikation verwendet, wonach der Anschein der Echtheit eines mit einer qualifizierten elektronischen Signatur nach dem Signaturgesetz übermittelten Dokuments, der sich auf Grund der Prüfung nach dem Signaturgesetz ergibt, nur durch Tatsachen erschüttert werden kann, die ernstliche Zweifel daran begründen, dass das Dokument mit dem Willen des Signaturschlüssel-Inhabers übermittelt worden ist. Nach § 63 Abs. 2 des Bundesdisziplinargesetzes 298 sind die vorläufige Dienstenthebung und die Einbehaltung von Bezügen auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit bestehen. § 4 Abs. 3 Nr. 4 des Börsengesetzes 299 bestimmt, dass die Erlaubnis insbesondere zu versagen ist, wenn sich aus den von dem Antragsteller vorgelegten Unterlagen ernstliche Zweifel an seiner Fähigkeit ergeben, die sich aus diesem Gesetz ergebenden Anforderungen an den Betrieb der Börse zu erfüllen. Die Liste von Normen, die den Begriff der „ernstlichen Zweifel“ auf ihrer Tatbestandsseite aufweisen, ist beliebig fortführbar. Selbst auf verfassungsrechtlicher Ebene formuliert Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG 300, dass bei offensichtlich unbegründeten Asylbegehren das Gericht Vollzugsmaß296 Bezüglich der Bestimmtheit ebenfalls „erhebliche Probleme“ sehend Schenke, „Reform“ ohne Ende, Seite 91. 297 Abgabenordung (AO) in der Fassung der Neubekanntmachung vom 01. Oktober 2002, BGBl. I 2002, Seite 3866 und BGBl. I 2003, Seite 61, zuletzt geändert durch zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 28. April 2011, BGBl. I Seite 676. 298 Bundesdisziplinargesetz (BDG) vom 09. Juli 2001, BGBl. I 2001, Seite 1510, zuletzt geändert durch Art. 12b des Gesetzes vom 5. Februar 2009, BGBl. I Seite 160. 299 Börsengesetz vom 16. Juli 2007, BGBl I 2007, 1330, 1351, zuletzt geändert durch Art. 3a des Gesetzes vom 20. März 2009, BGBl. I Seite 609. 300 Art. 16a GG in der Fassung des Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes vom 28. Juni 1993, BGBl. 1993 I Seite 1002, der nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996, – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 –, BGBl. I S. 952 –952 mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar ist.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

nahmen nur dann aussetzt, „wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen“. In all den genannten Normen ist der Begriff soweit es geht zu konturieren; dass Restunschärfen bleiben können, macht eine Auslegung nicht unmöglich, sondern allein nötig. Auch wenn zuzugestehen ist, dass die Arbeit mit unbestimmten Rechtsbegriffen insbesondere dann, wenn es um den Zugang zu dem Rechtsmittelgericht geht, unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 Abs. 1 GG – gleicher Zugang zum Gericht – nicht optimal ist, ist sie angesichts des Fehlens eindeutigerer Abgrenzungskriterien alternativlos 301. Festzustellen ist vielmehr, dass der Wortlaut des Berufungszulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sowohl offen für eine Auslegung dahingehend ist, dass überwiegende Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs gegeben sein müssten, als auch für eine Auslegung, nach der sich die Gründe für und gegen die Ergebnisrichtigkeit des angefochtenen Urteils nur gleichgewichtig gegenüberstehen müssen, um eine Rechtsmittelzulassung zu tragen. Gegen eine Übertragung der Auslegungsergebnisse der herrschenden Meinung zu dem Begriff der ernstlichen Zweifel in § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO auf das Berufungszulassungsrecht spricht entscheidend der systematische Unterschied zwischen den Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes und dem Berufungszulassungsrecht 302: Der Prüfungsmaßstab der herrschenden Meinung für den Sofortvollzug im Abgabenrecht berücksichtigt, dass dem Betroffenen insbesondere aufgrund der Liquidität der öffentlichen Hand regelmäßig keine irreparablen Nachteile drohen und dass der Gesetzgeber in § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO von der Kraft Gesetzes eintretenden sofortigen Vollziehbarkeit von öffentliche Abgaben und Kosten betreffenden Bescheiden ausgeht. Dieser Prüfungsmaßstab ist dann jedoch für die Frage der Eröffnung der Berufungsinstanz offensichtlich unzutreffend, da gemäß § 124a Abs. 5 Satz 3 VwGO mit der Ablehnung des Antrages auf Zulassung der Berufung das Urteil rechtskräftig wird und damit der irreparable Nachteil für den Betroffenen eintritt 303. Dies bedeutet, dass es einen derartigen strukturellen Unterschied zwischen – durch die Entscheidung in der Hauptsache korrigierbaren – Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes in öffentliche Abgaben und Kosten betreffenden Streitigkeiten einerseits und bei einer Ablehnung des Zulassungsantrages unmittelbar zur Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung führenden Berufungszulassungsver301

Schmieszek, Sechstes Gesetz, Seite 1153. Zu einer Zulassung der Beschwerde vergleiche Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 6. November 1997, – 11 B 2005/97 –, NVwZ 1998, 283; Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7; Schmidt, 6. VwGO-Änderungsgesetz, Seite 697; Buscher, Zulassungsberufung, Seite 145 ff. 303 Roth, Berufungszulassungsgrund der „ernstlichen Zweifel“, Seiten 418, 421 f. 302

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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fahren andererseits gibt, der es verbietet, den von der herrschenden Meinung für den Begriff der „ernstlichen Zweifel“ in § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO entwickelten Prüfungsmaßstab auf die Auslegung des Begriffs der „ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils“ in § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu übertragen 304. Vorläufige Rechtsschutzverfahren sind anders als Entscheidungen über Berufungszulassungsanträge nicht geeignet, irreparable Nachteile und damit endgültiges materielles Unrecht zu schaffen 305. Dass der Gesetzgeber dies in den dargestellten Gesetzesmaterialien anders gesehen hat, hindert diese Auslegung nicht. Zwar kommt insbesondere bei zeitlich neuen und sachlich neuartigen Regelungen den anhand des Gesetzgebungsverfahrens deutlich werdenden Regelungsabsichten des Gesetzgebers erhebliches Gewicht bei der Auslegung zu, sofern Wortlaut und Sinnzusammenhang der Norm Zweifel offenlassen 306. Daher darf in ihrem Grundsatz die Auslegung über die erkennbare Regelungsabsicht des Gesetzgebers in einer solchen Lage nicht hinweggehen 307. „Dies gilt allerdings nur für die in dieser Regelung erkennbar ausgeprägten und in ihr angelegten Grundentscheidungen, Wertsetzungen und Regelungszwecke; konkrete Vorstellungen, die von Ausschüssen oder einzelnen Mitgliedern der gesetzgebenden Körperschaften über die nähere Bedeutung oder Reichweite einer einzelnen Bestimmung, eines Normbestandteils oder eines Begriffs und ihrer Handhabung wie Wirkung geäußert werden, stellen für die Gerichte jedenfalls nicht eine bindende Anleitung dar, so erhellend sie im Einzelfall für die Sinnermittlung auch sein mögen [...]. Sie sind als solche nicht schon Inhalt des Gesetzes.“ 308 Um ein derartiges bloßes (fehlgehendes) Begriffsverständnis handelt es sich indes hier. Zudem ist die historische Auslegung nur eine von mehreren Auslegungsmethoden 309; sie ist „kein autorisiertes Sprachrohr des Gesetzgebers“ 310. Die Forderung nach einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs der Berufung vernachlässigt demgegenüber in systematischer Hinsicht die Zweistufigkeit des Berufungszulassungsverfahrens, das in einer Art „Vorprüfung“ nur über die Zulassung entscheidet und erst nach einer Zulassung der Berufung und der Erfüllung der weiteren skizzierten formellen Anforderungen eine umfassende Prüfung der Sach- und Rechtslage und damit die Frage des Erfolgs der Berufung 304

Berkemann, Verwaltungsprozessrecht, Seite 454. Roth, Berufungszulassungsgrund der „ernstlichen Zweifel“, Seite 425; Baumgärtel, Zulassungsberufung, Seite 76 ff. 306 BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 1980, – 1 PBvU 1/79 –, BVerfGE 54, 277 –300. 307 BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 1980, – 1 PBvU 1/79 –, BVerfGE 54, 277 –300. 308 BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 1980, – 1 PBvU 1/79 –, BVerfGE 54, 277 –300. 309 Im Problembewusstsein daher überladen Roth, Berufungszulassungsgrund der „ernstlichen Zweifel“, Seite 434 ff. 310 Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 581. 305

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

zum Prüfungsgegenstand hat. Eine umfassende Überprüfung der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils ist aber nach der Systematik des Berufungsrechts dem Berufungsverfahren selbst vorbehalten 311. Ferner sprechen Argumente der System- und Funktionsgerechtigkeit gegen diese Ansicht. Denn die genanten Ziele der Einführung der Zulassungsberufung – Entlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und Verfahrensbeschleunigung – gebieten den schärferen Prüfungsmaßstab einer höheren Wahrscheinlichkeit des Erfolgs des Rechtsmittels als seines Misserfolgs nicht. Auch verweigert ein derartiger angehobener Prüfungsmaßstab in einer Vielzahl von Verfahren den Zugang zu den Berufungsverfahren, obwohl das Rechtsmittel Erfolg haben wird. Eine solche Auslegung wird daher letztlich dem Anliegen des Gesetzgebers 312 weniger gerecht, materiell unrichtige Entscheidungen zu verhindern, und schränkt damit den Zugang zu den Berufungsverfahren auf eine aus Sachgründen nicht gebotene Weise unzumutbar und damit nach dem oben zur Darlegung gesagten verfassungsrechtlichen Maßstab 313 gegen Art. 19 Abs. 4 GG bzw. Art. 20 Abs. 3 GG verstoßend ein. Ein erstinstanzliches Urteil gegen sich gelten lassen zu müssen, für oder gegen dessen Richtigkeit selbst nach der Ansicht des Oberverwaltungsgerichts sich die Gründe die Waage halten, kann von einem Bürger nur als staatliche Willkür empfunden werden 314; es erscheint rechtsstaatlich unerträglich, von dem Oberverwaltungsgericht bescheinigt zu bekommen, dass das angefochtene Urteil zwar mit hälftiger Wahrscheinlichkeit falsch sei 315, man aber wegen der Entlastungsfunktion des Berufungszulassungsrechts von seiner Überprüfung Abstand nehme 316. Für den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Ergebnisrichtigkeit 317 der Entscheidung reicht es daher aus, dass ein die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden 318. In dem Ergebnis ist daher für die Prüfung des Vorliegens ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu fordern, dass der Erfolg der Berufung zumindest ebenso wahrscheinlich ist wie ihr Misserfolg. 311 BVerfG, Beschluss vom 15. Februar 2011, – 1 BvR 980/10 –, NVwZ-RR 2011, 460 [Rn. 17]. 312 BT-Ds. 13/3993. 313 Siehe oben III. 1. f) ff). 314 Roth, Berufungszulassungsgrund der „ernstlichen Zweifel“, Seite 428. 315 Vgl. auch schon BT-Ds. 13/3993, Seite 21 f. 316 Roth, Berufungszulassungsgrund der „ernstlichen Zweifel“, Seite 428. 317 Hierzu siehe sogleich III. 2. a) bb). 318 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, DVBl. 2000, 1458 [1459].

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Soweit Baumgärtel 319 nach umfassender Analyse zu dem Ergebnis zu kommen meint, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO dann bestünden, „wenn das OVG den Fall zu Ende denken kann, aber (im summarischen Zulassungsverfahren) das erstinstanzliche Urteil entweder für unrichtig hält oder nicht abschließend beurteilen kann, ob die Entscheidung des Verwaltungsgerichts richtig oder falsch ist“, ist ein substantieller Unterscheid zu der herrschenden Meinung nicht zu erkennen. Ein offensichtliches Fehlurteil wird von der soeben gegebenen Formulierung „zumindest“ in Bezug auf die hälftige Erfolgswahrscheinlichkeit mit abgedeckt. Kann man die Ergebnisrichtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts in dem Berufungszulassungsverfahren nicht abschließend beurteilen, so liegt darin eine mindestens hälftige Erfolgswahrscheinlichkeit. bb) Begriffsbestimmung der „Richtigkeit des Urteils“ (1) Streitstand Ebenfalls umstritten ist 320, ob es für die Beurteilung der Frage, ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen, auf die für sie angeführten Gründe oder auf das Ergebnis der Entscheidung ankommt. Von der Beantwortung dieser Frage hängt mit ab, ob das Oberverwaltungsgericht andere als die dem angefochtenen Urteil beigegebenen Gründe berücksichtigen darf. Insoweit wird vertreten, dass auch schon eine Fehlerhaftigkeit der von der Vorinstanz gegebenen Begründung die Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu begründen vermöge 321. Auch ein verwaltungsgerichtliches Urteil, das von einer unzutreffenden Begründung getragen werde, sei grundsätzlich korrekturbedürftig und damit auch berufungswürdig 322. Zur Begründung ist angeführt worden, dass der Gesetzgeber im Berufungszulassungsrecht in § 124a VwGO zwischen der Begründung des Zulassungsantrags im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO und der Begründung des Rechtsmittels selbst im Sinne von § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO nach seiner Zulassung bewusst unterscheide. Aus dieser normativen Unterscheidung folge, dass für die Begründung des Zulassungsantrages ernstliche Zweifel an der von dem Verwaltungsgericht gegebenen Begründung genügten, und dass die umfassenden rechtlichen Darlegungen zu allen Rechtsproblemen, deren Relevanz der Sachverhalt indiziere, erst danach in der Berufungsbegründung zu erfolgen habe. Der Gedanke der Entkoppelung von Zulassungs- und Berufungsverfahren fordere die Berufungszulassung bereits 319

Baumgärtel, Zulassungsberufung, Seite 88. Vgl. die Nachweise bei Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 a. 321 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Oktober 1997, – NC 9 S 20/97 –, NVwZ 1998, 196 -197; Quaas, 6. VwGO-Änderungsgesetz, Seite 703. 322 Uechtritz, 6. VwGO-Novelle, Seite 1219. 320

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

dann, wenn die von dem Verwaltungsgericht gegebene Begründung fehlerhaft sei 323. Eine Prüfung, ob über die Prüfung der Fehlerhaftigkeit der von der Vorinstanz gegebenen Begründung hinaus auch ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Entscheidungsergebnisses bestünden, sei in dem Verfahren auf Zulassung der Berufung demgegenüber nicht notwendig. Dies folge zunächst aus dem Wortlaut des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Bei dieser Norm sei Bezugspunkt des Zulassungstatbestandes das Urteil des Verwaltungsgerichts; auf das künftige Berufungsverfahren nehme die Norm dagegen keinen Bezug. Damit spreche bereits der Wortlaut der Vorschrift dafür, dass im Berufungszulassungsverfahren lediglich die verwaltungsgerichtliche Entscheidung auf ihre Richtigkeit hin überprüft, darüber hinaus aber keine Prognose über die Erfolgsaussichten des zuzulassenden Rechtsmittels abgegeben werden solle. Anderenfalls hätte eine andere Formulierung des Zulassungstatbestandes nahe gelegen, etwa dahingehend, dass das Rechtsmittel bei hinreichender Erfolgsaussicht zuzulassen sei 324. Eine derartige Formulierung sei von Sendler 325 während der dem 6. VwGOÄndG vorausgegangenen jahrzehntelangen Diskussion um die Einführung einer Berufungszulassung (in der VwPO 326) vorgeschlagen, jedoch von dem Gesetzgeber nicht übernommen worden. Ferner wird für das Unterfallen von Begründungsfehlern unter den Zulassungsgrund die Systematik der das Zulassungsverfahren regelnden §§ 124, 124a VwGO als Argument angeführt. Gemäß § 124a Abs. 4 S. 4 VwGO seien in dem Zulassungsantrag die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Wenn nach der Rechtsprechung hieraus gefolgert werde, dass sich die ernstlichen Zweifel ohne eine Aufarbeitung und Durchdringung des gesamten bisherigen Prozessstoffes unmittelbar aus der Antragsbegründung im Zusammenspiel mit der angegriffenen Entscheidung selbst schlüssig ergeben müssten 327, so sei dem zuzustimmen. Es könne jedoch nicht gefordert werden, dass die Antragsbegründung darüber hinaus auch die hinreichend verlässliche Aussage ermöglichen müsse, das noch zuzulassende Rechtsmittel werde wahrscheinlich zum Erfolg führen, weil die Entscheidung auch in ihrem Ergebnis unzutreffend sei. Denn die Erfolgsaussicht des zuzulassenden Rechtsmittels könne vielfach erst nach einer Aufarbeitung und Durchdringung des gesamten bisherigen Prozessstoffes beur323

Uechtritz, Konkretisierung, Seite 69. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Oktober 1997, – NC 9 S 20/97 –, NVwZ 1998, 196 -197. 325 Sendler, Instanzenzug. 326 Zu einer einheitlichen Prozessordnung der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten umfassend Herrmanns, Einheit der Verwaltungsgerichtsbarkeit, vgl. im Übrigen Jessen, Rechtsmittelzug, Seite 410. 327 So etwa VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. April 1997 –14 S 913/97 –, NVwZ 1997, 1230 -1231. 324

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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teilt werden. Werde etwa von dem Verwaltungsgericht zu Unrecht das Vorliegen einer Prozessvoraussetzung verneint und die Klage als unzulässig abgewiesen, so lasse sich die Frage, ob die Klage in der Sache Erfolg haben werde, ohne Aufarbeitung und Durchdringung des gesamten bisherigen Prozessstoffes nicht beurteilen, obwohl das Verwaltungsgericht in keiner Weise auf eine sachliche Prüfung eingegangen sei. Auch der Zulassungsantragsteller sei durch das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO insoweit nicht verpflichtet, sich mit der von dem Verwaltungsgericht überhaupt nicht in den Blick genommenen materiellen Rechtslage auseinander zu setzen; das Darlegungsgebot verlange ein Eingehen auf diese nicht. Denn der Prüfungsgegenstand im Zulassungsverfahren sei auf die Antragsbegründung und die angegriffene Entscheidung beschränkt. Hieraus folge, dass in einem Berufungszulassungsverfahren lediglich die Richtigkeit der Entscheidung in ihren entscheidungserheblichen Gründen beurteilt werden könne. Auch dies spreche für eine Überprüfung der Richtigkeit allein der Begründung der Vorinstanz in einem Berufungszulassungsverfahren 328. Auch der von dem Berufungszulassungsverfahren erstrebte Entlastungseffekt sei mit einer Ergebniskontrolle aus anderen, dem Urteil nicht beigegebenen Gründen unvereinbar 329. Würde es bei der Zulassung des Rechtsmittels auf dessen voraussichtliche Erfolgsaussicht und damit auf die Ergebnisrichtigkeit der Entscheidung ankommen, so würden sich darüber hinaus auch bei der Durchführung des Zulassungsverfahrens erhebliche Schwierigkeiten ergeben. Denn um den Darlegungsanforderungen nach § 124a Abs. 4 S. 4 VwGO zu genügen reiche es aus, wenn Rechtsfragen nur insoweit aufgearbeitet würden, wie dies nach Maßgabe der Begründung in der angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts erforderlich sei. Rechtsfragen, die in der Begründung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung keine Rolle gespielt hätten, bräuchten in einem Regelfall in dem Rahmen des Zulassungsverfahrens nicht erörtert zu werden, um Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung darzulegen. Denn die von dem Verwaltungsgericht nicht erörterten Rechtsfragen seien für dieses nicht entscheidungserheblich gewesen; ob sie im Rahmen eines Berufungsverfahrens entscheidungserheblich sein könnten, vermöge der Zulassungsantragsteller zum Zeitpunkt der Stellung des Zulassungsantrags häufig nicht abzuschätzen, weil dies regelmäßig von der rechtlichen Würdigung durch das Oberverwaltungsgericht in dem jeweiligen Einzelfall abhängen werde. Es würde den Zugang zur zweiten Instanz in unzumutbarer Weise erschweren, wenn von dem in der ersten Instanz Unterlegenen

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VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Oktober 1997, – NC 9 S 20/97 –, NVwZ 1998, 196 -197. 329 Quaas, 6. VwGO-Änderungsgesetz, Seite 703; Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 26.1.

108

III. Das Berufungszulassungsverfahren

gefordert werden würde, sich gewissermaßen hypothetisch mit allen denkbaren rechtlichen Würdigungen auseinander zu setzen. In dem Rahmen der Zulassungsentscheidung prüfe das Obergericht ferner lediglich, ob es hinreichende Gründe dafür sehe, sich mit der Berufung sachlich zu befassen und dann eine Entscheidung zur Sache zu treffen. Die Zulassung der Berufung nehme diese Prüfung des Erfolgs der Berufung selbst nicht vorweg, sondern verschaffe dem Obergericht nur die Möglichkeit, das Rechtsmittel auf seine sachliche Berechtigung hin zu überprüfen. Die Vorbereitung, die der Zulassungsausspruch für das nachfolgende Rechtsmittel leiste, erschöpfe sich in der Überwindung der Zulassungsschranke. Das Obergericht habe sich deshalb in dem Rahmen des Zulassungsverfahrens nur mit den von dieser Schranke ausgehenden Fragen zu beschäftigen 330. Eine Prüfung der Erfolgsaussichten des noch zuzulassenden Rechtsmittels bereits in dem Zulassungsverfahren sei mit diesem Sinn und Zweck nicht vereinbar. Die gegenteilige Auffassung führe dazu, dass bereits in dem Zulassungsverfahren eine Sachentscheidung über das Rechtsmittel selbst getroffen werden müsse 331. Hiernach 332 ist in einem Berufungszulassungsverfahren eine substituierende Ergebnisprüfung – also eine solche, bei der das Oberverwaltungsgericht die vorinstanzliche Entscheidungsgrundlage im Berufungszulassungsverfahren „austauscht“ und so zur Ergebnisrichtigkeit gelangt – unzulässig, da hierdurch ein abstrakt noch gegebenes Rechtsmittel zum nächsthöheren Gericht endgültig verschlossen werde. Ferner wird angeführt 333, dass der systematische Unterscheid zwischen dem Berufungszulassungs- und dem Berufungsverfahren dazu zwinge, dass sich das Oberverwaltungsgericht bei seiner Kontrolle auch zu Lasten des Berufungszulassungsantragsstellers auf das angefochtene Urteil und den Berufungszulassungsantrag beschränken müsse; rechtliche Erwägungen oder tatsächliche Würdigungen, die das Verwaltungsgericht nicht angestellt habe, seien daher auch dem Obergericht verwehrt. Für ein Abstellen (auch) auf die Begründung bei der Prüfung des Vorliegens ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kann ferner die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 334 330

VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Oktober 1997, – NC 9 S 20/97 –, NVwZ 1998, 196 – 197; für das Revisionsrecht umfassend Weyreuther, Revisionszulassung, Randnummern 31 ff. 331 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Oktober 1997, – NC 9 S 20/97 –, NVwZ 1998, 196 -197. 332 Berkemann, Verwaltungsprozessrecht, Seite 458. 333 Baumgärtel, Zulassungsberufung, Seite 100 ff [insbesondere Seiten 103 und 105]. 334 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, NVwZ 2000, 1163 [1164]; ähnlich BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 2009, – 1 BvR 812/09 –, NJW 2010, 1062 [1063].

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

109

angeführt werden, nach der „ernstliche Zweifel an der Richtigkeit einer Gerichtsentscheidung [...] immer schon dann begründet [sind], wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden“. Die Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts scheinen damit nicht auf das Urteilsergebnis der Entscheidung abzustellen 335. Die herrschende Meinung stellt demgegenüber auf die Richtigkeit des Ergebnisses der Entscheidung ab 336. Bei der Beurteilung, ob ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden, komme es nicht darauf an, ob die von dem Gericht für seine Entscheidung angeführten Gründe zutreffend seien; notwendig seien vielmehr ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit des von dem Verwaltungsgericht gefundenen Ergebnisses 337. Denn das von dem Zulassungsantragsteller favorisierte Entscheidungsergebnis – auf dieses und nicht auf einzelne Begründungselemente kommt es dabei an 338 – sei Gegenstand des Berufungszulassungsantrages. Hiernach 339 prüfe das Oberverwaltungsgericht in dem Rahmen der Zulassungsentscheidung in materieller Hinsicht nicht nur, ob entsprechend dem Dargelegten im Zulassungsantrag ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Begründung der Entscheidung bestünden, sondern stelle auf die Ergebnisrichtigkeit ab. Als Argument wird von der herrschenden Meinung insoweit zunächst der Wortlaut des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO angeführt, nach dem sich die ernstlichen Zweifel auf die Richtigkeit „des Urteils“ und damit nicht auf die Entscheidungsgründe, sondern auf das Entscheidungsergebnis – gleichsam auf die Richtigkeit 335

Zu dieser Rechtsprechung kritisch und mit weiteren Nachweisen zur Kritik Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 15. 336 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 19. September 2002, – 10 LA 132/02 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 27. März 1997, – 12 M 1731/97-, NVwZ 1997, 1225 [1228]; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 23. August 2007, – 5 LA 123/ 06 –, Juris; BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004, – BVerwG 7 AV 4.03 –, DVBl. 2004, 838 [839]; Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 a; Günther, Berufungszulassung wegen „ernstlicher Zweifel“, Seite 472; Bader, Praktische Erfahrungen, Seite 406; differenzierend Heinig, Ernstliche Zweifel, Seite 525; Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 12. 337 Bayerischer VGH, Beschluss vom 25. Oktober 2005, – 9 ZB 04.371 –, Juris; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 12. November 2001, – 4 LA 3010/01 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/; OVG Hamburg, Beschluss vom 20. Februar 1997, – Bs IV 19/97 –, DVBl. 1997, 1333; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21. April 1997, – 8 S 667/97 –, VBlBW 1997, 380; Hessischer VGH, Beschluss vom 15. Juli 1997, – 13 TZ 1947/97 –, HessJMBl. 1997, 818. 338 Bayerischer VGH, Beschluss vom 25. Oktober 2005, – 9 ZB 04.371 –, Juris; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 08. August 2002, – 1 LA 3471/01 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 339 Oberverwaltungsgericht für das Land Brandenburg, Beschluss vom 13. Oktober 1999, – 2 A 175/99 –, LKV 2000, 256 – 258.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

des Tenors – bezögen 340. Ergäben sich nach dem Dargelegten ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der das angefochtene Urteil tragenden Erwägungen, scheide eine Zulassung somit gleichwohl aus, wenn sich das Entscheidungsergebnis nach dem vorliegenden Sach- und Streitstand und unter Berücksichtigung der Ausführungen der Beteiligten im Zulassungsverfahren ohne vertiefende Prüfung der Sach- und Rechtslage ohne weiteres aus anderen Gründen als richtig erweise 341. Es bedürfe daher keiner Entscheidung darüber, ob ein Begründungselement der Entscheidung der Vorinstanz als solches rechtlichen Bedenken ausgesetzt sei, wenn sich das Urteil in seinem Ergebnis jedenfalls aus anderen, ihm nicht beigegebenen Gründen als richtig erweise 342. Durch eine solche Prüfung erfolge keine mit seinem Sinn und Zweck unvereinbare Ausweitung des Zulassungsverfahrens, sondern werde im Gegenteil dem mit der Einführung der Berufungszulassung durch das Sechste Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze verfolgten Ziel einer Beschleunigung der Verfahren in der Berufungsinstanz entsprochen 343. Es würde nämlich zu einer unsachgemäßen Verzögerung der abschließenden Entscheidung des Rechtsstreits führen, wenn die Berufung zugelassen werden müsste, obwohl diese anschließend in dem Berufungsverfahren ohne weitergehende Sachprüfung sogleich zurückzuweisen wäre; das Zulassen des Rechtsbehelfs schöbe daher lediglich den Rechtsfrieden auf 344. Bei einer in ihrem Ergebnis – auch aus anderen, ihr nicht beigegebenen Gründen – „richtigen“ Entscheidung müsse die Einzelfallgerechtigkeit, der § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu dienen bestimmt sei, nicht mehr verwirklicht werden 345. Rechte des Zulassungsantragstellers würden bei einer Berücksichtigung offen zu Tage tretender Gründe 346, die zu der offensichtlichen Ergebnisrichtigkeit des Urteils führten, nicht verkürzt, da ihm vor einer Ablehnung des Antrages wegen einer Richtigkeit der Entscheidung aus anderen Gründen insoweit rechtliches Gehör zu gewähren sei 347; der Berufungszulassungsantragssteller werde also nicht „überrascht“ 348. 340 Günther, Berufungszulassung wegen „ernstlicher Zweifel“, Seite 472; Niesler, Berufung im Verwaltungsprozess, Seite 730. 341 Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 581. 342 Bayerischer VGH, Beschluss vom 25. Oktober 2005, – 9 ZB 04.371 –, Juris. 343 OVG Berlin, Beschluss vom 19. August 1997, – 8 SN 295/97 –, NVwZ 1998, 197; Günther, Berufungszulassung wegen „ernstlicher Zweifel“, Seite 473. 344 OVG Berlin, Beschluss vom 19. August 1997, – 8 SN 295/97 –, NVwZ 1998, 197. 345 Günther, Berufungszulassung wegen „ernstlicher Zweifel“, Seite 473: Eine derartige Entscheidung sei nicht „ungerecht“. 346 BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004, – BVerwG 7 AV 4.03 –, NVwZ-RR 2004, 542. 347 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21. April 1997, – 8 S 667/97 –, DVBl 1997, 1327; Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124a Rn. 92; Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 42; Bader, Praktische Erfahrungen, Seite 406.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

111

Von Teilen der Rechtsprechung 349 wird – freilich ohne nähere dogmatische Begründung oder Herleitung – insoweit eine Analogie zu der das Revisionsrecht betreffenden Vorschrift des § 144 Abs. 4 VwGO gezogen, nach der in den Fällen, in denen die Entscheidungsgründe zwar eine Verletzung des bestehenden Rechts ergeben, sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig darstellt, die Revision zurückzuweisen ist 350. Vereinzelt wird in der Rechtsprechung 351 in Modifizierung eines Abstellens auf die Ergebnisrichtigkeit geprüft, ob die von dem Verwaltungsgericht nicht gesehenen Gründe, aus denen sich dessen Entscheidung in ihrem Ergebnis als richtig darstelle, nicht ihrerseits „wiederum auf einen anderen Zulassungsgrund hinführen“ würden. (2) Stellungnahme Entgegen der herrschenden Meinung spricht zwar der Wortlaut des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht für eine Überprüfung des Entscheidungsergebnisses, andererseits aber auch nicht dagegen 352. Denn der Begriff der „ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils“ lässt von seinem Wortlaut her sowohl eine Interpretation in Bezug auf die Ergebnisrichtigkeit als auch eine solche in Bezug auf die gegebene Begründung zu. Denn auch die Entscheidungsgründe sind nach § 117 Abs. 2 Nr. 5 VwGO notwendiger Bestandteil „des Urteils“, so dass sich die Zweifel an der „Richtigkeit“ auch auf dieses Urteilselement beziehen können 353. Der Gesetzgeber hat auch nicht etwa eine Einschränkung dahingehend vorgenommen, dass er in § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO den Begriff der Ergebnisrichtigkeit verwandt und etwa formuliert hätte, dass die Berufung zuzulassen sei, „wenn ernstliche Zweifel an dem von dem Verwaltungsgericht gefundenen Entscheidungsergebnis bestehen“. Dass allein der Tenor einer Entscheidung in Rechtskraft erwächst, ist insoweit ebenfalls kein Argument, da oftmals – etwa bei Verpflichtungs- und hier insbesondere bei Bescheidungsurteilen im Sinne von § 113 Abs. 5 VwGO – der Umfang der Verpflichtung der Behörde und etwa die Frage, ob aus einem Bescheidungsurteil die Vollstreckung betrieben wer348

Günther, Berufungszulassung wegen „ernstlicher Zweifel“, Seite 473. Bayerischer VGH, Beschluss vom 17. Juli 2008, – 19 ZB 08.1232 –, Juris. 350 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 22. August 2001, – 13 A 817/01 –, NVwz-RR 2002, 431 – 434; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Februar 2003, – 2 LA 2953/01 –, NordÖR 2003, 196; Bayerischer VGH, Beschluss vom 18. August 2008, – 19 ZB 07.931 –, Juris; kritisch Günther, Berufungszulassung wegen „ernstlicher Zweifel“, Seite 472. 351 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17. Februar 2009, – 10 S 3156/08 –, Juris. 352 Heinig, Ernstliche Zweifel, Seite 527. 353 Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 a. 349

112

III. Das Berufungszulassungsverfahren

den kann 354, erst unter Heranziehung der Entscheidungsgründe geklärt werden kann, deren Richtigkeit also auch eine große Bedeutung hat beziehungsweise jedenfalls haben kann. Aus dem Fehlen einer der Regelung des § 144 Abs. 4 VwGO entsprechenden Vorschrift, nach der im Revisionsrecht dann, wenn die Entscheidungsgründe zwar eine Verletzung des bestehenden Rechts ergeben, sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig darstellt, die Revision zurückzuweisen ist, kann einerseits geschlossen werden, dass der Gesetzgeber im Berufungszulassungsrecht ein Abstellen auf die Ergebnisrichtigkeit nicht anordnen wollte. Ebenso könnte andererseits insoweit von dem Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden. Die systematische Auslegung zu § 144 VwGO ist daher insoweit unergiebig 355. Als systematisches Argument könnte weiter angeführt werden, dass das Berufungsverfahren nach Einführung der Zulassungsregelungen dahingehend zweigeteilt ist, dass zwischen dem Verfahrensabschnitt der Zulassung der Berufung einerseits und einem Verfahrensabschnitt nach zugelassener Berufung mit gesonderter Begründungspflicht und -frist andererseits unterschieden werde, und dass es mit dieser Aufteilung kollidiere, schon dem Zulassungsverfahren mit dem Prüfen alternativer Begründungen für das Ergebnis Aufgaben des eigentlichen Berufungsverfahrens aufzubürden 356. Gegen dieses systematische Argument spricht jedoch entscheidend, dass auch bei der Berücksichtigung alternativer, dem Urteil nicht beigegebener Begründungen im Berufungszulassungsverfahren die beschriebene systematische Zweiteilung erhalten bleibt. Auch dieses systematische Argument ist daher unergiebig. Dass eine Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nur in Betracht kommt, wenn in einem Berufungsverfahren voraussichtlich ein anderes Ergebnis zu erwarten ist, rechtfertigt sich jedoch aus dem Sinn und dem Zweck des Zulassungsverfahrens. Die Neuregelung des Rechtsmittelrechts bezweckt die Konzentration des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes auf grundsätzlich eine Instanz; der Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hat bei der sich im Übrigen am Revisionsrecht orientierenden Neuregelung kein Vorbild im Recht der Revisionszulassung, sondern ist speziell auf das Berufungsverfahren zugeschnitten. Der Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO soll maßgeblich Richtigkeit im Einzelfall gewähr354 Hierzu etwa Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 28. November 2006, – 2 OB 1139/06 –, Veröffentlichung nicht bekannt. 355 Heinig, Ernstliche Zweifel, Seite 527 f. 356 Heinig, Ernstliche Zweifel, Seite 528; Baumgärtel, Zulassungsberufung, Seite 103.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

113

leisten; die maßgebliche Frage, die das Oberverwaltungsgericht zu entscheiden hat, geht also dahin, ob die Rechtssache richtig entschieden worden ist 357. Eine solche Überprüfung der von dem Verwaltungsgericht getroffenen Entscheidung soll daher nur dann erfolgen, wenn der Rechtsmittelführer gute Gründe angeben kann, die es rechtfertigen, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts einer nochmaligen Überprüfung und möglicher Weise ihrer Korrektur zugeführt wird. Steht bereits in einem Zulassungsverfahren fest, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts jedenfalls in ihrem Ergebnis zutreffend ist, so gibt es aber keinen tragfähigen Grund für die Durchführung eines Berufungsverfahrens. Die Durchführung eines Berufungsverfahrens würde vielmehr in einem diametralen Widerspruch zu der von dem Gesetzgeber mit der Neuordnung des Rechtsmittelrechts verfolgten Zielsetzung stehen und letztlich auch dem Rechtsmittelführer nur zusätzliche Lasten und Kosten bringen. Ein Berufungsverfahren soll aber nicht um eines Fehlers geführt werden, der mit Sicherheit für sein endgültiges Ergebnis bedeutungslos bleiben wird 358. Der von Berkemann 359 insoweit bei einer „substituierenden Ergebnisprüfung“ gesehene Verlust eines „abstrakt noch gegebenen Rechtsmittels“ ist aus Sicht des Rechtsmittelführers rein fiktiv, wenn dieses offensichtlich unbegründet ist. Damit scheidet die Zulassung des Rechtsmittels aus, wenn das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung eine fehlerhafte Begründung gegeben hat, auf die es rechtlich überhaupt nicht ankommt 360, gleichwohl aber die Entscheidung in ihrem Ergebnis aus anderen Gründen richtig ist 361. Es können daher solche Angriffe nicht zu einem Erfolg des Berufungszulassungsantrages führen, die zwar zu Recht eine fehlerhafte Entscheidungsbegründung rügen, bei denen sich aber die verwaltungsgerichtliche Entscheidung aus anderen Gründen, die bereits in dem Zulassungsverfahren ohne weitere Ermittlungen oder Beweisaufnahme feststehen, als in ihrem Ergebnis richtig erweist 362, bei denen also die von dem Berufungszulassungsgrund der ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils 357

542.

358

BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004, – BVerwG 7 AV 4.03 –, NVwZ-RR 2004,

BVerfG, Beschluss vom 23. Februar 2011, – 1 BvR 500/07 –, Juris [Rn. 15]. Berkemann, Verwaltungsprozessrecht, Seite 458. 360 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Februar 1998, – 7 S 216/98 –, NVwZ 1998, 645 -647. 361 BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004, – BVerwG 7 AV 4.03 –, NVwZ-RR 2004, 542; vgl. jedoch Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 a, die bei einer fehlerhaften Entscheidungsbegründung in der Regel eine Vermutung dafür, dass auch bezüglich des Entscheidungsergebnisses ernstliche Zweifel bestehen, als gegeben ansehen; dies verkennt jedoch, dass zwischen den anderen, der Entscheidung nicht beigegebenen Begründungen, die zu ihrer Ergebnisrichtigkeit führen, und den Gründen der Entscheidung keinerlei Zusammenhang bestehen muss. 362 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Februar 1998, – 7 S 216/98 –, NVwZ 1998, 645 – 647. 359

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu gewährleistende Gerechtigkeit im Einzelfall 363 in ihrem Ergebnis nicht tangiert ist. Die Heranziehung dieser für die Ergebnisrichtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts ohne weiteres auf der Hand liegenden, von dem Verwaltungsgericht nicht herangezogenen Gründe darf indes nicht über denjenigen Aufwand hinausgehen, der in einem Berufungszulassungsverfahren mit Blick auf dessen Zweck vernünftigerweise zu leisten ist 364. Besteht insoweit ein Mehraufwand, so ist die Berufung zuzulassen und in einem Berufungsverfahren die Prüfung vorzunehmen, ob das angefochtene Urteil sich aus anderen Gründen als richtig erweist 365. Selbstverständlich muss dem Berufungszulassungsantragssteller zu diesem neuen Gesichtspunkt vor einer den Berufungszulassungsantrag ablehnenden Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts rechtliches Gehör in dem Sinne des Art. 103 Abs. 1 GG gewährt werden 366. Ebenso scheidet die Zulassung der Berufung aus den genannten Gründen ferner dann aus, wenn die Entscheidung des Verwaltungsgerichts auf mehrere jeweils selbständig tragfähige Gesichtspunkte gestützt ist und der Rechtsmittelführer nur eine dieser alternativen Begründungen als fehlerhaft angreift 367. Ist daher das angegriffene Urteil auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, müssen hinsichtlich aller dieser Begründungen Zulassungsgründe hinreichend dargelegt werden und vorliegen 368, es sei denn, dass diese Begründungen von verschiedener Rechtskraftwirkung sind 369. Der von Teilen der Rechtsprechung 370 gezogenen Analogie zu § 144 Abs. 4 VwGO bedarf es nicht für dieses Ergebnis, das sich aus einer Auslegung des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nach den obigen Auslegungsmethoden ergibt und

363

542.

364

542.

365

542.

BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004, – BVerwG 7 AV 4.03 –, NVwZ-RR 2004, BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004, – BVerwG 7 AV 4.03 –, NVwZ-RR 2004, BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004, – BVerwG 7 AV 4.03 –, NVwZ-RR 2004,

366 BVerfG, Beschluss vom 15. Februar 2011, – 1 BvR 980/10 –, NVwZ-RR 2011, 460 [Rn. 16]; Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 42; Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 a; Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 26.1. 367 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Februar 1998, – 7 S 216/98 –, NVwZ 1998, 645 – 647. 368 Sächsisches OVG, Beschluss vom 27. Januar 2010, – 2 A 430/08 –, NVwZ-RR 2010, 624; Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 10; Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 38. 369 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 6. Juni 2008, – 5 LA 270/05 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 370 Bayerischer VGH, Beschluss vom 17. Juli 2008, – 19 ZB 08.1232 –, Juris.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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für das es insoweit an einer planwidrigen Regelungslücke als dogmatischer Voraussetzung jeder Analogie 371 fehlt. Soweit in der Rechtsprechung 372 in Modifizierung eines Abstellens auf die Ergebnisrichtigkeit darauf abgestellt wird, dass die von dem Verwaltungsgericht nicht gesehenen Gründe, aus denen sich dessen Entscheidung in ihrem Ergebnis als richtig darstelle, nicht ihrerseits „wiederum auf einen anderen Zulassungsgrund hinführen“ dürften, verkennt dies, dass in einem solchen Fall schon nicht von einer offen zu Tage tretenden Ergebnisrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung gesprochen werden könnte. Die Ergebnisrichtigkeit wäre vielmehr auch unter den nicht von dem Verwaltungsgericht gesehenen Begründungen in ihrem Ergebnis zweifelhaft, sodass für die Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag nichts gewonnen wäre. In diesem Kontext ist dann auch die genannte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 373, nach der „ernstliche Zweifel an der Richtigkeit einer Gerichtsentscheidung [...] immer schon dann begründet [sind], wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden“, dahingehend zu deuten, dass diese Rechtsprechung die Anforderungen, die unter dem Gesichtspunkt des Art. 19 Abs. 4 GG an die Darlegungen des Berufungszulassungsantragssteller gestellt werden dürfen, umreißt, dass diese Rechtsprechung aber nicht ausschließen will, dass das Berufungszulassungsbegehren aus anderen Gründen als den dem Urteil beigegebenen erfolglos bleibt. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in dem genannten Beschluss allein die Frage entschieden, „welche Anforderungen an die Darlegung von Gründen zu stellen sind, auf die im verwaltungsgerichtlichen Verfahren der Antrag auf Zulassung der Berufung gestützt werden kann“ 374. Schlussfolgerungen für sonstige Auslegungen der Norm – etwa die Berücksichtigungsfähigkeit dem Urteil nicht beigegebener, offen zu Tage tretender Gründe – lassen sich hieraus nicht ziehen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts betrifft allein den Darlegungsmaßstab.

371 Larenz, Methodenlehre, Seite 321; BVerwG, Beschluss vom 12. Januar 2009, – BVerwG 8 B 84.08 –, Juris. 372 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17. Februar 2009, – 10 S 3156/08 –, Juris. 373 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, NVwZ 2000, 1163 [1164]. 374 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, NVwZ 2000, 1163 [1163].

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

cc) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch das Oberverwaltungsgericht und Berücksichtigung neuen Tatsachenvortrages (1) Berücksichtigung neuen Tatsachenvortrags (a) Streitstand Streitig ist, ob ein auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützter Zulassungsantrag auch auf neue Tatsachen gestützt werden kann. Soweit nach materiellem Recht die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten verwaltungsbehördlichen Entscheidung maßgeblich ist, können sich schon aus diesem Grund aus einer späteren Änderung der Sach- und Rechtslage keine entscheidungserheblichen Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts ergeben 375. In diesen Fällen ist die Berücksichtigung neuer Tatsachen oder Beweismittel – ebenso wie die Berücksichtigung einer veränderten Rechtslage – vielmehr schon aus Gründen des materiellen Rechts ausgeschlossen 376. Anders kann es sich hingegen verhalten, wenn es nach dem materiellem Recht für die Entscheidung des Gerichts auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner Entscheidung ankommt 377, wie dies etwa bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Bauvorbescheids oder bei Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit einer Ausweisungsverfügung gegen assoziationsratsbeschlussbegünstigte türkische Staatsangehörige auf der Grundlage des Aufenthaltsgesetzes der Fall ist 378. Zu einem neuen Tatsachenvortrag, der dem Berufungszulassungsantragssteller erst nach dem Ergehen der Entscheidung der Vorinstanz bekannt geworden ist 379, ist vertreten worden, dass ein auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung gestützter Zulassungsantrag nicht auf einen neuen, in erster Instanz nicht unterbreiteten und von dem Verwaltungsgericht im Zeitpunkt seiner Entscheidung in seine rechtliche Würdigung

375

Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 12. Januar 1998, – 10 A 4078/97 –, NVwZ 1998, 754 – 755; Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 21. 376 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 9. Februar 1998, – 12 M 5642/97 –, Juris. 377 Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 c. 378 BVerwG, Urteil vom 02. September 2009, – BVerwG 1 C 2.09 –, Juris. 379 In dem oben geschilderten Bereich des Aufenthaltsrechts etwa das Verhalten des Ausländers in dem Zeitraum bis zu einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, seine Eheschließung mit einer Deutschen oder die Anerkennung der Vaterschaft für ein deutsches Kind.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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des ihm bekannten Sachverhalts nicht einbezogenen Sachverhalt gestützt werden könne 380. Insoweit ist angeführt worden 381, dass der aus einem neuen Sachverhalt abgeleitete Vortrag nicht dem Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechen könne, da die in der Antragsbegründung darzulegenden ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung nach dem Wortlaut und der Gesetzessystematik des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO stets einen konkreten Bezug zu den Gründen der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung aufweisen müssten, und dass diese gesetzlich vorgegebene Verknüpfung aufgegeben würde, wenn der Zulassungsvortrag auf neuen Sachvortrag gestützt werden könnte, der dem Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung nicht bekannt gewesen sei 382. Durch die Regelung des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO werde gesetzessystematisch eine enge tatbestandliche Verknüpfung zwischen einerseits dem Bestehen ernstlicher Zweifel und andererseits der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung hergestellt. Diese (untrennbare) Verbindung gelte gleichermaßen für die Bestimmung – und die Begrenzung – des in § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO normierten Darlegungserfordernisses und habe zur Folge, dass in dem Zulassungsverfahren grundsätzlich nur solche Darlegungen erheblich seien, die sich (zugleich auch) auf die anzufechtende Entscheidung und deren Richtigkeit bezögen 383. Werde die gesetzessystematisch vorgegebene Verbindung zu der Entscheidung hingegen dadurch gelöst, dass die Begründung für den Zulassungsantrag allein auf einen neuen Sachverhalt gestützt werde, der der Vorinstanz zuvor nicht unterbreitet worden sei und demzufolge keine Berücksichtigung in der Entscheidung habe finden können, blieben die aus dem neuen Sachverhalt hergeleiteten rechtlichen Erwägungen isoliert und ohne den von dem Gesetz geforderten Bezug zu der angefochtenen Entscheidung 384. In einem solchen Fall sei die Darlegung von Zulassungsgesichtspunkten auf der Grundlage eines neuen Sachverhalts in aller Regel schon nach der Gesetzessystematik nicht rechtserheblich 385. 380 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 9. Juni 1997, – 15 E 444/97 –, DVBl. 1997, 1337 f.; OVG Berlin, Beschluss vom 1. April 1998, – 2 SN 10.98 –, NVwZ 1998, 1093 f.; zur Zulassungsbeschwerde: OVG Berlin, Beschluss vom 26. Februar 1998, – 8 SN 28/98 –, NVwZ-RR 1999, 211; Berkemann, Verwaltungsprozessrecht, Seite 455. 381 Bader, Zulassungsberufung, Seite 411. 382 Frenzen, in: Brandt / Sachs, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, Teil Q Rn. 47 [Seite 792]. 383 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 9. Juni 1997, – 15 E 444/97 –, DVBl. 1997, 1337 f. 384 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 9. Juni 1997, – 15 E 444/97 –, DVBl. 1997, 1337 f. 385 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 9. Juni 1997, – 15 E 444/97 –, DVBl. 1997, 1337 f.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Ferner ist angeführt worden, dass die Einbeziehung neuen Tatsachenvortrags der Zielsetzung des Gesetzgebers zuwiderlaufe, das Rechtsmittelverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht im Interesse der Verfahrensbeschleunigung und zur Entlastung der zweiten Instanz zu straffen 386. Denn die Berücksichtigung neuer Tatsachen würde gegebenenfalls zu einer erheblichen Erweiterung des Streitstoffes in dem Zulassungsverfahren führen, ohne dass das Zulassungsverfahren, das insbesondere einer Aufklärung des Sachverhalts durch Beweiserhebung nicht zugänglich sei, hierauf zugeschnitten wäre 387. Das Berufungszulassungsverfahren dürfe nicht durch neue Tatsachen zu einem „kleinen Berufungsverfahren“ mutieren 388. Auch wurde angeführt, dass eine Missbrauchsgefahr dahingehend bestehe, dass es ein Zulassungsantragsteller bei Zulassung neuen Tatsachenvortrages weitestgehend selbst in der Hand hätte, sich den Vortrag neuer Tatsachen für den Zulassungsantrag gleichsam „aufzusparen“, um auf diese Weise die Zulassung des Rechtsmittels zu erzwingen, was den Zweck der Gesetzesnovelle weitgehend konterkarieren würde 389. Gegen eine Berücksichtigung neuer Tatsachen ist ferner geltend gemacht worden, dass die Konzeption des Berufungszulassungsrechts das Prüfprogramm des Oberverwaltungsgerichts auf den bisherigen Streitstoff beschränke 390, hingegen eine Berücksichtigung neuen Tatsachenvorbringens des Berufungszulassungsantrags das Prüfprogramm erweitere und so ernstliche Zweifel erst schaffe, anstatt sie lediglich aufzuzeigen 391. Nach einer einschränkenden Ansicht ist neuer Tatsachenvortrag jedenfalls dann zu berücksichtigen und müsse sich das Berufungsgericht dann mit neuen Tatsachen befassen, wenn in dem Zulassungsantrag auf sie hingewiesen worden sei 392 und wenn sie bis zu der Entscheidung über den Zulassungsantrag eingetreten seien 393.

386 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 12. Januar 1998, – 10 A 4078/97 –, NVwZ 1998, 754 [755]. 387 Frenzen, in: Brandt / Sachs, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, Q Rn. 47 [Seite 792]. 388 Uechtritz, Konkretisierung, Seite 69. 389 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 9. Juni 1997, – 15 E 444/97 –, DVBl. 1997, 1337 f. 390 OVG Berlin, Beschluss vom 26. Februar 1998, – 8 SN 28.98 –, NVwZ-RR 1999, 211. 391 OVG Berlin, Beschluss vom 26. Februar 1998, – 8 SN 28.98 –, NVwZ-RR 1999, 211. 392 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 21; Redeker, in: Redeker / von Oertzen, VwGO, § 124 Rn. 15 c; Buscher, Zulassungsberufung, Seite 191.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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(b) Stellungnahme Beiden genannten Ansichten ist nicht zu folgen. Ein Zulassungsantrag kann vielmehr auch auf neue Tatsachen gestützt werden, die vor dem Verwaltungsgericht nicht geltend gemacht worden sind, sondern erst nach dessen Entscheidung innerhalb der zweimonatigen Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO eingetreten sind oder die sich sogar innerhalb der zweimonatigen Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nur abzeichnen und erst nach deren Ablauf eintreten 394, oder die sogar erst bis zu der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Berufungszulassungsantrag eintreten 395, wenn maßgeblicher Zeitpunkt zu der Beurteilung der Sachlage nach dem materiellen Recht derjenige der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Zulassungsantrag ist. Dies ergibt eine Auslegung der Norm des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Zu der Frage der Berücksichtigungsfähigkeit neuer Tatsachen und Beweismittel im Rahmen des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO trifft diese Bestimmung zwar keine ausdrückliche Regelung 396. Der Wortlaut des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist für die Berücksichtigung neuen tatsächlichen Vorbringens jedoch offen 397. Das Adjektiv „richtig“ wird abgeleitet von „recht“ 398 und steht im begrifflichen Gegensatz zu „falsch“ 399. Der Begriff der „Richtigkeit des Urteils“ meint von seinem Wortlaut her folglich eine Übereinstimmung der Entscheidung mit der materiellen Rechtslage 400. Denn ein Urteil ist nach dem Sprachgebrauch des Wortes „richtig“, wenn 393 Bayerischer VGH, Beschluss vom 27. Februar 2008, – 10 ZB 07.1644 –, DÖV 2008, 425 – 426; Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 29; Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 40 [Seite 601]; Stüer / Hermanns, Erfahrungen, Seite 258, die allerdings auf der gleichen Seite des Beitrages die Berücksichtigung neuen Tatsachenvortrages jedenfalls dann für möglich erachten, wenn auf die Sach- und Rechtslage in dem Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Entscheidung abzustellen und dieser nicht gemäß § 87b Abs. 3 VwGO präkludiert sei. 394 Etwa für eine beabsichtigte Eheschließung eines von einer Ausweisungsverfügung betroffenen Ausländers mit einer deutschen Staatsangehörigen, die sich während der Frist zur Begründung des Berufungszulassungsantrags nur abzeichnet, dann aber tatsächlich auch eintritt: Bayerischer VGH, Beschluss vom 27. Februar 2008, – 10 ZB 07.1644 –, DÖV 2008, 425 – 426; ohne Differenzierung zu dem Darlegungsgebot demgegenüber Schreiner, Zulassungsberufung, Seite 81. 395 Hamburgisches OVG, Beschluss vom 17. Februar 1998, – Bs VI 105/97 –, NVwZ 1998, 863; Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 22. 396 OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16. Februar 1998, – 2 L 11966/97 –, NVwZ 1998, 1094 – 1096; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 26 i; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 83. 397 Für insoweit sogar eindeutig hält ihn Seibert, Zulassung der Berufung, Seiten 117, 118. 398 Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, „richtig“. 399 Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, „richtig“.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

es mit der materiellen Rechtslage übereinstimmt. Hingegen kann ein Urteil auch im Sinne des begrifflichen Gegensatzes „falsch“ sein, wenn das Verwaltungsgericht keinerlei Fehler bei der Rechtsanwendung gemacht hat, aber eine nach dem Ergehen der Entscheidung eingetretene Änderung der Sachlage das Urteil als mit dem materiellen Recht unvereinbar ausweist 401. Dies folgt daraus, dass es Rechtsfindung stets mit Tatsachen zu tun hat: Jedes Verhalten, über dessen Rechtmäßigkeit der Richter entscheidet, ist ein tatsächlicher Vorgang; richtiges Recht kann damit nur bei richtiger Tatsachenfeststellung gefunden werden 402. Der Wortlaut des Berufungszulassungsgrundes der ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist damit einer Berücksichtigung neuer Tatsachen zugänglich. In systematischer Hinsicht besteht zunächst ein Zusammenhang zu der Vorschrift über die Berufung des § 128 VwGO. Nach Satz 1 dieser Vorschrift prüft das Oberverwaltungsgericht den Streitfall innerhalb des Berufungsantrags in dem gleichen Umfang wie das Verwaltungsgericht. Satz 2 der Norm bestimmt, dass es auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel berücksichtigt. Aus dem systematischen Zusammenhang zwischen § 128 VwGO und § 124 Abs. 2 VwGO könnte sowohl der Schluss gezogen werden, dass der Gesetzgeber die Berücksichtigungsfähigkeit neuer Tatsachen und Beweismittel im Berufungszulassungsverfahren nicht wie für das Berufungsverfahren ausdrücklich angeordnet hat, sodass eine solche nicht in Betracht kommt, als auch der Schluss, dass für das Berufungszulassungsverfahren als dem Berufungsverfahren vorgelagertes Zwischenverfahren nichts anderes gelten kann als für das anschließende Berufungsverfahren, auf das es ja ausgerichtet ist, mit der Folge, dass neue Tatsachen und Beweismittel einer Berücksichtigung auch im Berufungszulassungsverfahren fähig und bedürftig sind. Eine systematische Auslegung aus dem Verhältnis des § 124 VwGO zu § 128 VwGO ist damit unergiebig. In systematischer Hinsicht bedarf es jedoch weiterhin einer Abgrenzung zu den Präklusionsvorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung. Wenn man neuen Tatsachenvortrag von der Berücksichtigung im Rahmen der Prüfung des Vorliegens ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ausschließen würde, so würde damit eine materielle Präklusionswirkung konstruiert 403, die die VwGO indes allein im Rahmen der Anwendung des § 87b Abs. 3 VwGO nach einer Verfügung unter Fristsetzung an den Kläger, mit der diesem aufgegeben wird, zu bestimmten Vorgängen Tatsachen anzugeben, 400 Hamburgisches OVG, Beschluss vom 17. Februar 1998, – Bs VI 105/97 –, NVwZ 1998, 863. 401 Hamburgisches OVG, Beschluss vom 17. Februar 1998, – Bs VI 105/97 –, NVwZ 1998, 863. 402 Ule, Verfassungsrecht und Verwaltungsprozessrecht, Seite 542. 403 Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 581; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 88.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Beweismittel zu bezeichnen oder Urkunden vorzulegen, kennt 404. Wird der neue Tatsachenvortrag nicht von einer Präklusionswirkung nach §§ 87b Abs. 3, 128a VwGO erfasst, so sind neue Tatsachen – mangels gesetzlicher Grundlage – auch nicht in der Anwendung der §§ 124 ff. VwGO präkludiert 405. Sinn und Zweck der Zulassungsvorschrift der ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist es auch, die Richtigkeit verwaltungsgerichtlicher Urteile im Einzelfall zu sichern 406. Es kommt also nicht darauf an, ob das Verwaltungsgericht angesichts der ihm erkennbaren Tatsachen- und Rechtsgrundlagen subjektiv zurechenbar fehlerhaft oder richtig entschieden hat 407. Maßgeblich ist vielmehr, ob sich die Entscheidung auch bei Berücksichtigung des dem Berufungsgericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismaterials als objektiv richtig erweist oder ob daran ernstliche Zweifel bestehen 408, ob also das Entscheidungsergebnis objektiv mit der Gesetzeslage im Einklang steht 409. Dieser dem Berufungszulassungsrecht ebenfalls immanente, dem der Beschleunigung gegenläufige 410 Sinn und Zweck einer Richtigkeitsgewähr spricht entscheidend dafür, auch neuen Tatsachenvortrag zu berücksichtigen. Ferner hat die Berufung nach wie vor die Aufgabe einer zweiten Tatsacheninstanz 411. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO öffnet den Zugang zur Rechtsmittelinstanz mit Blick auf das prognostizierte Ergebnis des angestrebten Rechtsmittels 412; zentrales Motiv für den Berufungszulassungsgrund der ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist neben dem Entlastungs- und dem Beschleunigungseffekt des Berufungszulassungsverfahrens auch die materielle Gerechtigkeit der Entscheidung der Vorinstanz. Dieser Zweck des Berufungsverfahrens gebietet es dann aber, auch bei der Auslegung der Zulassungsvoraussetzungen die Möglichkeit neuen Tatsachenvortrags zu be404

Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 b. Bayerischer VGH, Beschluss vom 5. November 1997, – 23 ZB 97.2581 –, BayVBl. 1998, 154; Geiger, Berufungs- und Beschwerdeverfahren, Seite 70. 406 Bayerischer VGH, Beschluss vom 5. November 1997, – 23 ZB 97.2581 –, BayVBl. 1998, 154. 407 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 9. Februar 1998, – 12 M 5642/97 –, Juris. 408 BVerwG, Beschluss vom 14. Juni 2002, – BVerwG 7 AV 1.02 –, NVwZ-RR 2002, 894; BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2003, – BVerwG 7 AV 2.03 –, NVwZ 2004, 744. 409 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 9. Februar 1998, – 12 M 5642/97 –, Juris. 410 OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16. Februar 1998, – 2 L 11966/97 –, NVwZ 1998, 1094 – 1096. 411 So im Ansatz zutreffend auch Bayerischer VGH, Beschluss vom 27. Februar 2008, – 10 ZB 07.1644 –, DÖV 2008, 425 – 426. 412 BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2003, – BVerwG 7 AV 2.03 –, NVwZ 2004, 744 sowie oben III. 2. a) bb). 405

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

rücksichtigen 413: Mit diesem Zweck des Berufungsverfahrens korrespondiert die durch Auslegung zu beantwortende Frage, ob auch im Zulassungsverfahren neuer Tatsachenvortrag zu berücksichtigen ist 414. Da das Zulassungsverfahren auf das prognostizierte Ergebnis eines Berufungsverfahrens abstellt 415 und nicht an dem Rechtsstandpunkt des angefochtenen Urteils oder dessen tatsächlichen oder rechtlichen Grundlagen haftet, muss es dem Berufungszulassungsantragssteller dann auch erlaubt sein, neues Vorbringen, das für diese Prognoseentscheidung wichtig ist, und das seiner angestrebten Berufung gemäß § 128 Satz 2 VwGO zum Erfolg zu verhelfen vermag, einzubringen 416. Eine Ausblendung neuer Tatsachen aus dem Berufungszulassungsverfahren würde dem Berufungszulassungsantragssteller das nehmen, was ihm § 128 Satz 2 VwGO sogar für das Berufungsverfahren ausdrücklich zugesteht 417. Würde man demgegenüber neue Tatsachen von der Prüfung durch das Oberverwaltungsgericht im Rahmen der Prüfung des Vorliegens ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ausnehmen, so würde man das Oberverwaltungsgericht bei der Prüfung, ob der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 1 Nr. 1 VwGO in der Sache vorliegt, auf eine bloße Vertretbarkeits- oder Willkürkontrolle der Auslegung und Anwendung des Rechts oder die Würdigung des Sachverhaltes durch das Verwaltungsgerichts beschränken 418. Dies entspricht aber nicht dem Prüfungsumfang des Oberverwaltungsgerichts, der die Rechtsmittelzulassung auch dann gebietet, wenn das Oberverwaltungsgericht zu einer anderen Auslegung des Rechts oder einer abweichenden Bewertung des Sachverhaltes gelangt, obwohl die Auslegung des Rechts oder die Bewertung des Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht ebenfalls zumindest vertretbar ist 419. Die Frage der „Vertretbarkeit“ der Tatsachenbewertung oder der Auslegung des Rechts durch das Verwaltungsgericht ist von Bedeutung vorrangig für die Frage, ob ernstliche Zweifel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hinreichend dargelegt sind. Gegen den Ausschluss neuen Tatsachenvorbringens ist weiter anzuführen, dass eine Begrenzung neuen Tatsachenvortrags auf allein während der zweimonatigen Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegte und eingetre413

894.

414

BVerwG, Beschluss vom 14. Juni 2002 –, BVerwG 7 AV 1.02 –, NVwZ-RR 2002,

OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16. Februar 1998, – 2 L 11966/97 –, NVwZ 1998, 1094 – 1096. 415 Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 671. 416 Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 671. 417 Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 581. 418 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 9. Februar 1998, – 12 M 5642/97 –, Juris. 419 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 9. Februar 1998, – 12 M 5642/97 –, Juris.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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tene neue Tatsachen ohnehin nur die Möglichkeiten des Rechtsmittelführers zu einem Vortrag neuer tatsächlicher Gesichtspunkte beschneiden würde. Demgegenüber würde daneben das Recht des Rechtsmittelgegners, die Zulassung auch aus neuem Tatsachenvortrag resultierenden Gründen zu hindern zu versuchen, in jedem Fall unbeschränkt bestehen 420 mit der Folge, dass das Oberverwaltungsgericht auch solche nach dem materiellen Recht entscheidungserhebliche, zwar nicht innerhalb der Antrags- und Begründungsfrist von dem Berufungszulassungsantragssteller, jedoch von dem Rechtsmittelgegner vorgetragenen Tatsachenänderungen berücksichtigen muss, die erst nach dem Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bis zu einer Entscheidung über den Zulassungsantrag eingetreten sind. Dies folgt aus dem oben dargestellten Abstellen auf die Ergebnisrichtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, die eben auch aus tatsächlichen, von dem Rechtsmittelgegner vorgetragenen Entwicklungen heraus in dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Berufungszulassungsantrag in ihrem Ergebnis richtig sein kann. Dann ist aber auch unter dem Gesichtspunkt prozessualer Waffengleichheit nicht einzusehen, wieso eine dem Berufungszulassungsantragssteller günstige Änderung der Sachlage nicht zu berücksichtigen sein sollte 421. Eine Beschränkung der Berücksichtigungsfähigkeit auf bereits in dem Berufungszulassungsantrag selbst fristgemäß dargelegte 422 neue, sich jedenfalls abzeichnende Tatsachen 423 würde sich angesichts der Nichtvorhersehbarkeit der über die Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO regelmäßig hinausgehenden Dauer eines Berufungszulassungsverfahrens letztlich auch als eine planwidrige Regelungslücke darstellen, die mit dem § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ebenfalls immanenten Sinn und Zweck der Gewährung materieller Gerechtigkeit nicht vereinbar wäre 424. Der Gesetzgeber ist – ebenso wie etwa auch das Bundesverwaltungs420 Bayerischer VGH, Beschluss vom 27. Februar 2008, – 10 ZB 07.1644 –, DÖV 2008, 425, der indes hieraus keine weitergehenden Konsequenzen zieht; Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124a Rn. 83. 421 Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 c; Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124a Rn. 83. 422 So Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 21 im Text zu Fußnote 18; Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 c, der die fristgerechte Darlegung jedoch dann nicht für erforderlich hält, wenn die nachträglich geltend gemachte Tatsache zu einer „offensichtlichen Unrichtigkeit der Entscheidung“ führt; Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 29. 423 So Bayerischer VGH, Beschluss vom 27. Februar 2008, – 10 ZB 07.1644 –, DÖV 2008, 425 – 426. 424 Auf den Gerechtigkeitsgedanken, dem es widerspreche, von dem Berufungsgericht in einem Berufungszulassungsantragsverfahren zu verlangen, dass es neues Sachvorbringen nicht zur Kenntnis nehme und damit sehenden Auges eine unrichtige bzw. unrichtig gewordene Entscheidung durch die Ablehnung des Berufungszulassungsantrages der Rechtskraft zuführe, stellt auch insoweit Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 21, ab, schränkt diese Begründung jedoch sogleich auf innerhalb der Antragsbegründungsfrist vorgetragene Tatsachenänderungen ein, und lässt offen, wieso

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

gericht 425, das formulierte, dass „zwischen der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils und der Zustellung des die Berufung zulassenden Beschlusses [...] häufig auch bei zügiger Bearbeitung zwei bis drei Monate vergehen“ werden – ganz offensichtlich von einem sehr starken Beschleunigungseffekt des Berufungszulassungsverfahrens ausgegangen. Der Berufungszulassungsantrag soll nach der gesetzlichen Konzeption nach Ablauf der zweimonatigen Begründungsfrist und dem Ablauf einer sich anschließenden Äußerungsfrist des Rechtsmittelgegners entscheidungsreif sein und auch entschieden werden 426. Diesen Beschleunigungseffekt hat das Berufungszulassungsverfahren jedenfalls in der Praxis nicht in dem gewünschten Maße, sodass allein durch den tatsächlichen Zeitablauf bis zu einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Berufungszulassungsantrag eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Ergebnisrichtigkeit der Entscheidung betreffende Tatsachenänderungen besteht, als dies der Gesetzgeber vorausgesehen hat: Die Dauer eines Berufungszulassungsverfahrens lässt sich regelmäßig aus einem Vergleich des immer das Jahr des Eingangs enthaltenden Aktenzeichens mit dem Entscheidungsdatum mit einer in Bezug auf das konkrete Eingangsdatum unsicherheitsbedingten Toleranz von denklogisch maximal 12 Monaten ermitteln. Dass demgegenüber in der Praxis Berufungszulassungsanträge von den Senaten der Oberverwaltungsgerichte teilweise erst nach über einem Jahr, teilweise erst nach drei bis vier Jahren entschieden werden 427, und hierbei die Wahrscheinlichkeit des Eintritts neuer, entscheidungserheblicher Tatsachen ansteigt, die der Berufungszulassungsantragssteller naturgemäß in seinem Berufungszulassungsantrag überhaupt nicht vortragen kann, hat der Gesetzgeber nicht vorausgesehen.

bei diesen der Gerechtigkeitsgedanke sowie das Drohen weiterer, prozessökonomisch zu verhindernder weiterer Verfahren in Kauf genommen werden sollte. 425 BVerwG, Urteil vom 04. Oktober 1999, – BVerwG 6 C 31.98 –, BVerwGE 109, 336 – 346. 426 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 3. November 1998, – 9 L 5136/97 –, DVBl. 1999, 476. 427 Vgl. etwa anhand eines Vergleichs des jeweils das Eingangsjahr enthaltenden Aktenzeichens des Berufungszulassungsantrags mit dem Entscheidungsdatum des Oberverwaltungsgerichts / des Verwaltungsgerichtshofs folgende Beispiele mit einer mehr als bzw. nahezu dreijährigen Verfahrensdauer: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Juli 2008, – 5 LA 174/05 –, RiA 2009, 82 –83; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Januar 2005, – 18 A 1279/02 –, InfAuslR 2005, 182 – 184; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 22. Oktober 2008, – 2 L 161/ 04 –, NVwZ-RR 2009, 544: Dauer des Berufungszulassungsverfahrens drei bis vier Jahre; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 23. Januar 2006, – 14 A 3009/01 –, Juris: Dauer des Berufungszulassungsverfahrens mindestens vier Jahre; das Nordrhein-Westfälisches OVG rechtfertigt dies ausdrücklich mit seiner Geschäftsbelastung, sodass davon ausgegangen werden kann, dass mehrere Berufungszulassungsanträge dieses zeitliche Schicksal aus diesem umfassend geltenden Grund geteilt haben.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Es liegt auf der Hand, dass bei einer auf Beschleunigung ausgelegten gesetzlichen Neuregelung, die diese in der Praxis nur zu einem Teil hat, der Gesetzgeber die Notwendigkeit, die Berücksichtigung neuen Tatsachenvortrags zu regeln, nicht gesehen hat. Eine Verfahrensstraffung, die die Berücksichtigung der neuen Tatsachen in eine größere Anzahl neuer Verfahren – Klageverfahren, Wiederaufnahmeverfahren, Vollstreckungsgegenklage 428, Restitutionsklage, Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO und § 123 VwGO auf Seiten der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens nach § 51 VwVfG auf Seiten der Behörden – zwingt 429, aus denen dann voraussichtlich wiederum eine höhere Belastung der Oberverwaltungsgerichte folgt 430, stellt dann aber nur vordergründig eine die Obergerichte entlastende Straffung dar 431 und läuft insbesondere dem weiteren Sinn und Zweck des Berufungszulassungsgrundes der ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO – dem der materiellen Gerechtigkeit – zuwider 432. Diese Regelungslücke ist – ausgehend von dem für den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ebenfalls zentralen Anliegen der Richtigkeitsgewähr im Einzelfall – richterrechtlich dahingehend zu schließen, dass derartige Tatsachenänderungen auch ohne ihre – regelmäßig objektiv nicht mögliche – Darlegung zu berücksichtigen sind, wenn und soweit es nach dem materiellen Recht auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ankommt 433. Dogmatisch hat dies über eine einschränkende Auslegung des Darlegungsgebots des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO zu erfolgen: Die Anwendbarkeit der Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO beschränkend ist dabei das jeweilige materielle Recht, wenn nach dessen Regelungen auf die Sach- und Rechtslage der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz bzw. auf den gerichtlichen Entscheidungszeitpunkt abzustellen ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat das Verfahren insgesamt und damit das Prozessrecht grundsätzlich dienende Funktion gegenüber dem Verfahrensziel 434, es ist kein Selbstzweck. Auch Verfahrensvorschriften dienen letztlich der Wahrung der materiellen Rechte der Prozessbeteiligten, sollen also die einwand428

Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 19. So aber irrig Bader, Zulassungsberufung, Seite 411. 430 Hamburgisches OVG, Beschluss vom 17. Februar 1998, – Bs VI 105/97 –, NVwZ 1998, 863. 431 Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 c; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 95. 432 Hamburgisches OVG, Beschluss vom 17. Februar 1998, – Bs VI 105/97 –, NVwZ 1998, 863. 433 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 26 l, die dann allerdings in § 124 Rn. 26n wieder auf eine fristgerechte Darlegung des neuen Tatsachenvortrags oder der Änderung der Sachlage abstellen. 429

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

freie Durchführung des Rechtsstreits unter Wahrung der Rechte aller Beteiligten sicherstellen und nicht behindern 435. Auch das Bundesverfassungsgericht 436 betont, dass „das Verfahrensrecht [...] der Herbeiführung gesetzmäßiger und unter dem Gesichtspunkt richtiger, aber darüber hinaus auch im Rahmen dieser Richtigkeit gerechter Entscheidungen“ dient. Das materielle Recht begrenzt daher – wenn nach ihm auf die Sach- und Rechtslage in dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts abzustellen ist – den Anwendungsbereich des Darlegungserfordernisses des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO in zeitlicher Hinsicht dahingehend, dass neue entscheidungserhebliche Tatsachen, die erst nach dem Ablauf der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO eintreten, zu berücksichtigen sind. Würde man dies anders sehen, so würde man über die verfahrensrechtliche Vorschrift des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entgegen den jeweiligen Vorschriften des materiellen Rechts den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt für die Sach- und Rechtslage verschieben. Nur diese Sichtweise genügt der prozessrechtlichen Maxime, dass sachliches Zulassungsrecht und Zulassungsverfahrensrecht zueinander nicht in innere Widersprüche geraten dürfen 437. Der von der anderen Ansicht als fehlend angesehene Bezug zu der angefochtenen Entscheidung ist gerade der Umstand der Nichtberücksichtigung der Tatsachen, der objektiv in dem Sinne eines Fehlens zu verstehen ist und kein Unwerturteil über die Entscheidung der Vorinstanz enthält. Die Darlegung setzt sich dann entweder damit auseinander, dass Tatsachen objektiv nicht berücksichtigt wurden; dies vermittelt einen hinreichenden Zusammenhang zwischen der angefochtenen Entscheidung und dem Zulassungsantrag. Oder aber dieser Zusammenhang wird durch den aus anderen Gründen hinreichend dargelegten Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hergestellt, bei dem allein die Gründe des Berufungszulassungsantrags „umgedeutet“ werden 438. In den anderen Fällen 434 BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2002, – BVerwG 6 C 8.01 –, BVerwGE 117, 93 –117; BVerwG, Urteil vom 21. Mai 1997, – BVerwG 11 C 1.97 –, Buchholz 442.40 § 6 LuftVG Nr. 27; BVerwG, Urteil vom 29. April 1993, – BVerwG 7 A 2.92 –, BVerwGE 92, 258 [263]; BVerwG, Urteil vom 15. Januar 1982, – BVerwG 4 C 26.78 –, BVerwGE 64, 325 [333 f.] zu Verfahrensbeteiligungen; Uechtritz, Konkretisierung, Seite 67. 435 Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 30. April 1979, – GmS-OGB 1/78 –, BVerwGE 58, 359 –368; in der zivilprozessualen Literatur ist daher auch etwa davon gesprochen worden, dass sich der Bundesgerichtshof „ein ganzes Instrumentarium geschaffen [habe], um bei fehlerhaften Berufungsurteilen, die er nicht durch Nichtzulassung bestätigen will, eine Korrekturmöglichkeit zu haben“, vgl. Hall, Anmerkung zu BGH, Beschluss vom 8. September 2004, – V ZR 260/03 -. 436 BVerfG, Beschluss vom 24. März 1976, – 2 BvR 804/75 –, BVerfGE 42, 64 –88. 437 Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 666. 438 Zu der Möglichkeit und zu einer Verpflichtung zu einer Umdeutung ausführlich sogleich.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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neuer entscheidungserheblicher Tatsachen ist wie gezeigt das Darlegungsgebot einschränkend auszulegen. Das Darlegungsgebot § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO stellt daher zusammengefasst keine materielle Präklusionsfrist für das Vorbringen neuer Tatsachen in der Berufungsinstanz dar 439. Unerheblich ist letztlich, ob es sich um neue Tatsachen handelt, die bereits in dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgetragen hätten werden können, oder ob es sich um solche Tatsachen handelt, die erst nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts eingetreten oder bekannt geworden sind 440. Insoweit ist zwar vertreten worden 441, dass es in Bezug auf neue Tatsachen, die der Berufungszulassungsantragssteller bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätte anbringen können (und sinnvoller Weise auch hätte anbringen müssen), immer an einer hinreichenden Darlegung eines Zulassungsgrundes im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO fehle mit der Folge, dass der Vortrag des Berufungszulassungsantragsstellers insoweit für das Oberverwaltungsgericht im Zulassungsverfahren unbeachtlich sei 442. Zur Begründung wird auch insoweit auf den Sinn und Zweck des Berufungszulassungsverfahrens der Verfahrensbeschleunigung und der Verkürzung der gerichtlichen Bearbeitungszeiten zur Entlastung der Rechtsmittelgerichte abgestellt. Dieser in den Vordergrund gerückten Filterfunktion des Berufungszulassungsverfahrens würde es hiernach aber widersprechen, wenn es einem Prozessbeteiligten gestattet würde, neuen Tatsachenvortrag, der in seine Sphäre fällt und den er unter Verstoß gegen seine prozessuale Mitwirkungspflicht nicht in das erstinstanzliche Verfahren eingeführt habe, obwohl er aber ohne weiteres in der Lage gewesen wäre, ihn dort einzuführen, erst im Berufungszulassungsverfahren anzubringen 443. Auch dieser Beschränkung, die scheinbar letztlich auf eine Art Arglisteinwand oder eine Anwendung des aus § 242 BGB folgenden Verbots widersprüchlichen Verhaltens hinaus zu laufen scheint, ist nicht zu folgen. Sie verkennt zum einen, dass Sinn und Zweck des Berufungszulassungsverfahrens auch die Schaffung von Einzelfallgerechtigkeit ist. Zudem wird – entscheidend – verkannt, dass ein bloßer Verstoß eines Beteiligten gegen ihm obliegende prozessuale Mitwirkungs439

Bayerischer VGH, Beschluss vom 27. Februar 2008, – 10 ZB 07.1644 –, DÖV 2008, 425 – 426. 440 Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 c. 441 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Februar 2003, – 2 LA 2953/01 –, NordÖR 2003, 196. 442 So auch Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 9. Juni 1997, – 15 E 444/ 97 –, DVBl. 1997, 1337 [1338]; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 3. November 1998, – 9 L 5136/97 –, DVBl. 1999, 476. 443 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Februar 2003, – 2 LA 2953/01 –, NordÖR 2003, 196.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

pflichten nicht geeignet ist, ihn mit seinem Vorbringen im Berufungszulassungsverfahren materiell zu präkludieren. Eine Beschränkung neuen Tatsachenvortrages auf die Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO würde sich aber als eine solche faktische materielle Präklusion darstellen, da mit der Ablehnung des Zulassungsantrages das Urteil des Verwaltungsgerichts gemäß § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO rechtskräftig wird und aufgrund der Rechtskraft des Urteils im Sinne von § 121 VwGO das versäumte Vorbringen in einem neuen Verfahren nicht nachgeholt werden kann 444. Für eine derartige materielle Präklusion fehlt es an einer erforderlichen entsprechenden ausdrücklichen gesetzlichen Regelung. Berücksichtigt man ferner, dass eine Präklusion im Berufungsverfahren nur in den engen, durch § 128a VwGO einerseits und § 125 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 87b VwGO andererseits begrenzten Anwendungsbereichen möglich ist 445, so folgt hieraus in einem Umkehrschluss, dass aus dem Fehlen derartiger Regelungen für das Berufungszulassungsverfahren zu schließen ist, dass hier eine materielle Präklusion ausgeschlossen sein soll; die genannten Normen regeln die Präklusion im Berufungs(zulassungs)recht vielmehr abschließend 446. Deutlich wird die Fehlerhaftigkeit der neue Tatsachen, die bereits in dem Zeitpunkt der Entscheidung der Vorinstanz dem Berufungszulassungsantragssteller bekannt waren, ausschließenden Ansicht auch daran, dass einerseits ausgeführt wird, dass sich der Beteiligte auf dieses Vorbringen allenfalls bei der Darlegung eines Zulassungsgrundes nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO stützen könne, indem er etwa geltend mache, der Sachverhalt sei von dem Verwaltungsgericht unter Verstoß gegen den Grundsatz der Amtsermittlung aus § 86 Abs. 1 VwGO nicht vollständig ermittelt worden 447, demgegenüber andererseits explizit zu dem Zulassungsgrund des Vorliegens eines Verfahrensfehlers nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO auf das Unterlassen einer Beweisbeantragung in der mündlichen Verhandlung als eine Berufungszulassung ausschließend abgestellt wird 448. Die letztlich insoweit von der anderen Ansicht gesehene Missbrauchsgefahr, nach der jedenfalls dann, wenn der Berufungszulassungsantragssteller ihm in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht bereits bekannte Tatsachen nicht geltend gemacht hat, ihm ein Berufen auf diese Tatsachen in dem Berufungszulassungsantrag untersagt wird 449, ist rein fiktiv. Ein irgendwie geartetes Motiv, ihm günstigen Tatsachenvortrag, den er für entscheidungserheblich hält, bewusst 444 Hamburgisches OVG, Beschluss vom 17. Februar 1998, – Bs VI 105/97 –, NVwZ 1998, 863. 445 Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 b. 446 Hamburgisches OVG, Beschluss vom 17. Februar 1998, – Bs VI 105/97 –, NVwZ 1998, 863. 447 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Februar 2003, – 2 LA 2953/01 –, NordÖR 2003, 196. 448 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Februar 2003, – 2 LA 2953/01 –, NordÖR 2003, 196.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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zurückzuhalten, vermag man bei einem Rechtsschutzsuchenden nicht zu erkennen. Dieser hat regelmäßig kein Interesse daran, durch Zurückhalten von ihm günstigen Vortrag das Risiko einer ihm ungünstigen Sachentscheidung einzugehen. Für den Fall, dass der Berufungszulassungsantragssteller seinen Mitwirkungsverpflichtungen im gerichtlichen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht schuldhaft nicht nachgekommen sein sollte, kann dies gegebenenfalls bei der Kostenentscheidung im Hauptsachverfahren nach § 155 Abs. 4 VwGO, wonach Kosten, die durch Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, diesem auferlegt werden können, berücksichtigt werden 450. Die Berücksichtigung neuen tatsächlichen Vorbringens ist daher auch nicht in denjenigen Fällen ausgeschlossen, in denen diese Umstände dem Zulassungsantragsteller bereits früher bekannt waren und deshalb schon im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können. Zwar trifft jeden Beteiligten die Pflicht, den Prozessstoff umfassend vorzutragen. Diese allgemeine Prozessförderungspflicht und das Ziel, verwaltungsgerichtliche Verfahren zu beschleunigen, begründen jedoch allein keine Präklusion neuen Vorbringens 451, und um eine solche Präklusion würde es sich handeln, wenn man Tatsachen, die vorgebracht hätten werden können, ausschließen würde. Ein solcher Ausschluss bedürfte vielmehr einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung. Die Vorschriften über das Berufungszulassungsverfahren enthalten aber keine Regelung, die eine schuldhafte Verletzung der allgemeinen Prozessförderungspflicht sanktioniert 452. Sofern die Voraussetzungen des § 128a VwGO nicht vorliegen, können deshalb neue Tatsachen und neue Beweismittel im Berufungszulassungsverfahren nicht ausgeschlossen werden 453. Zu beachten sind indes die Anforderungen, die an den Zulassungsantrag bei einem Berufen auf neue Tatsachen zu stellen sind 454. Werden mit dem Zulassungsantrag oder – nach der hier vertretenen Ansicht – bis zu einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Berufungszulassungsantrag neue Tatsachen vorgetragen, genügt es nicht, diese lediglich zu behaupten. Vielmehr 449

OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16. Februar 1998, – 2 L 11966/97 –, NVwZ 1998, 1094 – 1096. 450 Bayerischer VGH, Beschluss vom 5. November 1997, – 23 ZB 97.2581 –, BayVBl. 1998, 154. 451 BVerwG, Beschluss vom 14. Juni 2002, – BVerwG 7 AV 1.02 –, NVwZ-RR 2002, 894. 452 BVerwG, Beschluss vom 14. Juni 2002, – BVerwG 7 AV 1.02 –, NVwZ-RR 2002, 894. 453 Vergleiche für das Beschwerdeverfahren bei offen zu Tage tretenden neuen Tatsachen mit überzeugender Begründung auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 8. Juli 2008, – 11 S 1041/08 –, VBlBW 2009, 109 – 112. 454 Hierzu Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 Rn. 91; Buscher, Zulassungsberufung, Seite 195 ff.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

muss der Zulassungsantragssteller seinen neuen Tatsachenvortrag substantiieren 455 und glaubhaft machen 456, um so dem Berufungsgericht die Beurteilung der Erfolgsaussicht des noch zuzulassenden Rechtsmittels anhand des oben genannten Wahrscheinlichkeitsmaßstabs zu ermöglichen 457. Je nach Fallkonstellation kann er insbesondere gehalten sein, Fotos von der in Rede stehenden Örtlichkeit, Planunterlagen oder Schriftverkehr vorzulegen, oder auch eine eidesstattliche Versicherung abzugeben 458 oder solche dritter Personen beizubringen. Es genügt, dass sich aus den so substantiierten rechtlichen oder tatsächlichen Umständen die „gesicherte Möglichkeit“ 459 ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist. Soweit demgegenüber als engerer Maßstab in der Rechtsprechung die bloße konkrete Möglichkeit, dass sich – nach weiterer Sachverhaltsaufklärung oder gar Beweiserhebung – eine (entscheidungserheblich) veränderte Sachlage ergeben kann, als für die positive Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag als nicht hinreichend angesehen und hierfür angeführt wird 460, dass der Grundsatz der Amtsermittlung aus § 86 Abs. 1 VwGO gleichsam durch § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO modifiziert werde, als das Berufungszulassungsverfahren sich als ein Zwischenverfahren darstelle, in dem eine Beweiserhebung jedenfalls in aller Regel nicht in Betracht komme 461, woraus zu folgern sei, dass in dem Berufungszulassungsverfahren die neuen Tatsachen oder Beweismittel als Voraussetzung ihrer Berücksichtigungsfähigkeit in tatsächlicher Hinsicht entweder nach der Gewährung rechtlichen Gehörs für den Rechtsmittelgegner nicht „bestritten“ sein dürfen oder sie für das Oberverwaltungsgericht frei von vernünftigen Zweifeln feststehen 462 oder überwiegend wahrscheinlich sein müssten, ist dem nicht zu folgen. Denn ob schlüssig behauptete tatsächliche Umstände auch wirklich gegeben sind, muss in Anbetracht der Verpflichtung aus Art. 19 Abs. 4 GG, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, bei Unklarheiten nach einer Zulassung der Berufung in dem sich anschließenden Berufungsverfahren in dem Rahmen der Amtsermitt455 BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2010, – 1 BvR 2011/10 –, NVwZ 2011, 547 [Rn. 19]. 456 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 26. März 2009, – 5 LA 239/07 –, DÖD 2009, 198 – 200. 457 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 12. Februar 2008, – 5 LA 326/04 –, Juris; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124a VwGO Rn. 208. 458 Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 Rn. 91. 459 BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2010, – 1 BvR 2011/10 –, NVwZ 2011, 547 [Rn. 19]. 460 Vgl. Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 09. Februar 1998, – 12 M 5642/98 –, Nds.VBl. 1998, 162 [166]. 461 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 9. Februar 1998, – 12 M 5642/97 –, Juris. 462 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 9. Februar 1998, – 12 M 5642/97 –, Juris.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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lung des § 86 Abs. 1 VwGO geklärt werden und darf nicht in die Prüfung des Berufungszulassungsverfahrens vorverlagert werden, um damit eine eigentlich erforderliche Beweisaufnahme zu umgehen 463. An einer hinreichenden Substantiierung wird es jedoch bei solchem neuen Tatsachenvortrag fehlen, der mit einem Beweisantrag verbunden ist, wenn allein die bloße Möglichkeit besteht, dass sich – nach weiterer Sachverhaltsaufklärung oder gar Beweiserhebung – eine (entscheidungserheblich) veränderte Sachlage ergeben kann; erforderlich ist vielmehr, dass dies wahrscheinlich ist oder konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen der Tatsache bestehen. Insoweit gilt für den Berufungszulassungsantrag nichts anderes als für ein Verfahren nach Zulassung der Berufung 464. Auch in einem Berufungsverfahren würden bloße Ausforschungsbeweisanträge, bei denen Behauptungen unter Beweis gestellt werden, für deren Wahrheitsgehalt nicht wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht oder bei denen gar Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass es sich um willkürliche, aus der Luft gegriffene Behauptungen handelt, eine gerichtliche Pflicht zur Beweiserhebung nicht auslösen 465. Insofern ist anerkannt 466, dass ein als unzulässig ablehnbarer Ausforschungs- oder Beweisermittlungsantrag in Bezug auf Tatsachenbehauptungen dann vorliegt, wenn für deren Wahrheitsgehalt nicht wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht, der Beweisantrag mit anderen Worten ohne greifbare Anhaltspunkte willkürlich „aus der Luft gegriffen“, „ins Blaue hinein“, und „erkennbar ohne jede tatsächliche Grundlage“ gestellt worden ist 467. Letztlich muss der Berufungszulassungsantragssteller darlegen, ob und inwiefern die veränderte Tatsachenbasis geeignet ist, beachtliche Zweifel an dem Ergebnis der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung auszulösen 468.

463 BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2010, – 1 BvR 2011/10 –, NVwZ 2011, 547 [Rn. 19]. 464 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 9. Februar 1998, – 12 M 5642/97 –, Juris. 465 BVerwG, Beschluss vom 5. Oktober 1990, – BVerwG 4 B 249.89 –, Buchholz 442.40 § 9 Nr. 6 [17]; BVerfG, Beschluss vom 18. Juni 1993, – 2 BvR 22/93 –, InfAuslR 1993, 349 [354]; BVerfG, Beschluss vom 18. Juni 1994, – 2 BvR 1815/92 –, NVwZ 1994, 60 [61]. 466 BVerwG, Beschluss vom 30. Juni 2008, – BVerwG 5 B 198.07 –, Juris. 467 BVerwG, Beschluss vom 29. April 2002, – BVerwG 1 B 59.02 –, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 60; ebenso BVerfG, Beschluss vom 26. August 1996, – 2 BvR 1968/94 –, Juris. 468 OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16. Februar 1998, – 2 L 11966/97 –, NVwZ 1998, 1094 – 1096.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

(2) Berücksichtigung von Rechtsänderungen (a) Streitstand Nach allgemeiner Ansicht in der Rechtsprechung 469 sind bei der Entscheidung über den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zunächst die von dem Berufungszulassungsantragssteller innerhalb der Antragsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegten und nach dem materiellem Recht entscheidungserheblichen Rechtsänderungen zu berücksichtigen, die erst nach dem Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung wirksam geworden sind. Jenseits dieser Fälle ist die Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte uneinheitlich: Nach einer Ansicht 470 sei eine nachträgliche Rechtsänderung von vornherein nicht geeignet, den Zulassungsgrund ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu begründen. Denn Sinn und Zweck der durch das Sechste Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 1. November 1996 eingeführten Zulassungsberufung und des in diesem Rahmen geschaffenen Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils sei es, dem Rechtschutzsuchenden nur noch eine Tatsacheninstanz zur Verfügung zu stellen; durch die Neuregelung werde die Verwaltungsgerichtsbarkeit strukturell auf eine einzige voll ausgebaute Instanz konzentriert und den Berufungsgerichten und dem Bundesverwaltungsgericht komme nur noch die Funktion von Kontrollinstanzen zu 471. Dies schließe die Berücksichtigung nicht dargelegter Rechtsänderungen aus. Auch hinsichtlich dem Rechtsmittelführer günstiger Änderungen des materiellen Unionsrechts dürften diese nicht berücksichtigt werden 472. Soweit geltend gemacht werde, dass in einem anschließenden Berufungsverfahren nach materiellem Recht erhebliches neues Recht und gemäß § 128 VwGO auch ein neuer Sachverhalt zu berücksichtigen seien, zwinge dies nicht auch dazu, dies im Berufungszulassungsverfahren zu tun, denn die Berufungsinstanz biete im Grundsatz gerade nicht mehr die Gelegenheit, in der ersten Instanz Versäumtes im Interesse einer materiell gerechten Entscheidung nachzuholen 473. Eine solche funktionsgerechte Interpretation des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gebiete es, die469

Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Januar 2005, – 18 A 1279/02 –, InfAuslR 2005, 182 – 184; BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2003, – BVerwG 7 AV 2.03 –, NVwZ 2004, 744 – 745. 470 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 5. November 1999, – 15 A 2923/ 99 –, NVwZ 2000, 334 – 335 mit weiteren Nachweisen. 471 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 5. November 1999, – 15 A 2923/ 99 –, NVwZ 2000, 334 – 335 mit weiteren Nachweisen. 472 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Januar 2005, – 18 A 1279/02 –, InfAuslR 2005, 182.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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sen Zulassungsgrund von einem Berufungsgrund abzugrenzen, damit das Zulassungsverfahren nicht zum vorweggenommenen Berufungsverfahren werde. Dem Berufungsgericht obliege die Herstellung materieller Gerechtigkeit nur noch dann, wenn die verfahrensrechtlichen Bestimmungen über Zulassungsgründe, Vertretungszwang und Darlegungspflicht ihm das Vordringen in die materielle Prüfung ermöglichten 474. Diese gesetzgeberische Strukturentscheidung lege eine enge Interpretation des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nahe, die den Unterschied zwischen Zulassungsgründen einerseits und Berufungsgründen andererseits aufrechterhalte. Für das insoweit parallele Revisionsrecht sei anerkannt, dass nicht jeder Grund, der der zugelassenen Revision zum Erfolg verhelfen würde, auch deren Zulassung rechtfertige. Insbesondere stelle eine nach Erlass des angefochtenen Urteils eingetretene Rechtsänderung, nach der sich das Berufungsurteil als möglicherweise fehlerhaft erweise, keinen Revisionszulassungsgrund dar, obwohl nachträgliche Rechtsänderungen, soweit sie materiell-rechtlich erheblich seien, nach Zulassung der Revision zu berücksichtigen seien 475. Ließe man die Berücksichtigung nicht dargelegter Rechtsänderungen zu, so würde man der Prozesspartei mehr als nur die prozessual vorgesehene einzige der Sache nach richtig urteilende Instanz gewähren 476. Der Prozesspartei würde hier eine zweite Instanz eröffnet, weil die richtige Entscheidung des VG durch nachträgliche Umgestaltung der Rechtslage „unrichtig gemacht“ würde 477. Gesichtspunkte der Prozessökonomie, die es verhindern sollten, dass die Beteiligten durch den Ausschluss der Berufungsmöglichkeit in neue Verwaltungsund Prozessverfahren getrieben werden, stünden dem nicht entgegen. Denn die Prozessökonomie habe durch die Einführung der Zulassungsberufung weitgehend ihre Bedeutung verloren 478: Da die Gründe für die Zulassung gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO binnen zweier Monate nach der Zustellung des angefochtenen Urteils darzulegen seien, stünde allein dieser knapp bemessene Zeitraum für in einem Zulassungsverfahren (noch) zu berücksichtigende Rechtsänderungen zur Verfügung, während dies früher während des ganzen Berufungs473

Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 5. November 1999, – 15 A 2923/ 99 –, NVwZ 2000, 334 – 335 mit weiteren Nachweisen. 474 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 5. November 1999, – 15 A 2923/ 99 –, NVwZ 2000, 334 – 335 mit weiteren Nachweisen. 475 BVerwG, Beschluss vom 10. Juni 1970, – BVerwG IV B 163.68 –, Buchholz 406.11 § 33 BBauG Nr. 4, S. 1 [3]; BVerwG, Beschluss vom 15. Oktober 1968, – BVerwG III B 73.68 –, BVerwGE 30, 266 [267 f.]. 476 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 5. November 1999, – 15 A 2923/ 99 –, NVwZ 2000, 334 – 335 mit weiteren Nachweisen. 477 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 5. November 1999, – 15 A 2923/ 99 –, NVwZ 2000, 334 – 335 mit weiteren Nachweisen. 478 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 5. November 1999, – 15 A 2923/ 99 –, NVwZ 2000, 334 – 335 mit weiteren Nachweisen.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

verfahrens, das ohne Zulassung eingeleitet werden konnte, möglich gewesen sei. Es erscheine zweifelhaft, ob es dem Grundsatz der Prozessökonomie noch entspreche, „den Prozessbeteiligten Gelegenheit zu geben, unter einem solchen Zeitdruck vermeintlich erforderliche Rechtsänderungen vorzunehmen“ 479. Im Übrigen stelle sich auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Prozessökonomie die Frage, warum ein Rechtsstreit, der auf einer gegenüber der ersten Instanz neuen Rechtsgrundlage geführt werden müsse, die erforderliche Berufungsbedürftigkeit aufweise und nicht als neuer Fall gegebenenfalls in der dafür zuständigen ersten Instanz entschieden werden solle 480. Nach einer anderen Ansicht sind auch solche dem Berufungszulassungsantragssteller günstige Rechtsänderungen, die bis zu dem Zeitraum der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts erfolgen, berücksichtigungsfähig 481: Insoweit wird angeführt, dass es der Zweck des Zulassungsverfahrens gebiete, auch solche Rechtsänderungen zu berücksichtigen, die erst nach dem Erlass des angefochtenen Urteils eingetreten seien. Denn § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO öffne den Zugang zur Rechtsmittelinstanz mit Blick auf das prognostizierte Ergebnis des angestrebten Rechtsmittels. Da dieser Zulassungsgrund ebenso wenig wie der Zulassungsgrund besonderer tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ein Vorbild im Recht der Revisionszulassung habe, beide vielmehr auf das Berufungsverfahren zugeschnitten seien, fokussiere sich die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts auf die Gewährung von Richtigkeit im Einzelfall. Das Oberverwaltungsgericht habe also maßgeblich die Frage in den Blick zu nehmen, ob die Vorinstanz die Rechtssache richtig entschieden habe, sodass § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO den Zugang zu einer inhaltlichen Überprüfung des angefochtenen Urteils in einem Berufungsverfahren in all denjenigen Fällen eröffne, in denen die Richtigkeit des angefochtenen Urteils einer weiteren Prüfung bedürfe, ein Erfolg der angestrebten Berufung nach den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens mithin möglich sei 482. Entscheidend sei daher nicht, ob das Verwaltungsgericht angesichts der Rechtslage im Zeitpunkt seiner Entscheidung richtig entschieden habe, sondern wie das Berufungsgericht über den Streitgegenstand zu befinden hätte 483. Hiervon ausgehend seien in dem Zulassungsverfahren alle von dem Antragsteller dargelegten rechtlichen Ge479

Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 5. November 1999, – 15 A 2923/ 99 –, NVwZ 2000, 334 – 335 mit weiteren Nachweisen. 480 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 5. November 1999, – 15 A 2923/ 99 –, NVwZ 2000, 334 – 335 mit weiteren Nachweisen. 481 Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 c; so auch für Änderungen des Unionsrechts ohne dogmatische Herleitung Gutmann, Anmerkung zu Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Januar 2005, Seite 184. 482 BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2003, – BVerwG 7 AV 2.03 –, NVwZ 2004, 744 – 745.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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sichtspunkte zu berücksichtigen, die für den Erfolg des angestrebten Rechtsmittels entscheidungserheblich sein könnten 484. Derartige entscheidungserhebliche Gesichtspunkte könnten auch Rechtsänderungen sein, die erst nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts eingetreten seien, sofern nach dem materiellen Recht die neue Rechtslage im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung maßgeblich sei 485. Sei nach dem materiellen Recht auf die Rechtslage in dem Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung abzustellen – wie etwa im Beitragsrecht –, so sei etwa auch eine rückwirkend in Kraft getretene Änderung der Rechtslage zu berücksichtigen, wenn diese für den konkreten Rechtsstreit entscheidungserheblich sei 486. Insoweit macht die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 487 dann jedoch wieder eine filigrane Einschränkung der Berücksichtigungsfähigkeit von Rechtsänderungen, die in ihrem Ergebnis wieder zu dem Befund der erstgenannten Ansicht, nur innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegte Rechtsänderungen zu berücksichtigen, führt: Zwar seien auch solche (dargelegten) Rechtsänderungen, die erst nach Ablauf der Frist eingetreten sind, innerhalb welcher der Antragsteller die ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO darzulegen hat, zu berücksichtigen. Denn maßgeblich sei allein, ob im Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Zulassungsantrag nach der Rechtslage in diesem Zeitpunkt das angefochtene Urteil den (dargelegten) ernstlichen Zweifeln an seiner Richtigkeit begegne, sodass der Ablauf der Frist für die Darlegung solcher Zweifel nicht den für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt festlege. Jedoch habe das Oberverwaltungsgericht über den Berufungszulassungsantrag stets nur im Rahmen der rechtzeitig dargelegten Gründe zu entscheiden. Diese Einschränkung führe dazu, dass Rechtsänderungen, die erst nach Ablauf der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO einträten, nicht dazu führten, dass mit Blick auf diese erstmals neue Zulassungsgründe geltend gemacht werden könnten; die Rechtsänderungen müsse hiernach vielmehr unberücksichtigt bleiben 488. Nur in dem Fall, in dem ein Berufungszulassungsantragsteller mit Blick auf eine bevorstehende und ihm bekannte Änderung der Rechtslage vor Ablauf der 483 BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2003, – BVerwG 7 AV 2.03 –, NVwZ 2004, 744 – 745. 484 BVerwG, Beschluss vom 11. November 2002 –, BVerwG 7 AV 3.02 –, Buchholz 310 § 124 VwGO Nr. 31. 485 BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2003, – BVerwG 7 AV 2.03 –, NVwZ 2004, 744 – 745. 486 OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16. September 1997, – 6 A 12008/97 –, NVwZ 1998, 302. 487 BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2003, – BVerwG 7 AV 2.03 –, NVwZ 2004, 744 – 745. 488 BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2003, – BVerwG 7 AV 2.03 –, NVwZ 2004, 744 – 745.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils dargelegt hat, kann hiernach ihrer Berücksichtigung bei der Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag nicht entgegen gehalten werden, dass sie erst nach Ablauf der Frist, aber vor der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Zulassungsantrag eingetreten ist 489. Dem ist die Literatur zum Teil gefolgt 490. Diese Rechtsprechung hat zu ihrer Folge, dass dann, wenn etwa erst nach Ablauf der Zweimonatsfrist des § 124 Abs. 4 Satz 4 VwGO eine dem Zulassungsantragsteller günstige Rechtsänderung eingetreten ist, der Zulassungsantragsteller nicht mit Blick auf diese Rechtsänderung erstmals neue Zulassungsgründe gelten machen kann und die Rechtsänderung aus diesem Grund unberücksichtigt bleiben müsste 491. In der praktischen Anwendung aus unionsrechtlicher Sicht bedeutet diese Rechsprechung, dass etwa nationale Regelungen in Umsetzung sekundären Unionsrechts, die nach Ablauf der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO und bis zu einer Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag in Kraft treten, nur in dem empirisch als äußerst selten einzuschätzenden Ausnahmefall, dass die bevorstehende Änderung bereits mit dem Zulassungsantrag gerügt wurde, zu berücksichtigen sind 492. Auch Rechtsänderungen des materiellen Unionsrechts, dem etwa der Assoziationsratsbeschluss 1/80 zuzurechnen ist, werden insoweit von der Rechtsprechung bei der Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag nicht berücksichtigt 493. (b) Stellungnahme Beiden genannten Ansichten ist nicht zu folgen; vielmehr sind alle dem Berufungszulassungsantragssteller günstigen Rechtsänderungen in dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts zu berücksichtigen 494, sofern es nach materiellem Recht nicht auf einen früheren Entscheidungszeitpunkt ankommt. 489 BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2003, – BVerwG 7 AV 2.03 –, NVwZ 2004, 744 – 745. 490 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 30. 491 So OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 15. September 1997, – 6 A 12008/ 97 –, NVwZ 1998, 302 [303]; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Januar 2005, – 18 A 1279/02 –, InfAuslR 2005, 182; so auch Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 31. 492 So etwa Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Januar 2005, – 18 A 1279/02 –, InfAuslR 2005, 182 – 184. 493 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Januar 2005, – 18 A 1279/02 –, InfAuslR 2005, 182 – 184. 494 Zutreffend Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 c.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Gegen die Einschränkung auf innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegte Rechtsänderungen spricht zunächst, dass anders als die Revisionsinstanz die Berufungsinstanz dazu dient, das erstinstanzliche Urteil in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht umfassend zu überprüfen 495. Kommt es nach dem materiellen Recht auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts an, und ist in diesem Zeitpunkt eine materielle Rechtsänderung zugunsten des Zulassungsantragstellers eingetreten, so verlangt man von diesem mit dem Erfordernis einer Darlegung der nunmehr eingetretenen Rechtsänderung schon innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO etwas tatsächlich Unmögliches und konterkariert damit die für den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ebenfalls zentrale Frage der Gewährleistung von Ergebnisrichtigkeit im Einzelfall. Das Verlangen nach einer Darlegung künftiger Rechtsänderungen verlangt gleichsam prophetische Gaben. Ferner gelten die vorherigen Ausführungen zu einer von dem Gesetz im Berufungszulassungsrecht nicht vorgesehenen materiellen Präklusion von Tatsachen entsprechend auch hier. Soweit die zweimonatige Zulassungsbegründungsfrist die Möglichkeit der antragstellenden Prozesspartei einschränkt, auf neue rechtliche Entwicklungen hinzuweisen, begründet sie nur eine formelle Schranke und ändert an der materiellen Pflicht des Berufungsgerichts, auch nach diesem Zeitpunkt eingetretene Rechtsänderungen zu berücksichtigen, nichts. Dies folgt schon daraus, dass – wie auch bei neuem Tatsachenvortrag schon beschrieben – die Zwei-Monats-Frist nur die Möglichkeiten des Rechtsmittelführers zu einem Vortrag neuer tatsächlicher und rechtlicher Gesichtspunkte beschneidet, nicht aber die Rechte des Rechtsmittelgegners, der seinerseits ebenfalls auf neue rechtliche Entwicklungen hinweisen kann. Daher muss das Berufungsgericht auch solche nach dem materiellen Recht entscheidungserheblichen und innerhalb der Antragsfrist oder bis zu seiner Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag vorgetragenen Rechtsänderungen berücksichtigen, die erst nach Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bis zu der Entscheidung über den Zulassungsantrag eingetreten sind, sofern nach dem materiellen Recht die neue Rechtslage in dem Zeitpunkt der Berufungsentscheidung maßgeblich ist 496. Das gilt im Übrigen auch in dem umgekehrten Fall: Das Oberverwaltungsgericht hat etwa zu berücksichtigen, ob das angefochtene Urteil sich im Lichte einer inzwischen eingetretenen Rechtsänderung aus anderen, ihm nicht beigegebenen Gründen als richtig darstellt und zunächst bestehende ernstliche Zweifel an seiner Richtigkeit damit beseitigt sind 497. 495

BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, NdsVBl 2000, 244 –246. BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2003, – BVerwG 7 AV 2.03 –, NVwZ 2004, 744; Bayerischer VGH, Beschluss vom 25. September 2007, – 24 ZB 07.1643 –, Juris. 497 BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2003, – BVerwG 7 AV 2.03 –, NVwZ 2004, 744. 496

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Auch die Berücksichtigung von Rechtsänderungen erfolgt – wie die Berücksichtigung von neuen Tatsachen – dogmatisch über eine einschränkende Auslegung des Darlegungsgebots des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, dessen Anwendbarkeit durch das jeweilige materielle Recht in zeitlicher Hinsicht beschränkt wird, wenn nach den Regelungen des materiellen Rechts auf die Sach- und Rechtslage der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz bzw. auf den gerichtlichen Entscheidungszeitpunkt abzustellen ist. Denn auch für den Bereich der Rechtsänderungen ist mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts davon auszugehen, dass das Verfahren insgesamt und damit das Prozessrecht grundsätzlich dienende Funktion gegenüber dem Verfahrensziel hat 498 und keinen Selbstzweck darstellt. Würde man dies anders sehen, so würde man über die verfahrensrechtliche Vorschrift des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entgegen den jeweiligen Vorschriften des materiellen Rechts den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt für die Sach- und Rechtslage verschieben. Der gegenteiligen Ansicht, die lediglich innerhalb der Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegte Rechtsänderungen berücksichtigen will, ist entgegenzuhalten, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit einer dem Zulassungsantragsteller günstigen, nach dem materiellen Recht zu berücksichtigenden Rechtsänderung unter dem Blickwinkel des Darlegungserfordernisses des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO offensichtlich nicht gesehen hat. Für diese Sichtweise spricht entscheidend, dass das Berufungszulassungsverfahren nach seiner Entstehungsgeschichte 499 maßgeblich wegen der ihm – neben der Richtigkeitsgewähr im Einzelfall – zentral zugrunde liegenden Zwecke einer Verfahrensbeschleunigung und -straffung in die VwGO eingefügt wurde. Dass das Oberverwaltungsgericht für eine Entscheidung über einen Berufungszulassungsantrag oftmals ein Jahr und länger benötigen würde, war für den Gesetzgeber nicht absehbar und wohl auch nicht erwartet worden. Dass in der tatsächlich von dem Oberverwaltungsgericht benötigten beziehungsweise jedenfalls in Anspruch genommenen Entscheidungszeit Rechtsänderungen eintreten würden, dürfte dem Gesetzgeber daher als Problem nicht präsent gewesen sein; dies ist auch als Problem den Gesetzesmaterialien nicht zu entnehmen. Es liegt auf der Hand, dass die Wahrscheinlichkeit derartiger Rechtsänderungen proportional zu der Dauer des Berufungszulassungsverfahrens ansteigt. Dies lässt insoweit das Vorhandensein einer planwidrigen Regelungslücke überwiegend wahrscheinlich sein.

498 BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2002, – BVerwG 6 C 8.01 –, BVerwGE 117, 93 –117; BVerwG, Urteil vom 21. Mai 1997, – BVerwG 11 C 1.97 –, Buchholz 442.40 § 6 LuftVG Nr. 27; BVerwG, Urteil vom 29. April 1993, – BVerwG 7 A 2.92 –, BVerwGE 92, 258 [263]; BVerwG, Urteil vom 15. Januar 1982, – BVerwG 4 C 26.78 –, BVerwGE 64, 325 [333 f.] zu Verfahrensbeteiligungen. 499 Siehe oben III. 1. f) dd).

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Auch würde die Nichtberücksichtigung von Rechtsänderungen zwangsläufig zu einem weiteren Rechtsstreit führen 500, was mit dem Entlastungsziel der Einführung einer Zulassungsberufung schwerlich im Einklang steht. Diese Regelungslücke ist – ausgehend von dem für den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ebenfalls zentralen Anliegen der Richtigkeitsgewähr im Einzelfall – richterrechtlich dahingehend zu schließen ist, dass derartige Rechtsänderungen auch ohne ihre – regelmäßig objektiv nicht mögliche – Darlegung zu berücksichtigen sind, wenn und soweit es nach dem materiellen Recht auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ankommt; die objektive Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung ist anhand des maßgeblichen Fachrechts zu beurteilen 501. Dogmatisch hat dies über eine einschränkende Auslegung des Darlegungsgebots des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO anhand des jeweiligen materiellen Rechts zu erfolgen. Dies entspricht auch dem von dem Bundesverfassungsgericht 502 für das gerichtliche Verfahren allgemein aufgestellten Grundsatz „iura novit curia“, nachdem für die Rechtsauslegung und -anwendung allein das Gericht zuständig ist und es auf den Vortrag der Prozessbeteiligten dazu nicht ankommt. In dem Ergebnis sind daher Änderungen der Rechtslage in dem Berufungszulassungsverfahren ohne die zeitliche Grenze der Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO zu beachten und die nach dem materiellen Recht für den maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt aktuelle Rechtslage unabhängig von fristgebundenen Darlegungsanforderungen stets von Amts wegen als entscheidend anzusehen 503. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag durch das Oberverwaltungsgericht ist in zeitlicher prozessualer Hinsicht daher die Sach- und Rechtslage zu dem Zeitpunkt der berufungsgerichtlichen Entscheidung über den Zulassungsantrag 504. Soweit in der Rechtsprechung 505 als Argument für die einschränkende Auffassung angeführt wurde, dass es zweifelhaft sei, ob es angesichts der engen Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dem Grundsatz der Prozessökonomie noch entspreche, „den Prozessbeteiligten Gelegenheit zu geben, unter 500 Gutmann, Anmerkung zu Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Januar 2005, Seite 184. 501 Laudemann, Prozessuale Probleme, Seite 173; Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 24 mit der wenig griffigen Einschränkung, dass dies nur für „evidente Auswirkungen der neuen Rechtslage auf die Streitsache“ gelten solle. 502 BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 1998, – 2 BvR 205/91 –, WuM 1999, 383. 503 Geiger, Berufungs- und Beschwerdeverfahren, Seite 70. 504 Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124 Randnummern 22 und 24. 505 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 5. November 1999, – 15 A 2923/ 99 –, NVwZ 2000, 334 – 335.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

einem solchen Zeitdruck vermeintlich erforderliche Rechtsänderungen vorzunehmen“, ist diese Ansicht von dem Missverständnis geprägt, dass Rechtsänderungen von den Beteiligten eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens in dem Sinne des § 63 VwGO vorgenommen würden. Dies ist im demokratischen Rechtsstaat regelmäßig nicht der Fall. dd) Einzelfälle der Geltendmachung „ernstlicher Zweifel“ (1) Würdigung einer Beweisaufnahme Wird mit dem Zulassungsantrag geltend gemacht, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung deswegen bestünden, weil dem Verwaltungsgericht bei der Würdigung einer Beweisaufnahme – etwa der Einnahme des richterlichen Augenscheins – Fehler unterlaufen seien, so sind in der Rechtsprechung besonders restriktive Anforderungen an die erforderliche Darlegung entwickelt worden. Diese besonderen Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe, mit denen „ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils“ hinsichtlich einer Beweiswürdigung geltend gemacht werden, sind damit begründet worden, dass das Gericht nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheide, und dass das Gericht bei der Würdigung und Abwägung aller für die Feststellung des für seine Entscheidung maßgeblichen Sachverhalts erheblichen Tatsachen – dies umfasse auch das Ergebnis etwaiger Beweisaufnahmen – frei sei. Sei aber das Gericht nach dem aus § 108 Abs. 1 VwGO folgenden Grundsatz der freien Beweiswürdigung nur an die innere Überzeugungskraft der in Betracht kommenden Gesichtspunkte und Argumente im Zusammenhang des Ergebnisses des Verfahrens und an die Denkgesetze, an anerkannte Erfahrungssätze und an Auslegungsgrundsätze, nicht hingegen an starre Beweisregeln gebunden 506, und könne der Überzeugungsgrundsatz andererseits nicht für eine Würdigung in Anspruch genommen werden, die im Vorgang der Überzeugungsbildung an einem Fehler leide, z. B. an der Missachtung gesetzlicher Beweisregeln oder an der Berücksichtigung von Tatsachen, die sich weder auf ein Beweisergebnis noch sonst wie auf den Akteninhalt stützen ließen 507, so folge daraus, dass eine Überzeugung, die als solche fehlerfrei gewonnen worden sei, grundsätzlich nicht schon durch die Darlegung von Tatsachen erschüttert werden könne, die lediglich belegten, dass auch eine inhaltlich andere Überzeugung möglich ge506

Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 18. Januar 2001, – 4 L 2401/00 –, Juris. 507 BVerwG, Urteil vom 26. Mai 1999, – BVerwG 8 B 193.98 –, Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 4.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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wesen wäre 508. Deshalb reiche es für das Vorliegen „ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils“ im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht aus, dass überhaupt eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre oder dass das Oberverwaltungsgericht bei einer Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme nach Aktenlage zu einem anderen Ergebnis käme, wenn nicht die Überzeugungsbildung des Verwaltungsgerichts an einem der genannten Fehler leiden würde. Weiterhin wird für diese intensiveren Anforderungen an die Darlegung bei auf einer Beweiswürdigung fußenden ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit einer Entscheidung angeführt, dass das Oberverwaltungsgericht in einem Zulassungsverfahren nach Aktenlage entscheide, sodass dem Oberverwaltungsgericht in einem Zulassungsverfahren regelmäßig der für die Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme durch das Verwaltungsgericht im Einzelfall wesentliche persönliche Eindruck von den Beteiligten oder Zeugen oder von der fraglichen Örtlichkeit fehle 509, mithin erst eine gesteigerte Darlegung der angeblichen Fehler der Beweiswürdigung das Oberverwaltungsgericht in die Lage versetze, über den Zulassungsantrag zu entscheiden. Nach den oben wiedergegebenen Grundsätzen ist hiernach für eine hinreichende Darlegung etwa zu fordern, dass geltend gemacht wird, dass die Vorinstanz eine Tatsache berücksichtigt hat, die sich weder auf ein Beweisergebnis noch sonst wie auf den Akteninhalt stützen lässt. Wird demgegenüber die Wiederholung einer vor dem Verwaltungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme durch das Oberverwaltungsgericht – etwa die erneute Vernehmung derselben Zeugen, die bereits vor dem Verwaltungsgericht ausgesagt haben – erstrebt, so muss der Berufungszulassungsantrag konkrete Anhaltspunkte dafür aufzeigen, warum dieselben Zeugen nunmehr in zweiter Instanz für den Berufungszulassungsantragsteller durchschlagend günstigere Aussagen machen sollten 510. Insoweit wird unter Heranziehung der für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach § 166 VwGO in Verbindung mit § 114 ZPO entwickelten Grundsätze 511 auch in einem Berufungszulassungsverfahren in einem eng begrenzten Rahmen eine vorweggenommene Beweiswürdigung (Beweisantizipation) für möglich gehalten. Nach diesen Grundsätzen können die Fachgerichte eine Beweisantizipation im Prozesskostenhilfeverfahren in eng begrenztem Rahmen durchführen 512, jedoch dürfen die Fachgerichte dann, wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt 508 BVerwG, Urteil vom 25. Mai 1984, – BVerwG 8 C 108.82 –, Buchholz 448.0 § 11 WehrPflG Nr. 35. 509 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 18. Januar 2001, – 4 L 2401/00 –, Juris. 510 OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 22. Oktober 2008, – 2 L 161/04 –, NVwZ-RR 2009, 544. 511 BVerfG, Beschluss vom 29. September 2004, – 1 BvR 1281/04 –, NJW-RR 2005, 140 – 142. 512 BVerfG, Beschluss vom 07. Mai 1997, – 1 BvR 296/94 –, NJW 1997, 2745 [2746].

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehen wird, angesichts des Gebots der Rechtsschutzgleichheit auch dem weniger Bemittelten wegen fehlender Erfolgsaussichten seines Rechtsschutzbegehrens Prozesskostenhilfe nicht verweigern. Auf das Berufungszulassungsverfahren übertragen bedeuten diese Grundsätze, dass dann, wenn der Berufungszulassungsantragssteller keinerlei Gesichtspunkte darlegt, dass und wieso eine erneute Durchführung der bereits vor dem Verwaltungsgericht durchgeführten Beweisaufnahme ein ihm günstiges Beweisergebnis erbringen würde, im Wege der Beweisantizipation darauf abgestellt werden kann, dass das Entscheidungsergebnis des Verwaltungsgerichts durch den Vortrag in dem Berufungszulassungsantrag nicht in Frage gestellt wird. (2) Fehlerhafte Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts der Beurteilung der Sach- und Rechtslage im Aufenthaltsrecht Insbesondere in dem stark unionsrechtlich geprägten Rechtsbereich des Aufenthaltsrechts hat sich die Rechtsprechung zu dem maßgeblichen Zeitpunkt der Beurteilung der Sach- und Rechtslage als auch zu dem behördlichen Überprüfungsprogramm in jüngster Zeit geändert; der Bereich des Aufenthaltsrechts stellt damit einen aus unionsrechtlicher Sicht besonders fehleranfälligen Bereich des materiellen Rechts dar. Das Bundesverwaltungsgericht 513 ist in seiner älteren Rechtsprechung davon ausgegangen, dass bei der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle der nachträglichen Befristung einer Aufenthaltserlaubnis auf die Sach- und Rechtslage in dem Zeitpunkt der letzten verwaltungsbehördlichen Entscheidung abzustellen sei. Diese Rechtsprechung ist auch für den Zeitraum nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 1. Januar 2005 fortgeführt worden 514. Jüngst hat etwa das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht 515 für den Fall des Widerrufs einer Niederlassungserlaubnis als maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage den der letzten Behördenentscheidung angesehen, da mit dem Widerruf der Niederlassungserlaubnis nicht zugleich auch verbindlich über das Vorliegen oder das Nichtvorliegen eines anderen, geringwertigeren Aufenthaltstitels und damit nicht zugleich auch zwingend über eine Aufenthaltsbeendigung entschieden werde. 513

BVerwG, Urteil vom 28. Mai 1991, – BVerwG 1 C 20.89 –, BayVBl. 1991, 631. Bayerischer VGH, Beschluss vom 13. September 2006, – 24 ZB 06.1770 –, Juris. 515 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 14. Mai 2009, – 8 LB 18/ 07 –, NVwZ-RR 2009, 859 [860]. 514

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Dem ist nicht (mehr) zu folgen. Vielmehr folgt aus einer Fortentwicklung der jüngsten, zu Ausweisungsverfügungen ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 516 und dessen neuerer Rechtsprechung zu dem maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt für die Überprüfung ausländerbehördlicher Ermessensentscheidungen 517, dass bei allen die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendenden Verfügungen, wie etwa – über Ausweisungsverfügungen hinaus – bei einer nachträglichen Befristung im Sinne von § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG 518, bei einem Widerruf im Sinne von § 52 AufenthG oder bei der Rücknahme eines Aufenthaltstitels gemäß § 48 VwVfG für die Feststellung der maßgeblichen Sachund Rechtslage auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz abzustellen ist und nicht auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung 519. Denn tragend für die von dem Bundesverwaltungsgericht zu Ausweisungsverfügungen in seinem Urteil vom 15. November 2007 520 vollzogene Abkehr von einem Abstellen auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung sind die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte, des Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts. In nunmehr ständiger Rechtsprechung beurteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Verhältnismäßigkeit von innerstaatlichen Entscheidungen über die Ausweisung von Ausländern ebenso wie die Frage, ob der Beschwerdeführer auch ein Familienleben im Sinne von Artikel 8 EMRK führt, aufgrund derjenigen Situation, zu der die Entscheidungen rechtskräftig geworden ist 521. Daher ist nach der genannten Rechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte bei der Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts diesem zeitlichen Gesichtspunkt, soweit irgend möglich, Rechnung zu tragen. Auch soweit zur Erfüllung ihrer Aufgabe, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, die Vertragsstaaten die Befugnis haben, einen strafrechtlich verurteilten Ausländer auszuweisen, müssen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Entscheidungen auf diesem Gebiet, sofern 516

156.

517

BVerwG, Urteil vom 15. November 2007, – BVerwG 1 C 45.06 –, InfAuslR 2008,

BVerwG, Urteil vom 7. April 2009, – BVerwG 1 C 17.08 –, Juris. Hailbronner, Ausländerrecht, § 7 Randnummer 48. 519 Frenz, Begrenzung ausländerrechtlicher Maßnahmen, Seite 388; so nunmehr auch BVerwG, Urteil vom 13. April 2010, – BVerwG 1 C 10.09 –, AuAS 2010, 194, zur Rücknahme einer Aufenthaltserlaubnis. 520 BVerwG, Urteil vom 15. November 2007, – BVerwG 1 C 45.06 –, InfAuslR 2008, 156. 521 EGMR, Urteil vom 26. September 1997, [El Boujaïdi], Urteils- und Entscheidungssammlung 1997-VI, Seite 1990 [Rn. 33]; EGMR, Urteil vom 31. Oktober 2002, [Yildiz], Individualbeschwerde Nr. 37295/97, InfAuslR 2003, 126 –129; EGMR, Urteil vom 17. April 2003, [Yilmaz], Individualbeschwerde Nr. 52853/99, Juris [Rn. 37 und 45]; EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006, [Üner], Individualbeschwerde Nr. 46410/99, NVwZ 2007, 1279 – 1282 [Rn. 64]. 518

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

sie in ein nach § 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Recht eingreifen, gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, das heißt einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechen und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen. Denn gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung eines Rechts im Sinne des Absatzes 1 nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft unter anderem für die öffentliche Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen notwendig ist. Dabei geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte grundsätzlich davon aus, dass die Konvention Ausländern nicht das Recht zusichert, in ein bestimmtes Land einzureisen oder sich dort aufzuhalten, und dass ein Staat berechtigt ist, die Einreise von Ausländern in sein Hoheitsgebiet und ihren Aufenthalt dort nach Maßgabe seiner vertraglichen Verpflichtungen zu regeln 522. Zur Erfüllung ihrer Aufgabe, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, haben die Vertragsstaaten die Befugnis, einen strafrechtlich verurteilten Ausländer auszuweisen. Dieser Grundsatz gilt unabhängig davon, ob ein Ausländer als Erwachsener oder in sehr jungen Jahren in das Gastland eingereist ist oder dort geboren wurde. Ein absolutes Recht, nicht ausgewiesen zu werden, kann aus Art. 8 EMRK nicht abgeleitet werden 523. Allerdings muss die Entscheidung des Vertragsstaates, sofern sie in ein nach Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Recht eingreift, gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein (Art. 8 Abs. 2 EMRK), das heißt einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechen und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen 524. Dem in Art. 8 Abs. 2 EMRK verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte auch im Hinblick auf die Folgen für den Ausländer selbst widersprechen, durch behördliche Maßnahmen die Voraussetzungen für sein weiteres Zusammenleben mit seiner im Vertragsstaat ansässigen Familie zu beseitigen 525. Eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kommt danach etwa bei Ausländern in Betracht, die aufgrund 522 EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006, – 46410/99 – [Üner], NVwZ 2007, 1279; EGMR, Urteil vom 28. Juni 2007, – 31753/02 – [Kaya], InfAuslR 2007, 325 –326. 523 EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006, – 46410/99 – [Üner], NVwZ 2007, 1279; EGMR, Urteil vom 28. Juni 2007, – 31753/02 – [Kaya], InfAuslR 2007, 325 –326. 524 EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006, – 46410/99 – [Üner], NVwZ 2007, 1279; EGMR, Urteil vom 26. September 1997, – 85/1996/704/896 – [Mehemi], InfAuslR 1997, 430 – 432; EGMR, Urteil vom 26. März 1992, – 55/1990/246/317 – [Beldjoudi], EuGRZ 1993, 556. 525 EGMR, Urteil vom 26. März 1992, – 55/1990/246/317 – [Beldjoudi], EuGRZ 1993, 556; EGMR, Urteil vom 26. September 1997, – 85/1996/704/896 – [Mehemi], InfAuslR 1997, 430; BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1997, – BVerwG 1 C 19.96 –, Buchholz 402.240 § 30 AuslG 1990 Nr. 8.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist. Im Zusammenhang mit der Ausweisung von Straftätern hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verschiedene Kriterien bezeichnet, anhand derer zu prüfen ist, ob eine Ausweisung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist 526, und die damit in die von den Ausländerbehörden zu treffende Ermessensentscheidung einzustellen sind. Dies sind die Art und Schwere der von dem Ausländer begangenen Straftat, die Dauer des Aufenthalts im Land, aus dem der Ausländer ausgewiesen werden soll, die seit der Straftat vergangene Zeit ebenso wie das Verhalten des Ausländers in dieser Zeit, die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten, die familiäre Situation des Ausländers, wie die Dauer der Ehe und andere Faktoren, die die Effektivität des Familienlebens eines Paares zum Ausdruck bringen, ob der Ehepartner von der Straftat wusste, als er die familiäre Bindung einging, ob Kinder aus der Ehe hervorgegangen sind, und in diesem Fall ihr Alter, und die Erheblichkeit der Schwierigkeiten, mit denen der Ehepartner voraussichtlich im Herkunftsland konfrontiert ist. In seine Entscheidung vom 18. Oktober 2006 527 hat der EGMR ferner die Belange und das Wohl der Kinder, insbesondere das Ausmaß der Schwierigkeiten, auf die sie wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ausgewiesen werden soll, und die Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland oder zum Bestimmungsland herangezogen. Ist – wie für diese Fälle gezeigt – maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, so können diese teilweise dynamischen Kriterien eine Veränderung erfahren haben. Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu der Verhältnismäßigkeit von Ausweisungsverfügungen fordert eine umfassende Abwägungsentscheidung, welche die persönlichen Verhältnisse des betroffenen Ausländers sowie das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung in ihrer Gesamtheit betrachtet und entsprechend konkret gewichtet und gegeneinander abwägt 528 und die auf eine möglichst aktuelle und nicht auf eine längst überholte Tatsachengrundlage abstellt. Letztlich darf auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern und deren – auch drittstaatsangehörigen – Familienangehörigen 529 nur noch dann beschränkt werden, wenn von ihnen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr ausgeht, was eine Entscheidung auf einer 526 EGMR, Urteil vom 2. August 2001, – 54273/00 – [Boultif], InfAuslR 2001, 476 – 481; EGMR, Urteil vom 28. Juni 2007, – 31753/02 – [Kaya], InfAuslR 2007, 325 – 326. 527 EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006, – 46410/99 – [Üner], NVwZ 2007, 1279. 528 BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2007, – 2 BvR 304/07 –, NVwZ 2007, 946 –948.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

überholten Tatsachengrundlage zwingend ausschließt 530. Schließlich gelten entsprechende Grundsätze generell für alle Drittstaatsangehörigen, die nach der Richtlinie 2003/109/EG über ein Daueraufenthaltsrecht verfügen, denn sie dürfen nach Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie nur dann ausgewiesen werden, wenn von ihnen eine gegenwärtige und aktuelle Gefahr ausgeht 531. Die von der Rechtsprechung zu dem maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt einer Ausweisungsverfügung aufgestellten Grundsätze müssen in gleicher Weise für alle diejenigen Fälle Geltung beanspruchen, in denen ausländerbehördliche Verfügungen die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beenden. Denn für den betroffenen Ausländer ist es in den Wirkungen in Bezug auf sein Verbleibensrecht im Bundesgebiet unerheblich, ob dieses durch eine Ausweisung, die Nichtverlängerung eines Aufenthaltstitels, dessen nachträgliche Befristung, seinen Widerruf oder seine Rücknahme in Wegfall gerät. Dies rechtfertigt es, die Zeitpunktverlagerung auch auf andere Fälle der Aufenthaltsbeendigung zu erstrecken 532. Auch für die Ausländerbehörde steht es lediglich in ihrem pflichtgemäßen Ermessen, in welcher Weise sie auf ein ausweisungswürdiges Verhalten reagieren: Sie kann etwa von einer Ausweisung absehen und die Aufenthaltsbeendigung lediglich in der Weise herbeiführen, dass sie einen bestehenden Titel nachträglich befristet, diesen widerruft oder zurücknimmt. Alle genannten Handlungsoptionen der Ausländerbehörde haben mit dem Entfallen des Aufenthaltsrechts und dem Entstehen der Ausreisepflicht des Betroffenen (vgl. § 51 Abs. 1 und § 50 Abs. 1 AufenthG) identische Rechtsfolgen und unterscheiden sich damit in ihrer Wirkung nicht von einer Ausweisung. Unter Beachtung der verfassungsrechtlichen, unionsrechtlichen und bundesrechtlichen Implikationen – der Europäische Menschenrechtskonvention kommt nur der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu; sie hat durch Zustimmungsgesetz vom 7. August 1952 533 Eingang in das Deutsche Recht gefunden und teilt den Rang des Zustimmungsgesetzes 534 – kann es aber keinen Unterschied machen, in welcher eher rechtstechnischen Weise der Erfolg der Beendigung des Aufenthaltsrechts erreicht wird. Daher gelten die für die Neuausrichtung des maßgeblichen Beurteilungszeitpunktes bei Ausweisungsentscheidungen geltenden Überlegungen in allen Fällen 529

Zu der EU-Rückführungsrichtlinie insoweit Franßen-de la Cerda, Vergemeinschaftung der Rückführungspolitik. 530 Vgl. auch Art. 27 der Richtlinie 2004/38/EG. 531 EuGH, Urteil vom 10. Juli 2008, Rs. C-33/07, [Ministerul Administraţiei şi Internelor – Direcţia Generală de Paşapoarte Bucureşti gegen Gheorghe Jipa], Juris, mit weiteren Nachweisen. 532 BVerwG, Urteil vom 7. April 2009, – BVerwG 1 C 17.08 –, Juris [Rn. 38]. 533 BGBl II, Seite 685. 534 BVerwG, Beschluss vom 15. Juni 1998, – BVerwG 2 DW 2.97 –, Juris.

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einer Aufenthaltsbeendigung und damit auch in den Fällen, in denen die Ausländerbehörde einen bestehenden Titel nachträglich befristet, diesen widerruft oder zurücknimmt. Auch § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gebietet nicht anders als eine Ermessensausweisung eine umfassende Ermessensausübung, bei der insbesondere Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und die rechtsstaatlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit zu beachten sind 535. Dem hat sich das Bundesverwaltungsgericht 536 nunmehr für Klagen auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis für die Überprüfung der behördlichen Ermessensentscheidung angeschlossen. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass mit dem Widerruf einer Niederlassungserlaubnis nicht zeitgleich zwingend über das Vorliegen oder Nichtvorliegen der Voraussetzungen eines anderen Aufenthaltstitels entschieden werde, sodass mit einem Widerruf nicht über zwingend über eine Aufenthaltsbeendigung entscheiden werde 537. Denn mit dem Widerruf eines Aufenthaltstitels, ohne dass ein neuer beantragt oder gar bewilligt wurde, ist der Aufenthalt als Voraussetzung einer Aufenthaltsbeendigung jedenfalls rechtswidrig. Denn nach § 4 Abs. 1 AufenthG bedürfen Ausländer für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des Abkommens vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei 538 ein Aufenthaltsrecht besteht. Die Aufenthaltstitel werden nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG erteilt als 1. Visum (§ 6), 2. Aufenthaltserlaubnis (§ 7), 3. Niederlassungserlaubnis (§ 9) oder 4. Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG (§ 9 a). Fehlt es an einem solchen Titel, ist der Aufenthalt rechtswidrig. Dass ein solcher „anderweitig geltend gemacht“ 539 werden könnte, ist insoweit aufenthaltsrechtlich irrelevant. Diese Ausführungen zeigen, dass durch die Entwicklungen in der Rechtsprechung der Anteil derjenigen Verfahren, in denen auf den Zeitpunkt der jeweiligen gerichtlichen Entscheidung in der Tatsacheninstanz als für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblich abzustellen ist, zunimmt, sodass auch die Frage der Berücksichtigung neuen Tatsachenvortrages in einem Berufungszulassungsverfahren an Bedeutung gewinnt. 535 Vgl. noch zu § 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG 1990 BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 1996, – BVerwG 1 B 20.96 –, Buchholz 402.240 § 12 AuslG 1990 Nr. 8. 536 BVerwG, Urteil vom 7. April 2009, – BVerwG 1 C 17/08 –, NVwZ 2010, 262 [266]. 537 So aber Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 14. Mai 2009, – 8 LB 18/07 –, NVwZ-RR 2009, 859 [860]. 538 Hierzu oben II. 1. 539 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 14. Mai 2009, – 8 LB 18/ 07 –, NVwZ-RR 2009, 859 [860].

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Verkennt das Verwaltungsgericht den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt, oder haben sich insbesondere in dem tatsächlichen Bereich bis zu einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Veränderungen ergeben – dies ist etwa das weitere Verhalten des von einer Ausweisungsverfügung betroffenen türkischen Staatsangehörigen, der assoziationsratsbeschlussbegünstigt ist, oder aber die Geburt eines Kindes oder eine Eheschließung mit einem deutschen oder einem Staatsangehörigen der Union –, so können diese Fragen die Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO tragen; nach der hier vertretenen Auffassung können und müssen die nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts eingetretenen tatsächlichen, dem Berufungszulassungsantragssteller günstigen Umstände auch berücksichtigt werden. ee) Anforderungen an die Darlegung der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO Um ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils darzulegen, muss sich der Zulassungsantragsteller substanziell mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen 540. Welche Anforderungen an Umfang und Dichte seiner Darlegung zu stellen sind, hängt deshalb auch von der Intensität ab, mit der die Entscheidung des Verwaltungsgerichts begründet worden ist 541. Die unspezifizierte Behauptung der Unrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung genügt jedenfalls nicht 542. Für den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen zu dem Inhalt des unbestimmten Rechtsbegriffs der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO für die Darlegung als Mindestvoraussetzung zu verlangen, dass geltend gemacht wird, dass die verwaltungsgerichtliche Entscheidung in ihrem Ergebnis unrichtig ist, und die Sachgründe hierfür bezeichnet und erläutert werden. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit einer Gerichtsentscheidung sind daher immer schon dann hinreichend dargelegt im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden 543 und Zweifel am Entscheidungsergebnis begründen.

540 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 22. Januar 2008, – 5 LA 19/07 –, Juris; Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124a Rn. 63. 541 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 22. Januar 2008, – 5 LA 19/07 –, Juris; Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124a Rn. 64. 542 Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 52.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Demgegenüber darf bei der Anwendung des Darlegungserfordernisses aus § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dem Betroffenen aufgrund der beschriebenen verfassungsrechtlichen Implikationen nicht abverlangt werden, dem Oberverwaltungsgericht „einen vollständigen Begründungskontext zu liefern, den es im Fall der Stattgabe selbst zu entwickeln hätte“ 544. Denn das Zulassungsverfahren hat nicht die Aufgabe, das Berufungsverfahren mit seiner umfassende(re)n Prüfung (§ 128 VwGO) vorwegzunehmen 545. An die Begründung des Zulassungsantrags dürfen daher nicht dieselben Anforderungen gestellt werden wie an die spätere Berufungsbegründung nach § 124a Abs. 3 VwGO 546. Für die Darlegung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist es hinreichend, aber auch notwendig, dass sich ein Antrag nicht darauf beschränkt, die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung allgemein oder unter Wiederholung des erstinstanzlichen Vorbringens anzuzweifeln. Erforderlich ist vielmehr, dass hinreichend fallbezogenen und substantiiert – insoweit hängen die Darlegungsanforderungen wie gesagt auch im Sinne eines „Spiegelbildes“ von Art und Umfang der Begründung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ab – auf die Erwägungen des Verwaltungsgerichts zu den für die Entscheidung maßgeblichen Rechts- und Tatsachenfragen eingeht, deren Unrichtigkeit mit zumindest vertretbaren, jedenfalls nicht unvertretbaren Erwägungen dartut und sich dazu verhält, dass und aus welchen Gründen die verwaltungsgerichtliche Entscheidung auf diesen – aus Sicht des Rechtsmittelführers fehlerhaften – Erwägungen beruht; nicht ausreichend sind Darlegungen zu Zweifeln an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente oder Sachverhaltsfeststellungen, wenn diese nicht zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Entscheidungsergebnisses begründen 547. Rechts- oder Tatsachenfragen, die in der Begründung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung keine Rolle gespielt haben oder nicht zweifelhaft waren, brauchen dabei im Rahmen des Antrages auf Rechtsmittelzulassung nicht erörtert zu werden, um eine Entscheidungserheblichkeit darzulegen 548, soweit sich ihre Entscheidungserheblichkeit nicht aufdrängt. 543

BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, DVBl. 2000, 1458; BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 2009, – 1 BvR 812/09 –, NJW 2010, 1062 [1063]. 544 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, DVBl. 2000, 1458. 545 Fischer, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, Seite 1686. 546 Von der falschen Prämisse ausgehend, dass eine Berufungsbegründung nichts anderes sein könne als die Darlegung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO: Schmidt, 6. VwGO-Änderungsgesetz, Seite 696. 547 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 21. März 1997, – 12 M 1255/97 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 548 BVerfG, Beschluss vom 15. August 1994, – 2 BvR 719/94 –, NVwZ-Beil. 1994, 65 [66].

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Für das – wie gesagt gesondert zu prüfende – Darlegungserfordernis reicht es auch bei einer – objektiv im Ergebnis (eindeutig) unrichtigen – Entscheidung nicht aus, dass die Unrichtigkeit lediglich allgemein behauptet wird 549, wenn es an hinreichenden (anderen) Darlegungen insgesamt fehlt. Ob auch gefordert werden kann, dass sich die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung aus dem Berufungszulassungsantrag selbst ergeben müsse, und eine solche, die sich erst nach einer Durchsicht der Akten erschließe, nicht genüge 550, ist eine Frage der Umdeutung 551 der dargelegten Berufungszulassungsgründe, da ja der sich erst aus den Akten ergebende Berufungszulassungsgrund schon gedanklich nicht dargelegt worden sein kann. Müsste das Oberverwaltungsgericht zu einer Ablehnung eines auf das Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützten Berufungszulassungsantrags Erwägungen machen, die grundsätzliche Bedeutung haben – etwa weil diese eine von dem entscheidenden Oberverwaltungsgericht bislang nicht entschiedene, in der Rechtsprechung der übrigen Obergerichte umstrittene Rechtsfrage einer Klärung zuführen –, so indiziert dies das objektive Vorliegen des Berufungszulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO 552. Denn die Heranziehung von rechtlichen oder tatsächlichen Erwägungen von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu der Ablehnung des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO widerspricht sowohl dem Sinn und dem Zweck des dem Berufungsverfahren vorgeschalteten Berufungszulassungsverfahrens als auch dem System der in § 124 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 VwGO geregelten Zulassungsgründe 553. Zusammenfassend ist festzustellen, dass nach herrschender und zutreffender Meinung ernstliche Zweifel erst dann zu bejahen sind, wenn bei der Überprüfung im Zulassungsverfahren, also aufgrund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts 554, gewichtige, gegen die Ergebnisrichtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe rechtlicher 549 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 24. März 2003, – 12 LA 19/03 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 550 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 24. März 2003, – 12 LA 19/03 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/; Bader, Praktische Erfahrungen, Seite 407. 551 Hierzu später unter III. 3. 552 BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2009, – 1 BvR 2524/06 –, NVwZ 2009, 515 – 518. 553 BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2009, – 1 BvR 2524/06 –, NVwZ 2009, 515 – 518. 554 Zu einer Umdeutung wegen offen zu Tage tretender Berufungszulassungsgründe sogleich.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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oder tatsächlicher Art zu Tage treten, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg 555. Das ist der Fall, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird 556. Die Beantwortung umstrittener Fachfragen darf nicht in ein Berufungszulassungsverfahren vorverlagert und so dem betroffenen der Zugang zu dem Berufungsverfahren verwehrt werden 557. Es kommt nicht darauf an, ob einzelne Begründungselemente der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung unrichtig sind, sondern darauf, ob diese im Ergebnis unrichtig ist 558. Soweit in der Rechtsprechung einzelne Oberverwaltungsgerichte für die Darlegung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestimmte Qualitätsmerkmale – wie eine „vertiefte Auseinandersetzung“ oder eine „hinreichend verlässliche Aussage“ über die Erfolgsaussichten des Berufungszulassungsantrags oder des künftigen Berufungsverfahrens – gefordert werden, findet sich für derartige Erfordernisse im Gesetz keine Stütze. Derartige Anforderungen zu postulieren verbietet sich auch deshalb, weil derartige „unbestimmte Qualitätsmerkmale“ 559 die Erfolgsaussichten des Berufungszulassungsantrags für den Rechtsmittelführer unkalkulierbar machen 560. ff) Anforderungen an die Darlegung unionsrechtlich fußender Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung Von den vorstehenden Ausführungen ausgehend wäre in Anwendung der bislang herrschenden Meinung für die in dem Rahmen der vorliegenden Bearbeitung zentrale Frage der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO für die Erfüllung des Darlegungsgebotes aus § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO zu fordern, dass der Zulassungsantrag darlegt, dass und warum die angefochtene Entscheidung primäres oder sekundäres Unionsrecht nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt oder 555 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Juli 2007, – 2 LA 439/07 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 556 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, NVwZ 2000, 1163; BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 2009, – 1 BvR 812/09 –, NJW 2010, 1062 [1063]; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 17. Januar 2006, – 2 LA 1259/04 –, http://www .dbovg.niedersachsen.de/. 557 BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 2009, – 1 BvR 812/09 –, NJW 2010, 1062 [1064]. 558 Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 17. Januar 2006, – 2 LA 1259/04 –, http:/ /www.dbovg.niedersachsen.de/. 559 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, DVBl. 2000, 1458. 560 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, DVBl. 2000, 1458.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

dass und wieso eine ungeklärte, aber entscheidungsrelevante Frage des Unionsrechts die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV erfordert 561. Verhält sich ein Berufungszulassungsantrag unter dem Gesichtspunkt des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht zu diesen Fragen, so werden diese mangels entsprechender Darlegung von dem Oberverwaltungsgericht der rechtlichen Beurteilung des Zulassungsbegehrens nicht zu Gunde gelegt; dem Zulassungsantrag bleibt in Anwendung der bislang herrschenden Meinung selbst dann der Erfolg versagt, wenn das Oberverwaltungsgericht eine übersehene unionsrechtliche entscheidungsrelevante Problematik oder selbst die Notwendigkeit der Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV erkennt, aus der heraus das verwaltungsgerichtliche Urteil sogar unzweifelhaft fehlerhaft ist oder jedenfalls einer Überprüfung in einem Berufungsverfahren unter Klärung der unionsrechtlichen Problematik bedarf. Ob diese Ansicht unter einer Beachtung des Unionsrechts haltbar erscheint wird im Folgenden zu erörtern sein. b) Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache Der Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ist wenig greifbar, was auch an seiner in der Rechtsprechung umstrittenen Auslegung 562 deutlich wird. Die Konturierungsbedürftigkeit folgt insbesondere aus dem Umstand, dass nicht nur rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten als solche benannt werden müssen, sondern insbesondere daraus, dass diese „besonders“ sein müssen, also gewichtet und zu denjenigen eines Verwaltungsrechtsstreits „durchschnittlicher“ Schwierigkeit in Relation gesetzt werden müssen 563. Dieses Erfordernis führt dazu, dass die Rechtsprechung dazu neigt, die unscharfen Begrifflichkeiten des Berufungszulassungsgrundes der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 561 OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 29. Januar 1998, – A 1 S 177/97 –, JMBl. LSA 1998, 327 – 329, das dies damit begründet, dass die Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV weiter seien als die des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. 562 Thüringer OVG, Beschluss vom 17. August 2000, – 4 ZKO 1145/97 –, NVwZ 2001, 448 – 451 mit weiteren Nachweisen. 563 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Juli 2008, – 5 LA 174/05 –, RiA 2009, 82 – 83.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Abs. 2 Nr. 2 VwGO mit mindestens ebenso unscharfen anderen Begrifflichkeiten zu konturieren: Was einem Richterkollegium „überdurchschnittliche, das normale Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten verursacht“, wann sich Schwierigkeiten einer Streitsache „qualitativ von denjenigen eines Verwaltungsrechtsstreits „durchschnittlicher“ Schwierigkeit abheben“ 564, setzt eigentlich Kenntnisse über dessen Befähigungen und den Maßstab, an dem der Durchschnitt gemessen wird, voraus. Beides können Rechtssuchende und deren Bevollmächtigte naturgemäß nicht haben, kommt es dabei doch auch auf die zugrundeliegenden persönlichen Befähigungen oder doch jedenfalls deren Selbsteinschätzung an 565. Auch in der Literatur finden sich zu diesem Berufungszulassungsgrund mit dem Abstellen auf „den Normalfall an Schwierigkeit erheblich übersteigend“ 566, auf „Schwierigkeiten, die das normale Maß übersteigen“ 567 oder „die Schwierigkeit signifikant über dem Durchschnitt verwaltungsrechtlicher Fälle“ 568 liegend Kriterien, die keine Präzisierung darstellen, sondern vielmehr einer solchen selbst bedürfen. Von seiner Formulierung her stellt der Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf einen wertenden Vergleich verschiedener Streitsachen untereinander ab. Gemeint ist ein qualitativer, nicht ein quantitativer Vergleich 569. Derartige Erkenntnisse über das in vergleichbaren Streitverfahren übliche Maß an Komplexität kann sich aber – wie es das Bundesverfassungsgericht 570 zutreffend ausgeführt hat – ein nicht gerade auf das jeweilige Rechtsgebiet spezialisierter Rechtsanwalt mit zumutbarem Aufwand nicht beschaffen. Mit dem Wort „besonders“ enthält die Norm zudem ein Tatbestandsmerkmal, das sich in dem vorliegenden Kontext einer objektiven Handhabung entzieht und damit dem Berufungszulassungsantragsteller hinsichtlich der Erfolgsaussichten seines Rechtsbehelfs ein unkalkulierbares Risiko aufbürdet. Das Bundesverfassungsgericht hat ferner zutreffend darauf hingewiesen, dass die Fachsenate der jeweiligen Oberverwaltungsgerichte in der Gefahr stehen, die Schwierigkeiten 564

Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Juli 2008, – 5 LA 174/05 –, RiA 2009, 82 – 83. 565 Kritisch zur Möglichkeit einer Begriffsbestimmung in dem Rahmen des § 6 Abs. 1 VwGO auch schon Schnellenbach, Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung, Seite 232. 566 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 34, der indes die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts [BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, DVBl. 2000, 1458] insoweit außer acht lässt. 567 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 28. 568 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 35. 569 Rudisile, Berufungs(zulassungs)recht der VwGO, Seite 426. 570 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, NdsVBl 2000, 244 –246.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

desto weniger wahrzunehmen, je mehr sie spezialisiert sind; diesem Blickwinkel könne auch der informierte Rechtsanwalt nicht entsprechen 571. Der Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ist damit unter dem Gesichtpunkt der prozessualen Waffengleichheit und damit unter dem Topos des fairen Verfahrens bedenklich 572. Im Folgenden soll gleichwohl eine begriffliche Annäherung versucht werden. aa) Begriffsbestimmung Die Bestimmung des Begriffs der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ist daran auszurichten, dass der Gesetzgeber mit diesem Zulassungsgrund an die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Erlass eines Gerichtsbescheides (§ 84 VwGO) und die Übertragung an den Einzelrichter (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) angeknüpft hat 573. Da Beschlüsse über die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter gemäß § 6 Abs. 4 VwGO unanfechtbar sind, kann indes auf eine obergerichtliche Auslegung dieser Norm nicht zurückgegriffen werden. Jedoch kann andererseits aus dem Umstand, dass das Verwaltungsgericht die Sache in Kammerbesetzung entschieden und sie nicht auf den Einzelrichter übertragen hat, nicht auf das Vorhandensein besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten geschlossen werden 574. Die unterbliebene Übertragung auf den Einzelrichter indiziert den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht 575. Das ergibt sich schon daraus, dass nach dem Wortlaut des § 6 Abs. 1 VwGO („soll in der Regel“) die Übertragung auf den Einzelrichter selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen des Übertragungstatbestandes im (intendierten) Ermessen des Spruchkörpers liegt 576. Der Zulassungsgrund des § 124 571

BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, NdsVBl 2000, 244 –246. Berkemann, Verwaltungsprozessrecht, Seite 455. 573 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 11. November 2004, – 2 LA 422/03 –, NVwZ-RR 2006, 197. 574 Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 8; anderer Ansicht Schenke, „Reform“ ohne Ende, Seite 92, und Quaas, 6. VwGO-Änderungsgesetz, Seite 706, der irrig und ohne nähere Begründung mit dem Einverständnis zu der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter nach § 6 Abs. 1 VwGO einen Verzicht auf die Berufungszulassungsgründe der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO und des Vorliegens eines Verfahrensmangels im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO verbindet. 575 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 27. März 1997, – 12 M 1731/97 –, NVwZ 1997, 1225 – 1228. 576 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 21. Mai 2008, – 9 A 2725/06 –, DVBl 2008, 999. 572

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Abs. 2 Nr. 2 VwGO der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten wird daher nicht schon dadurch indiziert oder dem Oberverwaltungsgericht gar bindend vorgegeben, dass das Verwaltungsgericht den Rechtsstreit nicht nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 VwGO auf den Einzelrichter übertragen, sondern durch die Kammer entschieden hat 577. In einem Berufungszulassungsverfahren sind die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO selbständig von dem Oberverwaltungsgericht zu prüfen und von dem Rechtsmittelführer dementsprechend zuvor (und unabhängig von der (Nicht-)Übertragungsentscheidung des Verwaltungsgerichts) darzulegen 578. Ebenfalls den Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht indizierend ist eine besondere Dauer des Berufungszulassungsverfahrens 579. Der unbestimmte Rechtsbegriff der besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten ist vielmehr durch Auslegung zu ermitteln. Ausgehend von seinem Wortlaut her müssen die rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten besonders, das heißt – in Abgrenzung zu „gewöhnlich“ – gesteigert 580 sein. Der Wortlaut lässt jedoch offen, nach welchen Vergleichsmaßstäben zu beurteilen sein soll, ob die Schwierigkeiten besondere sind oder nicht 581. Von diesem Wortlaut ausgehend ist es zunächst unvertretbar, für das Vorliegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO allein darauf abzustellen, ob die Angriffe des Rechtsmittelführers begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung geben, die sich nicht ohne weiteres in dem Berufungszulassungsverfahren klären lassen 582. Für diese Sichtweise finden sich schon in dem Wortlaut der Norm, der eben auf besondere Schwierigkeiten der Rechtssache abstellt, keine Ansatzpunkte. Eine Streitsache weist nach herrschender Meinung in dem Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf, wenn ihre Entscheidung voraussichtlich in tatsächlicher bzw. rechtlicher Hinsicht größere, das heißt überdurchschnittliche, das normale Maß nicht 577 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 28 d. 578 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 27. März 1997, – 12 M 1731/97 –, NVwZ 1997, 1225. 579 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 23. Januar 2006, – 14 A 2009/01 –, Juris: Dauer des Berufungszulassungsverfahrens mehr als vier Jahre. 580 Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, „Besonders“. 581 Thüringer OVG, Beschluss vom 17. August 2000, – 4 ZKO 1145/97 –, NVwZ 2001, 448 – 451; Rudisile, Berufungs(zulassungs)recht der VwGO, Seite 426. 582 So aber Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 106.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

unerheblich überschreitende Schwierigkeiten verursachen wird 583. Dies soll der Fall sein, wenn das Oberverwaltungsgericht aufgrund der ihm zu seiner Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten nicht abschließend beurteilen könne, welchen Ausgang ein Rechtsmittelverfahren haben werde 584. Indes kann sich ein nicht gerade auf das jeweilige Rechtsgebiet spezialisierter Rechtsanwalt regelmäßig Erkenntnisse über das in vergleichbaren Streitverfahren übliche Maß an Komplexität mit zumutbarem Aufwand nicht beschaffen 585, während derartige Vergleichsmaßstäbe dem Oberverwaltungsgericht ohne weiteres zugänglich sind. Es kommt hinzu, dass mit Adverbien 586 wie „durchschnittliche“ oder „messbar“ in Bezug auf die besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO Kriterien eingeführt werden, die sich „einer rationalen Handhabung entziehen“ 587 und damit den Berufungszulassungsantragssteller „hinsichtlich der Erfolgsaussichten seines Antrags ein unkalkulierbares Risiko aufbürden“ 588. Derartige Interpretationen sind so wenig griffig, dass auf sie verzichtet werden sollte 589. Hinzu kommt weiter, dass die Geschäftsverteilung der Oberverwaltungsgerichte nach Sachgebieten erfolgt 590. Jedenfalls für größere Oberverwaltungsgerichte, die über eine entsprechende Anzahl von Spruchkörpern verfügen, wird hierdurch ein hoher Grad an Spezialisierung erreicht. Andererseits birgt die Bildung derartiger Fachsenate der Oberverwaltungsgerichte die Gefahr in sich, dass aufgrund des hohen Spezialisierungsgrads die rechtlichen und auch die tatsächlichen Schwierigkeiten nur noch umgekehrt proportional zu dem Grad der eigenen Spezialisierung wahrgenommen werden: Bei steigender Spezialisierung eines Spruchkörpers verengt sich naturgemäß der Blickwinkel, unter dem rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten noch als „besonders“ wahrgenommen werden 591. Steigende Spezialisierung lässt damit die Wahrscheinlichkeit einer 583 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Juli 2008, – 5 LA 174/05 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 23. Juli 2008, – 5 LA 232/05 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/; Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 9. 584 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 81. 585 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, DVBl. 2000, 1458. 586 Umstandswörtern. 587 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, DVBl. 2000, 1458. 588 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, DVBl. 2000, 1458. 589 Uechtritz, 6. VwGO-Novelle, Seite 1220; kritisch auch Schmidt, 6. VwGO-Änderungsgesetz, Seite 698; Fischer, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, Seite 1687. 590 Vgl. etwa den Geschäftsverteilungsplan des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts für das Geschäftsjahr 2009, veröffentlicht unter http://www.oberverwaltungsgericht .niedersachsen.de/master/C3378861_N3078512_L20_D0_I3070902.html.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Anerkennung tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten tendenziell geringer erscheinen, ohne dass auch ein spezialisierter Rechtsanwalt dieser Tendenz begegnen könnte. Auch nicht eher einer Objektivierung zugänglich erscheint zu einer Beurteilung des Vorliegens besonderer rechtlicher und tatsächlicher Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO das Abstellen auf den Begründungsaufwand des erstinstanzlichen Urteils, wie dies aber das Bundesverfassungsgericht als „häufig“ möglich ansieht 592. Bei einem hohen Begründungsaufwand des Urteils der Vorinstanz genüge der Berufungszulassungsantragssteller seiner Darlegungslast regelmäßig mit erläuternden Hinweisen auf die einschlägigen Passagen des Urteils 593. Für diejenigen Fälle, in denen ein Urteil der Vorinstanz die relevanten Probleme gänzlich oder überwiegend verkenne, sich also durch einen eher geringen Begründungsaufwand „auszeichnet“, sieht es das Bundesverfassungsgericht als möglich an, von dem Berufungszulassungsantragssteller zu fordern, dass er bestimmte tatsächliche Aspekte erläutert oder die Beantwortung aus seiner Sicht notwendiger Rechtsfragen in nachvollziehbarer Weise darstellt und ihren Schwierigkeitsgrad plausibel macht 594. Hiergegen ist einzuwenden, dass die Frage, ob der Begründungsaufwand eines Urteils der Vorinstanz ein hoher ist, eine ebenso unbestimmte Wertung wie die Bewertung von rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten als „messbar“ oder „durchschnittlich“ ist und daher zahlreiche Unschärfen enthält. Deutlich wird diese Ungeeignetheit des Maßstabs, wenn ihn in den Blick nehmende Judikate 595 auf den seitenmäßigen Umfang der Entscheidungsgründe abstellen – ob acht Seiten Entscheidungsgründe „einen ungewöhnlichen Umfang“ darstellen, ist ebenso unscharf wie irrelevant, da der Umfang der Entscheidungsgründe nicht zwingend die Schwierigkeit der Rechtssache, sondern auch das Problembewusstsein des Berichterstatters oder des Spruchkörpers oder aber dessen Fehlen widerspiegeln kann. Soweit vereinzelt 596 vertreten wird, besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art lägen vor, „wenn das Oberverwaltungsgericht den Fall (im summarischen Zulassungsverfahren) nicht zu Ende denken kann, obwohl es darauf bei der Entscheidung ankommt“, ersetzt dies die relativ unbestimmte Maxime der herrschenden Meinung durch eine ebenso wenig griffige Formu591

BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, DVBl. 2000, 1458. So BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, DVBl. 2000, 1458. 593 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, DVBl. 2000, 1458. 594 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, DVBl. 2000, 1458. 595 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 20. Mai 2005, – 7 A 1516/04 –, Juris, das aber den Umfang der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nicht allein als Anhaltspunkt genügen lässt. 596 Baumgärtel, Zulassungsberufung, Seite 124. 592

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

lierung: Ob das Oberverwaltungsgericht den Fall zu Ende denken „kann“, ist wohl eher eine Frage des anzustellenden Begründungsaufwandes, mit dem das Zulassungsverfahren belastet werden soll, damit aber beliebig und nicht messbar. Auch wenn Unschärfen bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe unvermeidbar sind, bietet sich für eine Bestimmung besonderer rechtlicher oder tatsächlicher Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO für zahlreiche Fälle zunächst eine materielle Betrachtungsweise an: Besonders und rechtlich und / oder tatsächlich schwierig sind diejenigen Fälle, die aufgrund ihrer Problemstruktur und ihrer intrikaten 597 Konfliktsituationen eine Zulassung der Berufung gebieten 598. Als überdurchschnittlich schwierig in diesem Sinne werden zunächst regelmäßig solche Fälle einzustufen sein, die wegen ihrer wirtschaftlichen, technischen oder wissenschaftlichen Zusammenhänge einen auffallend schwer überschaubaren Sachverhalt aufweisen 599. Derartige Fälle weisen eine „abstrakte Fehleranfälligkeit“ wegen der besonderen Schwere der Fallbehandlung auf 600. Besondere rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten können ferner solche Streitfälle beinhalten, in denen komplexe Beweisaufnahmen mit insbesondere widersprüchlichen Beweisergebnissen – etwa einander widersprechenden Zeugenaussagen und Sachverständigengutachten – aufweisen, die mithin eine umfassende Beweiswürdigung erfordern 601; jedoch deutet der Umstand allein, dass eine irgendwie geartete Beweisaufnahme durchgeführt wurde, noch nicht auf das Vorliegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO hin 602. Auch neuartige oder ausgefallene, ungeklärte oder streitige und sich nicht ohne weiteres aus dem Gesetz beantworten lassende Rechtsfragen 603 vermögen – insoweit deckungsgleich mit dem Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO – besondere rechtliche Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO begründen. Als das Vorliegen besonderer rechtlicher oder tatsächlicher Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO allein indizierend, aber entgegen der herrschenden Meinung nicht bestimmend kann ein größerer entscheidungser597

Verwickelt, verworren; heikel, verfänglich. Hufen, Verwaltungsprozessrecht besteht, Seite 529. 599 Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 45. 600 Berkemann, Verwaltungsprozessrecht, Seite 456. 601 Schnellenbach, Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung, Seite 232. 602 OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 22. Oktober 2008, – 2 L 161/04 –, NVwZ-RR 2009, 544. 603 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 47; Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 46. 598

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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heblicher Begründungsaufwand der erstinstanzlichen Entscheidung angesehen werden, der sich aber eben nicht aus dem Umfang der Entscheidungsgründe ergibt, sondern materiell zu bestimmen ist. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der die besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO indizierende größere Begründungsaufwand der Entscheidung der Vorinstanz tatsächlich auch auf einzelnen aufzeigbaren Schwierigkeiten beruhen muss und nicht nur durch eine nach der Sachlage gebotene und / oder von den Beteiligten veranlasste Prüfung vieler auftretender Sach- und Rechtsfragen, die selbst keine Schwierigkeiten aufwerfen, bedingt sein darf 604. Demgegenüber enthält ein Fall, der lediglich durchschnittliche, eigentlich jeder Rechtsanwendung immanente Fragen im Zusammenhang mit den entscheidungserheblichen Problemen aufwirft, keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO. Weder die Übertragung auf den Einzelrichter noch deren Unterbleiben, nicht die Dauer der mündlichen Verhandlung 605 oder die Länge des angefochtenen Urteils indizieren oder hindern das Vorliegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO. Auch dann, wenn sich die entscheidungserheblichen Fragen tatsächlicher und rechtlicher Art ohne Weiteres in einem Zulassungsverfahren klären lassen und nicht die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern, fehlt es an besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO 606. Jedenfalls keine „besonderen Schwierigkeiten“ im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO bereiten daher solche Rechtsstreitigkeiten, die ohne weiteres durch einfache Anwendung einer eindeutigen Rechtsvorschrift auf einen klar zu Tage liegenden Sachverhalt gelöst werden können 607. Die mit dem Zulassungsantragsvorbringen aufgeworfenen Fragen dürfen sich mithin im Zulassungsverfahren nicht ohne weiteres beantworten lassen 608. Festzustellen und als für die Zulassungsantragsteller ein schwer kalkulierbares Risiko darstellend ist, dass das Oberverwaltungsgericht insoweit die Möglichkeit hat, die Zulassung auf der Grundlage des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zu steuern: Ob die Auslegung einer Norm im Zulassungsverfahren selbst erfolgt und mithin 604

Bayerischer VGH, Beschluss vom 09. Oktober 2001, – 21 ZS 01.576 –, Juris. Hamburgisches OVG, Beschluss vom 3. Dezember 2004, – 1 Bf 113/04 –, NuR 2005, 472 – 474. 606 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 4. Juni 2008, – 2 LA 267/08 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 607 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 11. November 2004, – 2 LA 422/03 –, NVwZ-RR 2006, 197. 608 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 31. August 1998, – 1 L 3914/98 –, NdsRpfl. 1999, 44. 605

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

die Berufung nicht zugelassen wird, oder ob der Senat die fragliche Auslegung erst in einem Berufungsverfahren vornehmen will und dem Zulassungsbegehren stattgibt, ist kaum voraussehbar. Unabhängig von dem begrifflichen Vorliegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO kann eine Berufung ferner dann nicht zugelassen werden, wenn es auf die geltend gemachten Schwierigkeiten für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht ankommt, weil sich das verwaltungsgerichtliche Urteil aus mit den dargelegten Schwierigkeiten nicht behafteten, anderen als den ihm beigegebenen Gründen als richtig erweist 609: Wenn klar ist, dass die Berufung keinen Erfolg haben wird, wird die Rechtssache nicht besonders schwierig sein 610. Die als „besonders schwierig“ bezeichneten Fragen müssen mithin entscheidungserheblich sein. Dieses Prüfungskriterium führt dazu, dass das Oberverwaltungsgericht im Berufungszulassungsverfahren andere als von der Vorinstanz genannte Gründe prüfen und aus diesen heraus – nach der Gewährung rechtlichen Gehörs – den Zulassungsantrag ablehnen kann. Auch insoweit kommt es mithin – wie bei den ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO – auf das Ergebnis an, das das Verwaltungsgericht gefunden hat. Für den Berufungszulassungsantragssteller bedeutet dies in seinem Ergebnis, dass er „schlauer als das Verwaltungsgericht“ sein muss, um mit seinem Berufungszulassungsantrag Erfolg zu haben: Er muss im Ergebnis auch für einen Erfolg seines Berufungszulassungsantrags im Blick haben, ob aus von dem Verwaltungsgericht nicht gesehenen Gründen das Urteil jedenfalls in seinem Ergebnis zutreffend ist. bb) Prüfungsmaßstab des Oberverwaltungsgerichts Es wird vertreten, dass – wegen der genannten Schwierigkeiten bei der Begriffsbestimmung der besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten – das Oberverwaltungsgericht in Bezug auf deren Vorliegen einen Beurteilungsspielraum habe 611. 609 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 24; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 Rn. 125. 610 Rudisile, Berufungs(zulassungs)recht der VwGO, Seite 427, der indes fehlende besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auch dann annimmt, wenn klar sei, dass die Berufung Erfolg haben werde; indes geht Rudisile, Berufungs(zulassungs)recht der VwGO, Seite 440, von der umfassenden Möglichkeit einer Umdeutung – bezeichnet als Austausch der Berufungszulassungsgründe – aus. 611 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 22. Januar 2008, – 5 LA 19/07 –, Juris; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 01. Juli 2003, – 5 LA 58/02 –, NVwZ-RR 2004, 125 – 126; so auch Kopp / Schenke, VwGO, § 124

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Dies erscheint zweifelhaft. Auszugehen ist von dem Verständnis des Begriffs des Beurteilungsspielraums, wie es Lehre und Rechtsprechung 612 für die Nachprüfbarkeit verwaltungsbehördlicher Entscheidungen entwickelt haben. Für die gerichtliche Nachprüfung verwaltungsbehördlicher Entscheidungen gilt hiernach: Auch solche Begriffe, deren Inhalt nicht durch einen fest umrissenen Sachverhalt ausgefüllt wird, die vielmehr bei der Rechtsanwendung auf einen gegebenen Tatbestand im Einzelfall der Präzisierung durch Auslegung bedürfen, unterliegen grundsätzlich der uneingeschränkten gerichtlichen Nachprüfung. Soweit Schlussfolgerungen aus einem unbestimmten Rechtsbegriff zu ziehen sind, erstreckt sich diese uneingeschränkte Kontrolle zunächst auf die Bestimmung des Sinngehalts der Norm – insbesondere in Anwendung der klassischen Auslegungsregelungen der Wortlautauslegung, der Auslegung nach der inneren und äußeren Systematik der Norm, der Entstehungsgeschichte der Norm und ihres Sinn und Zwecks. Die uneingeschränkte gerichtliche Kontrolle umfasst aber auch die Feststellung der Tatsachengrundlagen und die Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs auf die hierbei im Einzelfall festgestellten Tatsachen 613. Das folgt aus der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, die dem Bürger, der sich durch die öffentliche Gewalt in eigenen Rechten verletzt glaubt, nicht nur den Zugang zu den Gerichten, sondern darüber hinaus auch die Wirksamkeit und Effektivität des Rechtsschutzes gewährleistet: Der Bürger hat einen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle 614. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergibt sich damit grundsätzlich die Pflicht der Gerichte, die angefochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen 615. Das schließt auch eine Bindung an die im Verwaltungsverfahren getroffenen Feststellungen und Wertungen im Grundsatz aus 616.

Rn. 9; Schenke, „Reform“ ohne Ende, Seite 91; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 29; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 29. 612 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 04. April 2008, – 2 LB 7/ 07 –, Juris, zu dem unbestimmten Rechtsbegriff der besonderen Gefährlichkeit eines Schulwegs im Schülerbeförderungsrecht. 613 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 04. April 2008, – 2 LB 7/ 07 –, Juris. 614 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 04. April 2008, – 2 LB 7/ 07 –, Juris. 615 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 04. April 2008, – 2 LB 7/ 07 –, Juris.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Daher ist ein der gerichtlichen Kontrolle nur eingeschränkt unterliegender Beurteilungsspielraum der Verwaltungsbehörde nur dann ausnahmsweise und nur insoweit anerkannt, als ganz besondere Voraussetzungen vorliegen, die es rechtfertigen, der Verwaltungsbehörde bei der Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs einen eigenen, gerichtlicher Kontrolle nicht mehr zugänglichen Beurteilungsspielraum einzuräumen 617. Ein solcher Ausnahmefall setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 618 voraus, dass der jeweiligen Rechtsvorschrift die Entscheidung des Gesetzgebers zu entnehmen ist, der Verwaltung das abschließende Urteil über das Vorliegen der durch einen unbestimmten Gesetzesbegriff gekennzeichneten tatbestandlichen Voraussetzungen zu übertragen 619. Denn in dem Rahmen der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes ist es Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers, unter Beachtung der Grundrechte die Rechtspositionen zuzuweisen und auszugestalten, die Art. 19 Abs. 4 GG voraussetzt und deren gerichtlichen Schutz er gewährleistet 620. Natürlich kann ein derartiger Beurteilungsspielraum der Verwaltungsbehörde aber auch durch Vorschriften des Unionsrechts eingeräumt werden 621; denn die Ausgestaltung gerichtlicher Verfahren, die den Schutz der den Bürgern aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte gewährleisten sollen, ist nur insoweit Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedsstaaten, als eine einschlägige Unionsregelung fehlt 622. In der Rechtsprechung sind allein für Prüfungsentscheidungen und prüfungsähnliche Entscheidungen 623, beamtenrechtliche Eignungs- und Leistungsbeurteilungen, Entscheidungen wertender Art durch Gremien, die weisungsunabhängig, staatsfern und nach besonderen Kriterien (Sachverstand, Interessenvertreter) zusammengesetzt sind, sowie bei Prognosen und Risikobewertungen, vor allem im 616 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 04. April 2008, – 2 LB 7/ 07 –, Juris. 617 BVerwG, Urteil vom 25. November 1993, – BVerwG 3 C 38.91 –, BVerwGE 94, 307 – 316. 618 BVerwG, Urteil vom 25. November 1993, – BVerwG 3 C 38.91 –, BVerwGE 94, 307 – 316. 619 BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 1968, – BVerwG 8 C 29.67 –, BVerwGE 31, 149 [153]; BVerwG, Urteil vom 1. März 1990, – BVerwG 3 C 50.86 –, DVBl. 1991, 46 –49. 620 BVerwG, Urteil vom 25. November 1993, – BVerwG 3 C 38.91 –, BVerwGE 94, 307 – 316. 621 BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2008, – BVerwG 6 C 38.07 –, Juris. 622 EuGH, Urteil vom 24. April 2008, Rs. C-55/06 [Arcor AG & Co. KG gegen Bundesrepublik Deutschland], Juris; zu diesen Fragen noch ausführlich später. 623 Vgl. zum Prüfungsrecht etwa Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 01. Juli 2008, – 2 ME 324/08 –, NdsRpfl 2008, 411 –412.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Bereich des Umwelt- und Wirtschaftsverwaltungsrechts, Beurteilungsspielräume anerkannt 624. Auch Beurteilungsspielräume bleiben jedoch in Anbetracht des Art. 19 Abs. 4 GG einer wenn auch eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterworfen. Jedenfalls ist zu überprüfen, ob ein Verstoß gegen Verfahrensvorschriften oder allgemeine Verfahrensgrundsätze vorliegt, ob die Behörde von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, ob sie sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen, und ob allgemein anerkannte Bewertungs- oder Beurteilungsgrundsätze nicht beachtet wurden 625. Diese von der Rechtsprechung und der Lehre entwickelten Kategorisierungen des Beurteilungsspielraumes für die gerichtliche Kontrolldichte verwaltungsbehördlicher Entscheidungen sind schon von dem gedanklichen Ansatz her nicht übertragbar auf die Subsumtion unter unbestimmte Rechtsbegriffe in prozessrechtlichen Vorschriften durch das Oberverwaltungsgericht. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, so ist dieser Beschluss gemäß § 152 Abs. 1 VwGO ebenso unanfechtbar wie gemäß § 124a Abs. 5 Satz 3 VwGO die ablehnende Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Berufungszulassungsantrag. Es gibt damit keine Kontrollinstanz für Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte im Berufungszulassungsverfahren, die dem rechtsanwendenden Oberverwaltungsgericht einen Beurteilungsspielraum zubilligen könnte. Das Bundesverfassungsgericht, das wegen einer Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG durch einen die Zulassung der Berufung ablehnenden Beschluss des Oberverwaltungsgerichte angerufen werden könnte, ist keine „Superrevisionsinstanz“ 626, die in Rechtskraft erwachsene Gerichtsentscheidungen in vollem Umfang auf Rechtsfehler hin überprüft 627, und hat im Übrigen in seiner bisherigen Rechtsprechung ablehnende Berufungszulassungsentscheidungen der Oberverwaltungsgerichte am Maßstab der Grundrechte und der grundrechtsgleichen Rechte überprüft, ohne jemals einen Beurteilungsspielraum der Oberverwaltungsgerichte zu konstatieren. Selbst wenn man die genannten dogmatischen Bedenken gegen die Übertragbarkeit der Lehre von dem Beurteilungsspielraum auf die Subsumtion der Oberverwaltungsgerichte unter die Tatbestandsmerkmale des § 124 Abs. 2 VwGO zurückstellen würde, so würde selbst eine Übertragung der Lehre von dem 624

Vgl. die Nachweise bei Voßkuhle, Entscheidungsspielräume, Seite 117 ff. BVerfG, Beschluss vom 17. April 1991, – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83 –, BVerfGE 84, 34 – 58; BAG, Urteil vom 24. Januar 2007, – 4 AZR 629/06 –, BAGE 121, 91 –111. 626 BVerfG, Beschluss vom 15. Januar 2009, – 2 BvR 2044/07 – [Abweichende Meinung 2 Richter Gerhardt], EuGRZ 2009, 143 – 159. 627 BVerfG, Beschluss vom 19. September 2006, – 2 BvR 2115/01, 2 BvR 2132/01, 2 BvR 348/03 –, EuGRZ 2006, 684 – 693. 625

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Beurteilungsspielraum auf die Rechtsanwendung durch die Oberverwaltungsgerichte zu dem Ergebnis führen, dass der Begriff der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten ein unbestimmter Rechtsbegriff ist, dessen Ausfüllung vollständiger gerichtlicher Nachprüfung unterliegen würde, wenn eine solche gesetzlich vorgesehen wäre. Unvertretbar ist es demgegenüber, einen Beurteilungsspielraum des Oberverwaltungsgerichts anzunehmen 628. Denn es ist bei einer Auslegung des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nichts dafür erkennbar, dass der Gesetzgeber den Oberverwaltungsgerichten – wie gezeigt ausnahmsweise – einen Spielraum einräumen wollte, in dem diese einer nur eingeschränkten Kontrolle – mangels einer Kontrollinstanz einer nur eingeschränkten Prüfung des Tatbestandsmerkmals – unterliegen sollten. Auszugehen ist vielmehr davon, dass bei der Subsumtion unter das Tatbestandsmerkmal der besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs und eine Subsumtion zu erfolgen hat, die Besonderheiten in dem Sinne eines dem Oberverwaltungsgericht zustehenden Beurteilungsspielraums nicht aufweist. Ob die Rechtssache besondere rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweist, ist vielmehr anhand eines objektiven Maßstabes zu beurteilen: Maßgebend ist die Sichtweise eines mit der fraglichen Fachmaterie befassten Richters. Andernfalls würde der durch Art. 19 Abs. 4 GG gebotene gleichmäßige Zugang zu dem Rechtsmittelgericht teilweise leer laufen. Ein Beurteilungsspielraum ist demgegenüber nicht festzustellen 629. cc) Anforderungen an die Darlegung der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO In Anwendung der bislang herrschenden Meinung gilt Folgendes: Für die Darlegung des Zulassungsgrundes der besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO reicht es nach der gegebenen Begriffsbestimmung nicht aus, wenn lediglich jeder richterlichen Rechtsanwendung immanente Probleme (und sei es unter Heranziehung von in Rechtsprechung und Schrifttum aufbereiteter Rechtsfragen) bezogen auf einen im Kern geklärten (entscheidungserheblichen) Sachverhalt oder die Notwendigkeit der Aufbereitung und der Würdigung des Tatsachenstoffes aufgezeigt werden. Auch nicht genügend ist die allgemeine Behauptung einer überdurchschnittlichen Schwierigkeit 630. Erforderlich ist vielmehr grundsätzlich, dass in 628

So aber Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 22. Januar 2008, – 5 LA 19/07 –, Juris. 629 Laudemann, Prozessuale Probleme, Seite 173; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 71; Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 28.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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einer fallbezogenen Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts die fortbestehenden besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten als solche benannt werden, wobei der Darlegungslast genügt wird, wenn im Zulassungsantrag mit erläuternden Hinweisen ein erheblicher – aber: materieller – Begründungsaufwand der angefochtenen Entscheidung angesprochen wird 631. Die Darlegung des Zulassungsgrundes erfordert grundsätzlich, dass in fallbezogener Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts die geltend gemachten Schwierigkeiten als solche benannt werden und darüber hinaus aufgezeigt wird, dass und aus welchen Gründen diese Schwierigkeiten die Erfolgsaussichten der Berufung in dem Berufungszulassungsverfahren noch nicht abschließend verlässlich beurteilt werden können 632. Nach der hier vertretenen Auffassung sind demgegenüber die besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache anhand der intrikaten Konfliktsituationen aufgrund ihrer jeweiligen abstrakten Fehleranfälligkeit darzulegen. Gerade bei einem derart unbestimmten bzw. weit gefassten Berufungszulassungsgrund wie dem der besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO sind im Übrigen wiederum die verfassungsrechtlichen Beschränkungen des Darlegungserfordernisses zu beachten. Der Berufungszulassungsantragssteller darf nicht in unzumutbarer Weise durch überhöhte Anforderungen an die Erfüllung des Darlegungserfordernisses im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO an der Beschreitung des Teilrechtsweges gehindert werden. Es ist dem Berufungszulassungsantragssteller insbesondere nicht abzuverlangen, bundesweit die Rechtsprechung der jeweiligen Fachsenate der Oberverwaltungsgerichte aufzuarbeiten. dd) Anforderungen an die Darlegung unionsrechtlich fußender besonderer rechtlicher oder tatsächlicher Schwierigkeiten In Bezug auf die Darlegung unionsrechtlicher Fragestellungen, aus denen sich die besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten ergeben sollen, 630

Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 53. Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 11. November 2004, – 2 LA 422/03 –, NVwZ-RR 2006, 197. 632 So zutreffend Thüringer OVG, Beschluss vom 17. August 2000, – 4 ZKO 1145/ 97 –, NVwZ 2001, 448 – 451; demgegenüber stellt das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 23. Juli 2008, – 5 LA 232/05 –, http://www.dbovg.niedersachsen .de/; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 27. März 1997, – 12 M 1731/97 –, NVwZ 1997, 1225 ff. [1227] darauf ab, ob sich diese Schwierigkeiten qualitativ von denjenigen eines Verwaltungsrechtsstreits „durchschnittlicher“ Schwierigkeit abheben. 631

166

III. Das Berufungszulassungsverfahren

genügt es nicht, auf die unionsrechtlichen Fragestellungen und ihre noch nicht abschließende Klärung in Rechtsprechung und Literatur hinzuweisen 633. Erforderlich ist vielmehr, dass der Berufungszulassungsantragssteller den einschlägigen Sach- und Streitstand ausbreitet und anhand dessen die im Tatsächlichen oder Rechtlichen liegende besondere Komplexität der Rechtssache gerade in Bezug auf das einschlägige Unionsrecht auseinander setzt 634. Gefordert wird etwa, dass der Berufungszulassungsantragssteller dartut, bei welchen Vorschriften des Unionsrechts und welchen konkreten Tatbestandsmerkmalen unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten bestehen und daher das Ergebnis der Auslegung der Vorinstanz nicht eindeutig sei 635. Interessant ist, dass das Oberverwaltungsgericht nach der überkommenen Rechtsprechung bei Darlegung ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO oder besonderer rechtlicher oder tatsächlicher Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO durch den Zulassungsantragsteller, die nicht auf Unionsrecht fußen, gleichwohl den Berufungszulassungsantrag ablehnen kann, wenn sich diese Schwierigkeiten unter der – erstmals von dem Oberverwaltungsgericht vorgenommenen – Berücksichtigung des Unionsrechts nicht stellen würden, sich die Entscheidung der Vorinstanz also aus anderen – unionsrechtlichen – Gründen als richtig erweist. Umgekehrt würde indes nach überkommener herrschender Meinung das Oberverwaltungsgericht von ihm objektiv gesehene unionsrechtliche Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, die nicht dargelegt wurden, nicht berücksichtigen können. Anders formuliert: Das Unionsrecht kommt bei der hier interessierenden Fallkonstellation, in der es von dem Verwaltungsgericht nicht oder nicht richtig angewandt wurde, und bei der der Berufungszulassungsantragssteller nicht „schlauer“ als das Verwaltungsgericht ist und diesen Mangel im Berufungszulassungsverfahren unter dem Gesichtspunkt eines Berufungszulassungsgrundes darlegt, in seiner Anwendung von Amts wegen durch das Oberverwaltungsgericht immer nur zu Lasten des Berufungszulassungsantragsstellers zu seiner Anwendung, regelmäßig aber nicht zu Gunsten des Berufungszulassungsantragsstellers.

633

Juris.

634

Vgl. Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 18. März 2010, – 14 A 49/10 –,

Sächsisches OVG, Beschluss vom 23. Februar 2010, – 1 B 435/07 –, Juris. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 29. Januar 1998, – A 1S 177/98 –, JMBl. LSA 1998, 327 – 329. 635

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

167

ee) Abgrenzung zwischen dem Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils und dem der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache Die Berufungszulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO haben wie gezeigt anders als die übrigen Berufungszulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO in dem Recht der Revisionszulassung keine Parallelen. Ferner ist ihnen als Sinn und Zweck die Sicherung der materiellen Einzelfallgerechtigkeit immanent. Fraglich ist daher ihr systematisches Verhältnis zueinander. Es wird vertreten 636, dass diese beiden Zulassungsgründe ohne Überlappung nebeneinander stünden, da der Gesetzgeber mit dem Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO einen eigenständigen Zulassungsgrund geschaffen habe, der dem Oberverwaltungsgericht – anders als bei § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO – die Zulassung des Rechtsmittels ermöglichen solle, ohne dass sich das Oberverwaltungsgericht – wie bei dem Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO – hinsichtlich des voraussichtlichen Entscheidungsergebnisses (prognostisch) festlegen müsse. Der Berufungszulassungsgrund der ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO stelle nur auf das Ergebnis des Verwaltungsgerichts, der Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nur auf die besonderen Schwierigkeiten, die auf dem Weg zu diesem Ergebnis lägen, ab 637. Es sei daher ausgeschlossen, die Zulassungsgründe aus § 124 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 VwGO als in einem Komplementärverhältnis zueinander stehend anzusehen 638, sodass als Folge hieraus auch nicht davon ausgegangen werden könne, dass einer Anwendung des Berufungszulassungsgrundes der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eine fehlende Rüge nicht entgegenstehe. Die Ausführungen zu Nr. 1 könnten daher auch nicht zu Nr. 2 „herübergereicht“ werden.

636 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 11. Januar 2000, – 1 L 4588/99 –, DÖV 2000, 340 – 341. 637 Rudisile, Berufungs(zulassungs)recht der VwGO, Seite 427. 638 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 11. Januar 2000, – 1 L 4588/99 –, DÖV 2000, 340 – 341.

168

III. Das Berufungszulassungsverfahren

Nach einem anderen, rechtsschutzintensiveren Ansatz sind demgegenüber die Berufungszulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO so konzipiert und systematisch als zueinander stehend anzusehen, dass von ihnen alle Fälle materiell berufungswürdiger Rechtssachen, die nicht von den (auch) der Rechtseinheit und Rechtsfortbildung dienenden Berufungszulassungsgründen der Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO oder der grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO erfasst werden und mit denen kein Verfahrensfehler im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO geltend gemacht wird, erfasst werden können; hiernach stehen sie in einem Komplementärverhältnis 639 und ergänzen sich, ohne identisch zu sein 640. Das systematische Verhältnis beider Berufungszulassungsgründe zueinander ist hiernach so zu bestimmen, dass sie nahtlos ineinander greifen 641. Beide Zulassungsgründe bauen in ihrem Kern auf einer identischen Prüfung und einer vergleichbaren Beurteilungsgrundlage auf: Beide Zulassungsgründe haben – wie dargestellt – die identische primäre Zielrichtung der Einzelfallgerechtigkeit 642, der Korrektur des Entscheidungsergebnisses im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit 643, und dienen dazu, den Gehalt der rechtlichen Beurteilung und Tatsachenwürdigung durch das Verwaltungsgericht sowie eine etwaige offen zu Tage tretende Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung aus anderen als den von dem Verwaltungsgericht angeführten Gründen zu bewerten 644. Sie sollen „die Gerechtigkeit im Einzelfall durch Überprüfung der tatsächlichen Feststellungen und der rechtlichen Subsumtion gewährleisten“ 645. Das Ziel beider Berufungszulassungsgründe, Gerechtigkeit im Einzelfall zu erreichen, lenkt den Blick auf das Entscheidungsergebnis und verlangt von dem Oberverwaltungsgericht die Beantwortung der Frage, ob die Rechtssache in ihrem Ergebnis richtig entscheiden worden ist oder ob diese richtige Entscheidung ermöglicht werden muss, indem das Rechtsmittel zugelassen wird 646. Nach dem 639

Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 d. Seibert, Erfahrungen mit der 6. VwGO-Novelle, Seite 116. 641 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Juli 1998, – 10 A 1329/98 –, NVwZ 1999, 202 – 205. 642 OVG Brandenburg, Beschluss vom 8. Mai 2002, – 2 A 407/00 Z. –, LKV 2003, 91. 643 Thüringer OVG, Beschluss vom 17. August 2000, – 4 ZKO 1145/97 –, NVwZ 2001, 448 – 451. 644 OVG Brandenburg, Beschluss vom 8. Mai 2002, – 2 A 407/00 Z. –, LKV 2003, 91. 645 Nordrhein-Westfälisches OVG,, Beschluss vom 31. Juli 1998, – 10 A 1329/98 –, NVwZ 1999, 202 – 205. 646 Nordrhein-Westfälisches OVG,, Beschluss vom 31. Juli 1998, – 10 A 1329/98 –, NVwZ 1999, 202 – 205. 640

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

169

mit den beiden Berufungszulassungsgründen gleichermaßen verfolgten Zweck der Gewährleistung der Einzelfallgerechtigkeit ergänzt der Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO den Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in denjenigen Fällen, in denen einen Aussage zu der Ergebnisrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung mit überwiegender oder zumindest gleich hoher Wahrscheinlichkeit noch nicht möglich ist, aber offene, entscheidungserhebliche Rechts- oder Tatsachenfragen gegeben sind, die in einem Berufungsverfahren geklärt werden müssen 647. Bei dem Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO geht es damit letztlich nicht um die abstrakte, an einem Durchschnitt aller Verwaltungsstreitsachen zu bemessende Schwierigkeit der Rechtssache ist, sondern um die Schwierigkeit, die Erfolgsaussichten der Berufung im Rahmen des Zulassungsverfahrens hinreichend verlässlich zu beurteilen 648. Für diese lückenlose Rechtsschutzgewährung zwischen beiden Berufungszulassungsgründen spricht ihre Entstehungsgeschichte 648a: So sah der Entwurf der Bundesregierung für ein Sechstes Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze 649 zunächst nur den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils vor (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Hierbei sollte das – wie oben gezeigt nicht heranziehbare – Anknüpfen an das Tatbestandsmerkmal der „ernstlichen Zweifel“ angesichts der (angeblich) gefestigten Rechtsprechung zu dem entsprechenden Begriff in § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO der Rechtssicherheit dienen 650. In dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ist ferner ausgeführt, dass das Tatbestandsmerkmal der „ernstlichen Zweifel“ es dem Oberverwaltungsgericht ermögliche, hinreichend sicher zu erkennen, welche Anträge auf Zulassung der Berufung als unbegründet abzulehnen seien 651. Weiterhin sollte die Regelung nach der Begründung des Gesetzentwurfs dem Zweck dienen, die Einzelfallgerechtigkeit zu verwirklichen und „grob ungerechte Entscheidungen zu korrigieren“ 652, in denen

647

OVG Brandenburg, Beschluss vom 8. Mai 2002, – 2 A 407/00 Z. –, LKV 2003, 91. Thüringer OVG, Beschluss vom 17. August 2000, – 4 ZKO 1145/97 –, NVwZ 2001, 448 – 451. 648a Zu dieser umfassend Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Juli 1998, – 10 A 1329/98 –, NVwZ 1999, 202 – 205. 649 BT-Ds. 13/3993, Seite 13. 650 BT-Ds. 13/3993, Seite 13 [zu Nummer 15]. 651 BT-Ds. 13/3993, Seite 13 [zu Nummer 15]. 652 BT-Ds. 13/3993, Seite 13 [zu Nummer 15]. 648

170

III. Das Berufungszulassungsverfahren

also „ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils“ zu einer überwiegenden Erfolgsaussicht der angestrebten Berufung führen. Demgegenüber schlug der Bundesrat 653 in seiner Stellungnahme 654 stattdessen den Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten – heute normiert in § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO – vor. Der Bundesrat verwies darauf, dass in der Rechtsprechung und in der Literatur nach wie vor kontrovers 655 diskutiert werde, was unter „ernstlichen Zweifeln“ zu verstehen sei: Ein Teil der Rechtsprechung bejahe erhebliche Zweifel schon dann, wenn das Obsiegen genauso wahrscheinlich sei wie das Unterliegen. Die wohl herrschende Auffassung fordere hingegen eine überwiegende Wahrscheinlichkeit des Obsiegens. Aufgrund dieser Unsicherheiten, die auch zwischen den oder sogar in den Oberverwaltungsgerichten zu einer unterschiedlichen, entweder den Entlastungseffekt für die Oberverwaltungsgerichte überbetonenden oder mit rechtsstaatlichen Grundsätzen schwer zu vereinbarenden – weil mit einer Wahrscheinlichkeit von bis zu 50 vom Hundert fehlerhafte Urteile durch die zweite Instanz hinnehmenden – Auslegung führen würden, hat der Bundesrat in Ergänzung zu dem nicht feststehend definierbaren Begriff der „ernstlichen Zweifel“ den Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten vorgeschlagen. Hieraus folgt, dass der Bundesgesetzgeber gerade auch diejenigen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen einer Überprüfung durch das Berufungsgericht zuführen wollte, in denen deren Erfolg genauso wahrscheinlich ist wie ihr Misserfolg. Auf Vorschlag des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages sind in dem weiteren Gesetzgebungsverfahren dann beide Zulassungsgründe in das Gesetz aufgenommen worden 656. In der Begründung dieses Vorschlags 657 weist der Rechtsausschuss darauf hin, den Oberverwaltungsgerichten werde durch den weiteren Zulassungsgrund der besonderen rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten die Entscheidung über die Zulassung der Berufung erleichtert: Das 653 Quaas, 6. VwGO-Änderungsgesetz, Seite 704, spricht davon, der Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO sei „Ausdruck des schlechten Gewissens“ des Gesetzgebers. 654 BT-Ds. 13/3993, Seiten 21 f. 655 Vgl. etwa Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 25. August 1988, – 3 B 2564/85 –, NVwZ-RR 1990, 54 – 55; siehe auch zum Verteilen des Vollstreckungsrisikos im Rahmen der Anwendung des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO Renck, Ernsthafte Zweifel, Seite 338 – 339. 656 Kritisch hierzu Berkemann, Verwaltungsprozessrecht, Seite 453, der die wechselseitigen Bedenken in Bezug auf die verfassungsrechtliche Bestimmtheit des Vorschlags des jeweiligen anderen – Bundesrat und Bundestag – darstellt, die der Rechtsausschuss durch die Aufnahme beider Vorschläge in das Gesetz behandelt habe, „als führe die Kumulation zweier unbestimmter Regelungen zu deren Bestimmtheit.“ 657 BT-Ds. 13/5098, Seite 24.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

171

Oberverwaltungsgericht brauche sich in seiner die Berufung zulassenden Entscheidung nicht zwangsläufig zur materiellen Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung äußern, sondern könne die Berufung auch wegen besonderer Schwierigkeiten zulassen. Auf diesen Zulassungsgrund zurückzugreifen, könne sich gerade in komplizierten Fällen empfehlen, in denen eine Prognose über den Ausgang des Rechtsstreits nicht möglich sei. Soll aber nach der Gesetzesbegründung der Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten eine Zulassung der Berufung gerade in den Fällen offener Erfolgsaussichten ermöglichen, in denen nicht sicher ist, ob sie bereits von dem Zulassungsgrund der ernstlicher Zweifel erfasst wurden, und soll er ein „Zurückgreifen“ ermöglichen, so ergänzen sich beide Tatbestände nahtlos insoweit, als Rechtsschutzlücken nicht bestehen sollen 658: Die Regelung des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO gewinnt ihre Bedeutung darin, Schwierigkeiten, die sich bei der Anwendung des Berufungszulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ergeben, auszugleichen 659. Der von dem Gesetzgeber vorausgesehene Streit um das für die „Ernstlichkeit“ zu fordernde Maß an „Zweifeln“ soll mit anderen Worten nicht auf dem Rücken des Berufungszulassungsantragsstellers ausgetragen werden 660. Der Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ermöglicht von seinem Anwendungsbereich her eine inhaltliche Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils daher in denjenigen Fällen, in denen das von dem Verwaltungsgericht gefundene Ergebnis deswegen einer weiteren Prüfung bedarf, weil schwierige tatsächliche Feststellungen oder rechtliche Fragen keine hinreichend sichere Prognose über den Ausgang des Rechtsstreits erlauben 661, in denen mithin eine Prognose über den Ausgang des Rechtsstreits nicht möglich ist 662. Lässt sich eine solche Prognose über den Erfolg der beabsichtigten Berufung nicht stellen, lässt sich aber andererseits die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils nicht bereits in dem Berufungszulassungsverfahren beurteilen, so liegt ein Fall besonderer Schwierigkeit im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO vor 663. Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegen demgegen658 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Juli 1998, – 10 A 1329/98 –, NVwZ 1999, 202 – 205. 659 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 5. Juli 1999, – 4 L 4244/98 –, Juris. 660 Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 670. 661 Bayerischer VGH, Beschluss vom 23. November 2006, – 12 ZB 05.515 –, Juris. 662 Thüringer OVG; Beschluss vom 17. August 2000, – 4 ZKO 1145/97 – NVwZ 2001, 448.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

über dann nicht vor, wenn keine begründeten Zweifel an der Richtigkeit des Urteils hervorgetreten sind und eine Berufung deshalb mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erfolglos bleiben wird 664. Systematisch kann man daher von einer Auffang- bzw. Komplementärfunktion des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zu § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sprechen 665. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass bei einem derartigen systematischen Verständnis beider Berufungszulassungsgründe zueinander der Berufungszulassungsgrund der ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO keinen eigenen Anwendungsbereich mehr hätte, er also entgegen der gesetzlichen Regelung durch Auslegung entbehrlich wäre, weil sein gänzlicher Anwendungsbereich auch von dem Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO erfasst werde 666. Dem ist entgegenzuhalten, dass der Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bei dem hier vertretenen systematischen Verhältnis zu besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (auch) diejenigen Fälle erfasst, in denen die Unrichtigkeit des angefochtenen Urteils auf der Hand liegt, die Erkenntnis des richtigen Ergebnisses also keine tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten bereitet. Diese Fälle offensichtlicher Unrichtigkeit des angefochtenen Urteils werden von dem Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht abgedeckt 667. Hieraus folgt dann aber auch, dass das Vorliegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auch auf der Grundlage der Darlegungen zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu erfolgen hat, der erstgenannte Berufungszulassungsgrund insoweit nicht explizit gerügt werden muss 668. Gerade dies ist die Folge der von dem Gesetzgeber gewollten Möglichkeit, auf den Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen 663 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Juli 1998, – 10 A 1329/98 –, NVwZ 1999, 202 – 205. 664 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Juli 1998, – 10 A 1329/98 –, NVwZ 1999, 202 – 205. 665 Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 670. 666 Redeker, Neue Experimente, Seite 525. 667 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Juli 1998, – 10 A 1329/98 –, NVwZ 1999, 202 – 205. 668 OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16. Februar 1998, – 2 L 11966/97 –, NVwZ 1998, 1094 – 1096; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Juli 1998, – 10 A 1329/98 –, NVwZ 1999, 202 – 205; Seibert, Zulassung der Berufung, Seite 935; Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 670.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

173

oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO „zurückgreifen“ zu können. c) Grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache Der Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache ist im Wesentlichen deckungsgleich mit dem wortgleich gefassten Revisionszulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO 669. Dies führt zu der Möglichkeit der Heranziehung der von dem Bundesverwaltungsgericht für die Revisionszulassung entwickelten Kriterien auch zu einer Beurteilung der Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO 670; die gefestigte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 671 zu einer Zulassung der Revision, nach der die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache nur dann dargelegt ist, wenn mindestens ein Hinweis auf den Grund, der ihre Anerkennung rechtfertigen soll, gegeben wird, wobei diesem Erfordernis „schon durch wenige Sätze genügt werden“ 672 könne, ist daher – unter Berücksichtigung der Konsequenzen daraus, dass es sich bei dem von dem Rechtsmittelführer angestrebten Berufungsverfahren gemäß § 128 VwGO um eine zweite Tatsacheninstanz handelt – auf die Regelung des Berufungszulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu übertragen 673. Im Unterschied zu dem Revisionszulassungsrecht ist jedoch ferner zu beachten, dass Gegenstand der Zulassung nicht eine Norm des revisiblen Rechts sein muss, da das Berufungszulassungsrecht zunächst der einheitlichen Auslegung und Anwendung des Rechts im Gerichtsbezirk des jeweiligen Berufungsgerichts dient. Zum Gegenstand der Grundsatzberufung können daher auch Fragen der Auslegung und Anwendung gemäß der Grundregel des § 137 VwGO nicht revisiblen Landesrechts gemacht werden.

669

Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 10. So schon der Gesetzentwurf der Bundesregierung, BR-Ds. 30/96, Seite 29; BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2009, – 1 BvR 2524/06 –, NVwZ 2009, 515 –518; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 30. 671 Grundlegend: BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 1961, – BVerwG VIII B 78.61 –, BVerwGE 13, 90 – 91. 672 BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 1961, – BVerwG VIII B 78.61 –, BVerwGE 13, 90 – 91. 673 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 5. Juli 1999, – 4 L 4244/98 –, Juris. 670

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

aa) Begriffsbestimmung Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zunächst dann zu, wenn sie in rechtlicher Hinsicht eine Grundsatzfrage 674 aufwirft, die im Rechtsmittelzug entscheidungserheblich und fallübergreifender Klärung zugänglich ist sowie im Interesse der Rechtseinheit geklärt werden muss 675. Es muss zu erwarten sein, dass die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts dazu führen kann, die Rechtseinheit in ihrem Bestand zu erhalten oder die Weiterbildung des Rechts zu fördern 676. (1) Grundsätzliche Bedeutung aufgrund von Tatsachenfragen Streitig ist zunächst, ob auch eine Tatsachenfrage die grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu vermitteln vermag, oder ob die Grundsatzberufung auf Rechtsfragen beschränkt ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Revisionszulassungsrecht 677 sind nur Rechts- und nicht auch Tatsachenfragen einer grundsätzlichen Klärung in einem Revisionsverfahren zugänglich, da sich Tatsachenfragen nur aufgrund der dem Tatrichter vorbehaltenen Feststellung und Gesamtwürdigung der tatsächlichen Verhältnisse beantworten lassen und diese damit einer verbindlichen Klärung im Revisionsverfahren entzogen sind. Hieraus wird teilweise gefolgert, dass aufgrund der identischen Auslegung der Begriffe der grundsätzlichen Bedeutung im Revisions- und im Berufungszulassungsrecht sich § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nur auf Rechtsfragen und nicht auch auf Tatsachenfragen beziehe 678. Der Gesetzgeber habe in Kenntnis der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Revisionszulassungsrecht für den Berufungszulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO einen mit § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO identischen Wortlaut gewählt, sodass eine identische, sich nur auf Rechtsfragen beziehende Auslegung geboten sei. Die Frage sei gerade als Rechtsfrage zu konkretisieren 679. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass im Unterschied zu einem Revisionsverfahren die Zulassung der Berufung dazu führt, dass das Oberverwaltungsge674

Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 22. Januar 2008, – 5 LA 19/07 –, Juris. 675 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 24. März 2003, – 12 LA 19/03 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/; Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 10. 676 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 30. 677 BVerwG, Beschluss vom 19. August 2008, – BVerwG 10 B 43.08 –, Juris. 678 Berkemann, Verwaltungsprozessrecht, Seite 452. 679 Berkemann, Verwaltungsprozessrecht, Seite 452.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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richt nach § 128 Satz 1 VwGO den Streitfall innerhalb des Berufungsantrages in dem gleichen Umfang wie das Verwaltungsgericht prüft; das Oberverwaltungsgericht ist damit zweite Tatsacheninstanz. Der Umfang der Nachprüfung ist damit nicht mit dem der Revision, die gemäß § 137 VwGO nur auf die Verletzung revisiblen Rechts gestützt werden kann, und die nur zu einer Rechtsüberprüfung führt, vergleichbar. Dogmatisch ist es unproblematisch, dass identische Begriffe in einem unterschiedlichen rechtlichen Rahmen – wie etwa dem des Berufungszulassungsrechts einerseits und dem des Revisionszulassungsrechts andererseits – unterschiedlich ausgelegt werden. Die ganz herrschende Meinung in der Rechtsprechung 680 und in der Literatur 681 geht daher zutreffend auch davon aus, dass die grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO auch aus verallgemeinerungsfähigen Tatsachenfragen folgen kann. Zu der Grundlage einer Grundsatzberufung kann daher sowohl eine höchstrichterlich oder obergerichtlich bislang nicht beantwortete konkrete Rechtsfrage des materiellen oder des formellen Rechts als auch eine in dem Bereich der Tatsachenfeststellung obergerichtlich noch nicht geklärte konkrete Frage von allgemeiner Bedeutung gemacht werden, die sich im Rechtsmittelzug stellen würde und die in dem Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung durch das Berufungsgericht bedarf und zugänglich ist 682. Der Zulassungsantrag muss eine derartige konkrete Frage aufwerfen, deren Entscheidungserheblichkeit erkennen lassen und (zumindest) einen Hinweis auf den Grund enthalten, der das Vorliegen der grundsätzlichen Bedeutung rechtfertigen soll 683. (2) Begriff des Rechtsmittelzuges Der Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO dient – neben der wie gezeigt jedem Rechtsmittelgrund innewohnenden Funktion der Schaffung von Einzelfallgerechtigkeit – dazu, durch eine Entscheidung in einem Berufungsverfahren die Rechtseinheit in ihrem Bestand zu erhalten oder die Weiterbildung des Rechts zu fördern 684. Eine in dem „Rechtsmittelzug“ klärungsbedürftige Rechtsfrage liegt 680 Bayerischer VGH, Beschluss vom 19. August 2008, – 20 ZB 08.1647 –, Juris; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 28. Juli 2008, – 8 A 1548/07 –, ZIP 2008, 1542 – 1543; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 22. Juli 2008, – 4 LA 22/06 –, Juris. 681 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 30. 682 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 23. Mai 2001, – 8 LA 1699/01 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 683 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 30; vgl. auch Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 54.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

wegen dieses Sinns und Zwecks vor, wenn die Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte oder der Obersten Gerichtshöfe des Bundes divergieren oder wenn verschiedene Spruchkörper des Oberverwaltungsgerichts unterschiedliche Auffassungen vertreten 685. Denn in diesen Fällen liegt – soweit revisibles Bundesrecht betroffen ist – eine rechtsgrundsätzliche Klärung erst dann vor, wenn die Frage durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt ist 686. bb) Sinn und Zweck des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO Der Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache in dem Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO dient nach überwiegender Meinung 687 von seinem Sinn und Zweck her nicht dem individuellen Rechtsschutz oder der Fehlerkorrektur, sondern allein dem objektiv-rechtlichen Belang der Fortentwicklung der Rechtsprechung. Dies führt dazu, dass der Berufungszulassungsantragssteller zum Beispiel die Zulassung der Berufung wegen einer Rechtsfrage mit grundsätzlicher Bedeutung erstreiten kann, die in dem angefochtenen Urteil zu seinen Gunsten entschieden wurde, soweit er nur durch das Urteil selbst beschwert ist. Es wurde aber auch bereits gezeigt, dass die verfassungsrechtlichen Implikationen zu dem Ergebnis führen, dass auch dieser Rechtsmittelgrund in dem Interesse der Einzelfallgerechtigkeit gegeben wurde, die zu erreichen die Wahrung der Rechtseinheit ist. cc) Fallgruppen fehlender grundsätzlicher Bedeutung Nicht grundsätzlich klärungsbedürftig ist eine Frage, deren Beantwortung sich ohne weiteres (unmittelbar) aus dem Gesetz ergibt 688, bei der die Frage sich also auf der Grundlage des Wortlauts der Norm mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Norminterpretation ohne weiteres beantworten lässt 689, oder die bereits in der Rechtsprechung so geklärt ist, dass eine grundsätzliche und klärungsbedürftige Bedeutung der aufgeworfenen Frage nicht mehr bejaht werden kann 690. 684

Rudisile, Berufungs(zulassungs)recht der VwGO, Seite 428. Rudisile, Berufungs(zulassungs)recht der VwGO, Seite 429. 686 BVerfG, Beschluss vom 12. März 2008, – 2 BvR 378/05 –, InfAuslR 2008, 263 – 264. 687 Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 670. 688 BVerwG, Beschluss vom 8. Dezember 1985, – BVerwG 1 B 136.85 –, Buchholz 130 § 22 RuStAG, S. 2; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 32. 689 BVerwG, Beschluss vom 22. Dezember 1994, – BVerwG 4 B 114.94 –, NVwZ 1995, 700. 685

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Soweit ein Zulassungsantragsteller geltend macht, dass sich die grundsätzliche Bedeutung bereits aus einer großen Anzahl gleichartiger Parallelfälle ergebe, vermag dies eine grundsätzliche Bedeutung in dem Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht zu vermitteln 691, wenn nicht eine fehlerhafte Rechtsanwendung in einer unbestimmten Vielzahl vergleichbarer Fälle ebenso droht 692. Die Anzahl der Parallelfälle als solche sagt nämlich noch nichts über die grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit der diesen Rechtsstreitigkeiten zugrunde liegenden Rechtsfragen aus, sondern kann allein Indiz für die Häufigkeit entsprechender Verwaltungsverfahren sein. dd) Fallgruppen des Vorliegens einer grundsätzlichen Bedeutung Weicht die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von der Entscheidung eines ihm nicht im Instanzenzug übergeordneten – und damit nicht divergenzfähigen 693 –, sondern von der Entscheidung eines anderen Oberverwaltungsgerichts ab, so kommt regelmäßig eine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO in Betracht 694. Ebenso, wie etwa die Abweichung von einer Entscheidung eines anderen obersten Bundesgerichts in der Regel einen Klärungsbedarf durch das Bundesverwaltungsgericht hervorruft 695, ist eine rechtseinheitliche Klärung dann erforderlich, wenn – allein – ein anderes, nicht im Instanzenzug stehendes Oberverwaltungsgericht anders als das Verwaltungsgericht entschieden hat; dann ist die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen 696. Würde das Oberverwaltungsgericht demgegenüber mit rechtsgrundsätzlichen Erwägungen in einem den Berufungszulassungsantrag ablehnenden Beschluss die von ihm bislang noch nicht entschiedene Rechts- oder Tatsachenfrage beantworten, so widerspräche dies sowohl dem Sinn und Zweck des dem Berufungsverfahren vorgeschalteten Berufungszulassungsverfahrens als auch der inneren 690 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 6. Juni 2001, – 9 LA 907/01 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 691 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 12. Juli 2007, – 2 LA 213/06 –, NJW 2007, 3657 [3659]; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 07. Februar 2008, – 2 LA 418/07-, Juris. 692 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 54. 693 Dazu sogleich. 694 BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1993, – 2 BvR 1058/92, 2 BvR 1059/92 –, DVBl. 1993, 315 [zu § 32 AsylVfG]. 695 BVerwG, Beschluss vom 22. Juni 1984, – BVerwG 8 B 121.83 –, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 225, 15 f. 696 BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2009, – 1 BvR 2524/06 –, NVwZ 2009, 515 – 518.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Systematik der in § 124 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 VwGO geregelten Zulassungsgründe und würde den von dem Gesetzgeber für Fragen von grundsätzlicher Bedeutung vorgesehenen Rechtsschutz in einem Berufungsverfahren in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise verkürzen 697. Auch eine Abweichung der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts von einer Entscheidung des Gerichtshofs ist geeignet, eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu begründen 698, da in diesem Fall gerade eine Rechtsfrage vorliegen kann, die entscheidungserheblich, obergerichtlicher Klärung fähig und bedürftig und mit einer Bedeutung über den Einzelfall hinaus versehen ist. Im übrigen wird vertreten, dass eine mit einem Berufungszulassungsantrag aufgeworfene – also dargelegte – Frage des Unionsrechts im Hinblick auf Art. 267 Abs. 3 AEUV zu einer Zulassung der Berufung wegen rechtsgrundsätzlicher Bedeutung dann führt, wenn von dem Antragsteller eine Frage aufgeworfen worden ist, die in einem Hauptsacheverfahren, wäre das Berufungsgericht letztinstanzliches Gericht im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV, die dort geregelte Vorlagepflicht begründen würde 699. ee) Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache Ein Berufungszulassungsantragssteller, der den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO anführt, muss nach der Rechtsprechung einer vierfachen Darlegungslast genügen 700. Er muss (1.) eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, (2.) erläutern, warum sie in dem anhängigen Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, (3.) dartun, dass diese Frage der obergerichtlichen Klärung bedarf, und (4.) aufzeigen, dass der Beantwortung dieser Frage in einem Berufungsverfahren über den Einzelfall hinaus Bedeutung zukommt 701. Nach anderer Formulierung zu der erforderlichen Darlegung einer grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache 697 BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2009, – 1 BvR 2524/06 –, NVwZ 2009, 515 – 518; BVerfG, Beschluss vom 24. Januar 2007, – 1 BvR 382/05 –, NVwZ 2007, 805 [806]. 698 BVerwG, Beschluss vom 10. Juli 2008, – BVerwG 3 B 30.08 –, LRE 57, 293 –299; BVerwG, Beschluss vom 18. Oktober 2007, – BVerwG 7 B 34.07 –, Juris; Bayerischer VGH, Beschluss vom 6. Oktober 2005, – 24 ZB 05.1795 –, Juris. 699 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Mai 2005, – 10 S 273/05 –, AUR 2005, 362 – 363. 700 Bayerischer VGH, Beschluss vom 4. April 2008, – 11 ZB 07.1098 –, Juris. 701 Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124a Rn. 211; Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124a Rn. 72.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist in dem Antrag auf Zulassung der Berufung die Rechtsfrage, die grundsätzlich geklärt werden soll, zu bezeichnen und zu formulieren sowie ferner substantiiert näher zu begründen, warum sie für grundsätzlich und klärungsbedürftig gehalten wird und weshalb die Rechtsfrage erheblich ist und ihre Klärung in dem Berufungsverfahren zu erwarten ist 702. Für die Darlegung ist es erforderlich und reicht es andererseits aber auch aus, dass die aufgeworfene Grundsatzfrage im obigen Sinne rechtlich derart aufbereitet wird, wie dies nach Maßgabe der Begründung in der angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts erforderlich ist. Die Anforderungen an die Begründung der Grundsatzberufung korrespondieren damit mit Begründungsumfang, Begründungsinhalt und Begründungsdichte der Entscheidung der Vorinstanz. Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache ist daher nur dann im Sinne des § 124a Abs. 1 Satz 4 VwGO dargelegt, wenn eine derartige Frage bezeichnet und zudem erläutert worden ist, warum sie in dem angestrebten Berufungsverfahren sowohl entscheidungserheblich als auch klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren 703. Die Darlegung erfordert die konkrete Formulierung 704 einer bestimmten obergerichtlich noch nicht geklärten und für die Entscheidung über die Berufung erheblichen Frage sowie die substantiierte 705 Angabe eines Grundes, weshalb diese im Interesse der Einheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung bedarf 706. Die Darlegung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung setzt außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll 707. Für die Darlegung reicht es aus, dass die aufgeworfene Grundsatzfrage rechtlich derart aufbereitet wird, wie dies nach Maßgabe der Begründung in der angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts erforderlich ist; Rechtsfragen, die in der Begründung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung keine Rolle gespielt haben, brauchen im Rahmen des

702 Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 18. Juni 2009, – 2 L 115/06 –, Juris. 703 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 30 ff. 704 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 27. Juni 1997, – 11 B 1136/97 –, NVwZ 1998, 117. 705 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 27. Juni 1997, – 11 B 1136/97 –, NVwZ 1998, 117. 706 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 14. August 2002, – 7 LA 3159/01 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 707 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 8. Januar 2002, – 10 LA 1304/01 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Antrages auf Rechtsmittelzulassung nicht erörtert zu werden, um eine Entscheidungserheblichkeit darzulegen 708. Ebenfalls im Gesetz keine Stütze findet demgegenüber die von unbestimmten Rechtsbegriffen geprägte Aussage, dass „die Geltendmachung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache ... der ausführlichen und eingehenden Darlegung“ bedürfe 709. Wird eine konkrete, der Klärung fähige und bedürftige Rechtsfrage formuliert, so genügen für eine derartige Formulierung vielmehr nur wenige Sätze 710; eine „Ausführlichkeit“ der Darlegungen fordert das Gesetz nicht. Ein allgemein auf die Bestimmung des Einflusses im einzelnen genannter grundgesetzlichen Vorschriften auf den Rechtsstreit gerichteter Berufungszulassungsantrag, mit dem der Berufungszulassungsantragssteller nicht darlegt, welches aus seiner Sicht die konkreten Auswirkungen der grundgesetzlichen Vorschriften sein werden, genügt dem Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht 711. Gleiches gilt für ein pauschales Vorbringen, dass es an höchstrichterlicher und obergerichtlicher Rechtsprechung für die von dem Berufungszulassungsantragssteller für grundsätzliche erachteten Rechtsfragen fehle 712. Auch genügt es dem Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht, wenn das Oberverwaltungsgericht die zu klärende konkrete Rechtsfrage erst aus dem Vorbringen des Rechtsmittelführers herausarbeiten muss 713. ff) Anforderungen an die Darlegung einer unionsrechtlich fußenden grundsätzlichen Bedeutung Der Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist ein Berufungszulassungsgrund, 708

BVerfG, Beschluss vom 15. August 1994, – 2 BvR 719/93 –, NVwZ-Beil. 1994, 65 [66]. 709 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 13. April 2005, – 2 LA 166/05 –, Orientierungssatz 4 bei Juris, Leitsatz und Gründe ohne diesen Orientierungssatz in NVwZ-RR 2006, 258 – 259. 710 BVerwG, Urteil vom 2. Oktober 1961, – BVerwG VII B 78.61 –, BVerwGE 13, 90 –91. 711 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 22. Januar 2008, – 5 LA 19/07 –, Juris. 712 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 22. Januar 2008, – 5 LA 19/07 –, Juris. 713 Hamburgisches OVG, Beschluss vom 15. September 2004, – 1 Bf 128/04 –, NVwZ 2005, 347 – 350.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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dessen Geltendmachung unter unionsrechtlichen Aspekten nutzbar gemacht werden kann, eine bislang unterbliebene oder fehlerhafte Anwendung des Unionsrechts einer Korrektur zuzuführen. Die Notwendigkeit, Rechtsfragen des Unionsrechts zu klären, auch wenn diese Klärung erst nach einem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV zu erreichen ist, kann zu der Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO führen 714. Eine Berufung ist (wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache) zuzulassen, wenn von dem Zulassungsantragsteller eine Frage aufgeworfen wird, die in einem Hauptsacheverfahren, wäre das Berufungsgericht letztinstanzliches Gericht im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV, die dort geregelte Vorlagepflicht begründen würde 715. Zu einer Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, weil sich für ein letztinstanzliches Gericht voraussichtlich die Notwendigkeit ergeben würde 716, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs einzuholen, bedarf es nach bislang vertretener Ansicht der Darlegung, dass die jeweilige unionsrechtliche Frage entscheidungserheblich ist 717. Wird als rechtsgrundsätzlich die Tragweite bestimmter verfassungsrechtlicher Vorschriften auf die Anwendung und Auslegung von Richtlinien des Unionsrechts gerügt, so ist die Entscheidungserheblichkeit dieser Fragen nur dann hinreichend dargelegt, wenn substantiiert ausgeführt wird, inwieweit die Richtlinienbestimmungen im konkreten Fall überhaupt Anwendung finden 718. Häufig nimmt indes das Oberverwaltungsgericht die Auslegung der von dem Berufungszulassungsantragssteller aufgeworfenen unionsrechtlichen Vorschriften selbst vor und verneint in Folge dieser Auslegung eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO 719. Wird in dem Rahmen der Geltendmachung des Berufungszulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO behauptet, deutsches Recht widerspreche Unionsrecht, so sind die nationalen Normen zu benennen und den unionsrechtlichen Normen und Rechts714

Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 33; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 136. 715 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Mai 2005, – 10 S 273/05 –, RdL 2005, 206 – 207; Gellermann, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 36 Rn. 56; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 136. 716 Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 10. 717 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 31. März 2008, – 10 LA 73/08 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 718 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 22. Januar 2008, – 5 LA 19/07 –, Juris. 719 Etwa Bayerischer VGH, Beschluss vom 27. März 2003, – 19 ZB 99.1196 –, Juris.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

grundsätzen, gegen die diese verstoßen sollen, unter Darstellung des Verstoßes gegenüberzustellen 720. d) Divergenzberufung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO Nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO kann die Berufung wegen einer Abweichung des Urteils von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts, auf der das Urteil beruht, zugelassen werden (sogenannte Divergenzberufung). aa) Divergenzgerichte Nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ist die Divergenzberufung nur zuzulassen, wenn das Urteil von einer Entscheidung eines Divergenzgerichtes abweicht und auf dieser Abweichung beruht. (1) Das Oberverwaltungsgericht als Divergenzgericht Anders – weitergehend – als der Revisionszulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO kann nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO auch die beruhende Abweichung von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts zur Begründung des Berufungszulassungsantrags genügen. Insoweit kommt es indes nicht – wie sehr häufig fehlerhaft geltend gemacht wird 721 – auf die Abweichung von der Entscheidung irgendeines Oberverwaltungsgerichts im Bundesgebiet an, sondern allein darauf, ob die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von einer Entscheidung des im Instanzenzug konkret übergeordneten Berufungsgerichts abweicht 722. Dies rechtfertigt sich daraus, dass 720

Rudisile, Berufungs(zulassungs)recht der VwGO, Seite 439. Und sogar von der Rechtsprechung geprüft wird: Hamburgisches OVG, Beschluss vom 15. September 2004, – 1 Bf 128/04 –, NVwZ 2005, 347 –350. 722 Bayerischer VGH, Beschluss vom 25. Oktober 2005, – 9 ZB 04.371 –, Juris, unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1993, – 2 BvR 1058/92, 2 BvR 1059/92 –, NVwZ 1993, 465 – 466, das bei der bisherigen Nichtentscheidung einer strittigen Frage durch das im Instanzenzug übergeordnete Oberverwaltungsgericht – hier die Frage der Möglichkeit eines „Durchentscheidens“ im Asylverfahren bei Fehlen von behördlichen Entscheidungen zum nachrangigen Schutz –, die aber in der Rechtsprechung der übrigen Oberverwaltungsgerichte streitig war, eine Berufungszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO für verfassungsrechtlich geboten und nicht durch die fehlende Bezeichnung oder Darlegung dieses Zulassungsgrundes gehindert ansieht; dazu später. Zu einem „Durchentscheiden“ – dies meint die Rechts721

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Sinn und Zweck der Aufnahme der Oberverwaltungsgerichte in den Kreis der Divergenzgerichte die Sicherung und Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung in dem jeweiligen Gerichtssprengel, also die Wahrung der einheitlichen Rechtsanwendung auf Landesebene ist 723. Auch der Wortlaut des Berufungszulassungsgrundes der Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO stellt mit der Formulierung „des Oberverwaltungsgerichts“ – und nicht etwa „eines Oberverwaltungsgerichts“ – darauf ab, dass es sich um die Entscheidung des in dem Instanzenzug übergeordneten Berufungsgerichts handeln muss 724. Jedoch wird in denjenigen Fällen, in denen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von der Entscheidung eines ihm nicht in dem Instanzenzug übergeordneten – und damit wie gesagt nicht divergenzfähigen –, sondern von der Entscheidung eines anderen Oberverwaltungsgerichts abweicht, regelmäßig eine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO in Betracht kommen 725. (2) Exkurs: Der Europäische Gerichtshof als Divergenzgericht Auffallend aus unionsrechtlicher Sicht ist bei einer Betrachtung des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zunächst, dass der Gerichtshof in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO nicht in den Kreis der divergenzfähigen Gerichte aufgenommen worden ist. Auch die Rechtsprechung geht davon aus, dass der Gerichtshof in der abschließenden Aufzählung der Gerichte in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO, deren Entscheidungen eine Divergenz begründen können, nicht enthalten ist, so dass eine Abweichung von der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Zulassung der Berufung nach dieser Vorschrift nicht rechtfertigen könne 726, da die Aufzählung der divergenzfähigen Gerichte in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO abschließend sei 727. pflicht der Tatsachengerichte, in Asylrechtsstreitigkeiten zugleich auch über das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von nachrangigem Abschiebungsschutz nach § 60 AufenthG von Amts wegen zu entscheiden – vergleiche auch BVerwG, Beschluss vom 10. April 1992, – BVerwG 9 B 142.91 –, NVwZ 1992, 890 –892; BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 1992, – BVerwG 9 C 59.91 –, NVwZ 1992, 892 –893; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 38. 723 Bader, Sechstes Gesetz, Seite 445. 724 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 21. Januar 2005, – 16 A 3755/04 –, Juris; Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 60; Rudisile, Berufungs(zulassungs)recht der VwGO, Seite 430; Niesler, Berufung im Verwaltungsprozess, Seite 731; Geiger, Berufungs- und Beschwerdeverfahren, Seite 67. 725 BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1993, – 2 BvR 1058/92, 2 BvR 1059/92 –, DVBl. 1993, 315 zu § 32 AsylVfG; Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 60; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 38.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Entscheidungen des Gerichtshofs werden daher als „nicht divergenzfähig“ angesehen 728. Dem folgt die Literatur 729. Bestrebungen, den Gerichtshof in den Kreis der divergenzfähigen Gerichte aufzunehmen, hat es auch in dem Gesetzgebungsverfahren – soweit ersichtlich oder dokumentiert – nicht gegeben. Eine Abweichung von einer Entscheidung des Gerichtshofs ist daher nicht geeignet, eine Divergenz zu begründen. Eine derartige Abweichung kann jedoch ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO oder eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO 730 begründen. Allerdings hat der Bundesgerichtshof 731 „auch im Hinblick auf die Bedeutung, die der Rechtsprechung des EuGH für die Wahrung der Rechtseinheit auf dem Gebiete des europäischen Gemeinschaftsrechts zukommt“, es als geboten angesehen, eine Rechtsbeschwerde ohne Rücksicht auf eine sonst kraft Gesetzes erforderliche Zulassung durch das Oberlandesgericht als statthaft anzusehen, wenn das Oberlandesgericht (auch unbewusst) von einer Entscheidung des Gerichtshofs abgewichen ist. Auf das Berufungszulassungsverfahren übertragen könnte dies dafür sprechen, im Wege einer erweiternden Auslegung oder einer Analogie auch eine Abweichung von einer Entscheidung des Gerichtshofs als zu der Begründung einer Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO geeignet anzusehen. Hiergegen spricht zunächst, dass ein solches Normverständnis durch den klaren Wortlaut der Norm ausgeschlossen ist. Die Annahme einer Analogie scheitert, weil es angesichts des ausgeführten Umstandes, dass eine derartige Abweichung von einer Entscheidung des Gerichtshofs geeignet ist, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO oder eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO 732 zu begründen, schon an einer Regelungslücke fehlt. 726 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 22. August 2001, – 13 A 817/01 –, NVwZ-RR 2002, 431 – 434; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 07. September 2006, – 4 A 3169/04 –, GewArch 2006, 471; zum Revisionsrecht BVerwG, Beschluss vom 23. Januar 2001, – BVerwG 6 B 35.00 –, WissR 2001, 377 –381; BVerwG, Beschluss vom 18. August 2009, – BVerwG 8 B 60.09 –, Juris [Rn. 11]. 727 Hamburgisches OVG, Beschluss vom 2. Februar 1998, – Bs V 113/97 –, Juris. 728 BVerwG, Beschluss vom 15. Mai 1990, – 1 B 64.90 –, InfAuslR 1990, 293 –294; BVerwG, Beschluss vom 23. Januar 2001, – BVerwG 6 B 35.00 –, WissR 2001, 377 –381; Bayerischer VGH, Beschluss vom 3. April 2008, – 11 ZB 08.245 –, Juris. 729 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 55; Kraft, in: Eyermann, VwGO, § 132 Rn. 30 für das Revisionsrecht; Redeker, in: Redeker / von Oertzen, VwGO, § 124 Rn. 23; Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 66. 730 Bayerischer VGH, Beschluss vom 6. Oktober 2005, – 24 ZB 05.1795 –, Juris. 731 BGH, Beschluss vom 21. März 1990, – XII ZB 71/89 –, EuZW 1990, 257 –259.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

185

Anders ist dies etwa dann, wenn wegen der Beschränkung der Berufungszulassungsgründe in § 78 AsylVfG auf grundsätzliche Bedeutung, Divergenz und Verfahrensmängel nach der dem Berufungszulassungsantragssteller günstigen Klärung einer als grundsätzlich gerügten Rechtsfrage durch den Gerichtshof die Annahme ernstlicher Zweifel rechtlich nicht geeignet wäre, die Zulassung der Berufung zu tragen. In einem derartigen Falle besteht dann eine Regelungslücke, die durch eine analoge Anwendung des Zulassungsgrundes der Divergenz auf den Gerichtshof zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes zu schließen ist 733. Auch wenn man zusammenfassend eine Abweichung von einer Entscheidung des Gerichtshofs unproblematisch unter einen der genannten Berufungszulassungsgründe subsumierbar ist, so ist doch aus unionsrechtlicher Sicht anzumerken, dass angesichts des Standes der Integration und unter dem Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu unionsrechtlichen Fragen als einem wesentlichen Ziel der Regelungen des Primärrechts de lege ferenda durch eine Aufnahme des Gerichtshofs in den Kreis der divergenzfähigen Gerichte der normativen und insbesondere auch der faktischen Bedeutung des Unionsrechts für die bundesdeutsche Rechtsordnung angemessen Rechnung getragen werden könnte. bb) Divergenzbegründende Tatsachenfragen Die (zutreffende) Anwendung des Unionsrechts kann auch deshalb unterblieben sein, weil das Verwaltungsgericht von einer tatsächlichen Annahme in einer Entscheidung eines Divergenzgerichtes – etwa der Annahme der Gruppenverfolgung in einem Herkunftsland des Asylbewerbers – abweicht. Streitig ist auch insoweit, ob ein Abweichen von einer Tatsachenfeststellung des Divergenzgerichtes genügt. Nach Teilen der Rechtsprechung 734 genügt eine Abweichung von Tatsachenfragen nicht. Demgegenüber kann nach der herrschenden Meinung die Divergenzrüge im Hinblick auf die Funktion des Rechtsmittels der Berufung und die Aufgaben der Berufungsinstanz sowohl rechtliche als auch tatsächliche Fragenbereiche be732

Bayerischer VGH, Beschluss vom 6. Oktober 2005, – 24 ZB 05.1795 –, Juris. Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Februar 2011, – 11 LA 491/10 –, NVwZ 2011, 572 – 574; anderer Ansicht zum Revisionsrecht BVerwG, Beschluss vom 26. Januar 2010, – BVerwG 9 B 40.09 –, Buchholz 401.68 Vergnügungssteuer Nr. 48, das mit der Formulierung zu § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO „Angesichts der eindeutigen Aufzählung ist für eine analoge Anwendung der Vorschrift kein Raum“ offenbar irrig aus der Klarheit des Wortlauts automatisch auf das Fehlen einer Regelungslücke schließt; die Klarheit des Wortlauts schließt indes allenfalls deren Planwidrigkeit aus. 734 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 27. Juni 1997, – 11 B 1136/97 –, NVwZ 1998, 306 [307]. 733

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

treffen. Ebenso wie sich die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache allein aus den verallgemeinerungsfähigen Auswirkungen ergibt, die die in der Berufungsentscheidung zu erwartende Klärung von Tatsachenfragen haben wird, kann der Berufungszulassungsgrund der Abweichung auf derartige verallgemeinerungsfähige Tatsachen gestützt werden 735. Zu beachten ist indes, dass in denjenigen Fällen, in denen diese divergenzbegründenden Tatsachenfragen zeit- und umstandsabhängige Feststellungen im tatsächlichen Bereich zu ihrem Gegenstand haben, eine Divergenzzulassung nicht in Betracht kommt, wenn sich die der früheren obergerichtlichen Grundsatzentscheidung zugrunde liegenden Verhältnisse aus Sicht des Verwaltungsgerichts wesentlich verändert haben 736. Dies ist etwa im Asylrecht dann der Fall, wenn die Verfolgung einer Glaubensminderheit in Abweichung zu älterer Rechtsprechung eines Divergenzgerichtes auf der Grundlage neuer Erkenntnismittel von dem Verwaltungsgericht nicht mehr als gegeben angesehen wird. In einem derartigen Fall kommt indes eine Umdeutung in eine Rüge der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO in Betracht 737. cc) Vorliegen einer Divergenz (1) Begriffsbestimmung Eine divergenzfähige Entscheidung liegt nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden (abstrakten) Rechts- oder Tatsachensatz von einem in der Rechtsprechung des Divergenzgerichtes aufgestellten ebensolchen Rechts- oder Tatsachensatz abgewichen ist 738. Hieraus folgt zunächst, dass nur solche Entscheidungen eines Divergenzgerichtes, die instanzabschließende Entscheidungen über Rechts- oder Tatsachenfragen treffen, divergenzgeeignet sind 739. Denn nur in Hauptsacheverfahren abschließenden Entscheidungen werden Rechts- oder Tatsachensätze mit abschließender Wirkung aufgestellt. Dementsprechend sind etwa Entscheidungen des Divergenzgerichtes über die Gewährung von Prozesskostenhilfe oder des Bundesverwal735

BVerwG, Beschluss vom 31. Juli 1984, – BVerwG 9 C 46.84 –, BVerwGE 70, 24 –28, zum Asylrecht. 736 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 13. Januar 2009, – 11 LA 471/08 –, AuAS 2009, 132. 737 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 13. Januar 2009, – 11 LA 471/08 –, AuAS 2009, 132. 738 BVerwG, Beschluss vom 21. Juli 1988, – BVerwG 1 B 44.88 –, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 265. 739 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 40.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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tungsgerichtes über die Zulassung der Revision nicht divergenzfähig 740. Denn mit ihnen wird keine abschließende Entscheidung in diesem Sinne getroffen. Um eine Divergenz bejahen zu können, muss das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung einen (abstrakten 741) Rechts- oder Tatsachensatz aufgestellt haben, der in einem Widerspruch zu einer abstrakten Rechts- oder Tatsachenfrage in einem Urteil des Divergenzgerichts steht 742; das Verwaltungsgericht muss also seiner Entscheidung nicht einen in einer Entscheidung des Divergenzgerichts aufgestellten, sondern einen davon abweichenden Rechts- oder Tatsachensatz entscheidungstragend zugrunde gelegt haben 743. Eine Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO liegt ferner nur dann vor, wenn das Urteil des Verwaltungsgerichts auf der Abweichung beruht, wenn also eine Kausalität gegeben ist. (2) Normidentität Die Entscheidung muss grundsätzlich zu derselben Rechtsvorschrift ergangen sein 744. Handelt es sich um eine Rechtsprechung zu unterschiedlichen Vorschriften, so müssen diese im Wesentlichen gleich lauten oder im selben Sinne zu verstehen sein 745, um eine Divergenz begründen zu können. Die Auslegung einer lediglich ähnlichen Norm genügt nicht 746. (3) Bewusstsein der Abweichung Bei der Divergenzzulassung ist es nicht notwendig, dass das Gericht die Entscheidung kennt, von der es abweicht 747, das Abgehen also bewusst erfolgt. Es reicht aus, wenn das Verwaltungsgericht seine Entscheidung auf einen objektiv abweichenden abstrakten Rechtssatz stützt 748. Zu fordern ist aber, dass 740 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 40. 741 BVerwG, Beschluss vom 12. Dezember 1991, – BVerwG 5 B 68.91 –, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 302. 742 So zum Revisionsrecht Kraft, in Eyermann, VwGO, § 132 Rn. 29 mit weiteren Nachweisen. 743 BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 1989, – BVerwG 7 B 188.88 –, NVwZ 1989, 1169. 744 BVerwG, Beschluss vom 30. Juni 1988, – BVerwG 2 B 89.87 –, Buchholz 421.20 Nr. 38; BVerwG, Beschluss vom 12. Dezember 1991, – BVerwG 5 B 68.91 –, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 302; Hamburgisches OVG, Beschluss vom 2. Februar 1998, Bs V 113/97 –, Juris; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 43. 745 Rudisile, Berufungs(zulassungs)recht der VwGO, Seite 431. 746 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 57.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

sich ein nicht ausdrücklich formulierter divergenzfähiger Rechtssatz des Verwaltungsgerichts als abstrakte Grundlage der Entscheidung eindeutig und frei von vernünftigen Zweifeln aus der angefochtenen Entscheidung selbst ergibt 749. (4) Zeitpunkt des Ergehens der divergierenden Entscheidung Fraglich ist zunächst, in welchem Zeitpunkt die divergierende Entscheidung ergangen sein beziehungsweise vorliegen muss. Zwar kann ein Urteil begrifflich nur von einer solchen Entscheidung abweichen, die im Zeitpunkt seines Erlasses bereits ergangen war, sodass Entscheidungen des Divergenzgerichts, die erst nach seiner Verkündung oder im Extremfall sogar nach Ablauf der Frist zur Stellung des Zulassungsantrages nach § 124a Abs. 4 VwGO verkündet werden, als für die Zulassung der Berufung nicht ausreichend angesehen werden können. Gegen diese Ansicht ist jedoch anzuführen, dass § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO seinem Wortlaut nach mit dem Gebrauch der Zeitform der Gegenwart („abweicht“) dafür spricht, die bis zu der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Zulassungsantrag dem Senat bekannten Entscheidungen des Divergenzgerichts als berücksichtigungsfähig anzusehen 750. Ferner ist Sinn und Zweck der Zulassung der Berufung wegen Divergenz nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO die Wahrung der Rechtseinheit und damit der der Rechtssicherheit. Dieser Sinn und Zweck wird aber bei jedweder Abweichung zweier gerichtlicher Entscheidungen im obigen Sinne gefährdet 751, unabhängig davon, in welchem Zeitpunkt diese Divergenz auftritt. Berücksichtigt man ferner, dass sich rechtsstaatlich schwer vermittelbare Ergebnisse etwa dann ergeben, wenn etwa eine geltend gemachte und dargelegte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO während des Berufungszulassungsverfahrens durch das Ergehen einer zu der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung divergierenden Entscheidung eines der in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO genannten Gerichte wegfallen würde, andererseits aber die aus dem 747

BVerwG, Beschluss vom 7. Juni 1991, – BVerwG 3 B 31.91 –, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 299; Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 56. 748 Kraft, in: Eyermann, VwGO, § 132 Rn. 37, zum Revisionsrecht. 749 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 24. Juni 2008, – 5 LA 32/05 –, Juris. 750 BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 1965, – BVerwG B III 10.65 –, DVBl. 1965, 841 zum Revisionsrecht. 751 BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 1965, – BVerwG B III 10.65 –, DVBl. 1965, 841 zum Revisionsrecht.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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zwischenzeitlich ergangenen Urteil eines der in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO genannten Gerichte resultierende Divergenz bestehen bleiben würde, da sie nicht geltend gemacht wurde, so wäre es sehr formalistisch, aus diesem Grund die Zulassung der Berufung zu versagen 752. Nach alledem sprechen die besseren Argumente dafür, diejenigen Entscheidungen der in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO genannten Gerichte als divergenzfähig anzusehen, die bis zu der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Berufungszulassungsantrag ergehen 753. Daher ist für die Prüfung des Vorliegens einer Divergenz der jeweils aktuelle Stand der Rechtsprechung der Divergenzgerichte in dem Zeitpunkt der Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag maßgebend 754. Problematisch ist indes bei dem Vorliegen einer die Divergenz begründenden Entscheidung, die erst nach dem Ablauf der zweimonatigen Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ergeht, dass der Berufungszulassungsantrag denklogisch diese nicht benennen und die Darlegungen sich mit dieser daher nicht auseinander setzen können, sodass in diesem Fall formal dem Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht genügt sein kann. Für eine derartige Fallkonstellation ist aus dem Gesichtspunkt der effektiven Rechtsschutzgewährung im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG heraus eine – im Folgenden noch ausführlich zu bestimmende und zu untersuchende – Umdeutung der erfolgten Darlegungen zu einem anderen Berufungszulassungsgrund in den Blick zu nehmen, da sich in einem derartigen Fall das objektiv unmögliche Beharren auf dem Darlegungsgebot als Förmelei erweisen würde 755.

752

BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 1965, – BVerwG B III 10.65 –, DVBl. 1965, 841 zum Revisionsrecht. 753 BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 1965, – BVerwG B III 10.65 –, DVBl. 1965, 841. 754 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 23. September 2008, – 2 LA 512/08 –, Veröffentlichung nicht bekannt; BVerfG; Beschluss vom 21. Januar 2000, – 2 BvR 2125/97 –, DVBl. 2000, 407 – 408; BVerwG, Beschluss vom 7. Juni 1991, – BVerwG 3 B 31.91 –, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 299; BSG, Beschluss vom 11. März 2009, – B 6 KA 31/08 B –, Juris; die Rechtsprechung des BSG für das Revisionsrecht scheint jedoch von dem Rechtsmittelführer in dem Zeitpunkt des Ablaufs der Frist zur Begründung der Revisions-Nichtzulassungsbeschwerde die Darlegung der Entscheidung zu fordern, zu der die Divergenz geltend gemacht wird: So wurde etwa für den Fall, dass noch nicht die Volltext-Fassung des in Bezug genommenen Urteils vorlag, ausnahmsweise – „unter diesen Umständen“ – ein Abstellen auf die Pressemitteilung als ausreichend angesehen: BSG, Beschluss vom 31. Mai 2006, – B 6 KA 44/05 B –, MedR 2006, 672; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 47. 755 BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 1965, – BVerwG III B 10.65 –, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 49.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

(5) Rechtsanwendungsfehler Demgegenüber kann das angefochtene Urteil dann nicht als abweichend gewürdigt werden, wenn das Verwaltungsgericht von einer rechtlich gebotenen Prüfung tatsächlicher Art absieht 756 oder den festgestellten Sachverhalt fehlerhaft würdigt 757 und damit abstrakte Rechtssätze des Berufungsgerichts unzutreffend berücksichtigt 758. Die lediglich fehlerhafte Anwendung eines von dem Obergericht aufgestellten Grundsatzes stellt solange keine Abweichung dar, wie das Instanzgericht diesem nicht ausdrücklich oder konkludent einen widersprechenden Rechts- oder Tatsachensatz entgegenstellt 759. Wird daher mit einem Antrag auf Zulassung der Berufung nach §§ 124, 124a VwGO der Sache nach lediglich geltend gemacht, dass das Verwaltungsgericht einen höchstrichterlich aufgestellten Rechtssatz unrichtig angewandt habe, so liegt ein bloßer Anwendungsfehler vor, der eine Divergenz im Sinne des Berufungszulassungsrechts nicht trägt. Mit Angriffen gegen die verwaltungsgerichtliche Tatsachenwürdigung und Rechtsanwendung im Einzelfall kann deshalb eine Abweichungsrüge nicht begründet werden 760. (6) Stillschweigendes Übergehen Eine Divergenz liegt schließlich auch dann nicht vor, wenn das Verwaltungsgericht gegen Rechts- oder Tatsachensätze des Obergerichts dadurch verstößt, indem es diese stillschweigend übergeht 761 oder sie nicht erkennt. Denn die Divergenzberufung soll die Einheitlichkeit der Rechtsprechung sichern, indem prinzipielle Auffassungsunterschiede über den Bedeutungsgehalt einer Rechtsvorschrift 762 zu einer Zulassung des Rechtsmittels und zu einer endgültigen Klärung gebracht werden. Es reicht mithin nicht, dass das Gericht ein Rechtsproblem übersehen hat oder von anderen Erwägungen ausgegangen ist; erforderlich ist vielmehr, dass sich eindeutig feststellen lässt, dass das Ausgangsgericht den Rechtssatz wirklich vertreten wollte und nicht lediglich ein Rechtsproblem 756 Hessischer VGH, Beschluss vom 25. September 2001, – 12 UZ 2284/01.A –, EzAR 633 Nr. 41. 757 BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 1975, – BVerwG VI CB 133.74 –, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 128. 758 Bayerischer VGH, Beschluss vom 8. Mai 2002, – 13a ZB 02.30033 –, Juris. 759 BVerwG, Beschluss vom 10. Juli 1995, – BVerwG 9 B 18.95 –, NVwZ-RR 1997, 191. 760 BVerwG, Beschluss vom 12. Dezember 1991, – BVerwG 5 B 68.91 –, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 302. 761 BVerwG, Beschluss vom 23. August 1976, – BVerwG II B 2.76 –, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 147; Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 56. 762 BVerwG, Beschluss vom 04. November 2008, – BVerwG 2 B 19.08 –, Juris.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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übersehen hat oder von anderen, nicht ausgesprochenen rechtlichen Erwägungen ausgegangen ist 763. (7) Hilfsbegründungen Letztlich ist die Abweichung von Hilfsbegründungen nicht geeignet, die Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zu tragen. Denn bei einer bloßen Hilfsbegründung fehlt es an einer Divergenz zu der dann weiter vorliegenden selbständig tragenden Begründung 764, sofern nicht auch zu dieser eine Divergenzentscheidung dargelegt wird. (8) Obiter dicta Auch die Abweichung von einem obiter dictum 765 ist nicht ausreichend zu der Begründung einer Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO 766. Handelt es sich bei einem Rechts- oder Tatsachensatz in einer in einem Zulassungsantrag in Bezug genommenen Divergenzentscheidung nicht um tragende Erwägungen des Divergenzurteils, sondern lediglich um nicht tragende Erwägungen (so genannte „obiter dicta“), so kommt eine Rechtsmittelzulassung nicht in Betracht 767. In der Rechtsprechung 768 wird insoweit jedoch eine Ausnahme gemacht und unter dem Gesichtspunkt der Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO die Berufung zugelassen, wenn das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts nur von einem Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts, der dessen Entscheidung nicht trägt, abweicht, wenn aber dieser Rechtssatz von dem Bundesverwaltungsgericht durch die Aufnahme in den der Entscheidung vorangestellten Leitsatz besonders hervorgehoben und damit zugleich die Klärung der dahinter stehenden grundsätzlich bedeutsamen Rechtsfrage erfolgt ist. Hierfür wird angeführt, dass andernfalls durch den nicht tragenden Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts den Beteiligten die Möglichkeit genommen werde, eine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu erreichen. Denn eine von dem Berufungszulassungsantragssteller beantragte Zulassung we763

BVerfG, Beschluss vom 02. Januar 1995, – 1 BvR 320/94 –, NJW 1996, 45. Bayerischer VGH, Beschluss vom 21. Mai 2007, – 11 ZB 07.525 –, Juris. 765 Bayerischer VGH, Beschluss vom 13. Oktober 2008, – 5 ZB 07.2906 –, Juris. 766 Laudemann, Prozessuale Probleme, Seite 176; Geiger, Berufungs- und Beschwerdeverfahren, Seite 66. 767 BFH, Beschluss vom 25. Juni 2008, – X B 210/05 –, BFH / NV 2008, 1649 –1652; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 45. 768 Hamburgisches OVG, Beschluss vom 16. November 1998, – 6 Bf 526/98 A –, Juris. 764

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

gen grundsätzlicher Bedeutung müsse daran scheitern, dass die aufgeworfene Rechtsfrage durch das betreffende Urteil des Bundesverwaltungsgerichts geklärt worden sei; gleichzeitig scheitere der geltend gemachte Zulassungsgrund der Divergenz daran, dass der Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts als nicht tragend anzusehen sei. Daher reiche auch im Rahmen der Zulassung wegen Divergenz nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ausnahmsweise eine solche Abweichung von einem Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts aus, der zwar nicht tragend, aber der von dem Bundesverwaltungsgericht durch ein Voranstellen als Leitsatz besonders hervorgehoben worden sei. dd) Anforderungen an die Darlegung einer Divergenz Die Zulassung der Berufung wegen Divergenz nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO erfordert den Vortrag, dass das angefochtene Urteil von einer Entscheidung eines Divergenzgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Erforderlich ist die Darlegung, dass im Einzelnen zu formulierende, von dem Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung gebildete, abstrakte Rechtssätze bestimmten Rechtsgrundsätzen in der genau zu bezeichnenden Divergenzentscheidung widersprechen 769. Wird in der Entscheidung, die der Berufungszulassungsantragssteller zur Begründung einer Divergenz heranzieht, ein entscheidungserheblicher abstrakter Rechtssatz nicht ausdrücklich ausgesprochen, so erfordert das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, dass dieser herausgearbeitet und zudem näher ausgeführt wird, worin die geltend gemachte Abweichung zu sehen ist 770. Nicht ausreichend ist demgegenüber wie ausgeführt das Vorbringen, das Verwaltungsgericht habe divergenzfähige Rechtssätze nicht ausreichend beachtet bzw. im Einzelfall falsch angewendet; denn hierin ist der für eine Divergenz im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO erforderliche prinzipielle Auffassungsunterschied nicht zu sehen 771. Neben der genauen Benennung der Divergenzentscheidung mit Datum, Aktenzeichen und / oder Fundstelle 772, die gewährleistet, dass sie aufgefunden werden kann 773, ist Voraussetzung, dass hier ein Rechts- oder Tatsachensatz im Urteil des Divergenzgerichts einem im angefochtenen Urteil aufgestellten Rechts- oder Tat769

Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 24. Mai 2002, – 1 LA 2680/01 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 770 Nordrhein-Westfälisches OVG,, Beschluss vom 27. Juni 1997, – 11 B 1136/97 –, NVwZ 1998, 117. 771 Vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Januar 2001, – BVerwG 4 B 57.00 –, NVwZ-RR 2001, 422 mit weiteren Nachweisen zu dem vergleichbaren Revisionsgrund der Divergenz gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO; BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997, – BVerwG 7 B 261.97 –, NJW 1997, 3328. 772 Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 55. 773 Bogumil, Revisionszulassungsverfahren, Seite 456.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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sachensatz bei der Anwendung derselben Vorschrift so gegenübergestellt wird, dass die Abweichung erkennbar wird 774. Aus dem oben beschriebenen Umstand, dass eine Divergenz nicht vorliegt, wenn das Verwaltungsgericht gegen den Rechts- oder Tatsachensatz eines Divergenzgerichts nur dadurch verstoßen hat, dass es ihn im Einzelfall unzutreffend angewandt hat, folgert die Rechtsprechung für die Darlegung einer Divergenz vor allem, dass in dem Berufungszulassungsantrag die beiden einander widerstreitenden abstrakten Rechts- oder Tatsachensätze des Divergenzgerichts einerseits und des Verwaltungsgerichts andererseits zitiert oder – sofern letzterer in dem angefochtenen Urteil nicht bereits ausdrücklich genannt wurde – herausgearbeitet und bezeichnet werden 775. Aus den Anforderungen des Herausarbeitens und Bezeichnens wird konkretisierend die Notwendigkeit gefolgert, dass der Berufungszulassungsantragsteller den aus seiner Sicht in der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegten abstrakten Rechts- oder Tatsachensatz selbst abstrakt ausformuliere 776, da es nicht Aufgabe des Berufungsgerichts im Berufungszulassungsverfahren sei, einen unbestimmt gefassten – also nicht abstrakten – Vortrag des Rechtsbehelfsführers daraufhin zu überprüfen, ob sich aus ihm bestimmte, in einem Widerspruch zu einer divergenzgerichtlichen Entscheidung stehende abstrakte Rechts- oder Tatsachensätze ergeben könnten 777. Zu fordern ist ferner die Darlegung, dass die angefochtene Entscheidung auf der Abweichung beruht 778, also für das Oberverwaltungsgericht die Kausalität erkennbar wird. ee) Anforderungen an die Darlegung einer auf Unionsrecht fußenden Divergenz Da der Gerichtshof nicht selbst zu dem Kreis der Divergenzgerichte gehört, erfordert die Darlegung einer auf dem Unionsrecht fußenden Divergenz das Vorhandensein einer sich mit dem Unionsrecht auseinandersetzenden und noch dazu dem Berufungszulassungsantragssteller günstigen Entscheidung eines der in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO genannten Divergenzgerichte. Dieses Erfordernis schränkt den Anwendungsbereich des Berufungszulassungsgrundes der Diver774

Bayerischer VGH, Beschluss vom 19. August 2008, – 15 ZB 07.30724 –, Juris. Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 24. Juni 2008, – 5 LA 32/05 –, Juris. 776 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 24. Juni 2008, – 5 LA 32/05 –, Juris. 777 Hessischer VGH, Beschluss vom 14. Januar 1998, – 13 UZ 4132/97.A –, NVwZ 1998, 303 [304]. 778 Bayerischer VGH, Beschluss vom 10. März 2008, – 21 ZB 07.3181 –, Juris. 775

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

genz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO bezüglich des Unionsrechts stark ein. e) Vorliegen eines Verfahrensmangels Nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO ist die Berufung letztlich dann zuzulassen, wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Jenseits der Formulierung, dass der Verfahrensmangel der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegen muss, deckt sich die Norm mit dem Revisionszulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, sodass die hierzu existierende Literatur und Rechtsprechung zu einer Auslegung des Absatzes 2 Nr. 5 des § 124 VwGO herangezogen werden kann. aa) Begriff des Verfahrensmangels, der der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegt Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist ein Verstoß gegen eine Vorschrift, die den Verfahrensablauf regelt, „ein Verstoß gegen Verfahrensnormen, der den Weg zu dem Urteil und die Art und Weise des Urteilserlasses, nicht dessen Inhalt betrifft, ein error in procedendo, nicht ein Mangel der sachlichen Entscheidung, ein error in judicando“ 779. Der Berufungszulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 5 dient vorrangig der Sicherung eines fairen Verfahrens durch die Eröffnung der Berufungsinstanz in dem Fall entscheidungserheblicher Verfahrensfehler des Verwaltungsgerichts 780. Nicht zu dem Verfahrensrecht in diesem Sinne gehören demnach die Regeln und Grundsätze, die nicht den äußeren Verfahrensablauf, sondern den inneren Vorgang der richterlichen Rechtsfindung bestimmen 781. Durch § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO soll (nur) gesichert werden, dass die Verwaltungsgerichte ihre Entscheidungen auf der Grundlage eines ordnungsgemäß durchgeführten Verfahrens treffen. Sinn der Berufungszulassung wegen eines Verfahrensmangels nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO ist hiernach die Kontrolle des Verfahrensganges, nicht die Kontrolle der Rechtsfindung 782. Die Rechtsfindung in diesem Sinne beschränkt sich nicht auf das Auffinden und Auslegen der Rechtsnormen. Vielmehr gehört 779 BVerwG, Beschluss vom 02. November 1995, – BVerwG 9 B 710.94 –, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266. 780 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 64. 781 BVerwG; Beschluss vom 11. Januar 2001, – BVerwG 9 B 40.01 –, Juris. 782 BVerwG, Beschluss vom 02. November 1995, – BVerwG 9 B 710.94 –, DVBl. 1996, 108 – 109.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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zu ihr auch die Würdigung des dem Gericht vorliegenden Tatsachenmaterials. Ein Fehler, der sich nicht in dem Verfahrensablauf, sondern ohne Auswirkung auf den Verfahrensgang lediglich „im Kopf des Richters“ ereignet, ist deshalb kein Verfahrensfehler im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO, sondern ein Fehler, der die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung betrifft und infolgedessen nur unter den Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 VwGO zu einer Zulassung der Berufung führen kann. Dasselbe gilt für Fehler bei der Sachverhaltsund Beweiswürdigung. Unter § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO fallen daher zusammengefasst nur solche Verstöße, die den formalen Weg zu dem angefochtenen Urteil oder die Art und Weise seines Erlasses betreffen 783. bb) Beruhenkönnen der Entscheidung auf dem Verfahrensmangel Ein Verfahrensmangel ist aufgrund der Formulierung in § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO „auf dem die Entscheidung beruhen kann“ nur dann erheblich und führt daher nur dann zur Zulassung der Berufung, wenn zumindest die Möglichkeit besteht, dass das Gericht ohne den Rechtsverstoß zu einem dem Zulassungsantragssteller günstigeren Ergebnis gelangt wäre 784. Zu fordern ist damit die Kausalität des Verfahrensfehlers für das Ergebnis der angefochtenen Entscheidung im Sinne der Möglichkeit, dass das Gericht ohne den gerügten Verfahrensfehler zu einem dem Berufungszulassungsantragssteller günstigeren Ergebnis gekommen wäre 785. cc) Anforderungen an die Darlegung häufig gerügter Verfahrensmängel Ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO, auf dem die Entscheidung beruhen kann, ist nur dann gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird.

783 BVerwG, Beschluss vom 2. November 1995, – BVerwG 9 B 710.94 –, NVwZ-RR 1996, 359. 784 BVerwG, Beschluss vom 2. September 1983, – BVerwG 7 C 97.81 –, DVBl. 1984, 91 [92]; BVerwG, Beschluss vom 23. September 1988, – BVerwG 7 B 150.88 –, BayVBl. 1989, 249. 785 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 68.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Im Folgenden sollen häufig gerügte Verfahrensmängel und die Anforderungen an ihre Darlegung aufgezeigt werden: (1) Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz VwGO Das durch Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs garantiert den im Sinne des § 63 VwGO Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens, dass sie sich zu dessen Gegenstand in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht äußern können 786. Ebenfalls aus der Garantie rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt die Verpflichtung der Gerichte, ihren Entscheidungen nur solche Gesichtspunkte zu Grunde zu legen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten, und die erfolgten Äußerungen der Beteiligten bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen 787. Demgegenüber lassen sich im Grundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG keine verfassungsunmittelbaren Hinweis- oder Belehrungspflichten herleiten 788. Insbesondere ist auch in Anbetracht des Art. 103 Abs. 1 GG das Tatsachengericht nicht verpflichtet, bereits in der mündlichen Verhandlung ein mögliches oder voraussichtliches Ergebnis der Sachverhalts- oder Beweiswürdigung den Beteiligten zu offenbaren 789. Denn aus dem Grundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG ergibt sich keine allgemeine Aufklärungspflicht des Richters 790. Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind vielmehr prinzipiell der materiellrechtlichen Rechtsfindung zuzuordnen 791 und kein Verfahrensvorgang, an dem die Prozessbeteiligten zu beteiligen wären 792; sie sind damit nicht geeignet, einen Verfahrensfehler zu begründen. Denn durch die Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO wegen des Vorliegens eines Verfahrensfehlers im obigen Sinne soll gesichert werden, dass die Verwaltungsgerichte ihre Entscheidungen auf der Grundlage eines ordnungsgemäß durchgeführten Verfahrens treffen. Sinn der Berufungszulassung wegen eines Verfahrensmangels im Sinne 786

BVerfG, Beschluss vom 9. Februar 1982, – 1 BvR 1379/80 –, BVerfGE 60, 1 [5]. Hessischer VGH, Beschluss vom 26. März 2007, – 7 ZU 3020/06.A –, NVwZ-RR 2008, 135. 788 Hessischer VGH, Beschluss vom 22. März 2004, – 9 UZ 925/00.A –, Juris. 789 BVerfG, Beschluss vom 15. Mai 1984, – 1 BvR 967/83 –, BVerfGE, 67, 90 [95 f.]. 790 BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 1984, – 1 BvR 272/81 –, BVerfGE 66, 116 – 151. 791 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 64. 792 BVerwG, Beschluss vom 2. November 1995, – BVerwG 9 B 710.94 –, NVwZ-RR 1996, 359; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. November 1996, – 13 A 5126/ 96 –, InfAuslR 1997, 270. 787

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO ist hiernach die Kontrolle des Verfahrensganges, nicht die Kontrolle der Rechtsfindung. Aber auch der Bereich der Tatsachenfeststellung ist ebenso wie der der Rechtsanwendung nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen. Denn die Rechtsfindung des Richters beschränkt sich nicht auf das richterliche Auffinden und Auslegen der Rechtsnormen. Auch die Würdigung des dem Gericht vorliegenden Tatsachenmaterials und dessen Subsumtion ist Teil, ja sogar Kern der richterlichen Rechtsfindung. Ein Fehler, der sich nicht in dem Verfahrensablauf, sondern ohne Auswirkung auf den Verfahrensgang lediglich gleichsam „im Kopf des Richters“ ereignet, etwa ein Verstoß gegen allgemeine Erfahrungssätze oder die Denkgesetze, ist deshalb kein Verfahrensfehler im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO, sondern ein Fehler, der die inhaltliche Ergebnisrichtigkeit der Entscheidung betrifft und infolgedessen nur unter den Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 Nr. 1 oder 4 VwGO zur Zulassung der Berufung führen kann 793. Auch einen gerichtlichen Hinweis fordert Art. 103 Abs. 1 GG nur im Ausnahmefall zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung. Ein solcher Ausnahmefall liegt etwa dann vor, wenn ein Gericht auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abzustellen beabsichtigt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht 794 oder wenn zum Beispiel das Gericht nach diesem Maßstab unvorhersehbare Anforderungen an den Sachvortrag stellt 795. In Bezug auf das Beweisantragsrecht beinhaltet die Gehörsgarantie des Artikel 103 Abs. 1 GG das Recht der Prozessbeteiligten, die für sie günstigen Tatsachen darzulegen und unter Beweis zu stellen. Demgegenüber folgt aus der Gehörsgarantie des Art. 103 Abs. 1 GG kein Anspruch auf bestimmte Beweismittel oder ein bestimmtes Beweisverfahren. Denn die Ausgestaltung der Gehörsgarantie ist vielmehr Sache des einfachen Gesetzgebers und erfolgt in einfachgesetzlichen Prozessordnungen. Missachtet ein Gericht daher einfachgesetzliche, das Gehörsrecht ausgestaltende Vorschriften wie etwa § 86 Abs. 1 VwGO, so geht mit diesem Gesetzesverstoß folglich nicht automatisch eine Verletzung des Verfahrensgrundrechts des rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG einher.

793 BVerwG, Beschluss vom 2. November 1995, – BVerwG 9 B 710.94 –, DVBl 1996, 108 – 109. 794 BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992, – 1 BvR 986/91 –, BVerfGE 86, 133 [144]. 795 BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1991 – 1 BvR 1383/90 –, BVerfGE 84, 188 [190].

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Eine Gehörsverletzung setzt vielmehr grundsätzlich eine nicht mehr vertretbare, offenkundig unrichtige oder gar willkürliche Anwendung entsprechender Verfahrensvorschriften voraus 796. Bezogen auf die einfachgesetzlichen Regelungen über Beweisanträge in § 86 Abs. 2 VwGO und deren Ablehnung bedeutet dies, dass eine Gehörsverletzung eines Verfahrensbeteiligten im Sinne von Art. 103 Abs. 1 GG immer erst dann vorliegt, wenn dieser einen nach dem jeweiligen Verfahrensrecht erheblichen Beweisantrag gestellt und das Gericht diesen Beweisantrag in unvertretbarer Weise 797 abgelehnt hat, die Ablehnung also im Prozessrecht selbst keine Stütze mehr findet. Die Ablehnung von Beweisanträgen durch das Verwaltungsgericht darf daher im Prozessrecht keine Stütze mehr finden, um im Berufungszulassungsverfahren als Verfahrensfehler im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO geltend gemacht werden zu können; die Ablehnungsbegründung darf prozessrechtlich nicht haltbar sein 798. Von den Verwaltungsgerichten werden Beweisanträge – da eine rechtliche Ausgestaltung insoweit in der VwGO fehlt – in entsprechender Anwendung des § 244 Abs. 3 StPO beschieden 799. Nach dieser Norm ist ein Beweisantrag abzulehnen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist (§ 244 Abs. 3 Satz 1 StPO). Im übrigen darf ein Beweisantrag nur abgelehnt werden, wenn eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist, wenn die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung oder schon erwiesen ist, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder wenn es unerreichbar ist, wenn der Antrag zum Zweck der Prozessverschleppung gestellt ist oder wenn eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO). Häufigster Fall der Ablehnung eines Beweisantrages im Verwaltungsprozess ist der der Wahrunterstellung. Die Wahrunterstellung im Verwaltungsprozess unterscheidet sich allerdings regelmäßig von dem in § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO gesetzlich geregelten Fall der Wahrunterstellung insoweit, als in dem unmittelbar von der Strafprozessordnung erfassten Fall das Gericht von der Wahrunterstellung nur dann Gebrauch machen darf, wenn es sich um eine der Entlastung des Angeklagten dienende entscheidungserhebliche Tatsache handelt, die das Gericht durch eine Beweisaufnahme für nicht widerlegbar erachtet und von der 796

Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 138 Rn. 26, 32. Hessischer VGH, Beschluss vom 26. März 2007, – 7 ZU 3020/06.A –, NVwZ-RR 2008, 242. 798 BVerwG, Beschluss vom 28. März 2006, – BVerwG 1 B 91.05, 1 C 6.06 –, NVwZ 2007, 346. 799 Vierhaus, Beweisantragsrecht, Seite 632. 797

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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es aufgrund der sonstigen Beweislage nach dem Grundsatz im Zweifel für den Angeklagten bei der Beweiswürdigung ausgehen müsste 800. Eine derartige Wahrunterstellung einer entscheidungserheblichen Tatsache scheidet im Verwaltungsprozess, in dem es eben den Grundsatz „in dubio pro reo“ nicht gibt, aus. In denjenigen Fällen, in denen im Verwaltungsprozess eine Beweiserhebung wegen Wahrunterstellung abgelehnt wird, handelt es sich jedoch regelmäßig um Tatsachen, deren Wahrunterstellung am Ergebnis des Ausgangs des Rechtsstreits nichts ändert. Deshalb ist ein Absehen von einer Beweiserhebung „wegen Wahrunterstellung“ nur dort zulässig, wo der Sache nach ein Verzicht auf eine Beweiserhebung wegen Unerheblichkeit der vorgetragenen Tatsachen vorliegt, welche durch die Wahrunterstellung nur sozusagen experimentell erwiesen wird 801. Damit ist die Wahrunterstellung ein Unterfall des Ablehnungsgrundes der Unerheblichkeit der Beweistatsache. Nach geltendem Prozessrecht kann das Verwaltungsgericht daher einen Beweisantrag im Wege der Wahrunterstellung unter Hinweis darauf ablehnen, dass die zu beweisenden Tatsachen letztlich nicht entscheidungserheblich seien. Denn auch in dem von dem Untersuchungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 VwGO beherrschten verwaltungsgerichtlichen Verfahren kann dann von einer Beweiserhebung unter dem Gesichtspunkt einer Wahrunterstellung abgesehen werden, wenn das Gericht zugunsten des Betroffenen den von diesem behaupteten Sachverhalt ohne jede inhaltliche Einschränkung als richtig annimmt, die behauptete Tatsache also in ihrem mit dem Beteiligtenvorbringen gemeinten Sinn so behandelt, als wäre sie bereits nachgewiesen 802. § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO regelt darüber hinaus, dass ein Beweisantrag abzulehnen ist, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist. Eine Beweiserhebung ist insbesondere dann unzulässig, wenn ein Beweisantrag nicht hinreichend bestimmt ist. Das Verwaltungsgericht kann auf dieser Grundlage daher auch so genannte „Ausforschungsbeweisanträge“ ablehnen. Denn ein unsubstantiierter, auf das Geradewohl oder „ins Blaue hinein“ gestellter Beweisantrag löst keine Beweiserhebungspflicht des Gerichts aus. Ein derartiger unzulässiger, weil unsubstantiierter „Ausforschungsbeweisantrag“ liegt aber nur vor, wenn für die zugrunde liegenden Tatsachenbehauptungen nicht wenigstens eine ge800 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 04. Dezember 1996, – 11 L 3621/96 –, Juris. 801 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 04. Dezember 1996, – 11 L 3621/96 –, Juris. 802 BVerwG, Urteil vom 24. März 1987 –, BVerwG 9 C 47.85 –, BVerwGE 77, 150 [156 f.]; BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 1971, – BVerwG 5 C 78.70 –, BVerwGE 39, 36; BVerwG, Urteil vom 27. März 1980,- BVerwG 4 C 34.79 –, Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 34; BVerwG, Urteil vom 18. September 1985, – BVerwG 2 C 30.84 –, Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO Nr. 28.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

wisse Wahrscheinlichkeit spricht, wenn sie mit anderen Worten ohne greifbare Anhaltspunkte willkürlich aufgestellt und „aus der Luft gegriffen“ sind 803. Bei einem Ausforschungsbeweisantrag fehlt es aufgrund eines Mangels des Beweisthemas an einem ordnungsgemäß gestellten Beweisgesuch. Der Mangel liegt darin, dass Fakten oder argumentativ erschlossene tatsächliche Zusammenhänge fehlen, aufgrund derer für die aufgestellte Beweisbehauptung eine bestimmte Plausibilität spricht. Kennzeichnend für den Ausforschungsbeweisantrag ist mithin, dass unter formellem Beweisantritt Behauptungen aufgestellt werden, deren Wahrheitsgehalt nicht eine gewisse (Anfangs-)Wahrscheinlichkeit für sich hat 804. Ob (hinreichende) tatsächliche Anhaltspunkte für eine (Anfangs-)Wahrscheinlichkeit einer unter Beweis gestellten Behauptung vorliegen und damit ein ordnungsgemäßer – nicht auf Ausforschung gerichteter – Beweisantrag gestellt ist, hängt dabei auch von dem zu beweisenden Sachverhalt ab. Je komplexer und / oder ungewöhnlicher dieser ist, desto mehr bedarf es von dem Kläger darzulegender Indiztatsachen für eine gewisse Wahrscheinlichkeit der dem Gericht mit dem Beweisgesuch unterbreiteten Tatsachenbehauptung. Nach der Rechtsprechung 805 und der Literatur 806 kann ein Aufklärungsmangel im Sinne von § 86 Abs. 1 VwGO ferner nur dann gegeben sein, wenn bereits in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr mit dem Berufungszulassungsantrag gerügt wird, hingewirkt worden ist, oder wenn sich dem Verwaltungsgericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen. Denn die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten in der Tatsacheninstanz, vor allem das Unterlassen der Stellung von Beweisanträgen, zu kompensieren 807. Stellt also ein Bevollmächtigter in einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht lediglich einen Sachantrag und keinen Antrag auf Beweiserhebung, der dann im Übrigen gemäß § 86 Abs. 2 VwGO nur durch einen Gerichtsbeschluss, der zu begründen ist, abgelehnt werden kann, verliert er durch 803

BVerwG, Beschluss vom 28. März 2006, – BVerwG 1 B 91.05, 1 C 6.06 –, NVwZ 2007, 346; BVerwG, Beschluss vom 5. März 2002, – BVerwG 1 B 194.01 –, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 320; BVerwG, Beschluss vom 30. Januar 2002, – BVerwG 1 B 326.01 –, Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 69. 804 BVerwG, Beschluss vom 28. März 2006, – BVerwG 1 B 91.05, 1 C 6.06 –, NVwZ 2007, 346. 805 BVerwG, Beschluss vom 6. März 1995, – BVerwG 6 B 81.94 –, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265. 806 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 64; zu Verfahrensmängeln diesbezüglich auch Kretzschmar, Wesentlicher Verfahrensmangel, Seite 345. 807 BVerwG, Urteil vom 23. Mai 1986, – BVerwG 8 C 10.84 –, BVerwGE 74, 222 [223].

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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dieses prozessuale Verhalten ein etwaiges Rügerecht auf eine Verletzung der Aufklärungspflicht als Verfahrensmangel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO 808. Denn die in dem Berufungszulassungsverfahren erhobene Rüge unzureichender Sachaufklärung im Sinne des § 86 Abs. 1 VwGO kann nicht dazu dienen, solche Beweisanträge zu ersetzen, die jedenfalls ein rechtskundig vertretener Beteiligter in erster Instanz zu stellen unterlassen hat, soweit es sich nicht dem Verwaltungsgericht geradezu „aufdrängen“ musste, eine weitere Sachverhaltsermittlung zu betreiben 809. Die Nichtverfolgung einer bloßen Beweisanregung, die etwa in einem Schriftsatz im vorbereitenden Verfahren im Sinne von § 87 VwGO zu den Gerichtsakten gereicht wurde, kann daher einen Aufklärungsmangel nur in denjenigen Fällen begründen, wenn sich dem Erstrichter eine Beweisaufnahme offensichtlich aufdrängen musste 810. Ob ein Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung gestellt wurde, ergibt sich aus der Sitzungsniederschrift 811 als öffentlicher Urkunde 812 im Sinne von § 98 VwGO in Verbindung mit § 415 Abs. 1 ZPO. Selbst bei der Ablehnung eines Beweisantrages in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht wird gefordert, dass sich der Berufungszulassungsantragssteller zu einer Ablehnung des Beweisantrages äußert und gegebenenfalls weitere Beweisanträge stellt, um sich seine Verfahrensrüge für den Berufungszulassungsantrag zu erhalten 813: Versäume ein Kläger, sich durch Wahrnehmung prozessualer und faktischer Möglichkeiten weiteres Gehör zu verschaffen, so könne er sich grundsätzlich im Nachhinein nicht mehr auf den entsprechenden Verfahrensmangel berufen 814, da nach §§ 295 Abs. 1, 531 ZPO in Verbindung mit § 173 VwGO die Verletzung einer das Verfahren betreffenden Vorschrift nicht mehr geltend gemacht werden könne, wenn der Beteiligte den 808

Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 3. Dezember 2002, – 18 A 2507/ 01 –, EzAR 028 Nr. 9; Vierhaus, Beweisantragsrecht, Seite 630; zu dem Verhältnis der Grundsätze des Verwaltungsprozesses und einem Rügeverzicht Kohlndorfer, Anwendung von § 285 ZPO. 809 Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 27. April 2009, – 2 A 286/ 09 –, Juris. 810 Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 56. 811 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 3. Dezember 2002, – 18 A 2507/ 01 –, EzAR 028 Nr. 9. 812 Zu § 274 StPO im Übrigen mit umfassender Aufarbeitung der historischen Rechtsprechung BVerfG, Beschluss vom 15. Januar 2009, – 2 BvR 2044/07 –, EuGRZ 2009, 143 – 159. 813 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 1. September 2009, – 11 LA 384/09 –, V.n.b. 814 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 25. Juli 2000, – 11 L 2151/00 –, Veröffentlichung nicht bekannt; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 25. Mai 1999, – 11 L 1830/99 –, Veröffentlichung nicht bekannt.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Mangel in der ersten Instanz nicht gerügt habe, obwohl er erschienen gewesen sei und ihm der Mangel bekannt gewesen war oder bekannt gewesen sein musste. Dem ist zuzustimmen. Das durch eine Beschleunigungsintention gekennzeichnete Berufungszulassungsverfahren dient nicht dazu, in der ersten Instanz im Sinne eines „Verschuldens gegen sich selbst“ unterlassene Beweisanträge nachzuholen. Zuzustimmen ist auch der genannten Ansicht, dass selbst bei der Ablehnung eines gemäß § 86 Abs. 2 VwGO in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrages zur Vermeidung eines Verlustes des Rügerechts die Partei durch weitere prozessuale Maßnahmen – wie etwa Erklärungen, wieso die Ablehnung rechtsfehlerhaft sei oder durch die Stellung weiterer Beweisanträge – gegenüber dem Gericht aktiv werden, sich also rechtliches Gehör zu verschaffen versuchen muss 815. Die entsprechende Verpflichtung folgt aus § 295 ZPO, der gemäß § 173 VwGO auch in einem Verwaltungsprozess gilt. Nach Absatz 1 dieser Vorschrift kann die Verletzung einer das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozesshandlung betreffenden Vorschrift nicht mehr gerügt werden, wenn die Partei auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet, oder wenn sie bei der nächsten mündlichen Verhandlung, die auf Grund des betreffenden Verfahrens stattgefunden hat oder in der darauf Bezug genommen ist, den Mangel nicht gerügt hat, obgleich sie erschienen und ihr der Mangel bekannt war oder bekannt sein musste. Zu dem Begriff der „nächsten mündlichen Verhandlung“ ist in der Literatur 816 und in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 817 geklärt, dass insoweit der Schluss der letzten mündlichen Verhandlung der Instanz die zeitliche Obergrenze darstellt, und dass als zeitliche Untergrenze sogar eine Verhandlung zur Sache genügt, die im gleichen Termin etwa im Anschluss an eine Bewesaufnahme nach § 370 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 173 VwGO stattfindet 818, dass also kein neuer Termin notwendig ist. Für die Darlegung eines Verfahrensmangels im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO durch die Ablehnung eines Beweisantrages bedeutet dies Folgendes: „Die gerichtliche Aufklärungspflicht gewinnt ihre Reichweite und ihre Konturen aus dem materiellen Recht“ 819. Wird unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes gegen den Amtsermittlungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 VwGO ein Verfahrensmangel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO geltend gemacht, so muss zu diesem behaupteten Verstoß auch dargelegt werden, welche Tatsachen auf der 815

Kohlndorfer, Anwendung von § 295 ZPO, Seite 477. Kohlndorfer, Anwendung von § 295 ZPO, Seite 476. 817 BVerwG, Beschluss vom 03. Mai 1976, – BVerwG VI CB 91.75 –, BVerwGE 50, 344 [346 f.]; BVerwG, Beschluss vom 07. Oktober 1980, – BVerwG 6 C 68.80 –, DÖV 1981, 536 – 537. 818 BVerwG, Beschluss vom 07. Oktober 1980, – BVerwG 6 C 68.80 –, DÖV 1981, 536 – 537. 819 Bayerischer VGH, Beschluss vom 25. Oktober 2005, – 9 ZB 04.371 –, Juris. 816

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Grundlage der sich stellenden materiell-rechtlichen Fragen ermittlungsbedürftig gewesen wären 820. Wird ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz im Sinne von § 86 Abs. 1 VwGO geltend gemacht, muss daher in dem Berufungszulassungsverfahren substantiiert dargelegt werden, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat und welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären. Ferner erfordert die Darlegung, dass bereits in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren prozessrechtswidriges Unterbleiben nunmehr mit dem Berufungszulassungsantrag gerügt wird, hingewirkt worden ist, oder dass sich dem Verwaltungsgericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen 821. Andere Judikate steigern demgegenüber die Anforderungen an die Darlegung im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO bei der Rüge eines Aufklärungsmangels als Verfahrensfehler noch weiter: So wird etwa verlangt, das in dem Berufungszulassungsantrag ausgeführt wird, welche Tatsachen auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichts ermittlungsbedürftig gewesen wären, auf Grund welcher Anhaltspunkte sich die unterbliebene Beweisaufnahme dem Verwaltungsgericht hätte aufdrängen müssen, welches Ergebnis diese Beweisaufnahme voraussichtlich erbracht hätte und inwiefern das angegriffene Urteil unter Zugrundelegung der materiell-rechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichts auf der unterbliebenen Beweisaufnahme beruhen kann 822. In formeller Hinsicht wird für die Rüge des Übergehens eines schriftsätzlich gestellten Beweisantrages etwa gefordert, dass der Berufungszulassungsantragssteller darlegt, „wo in den Akten sich dieses Vorbringen findet“, er also „exakte Fundstellenangaben“ 823 mache. Soweit hier gefordert wird, dass auch substantiiert dargelegt werden müsse, welche tatsächlichen Feststellungen bei der Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären 824, oder die Substantiierung verlange, auszuführen, was bei ausreichender Gewährung rechtli820

Bayerischer VGH, Beschluss vom 25. Oktober 2005, – 9 ZB 04.371 –, Juris. Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 3. Dezember 2002, – 18 A 2507/ 01 –, EzAR 028 Nr. 9. 822 Bayerischer VGH, Beschluss vom 04. März 2002, – 5 ZB 01.1444 –, Juris. 823 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 3. Juli 2006, – 5 LA 347/04 –, NJW 2006, 3018 – 3019, das aber den schriftsätzlichen Beweisantrag doch noch in der Gerichtsakte gefunden hat, dies aber mit dem Hinweis von der Würdigung ausschließt: „Der deshalb bestehende Darlegungsmangel wird nicht dadurch geheilt, dass der Senat – mit überobligatorischem Aufwand – den als übergangen gerügten Vortrag doch noch aufgefunden hat.“ Es stellt sich die Frage, warum der Senat diesen Vortrag dann überhaupt noch gesucht hat. 821

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

chen Gehörs noch vorgetragen worden wäre und inwieweit der weitere Vortrag zu einer Klärung des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen wäre 825, mithin gleichsam verlangt wird, dass die Kausalität der unterlassenen Beweiserhebung für das Urteilsergebnis substantiiert dargelegt wird, werden hier die Anforderungen an eine hinreichende Darlegung im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO in Verkennung der beschriebenen Ausstrahlungswirkung des Art. 19 Abs. 4 GG überzogen. Diese Sichtweise ignoriert zum einen aus rechtspraktischer Sicht, dass ein Zulassungsantragsteller keinerlei realistisch denkbare Möglichkeit hat, eine verlässliche Prognose darüber abzugeben, was konkret und aus welchen – allein in der Sphäre des Zeugen liegenden – Motiven heraus etwa ein Zeuge aussagen wird; sie verlangt mithin spekulative, eher einem improvisierten Theaterstück zugehörende Aussagen. Zum anderen enthält regelmäßig allein schon das Begehren, einen von der Vorinstanz nicht erhobenen Beweis in einem künftigen Berufungsverfahren zu erheben, selbstverständlich die Erwartung, dass die Durchführung der Beweisaufnahme ein dem Zulassungsantragsteller günstiges Beweisergebnis ergeben werde 826. Es ist daher nicht zu fordern, dass der Berufungszulassungsantragssteller durch eine Darlegung des voraussichtlichen Ergebnisses der Beweisaufnahme auch die Kausalität des von ihm gesehenen Verfahrensmangels im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO für das Entscheidungsergebnis darlegt. Ob das angefochtene Urteil vielmehr tatsächlich auf dem geltend gemachten Verfahrensfehler beruht, ist erst in dem eigentlichen Berufungsverfahren zu prüfen, in dem gemäß § 128 VwGO auch die erforderlichen Beweise zu erheben sind; in dem Berufungszulassungsverfahren genügt demgegenüber das Beruhenkönnen der Entscheidung auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel, also die bloße Möglichkeit der Kausalität. Demgegenüber muss in dem Berufungszulassungsverfahren entweder dargelegt werden, dass bereits in dem Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsauf824 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 26. August 2002, – 12 LA 522/02 –, Juris; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Juli 2008, – 5 LA 174/05 –, Juris; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 16. April 1997, – 8 B 679/97 –, Juris; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 3. Dezember 2002, – 18 A 2507/01 –, EzAR 028 Nr. 9; Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 56. 825 So etwa Bayerischer VGH, Beschluss vom 30. Januar 2003, – 19 ZB 02.2566 –, Juris, für den Fall, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs bei bestehender Möglichkeit eines Antrages auf mündliche Verhandlung gegen einen erlassenen Gerichtsbescheid im Sinne des § 84 VwGO nicht genutzt worden sei. 826 BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2005, – 1 BvR 2615/04 –, NVwZ 2005, 1176.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

205

klärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist, oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen 827. Hinzuweisen ist noch darauf, dass in dem der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vorausgehenden schriftlichen Verfahren schriftsätzlich gegebene Beweisangebote bloße Beweisanregungen, aber keine Beweisanträge sind. Derartige, lediglich schriftsätzlich angekündigte Beweisanträge genügen den Anforderungen an einen Beweisantrag nicht 828. In verwaltungsprozessualer Hinsicht sind Beweisanträge, die dem Berufungszulassungsantragssteller die Geltendmachung eines Verfahrensmangels unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes gegen den Amtsermittlungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 VwGO erhalten, nur in der mündlichen Verhandlung gemäß § 86 Abs. 2 VwGO gestellte Beweisanträge. (2) Verstoß gegen Denkgesetze In Abgrenzung zu den wie ausgeführt dem materiellen Recht zuzuordnenden und damit dem Anwendungsbereich des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO entzogenen Fragen der Sachverhalts- und Beweiswürdigung stellt ein Verstoß gegen die Denkgesetze eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung aus § 108 Abs. 1 VwGO, wonach das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheidet, dar. Ein solcher Verstoß setzt voraus, dass das Gericht einen aus denkgesetzlichen Gründen schlechthin unmöglichen Schluss gezogen hat, indem es Voraussetzungen und Folgerung in einer Weise verknüpft hat, dass die Folgerung unter keinen Umständen richtig sein kann 829. (3) Versagung rechtlichen Gehörs durch Nichtbescheiden wesentlichen Vorbringens Häufig wird das Vorliegen eines Verfahrensmangels im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO mit der Versagung des rechtlichen Gehörs unter dem Gesichtspunkt begründet, dass aus Sicht des Rechtsmittelführers die Urteilsgründe den Anfor827

3328.

BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997, – BVerwG 7 B 261.97 –, NJW 1997,

828 BVerwG, Beschluss vom 20. September 2007, – BVerwG 4 B 38.07 –, Juris; BVerwG, Beschluss vom 6. März 1995, – BVerwG 6 B 81.94 –, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265. 829 BVerwG, Beschluss vom 19. Oktober 1999, – BVerwG 9 B 407.99 –, Buchholz 310 § 108 Abs 1 VwGO Nr. 11; BVerwG, Urteil vom 6. Februar 1975, – BVerwG 2 C 68.73–, BVerwGE 47–, 330 [361]; BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 1987, – BVerwG 9 C 147.86 –, Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 37; Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 65.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

derungen des § 108 Abs. 1 VwGO nicht genügten, da das Verwaltungsgericht entscheidungserhebliches wesentliches Vorbringen nicht zu seiner Kenntnis genommen habe, was einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG begründe. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt, sondern auch zu der Rechtslage zu äußern 830. In tatsächlicher Hinsicht folgt aus § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, wonach das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheidet, dass diese Pflicht auch dann verletzt ist, wenn das Gericht seiner Entscheidung den ermittelten Sachverhalt unrichtig oder unvollständig zugrunde legt 831. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG schützt die Prozessbeteiligten insbesondere vor so genannten Überraschungsentscheidungen: Es verstößt gegen Art 103 Abs. 1 GG, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte 832. Liegt indes keine Überraschungsentscheidung in diesem Sinne vor, so ist in dem Rahmen der Darlegung eines Verfahrensmangels im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO unter dem Gesichtspunkt der Versagung rechtlichen Gehörs zu berücksichtigen, dass schon einfaches Verfahrensrecht – die §§ 108 Abs. 1 Satz 2, 117 Abs. 2 Nr. 5 VwGO – nicht verlangt, dass sich die Entscheidungsgründe eines verwaltungsgerichtlichen Urteils mit jeder Einzelheit des Vorbringens befassen; es genügt die Angabe der Gründe, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind 833. Denn auch unter Berücksichtigung der Pflicht eines Gerichtes, in dem konkreten Fall seiner Rechtsanwendung von einem richtigen und vollständigen Sachverhalt auszugehen, kann sich das Gericht – im Rahmen der ihm durch § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO auferlegten Angabe der für die richterliche Überzeugungsbildung leitend gewesenen Gründe – jedoch andererseits auch auf die für diese Überzeugungsbildung wesentlichen Gründe beschränken. Das Gericht muss sich in den Gründen seiner Entscheidung also insbesondere nicht mit allen Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des festgestellten Sachverhalts auseinandersetzen. Aus diesem Grunde kann aus dem Umstand, dass sich das Gericht mit einer von dem Rechtsmittelführer in seinem Zulassungsantrag angesprochenen Einzelheit des Vorbringens eines Beteiligten 830

BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992, – 1 BvR 986/91 –, BVerfGE 86, 133. BVerwG, Urteil vom 2. Februar 1984, – BVerwG 6 C 134.81 –, BVerwGE 68, 338. 832 BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1991, – 1 BvR 1383/90 –, BVerfGE 84, 188. 833 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Juli 2007, – 2 LA 439/07 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 831

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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oder des festgestellten Sachverhalts in den Gründen seiner Entscheidung nicht ausdrücklich auseinandersetzt, noch nicht darauf geschlossen werden, das Gericht habe die fragliche Einzelheit bei seiner Entscheidung unberücksichtigt gelassen 834. Auch der verfassungsrechtliche Grundsatz rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG gebietet es dem Gericht nicht, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen ausdrücklich zu bescheiden 835. Art. 103 Abs. 1 GG fordert allein, dass das Gericht das Vorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat 836. Art. 103 Abs. 1 GG ist erst dann verletzt, wenn das Gericht gegen diesen Grundsatz erkennbar verstoßen hat; das Bundesverfassungsgericht geht – in dem Sinne einer Regelvermutung – grundsätzlich davon aus, dass ein Gericht dem Verfassungsgebot entsprochen hat 837. Als Indiz für die Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG ist es erst anzusehen, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Parteivortrags zu einer Frage von zentraler Bedeutung nicht eingegangen ist, sofern das Vorbringen von dem Gericht nicht für unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert gehalten wird 838. Was „wesentlich“, „unerheblich“ oder „substantiiert“ ist, muss nicht von dem Standpunkt der vortragenden Partei aus, sondern nach objektiven Kriterien beurteilt werden. (4) Unterbliebene notwendige Beiladung § 65 Abs. 2 VwGO § 65 Abs. 1 VwGO bestimmt, dass das Gericht, solange das Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen oder in höherer Instanz anhängig ist, von Amts wegen oder auf Antrag andere, deren rechtliche Interessen durch die Entscheidung berührt werden, beiladen kann. Absatz 2 des § 65 VwGO enthält die Legaldefinition einer notwendigen Beiladung dahingehend, dass dann, wenn an dem streitigen Rechtsverhältnis Dritte derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann, diese beizuladen sind. 834 BVerwG, Urteil vom 25. März 1987, – BVerwG 6 C 10.84 –, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 183. 835 BVerfG, Beschluss vom 17. November 1992, – 1 BvR 168/89, 1 BvR 1509/89, 1 BvR 638/90, 1 BvR 639/90 –, BVerfGE 87, 363 [392 f]. 836 BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992, – 1 BvR 986/91 –, BVerfGE 86, 133 [145]. 837 BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992, – 1 BvR 986/91 –, BVerfGE 86, 133 [146]; BVerfG, Beschluss vom 17. November 1992, – 1 BvR 168/89, 1 BvR 1509/89, 1 BvR 638/90, 1 BvR 639/90, BVerfGE 87, 363 [392]: „Der Anspruch auf rechtliches Gehör bedeutet allerdings, dass das entscheidende Gericht die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen muss. Es ist jedoch davon auszugehen, dass dies in der Regel geschehen ist.“. 838 BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992, – 1 BvR 986/91 –, BVerfGE 86, 133 [146]; BVerfG, Beschluss vom 16. Juli 1997, – 2 BvR 570/96 –, NVwZ 1998, Beilage Nr. 1, 1.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

§ 65 VwGO regelt insoweit für den Bereich des Verwaltungsprozesses abschließend die Einbeziehung Dritter in ein gerichtliches Verfahren und verdrängt damit das Institut der Streitverkündung nach § 72 ZPO. Insbesondere ist angesichts der Regelung des § 65 VwGO das Institut der Streitverkündung nicht über die Verweisungsnorm des § 173 Satz 1 VwGO in den Verwaltungsprozess einbeziehbar. Denn § 173 VwGO erklärt die Zivilprozessordnung nur insoweit für entsprechend anwendbar, soweit die Verwaltungsgerichtsordnung keine Bestimmung über das Verfahren enthält und wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen 839. Die Einbeziehung Dritter in das verwaltungsgerichtliche Verfahren wird durch das speziell auf den Verwaltungsprozess zugeschnittene Institut der Beiladung abschließend und damit mit einer Sperrwirkung in Bezug auf die Anwendbarkeit der Vorschriften über die Streitverkündung über § 173 VwGO auch in einem Verwaltungsprozess geregelt. „Es ist gerade Ausfluss dieser spezifischen Anpassung, dass bei der Beiladung im Gegensatz zur Streitverkündung die Dispositionsbefugnis der Parteien zurückgedrängt ist und die Beiladung nicht in das Belieben der Prozessparteien, sondern in die Entscheidung des Gerichts gestellt ist“ 840: Denn in einem Verwaltungsprozess sind Streitgegenstand nicht allein und ausschließlich die das Verhältnis zweier Privatpersonen betreffenden öffentlichen Rechte und Pflichten, sondern regelmäßig auch die öffentlichen Interessen an einer rechtmäßigen und effektiv handelnden Verwaltung 841. Folge jedweder Beiladung ist die Stellung als Beteiligter im Sinne von § 63 VwGO. Nach dieser Vorschrift sind Beteiligte außer dem Kläger und dem Beklagten der Beigeladene sowie der Oberbundesanwalt und der Vertreter des öffentlichen Interesses, falls diese von ihrer Beteiligungsbefugnis Gebrauch machen. Aus § 63 VwGO folgt damit aber auch, dass nicht Beteiligter ist, wer nach § 65 VwGO beigeladen werden kann oder beigeladen werden muss, aber nicht beigeladen worden ist 842. Nach § 121 VwGO binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, die Beteiligten; es tritt materielle Rechtskraft in dem Sinne ein, dass unabhängig von der Frage, ob die Entscheidung des Gerichts „richtig“ ist, die Beteiligten (und ihre Rechtsnachfolger) an die formell rechtskräftige Entscheidung gebunden sind 843. 839 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 27. Mai 2009, – 15 E 635/09 –, DVBl. 2009, 996. 840 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 27. Mai 2009, – 15 E 635/09 –, DVBl. 2009, 996. 841 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 27. Mai 2009, – 15 E 635/09 –, DVBl. 2009, 996. 842 BVerwG, Beschluss vom 23. Februar 1977, – BVerwG 7 CB 74.75 –, Buchholz 310 § 65 VwGO Nr. 45; BVerwG, Beschluss vom 29. Oktober 1980, – BVerwG 1 CB 138.80 –, Buchholz 130 § 8 RuStAG Nr. 10; BVerwG, Beschluss vom 04. November 1987, – BVerwG 1 B 112.87 –, Buchholz 130 § 9 RuStAG Nr. 8.

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

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Nach der Rechtsprechung stellt eine in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht unterbliebene Beiladung nur dann einen gegebenenfalls beachtlichen Verfahrensverstoß, auf dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts beruhen kann, dar, wenn sie im Sinne von § 65 Abs. 2 VwGO notwendig war 844. Zur Begründung wird insoweit ausgeführt 845, dass die einfache Beiladung nach § 65 Abs. 1 VwGO in dem Ermessen des Gerichts stehe, sodass ihr Unterlassen daher kein Verfahrensmangel sein könne 846; da sich die Rechtskraft nach § 121 VwGO nur auf die Beteiligten erstrecke, erleide der an dem Rechtsstreit interessierte Dritte, wenn seine Beiladung unterbleibe, keinen Nachteil 847. Demgegenüber könne bei dem Vorliegen der Voraussetzungen einer notwendigen Beiladung nach § 65 Abs. 2 VwGO ohne den beizuladenden Dritten nicht wirksam über den Streitgegenstand entschieden werden, sodass das Unterbleiben der notwendigen Beiladung daher einen wesentlichen Verfahrensmangel bedeute 848. Denn die Folge einer unterbliebenen notwendigen Beiladung sei, dass Rechtskraft weder in dem Verhältnis der Parteien zueinander noch in dem Verhältnis zu den notwendig Beizuladenden im Sinne des § 65 Abs. 2 VwGO, tatsächlich aber nicht beigeladenen Dritten eintreten könne 849. Dem ist zuzustimmen. Allein das Unterbleiben einer notwendigen Beiladung im Sinne von § 65 Abs. 2 VwGO stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, auf dem eine Entscheidung beruhen kann, da es gerade Wesen der notwendigen Beiladung ist, dass die von dem Kläger begehrte Sachentscheidung nur dann wirksam getroffen werden „kann“, wenn gleichzeitig unmittelbar und zwangsläufig Rechte des Beizuladenden betroffen, das heißt gestaltet, bestätigt oder festgestellt, verändert oder aufgehoben werden, sodass aus Rechtsgründen die Entscheidung nur einheitlich ergehen kann 850. Diese Zwangsläufigkeit der Rechtsbeeinträchtigung des Dritten besteht aber gerade bei der „einfachen“ Beiladung im Sinne des § 65 Abs. 1 VwGO nicht; vielmehr wäre in den Fällen einfacher Beiladung auch eine materiell rechtskräftige Entscheidung zwischen den Hauptbeteiligten denkbar und möglich, sodass das Unterbleiben der einfachen Beiladung nicht verfahrensfehlerhaft sein kann. 843

Kopp / Schenke, VwGO, § 121 Rn. 2. Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 25. Juni 1999, – 4 Bf 204/ 99 –, Juris. 845 BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 1995, – BVerwG 1 B 14.95 –, Buchholz 310 § 65 VwGO Nr. 117. 846 Bayerischer VGH, Beschluss vom 06. November 2003, – 25 ZB 01.805 –, Juris. 847 BVerwG, Urteil vom 22. Januar 1971, – BVerwG VII C 42.70 –, BVerwGE 37, 116 – 126. 848 BVerwG, Urteil vom 22. Januar 1971, – BVerwG VII C 42.70 –, BVerwGE 37, 116 – 126. 849 BVerwG, Urteil vom 27. März 1963, – BVerwG V C 96.62 –, BVerwGE 16, 23 –26. 850 Kopp / Schenke, VwGO, § 65 Rn. 14. 844

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

(5) Übergehen einer Vorlageprüfung oder Verwerfung einer Norm des Unionsrechts durch das Verwaltungsgericht als Verfahrensmangel Die Nichtaussetzung und die Nichtvorlage einer vorabentscheidungswürdigen Rechtssache durch das Verwaltungsgericht kommt als Verfahrensfehler sowohl unter dem Gesichtspunkt, die Aussetzung und Vorlage nach Art. 267 Abs. 2 AEUV überhaupt übersehen und damit den Anspruch auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG tangiert zu haben, als auch unter dem Gesichtspunkt, eine diesbezügliche Ermessensentscheidung nicht in der Entscheidung begründet zu haben, in Betracht 851. Daneben ist anzudenken, ob die Verwerfung einer Norm des Unionsrechts ohne die vorherige Einholung einer Vorabentscheidung durch den Gerichtshof als Verfahrensfehler anzusehen sein könnte. Auszugehen ist zunächst davon, dass Verwaltungsgerichte, deren Entscheidungen mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung angefochten werden können, nicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs verpflichtet sind 852. Denkbar ist daher allein, dass der Berufungszulassungsantragssteller einen Verfahrensmangel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO mit der Begründung geltend macht, das Verwaltungsgericht habe seine Anregung auf Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs unbeschieden gelassen oder ermessensfehlerhaft davon abgesehen. In der Literatur wird teilweise die nicht sachgemäße Ausübung des Vorlageermessens als verfahrensfehlerhaft in dem Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO angesehen 853. Zu dem Aspekt eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 267 Abs. 3 AEUV wird demgegenüber unter dem Gesichtspunkt einer Verfahrensrüge im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO vertreten, dass zwar der Gerichtshof, soweit er über eine in dem Verfahren vor einem Gericht eines Mitgliedsstaats gestellte unionsrechtliche Frage zu entscheiden habe, gesetzlicher Richter in dem Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sei 854, dass aber eine Verpflichtung des einzelstaatlichen Gerichts, eine derartige Frage dem Gerichtshof vorzulegen, nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nur dann bestehe, wenn die Entscheidung des einzelstaatlichen Gerichts selbst nicht mehr mit einem Rechtsmittel des innerstaatlichen Rechts angefochten werden könne, und dass ein Rechtsmittel in 851

So im Ergebnis Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 147. Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 19. Februar 2002, – 18 A 3673/ 01 –, NVwZ-RR 2003, 616 – 617; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 25. März 2008, – 18 A 783/07 –, Juris; dazu noch ausführlich unter V. 1. b) und VI. 1. a). 853 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 147. 854 BVerfG, Beschluss vom 9. November 1987, – 2 BvR 808/82 –, NJW 1988, 1456 f.; hierzu noch ausführlich unter VIII. 852

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

211

diesem Sinne auch die Beschwerde gegen die Nichtzulassung des Rechtsmittels – hier vergleichbar der Antrag auf Zulassung der Berufung – darstelle 855. Schon aus diesem Grunde könne die Verfahrensrüge nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO nicht auf das – auch ermessensfehlerhafte – Unterbleiben einer Aussetzung und Vorlage gestützt werden 856. Diese Ansicht vermag zu überzeugen. Nimmt ein allein nach Art. 267 Abs. 2 AEUV vorlageberechtigtes, aber nicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV vorlageverpflichtetes Gericht die Möglichkeit einer Aussetzung und Vorlage der Rechtssache zum Gerichtshof zur Einholung einer Vorabentscheidung überhaupt nicht in den Blick, oder übt es sein ihm durch Art. 267 Abs. 2 AEUV eingeräumtes Ermessen 857 nicht pflichtgemäß aus, so läge ein Verstoß gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 858 zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann vor, wenn die Entscheidung willkürlich gewesen wäre 859: Denn nicht jeder Verstoß gegen die aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG folgenden Verpflichtungen stellt eine Entziehung des gesetzlichen Richters dar, nicht jede fehlerhafte Anwendung oder Nichtbeachtung einer einfachgesetzlichen Verfahrensvorschrift ist zugleich eine Verfassungsverletzung; andernfalls würde die Anwendung einfachen Rechts auf die Ebene des Verfassungsrechts gehoben werden. Die Grenze zur Verfassungswidrigkeit ist dementsprechend nach dem Bundesverfassungsgericht erst dann überschritten, wenn die – fehlerhafte – Auslegung und Anwendung einfachen Rechts willkürlich ist. Das bloße Übersehen einer Vorlageberechtigung im Sinne von Art. 267 Abs. 2 AEUV ver855 Zu einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision gemäß § 133 Abs. 1 VwGO BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 1985, – BVerwG 3 B 12.84 –, NJW 1986, 1448 – 1449; BVerwG, Beschluss vom 20. März 1986, – BVerwG 3 B 3.86 –, Buchholz 451.90 EWG-Recht Nr. 59; BVerwG, Beschluss vom 22. Juli 1986, – 3 B 104.85 –, BayVBl. 1987, 283 – 284; BVerwG, Beschluss vom 22. Juli 1986, – BVerwG 3 B 104.85 –, Buchholz 451.90 EWG-Recht Nr. 64; BVerwG, Beschluss vom 15. Mai 1990 –, BVerwG 1 B 64.90 –, Buchholz 402.26 § 12 AufenthG / EWG Nr. 7. 856 BVerwG, Beschluss vom 14. Dezember 1992, – BVerwG 5 B 72.92 –, NVwZ 1993, 770. 857 BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 1985, – BVerwG 3 B 12.84 –, Buchholz 451.90 EWG-Recht Nr. 58; BVerwG, Beschluss vom 20. März 1986, – BVerwG 3 B 3.86 –, Buchholz 451.90 EWG-Recht Nr. 59; BVerwG, Beschluss vom 15. Mai 1990, – BVerwG 1 B 64.90 –, Buchholz 402.26 § 12 AufenthG / EWG Nr. 7, Seite 4. 858 BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 1990, – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/87 –, BVerfGE 82, 159; BVerfG, Beschluss vom 03. Oktober 1961, – 2 BvR 4/ 60 –, BVerfGE 13, 132 [143]; BVerfG, Beschluss vom 29. Juni 1976, – 2 BvR 948/ 75 –, BVerfGE 42, 237 [241]; BVerfG, Beschluss vom 15. Mai 1984, – 1 BvR 967/ 83 –, BVerfGE 67, 90 [95]; BVerfG, Beschluss vom 16. Juni 1987, – 1 BvR 1113/86 –, BVerfGE 76, 93 [96]; BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1990, – 1 BvR 984/87, 1 BvR 985/87 –, BVerfGE 82, 286 [299]; BVerfG, Beschluss vom 22. Oktober 1986, – 2 BvR 197/83 – [Solange II], BVerfGE 73, 339 [366 f.]; demgegenüber noch offen gelassen etwa in BVerfG, Beschluss vom 13. Oktober 1970, – 2 BvR 618/68 –, BVerfGE 29, 198 –213. 859 Hierzu unten VIII.

212

III. Das Berufungszulassungsverfahren

mag daher einen Verfahrensfehler im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO, auf dem die Entscheidung beruhen kann, nicht zu begründen. Nach den soeben 860 erörterten Anforderungen an die Annahme eines Verfahrensverstoßes im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO unter dem Gesichtspunkt der Versagung rechtlichen Gehörs und hier unter dem Aspekt der Nichtbescheidung des einzelnen Vorbringens eines Beteiligten in der gerichtlichen Entscheidung vermag auch das Fehlen einer Begründung der Nichtvorlage an den Gerichtshof in dem angefochtenen Urteil einen Verfahrensverstoß im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO, auf dem die Entscheidung beruhen kann, nicht zu begründen. Denn auch insoweit gilt die Vermutung, dass das Gericht das Vorbringen zu seiner Kenntnis genommen hat, und auch insoweit fehlt es an einer Verpflichtung, sich mit jeder Einzelheit des Vorbringens in den Gründen auseinander zu setzen. Letztlich ist fraglich, ob die Verwerfung einer Norm des Unionsrechts durch das Verwaltungsgericht ohne die vorherige Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs verfahrensfehlerhaft in dem Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO sein kann. Nach ganz herrschender Meinung 861 ist auch ein Instanzgericht zu einer Vorlage verpflichtet, wenn es Unionsrecht verwerfen will. Hierzu wird vertreten, dass bei einer Verwerfung ohne eine solche vorherige Vorlage ein Verfahrensfehler in dem Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO vorliege 862. Ein derartiger Verstoß gegen das insoweit bestehende Verwerfungsmonopol des Gerichtshofs 863 verletzt die prozessrechtliche Vorschrift des Art. 267 AEUV 864 und das durch sie und die Nichtigkeitsklage geschaffene Rechtsschutzsystem des Vertrages. Ein solcher Ausnahmefall kann daher einen Verfahrensmangel begründen und die Zulassung der Berufung rechtfertigen 865.

860

III. 2. e) cc) (3). EuGH, Urteil vom 22. Oktober 1987, Rs. C-314/85 [Foto-Frost gegen Hauptzollamt Lübeck-Ost], Slg. 1987, 4199; Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 125; Rabe, Vorlagepflicht und gesetzlicher Richter, Seite 202; Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 80; Glaesner, Vorlagepflicht, Seite 145 und die Nachweise unter V. 1. b) cc) (1). 862 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 147; anders demgegenüber Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 196 5. Spiegelstrich, der generell Verstöße des Verwaltungsgerichts gegen Art. 267 AEUV nicht als einen Verfahrensfehler begründend ansieht. 863 Pache / Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis, Seite 18; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 19. 864 Hierzu noch ausführlich unter VI. 1. b). 865 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 147. 861

2. Die einzelnen Berufungszulassungsgründe

213

(6) Abweisung der Klage durch Prozessurteil statt durch Sachurteil In einer Entscheidung durch Prozessurteil statt durch Sachurteil liegt ein Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung durch Prozessurteil auf einer fehlerhaften Anwendung der prozessualen Vorschriften beruht 866. Häufiger Fall ist der einer Verneinung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses. Erklärt etwa das Verwaltungsgericht eine Fortsetzungsfeststellungsklage wegen Fehlens eines berechtigten Interesses im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts für unzulässig, so liegt ein Verfahrensmangel vor, wenn in der Sache hätte entschieden werden müssen 867. Für die Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO genügt jedes nach vernünftigen Erwägungen schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Art 868. Verkennt das Verwaltungsgericht diese Vorgaben, und entscheidet es durch Prozessurteil, so liegt ein Verfahrensfehler im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO vor. dd) Besonderheiten der Darlegung eines auf Unionsrecht fußenden Verfahrensmangels Gerade auf dem Unionsrecht fußende Verfahrensmängel sind – da wie gezeigt die fehlende Prüfung oder Begründung eines Vorgehens nach Art. 267 Abs. 2 AEUV keinen Verfahrensmangel darstellt – nicht ersichtlich. Da wegen der Existenz des Berufungszulassungsverfahrens die Verwaltungsgerichte nicht letztinstanzliche Gerichte in dem Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV sind 869 besteht bei ihnen regelmäßig keine Vorlageverpflichtung, sodass auch nicht angedacht werden kann, dass eine Nichtvorlage Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzte 870. Sonderfall ist insoweit der der Verwerfung einer Norm des Unionsrechts durch das Verwaltungsgericht ohne vorherige Anrufung des Gerichtshofs 871.

866 BVerwG, Beschluss vom 4. Juli 1968, – BVerwG 8 B 110.67 –, BVerwGE 30, 111 [113]; BVerwG, Beschluss vom 21. Oktober 2004, – BVerwG 3 B 76.04 –, Juris. 867 BVerwG, Beschluss vom 17. Dezember 2001, – BVerwG 6 B 61.01 –, NVwZ-RR 2002, 323. 868 BVerwG, Urteil vom 21. November 1980, – BVerwG 7 C 18.79 –, BVerwGE 61, 164 [165 f.]. 869 Dazu ausführlich VI. 1. a) bb). 870 Gellermann, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 36 Rn. 57. 871 Hierzu ausführlich unter V. 1. b) cc) (1).

214

III. Das Berufungszulassungsverfahren

f) Besonderheiten bei Mehrfach- und Alternativbegründungen in dem angefochtenen Urteil Sogenannte Mehrfachbegründungen 872 sind solche, bei denen jede einzelne für sich ausreichend gewesen wäre, die Entscheidung zu tragen 873. Beruht das angefochtene Urteil derartig auf mehreren selbstständig tragenden Gründen – etwa der Verneinung mehrerer Tatbestandsmerkmale einer anspruchsbegründenden Norm oder der Verneinung von Klagebefugnis und Rechtsschutzinteresse bei einem Prozessurteil –, also auf kumulativen Gründen 874, so darf die Berufung nur dann zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder der Begründungen ein Zulassungsgrund vorliegt 875 und dargelegt worden ist 876. Hiervon zu unterscheiden ist der Fall, dass das verwaltungsgerichtliche Urteil auf einer so genannten „Alternativenbegründung“ beruht 877: Hat das Verwaltungsgericht ausdrücklich offen gelassen, welcher der von ihm zu der Begründung seiner Entscheidung herangezogene Grund tatsächlich das Urteil trägt, weil „so oder so“ die Klage keinen Erfolg habe, so genügt es, wenn der Zulassungsantrag darlegt, dass einer dieser Urteilsgründe von einem Berufungszulassungsgrund betroffen ist, also etwa ernstlichen Zweifeln an seiner Richtigkeit unterliegt oder auf der Verletzung von Verfahrensrecht beruht 878. Denn in einem derartigen Fall ist tragender Urteilsgrund der gegebenen alternativen Begründung, dass offen bleiben kann, wie sich die Rechtslage im konkreten Einzelfall darstellt, weil sich die getroffene Entscheidung unabhängig von der einschlägigen Rechtslage auf eine der denkbaren Varianten stützen kann 879. Wird daher in dem Zulassungsantrag dargelegt, dass gerade hinsichtlich dieser Grundannahme der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ernstliche Zweifel geltend gemacht 872

Bayerischer VGH, Beschluss vom 30. Oktober 2003, – 1 ZB 01.1961 –, NVwZ-RR 2004, 391. 873 Bogumil, Revisionszulassungsverfahren, Seite 454. 874 BVerwG, Beschluss vom 26. Mai 1993, – BVerwG 4 NB 3.93 –, NVwZ 1994, 269. 875 BVerwG, Beschluss vom 20. Februar 1998, – BVerwG 11 B 37.97 –, NVwZ 1998, 850; Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 38; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 25. 876 BVerwG, Beschluss vom 26. Mai 1993, – BVerwG 4 NB 3.93 –, Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 80; Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 5. 877 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 38. 878 Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 17. August 2005, – 3 L 27/04 –, Juris; Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 5. 879 BVerwG, Beschluss vom 26. Mai 1993, – BVerwG 4 NB 3.93 –, NVwZ 1994, 269; Bayerischer VGH, Beschluss vom 30. Oktober 2003, – 1 ZB 01.1961 –, NVwZ-RR 2004, 391; Weyreuther, Revisionszulassung, Rn. 130; Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 5; Happ in: Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 44 zur Divergenzberufung; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 25; Seibert, Erfahrungen mit der 6. VwGO-Novelle, Seite 119.

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

215

werden können, so ist die Zulassung auszusprechen; denn es kann nicht Aufgabe des Zulassungsantragstellers oder des Oberverwaltungsgerichts sein, die von dem Verwaltungsgericht offen gelassenen Rechtsfragen in dem Zulassungsverfahren aufzubereiten und – womöglich auf unsicherer Tatsachenbasis – zu entscheiden. Bei einer alternativen Begründung reicht es daher aus, wenn einer der beiden Begründungsteile in zulässiger Weise mit Darlegungen zu einem Berufungszulassungsgrund angegriffen wird 880. Denn wenn nur einer der beiden alternativen Begründungsteile in Zweifel gerät ist schon nicht mehr gesichert, dass der andere Begründungsteil die Entscheidung zu tragen geeignet ist 881.

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die geltend gemachten und Umdeutung der Zulassungsgründe a) Grundsatz Nach bislang herrschender Meinung ist das Oberverwaltungsgericht in der Regel an die geltend gemachten Zulassungsgründe und damit an die von dem Zulassungsantragsteller fristgerecht vorgelegte Antragsbegründung gebunden 882. Hieraus wird gefolgert, dass dann, wenn ein oder mehrere Berufungszulassungsgründe benannt werden, sich der Prüfungsumfang des Gerichts grundsätzlich auf gerade die angeführten Gründe beschränke 883. Der Zulassungsantrag begrenze das Prüfungsprogramm des Oberverwaltungsgerichts in einem Berufungszulassungsverfahren selbst dann, wenn ein nicht geltend gemachter Berufungszulassungsgrund offensichtlich vorliege oder die angefochtene Entscheidung ein Grundrecht des Berufungszulassungsantragsstellers verletze 884. Auch sei das Oberverwaltungsgericht an eine ausdrückliche Zuordnung gerügter Verstöße zu einem bestimmten Berufungszulassungsgrund gebunden 885. Die 880

Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 38; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 25. 881 BVerwG, Beschluss vom 26. Mai 1993, – BVerwG 4 NB 3.93 –, NVwZ 1994, 269; Weyreuther, Revisionszulassung, Rn. 130. 882 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124a Rn. 87, sowie die folgenden Nachweise. 883 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 6. Juli 2001, – 9 LA 2095/01 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 884 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 76; Seibert, Zulassung der Berufung, Seite 939, der dies dann aber wenigstens für „Ausnahmefälle“ wieder relativiert. 885 Laudemann, Prozessuale Probleme, Seite 173; Seibert, Zulassung der Berufung, Seite 939.

216

III. Das Berufungszulassungsverfahren

Darlegungspflicht des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO schließe ein großzügiges Umdeuten des Vorbringens des Berufungszulassungsantragsstellers ebenso aus wie eine Berufungszulassung von Amts wegen 886; dies gelte selbst dann, wenn das Vorliegen eines Berufungszulassungsgrundes von dem Oberverwaltungsgericht ohne besondere Mühe erkannt werden könne 887. Insoweit wird vertreten, dass wegen der gesetzlichen Darlegungserfordernisse nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO das Rechtsmittelgericht einen Berufungszulassungsantrag nicht umdeuten 888 oder austauschen 889 könne. Das Oberverwaltungsgericht kann daher nach diesem tradierten Gesetzesverständnis zum Beispiel nicht die Berufung wegen eines Verfahrensfehlers im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO zulassen, auch wenn dieser für das Oberverwaltungsgericht leicht erkennbar vorliegt, wenn der Antrag auf Zulassung der Berufung allein Ausführungen zum – tatsächlich nicht vorliegenden – Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO enthält. Bezüglich den Berufungszulassungsgründen der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO einerseits und der der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO und der Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO andererseits wird ferner angeführt, dass die beiden Berufungszulassungsgründe der erstgenannten Gruppe den Rechtsschutz des bisher Unterlegenen verbessern wollten und mithin aus subjektiven Gründen Gesetz geworden seien; demgegenüber dienten die beiden Berufungszulassungsgründe der zweiten Gruppe allein der Wahrung der Einheitlichkeit und Fortentwicklung des Rechts, mithin eines objektiven Belangs 890. Der Rechtsmittelführer müsse also stets darlegen, ob er die Zulassung der Berufung aus objektiven oder aus subjektiven Gründen begehre; dies schließe einen Übergang von einer Gruppe zu der anderen Gruppe, mithin eine Umdeutung zwischen beiden Gruppen, aus 891.

886

Berkemann, Verwaltungsprozessrecht, Seite 456 f. Seibert, Zulassung der Berufung, Seite 939. 888 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Februar 1998, – 7 S 216/98 –, NVwZ 1998, 645. 889 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 34. 890 Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 673. 891 Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 673. 887

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

217

b) Umdeutung aa) Verfassungsrechtliche Notwendigkeit korrigierender Eingriffe in das Berufungszulassungsrecht Dem tradierten Gesetzesverständnis ist zunächst zu erwidern, dass die beschriebenen verfassungsrechtlichen Implikationen wie gezeigt Korrekturen in Bezug auf die tradierte und primär oder sogar nahezu ausschließlich an dem Entlastungseffekt für das Oberverwaltungsgericht orientierte Sichtweise zwingend erfordern. Die vorstehenden Ausführungen zu den einzelnen Berufungszulassungsgründen im Sinne des § 124 Abs. 2 VwGO haben ferner gezeigt, dass über die Anforderungen an die Tatbestände des § 124 Abs. 2 VwGO als auch über die Anforderungen an die jeweilige Darlegung im Sinne des Abs. 4 Satz 4 des § 124a VwGO umfängliche Meinungsunterschiede und insbesondere auch Auslegungsspielräume bestehen, die eine Prognose über den Ausgang eines Berufungszulassungsverfahrens für den Rechtsschutzsuchenden oftmals ausgeschlossen erscheinen lassen 892. Verstärkt wird dies durch das skizzierte Problem, dass zwischen den einzelnen Berufungszulassungsgründen Überschneidungen bestehen, und dass eine trennscharfe Abgrenzung zwischen ihnen nicht durchgängig möglich ist. Ferner wurde gezeigt, dass angesichts des verfassungsrechtlichen Kontextes des Berufungszulassungsrechts zu Art. 19 Abs. 4 GG, in dem die Beschreitung des Teilrechtsweges des Berufungszulassungsverfahrens steht, Fälle denkbar sind, in denen sich die Ablehnung des Berufungszulassungsantrages als Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG darstellen würde, und dass jedweder Rechtsmittelgrund zumindest auch der Einzelfallgerechtigkeit dienen soll. Insbesondere durch die benannte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu der Reichweite des Art. 19 Abs. 4 GG im Berufungszulassungsrecht haben sich für die Oberverwaltungsgerichte konkrete Handlungs- sowie auch Unterlassungsgebote in Bezug auf die Handhabung des Darlegungserfordernisses des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ergeben. Zudem lässt sich eine absolute Bindung des Oberverwaltungsgerichts allein an den geltend gemachten Berufungszulassungsgrund weder dem Wortlaut des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entnehmen 893, noch lässt sich eine derartige absolute Bindung aus dem mit dem Berufungszulassungsrecht angestrebten Sinn und Zweck einer Entlastung der Berufungsinstanz ableiten 894. Eine Entlastung 892 So auch für das Darlegungsgebot im finanzgerichtlichen Revisionszulassungsverfahren umfassend List, Nichtzulassungsbeschwerde, Seite 573. 893 Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 579.

218

III. Das Berufungszulassungsverfahren

kann vielmehr sogar erst recht dann vorliegen, wenn etwa die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht aus den von dem Berufungszulassungsantragssteller dargelegten, sondern aus für das Oberverwaltungsgericht offen zu Tage tretenden Gründen zugelassen wird 895. Dies spricht dafür, auch von dem Berufungszulassungsantragssteller nicht dargelegte Umstände zu berücksichtigen, wenn diese offensichtlich zu Tage treten 896 oder durch eine sachgerechte Auslegung der Antragsgründe durch das Oberverwaltungsgericht zu ermitteln sind 897. Die Rechtsprechung hat in dem bestehenden System der Berufungszulassung verbleibend zu einer Lösung dieser Konflikte zwischen dem einfachen Prozessrecht und dem Verfassungsrecht überwiegend die Rechtsfigur der Umdeutung herangezogen. Auch in der Literatur wird vertreten, dass ein „Austausch von Zulassungsgründen“ 898 möglich sein müsse 899. bb) Die Umdeutung im Zivilrecht und im Zivilprozessrecht Die Rechtsfigur der Umdeutung stammt aus der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre des Bürgerlichen Gesetzbuches. (1) Zivilrecht Die Umdeutung – auch Konversion genannt – ist für den Bereich der Rechtsgeschäfte positiv in § 140 BGB geregelt 900. Nach § 140 BGB gilt dann, wenn ein nichtiges Rechtsgeschäft den Erfordernissen eines anderen Rechtsgeschäfts entspricht, das letztere, wenn anzunehmen ist, dass dessen Geltung bei Kenntnis der Nichtigkeit gewollt sein würde. Sinn und Zweck der Vorschrift besteht darin, 894

Quaas, 6. VwGO-Änderungsgesetz, Seite 703. Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 579. 896 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124a VwGO Rn. 89. 897 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124a VwGO Rn. 127. 898 Rudisile, Berufungs(zulassungs)recht der VwGO, Seite 440; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124a VwGO Rn. 129. 899 Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 579; Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 80. 900 Weitere spezialgesetzlich geregelte Fälle einer Umdeutung sind etwa die mietrechtliche Vorschrift des § 550 Satz 1 BGB, wonach dann, wenn der Mietvertrag für längere Zeit als ein Jahr nicht in schriftlicher Form geschlossen ist, er für unbestimmte Zeit gilt, sowie die erbrechtliche Vorschrift des § 2101 Abs. 1 Satz 1 BGB, wonach dann, wenn eine zur Zeit des Erbfalls noch nicht gezeugte Person als Erbe eingesetzt ist, im Zweifel anzunehmen ist, dass sie als Nacherbe eingesetzt ist. 895

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

219

den von den Parteien erstrebten wirtschaftlichen Erfolg auch dann zu verwirklichen, wenn das rechtliche Mittel, das sie dafür gewählt haben, unzulässig ist, die Rechtsordnung aber einen anderen, rechtlich gangbaren Weg zur Verfügung stellt, der zu einem annähernd gleichen wirtschaftlichen Ergebnis führt 901. Die Umdeutung nach § 140 BGB ermöglicht es daher, die wirklichen oder anzunehmenden Zielsetzungen der an einem gescheiterten Rechtsgeschäft Beteiligten doch noch zu berücksichtigen 902. Die Vorschrift steht damit in einem inneren Zusammenhang zu den die Auslegung von Willenserklärungen betreffenden Vorschriften der §§ 133, 139 und 157 BGB 903. Abzugrenzen ist die Umdeutung nach § 140 BGB insbesondere zu der Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen. Die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen hat die Ermittlung des Sinns einer Vertragserklärung nach dem Maßstab des objektivierten Empfängerhorizontes zu ihrem Gegenstand, da Verträge gemäß §§ 133, 157 BGB nach dem objektivierten Empfängerhorizont auszulegen sind 904. Während die Auslegung das Rechtsgeschäft selbst betrifft, setzt eine Umdeutung bereits als Ergebnis eine Auslegung dahingehend, dass die Beteiligten bei Kenntnis der Nichtigkeit ein anderes Rechtsgeschäft gewollt hätten, voraus 905. Fähig, gemäß § 140 BGB umgedeutet zu werden, sind alle nichtigen Rechtsgeschäfte. Hierzu gehören auch einseitige rechtsgestaltende Willenserklärungen wie etwa die von einem Vermieter in dem Mietvertrag einseitig vorbehaltene Neufestsetzung der Miete 906 oder die außerordentliche Kündigung eines Mietvertrages 907, Verfügungen wie etwa die Umdeutung einer unwirksamen Abtretung der Forderung einer Publikumsgesellschaft bürgerlichen Rechts an einen Gesellschafter in eine Einziehungsermächtigung 908, gegenseitige Verträge und Verfügungen von Todes wegen wie etwa ein Erbvertrag 909.

901

BGH, Urteil vom 21. März 1977, – II ZR 96/75 –, BGHZ 68, 204 [206]. Busche, in: Münchener Kommentar, § 140 Rn. 2. 903 Busche, in: Münchener Kommentar, § 140 Rn. 2. 904 BGH, Urteil vom 19. Februar 2004, – III ZR 226/03 –, NJW 2004, 1652 -1653; OLG Frankfurt, Urteil vom 25. Februar 2009, – 23 U 18/07 –, OLGR Frankfurt 2009, 444 – 447. 905 Busche, in: Münchener Kommentar, § 140 Rn. 3. 906 BGH, Urteil vom 20. Juli 2005, – VIII ZR 199/04 –, NJW-RR 2005, 1464 -1466 [1466]. 907 BGH, Urteil vom 24. September 1980, – VIII ZR 299/79 –, NJW 1981, 43 –45 [44]. 908 BGH, Urteil vom 16. März 1987, – II ZR 179/86 –, BB 1987, 1623 –1624. 909 BGH, Urteil vom 30. November 1977, – IV ZR 165/76 –, FamRZ 1978, 182 –184. 902

220

III. Das Berufungszulassungsverfahren

(2) Prozessrecht § 140 BGB gilt nach seinem Wortlaut und nach seiner systematischen Stellung im 1. Buch, dem Allgemeinen Teil des BGB, und hier im 3. Abschnitt über Rechtsgeschäfte für Prozesshandlungen nicht unmittelbar. Nach dem Bundesgerichtshof 910 kann jedoch auch im Verfahrensrecht der Gedanke der Umdeutung im Sinne des § 140 BGB herangezogen werden. Denn auch bei Prozesserklärungen komme es nicht entscheidend auf den tatsächlichen, gegebenenfalls im Wege der Auslegung zu ermittelnden Parteiwillen an, sondern es genüge, wenn diese von dem mutmaßlichen Parteiwillen gedeckt werde. Die Auslegung einer Prozesserklärung dürfe nur nicht ergeben, dass die Partei ausschließlich eine bestimmte Prozesserklärung abgeben wolle und sie keinesfalls – etwa als ein Weniger oder hilfsweise – auch eine andere Prozesserklärung gewollt habe 911. In aller Regel wolle aber eine Partei eine unzulässige Prozesshandlung als zulässige Prozesshandlung retten 912. In der zivilrechtlichen Rechtsprechung 913 und Literatur 914 ist daher anerkannt, dass in entsprechender Anwendung des § 140 BGB auch eine Prozesshandlung in eine andere Prozesshandlung umgedeutet werden kann, wenn die Voraussetzungen einer anderen, dem gleichen Zweck dienenden Prozesshandlung erfüllt sind. Jedoch darf andererseits nicht jede Prozesshandlung in eine einem anderen prozessualen Zweck dienende und der Partei günstige Prozesshandlung umgedeutet werden 915. Eine Umdeutung ist ausgeschlossen, wenn eine Partei ihren wirklichen Willen eindeutig erklärt hat. Denn der Richter ist nicht befugt, entgegen dem erklärten Willen einer Partei einer Prozesserklärung gleichsam rechtsgestaltend den Inhalt zu geben, den die Partei zur Erreichung des angestrebten Erfolgs gewollt hätte, wenn sie die zutreffende Prozesserklärung erkannt hätte 916. „Gegen den erklärten Willen der Parteien kann kein Rechtsgeschäft umgedeutet werden“ 917, und nichts anderes kann für Prozesshandlungen gelten, und zwar auch dann nicht, wenn der Wille der Partei über den erklärten, auf einen 910

BGH, Urteil vom 06. Mai 1987, – IVb ZR 51/86 –, BGHZ 100, 383 – 390 [387 f.]. Zu einer Auslegung der Berufungserklärung als – selbständiger – Anschlussberufung BGH, Urteil vom 06. Mai 1987, – IVb ZR 51/86 –, BGHZ 100, 383 –390 [387 f.]. 912 BGH, Urteil vom 01. Oktober 1957, – VI ZR 214/56 –, ZZP 71, 84 –86 zu einer Umdeutung einer unzulässigen Berufung in eine noch zulässige Anschlussberufung. 913 BGH, Beschluss vom 20. März 2002, – XII ZB 27/02 –, NJW 2002, 1958; OLG Köln, Beschluss vom 10. Juni 2009, – 2 U 17/09 –, Juris. 914 Busche, in: Münchener Kommentar, § 140 Rn. 10. 915 Busche, in: Münchener Kommentar, § 140 Rn. 10. 916 BGH, Urteil vom 11. Dezember 1970, – V ZR 42/68 –, NJW 1971, 420 zu einer Umdeutung eines unwirksamen Kaufs in eine Grunddienstbarkeitsbestellung durch das Gericht. 917 BGH, Urteil vom 11. Dezember 1970, – V ZR 42/68 –, NJW 1971, 420. 911

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

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bestimmten rechtlichen Erfolg gerichteten Willen hinaus auf Grund der vom Richter ermittelten, vernünftigen rechtlichen Überlegungen auf einen bestimmten weiteren Zweck hin gerichtet ist. Auch bei Rechtsmittelerklärungen kann daher nach diesen Grundsätzen ausnahmsweise eine Umdeutung zulässig sein, wenn es sich um vergleichbare Prozesshandlungen handelt, und sich beide in ihrer Intention und in ihren rechtlichen Wirkung entsprechen 918. Dem folgt etwa auch die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung 919. Allgemein wird für das Verfahrensrecht in entsprechender Anwendung des § 140 BGB der Grundsatz formuliert, dass eine fehlerhafte Parteihandlung in eine zulässige, wirksame und vergleichbare Parteihandlung umzudeuten ist, wenn deren Voraussetzungen eingehalten sind, die Umdeutung dem mutmaßlichen Parteiwillen entspricht und kein schutzwürdiges Interesse des Gegners entgegensteht 920. Vorschriften des Prozessrechts, die der Verwirklichung des materiellen Rechts dienen, sollen durch die Umdeutung bei einer Erkennbarkeit eines entsprechenden Parteiwillens so angewendet werden, dass eine Entscheidung des Rechtsstreits im Wege eines zweckmäßigen und schnellen Verfahrens möglich ist 921 und dem materiellen Recht zu seiner Durchsetzung verholfen wird. cc) Die Umdeutung von Anträgen im Rahmen des § 88 VwGO Werden die Verwaltungsgerichte um Rechtsschutzgewährung angegangen, so bestimmt der von dem Rechtsschutzsuchenden gestellte Antrag Ziel, Art und Umfang des von dem Gericht begehrten Rechtsschutzes und damit den Streitgegenstand 922. Nach § 88 VwGO darf das Gericht zwar über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden; das Gericht hat vielmehr das tatsächliche Rechtsschutzbegehren zu ermitteln 923. Maßgebend für den Umfang des Klagebegehrens ist das aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, zu entnehmende wirkliche Rechtsschutzziel 924.

918

BGH, Beschluss vom 6. März 1986, – I ZB 12/85 –, VersR 1986, 785 [786]. BAG, Urteil vom 31. Januar 2008, – 8 AZR 11/07 –, Juris; Hessisches Landesarbeitsgericht, Beschluss vom 22. Januar 2009, – 11 Sa 1582/07 –, Juris. 920 Bier, Anmerkung zu BVerwG, Urteil vom 27. August 2008, Anm. 2. 921 Busche, in: Münchener Kommentar, § 140 Rn. 10. 922 Ziegler, Auslegung und Umdeutung, Seite 481. 923 BVerwG, Beschluss vom 25. Juni 2009, – BVerwG 9 B 20.09 –, Juris; BVerwG, Urteil vom 30. Juli 1976, – BVerwG 4 C 15.76 –, Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 5; BVerwG, Beschluss vom 5. Februar 1998, – BVerwG 2 B 56.97 –, Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 25. 919

222

III. Das Berufungszulassungsverfahren

Bei der Erfassung des Klage- bzw. Antragsbegehrens hat das Gericht das tatsächliche Rechtsschutzziel zu ermitteln. Insoweit sind die für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze der §§ 133, 157 BGB anzuwenden 925. Maßgebend ist der geäußerte Parteiwille, wie er sich aus der prozessualen Erklärung und sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt hinter deren Sinn und Zweck zurück 926. Neben dem Antrag und dessen Begründung sind auch die etwa vorgelegten Bescheide für die Ermittlung des Rechtsschutzziels von Bedeutung 927. Ergänzend ist die Interessenlage des Rechtsschutzsuchenden zu berücksichtigen, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und sonstigen für das Gericht und den Antragsgegner als Empfänger der Prozesserklärung erkennbaren Umständen ergibt 928. Eine Umdeutung eines Rechtsschutzbegehrens ist möglich, wenn ein entsprechender Wille genügend deutlich erkennbar wird, keine schutzwürdigen Interessen des Gegners entgegenstehen und wenn keine Anhaltspunkte für eine bewusste Zielrichtung des Rechtsschutzbegehrens vorhanden sind 929. Andererseits legitimiert § 88 VwGO den Richter nicht, den Wesensgehalt der Auslegung zu überschreiten und dabei an die Stelle dessen, was eine Partei erklärtermaßen will, das zu setzen, was sie – nach Meinung des Richters – zu der Verwirklichung ihres Bestrebens wollen sollte 930. dd) Die Umdeutung eines fehlerhaften Verwaltungsaktes nach § 47 VwVfG Nach § 47 Abs. 1 VwVfG kann auch ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs924 BVerwG, Beschluss vom 25. Juni 2009, – BVerwG 9 B 20.09 –, Juris; BVerwG, Urteil vom 3. Juli 1992, – BVerwG 8 C 72.90 –, Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 19. 925 Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Januar 2009, – 5 S 21.08 –, Juris. 926 BVerwG, Urteil vom 27. April 1990, – BVerwG 8 C 70.88 –, Buchholz 310 § 74 VwGO Nr. 9. 927 BVerwG, Urteil vom 18. November 1982, – BVerwG 1 C 62.81 –, Buchholz 310 § 82 VwGO Nr. 11; BVerwG, Urteil vom 3. Juli 1992, – BVerwG 8 C 72.90 –, Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 19. 928 BVerwG, Beschluss vom 17. Mai 2004, – BVerwG 9 B 29.04 –, Juris. 929 Ziegler, Auslegung und Umdeutung, Seite 482. 930 BVerwG, Beschluss vom 29. August 1989, – BVerwG 8 B 9.89 –, Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 17.

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

223

gerichts 931 sind unter diesen Voraussetzungen auch die Verwaltungsgerichte im Gerichtsverfahren ermächtigt, fehlerhafte Verwaltungsakte umzudeuten. Umdeutung bedeutet hier die Modifizierung eines fehlerhaften Verwaltungsaktes insoweit, als ein Verwaltungsakt mit einer gleichwertigen Regelung aufrecht erhalten wird, wenn dieser mit der Rechtsordnung in Einklang steht und diesen die Behörde in Kenntnis des Fehlers rechtskonform erlassen hätte 932. Die Norm wird als Ausdruck eines weitergehenden Rechtsgrundsatzes auch etwa auf Veränderungssperren angewendet 933. ee) Begriffsbestimmung in dem hier bestehenden Zusammenhang Bezogen auf das Berufungszulassungsverfahren ist die Rechtsfigur der Umdeutung begrifflich näher zu bestimmen: Bei der Rechtsfigur der Umdeutung im Verwaltungsprozess wird aus dem aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden verfassungsrechtlichen Verbot, den Rechtsweg in unzumutbarer Weise zu erschweren, das Gebot gefolgert, dass das Oberverwaltungsgericht bei der Prüfung der Zulassungsgründe den Vortrag des Antragstellers nicht nur formal – also in Bezug auf die von dem Berufungszulassungsantragssteller benannten Berufungszulassungsgründe –, sondern auch inhaltlich angemessen würdigen muss. Das verfassungsrechtliche Verbot, den Rechtsweg nicht in unzumutbarer Weise zu erschweren, zwingt das Oberverwaltungsgericht bei der Prüfung der Zulassungsgründe dazu, dem Zulassungsantragsteller bei berufungswürdigen Sachen den Zugang zu der zweiten Instanz nicht nur etwa deswegen zu versagen, weil dieser sich nicht auf den nach Auffassung des Gerichts zutreffenden Zulassungsgrund bezogen hat 934. Jedenfalls dann, wenn sich aus der Zulassungsbegründung sehr deutlich ergibt, dass die Voraussetzungen eines bestimmten Zulassungsgrundes gegeben sind, muss die Berufung hiernach zugelassen werden, auch wenn dieser Zulassungsgrund als solcher nicht ausdrücklich angeführt worden ist 935. 931 BVerwG, Urteil vom 26. Juli 2006, – BVerwG 6 C 20.05 –, BVerwGE 126, 254 – 282; BVerwG, Beschluss vom 09. April 2009, – BVerwG 3 B 116.08 –, Juris. 932 Schwarz, in: Fehling / Kastner, Verwaltungsrecht, § 47 VwVfG Rn. 6. 933 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 14. August 2008, – 1 KN 219/07 –, NVwZ-RR 2010, 91 – 97 [94]. 934 BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2005, – 1 BvR 2615/04 –, NVwZ 2005, 1176 [1177]; Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 80. 935 BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2005, – 1 BvR 2615/04 –, NVwZ 2005, 1176 [1177]; Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 80.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Voraussetzung einer derartigen Umdeutung ist indes immer, dass der Zulassungsantrag ansonsten zulässig ist 936, er also in dem hier interessierenden Zusammenhang insbesondere dem Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ansonsten genügt 937. Dies führt zu folgender Begriffsbildung: Eine Umdeutung liegt vor, wenn nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts ein geltend gemachter Zulassungsgrund nicht gegeben ist, jedoch die Voraussetzungen eines nicht (explizit) dargelegten anderen Zulassungsgrundes vorliegen 938. Über diese Definition hinaus ist von dem Vorliegen einer Umdeutung auch dann auszugehen, wenn ein geltend gemachter Zulassungsgrund zwar nicht mit der von dem Berufungszulassungsantragssteller gegebenen Begründung, jedoch aus einer anderen, nicht (explizit) dargelegten Begründung heraus vorliegt. Denn wenn sogar schon ein nicht explizit geltend gemachter Berufungszulassungsgrund im Wege der Umdeutung herangezogen werden kann, so muss dies erst recht dann gelten, wenn ein geltend gemachter Berufungszulassungsgrund nur nicht aus der gegebenen Begründung heraus vorliegt 939. Ob zu einer Vermeidung eines Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG eine Umdeutung zu erfolgen hat, steht nicht in dem Ermessen des Oberverwaltungsgerichts: Bei dem Vorliegen der Voraussetzungen einer Umdeutung ist diese nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „vorzunehmen“ 940, also von Amts wegen zu prüfen und – dem Berufungszulassungsantragssteller günstig – durchzuführen. c) Fallgruppen der Umdeutung im Berufungszulassungsverfahren nach Rechtsprechung und Lehre In Rechtsprechung und Literatur werden verschiedene Fallgruppen der Umdeutung – teilweise kontrovers – diskutiert:

936 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, NVwZ 2000, 1163 [1165]. 937 Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 80. 938 Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 80. 939 Siehe sogleich c) nn). 940 BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2000, – 2 BvR 2125/97 –, DVBl. 2000, 407; Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124 VwGO Rn. 80.

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

225

aa) Umdeutung des Vorbringens zu ernstlichen Zweifeln zu dem Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten Stark umstritten ist, ob ein Vorbringen zu ernstlichen Zweifeln im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO auch im Rahmen der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO berücksichtigt werden kann. Das Nordrhein-Westfälische OVG 941 bejaht dies: Mache der Rechtsmittelführer ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend, so könne die Berufung auch ohne ausdrückliche Benennung dieses Grundes durch den Kläger wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zugelassen werden, wenn die konkreten Angriffe des Rechtsmittelführers gegen die erstinstanzliche Entscheidung zwar keine überwiegende Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg seiner Berufung ergäben, diese Angriffe aber andererseits begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung ergäben, die sich nicht ohne weiteres im Zulassungsverfahren klären und deshalb den Ausgang des Rechtsstreits als offen erscheinen ließen. Nach dieser Ansicht ist die Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten in all den Fällen zuzulassen, in denen das Berufungsgericht im Zeitpunkt seiner Entscheidung über den Zulassungsantrag keine positive oder negative Aussage zur Erfolgsaussicht der angestrebten Berufung treffen kann, diese Erfolgsaussichten vielmehr offen sind 942. Zur Begründung dieser Ansicht wird weiter angeführt 943, dass eine solche Deutung des Zulassungsgrundes der besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten der Systematik des Zulassungsrechts, wie sie sich dem Gesetzestext entnehmen lasse, entspreche: Denn die Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO hätten – anders als die weiteren Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO – kein Vorbild im Recht der Revisionszulassung. Sie seien spezifisch auf das Berufungsverfahren zugeschnitten. Der Gesetzgeber sei bei diesen beiden Zulassungsgründen ersichtlich davon ausgegangen, dass das Berufungsverfahren durch sie die Gerechtigkeit im Einzelfall durch Überprüfung der tatsächlichen Feststellungen und der rechtlichen Subsumtion gewährleiste. Soweit die Berufungsinstanz 941 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Juli 1998, – 10 A 1329/98 –, NVwZ 1999, 202 – 205. 942 So auch Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 9. 943 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Juli 1998, – 10 A 1329/98 –, NVwZ 1999, 202 – 205; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 114.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

im verwaltungsgerichtlichen Verfahren darüber hinaus – der Revisionsinstanz vergleichbar – auch der Rechtsfortbildung und Rechtsvereinheitlichung im Landesrecht diene, komme diese Funktion in dem Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zum Ausdruck. Demgegenüber solle das Berufungsverfahren aufgrund einer Zulassung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 VwGO nicht in demselben Maße wie das Revisionsverfahren dazu dienen, das (Bundes-) Recht fortzuentwickeln oder seine Einheit zu wahren. Dieser Sinn und Zweck der Berufungszulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 VwGO, Gerechtigkeit im Einzelfall zu erzielen, fokussiere die Entscheidung in dem Zulassungsverfahren auf die Frage, ob die Rechtssache richtig entschieden worden sei, oder ob das Rechtsmittel zugelassen werden müsse, um diese im Ergebnis richtige Entscheidung erst zu ermöglichen. Spiegelbildlich entspreche diese Frage jener nach den Erfolgsaussichten der angestrebten Berufung. Lasse sich mit Blick auf die zu gewährleistende Gerechtigkeit im Einzelfall nicht schon im Zulassungsverfahren zuverlässig sagen, dass das Verwaltungsgericht sie in ihrem Ergebnis richtig entschieden habe und die angestrebte Berufung deshalb voraussichtlich keinen Erfolg haben werde, so müssten die verbleibenden Fälle von den beiden Zulassungsgründen der ernstlichen Zweifel und der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten abgedeckt werden. Diese müssten dafür von ihren Voraussetzungen her nahtlos ineinander greifen. Sie unterschieden sich daher nicht in dem Maßstab, der für sie verbindlich sei; beide seien an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung und spiegelbildlich damit an den Erfolgsaussichten der Berufung ausgerichtet. Sie unterschieden sich jedoch in dem Grad der Zweifel, die an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestünden, und damit in dem Grad der Wahrscheinlichkeit, mit der ein Erfolg der Berufung zu erwarten sei. Sowohl § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO als auch § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wollten danach den Zugang zu einer inhaltlichen Überprüfung des angefochtenen Urteils in einem Berufungsverfahren in all denjenigen Fällen eröffnen, in denen die Richtigkeit des angefochtenen Urteils weiterer Prüfung bedürfe, ein Erfolg der angestrebten Berufung nach den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens also möglich sei. Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO lägen dabei dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprächen, dass die verwaltungsgerichtliche Entscheidung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten werde, wenn also ein Erfolg der Berufung wahrscheinlicher erscheine als ein Misserfolg. Lasse sich eine solche Prognose über den Erfolg der Berufung jedoch nicht stellen, lasse sich aber andererseits die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des erstinstanzlichen Urteils nicht bereits im Zulassungsverfahren beurteilen, so liege ein Fall besonderer Schwierigkeit im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO vor 944.

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

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Die Voraussetzungen der Nummern 1 und 2 des § 124 Abs. 2 VwGO ergänzten sich mithin: Sprächen überwiegende Gründe für die Unrichtigkeit des angefochtenen Urteils, liege der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO vor. Sei eine Prognose über den Ausgang des Rechtsstreits nicht möglich, sei der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO gegeben. Sprächen überwiegende Gründe für die Richtigkeit des angefochtenen Urteils, liege weder der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO noch derjenige des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO vor 945. Dies rechtfertige dann aber auch die Umdeutung der Darlegungen zu ernsthaften Zweifeln an der Ergebnisrichtigkeit der Entscheidung in solche zu besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten: Stünden die genannten Zulassungsgründe in einem Komplementärverhältnis zueinander, so stehe einer Anwendung der Nr. 2 ihre fehlende Rüge nicht entgegen, wenn Ausführungen zu Nr. 1 vorhanden seien 946. Denn eine dem Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügende Durchdringung des Streitstoffes, die zu dem Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gegeben werde, lasse in aller Regel deutlich werden, dass und weswegen die Streitsache aus Sicht des Berufungszulassungsantragsstellers besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweise 947. Dem hält das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht 948 in systematischer Hinsicht den Einwand entgegen, dass der Gesetzgeber mit dem Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO einen eigenständigen Zulassungsgrund geschaffen habe. Dieser solle dem Oberverwaltungsgericht – anders als bei § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO – die Zulassung des Rechtsmittels ermöglichen, ohne dass sich das Oberverwaltungsgericht – wie bei der Nummer 1 – hinsichtlich des voraussichtlichen Entscheidungsergebnisses (prognostisch) festlegen müsse. Dementsprechend komme eine Zulassung auch nur dann in Betracht, wenn der Zulassungsantragsteller fallbezogen, das heißt in das Einzelne gehend dartue, weshalb sich dieser Sachverhalt von anderen qualitativ in einer Weise unterscheide, welche unter dem Gesichtspunkt seiner Schwierigkeit die Zulassung des Rechtsmittels rechtfertige. Ein „Herüberreichen“ der Darlegungen zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit 944

OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16. Februar 1998, – 2 L 11966/97 –, NVwZ 1998, 1094 – 1096. 945 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Juli 1998, – 10 A 1329/98 –, NVwZ 1999, 202 – 205. 946 OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16. Februar 1998, – 2 L 11966/97 –, NVwZ 1998, 1094 – 1096. 947 OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16. Februar 1998, – 2 L 11966/97 –, NVwZ 1998, 1094 – 1096. 948 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss 11. Januar 2000, – 1 L 4588/ 99 –, DÖV 2000, 340 – 341.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO komme nicht in Betracht 949. Der letztgenannten Ansicht des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts ist nicht zu folgen; vielmehr besteht die Möglichkeit der Umdeutung der Darlegungen zu ernsthaften Zweifeln an der Ergebnisrichtigkeit der Entscheidung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in solche zu besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO 950. Bei einer solchen Umdeutungsmöglichkeit bestehen zunächst keine gesetzessystematischen Bedenken, wie es etwa dann der Fall wäre, wenn durch dieses Verständnis der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO faktisch entbehrlich würde, weil er in dem weit gefassten Zulassungsgrund der besonderen rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufgehen und damit eines eigenständigen Regelungsbereiches beraubt würde. Zwar wurde soeben gezeigt, dass es für den Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht verlangt werden kann, dass schon in dem Berufungszulassungsverfahren erkennbar wird, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit das Urteil der Vorinstanz aufzuheben sein wird; vielmehr genügt eine hälftige Wahrscheinlichkeit. Jedoch behält bei einer damit in ihrem Ergebnis offenen Prognose der Ergebnisrichtigkeit – also dem Fall, dass weder ernstliche Zweifel mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit bejaht oder aber verneint werden können –, der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils auch bei einer Bejahung der genannten Umdeutungsmöglichkeit seinen eigenständigen Anwendungsbereich. Er erfasst nämlich dann (auch) diejenigen Fälle, in denen die Unrichtigkeit des angefochtenen Urteils auf der Hand liegt, die Erkenntnis des richtigen Ergebnisses also keine tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten bereitet. Diese Fälle offensichtlicher Unrichtigkeit des angefochtenen Urteils werden von dem Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zweifelsfrei nicht abgedeckt 951. Für die Möglichkeit einer Umdeutung des Vorbringens zum Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel im Sinne von § 124 Abs. 1 Nr. 1 VwGO in 949 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss 11. Januar 2000, – 1 L 4588/ 99 –, DÖV 2000, 340 – 341. 950 Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 670. 951 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Juli 1998, – 10 A 1329/98 –, NVwZ 1999, 202 – 205.

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

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den Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO spricht entscheidend die Entstehungsgeschichte des § 124 Abs. 2 VwGO 952. So sah der Entwurf der Bundesregierung für ein Sechstes Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze 953 zunächst – neben den Berufungszulassungsgründen, die den Revisionsgründen des § 132 Abs. 2 VwGO nachgebildet waren – nur den Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils vor (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO-E) 954. Eine inhaltliche Bestimmung des Tatbestandsmerkmals der „ernstlichen Zweifel“ nimmt der Gesetzentwurf selbst nicht vor. Jedoch ist seiner Begründung zu entnehmen, dass die Bundesregierung davon ausging, dass das Anknüpfen an das Tatbestandsmerkmal der „ernstlichen Zweifel“ angesichts der gefestigten Rechtsprechung zu dem entsprechenden Begriff in § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO der Rechtssicherheit und der Verwirklichung der Einzelfallgerechtigkeit diene 955. Da in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ausgeführt ist, dass das Tatbestandsmerkmal der „ernstlichen Zweifel“ es dem Oberverwaltungsgericht ermögliche, hinreichend sicher zu erkennen, welche Anträge auf Zulassung der Berufung als unbegründet abzulehnen seien 956, ging der Gesetzentwurf der Bundesregierung davon aus, alle diejenigen Fälle zu erfassen, in denen die Einzelfallgerechtigkeit in einem Berufungsverfahren zu verwirklichen ist, in dem „grob ungerechte Entscheidungen zu korrigieren“ 957 sind, in denen also „ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit 958 des Urteils“ zu einer überwiegenden Erfolgsaussicht der angestrebten Berufung führen. 952

Zur Entstehungsgeschichte Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Juli 1998, – 10 A 1329/98 –, NVwZ 1999, 202 – 205. 953 BR-Ds. 30/96, Seite 6; BT-Ds. 13/3993, Seite 13. 954 BR-Ds. 30/96, Seiten 6 f., Nr. 15: „§ 124 (1) Gegen Endurteile einschließlich Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird. (2) Die Berufung ist nur zuzulassen, 1. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen, 2. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, 3. wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht, oder 4. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die Entscheidung beruhen kann.“ 955 BT-Ds. 13/3993, Seite 13; BR-Ds. 30/96, Seite 29. 956 BT-Ds. 13/3993, Seite 13; BR-Ds. 30/96, Seite 29 f. 957 BT-Ds. 13/3993, Seite 13 zu Nummer 15.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Demgegenüber schlug der Bundesrat in seiner Stellungnahme 959 stattdessen den Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten – heute normiert in § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO – vor. Der Bundesrat verwies darauf, dass – aus seiner Sicht in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung unzutreffend dargestellt – in Rechtsprechung und Literatur nach wie vor kontrovers 960 diskutiert werde, was unter „ernstlichen Zweifeln“ zu verstehen sei, und dass der Begriff nicht präzisierbar sei, woraus die Gefahr der Rechtszersplitterung folge. Daher formulierte der Bundesrat in seinem Gesetzentwurf 961 neben den § 132 Abs. 2 VwGO nachgebildeten Berufungszulassungsgründen und anstelle des in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung enthaltenen Berufungszulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils als Berufungszulassungsgrund, dass „die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist“. In der Begründung des Bundesrates für diese gegenüber dem Gesetzentwurf der Bundesregierung abweichende Regelung wird ausgeführt, dass der Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache den Zulassungsgrund übernehme, der bereits in § 141 Abs. 2 Nr. 3 VwPO enthalten gewesen sei, und für den die Kriterien maßgeblich seien, die für die Entscheidung durch den Einzelrichter vorliegen müssten 962: In ihrer Gegenäußerung 963 führte die Bundesregierung zu diesem Vorschlag aus, dass auch die von dem Bundesrat vorgeschlagene Formulierung „wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist“ nicht ausreichend bestimmt sei, wie sich auch an der höchst unterschiedlichen Praxis der Kammern der Verwaltungsgerichte für eine Übertragung auf den Einzelrichter in dem Sinne des ebenfalls den Begriff enthaltenden § 6 Abs. 1 VwGO zeige. Auf Vorschlag des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages sind in dem weiteren Gesetzgebungsverfahren dann beide Zulassungsgründe in das Gesetz aufgenommen worden 964. In der Begründung dieses Vorschlags 965 heißt es, dass sich beide diskutierten Zulassungsgründe zum Teil überschnitten, die Aufnahme 958

Gemeint ist wohl eher: „an der Richtigkeit“ BT-Ds. 13/3993, Seiten 16 ff. [21 f.]. 960 Vgl. Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 25. August 1988, – 3 B 2564/ 85 –, NVwZ-RR 1990, 54 – 55; siehe auch zu dem Verteilen des Vollstreckungsrisikos im Rahmen der Anwendung des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO Renck, Ernsthafte Zweifel, Seite 338 – 339. 961 BT-Ds. 13/1433, Seite 5. 962 BT-Ds. 13/1433, Seite 13. 963 BT-Ds. 13/4069, Seite 2. 964 BT-Ds. 13/5098, Seite 8. 965 BT-Ds. 13/5098, Seite 24. 959

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

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der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache als Berufungszulassungsgrund den Senaten aber die Möglichkeit gebe, sich in der annehmenden Entscheidung nicht zwangsläufig zur materiellen Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung zu äußern; die „Rückgriffsmöglichkeit“ bedeute eine Erleichterung des Berufungszulassungsverfahrens für die Oberverwaltungsgerichte. Dieser Vorschlag des Rechtssausschusses ist dann Gesetz geworden. Soll aber nach der Gesetzesbegründung der Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten eine Zulassung der Berufung gerade in den Fällen offener Erfolgsaussichten ermöglichen, in denen nicht sicher ist, ob sie bereits von dem Zulassungsgrund der ernstlicher Zweifel erfasst werden, so ergänzen sich beide Tatbestände und schließen sich gerade nicht aus 966. Schließen sich die beiden Berufungszulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung und der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache aber nicht aus, sondern ergänzen sie sich vielmehr wechselseitig und überschneiden sie sich nur in Teilbereichen, so spricht dies entscheidend für eine regelmäßig mögliche und sogar nahe liegende Umdeutung dargelegter, aber nicht überschaubarer ernstlicher Zweifel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in das Vorliegen besonderer rechtlicher oder tatsächlicher Schwierigkeiten in dem Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO 967. Wie der Rechtssausschuss ausführt, wird es dem Oberverwaltungsgericht so ermöglicht, auf den anderen Berufungszulassungsgrund „zurückzugreifen“ 968, also zu ihm hin umzudeuten. Aus diesen Gründen ist immer dann, wenn der Berufungszulassungsantragssteller ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend macht, sich aber die hierdurch aufgeworfene Frage der Richtigkeit des Urteils anhand der hierzu dargelegten Umstände nicht ohne besondere Schwierigkeiten hinreichend sicher positiv oder negativ beantworten lässt, das Oberverwaltungsgericht verpflichtet, die Berufung in dem Wege einer Umdeutung auch dann zuzulassen, wenn sich der Berufungszulassungsantragssteller auf diesen Berufungszulassungsgrund nicht ausdrücklich berufen hat 969.

966 Zu einer Abgrenzung beider Zulassungsgründe zueinander vergleiche oben III. 2. b) ee). 967 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 31. Juli 1998, – 10 A 1329/98 –, NVwZ 1999, 202 – 205. 968 BT-Ds. 13/5098, Seite 24. 969 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. September 2000, – 9 S 1607/00 –, ESVGH 51, 57 – 58.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

bb) Umdeutung des Vorbringens zu ernstlichen Zweifeln zu dem Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung In der Rechtsprechung 970 wird ferner die Möglichkeit der Umdeutung des geltend gemachten Berufungszulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO angenommen, wenn der Berufungszulassungsantrag etwa durch die Zitierung der abweichenden Ansicht eines dem Verwaltungsgericht nicht im Instanzenzug übergeordneten Oberverwaltungsgerichts eine Streitfrage aufwerfe, die bislang nicht höchstrichterlich – durch das Bundesverwaltungsgericht – geklärt sei. Dem ist zuzustimmen. Erkennt das Oberverwaltungsgericht aufgrund des substantiierten Vorbringens des Berufungszulassungsantragsstellers das Vorliegen einer bislang höchstrichterlich nicht geklärten Streitfrage, so fordert die dem Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zugrundeliegende gesetzgeberische Intention, die Berufung zu einer Fortbildung des Rechts in diesem von dem Berufungszulassungsantragssteller aufgeworfenen Punkt zuzulassen. Soweit dem entgegengehalten wird, dass der Rechtsmittelführer stets darlegen müsse, ob er die Zulassung der Berufung aus objektiven – denen des § 124 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 VwGO – oder aus subjektiven – denen des § 124 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 VwGO – Gründen begehre, was einen Übergang von einer Gruppe zu der anderen Gruppe, mithin eine Umdeutung zwischen beiden Gruppen ausschließe 971, ist dem entgegenzuhalten, dass es sich bei sämtlichen Berufungszulassungsgründen um solche handelt, die auch dem Einzelnen zu dienen bestimmt sind, in dem nämlich ihre Bejahung zu der Eröffnung einer vollen zweiten Instanz in dem Sinne des § 128 VwGO und damit zu einem Rechtsschutz des bisher Unterlegenen führt. Dies verbietet die genannte Differenzierung. cc) Umdeutung besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache in ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung Hat der Berufungszulassungsantragssteller besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO 970 Sächsisches OVG, Beschluss vom 20. Dezember 2006 –, PL 9 B 1004/04 –, SächsVBl. 2007, 159. 971 Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 673.

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

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dargelegt, und werden diese besonderen Schwierigkeiten nachträglich durch eine Entscheidung eines der in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO genannten Gerichte oder durch die Rechtsprechung des angerufenen Oberverwaltungsgerichts selbst 972 vor einer Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag ausgeräumt, so kommt eine Berufungszulassung wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten nicht (mehr) in Betracht. Im Fall einer Divergenz der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zu dieser Entscheidung des Divergenzgerichtes oder des angerufenen Oberverwaltungsgerichts ist in diesem Fall jedoch das Vorbringen des Berufungszulassungsantragsstellers in den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO umzudeuten 973. Denn beide Zulassungsgründe stehen zueinander in einem Verhältnis der lückenlosen Rechtsschutzgewährung dahingehend, dass im Sinne der beiden zugrundeliegenden Zweckrichtung der Gewährleistung von Einzelfallgerechtigkeit der Berufungszulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO den der ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ergänzt 974. Geraten die von dem Berufungszulassungsantragssteller dargelegten besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache durch eine obergerichtliche oder eine höchstrichterliche Klärung in Wegfall, so darf es sich im Sinne effektiver Rechtsschutzgewährleistung im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG und in dem Interessen der Zielsetzung der Gewährleistung von Einzelfallgerechtigkeit für den Berufungszulassungsantragssteller nicht zu seinem Nachteil auswirken, dass er zum Zeitpunkt der Stellung des Berufungszulassungsantrags nicht den Maßstab der – nun objektiv bestehenden – ernstlichen Zweifel, sondern nur denjenigen der besonderen Schwierigkeiten darlegen konnte, sich aber in dem wie dargestellt 975 maßgeblichen Zeitpunkt der Beurteilung der Sach- und Rechtlage durch das Oberverwaltungsgericht die Bewertungsverhältnisse in ihr Gegenteil verkehrt haben, ohne dass dies in seine Sphäre fiele 976. Ist die die besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten ausräumende Entscheidung des Divergenzgerichtes dem Berufungszulassungsantragssteller demgegenüber ungünstig, so ist der Berufungszulassungsantrag dem Be972

OVG Brandenburg, Beschluss vom 8. Mai 2002, – 2 A 407/00 Z. –, LKV 2003, 91. Oberverwaltungsgericht für das Land Brandenburg, Beschluss vom 8. Mai 2002, – 2 A 407/00 Z. –, LKV 2003, 91; im Ergebnis auch Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 42. 974 Siehe oben III. 2. b) ee). 975 Siehe oben III. 2. a) cc). 976 Oberverwaltungsgericht für das Land Brandenburg, Beschluss vom 8. Mai 2002, – 2 A 407/00 Z. –, LKV 2003, 91. 973

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

rufungszulassungsantragssteller ungünstig entscheidungsreif. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO können dann nicht vorliegen, da die die besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache ausräumende Entscheidung dem Berufungszulassungsantragssteller ungünstig ist. Dieser Umdeutungsmöglichkeit wird entgegengehalten 977, dass der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gesetzlich weder als Auffangzulassungsgrund noch nach Art einer Annahmeberufung (entsprechend der Annahmerevision gemäß § 554b ZPO 978) ausgestaltet sei, die es dem Berufungsgericht ermögliche, ungeachtet der in dem Gesetz auferlegten Darlegungspflichten über die Zulassung der Berufung zu entscheiden, sodass eine Umdeutung nicht in Betracht komme. Hiergegen spricht jedoch, dass soeben 979 gezeigt wurde, dass die Berufungszulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO in einem Komplementärverhältnis zueinander stehen, und dem Tatbestand des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hierbei in einer Abgrenzung zu § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO überschaubare ernstliche Zweifel zuzuordnen sind, während bei der Unmöglichkeit einer derartigen Prognose die bestehenden – geringeren – Zweifel § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO unterfallen können. Da ein Berufungszulassungsantragssteller oder sein Bevollmächtigter unmöglich voraussehen oder gar sicher prognostizieren können, für wie gewichtig das Oberverwaltungsgericht die dargelegten Zweifel ansieht, muss das Oberverwaltungsgericht in solchen Fällen von Amts wegen eine Umdeutung zwischen den genannten Berufungszulas977 Hamburgisches OVG, Beschluss vom 24. April 1998, – Bf V 97/97 –, NordÖR 1998, 305 – 306. 978 In die ZPO wurde durch Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes vom 8. Juli 1975, BGBl. I Seite 1863 mit Wirkung vom 15. September 1975, geändert durch Art. 1 Nr. 40 des Gesetzes vom 17. Dezember 1990, BGBl. I Seite 2847 mit Wirkung vom 1. April 1991 § 554b eingefügt, der folgenden Wortlaut hat: § 554b (1) In Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche, bei denen der Wert der Beschwer sechzigtausend Deutsche Mark übersteigt, kann das Revisionsgericht die Annahme der Revision ablehnen, wenn die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat. (2) Für die Ablehnung der Annahme ist eine Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen erforderlich. (3) Die Entscheidung kann ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss ergehen. Diese Vorschrift war in der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar, BVerfG, Urteil vom 9. August 1978, – 2 BvR 831/76 –, BGBl. I Seite 1967. Sie trat durch das Zivilprozessreformgesetz vom 27. Juli 2001 mit Wirkung vom 1. Januar 2002, BGBl I 2001, Seite 1887, außer Kraft. 979 III. 2. b) ee).

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

235

sungsgründen vornehmen 980. Die genannte Umdeutungsmöglichkeit führt daher nicht zu einer Art „Annahmeberufung“, sondern trägt diesem Prognoserisiko Rechnung. Sie ist auch in Teilen der Literatur anerkannt 981. dd) Umdeutung einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache in das Vorliegen einer Divergenz Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fordert eine Umdeutung bezüglich des geltend gemachten Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO dann ein, wenn die in dem Zulassungsantrag als grundsätzlich bedeutsam dargelegte Rechtsfrage nachträglich oder sogar vor der Stellung des Zulassungsantrages, aber ohne Veröffentlichung der Entscheidung, dem Berufungszulassungsantragssteller günstig geklärt wird. Nach allgemeiner Auffassung ist daher ein Antrag auf Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO in einen Antrag auf Berufungszulassung wegen Divergenz nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO umzudeuten, wenn zwischenzeitlich die aufgeworfene grundsätzliche Frage durch eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts beantwortet worden ist 982; denn die Divergenzberufung wird als ein Unterfall der Grundsatzberufung angesehen und dient ebenso wie diese der Sicherung der Rechtseinheit 983. Das Bundesverfassungsgericht 984 sieht eine in einem derartigen Fall gleichwohl verweigerte Zulassung der Berufung als Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG an. Denn auch wenn – wie bereits ausgeführt – weder Art. 19 Abs. 4 GG noch andere Verfassungsbestimmungen einen Instanzenzug gewährleisteten, verbiete dann, wenn prozessrechtliche Vorschriften Rechtsbehelfe bzw. – wie vorliegend § 124a VwGO – die Möglichkeit vorsähen, die Zulassung eines Rechtsmittels zu 980

Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124a Rn. 80.3. Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 670. 982 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 50 mit weiteren Nachweisen. 983 BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1993, – 2 BvR 1058/92, 2 BvR 1059/92 –, NVwZ 1993, 465 f.; BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 1994, – 2 BvR 131/94 –, Juris; für die Revisionszulassung: BVerwG, Beschluss vom 26. Juni 1995, – BVerwG 8 B 44.95 –, Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 2 mit weiteren Nachweisen; BVerwG, Beschluss vom 11. Februar 1986, – BVerwG 8 B 7.85 –, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 240; BVerwG, Beschluss vom 10. April 1992, – BVerwG 9 B 142.91 –, BayVBl. 1992, 537 [538]; BVerwG, Beschluss vom 7. Januar 1993, – BVerwG 4 NB 42.92 –, NVwZ-RR 1993, 513; kritisch Günther, Berufungszulassung wegen Divergenz, Seite 680. 984 BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1993, – 2 BvR 1058/92, 2 BvR 1059/92 –, NVwZ 1993, 465 f. 981

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

erstreiten, Art. 19 Abs. 4 GG eine Auslegung und Anwendung dieser Rechtsnormen, die die Beschreitung des eröffneten (Teil-)Rechtswegs in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwere 985. Wenn in einem derartigen Fall sachlich vertretbare Gründe für die Nichtzulassung der Berufung mangels Angabe von Gründen in den Entscheidungen nicht erkennbar seien und der Verweigerung der Zulassung der Berufung kein aus dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck der anzuwendenden Vorschriften zu entnehmender Grund zugrunde liege, verstießen diese Entscheidungen gegen Art. 19 Abs. 4 GG 986. Dem hat sich die Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte anschließen müssen: Auch hier ist mittlerweile anerkannt, dass dann, wenn der Berufungszulassungsantragssteller die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO dargelegt hat und diese grundsätzliche Bedeutung aufgrund einer nachfolgenden Klärung durch eines der in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO genannten Gerichte entfällt, wegen Art. 19 Abs. 4 GG der Berufungszulassungsantrag nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO in einen Berufungszulassungsantrag nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO umgedeutet werden und die Berufung wegen Divergenz zugelassen werden muss, wenn das Divergenzgericht die Frage anders als das Verwaltungsgericht beantwortet hat 987. In einem derartigen Fall sei eine Umdeutung unter dem Gesichtspunkt effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG „zwingend geboten“ 988. Auch das Bundesverwaltungsgericht 989 sieht zutreffend einen Rechtsmittelführer, der eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache rügt und darlegt, in dem Fall, dass während des Zulassungsverfahrens die Grundsatzfrage dem Rechtsmittelführer günstig geklärt wird, als berechtigt an, nunmehr den Zulassungsrund der Divergenz geltend zu machen. Denn im Zeitpunkt der Einlegung und Begründung des Zulassungsantrages habe der Rechtmittelführer mangels Kenntnis der erst im Laufe des Zulassungsverfahrens ergangenen, ihm günstigen höchstrichterlichen Rechtsprechung diese naturgemäß nicht kennen können 990; eine dem 985

BVerfG, Beschluss vom 17. März 1988, – 2 BvR 233/84 –, BVerfGE 78, 88 [99]; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 11. Februar 1987, – 1 BvR 475/85 –, BVerfGE 74, 228 [234] für die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden vergleichbaren Gebote im zivilgerichtlichen Verfahren; ebenso BVerfG, Beschluss vom 20. Mai 1992, – 2 BvR 405/92 –, InfAuslR 1992, 288 [289 f.]. 986 BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1993, – 2 BvR 1058/92, 2 BvR 1059/92 –, NVwZ 1993, 465 f. 987 Bayerischer VGH, Beschluss vom 18. August 2008, – 19 ZB 07.931 –, Juris; Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 02. März 2005, – 18 A 4406/02 –, Juris; Bayerischer VGH, Beschluss vom 29. Juli 2004, – 24 ZB 04.969 –, Juris. 988 Sächsisches OVG, Beschluss vom 4. Mai 2009, – 3 A 396/08 –, Juris. 989 BVerwG, Beschluss vom 26. Mai 1993, – BVerwG 4 NB 3.93 –, NVwZ 1994, 269. 990 BVerwG, Beschluss vom 26. Mai 1993, – BVerwG 4 NB 3.93 –, NVwZ 1994, 269.

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

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entgegenstehende Darlegung sieht das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls dann nicht als Problem an, wenn der Rechtsmittelführer innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist mit der Grundsatzrüge die Frage bereits aufgeworfen hatte, die dann durch die nachträgliche Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts – jedenfalls weitgehend – geklärt worden ist 991. Weitergehend sieht das Bundesverwaltungsgericht in einem anderen Judikat selbst ein Aufwerfen der nunmehr in der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung geklärten Grundsatzfrage mit der Grundsatzrüge nicht als notwendig an, um das Rechtsmittel wegen Divergenz zuzulassen: Kommt es zu einem Vorliegen einer Abweichung erst nach Ablauf der Frist zur Begründung des Zulassungsantrages für ein zulassungsbedürftiges Rechtsmittel dadurch, dass das Bundesverwaltungsgericht die zunächst offene und grundsätzlich bedeutsame Frage in einem Urteil geklärt hat, so deckt in einem solchen Fall ein auf Grundsätzlichkeit gestütztes Zulassungsbegehren ohne weiteres auch die Zulassung wegen Abweichung mit ab. Zu dem Umstand, dass in einer derartigen Konstellation der Rechtsmittelführer das Vorliegen einer Abweichung nicht geltend gemacht und dementsprechend auch eine (vermeintlich) divergierende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht bezeichnet hat (und haben kann), führt das Bundesverwaltungsgericht aus: „Das ist bei der gegebenen Konstellation unerheblich.“ 992 Die Grundsatzrüge sei dann „als Abweichungsrüge [...] zu behandeln“ 993. Dem ist die Literatur überwiegend gefolgt: Die fristgerechte, begründete Darlegung des Berufungszulassungsgrundes der Grundsätzlichkeit umfasse zugleich den sich später ergebenden Zulassungsgrund der Divergenz, zu dem ein Wechsel möglich sei 994. Diese Umdeutung sei aus Gründen des Vertrauensschutzes vorzunehmen 995. Soweit diesbezüglich abweichend vertreten wird, dass ein Berufungszulassungsgrund nicht nachträglich entstehen könne, also nicht „nachträglich abgewichen“ werden könne 996, verkennt dies zum einen den maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt des Oberverwaltungsgerichts, in dem eben eine höchstrichterliche Klärung erfolgt ist, und zum anderen auch, dass es unter dem Gesichtspunkt 991 BVerwG, Beschluss vom 07. Januar 1993 –, BVerwG 4 NB 42.92 –, NVwZ-RR 1993, 513. 992 BVerwG, Beschluss vom 11. Februar 1986, – BVerwG 8 B 7.85 –, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 240. 993 BVerwG, Beschluss vom 10. April 1992, – BVerwG 9 B 142.91 –, NVwZ 1992, 890 – 892. 994 Laudemann, Prozessuale Probleme, Seite 175; Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 669 f.; Bogumil, Revisionszulassungsverfahren, Seite 456. 995 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 50. 996 Günther, Berufungszulassung wegen Divergenz, Seite 681.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

der Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 in einem derartigen Fall schlechterdings unerträglich und auch eine bloße Förmelei wäre, dem materiell erfolgreich sein müssenden Berufungszulassungsantrag den Erfolg zu versagen. ee) Umdeutung des Vorbringens zu einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache in das Vorbringen zu einer Verfahrensrüge In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 997 ist geklärt, dass das Vorbringen zu einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO dann, wenn während des Berufungszulassungsverfahrens eine höchstrichterliche Klärung erfolgt und wenn diese Frage das Verfahrensrecht betrifft, ohne ihr ausdrückliches Erheben zugleich als Verfahrensrüge zu behandeln ist 998. Dies wird etwa dann relevant, wenn das angefochtene Urteil rechtsirrtümlich und damit zugleich verfahrensfehlerhaft nur einen Teil des Streitgegenstands bescheidet. Auch für den Bereich des Revisionsrechts sieht das Bundesverwaltungsgericht eine Umdeutung des Vorbringens im Rahmen einer Grundsatzrüge nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in die „sinngemäße“ Rüge eines Verfahrensfehlers im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO als möglich an 999. ff) Umdeutung des Vorbringens zu einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache in das Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils Hat der Berufungszulassungsantragssteller die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO dargelegt und entfällt diese grundsätzliche Bedeutung aufgrund einer nachfolgenden Klärung durch ein anderes als eines der in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO genannten Gerichte – auch etwa durch eine Entscheidung des Gerichtshofs –, dann muss ebenfalls wegen Art. 19 Abs. 4 GG der Berufungszulassungsantrag nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO in einen Berufungszulassungsantrag nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO umgedeutet und die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zugelassen

997 BVerwG, Beschluss vom 10. April 1992, – BVerwG 9 B 142.91 –, NVwZ 1992, 890 – 892. 998 BVerwG, Beschluss vom 29. Juni 1977, – BVerwG 5 B 88.76 –, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 154. 999 BVerwG, Beschluss vom 24. Juli 2008, – BVerwG 9 B 41.07 –, Juris.

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

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werden, wenn das die Grundsatzfrage klärende Gericht die Frage anders als das Verwaltungsgericht beantwortet hat 1000. gg) Umdeutung des Vorbringens zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit der Entscheidung in die Darlegung eines Verfahrensmangels Ferner kommt eine Umdeutung des geltend gemachten Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen eines Fehlers bei der Auslegung des Antrags des Klägers (§ 88 VwGO) in die Darlegung des Zulassungsgrundes nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO wegen eines Verfahrensmangels 1001 in Betracht. Denn der Vortrag, dass die Entscheidungsrichtigkeit des Urteils deshalb ernstlich zweifelhaft sei, weil das Verwaltungsgericht das Klagebegehren fehlerhaft ermittelt hat, beinhaltet zugleich die Rüge, dass die verfahrensrechtliche Norm des § 88 VwGO unrichtig angewandt worden sei und dass damit der entsprechende Verfahrensfehler vorliege. hh) Umdeutung des Vorbringens im Rahmen der Divergenzrüge in die Geltendmachung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung Auch kommt eine Umdeutung des Vorbringens im Rahmen der Divergenzrüge nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO, das Verwaltungsgericht habe – in Verkennung des Inhalts einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts – fehlerhaft entschieden, in die Geltendmachung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts in dem Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Betracht 1002. Denn der Vortrag zu dem abweichenden Inhalt einer Entscheidung eines Divergenzgerichtes wird regelmäßig den Vortrag enthalten, dass und warum wegen dieser – angeblichen – Divergenz das Urteil anders – dem Berufungszulassungsantragssteller günstig – hätte ausfallen müssen. Begründen diese Argumente objektiv ernstliche Zweifel, so ist eine Umdeutung vorzunehmen.

1000

Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124a Rn. 80.2. Bayerischer VGH, Beschluss vom 04. August 2008, – 15 ZB 08.390 –, Juris. 1002 Bayerischer VGH, Beschluss vom 30. September 2005, – 1 ZB 04.2091 –, Juris; Bayerischer VGH, Beschluss vom 6. März 2001, – 24 B 00.753 –, Juris. 1001

240

III. Das Berufungszulassungsverfahren

ii) Umdeutung der Darlegung eines Verfahrensfehlers in das Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils Das Bundesverfassungsgericht 1003 hält in einer Fallgestaltung, in der das Verwaltungsgericht die Ablehnung eines Beweisantrages mit dem Vorliegen einer reinen Rechtsfrage begründet hat, und in der im Berufungszulassungsantrag das Vorliegen eines Verfahrensfehlers im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO gerügt wird, der aber nach der Ansicht des Oberverwaltungsgerichts nicht vorliegt, das Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO für nahe liegend. Dem folgt der VGH Baden-Württemberg 1004, da es nicht angehe, dem Rechtsmittelführer eine in der Sache „verdiente“ Zulassung vorzuenthalten; in einem solchen Fall sei der auf der Grundlage des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hinreichend darlegende Berufungszulassungsantrag in einen solchen nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO umzudeuten. Dem ist zuzustimmen. Das verfassungsrechtliche Verbot, den Rechtsweg nicht in unzumutbarer Weise zu erschweren, zwingt das Oberverwaltungsgericht bei der Prüfung der Berufungszulassungsgründe dazu, den Vortrag des jeweiligen Berufungszulassungsantragsstellers angemessen zu würdigen und ihm bei berufungswürdigen Sachen den Zugang zu der zweiten Instanz nicht nur deswegen zu versagen, weil dieser sich nicht auf den nach Auffassung des Gerichts zutreffenden Zulassungsgrund bezogen hat. Dies spricht entscheidend für die Möglichkeit einer Umdeutung, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wurde, der zwar nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts nicht vorliegt, dessen Begründung aber ernstliche Zweifel an der Ergebnisrichtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erkennen lässt. jj) Umdeutung des Vorbringens zu dem Zulassungsgrund der Divergenz in das Vorliegen eines Verfahrensmangels Legt der Berufungszulassungsantragssteller den Zulassungsgrund der Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO dar, liegt dieser aber nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts nicht vor, weil der Berufungszulassungsantrag keinen abstrakten Rechtssatzwiderspruch zwischen der angeblich divergierenden Entscheidung und dem angefochtenen Urteil des Verwaltungsgerichts darlegt, betreffen die Rüge und die angeblich divergierende Entscheidung aber zugleich die fehlerhafte Anwendung einer Verfahrensvorschrift, so wird nach Ansicht des 1003

BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2005, – 1 BvR 2615/04 –, NVwZ 2005, 1176. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juni 1998, – 9 S 1151/98 –, DVBl. 1998, 1086. 1004

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

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Bundesverwaltungsgerichts 1005 für das Revisionsrecht damit immer der Sache nach ein Verfahrensmangel gerügt mit der Folge, dass in der Divergenzrüge zugleich eine Verfahrensrüge zu sehen ist 1006. Nichts anderes gilt für das Berufungszulassungsverfahren 1007. Häufiger Fall einer derartigen Umdeutung dürfte eine Entscheidung durch Prozessurteil statt durch Sachurteil sein, die einen Verfahrensmangel darstellt, wenn sie auf einer fehlerhaften Anwendung der prozessualen Vorschriften – etwa einer Verneinung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses – beruht 1008. kk) Umdeutung des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils in das Vorliegen einer Divergenz Nach der älteren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Revisionsrecht 1009 wäre es schlechterdings unerträglich und formalistisch, in dem Falle, dass eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend gemacht wird, aber nach dem Ablauf der Darlegungsfrist eine dem Berufungszulassungsantragssteller günstigen Divergenzentscheidung ergeht, die Revision nicht zuzulassen. Denn die Einheit der Rechtsordnung werde nunmehr objektiv durch die fehlerhafte Entscheidung der Vorinstanz gefährdet, sodass diese nicht bestehen gelassen werden könne 1010. Dem ist – wie zuvor gezeigt 1011 – beizutreten. Es stellt sich jedoch die Frage, ob und inwieweit diese Rechtsprechung auf das Berufungszulassungsrecht übertragen werden kann, insbesondere, ob die ihr zugrunde liegenden Gedanken für die Umdeutung des Vorbringens zu ernstlichen Zweifeln in den Berufungszulassungsgrund der Divergenz fruchtbar gemacht werden können. Der Berufungszulassungsgrund der Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO dient der Einheit der Rechtsanwendung. Ist die nach dem Ablauf der Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ergehende Entscheidung des Divergenzgerichts dem Berufungszulassungsantragssteller günstig, so gefährdet die mit dem Berufungszulassungsantrag angegriffene Entscheidung des 1005

BVerwG, Beschluss vom 12. April 2001 –, BVerwG 8 B 2.01-, NVwZ 2001, 918. BVerwG, Beschluss vom 30. März 2006, – BVerwG 8 B 8.06 –, NJW 2006, 1989 – 1990. 1007 Roth, in: Posser / Wolff, VwGO, § 124a Rn. 80.4. 1008 BVerwG, Beschluss vom 24. Oktober 2006, – BVerwG 6 B 61.06 –, NVwZ 2007, 227 [228]. 1009 BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 1965, – BVerwG III B 10.65 –, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 49. 1010 Hierzu soeben ausführlich III. 3. c) dd). 1011 III. 3. c) dd). 1006

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Verwaltungsgerichts objektiv die Einheit der Rechtsordnung. Die Senate der Oberverwaltungsgerichte müssen im Sinne der Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG diese Gefährdung der Einheit der Rechtsordnung in ihre Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag einbeziehen. Ergeht daher nach dem Ablauf der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO eine dem Berufungszulassungsantragssteller günstige Entscheidung eines Divergenzgerichtes, so sind nach der hier vertretenen Ansicht sämtliche der von dem Berufungszulassungsantragssteller hinreichend dargelegten Berufungszulassungsgründe darauf hin zu untersuchen, ob sie – ihr Vorliegen in materieller Hinsicht unterstellt – geeignet wären, unter dem Gesichtspunkt ihrer hinreichenden Darlegung den Berufungszulassungsantrag zu tragen. Ist dies der Fall, so ist ein hinreichend dargelegter Berufungszulassungsgrund in den Berufungszulassungsgrund der Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO, der ja objektiv und tatsächlich vorliegt, umzudeuten, um die Einheit der Rechtsordnung zu gewährleisten. Im Ergebnis muss damit bei einer objektiv vorliegenden Divergenz in dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Berufungszulassungsantrag immer dann die Berufung zugelassen werden, wenn der Berufungszulassungsantragssteller einen anderen, nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts nicht vorliegenden Berufungszulassungsgrund hinreichend im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt hat. Nur so wird die Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG hinreichend gewährleistet. Daher ist auch das Vorbringen zu § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in die Geltendmachung einer Divergenz umzudeuten. ll) Umdeutung des Vorbringens zu einer Divergenz in die Rüge der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache Betrifft eine von dem Berufungszulassungsantragssteller geltend gemachte Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO Tatsachenfragen in der Form zeitund umstandsabhängiger Feststellungen im tatsächlichen Bereich, so kommt eine Divergenzzulassung nicht in Betracht, wenn sich die der früheren obergerichtlichen Grundsatzentscheidung zugrunde liegenden Verhältnisse aus Sicht des Verwaltungsgerichts wesentlich verändert haben 1012. Dies ist etwa im Asylrecht dann der Fall, wenn die Verfolgung einer Glaubensminderheit in Abweichung zu älterer Rechtsprechung eines Divergenzgerichtes auf der Grundlage neuer Erkenntnismittel von dem Verwaltungsgericht nicht mehr als gegeben angesehen wird. 1012 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 13. Januar 2009, – 11 LA 471/08 –, AuAS 2009, 132.

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

243

Für einen derartigen Fall kommt eine Umdeutung in eine Rüge der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO in Betracht 1013. mm) Umdeutung wegen „greifbarer Gesetzeswidrigkeit“ Es wird vertreten, dass in denjenigen Fällen, in denen ein dargelegter Berufungszulassungsgrund im Sinne von § 124 Abs. 2 VwGO zwar hinreichend im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt sei, tatsächlich aber nicht vorliege, eine Umdeutung bei einer „greifbaren Gesetzeswidrigkeit“ der Entscheidung der Vorinstanz in Betracht komme 1014. Zwar begrenze das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO den Prüfungsumfang des Oberverwaltungsgerichts. Hieraus folge zwar, dass das Oberverwaltungsgericht tatsächlich nicht dargelegte Gründe grundsätzlich unberücksichtigt zu lassen und den Berufungszulassungsantrag ohne Rücksicht auf die aus solchen Gründen sich ergebende Fehlerhaftigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung als unbegründet zurückzuweisen habe. Etwas anderes müsse jedoch dann gelten, wenn die angegriffene Entscheidung aus anderen als den dargelegten Gründen offensichtlich unrichtig sei. Denn es wäre untragbar, wenn das Gericht trotz offensichtlicher Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung den Berufungszulassungsantrag abzulehnen hätte. Beurteilungsgrundlage seien daher auch solche von dem Berufungszulassungsantragssteller nicht genannte Umstände, die offensichtlich seien 1015. Ernstliche Zweifel könnten daher auch in dem Rahmen eines dargelegten, die Prüfungsansätze für das Berufungszulassungsverfahren vorgebenden Grundes für das Rechtsmittelgericht dann bestehen, wenn der entsprechende Begründungsansatz nicht dargelegt worden sei, aber offenkundig für das Rechtsmittelgericht bestehe 1016 bzw. evident sei 1017. Dem stehe der Zweck des Darlegungserfordernisses, dem Rechtsmittelgericht die Berufungszulassungsgründe in einer Art und Weise zu erläutern, die seinen „Aufwand für die Bearbeitung des Zulassungsantrages“ reduziere, nicht entgegen, da offenkundig für die Rechtswid1013 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 13. Januar 2009, – 11 LA 471/08 –, AuAS 2009, 132; Bogumil, Revisionszulassungsverfahren, Seite 456. 1014 Hessischer VGH, Beschluss vom 18. Januar 2006, – 5 TG 1493/05 –, NVwZ-RR 2006, 846, 847 zur vergleichbaren Zulassungsbeschwerde; vgl. auch Schreiner, Zulassungsberufung, Seite 114. 1015 Zur Zulassung der Beschwerde vergleiche Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 6. November 1997, – 11 B 2005/97 –, NVwZ 1998, 283. 1016 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 17. Juni 1997, – 16 E 380/97 –, NWVBl. 1998, 74 – 75 zu einer Zulassung der Beschwerde im Prozesskostenhilfeverfahren nach altem Recht. 1017 Seibert, Erfahrungen mit der 6. VwGO-Novelle, Seite 114.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

rigkeit des angefochtenen Urteils streitende Gründe keinen erhöhten Prüfungsund Bearbeitungsaufwand des Rechtsmittelgerichts mit sich brächten 1018. Dem ist zuzustimmen. Das Oberverwaltungsgericht kann auch nicht dargelegte Umstände berücksichtigen 1019, wenn der Berufungszulassungsantrag zulässig ist. Sinn und Zweck des Berufungszulassungsverfahrens und des Darlegungsgebotes ist es wie ausgeführt primär, die Berufungsinstanz durch eine Verringerung des Bearbeitungsaufwandes zu entlasten, aber eben entscheidend auch, materiell unrichtige Entscheidungen einer Überprüfung in der nach wie vor existierenden Berufungsinstanz zuführen zu können. Beidem wird auch dann genügt, wenn evidente Gesetzesverstöße, die das Oberverwaltungsgericht feststellt, zur Zulassung der Berufung im Wege einer Umdeutung der dargelegten Gründe führen, da es keiner weiteren gerichtlichen Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung bedarf, um deren Unrichtigkeit festzustellen. Daher wird etwa ein greifbarer Grund der Fehlerhaftigkeit der angefochtenen Entscheidung sogar das Berufungszulassungsverfahren noch weiter beschleunigen. Dass eine derartige Berücksichtigung greifbarer Gesetzesverstöße der materiellen Gerechtigkeit, der das Prozessrecht zu dienen bestimmt ist, tatsächlich dient, liegt auf der Hand. Weiterhin ist – wie ausgeführt 1020 – nach der ganz herrschenden Meinung 1021 die Zulassung des Rechtsmittels nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils abzulehnen, wenn das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung eine fehlerhafte Begründung gegeben hat, auf die es rechtlich überhaupt nicht ankommt 1022, gleichwohl aber die Entscheidung in ihrem Ergebnis richtig ist 1023. Es können daher solche Angriffe nicht zu einem Erfolg des Berufungszulassungsantrages führen, die zwar zu Recht eine fehlerhafte Entscheidungsbegründung rügen, bei denen sich aber die verwaltungsgerichtliche Entscheidung aus anderen Gründen, die bereits in dem Zulassungsverfahren ohne weitere Ermittlungen oder Beweisaufnahme feststehen, als in ihrem Ergebnis richtig erweist 1024. Anders formuliert: Das Urteil kann noch so falsch und die Darlegungen des Rechtsmittelführers können sich noch so tragfähig 1018

Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 17. Juni 1997, – 16 E 380/97 –, NWVBl. 1998, 74 – 75. 1019 Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 579 f.; vorsichtig Redeker, Rechtsmittelzulassung, Seite 10 mit Fußnote 50; Laudemann, Prozessuale Probleme, Seite 173, will „an die Erläuterung und Substantiierung [...] keine zu hohen Anforderungen“ stellen, „wenn die Fehlerhaftigkeit des Ergebnisses der erstinstanzlichen Entscheidung greifbar ist“. 1020 III. 2. a) bb). 1021 Oben III. 2. a) bb). 1022 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Februar 1998, – 7 S 216/98 –, NVwZ 1998, 645 – 647. 1023 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Februar 2003, – 2 LA 2953/01 –, NordÖR 2003, 196.

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

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mit dieser Entscheidung auseinandersetzen – ist das Urteil im Ergebnis aus den übergeordneten Erkenntnissen des Oberverwaltungsgerichts in seinem Ergebnis richtig, wird die Berufung nicht zugelassen und der Berufungszulassungsantrag auf Kosten des Berufungszulassungsantragsstellers abgelehnt. Nichts anderes kann aber dann gleichsam umgekehrt gelten, wenn der Berufungszulassungsantragssteller mit den von ihm dargelegten Gründen, die eine Zulassung der Berufung tragen sollen, in der Sache nicht durchzudringen vermag, aber das Vorliegen eines anderen Berufungszulassungsgrundes für das Oberverwaltungsgericht gleichsam offen zu Tage tritt. Wieso derartige Rechtserkenntnisse in Bezug auf die Ergebnisrichtigkeit des Urteils nur zu Lasten des Rechtsmittelführers, nicht aber auch zu seinen Gunsten jedenfalls insoweit berücksichtigt werden könnten, als der Berufungszulassungsantrag hinreichende Darlegungen zu dem Vorliegen eines (anderen) Berufungszulassungsgrundes enthält, ist nicht erklärbar. Gleichsam von Amts wegen von dem Verwaltungsgericht und den Beteiligten nicht gesehene Rechtsfragen zu Lasten des Berufungszulassungsantragsstellers zu berücksichtigen, ihm aber günstige Erkenntnisse abzuschneiden, verringert zwar die Arbeitsbelastung des Oberverwaltungsgerichts, erscheint aber mit dem Prinzip der dienenden Funktion des Verfahrensrechts für die Durchsetzung des materiellen Rechts schwerlich vereinbar. Dass eine ausschließliche Fokussierung auf die Entlastungsfunktion unter dem Gesichtspunkt der Rechtsschutzgleichheit bedenklich ist, wurde oben hergeleitet 1024a. Kann ein Berufungszulassungsantragssteller aus anderen, von den Beteiligten und insbesondere auch von der Vorinstanz nicht gesehenen oder gar geprüften Rechtsgründen mit der Zulassung des von ihm angestrebten Rechtsmittels scheitern, so müssen hinreichend dargelegte Berufungszulassungsgründe jedenfalls in den durch die besondere gesetzgeberische Zielsetzung der Einzelfallgerechtigkeit und der Verhinderung der Rechtskraft grob ungerechter Entscheidungen geprägten Berufungszulassungsgründen der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO bei greifbarer Gesetzeswidrigkeit im Interesse der materiellen Gerechtigkeit umgedeutet werden, wenn der Berufungszulassungsantragssteller die – aus Sicht des Oberverwaltungsgerichts nicht vorliegenden – Berufungszulassungsgründe hinreichend im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt hat.

1024 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Februar 1998, – 7 S 216/98 –, NVwZ 1998, 645 – 647. 1024a III.1.f.ff)(2).

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

nn) Umdeutung der dargelegten Gründe innerhalb eines Berufungszulassungsgrundes, insbesondere innerhalb des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO Als letzte Konstellation ist – ausgehend von dem oben skizzierten Begriffsinhalt der Umdeutung 1024b – diejenige denkbar, dass der Berufungszulassungsantragssteller einen Berufungszulassungsgrund hinreichend darlegt, diese Begründung aber nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichte nicht zu einer Berufungszulassung führen kann, das Oberverwaltungsgericht jedoch den geltend gemachten Berufungszulassungsgrund aus einer anderen, offen zu Tage tretenden Begründung heraus als objektiv gegeben ansieht. Insbesondere kommt hier in Betracht, dass der Berufungszulassungsantragssteller ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO darlegt, die angefochtene Entscheidung aber nicht aus den von dem Berufungszulassungsantragssteller dargelegten Gründen, sondern aus einem anderen Grund in ihrer Ergebnisrichtigkeit eindeutig zumindest zweifelhaft oder sogar offensichtlich unrichtig ist. Nach der oben gegebenen Begriffsbestimmung liegt auch insoweit eine Umdeutung vor. Diese grenzt sich zu einer Umdeutung wegen greifbarer Gesetzeswidrigkeit 1025 dahingehend ab, dass die Umdeutung hier allein innerhalb des Berufungszulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erfolgt; sie ist damit im Verhältnis zu einer Umdeutung wegen greifbarer Gesetzeswidrigkeit, bei der die Umdeutung auch zwischen allen einzelnen Berufungszulassungsgründen des § 124 Abs. 2 VwGO erfolgen kann, deren Spezialfall. Auch in dieser Konstellation ist eine Umdeutung (von Amts wegen) vorzunehmen 1026. Zwar wird vertreten, dass es wegen des Darlegungserfordernisses nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO auch bei einer – objektiv im Ergebnis (eindeutig) – unrichtigen Entscheidung nicht ausreiche, dass sich die Unrichtigkeit nicht aus dem Antrag selbst, sondern erst nach einer Durchsicht der Akten und aus anderen als den dargelegten Gründen ergebe 1027. Dem ist jedoch nicht zu folgen. Zwar beschränkt das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO das Oberverwaltungsgericht grundsätzlich auf die Prüfung, ob die geltend gemachten Zulassungsgründe aus den dargelegten Umständen vorliegen. Eine Ausnahme gilt jedoch dann, wenn das angefochtene Urteil zwar nicht aus dem von dem Rechtsmittelführer angeführten Grund, wohl aber aus einem 1024b

III.3.b.ee). Soeben III. 3. c) mm). 1026 Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 579. 1027 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 18. Januar 1999, – 12 L 5431/98 –, DVBl 1999, 478 – 479; ähnlich Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 668. 1025

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

247

anderen Grunde unrichtig ist, sofern diese Unrichtigkeit offensichtlich ist. Hierfür wird zutreffend angeführt, dass es Zweck des Zulassungsgrundes aus § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sei, die Überprüfung und mögliche Korrektur zweifelhafter Entscheidungen der ersten Instanz im Rechtsmittelwege zu ermöglichen 1028. Dies gebiete es, den Zugang zur Rechtsmittelinstanz umso eher zu eröffnen, je gewichtiger die Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung wögen, vollends wenn deren Unrichtigkeit schon im Zulassungsverfahren offensichtlich sei 1029. Zudem ist der Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sachlich verwandt mit dem eigentlichen Gegenstand der Berufung, der Überprüfung des Urteils, für die § 128 VwGO gerade keine Bindung an die von dem Berufungsführer geltend gemachten Rügen statuiert 1030. Die Berufung hat vielmehr auch dann Erfolg, wenn das Verwaltungsgericht aus anderen als den von dem Berufungsführer geltend gemachten Gründen unzutreffend entscheiden hat 1031. Würde man daher im Berufungszulassungsverfahren von dem Berufungszulassungsantragssteller fordern, dass seine Darlegungen „den schwachen Punkt“ des verwaltungsgerichtlichen Urteils treffen müssen, und würde man andere, nicht dargelegte „noch schwächere Punkte“ ausblenden, auch wenn sie offen zu Tage treten, so verlangt man in dem Berufungszulassungsverfahren von dem Berufungszulassungsantragssteller mehr, als man in gleicher Sache von ihm in dem Berufungsverfahren verlangt: „Er müsste also im Zulassungsverfahren bereits mehr wissen, als er im Berufungsverfahren zu wissen braucht“ 1032. Einer derartigen Umdeutungsmöglichkeit kann auch das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht entgegen stehen. Denn Sinn und Zweck des Darlegungsgebotes besteht primär darin, das Berufungszulassungsverfahren zu vereinfachen, indem es das Prüfungsprogramm des Oberverwaltungsgerichts darauf beschränkt, zu klären, ob die dargelegten Gründe eine Zulassung des Rechtsmittels tragen 1033. Dieser Zweck wird indes nicht tangiert, wenn die Zulassung aus Gründen, die für das Oberverwaltungsgericht offensichtlich sind und klar zu Tage treten 1034, auch ohne deren Darlegung erfolgen kann 1035. „Denn das Offen1028 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juli 2001, – NC 9 S 2/01 –, NVwZ-RR 2002, 75 – 76. 1029 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juli 2001, – NC 9 S 2/01 –, NVwZ-RR 2002, 75 – 76. 1030 Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 579. 1031 Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 579. 1032 Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 579 f. 1033 Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124a VwGO Rn. 180; Happ, in: Eyermann, § 124a VwGO Rn. 54; Rennert, maßgebliche Perspektive, Seite 668 f. 1034 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 13. Mai 1997, – 11 B 799/97 –, NVwZ 1997, 1224 -1225.

248

III. Das Berufungszulassungsverfahren

sichtliche liegt klar zutage und bedarf daher keiner aufwendigen Feststellung“ 1036. Das Zulassungsverfahren wird durch eine solche Berücksichtigung offensichtlich vorliegender Berufungszulassungsgründe nicht verzögert und erschwert, sondern umgekehrt gerade vereinfacht. Dem Darlegungsgebot wird bei einer derartigen Umdeutung insoweit genügt, als der Berufungszulassungsantragssteller hinreichend den aus seiner Sicht, aber nicht aus der Sicht des Oberverwaltungsgerichts vorliegenden Berufungszulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO darlegen muss; nur bei einer solchen hinreichenden Darlegung kommt wie gezeigt eine Umdeutung der von dem Berufungszulassungsantragssteller dargelegten in die aus Sicht des Oberverwaltungsgerichts klar zu Tage tretenden Gründe in Betracht 1037. Dementsprechend wird auch vertreten 1038, dass das Oberverwaltungsgericht bei dem Vortrag eines Berufungszulassungsantragsstellers, der sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO beruft, nicht gehindert ist, die Rechtssache aus einem anderen als dem von dem Berufungszulassungsantragssteller angegebenen Grund für grundsätzlich bedeutsam zu erklären. Denn der aus dem Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO folgenden Aufgabe des Oberverwaltungsgerichts, für die Rechtsfortbildung zu sorgen, könnte nicht genügt werden, wenn das Oberverwaltungsgericht auf das Vorbringen des Berufungszulassungsantragsstellers ausschließlich festgelegt würde 1039. Gleiches gelte für den Berufungszulassungsgrund der Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO 1040. Dem ist beizutreten. Für die Berufungszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO und der Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO wird ein Berufungszulassungsantragssteller vielfach eine im Sinne der Rechtsfortbildung und Rechtseinheit zu entscheidende Problematik nicht erkennen, wenngleich diese für das Oberverwaltungsgericht aufgrund der hohen Spezialisierung auf der Hand liegen wird. Genügt der Berufungszulassungsantrag in Bezug auf den geltend gemachten, aber nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts nicht vorliegenden Berufungszulassungsgrund dem Darlegungserfordernis, so kommt bei einer offen zu Tage tretenden grundsätzlichen Bedeutung aus einem anderen Grund oder einer offen 1035 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juli 2001, – NC 9 S 2/01 –, NVwZ-RR 2002, 75 – 76; Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124a Rn. 54 und 83. 1036 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Juli 2001, – NC 9 S 2/01 –, NVwZ-RR 2002, 75 – 76. 1037 Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 580. 1038 Für das Revisionsrecht Bogumil, Revisionszulassungsverfahren, Seite 456. 1039 Für das Revisionsrecht Bogumil, Revisionszulassungsverfahren, Seite 456. 1040 Für das Revisionsrecht Bogumil, Revisionszulassungsverfahren, Seite 456.

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

249

zu Tage tretenden Divergenz zu einer anderen als der bezeichneten Entscheidung eine Umdeutung in Betracht. oo) Empirische Bewertung der Rechtsprechung zu einer Umdeutung Obwohl die Möglichkeit einer Umdeutung der geltend gemachten Berufungszulassungsgründe in Literatur und Rechtsprechung diskutiert wird, spricht die Anzahl der eine Umdeutung behandelnden Judikate – eine Juris-Recherche zur Norm des § 124 VwGO zusammen mit dem verbundenen Schlagwort „Umdeutung“ ergibt nur rund 150 Treffer, deren Mehrzahl sich auf eine Umdeutung eines Berufungsantrages in einen Antrag auf Zulassung der Berufung bezieht, die nach herrschender Meinung 1041 regelmäßig nicht möglich ist – auf den ersten Blick dafür, dass die Oberverwaltungsgerichte von diesem Instrument nur zurückhaltend Gebrauch machen. Insoweit ist indes zu berücksichtigen, dass eine dem Berufungszulassungsantragssteller günstig vorgenommene Umdeutung durch das Oberverwaltungsgericht zu einer positiven Zulassungsentscheidung führt; das Berufungszulassungsverfahren wird dann gemäß § 124a Abs. 5 Satz 3 VwGO als Berufungsverfahren fortgeführt, ohne dass es einen denklogischen Grund geben würde, dass die ergehende Berufungsentscheidung einen Hinweis auf die im Berufungszulassungs1041 Bayerischer VGH, Beschluss vom 2. März 2009 –10 B 09.30 –, Juris, unter Hinweis darauf, dass eine Umdeutung des unzulässigen Rechtsmittels der Berufung in das zulässige Rechtsmittel eines Antrags auf Zulassung der Berufung nach § 124a Abs. 4 VwGO nach Ablauf der Rechtsmittelfrist grundsätzlich dann ausscheide, wenn die unzulässige Berufung von anwaltlich vertretenen Rechtsmittelführern eingelegt worden sei und der Schriftsatz keine Anhaltspunkte für die Absicht des Rechtsmittelführers enthalte, entgegen der Erklärung die Zulassung der Berufung zu beantragen; insoweit setze der Anwaltszwang des § 67 VwGO der Zulässigkeit einer Umdeutung Grenzen. Auch in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 6. Januar 2009, – BVerwG 10 B 55.08 –, Juris) ist geklärt, dass die unzulässige Berufung eines anwaltlich vertretenen Rechtsmittelführers ohne entsprechenden Anhalt nicht als (fristwahrender) Antrag auf Zulassung der Berufung angesehen werden kann, wenn sich aus diesem nicht Anhaltspunkte für eine Absicht des Rechtsmittelführers ergäben, entgegen dieser Erklärung die Zulassung der Berufung zu beantragen. Derartiges könne insbesondere nicht aus dem – in Berufungsverfahren üblichen – Hinweis gefolgert werden, dass Anträge und Begründung einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten blieben. Vgl. hierzu auch BVerwG, Beschluss vom 12. März 1998, – BVerwG 2 B 20.98 –, NVwZ 1999, 641; BVerwG, Beschluss vom 9. Februar 2005, – BVerwG 6 B 75.04 –, Juris; BVerwG, Beschluss vom 20. Juni 2005, – BVerwG 6 B 54.05 –, Juris, sowie zu dem Ausschluss einer Umdeutung eines unzulässigen Rechtsmittels in das zulässige Rechtsmittel auch bei einer Vertretung im Rahmen des sogenannten Behördenprivilegs des § 67 Abs. 4 VwGO BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 2005, – BVerwG 2 B 104.04 –, Buchholz 310 § 67 VwGO Nr. 103; Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124a Rn. 18 und 52.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

verfahren erfolgte, die Berufungsentscheidung erst ermöglichende Umdeutung enthält. Verlässliche Anhaltspunkte darüber, in welchem Maße von der Möglichkeit einer Umdeutung durch die Oberverwaltungsgerichte Gebrauch gemacht wird, sind damit nicht zu ermitteln, zumal die Berufung gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts zulassende Judikate selten veröffentlicht werden 1042 und die anschließende Berufungsentscheidung nicht auf die Prüfung derjenigen Gründe beschränkt ist, die zu einer Zulassung der Berufung geführt haben, also keine Notwendigkeit besteht, in einer Berufungsentscheidung den diese erst ermöglichenden Verfahrensgang zu rekapitulieren. d) Weiter anzuerkennende Fallgruppen einer Umdeutung Über diese in Rechtsprechung und Literatur diskutierten Möglichkeiten einer Umdeutung hinaus sind weitere Umdeutungsmöglichkeiten anzuerkennen, etwa die Möglichkeit einer Umdeutung des Vorbringens zu einer Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO in die Geltendmachung besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO. Denn das Prinzip der Umdeutung ist nicht enumerativ auf die in Rechtsprechung und Lehre angewandten Konstellationen beschränkt. Die in Rechtsprechung und Lehre angewandten Konstellationen zeigen allein auf, dass das geltende Prozessrecht einer Umdeutung nicht entgegensteht und dass Verfassungsrecht sie in zahlreichen Konstellationen sogar zwingend gebietet. Insbesondere unter dem Blickwinkel des Art. 19 Abs. 4 GG ist eine großzügige Umdeutungspraxis geboten 1043. In dem hier interessierenden unionsrechtlichen Zusammenhang ist indes allein die Feststellung entscheidend, dass das geltende Prozessrecht bei allein nach nationalem Recht zu entscheidenden öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten eine Umdeutung hinreichend dargelegter, aber nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts nicht vorliegender in offen zu Tage tretende, aber nicht dargelegte Berufungszulassungsgründe nicht hindert. e) Zusammenfassung Die unter dem Blickwinkel des Art. 19 Abs. 4 GG von Rechtsprechung und Lehre anerkannten Möglichkeiten einer Umdeutung stellen sich zusammenfassend wie folgt dar:

1042 1043

Uechtritz, 6. VwGO-Novelle, Seite 1218. Kopp / Schenke, VwGO, § 124 Rn. 7 d.

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe Umdeutung der dargelegten Gründe von → in

§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO

§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO

§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO

§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO

§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO

Wegen greifbarerer Gesetzeswidrigkeit

Umdeutung innerhalb des dargelegten Berufungszulassungsgrundes

+

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+

von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO

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251

§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO

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+

§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO

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+

§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO

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§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO

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+

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Nach der hier vertretenen Auffassung muss sogar eine Umdeutung dargelegter, aber nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts nicht vorliegender Berufungszulassungsgründe in nicht hinreichend dargelegte, aber tatsächlich objektiv und ohne weitere Ermittlungen erkennbar vorliegende Berufungszulassungsgründe durch das Oberverwaltungsgericht jedenfalls dann erfolgen, wenn Ausgangsoder Zielpunkt im Sinne obiger Graphik der Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO oder der der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ist. Denn jedenfalls in derartigen Konstellationen hat das Berufungszulassungsverfahren nach den §§ 124, 124a VwGO – wie gezeigt – nicht nur den Entlastungszweck für das Oberverwaltungsgericht, sondern insbesondere auch den Sinn und Zweck, materiell gerechte Entscheidungen zu gewährleisten. Denn nur durch die Heranziehung der Rechtsfigur der Umdeutung kann ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG durch die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts im Berufungszulassungsverfahren vermieden werden: Bei dem Vorliegen der Voraussetzungen einer Umdeutung ist diese nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

„vorzunehmen“ 1044, also von Amts wegen zu prüfen und – dem Berufungszulassungsantragssteller günstig – durchzuführen. f) Verhältnis der Umdeutung zu dem Darlegungsgebot Ist nach der zuvor dargestellten Begriffsbestimmung eine Umdeutung dadurch gekennzeichnet, dass nach der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts ein geltend gemachter und hinreichend dargelegter Zulassungsgrund nicht gegeben ist, jedoch andererseits die Voraussetzungen eines überhaupt nicht oder nicht explizit geltend gemachten anderen Berufungszulassungsgrundes, oder ein geltend gemachter Zulassungsgrund nicht mit der dargelegten, aber aus einer anderen Begründung heraus gegeben ist, so ist ferner zu bestimmen, welche Anforderungen in einem derartigen Fall an die Darlegung im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO zu stellen sind. Die Rechtsprechung – insbesondere die des Bundesverfassungsgerichts – zu den Anforderungen, die in dem Falle einer Umdeutung an die Erfüllung des Darlegungsgebotes nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO zu stellen sind, soll im Folgenden analysiert werden. Im Jahr 2000 hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit einer Verfassungsbeschwerde gegen eine die Zulassung der Berufung gegen ein Urteil des VG Karlsruhe im Spätaussiedlerrecht ablehnende Entscheidung des VGH BadenWürttemberg zu befassen. In dem der Entscheidung des VG Karlsruhe 1045 zugrundeliegenden Fall begehrten die Kläger von dem Beklagten die Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung. Die Kläger stammten aus der früheren Sowjetunion, die sie 1994 verließen. Der Kläger zu 1. war dort als (Volks-)Richter tätig. Die Klägerin zu 2. war seine Ehefrau, die Kläger zu 3. bis 6. die Kinder der Kläger zu 1. und 2. Die Anträge der Kläger auf Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung lehnte der Beklagte ab. Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos. Die Klagen wies das Verwaltungsgericht Karlsruhe durch Urteil vom 22. Mai 1998 teilweise als unzulässig, teilweise als unbegründet ab. Soweit hier interessant wurde einem Anspruch des Klägers zu 1. entgegengehalten, dass diesem der Anspruchsausschluss nach § 5 Bundesvertriebenengesetz 1046 entgegenstehe. Nach Ziffer 1 lit. d) dieser Norm erwirbt unter anderem derjenige nicht die 1044

BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2000, – 2 BvR 2125/97 –, DVBl. 2000, 407. VG Karlsruhe, Urteil vom 22. Mai 1998, – 3 K 4161/95 –, Veröffentlichung nicht bekannt. 1046 Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebengesetz), in der Fassung des Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes vom 21. Dezember 1992, BGBl. I, 2094. 1045

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

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Rechtsstellung eines Vertriebenen, der eine herausgehobene politische oder berufliche Stellung innegehabt hat, die er nur durch eine besondere Bindung an das totalitäre System erreichen konnte, oder der von einer entsprechenden Stellung seiner Eltern, seines nichtdeutschen Ehegatten oder dessen Eltern begünstigt wurde. Das Verwaltungsgericht ging insoweit davon aus, dass dem Kläger zu 1. ein Anspruch auf eine Spätaussiedlerbescheinigung deshalb nicht zustehe, weil er als Richter eine herausgehobene politische und berufliche Stellung innegehabt habe. Die Kläger zu 2. bis 4. hätten ebenfalls keinen Anspruch auf die erstrebte Bescheinigung, weil sie aufgrund der Position des Klägers zu 1. gleichfalls begünstigt gewesen seien. Im Laufe des Berufungszulasungsverfahrens wurde indes die den Anspruch der Kläger nach der Ansicht des Verwaltungsgerichts ausschließende Norm des § 5 Bundesvertriebenengesetzes mit Wirkung vom 1. Januar 2000 ersatzlos aufgehoben 1047. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist im Vertriebenenrecht bei Verpflichtungsklagen das im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung geltende Recht anzuwenden 1048: Denn nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ergibt sich aus dem Prozessrecht, dass ein Verpflichtungsbegehren nur Erfolg haben kann, wenn in dem Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ein Anspruch auf Erlass des erstrebten Verwaltungsakts besteht. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich nach materiellem Recht, dem nicht nur die tatbestandlichen Voraussetzungen des Anspruchs selbst, sondern auch die Antwort auf die Frage zu entnehmen ist, zu welchem Zeitpunkt diese Voraussetzungen erfüllt sein müssen 1049. Nach den materiellrechtlichen Vorschriften des Bundesvertriebenengesetzes sei jedoch neues Recht maßgebend 1050. Zudem hatten die Berufungszulassungsantragssteller den Verwaltungsgerichtshof ausweislich der Gründe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsbeschwerdeverfahren 1051 auch auf eine divergierende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, die im Laufe des Berufungszulassungsverfahrens ergangen war, hingewiesen. Nach dieser Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. März 1999 hinderte die Statusausschlussvorschrift des § 5 Nr. 1 lit. d) BVFG einen deutschen Volkszugehörigen nicht, innerhalb der 1047

Art 6 Nr. 1 lit. a des Gesetzes zur Sanierung des Bundeshaushalts (Haushaltssanierungsgesetz), BGBl. I 1999, Seite 2534. 1048 BVerwG, Urteil vom 29. August 1995, – BVerwG 9 C 391.94 –, BVerwGE 99, 133 – 149. 1049 BVerwG, Urteil vom 3. November 1987, – BVerwG 9 C 254.86 –, BVerwGE 78, 243 [244]. 1050 BVerwG, Urteil vom 29. August 1995, – BVerwG 9 C 391.94 –, BVerwGE 99, 133 – 149. 1051 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, NVwZ 2000, 1163 – 1165 erwähnt diesen Umstand.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Staatsverwaltung, der Armee und der staatlich gelenkten Wirtschaft der früheren Sowjetunion nach seinen Kräften und Fähigkeiten auch eine herausgehobene berufliche Stellung zu erreichen, eine besondere Bindung an das totalitäre System im Sinne des § 5 Nr. 1 lit. d) BVFG sei nicht bereits bei einer lediglich passiven Mitgliedschaft in der früheren KPdSU gegeben. Ferner nahm das Bundesverwaltungsgericht an, dass für einen Anspruchssausschluss die besondere Systembindung für das Erreichen der herausgehobenen Stellung kausal gewesen sein müsse, was bei Personen, die als Spezialisten zu der durch qualifiziertes Fachwissen gekennzeichneten sog. Intelligenz der früheren Sowjetunion gehörten, in der Regel nicht angenommen werden könne. Nach den bisherigen Feststellungen hätte jedenfalls die Aufhebung der den Anspruch ausschließenden Vorschrift im Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, eventuell auch die Divergenz zu der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. August 1995 – nach hier vertretener Auffassung jedenfalls im Wege einer Umdeutung – eine Zulassung der Berufung getragen, wenn zumindest ein Berufungszulassungsgrund hinreichend im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt gewesen wäre. In der mit der Verfassungsbeschwerde gerügten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 28. März 2000 1052 hatten die Zulassungsantragssteller ihre Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO jedoch allein mit dem Hinweis auf die entgegenstehende Entscheidung eines anderen Verwaltungsgerichts begründet, ohne darzulegen, dass und weshalb die dieser Entscheidung zugrunde liegenden Erwägungen an der Richtigkeit des vorliegenden Urteils Zweifel erweckten. Zu ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) hatte der Verwaltungsgerichtshof die Darlegungserfordernisse im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO als nicht erfüllt angesehen, da die Berufungszulassungsantragssteller sich nur auf eine abweichende verwaltungsgerichtliche Entscheidung berufen hätten, ohne darzulegen, dass die Komplexität der Sache messbar über das in verwaltungsgerichtlichen Verfahren der jeweiligen Eigenart Übliche hinausgehe. Dem Darlegungsgebot sei auch nicht genügt worden, soweit die Beschwerdeführer die Grundsätzlichkeit der Rechtssache behauptet hätten (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), da sie allein einen Hinweis auf die divergierende Entscheidung eines anderen Verwaltungsgerichts gegeben hätten. Weitere Erwägungen hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg 1053 nicht angestellt und von einer weitergehenden Begründung abgesehen. 1052

VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. März 2000, – 6 S 1718/98 –, Veröffentlichung nicht bekannt. 1053 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. März 2000, – 6 S 1718/98 –, Veröffentlichung nicht bekannt.

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

255

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg ist somit dadurch gekennzeichnet, dass dieser die Zulassung der Berufung allein aus der Nichterfüllung des Darlegungsgebots heraus ablehnt und die von den Klägern – ausweislich der Gründe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – in dem Berufungszulassungsverfahren benannte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ebenso wenig in seine Erwägungen mit einbezogen hat wie die den Klägern günstige Rechtsänderung, den Wegfall des § 5 Bundesvertriebenengesetz a.F. In seiner Entscheidung über die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht 1054 ausgeführt, dass eine Annahme der Verfassungsbeschwerde auch nicht deshalb geboten sei, weil das von den Klägern angeführte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. März 1999 1055 den Verwaltungsgerichtshof nicht dazu veranlasst habe, die Berufung wegen Divergenz zuzulassen. Zwar sei „es verfassungsrechtlich bedenklich, wenn ein zunächst mit grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache begründetes Rechtsmittel nicht wegen Abweichung der zur Überprüfung gestellten Entscheidung zugelassen wird, falls nachträglich eine beachtliche Divergenzentscheidung ergeht, durch die die ursprünglich grundsätzlich bedeutsam gewesene Rechtsfrage geklärt worden ist“, jedoch gelte dies nur, „wenn das auf den Gesichtspunkt der grundsätzlichen Bedeutung gestützte Rechtsmittel zulässig“ gewesen sei, woran es vorliegend wegen der Nichterfüllung des Darlegungserfordernisses gefehlt habe. Hieraus ist der die obigen Ausführungen bestätigende Schluss zu ziehen, dass eine Umdeutung nur dann in Betracht kommt, wenn als Ausgangspunkt einer Umdeutung ein Berufungszulassungsgrund hinreichend dargelegt und der Berufungszulassungsantrag mithin zulässig ist, der geltend gemachte Berufungszulassungsgrund aber nicht vorliegt. Demgegenüber bedeuten diese Ausführungen gerade nicht, dass auch der durch Umdeutung erst gewonnene Berufungszulassungsgrund dargelegt sein muss. Dies geht schon gedanklich nicht, da der Berufungszulassungsantrag diesen ja gerade nicht in den Blick genommen hat, er vielmehr erst durch die Umdeutung gleichsam „gewonnen“ wird 1056. Bestätigt wird dieses Ergebnis zu den Anforderungen an die Darlegung bei dem verfassungsrechtlich aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Gebot einer Umdeu1054

BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000, – 1 BvR 830/00 –, NVwZ 2000, 1163 – 1165. 1055 – BVerwG 5 C 2.99 –, BVerwGE 108, 340. 1056 Dies verkennt Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124a Rn. 78 und 87, der verlangt, dass auch offensichtlich zu Tage tretende Berufungszulassungsgründe „zumindest knapp angesprochen werden“ müssten, und der damit das Darlegungserfordernis alleine an dem Beschleunigungszweck des Berufungszulassungsverfahrens ausrichtet, und der damit übersieht, dass die Berücksichtigung offen zu Tage tretender Berufungszulassungsgründe gerade den höchsten Beschleunigungseffekt und zudem noch die höchste Einzelfallgerechtigkeit impliziert.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

tung der Berufungszulassungsgründe durch die Heranziehung älterer Judikate des Bundesverfassungsgerichts. Im Jahre 1993 hat das Bundesverfassungsgericht insoweit zu der Problematik der fehlenden Darlegung des im Wege der Umdeutung anzunehmenden Berufungszulassungsgrunds bei einer Umdeutung des Vorbringens zu einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache in das Vorliegen des Berufungsgrundes der Divergenz – allerdings unter dem Topos der Berufungszulassung nach § 78 Abs. 3 AsylVfG (§ 32 AsylVfG a.F.) – in dem Fall, dass während des Berufungszulassungsverfahrens eine grundsätzliche Klärung der streitigen Rechtsfrage erfolgt, aber die angefochtene Entscheidung hierzu im Widerspruch steht, ausgeführt, dass es nicht erheblich sei, dass die Beschwerde nicht auf die Behauptung der Abweichung gegründet gewesen sei. Denn in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei anerkannt, dass die Revision bei einer auf grundsätzliche Bedeutung gestützten Beschwerde auch ohne Erfüllung der Bezeichnungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO wegen Divergenz zugelassen werden müsse, wenn sich die Beschwerde ursprünglich wegen grundsätzlicher Bedeutung gerechtfertigt habe, dieser Zulassungsgrund aber nachträglich durch eine (divergierende) Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts entfallen sei. Es sei kein Grund dafür ersichtlich, die Berufungszulassung nach strengeren Maßstäben zu beurteilen als die Revisionszulassung, sodass objektiv die Voraussetzungen für eine Divergenzzulassung vorgelegen hätten. „Dass in der Beschwerde die zum Zeitpunkt des Ablaufs der Beschwerdefrist objektiv schon vorliegende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts noch nicht erwähnt war, steht nicht entgegen, zumal das Urteil zu diesem Zeitpunkt – soweit ersichtlich – noch nicht veröffentlicht war.“ 1057 Für das Bundesverfassungsgericht steht damit die fehlende Darlegung der in eine Divergenzzulassung umgedeuteten Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung dieser nicht entgegen; eine Darlegung im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ist in einem solchen Fall vielmehr weder möglich noch erforderlich. Allerdings muss der Berufungszulassungsantrag zulässig sein, also hinreichende Darlegungen eines (anderen) und – nach der hier vertretenen Auffassung als Ausgangspunkt der Umdeutung in Betracht kommenden – Berufungszulassungsgrundes im Sinne von § 124 Abs. 2 VwGO enthalten. Ähnlich sieht es das Bundesverwaltungsgericht 1058 für den – revisionsrechtlichen – Fall, dass etwa eine geltend gemachte und dargelegte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nach dem Eingang der Nichtzulassungsbeschwerde durch das Ergehen einer zu der berufungsgerichtlichen Entscheidung divergierenden Entscheidung des Bundesver1057

BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1993, – 2 BvR 1058/92, 2 BvR 1059/92 –, NVwZ 1993, 465 f. zu § 32 AsylVfG a.F. 1058 BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 1965, – BVerwG B III 10.65 –, DVBl. 1965, 841.

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

257

waltungsgerichts wegfallen würde, andererseits aber die aus dem zwischenzeitlich ergangenen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts resultierende Divergenz bestehen bleiben würde, da sie nicht geltend gemacht und damit denklogisch auch nicht hinreichend dargelegt wurde. Nach dem Bundesverwaltungsgericht wäre es sehr formalistisch, aus diesem Grund die Zulassung der Revision zu versagen, sodass das Bundesverwaltungsgericht 1059 die Bezeichnung der divergierenden Entscheidung in der Revisionszulassungsschrift gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO als entbehrlich ansieht. In einem derartigen Fall würde „das Verharren auf der Erfüllung dieser Vorschrift die Aufgabe des Verfahrensrechts vereiteln, den Rechtsfrieden wiederherzustellen und Entscheidungen, die mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht im Einklang stehen, nach Möglichkeit nicht rechtskräftig werden zu lassen“ 1060. Der Austausch der Zulassungsgründe der Divergenzrevision als einem Unterfall der Grundsatzrevision diene der Wahrung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit; dieses Ziel gehe einer durch das Zulassungsverfahren bezweckten Entlastung des Revisionsgerichts vor 1061. Auf das Berufungszulassungsverfahren übertragen bedeuten diese Grundsätze, dass bei einer geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO und deren Wegfall durch eine höchstrichterliche Klärung während des Berufungszulassungsverfahrens eine Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO unter Verzicht auf die Darlegungsanforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO jedenfalls dann in Betracht kommt, wenn das verwaltungsgerichtliche Urteil von der Divergenzentscheidung zu Gunsten des Zulassungsantragstellers abweicht. Fraglich ist dann, ob dieses Ergebnis auf diejenigen Fälle zu beschränken ist, in denen die Divergenzentscheidung erst nach dem Erlass des angegriffenen Urteils ergangen ist, oder ob jedwede Divergenzentscheidung, die dem Oberverwaltungsgericht bekannt ist, zu berücksichtigen ist. Für die letztgenannte Sicht spricht, dass es an einem sachlichen Differenzierungskriterium fehlt, das eine derartige Differenzierung tragen könnte. Vielmehr sind der Sinn und Zweck der Wahrung des Rechtsfriedens und der Rechtseinheitlichkeit so zentral für die Gewährung effektiven Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG, dass diesen Zwecken auch insoweit der Vorrang vor den Entlastungszwecken des Berufungszulassungsverfahrens gebührt.

1059

841.

1060

841.

1061

841.

BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 1965, – BVerwG B III 10.65 –, DVBl. 1965, BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 1965, – BVerwG B III 10.65 –, DVBl. 1965, BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 1965, – BVerwG B III 10.65 –, DVBl. 1965,

258

III. Das Berufungszulassungsverfahren

Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass dann das Darlegungsgebot entgegen seines klaren Wortlauts teilweise leer liefe. Denn insoweit ist entscheidend, dass die hier vorzunehmende Umdeutung ja gedanklich und begrifflich Berufungszulassungsgründe als von dem Zulassungsantragsteller dargelegt voraussetzt und der Berufungszulassungsantragssteller nicht (contra legem) davon gänzlich freigestellt wird, Darlegungen zu einem Vorliegen von Berufungszulassungsgründen in dem Sinne von § 124 Abs. 2 VwGO zu erbringen und sich gedanklich und inhaltlich hinreichend mit der angefochtenen Entscheidung auseinander zu setzten. Aus dem übergeordneten verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt des Art. 19 Abs. 4 GG heraus wird allein auf die Kongruenz zwischen den Darlegungen und den von dem Oberverwaltungsgericht zu berücksichtigenden Berufungszulassungsgründen verzichtet. Auch in dem Falle einer derartigen Umdeutung liegen daher der Sache nach Darlegungen – wenn auch zu einem anders bezeichneten oder zu einem anderen Zulassungsgrund – vor. Für die übrigen oben beschriebenen Fallkonstellationen einer Umdeutung ist ebenfalls zu fordern, dass der umgedeutete Berufungszulassungsgrund so in dem Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 dargelegt ist, dass bei seinem Vorliegen die Berufung zugelassen werden könnte. Dem Darlegungsgebot im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO wird in allen Fällen einer Umdeutung dadurch genügt, dass der – aus Sicht des Oberverwaltungsgerichts objektiv nicht vorliegende – Berufungszulassungsgrund, der gedanklicher Ausgangspunkt der vorzunehmenden Umdeutung ist, hinreichend im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt worden und der Berufungszulassungsantrag damit überhaupt den formellen Anforderungen genügend sein muss 1062. Fehlt es etwa an Darlegungen überhaupt oder an hinreichenden Darlegungen zu dem / den geltend gemachten Berufungszulassungsgründen, so ist schon aus diesem Grunde der Berufungszulassungsantrag abzulehnen, und so fehlt es damit auch an dem Ausgangs- und Anknüpfungspunkt einer Umdeutung, mag ein Berufungszulassungsgrund auch objektiv erkennbar vorliegen oder für das Oberverwaltungsgericht offen zu Tage treten. In einem (Extrem-)Fall, in dem etwa gar keine Berufungszulassungsgründe dargelegt werden, kann auch das objektive und deutlich zu Tage tretende Vorliegen eines Berufungszulassungsgrundes nicht über die Rechtsfigur der Umdeutung Gegenstand der Rechtsfindung durch das Oberverwaltungsgericht werden, da es eben an dem Zuordnungssubjekt einer Umdeutung – dem hinreichend dargelegten Berufungszulassungsgrund – fehlt. Eine solche Handhabung des Darlegungsgebotes aus § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO würde dieses vielmehr leer laufen lassen und gegen das Gesetz verstoßen.

1062 Bayerischer VGH, Beschluss vom 18. August 2008, – 19 ZB 07.931 –, Juris [Rn. 13].

3. Bindung des Oberverwaltungsgerichts an die Zulassungsgründe

259

Demgegenüber ist als Voraussetzung einer Umdeutung nicht zu fordern, dass der durch die Umdeutung zu gewinnende Berufungszulassungsgrund in dem Berufungszulassungsantrag „zumindest seinem sachlichen Gehalt nach in der gehörigen Form dargelegt worden ist“ 1063. Denn dies würde den Wesensgehalt einer Umdeutung im Sinne der oben gegebenen Definition verkennen und auf einen bloßen Verzicht auf die – nach hier vertretener Auffassung ohnehin nicht notwendige – Benennung des Zulassungsgrundes hinauslaufen. Eine Umdeutung kommt damit in Betracht und ist daher von Amts wegen dann vorzunehmen, wenn aus Sicht des Oberverwaltungsgerichts (erstens) ein nicht dargelegter Berufungszulassungsgrund deutlich zu Tage tritt, (zweitens) mindestens einer der in § 124 Abs. 2 VwGO genannten Berufungszulassungsgründe als gedanklicher Ausgangspunkt einer Umdeutung hinreichend im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt ist, und sich dieser (drittens) ferner im Sinne der oben wiedergegebenen Zusammenfassung eignet, in den aus Sicht des Oberverwaltungsgerichts offen zu Tage tretenden Berufungszulassungsgrund umgedeutet zu werden. Die Möglichkeit einer Umdeutung ist auch mit dem umschriebenen Sinn und Zweck des Darlegungsgebotes des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO vereinbar: So ist auch in dem Fall einer Umdeutung nach dem beschriebenen Maßstab gewährleistet, dass sich der Berufungszulassungsantragssteller beziehungsweise sein Bevollmächtigter mit der angefochtenen Entscheidung inhaltlich auseinandersetzt, denn eine Umdeutung kommt nur dann in Betracht, wenn der Antrag auf Zulassung der Berufung im Übrigen zulässig ist, das heißt zumindest einen Berufungszulassungsgrund hinreichend darlegt. Zum anderen wird auch der weitere Sinn und Zweck des Berufungszulassungsverfahren, die Entlastung der Oberverwaltungsgerichte gewährleistet, da allein solche nicht dargelegten Berufungszulassungsgründe von dem Oberverwaltungsgericht in dem Rahmen einer Umdeutung berücksichtigt werden, die offen zu Tage treten, die also keinen weiteren Prüfungsaufwand des Oberverwaltungsgerichts verursachen. Vielmehr wird bei einer Umdeutung der Prüfungsaufwand im Berufungszulassungsverfahren durch die Berücksichtigung allein des offen zu Tage tretenden Berufungszulassungsgrundes sogar verkürzt. In dem hier interessierenden unionsrechtlichen Zusammenhang ist zu betonen, dass das geltende nationale Prozessrecht dem Oberverwaltungsgericht die Möglichkeit einer Umdeutung unter den beschriebenen Voraussetzungen eröffnet, jedenfalls nicht ausschließt, und in bestimmten Fällen das Oberverwaltungsgericht wegen der Ausstrahlungswirkung der Gewährung effektiven Rechtsschutzes 1063 Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 13. Januar 2009, – 11 LA 471/08 –, Juris, für den Fall der Umdeutung des Vorbringens zu einer Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO in die Rüge der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.

260

III. Das Berufungszulassungsverfahren

aus Art. 19 Abs. 4 GG sogar kraft nationalen Verfassungs- und Verwaltungsprozessrechts zu einer Umdeutung verpflichtet ist. g) Gewährung rechtlichen Gehörs bei einer Umdeutung Bei einer Berücksichtigung für das Oberverwaltungsgericht offen zu Tage tretender, aber nicht geltend gemachter Berufungszulassungsgründe ist den übrigen Verfahrensbeteiligten entsprechend den allgemeinen Grundsätzen rechtliches Gehör zu gewähren 1064. Der Senat muss also vor seiner Entscheidung den aus seiner Sicht offen zu Tage tretenden Berufungszulassungsgrund sowie die Zulässigkeit des Berufungszulassungsantrages den übrigen Beteiligten zur Kenntnisund Stellungnahmemöglichkeit geben. Denn Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet den Verfahrensbeteiligten, dass sie Gelegenheit erhalten, sich vor dem Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu dem zu Grunde zu legenden Sachverhalt zu äußern und dadurch die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen 1065.

4. Unterschiede zwischen einer Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht und einer Zulassung durch das Oberverwaltungsgericht a) Beschränkte Anzahl der Zulassungsgründe Nach § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Verwaltungsgericht – dies sind sowohl die Kammer als auch der Einzelrichter in dem Sinne des § 6 Abs. 1 VwGO und in dem Sinne des § 87a Abs. 2 und 3 VwGO 1066 – nur aus den Gründen des § 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO heraus die Berufung zulassen; dies liegt auf der Hand, da das Verwaltungsgericht ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des (seines eigenen) Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht haben wird, besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aus seiner Sicht durch den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO aufgefangen werden und das Verwaltungsgericht Verfahrensfehler aus 1064 Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 581; Redeker, Rechtsmittelzulassung, Seite 10 mit Fußnote 50. 1065 BVerfG, Beschluss vom 15. Februar 2011, – 1 BvR 980/10 –, NVwZ-RR 2011, 460 [Rn. 13]. 1066 BVerwG, Urteil vom 29. Juli 2004, – BVerwG 5 C 65.03 –, BVerwGE 121, 292 – 296; Seibert, Berufungszulassung durch den Einzelrichter.

4. Unterschiede zwischen Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht

261

seiner Sicht nicht begeht (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) 1067. Vielmehr muss das Verwaltungsgericht die besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache selbst bewältigen und kann sie nicht zu einer Klärung an das Oberverwaltungsgericht „nach oben abgeben“ 1068; es ist sogar verpflichtet, von der Entscheidung eines anderen Gerichts abzuweichen, wenn es diese für falsch hält 1069. b) Das Darlegungserfordernis in einem Berufungszulassungsverfahren Das Verwaltungsgericht kann die Berufung zulassen, ohne dies zu begründen; das Verwaltungsgericht muss hierbei von Amts wegen prüfen, ob die gesetzlichen Berufungszulassungsgründe gegeben sind 1070, hat bei deren Vorliegen kein Ermessen 1071 und hat demzufolge die Berufung zuzulassen 1072. Eine Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht eröffnet daher dem Rechtsmittelführer den Berufungsrechtszug und damit gemäß § 128 Satz 1 VwGO eine vollständige Nachprüfung des angefochtenen Urteils in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht: Das Oberverwaltungsgericht ist durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts über die Zulassung der Berufung in seinem Prüfungsprogramm nicht beschränkt 1073 und kann und muss im Berufungsverfahren auch über den von dem Verwaltungsgericht gesehenen Berufungszulassungsgrund hinaus das Urteil überprüfen 1074. Demgegenüber ist eine Zulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht von der Überwindung der Zulassungshürde 1075 und hier insbesondere des – wie gezeigt in der Praxis mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbundenen – Darlegungsgebots im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO abhängig.

1067 Vgl. für die ZPO Piekenbrock / Schulze, Zulassung der Revision, Seite 913 und für die Zulassungsberufung nach der VwGO dort Seite 914. 1068 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 2. 1069 Vgl. für die ZPO Piekenbrock / Schulze, Zulassung der Revision, Seite 913. 1070 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 2. 1071 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 2; Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 6. 1072 Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 3, 4. 1073 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 5. 1074 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 5. 1075 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 1.

262

III. Das Berufungszulassungsverfahren

c) Berücksichtigung zwischen dem Urteil des Verwaltungsgerichts und dem Ende der Antragsfrist eintretender Änderungen Während – wie ausführlich dargestellt – nach der hier abgelehnten, aber bisher überwiegenden Meinung Tatsachen- und Rechtsänderungen nach Ablauf der zweimonatigen Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nur in Ausnahmefällen berücksichtigt wurden, berücksichtigt das Oberverwaltungsgericht bei einer von dem Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung gemäß § 128 Satz 2 VwGO auch neue Tatsachen und Beweismittel; eine Präklusion findet nur ganz ausnahmsweise unter den engen Voraussetzungen des § 128a VwGO statt. Ferner ist die gesetzliche Frist zur Darlegung der Berufungszulassungsgründe eine Ausschlussfrist und gemäß § 57 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit § 224 Abs. 2 ZPO einer Verlängerung nicht zugänglich 1076. Demgegenüber kann die Frist für die Begründung einer von dem Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung gemäß § 124a Abs. 3 Satz 3 VwGO von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden 1077; auch stellt sie regelmäßig keine Präklusionsfrist dar. d) Vertretungszwang Bezüglich des Vertretungszwangs bestehen keine wesentlichen Unterschiede. Gemäß § 67 Abs. 4 Satz 1 VwGO müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, unter anderem vor dem Oberverwaltungsgericht durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt nach Satz 2 der Norm auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor einem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird. Da durch den Antrag auf Zulassung der Berufung, obwohl dieser noch bei dem Verwaltungsgericht zu stellen ist, das Berufungszulassungsverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird 1078, besteht auch insoweit Vertretungszwang. e) Unterschiede in den Begründungsanforderungen In den Anforderungen an die Begründung einer von dem Verwaltungsgericht nach § 124a Abs. 1 VwGO zu einer von dem Oberverwaltungsgericht nach § 124a Abs. 5 VwGO zugelassenen Berufung werden von der Rechtsprechung wesentliche Unterschiede gemacht. 1076 1077 1078

Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 28. Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 28. Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 27.

4. Unterschiede zwischen Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht

263

aa) Anforderungen an die Begründung einer von dem Verwaltungsgericht nach § 124a Abs. 1 VwGO in seinem Urteil zugelassenen Berufung Nach § 124a Abs. 3 S. 1 VwGO ist die vom Verwaltungsgericht in seinem Urteil zugelassene Berufung innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Zu Form und Inhalt dieser Begründung trifft § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO nähere Bestimmungen. Die Begründung muss hiernach einen bestimmten Antrag sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) enthalten. Diese durch das Sechste Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 1. November 1996 eingeführte Begründungspflicht orientiert sich nach der Gesetzesbegründung 1079 an der entsprechenden Regelung des § 519 Abs. 3 ZPO 1080 für die Berufung im Zivilprozess. 1079

BT-Ds. 13/3993, Seite 13 zu Nummer 16. Heute „§ 520 ZPO Berufungsbegründung (1) Der Berufungskläger muss die Berufung begründen. (2) Die Frist für die Berufungsbegründung beträgt zwei Monate und beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung. Die Frist kann auf Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden, wenn der Gegner einwilligt. Ohne Einwilligung kann die Frist um bis zu einem Monat verlängert werden, wenn nach freier Überzeugung des Vorsitzenden der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder wenn der Berufungskläger erhebliche Gründe darlegt. (3) Die Berufungsbegründung ist, sofern sie nicht bereits in der Berufungsschrift enthalten ist, in einem Schriftsatz bei dem Berufungsgericht einzureichen. Die Berufungsbegründung muss enthalten: 1. die Erklärung, inwieweit das Urteil angefochten wird und welche Abänderungen des Urteils beantragt werden (Berufungsanträge); 2. die Bezeichnung der Umstände, aus denen sich die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergibt; 3. die Bezeichnung konkreter Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten; 4. die Bezeichnung der neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel sowie der Tatsachen, auf Grund derer die neuen Angriffs- und Verteidigungsmittel nach § 531 Abs. 2 zuzulassen sind. (4) Die Berufungsbegründung soll ferner enthalten: 1. die Angabe des Wertes des nicht in einer bestimmten Geldsumme bestehenden Beschwerdegegenstandes, wenn von ihm die Zulässigkeit der Berufung abhängt; 2. eine Äußerung dazu, ob einer Entscheidung der Sache durch den Einzelrichter Gründe entgegenstehen. (5) Die allgemeinen Vorschriften über die vorbereitenden Schriftsätze sind auch auf die Berufungsbegründung anzuwenden.“ 1080

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

Sinn und Zweck der Regelung des § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO ist es, eine Zusammenfassung und Beschränkung des Streitstoffs in der Berufungsinstanz zu erreichen und das Berufungsverfahren dadurch zu straffen und zu beschleunigen 1081. Daher muss die Begründung einerseits deutlich werden lassen, in welchen Punkten tatsächlicher oder rechtlicher Art das angefochtene Urteil nach Ansicht des Berufungsklägers unrichtig ist. Sie muss zum anderen im Einzelnen erkennen lassen, aus welchen Gründen der Rechtsmittelführer die tatsächliche und rechtliche Würdigung des verwaltungsgerichtlichen Urteils in den von ihm angegebenen Punkten für unrichtig hält. Soweit nicht die Berufung nicht auf neue Tatsachen oder Erkenntnisse gestützt wird 1082, fordern Rechtsprechung 1083 und Literatur 1084 wegen dieses Sinns und Zwecks eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung und lassen eine pauschale Bezugnahme auf das Vorbringen in der ersten Instanz ebenso wenig wie die bloße Wiederholung dieses Vortrags 1085 für eine Berufungsbegründung ausreichen. bb) Anforderungen an die Begründung einer von dem Oberverwaltungsgericht nach § 124a Abs. 5 VwGO zugelassenen Berufung Demgegenüber werden in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 1086 geringere Anforderungen an die Begründung einer von dem Oberverwaltungsgericht nach § 124a Abs. 5 VwGO zugelassenen Berufung formuliert.

1081

BVerwG, Beschluss vom 23. September 1999, – BVerwG 9 B 372.99 –, NVwZ 2000, 67; BVerwG, Urteil vom 30. Juni 1998, – BVerwG 9 C 6.98 –, BVerwGE 107, 117. 1082 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 02. Februar 2009, – 2 S 2415/07 –, VBlBW 2009, 359 – 360. 1083 BVerwG, Beschluss vom 03. März 2005, – BVerwG 5 B 58.04 –, Juris; ebenso die ständige Rechtsprechung des BGH zum Revisionsrecht: BGH, Urteil vom 6. März 1997, – VII ZB 26/96 –, NJW 1997, 1787; BGH, Urteil vom 24. Februar 1994, – VII ZR 127/93 –, NJW 1994, 1481; BGH, Beschluss vom 10. Juli 1990, – XI ZB 5/90 –, NJW 1990, 2628. 1084 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124a VwGO Rn. 56; Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124a Rn. 27; Kopp / Schenke, VwGO, § 124a Rn. 71; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124a Rn. 107. 1085 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 02. Februar 2009, – 2 S 2415/07 –, VBlBW 2009, 359 – 360; vgl. auch BGH, Urteil vom 06. März 1997, – VII ZB 26/96 –, NJW 1997, 1787 zu § 520 Abs. 3 ZPO sowie BAG, Urteil vom 10. Februar 2005, – 6 AZR 183/04 –, NJW 2005, 1884 zu § 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG in Verbindung mit § 520 Abs. 3 ZPO. 1086 BVerwG, Beschluss vom 30. Januar 2009, – BVerwG 5 B 44.08 –, Juris.

4. Unterschiede zwischen Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht

265

Insoweit wird darauf hingewiesen, dass gemäß § 124a Abs. 6 Satz 3 VwGO, der auf § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO verweise, die Berufungsbegründung zwar einen bestimmten Antrag und die im Einzelnen anzuführenden Berufungsgründe enthalten müsse. Welche Mindestanforderungen an die Berufungsbegründung zu stellen seien, hänge dabei jedoch wesentlich von den Umständen des konkreten Einzelfalls ab 1087. Etwa könne das gesetzliche Erfordernis der Einreichung eines Schriftsatzes zur Berufungsbegründung grundsätzlich auch durch eine auf die erfolgreiche Begründung des Zulassungsantrags verweisende Begründung erfüllt werden, wenn damit hinreichend zum Ausdruck gebracht werden könne, dass und weshalb das erstinstanzliche Urteil weiterhin angefochten werde 1088. Jedenfalls erforderlich ist aber ein gesonderter Schriftsatz des Rechtsmittelführers 1089. Hiernach reicht also in der Sache eine Bezugnahme auf bisheriges Vorbringen, etwa auf die erfolgreiche Begründung des Berufungszulassungsantrags, aus. Bezüglich des zu stellenden Berufungsantrages ist anerkannt, dass in Anwendung des § 88 VwGO das Oberverwaltungsgericht von Amts wegen das Klagebegehren im Sinne des wahren Rechtsschutzziels des Rechtsmittelführers zu ermitteln hat 1090, wobei die Berufungsbegründung und eine hier etwa in Bezug genommene erfolgreiche Begründung des Zulassungsantrags zu einer Ermittlung des Klageziels des Rechtsmittelführers heranzuziehen sind 1091. Insoweit gebietet es ferner die prozessuale Fürsorgepflicht, etwa bestehende Zweifel innerhalb einer noch laufenden Begründungsfrist aufzuklären 1092. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass insoweit für die Begründung einer von dem Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung durch das Oberverwaltungsgericht weitergehende Begründungsanforderungen gestellt werden als bei einer von dem Oberverwaltungsgericht zugelassenen Berufung. Dies mag empirisch daran liegen, dass das Oberverwaltungsgericht durch seinen stattgebenden Zulassungsbeschluss die Berufungswürdigkeit der Streitsache bereits festgestellt hat und eine Wiederholung und Vertiefung der durch das Oberverwaltungsgericht insoweit gegebenen Begründung sich als eine bloße Förmelei darstellen würde.

1087

BVerwG, Beschluss vom 30. Januar 2009, – BVerwG 5 B 44.08 –, Juris. BVerwG, Beschluss vom 30. Januar 2009, – BVerwG 5 B 44.08 –, Juris; BVerwG, Beschluss vom 23. September 1999, – BVerwG 9 B 372.99 –, Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 12; BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2006, – BVerwG 1 C 15.05 –, BVerwGE 126, 243. 1089 BVerwG, Beschluss vom 06. Februar 2006, – BVerwG 5 B 26.05 –, Juris. 1090 BVerwG, Beschluss vom 30. Januar 2009, – BVerwG 5 B 44.08 –, Juris. 1091 BVerwG, Beschluss vom 30. Januar 2009, – BVerwG 5 B 44.08 –, Juris. 1092 BVerwG, Beschluss vom 30. Januar 2009, – BVerwG 5 B 44.08 –, Juris. 1088

266

III. Das Berufungszulassungsverfahren

5. Das weitere Verfahren nach Zulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht a) Anforderungen an die Rechtsmittelbelehrung des dem Berufungszulassungsantrag stattgebenden Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts Mit einem Beschluss über die Zulassung der Berufung ist der Berufungsführer gemäß § 58 Abs. 1 VwGO über die Notwendigkeit der Berufungsbegründung im Sinne des § 124a Abs. 6 VwGO zu belehren 1093. Auf diese Belehrung ist die Vorschrift des § 58 Abs. 1 VwGO anwendbar 1094. Nach Absatz 1 dieser Norm beginnt die Frist für ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf nur dann zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsbehörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist. Absatz 2 Satz 1 des § 58 VwGO bestimmt, dass dann, wenn die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt worden ist, die Einlegung des Rechtsbehelfs nur innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung zulässig ist, außer wenn die Einlegung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war oder eine schriftliche oder elektronische Belehrung dahin erfolgt ist, dass ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei. Nach § 58 Abs. 2 Satz 2 VwGO gilt § 60 Abs. 2 VwGO für den Fall höherer Gewalt entsprechend. Die Anwendbarkeit des § 58 Abs. 1 VwGO folgt daraus, dass die Berufung ein Rechtsmittel ist, und über dieses Rechtsmittel ist daher in dem Rahmen der Vorgaben des § 58 Abs. 1 VwGO zu belehren. Unterscheidet das Gesetz zwischen der Einlegung und der Begründung eines Rechtsmittels, so betrifft die Belehrungspflicht beide Stufen 1095. Aus § 58 Abs. 1 VwGO folgt daher unmittelbar die Notwendigkeit, auch über die Pflicht zu einer Begründung des Rechtsmittels zu belehren 1096. Dieses gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 1097 auch und 1093

BVerwG, Urteil vom 30. Juni 1998, – BVerwG 9 C 6.98 –, BVerwGE 107, 117 [122 f.]; BVerwG, Urteil vom 04. Oktober 1999, – BVerwG 6 C 31.98 –, BVerwGE 109, 336 [340 ff.]; BVerwG, Beschluss vom 08. September 2000, – BVerwG 11 B 50.00 –, NVwZ-RR 2001, 142 – 143; BVerwG, Beschluss vom 23. Oktober 2000, – BVerwG 9 B 372.00 –, Buchholz 310 § 124a VwGO Nrn. 17 und 18. 1094 BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, – BVerwG 3 C 23.08 –, NJW 2009, 2322 – 2323. 1095 BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, – BVerwG 3 C 23.08 –, NJW 2009, 2322 – 2323. 1096 BVerwG, Beschluss vom 05. Juli 1957, – BVerwG Gr. Sen. 1.57 –, BVerwGE 5, 178.

5. Das weitere Verfahren

267

sogar erst recht dann, wenn das Rechtsmittel der Zulassung bedarf und es nach einer erfolgten Zulassung der Einlegung des Rechtsmittels nicht mehr bedarf, also in einem solchen Fall, in dem von dem zweistufig aufgebauten Rechtsmittel gewissermaßen nur die zweite Stufe übrig geblieben ist 1098. Eine den Anforderungen des § 58 VwGO genügende – also Angaben zu dem Rechtsbehelf, dem Gericht, bei dem dieser einzulegen ist, dessen Sitz und zu der Einlegungsfrist enthaltende – Belehrung muss in dem Beschluss über die Zulassung der Berufung enthalten und von der Unterschrift der an der Beschlussfassung beteiligten Richter gedeckt sein. Es genügt nicht, dass sich die nötigen Informationen aus anderen Quellen – etwa aus einem beigefügten Übersendungsschreiben der Geschäftsstelle oder aus der Absenderangabe auf dem Briefumschlag – ersehen lassen 1099. Die Angabe des Gerichtssitzes ist nach dem Wortlaut der Vorschrift zweifelsfrei erforderlich 1100 und nur mit der Angabe des Ortes des Gerichtssitzes ausreichend bezeichnet. Die Angabe des Namens des Gerichts genügt nur dann, wenn der Name den Ort des Sitzes enthält und wenn dies zweifelsfrei ist 1101. Nicht ausreichend ist es demgegenüber etwa, dass der Sitz des Gerichts für die Beteiligten aus dem Ausfertigungsstempel sowie aus dem Übersendungsschreiben ersichtlich ist. Denn diese Hinweise zum Sitz gehen jeweils auf die Geschäftsstelle und nicht – wie von § 58 VwGO gefordert – auf den beschließenden Senat zurück 1102. Bei diesen Anforderungen an die Rechtsmittelbelehrung ist es unerheblich, ob dem Rechtsmittelführer der Sitz des Gerichts anderweitig positiv bekannt ist, etwa aus anderen Rechtsmittelbelehrungen – wie der dem Urteil des Verwaltungsgericht beigegebenen –, die er in einem früheren Verfahrensstadium erhalten hatte. Denn den Anforderungen des § 58 VwGO wird nur dann genügt, wenn jede Rechtsmittelbelehrung aus sich heraus verständlich, vollständig und richtig ist 1103; der Rechtsmittelführer soll nicht darauf verwiesen werden, auf ältere Informationen zurückzugreifen, die zudem noch – etwa bei der dem Urteil des Verwaltungsgerichts beigegebenen Rechtsmittelbelehrung – nicht von dem1097 BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, – BVerwG 3 C 23.08 –, NJW 2009, 2322 – 2323. 1098 BVerwG, Urteil vom 30. Juni 1998, – BVerwG 9 C 6.98 –, BVerwGE 107, 117; BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, – BVerwG 3 C 23.08 –, NJW 2009, 2322 –2323. 1099 BVerwG, Urteil vom 04. Oktober 1999, – BVerwG 6 C 31.98 –, BVerwGE 109, 336 [341 ff.]. 1100 BVerwG, Beschluss vom 20. August 1993, – BVerwG 8 C 14.93 –, Buchholz 310 § 58 VwGO Nr. 62. 1101 BVerwG, Urteil vom 23. August 1990, – BVerwG 8 C 30.88 –, BVerwGE 85, 298. 1102 BVerwG, Urteil vom 04. Oktober 1999, – BVerwG 6 C 31.98 –, BVerwGE 109, 336 [341 ff.]. 1103 BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, – BVerwG 3 C 23.08 –, NJW 2009, 2322 – 2323.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

selben, sondern von einem anderen Gericht stammen können. Sinn und Zweck des § 58 Abs. 1 VwGO ist, dass der Betroffene allein anhand der ihm vorliegenden Rechtsmittelbelehrung deren Vollständigkeit und Richtigkeit überprüfen und danach die Frage beantworten kann, ob ihre Erteilung die Monatsfrist des § 58 Abs. 1 VwGO in Lauf gesetzt hat oder nicht 1104. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass es arglistig wäre, sich auf das Fehlen einer in § 58 Abs. 1 VwGO vorgeschriebenen Angabe – wie etwa die Angabe des Gerichtssitzes – zu berufen, wenn man diese Angabe positiv kennt. Zwar dient § 58 VwGO dem Schutz der durch eine behördliche oder gerichtliche Entscheidung Betroffenen dahingehend, dass niemand durch Rechtsunkenntnis eines Rechtsbehelfs verlustig gehen soll. Aus diesem Grund heraus knüpft die § 58 VwGO den Lauf von Rechtsbehelfsfristen an eine bestimmt geartete Belehrung 1105. Das Ob und das Wie dieser Belehrung sind jedoch streng formalisiert 1106 und § 58 VwGO macht den Lauf der Fristen ohne jedwede Differenzierung in allen Fällen von der Erteilung einer ordnungsgemäßen Belehrung abhängig, und lässt es schon von seinem Wortlaut her nicht zu, danach zu differenzieren, ob dem Rechtsmittelführer die Möglichkeit und die Voraussetzungen der in Betracht kommenden Rechtsbehelfe tatsächlich unbekannt waren und ob das Fehlen oder die Unrichtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung kausal für das Unterbleiben oder die Verspätung des Rechtsbehelfs war 1107. § 58 VwGO ist damit klassischer Ausdruck des der VwGO – und anderen Prozessordnungen 1108 – immanenten rechtsstaatlichen Prinzips der Rechtsmittelklarheit 1109. Nach dem Prinzip der Rechtsmittelklarheit erfordert der Grundsatz der Rechtssicherheit als wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips, dass die Ausgestaltung von Rechtsmitteln dem Bürger insbesondere die Prüfung ermöglicht, ob und unter welchen Voraussetzungen diese zulässig sind 1110. Für die Anwendung des § 58 VwGO bedeutet dies, dass nur dadurch, dass § 58 VwGO 1104 BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, – BVerwG 3 C 23.08 –, NJW 2009, 2322 – 2323. 1105 BVerwG, Urteil vom 09. November 1966, – BVerwG 5 C 196.55 –, BVerwGE 25, 261 [262]. 1106 BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, – BVerwG 3 C 23.08 –, NJW 2009, 2322 – 2323. 1107 BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, – BVerwG 3 C 23.08 –, NJW 2009, 2322 – 2323. 1108 Für das SGG: Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 06. Juli 2009, – L 9 B 274/08 AS –, Juris; für die StPO: BGH, Beschluss vom 25. Januar 1995, – 2 StR 456/ 94 –, BGHSt 40, 395 –400; für die ZPO: BGH, Beschluss vom 17. Juni 2009, – XII ZB 75/ 07 –, NSW ZPO § 66 (BGH-intern); zur FGO: BFH, Beschluss vom 11. März 2009, – VI S 11/08 –, Juris. 1109 BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, – BVerwG 3 C 23.08 –, NJW 2009, 2322 – 2323. 1110 BVerfG, Beschluss vom 30. April 2003, – 1 PBvU 1/02 –, BVerfGE 107, 395.

5. Das weitere Verfahren

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die in ihm genannten Rechtsfolgen allein an die objektiv feststellbare Tatsache des Fehlens oder der Unrichtigkeit der Belehrung knüpft, die Vorschrift sämtlichen Verfahrensbeteiligten gleiche und zudem sichere Kriterien für das Bestimmen der formellen Rechtskraft an die Hand gibt 1111. Demgegenüber ist es nicht erforderlich, dass die den Anforderungen des § 58 VwGO genügende Belehrung von der Begründung des Beschlusses – drucktechnisch – abgesetzt und mit einer gesonderten Überschrift versehen wird. Denn die Vorschrift des § 117 Abs. 2 VwGO, wonach das Urteil 1. die Bezeichnung der Beteiligten, ihrer gesetzlichen Vertreter und der Bevollmächtigten nach Namen, Beruf, Wohnort und ihrer Stellung im Verfahren, 2. die Bezeichnung des Gerichts und die Namen der Mitglieder, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, 3. die Urteilsformel, 4. den Tatbestand, 5. die Entscheidungsgründe und 6. die Rechtsmittelbelehrung enthält, gilt nach ihrem klaren Wortlaut für nur für Urteile und findet dementsprechend für urteilsvertretende und in ihrer Bedeutung vergleichbare Beschlüsse nur in ihrem Kern, nicht hingegen in allen Einzelheiten Anwendung 1112. Aus § 117 Abs. 2 VwGO lässt sich insbesondere nicht entnehmen, dass bei urteilsvertretenden Beschlüssen Tatbestand und Entscheidungsgründe voneinander abgesetzt werden müssten 1113. Nichts anderes gilt für die Rechtsmittelbelehrung 1114. Die Rechtsmittelbelehrung muss zwar auch dann, wenn sie in ihrer sprachlichen und (dann fehlenden) optischen Gestaltung Bestandteil der Beschlussgründe ist, ihre Hinweis- und Belehrungsfunktion erfüllen. Dies wäre etwa dann nicht der Fall, wenn die Rechtsmittelbelehrung etwa in einer vielseitigen Begründung irgendwo versteckt würde 1115. Ein aus dem Gesetz folgender Standort der Rechtsmittelbelehrung in einem Beschluss über die Zulassung der Berufung besteht hingegen nicht; das Bundesverwaltungsgericht spricht nur – wohl im Sinne einer Empfehlung – davon, dass die Rechtsmittelbelehrung „nach den sachlichen Erwägungen zur Begründung des Beschlusses an dessen Ende gerückt werden“ sollte, sich aber durchaus vor einer Begründung der Kostenentscheidung und der Streitwertfestsetzung finden könne 1116. 1111

BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 1978, – BVerwG 6 C 77.78 –, BVerwGE 57, 188; BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 1988, – BVerwG 5 C 9.85 –, BVerwGE 81, 81 [84]; Meissner, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 58 Rn. 6. 1112 BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, – BVerwG 3 C 23.08 –, NJW 2009, 2322 – 2323. 1113 BVerwG, Urteil vom 4. Oktober 1999, – BVerwG 6 C 31.98 –, BVerwGE 109, 336 [343]. 1114 BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, – BVerwG 3 C 23.08 –, NJW 2009, 2322 – 2323. 1115 BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, – BVerwG 3 C 23.08 –, NJW 2009, 2322 – 2323. 1116 BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, – BVerwG 3 C 23.08 –, NJW 2009, 2322 – 2323.

270

III. Das Berufungszulassungsverfahren

b) Bestimmter Antrag und inhaltliche Anforderungen der Berufungsbegründung Nach § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO, der gemäß § 124a Abs. 6 Satz 3 entsprechend gilt, muss die Berufungsbegründung einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Der Berufungsführer muss daher nach Zulassung der Berufung einen gesonderten Schriftsatz zur Berufungsbegründung einreichen und dabei eindeutig zu erkennen geben, dass er nach wie vor die Durchführung eines Berufungsverfahrens erstrebt 1117. Ferner bestimmt § 124a Abs. 6 VwGO, dass die Berufung in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen ist. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Auch hieraus folgt, dass nach Zulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht nach § 125a Abs. 5 VwGO der Rechtsmittelführer nach § 124a Abs. 6 VwGO in jedem Fall einen gesonderten Schriftsatz zur Berufungsbegründung einreichen muss. Bezüglich der Anforderungen an den Schriftsatz zur Berufungsbegründung genügt es nicht, wenn sich die Begründung und der Antrag dem Vorbringen im Zulassungsverfahren entnehmen lassen. Für eine ordnungsgemäße Berufungsbegründung kann allerdings eine Bezugnahme auf das Zulassungsvorbringen im Begründungsschriftsatz zulässig sein und ausreichen 1118. Bei Bezugnahmen auf andere Schriftsätze zur Rechtsmittelbegründung muss berücksichtigt werden, dass eine pauschale Bezugnahme auf in den Vorinstanzen eingereichte Schriftsätze im Regelfall den Anforderungen nicht genügt. Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Berufungsbegründung ist aber in jedem Fall, dass der Berufungsführer innerhalb der Berufungsbegründungsfrist durch einen gesonderten Schriftsatz erkennbar zum Ausdruck bringt, dass er die Berufung noch durchführen will 1119 und weshalb er sie für begründet hält 1120. Anders als im Zivilprozess, für den der Bundesgerichtshof 1121 entschieden hat, dass eine den Anforderungen des § 551 Abs. 3 Satz 1 ZPO 1122 genügende Revisionsbegründung auch schon vor dem Beginn der Revisionsbegründungsfrist 1117 BVerwG, Urteil vom 30. Juni 1998, – BVerwG 9 C 6.98 –, BVerwGE 107, 117 – 123. 1118 BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 1988, – BVerwG 9 C 37.88 –, BVerwGE 80, 321; BVerwG, Beschluss vom 02. Oktober 2003, – BVerwG 1 B 33.03 –, DVBl 2004, 125 – 126. 1119 Hierzu Sauthoff, Erste Äußerungen, Seite 12. 1120 BVerwG, Urteil vom 30. Juni 1998, – BVerwG 9 C 6.98 –, BVerwGE 107, 117; BVerwG, Urteil vom 08. März 2004, – BVerwG 4 C 6.03 –, NVwZ-RR 2004, 541 –542. 1121 BGH, Urteil vom 07. Juli 2004, – IV ZR 140/03 –, NJW 2004, 2981 –2983.

5. Das weitere Verfahren

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und damit auch in dem Schriftsatz gegeben werden kann, in dem die Nichtzulassungsbeschwerde begründet wird, woraus folgt, dass die aufgrund einer Nichtzulassungsbeschwerde zugelassene Revision nicht erst innerhalb der mit Zustellung des Zulassungsbeschlusses in Lauf gesetzten Revisionsbegründungsfrist (durch Bezugnahme auf die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde oder durch davon unabhängige, auch zusätzliche Ausführungen) begründet werden muss, reicht nach dem Bundesverwaltungsgericht für das verwaltungsgerichtliche Rechtsmittelverfahren zur Begründung eines zulassungsbedürftigen Rechtsmittels allein die Rechtsmittelzulassungsschrift auch dann nicht aus, wenn in der Zulassungsschrift auch das erst zuzulassende Rechtsmittel bezeichnet, eingelegt oder begründet worden ist 1123. Auch ein vor einer Zustellung des Zulassungsbeschlusses an das Berufungsgericht übermittelter Schriftsatz, mit dem der Rechtsmittelführer auf einen gegnerischen Schriftsatz erwidert, um seinen Zulassungsantrag zu verteidigen, stellt keine Berufungsbegründung im Sinne von § 124a Abs. 3 Satz 1 VwGO dar. Dies gilt auch dann, wenn das Berufungsgericht bei Eingang des Schriftsatzes den Beschluss über die Zulassung der Berufung bereits gefasst hatte 1124. Denn 1122

§ 551 Revisionsbegründung (1) Der Revisionskläger muss die Revision begründen. (2) Die Revisionsbegründung ist, sofern sie nicht bereits in der Revisionsschrift enthalten ist, in einem Schriftsatz bei dem Revisionsgericht einzureichen. Die Frist für die Revisionsbegründung beträgt zwei Monate. Sie beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung. § 544 Abs. 6 Satz 3 bleibt unberührt. Die Frist kann auf Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden, wenn der Gegner einwilligt. Ohne Einwilligung kann die Frist um bis zu zwei Monate verlängert werden, wenn nach freier Überzeugung des Vorsitzenden der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder wenn der Revisionskläger erhebliche Gründe darlegt; kann dem Revisionskläger innerhalb dieser Frist Einsicht in die Prozessakten nicht für einen angemessenen Zeitraum gewährt werden, kann der Vorsitzende auf Antrag die Frist um bis zu zwei Monate nach Übersendung der Prozessakten verlängern. (3) Die Revisionsbegründung muss enthalten: 1. die Erklärung, inwieweit das Urteil angefochten und dessen Aufhebung beantragt werde (Revisionsanträge); 2. die Angabe der Revisionsgründe, und zwar: a) die bestimmte Bezeichnung der Umstände, aus denen sich die Rechtsverletzung ergibt; b) soweit die Revision darauf gestützt wird, dass das Gesetz in Bezug auf das Verfahren verletzt sei, die Bezeichnung der Tatsachen, die den Mangel ergeben. Ist die Revision auf Grund einer Nichtzulassungsbeschwerde zugelassen worden, kann zur Begründung der Revision auf die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde Bezug genommen werden. (4) § 549 Abs. 2 und § 550 Abs. 2 sind auf die Revisionsbegründung entsprechend anzuwenden. 1123 BVerwG, Beschluss vom 06. Oktober 2005, – BVerwG 5 B 26.05 –, Juris.

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III. Das Berufungszulassungsverfahren

das Konzept der Zulassungsberufung ist zweistufig angelegt 1125: Der erstinstanzlich Unterlegene muss zunächst innerhalb eines Monats nach Zustellung des angefochtenen Urteils den Antrag auf Zulassung der Berufung stellen und innerhalb eines weiteren Monats begründen (§ 124a Abs. 1 VwGO; erste Stufe). Er muss dann nach Zustellung des zulassenden Beschlusses innerhalb eines Monats die Berufung begründen (§ 124a Abs. 3 VwGO; zweite Stufe). Durch das in § 124a Abs. 3 Sätze 1 und 2 VwGO enthaltene Erfordernis einer fristgebundenen Berufungsbegründungsschrift soll gewährleistet werden, dass für das Berufungsgericht und alle Beteiligten zuverlässig feststeht, ob der Berufungskläger nach wie vor – nämlich auch nach der Zulassung seiner Berufung durch das Oberverwaltungsgericht – die Durchführung eines Berufungsverfahrens erstrebt, oder ob er etwa hieran sein Interesse verloren hat 1126. Die fristgebundene Berufungsbegründungsschrift soll damit Rechtssicherheit schaffen. Diesem Ziel der Rechtssicherheit würde eine Auslegung nicht gerecht, die – entgegen dem Wortlaut des § 124a Abs. 3 Satz 1 VwGO – einen vor der Zustellung des Zulassungsbeschlusses übermittelten Schriftsatz des Rechtsmittelführers als Berufungsbegründung werten würde. c) Anschlussberufung § 127 Abs. 1 VwGO bestimmt, dass sich der Berufungsbeklagte und die anderen Beteiligten der Berufung anschließen können; nach Satz 2 des § 127 Abs. 1 ist die Anschlussberufung bei dem Oberverwaltungsgericht einzulegen. § 127 Abs. 2 VwGO normiert, dass die Anschließung auch dann statthaft ist, wenn der Beteiligte auf die Berufung verzichtet hat oder die Frist für die Berufung oder den Antrag auf Zulassung der Berufung verstrichen ist. Sie ist nach § 127 Abs. 2 Satz 2 VwGO zulässig bis zum Ablauf eines Monats nach der Zustellung der Berufungsbegründungsschrift. § 127 Abs. 3 VwGO enthält für die Anschlussberufung ein Begründungserfordernis, für das nach Satz 2 des § 127 Abs. 3 VwGO § 124a Abs. 3 Satz 2, 4 und 5 VwGO entsprechend gilt. In § 127 Abs. 4 VwGO ist geregelt, dass die Anschlussberufung keiner Zulassung bedarf; Abs. 5 des § 127 VwGO bestimmt, dass die Anschließung ihre Wirkung verliert, wenn die Berufung zurückgenommen oder als unzulässig verworfen wird. Sinn und Zweck der Anschließung ist es, dem an sich „friedfertigen“ Berufungsbeklagten unter den Gesichtspunkten der Waffengleichheit und der Billig1124 BVerwG, Beschluss vom 08. September 2000, – BVerwG 11 B 50.00 –, NVwZ-RR 2001, 142 – 143. 1125 BVerwG, Urteil vom 04. Oktober 1999, – BVerwG 6 C 31.98 –, BVerwGE 109, 336 – 346 [344]. 1126 BVerwG, Beschluss vom 07. März 2000, – BVerwG 4 B 79.99 –, NVwZ 2000, 912.

5. Das weitere Verfahren

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keit auch dann noch zu ermöglichen, selbst in den Prozess einzugreifen, wenn die Berufung des Gegners erst kurz vor Ablauf der Rechtsmittelfrist eingelegt wird und er deshalb eine eigene Berufung nicht mehr führen kann 1127. Die Anschlussberufung dient überdies dem Grundsatz der Prozessökonomie, indem sie vermeiden soll, dass ein Beteiligter, der sich mit dem erlassenen Urteil zufrieden geben will, nur wegen eines von ihm erwarteten Rechtsmittelangriffs des Gegners vorsorglich selbst ein Rechtsmittel einlegt 1128. Nach dem Bundesverwaltungsgericht soll die Regelung des § 127 VwGO es einem Beteiligten, der eine Hauptberufung nicht einlegen will, ermöglichen, der Hauptberufung mit einem Antrag entgegenzutreten, der diese gewissermaßen „aufbricht“ 1129. Zu beachten ist indes, dass das Rechtsmittel der Anschlussberufung unstatthaft ist, soweit das Berufungsgericht zuvor den Antrag des Anschlussberufungsführers auf Zulassung der Berufung wegen desselben Teils des Streitgegenstandes abgelehnt hat. Denn in einem derartigen Fall ist derjenige Teil des Rechtsstreits, den der Anschlussberufungsführer im Wege der Anschließung nach § 127 VwGO zu dem Gegenstand des Berufungsverfahrens machen möchte, von dem Berufungsgericht durch Ablehnung des Zulassungsantrags mit der Rechtsfolge der Rechtskraft des angefochtenen Urteils gemäß § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO rechtskräftig abgeschlossen; aus der mit der Ablehnung des Zulassungsantrags verbundene Rechtskraftwirkung des erstinstanzlichen Urteils gemäß § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO folgt daher die Unstatthaftigkeit einer diesbezüglichen Anschlussberufung 1130. d) Der Überprüfungsrahmen des Oberverwaltungsgerichts Aufgrund des Devolutiveffekts der Berufung wird durch das Oberverwaltungsgericht über das Rechtsmittel in dessen Grenzen über den Rechtsstreit erneut und auch unter Berücksichtigung neuer Tatsachen entschieden 1131 (§ 128 VwGO). Der Zulassungsausspruch durch das Oberverwaltungsgericht hat eine konstitutive Wirkung dahingehend, dass die Statthaftigkeit der Berufung aus dem Zulassungsausspruch selbst folgt und nicht etwa aus den Gründen, um derentwillen das Oberverwaltungsgericht die Berufung zugelassen hat 1132. Die 1127 BVerwG, Beschluss vom 14. November 2007, – BVerwG 4 B 30.07 –, NVwZ-RR 2008, 214. 1128 BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 1995, – BVerwG 8 C 11.94 –, BVerwGE 100, 104 [107]. 1129 Zu einer Anschlussrevision BVerwG, Urteil vom 25. Mai 1984, – BVerwG 8 C 108.82 –, Buchholz 448.0 § 11 WPflG Nr. 35, Seite 6 [8]. 1130 BVerwG, Beschluss vom 14. November 2007, – BVerwG 4 B 30.07 –, NVwZ-RR 2008, 214. 1131 Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 1.

274

III. Das Berufungszulassungsverfahren

Berufungszulassung wirkt daher auch zugunsten aller Prozessbeteiligten, sodass jeder Berufungsberechtigte die zugelassene Berufung einlegen kann unabhängig davon, ob ihn die angefochtene Entscheidung gerade in dem Zulassungspunkt beschwert, solange er nur überhaupt beschwert ist 1133. e) Entscheidung durch das Oberverwaltungsgericht im Wege des vereinfachten Verfahrens nach § 130a VwGO Das Oberverwaltungsgericht kann nach § 130a Satz 1 VwGO über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Satz 2 des § 130a VwGO verweist für die Voraussetzungen auf § 125 Abs. 2 Satz 3 bis 5 VwGO. Hiernach sind die Beteiligten vor einer Entscheidung im vereinfachten Berufungsverfahren zu hören (§ 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Gegen den Beschluss steht den Beteiligten nach § 125 Abs. 2 Satz 4 VwGO das Rechtsmittel zu, das zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte. Gemäß § 125 Abs. 2 Satz 5 VwGO sind die Beteiligten über dieses Rechtsmittel zu belehren. § 130a VwGO trifft selbst keine materiellen Vorgaben für das Absehen von der mündlichen Verhandlung zu Gunsten einer Entscheidung nach § 130a VwGO im vereinfachten Verfahren durch Beschluss. Die Wahl des vereinfachten Verfahrens nach § 130a VwGO wird durch die Norm vielmehr in das Ermessen des Berufungsgerichts gestellt. Bei der Ermessensentscheidung, ob durch Beschluss im Sinne von § 130a Satz 1 VwGO entschieden wird, sind unterschiedliche Gesichtspunkte zu beachten, zu gewichten und abzuwägen. Die Komplexität des Streitfalles in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht ist einer der in die Ermessensabwägung einzustellenden Gesichtspunkte. Bei der Ausübung des Ermessens durch das Oberverwaltungsgericht ist ferner zu berücksichtigen, dass nach § 101 Abs. 1 VwGO die mündliche Verhandlung die Regel und das Absehen davon die Ausnahme bildet 1134. Diese Norm gilt auch für das Berufungsverfahren. Denn ihr liegt „die Vorstellung des Gesetzgebers zugrunde, dass das in der mündlichen Verhandlung stattfindende Rechtsgespräch als ein diskursiver Prozess zwischen dem Gericht und den Beteiligten die Ergebnisrichtigkeit des Urteils gerade in tat1132 Ehlers, Europäisierung, Seite 84; ebenso Weyreuther, Revisionszulassung, Rn. 17, für den vergleichbaren Fall der Zulassung der Revision. 1133 Weyreuther, Revisionszulassung, Rn. 35, für den vergleichbaren Fall der Zulassung der Revision. 1134 BVerwG, Beschluss vom 24. September 2009, – BVerwG 6 B 5.09 –, Juris.

6. Bewertung der Praxis des Berufungszulassungsverfahrens

275

sächlich und rechtlich schwierigen Fällen typischerweise fördert“ 1135. Auch die Norm des § 104 Abs. 1 VwGO, die dem Vorsitzenden des Gerichts im ersten Rechtszug die Pflicht auferlegt, in der mündlichen Verhandlung die Streitsache mit den Beteiligten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu erörtern, sieht für den Regelfall erkennbar ein Rechtsgespräch vor, das auch den Zweck hat, die Ergebnisrichtigkeit der gerichtlichen Entscheidung zu fördern 1136. Die in diesen Vorschriften zu einem Ausdruck kommende Bedeutung der mündlichen Verhandlung, die der Gesetzgeber ihr beimisst, muss bei der Ermessensentscheidung des Senats, auch gegen den Willen der Beteiligten durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO zu entscheiden, Berücksichtigung finden. Das Erfordernis, im Rahmen einer mündlichen Verhandlung die Rechtssache auch im Interesse ihrer Ergebnisrichtigkeit mit den Beteiligten zu erörtern, ist um so größer, je schwieriger die von dem Gericht zu treffende Entscheidung ist 1137. Je schwieriger die Rechtssache ist, desto gewichtigere Gründe sprechen gegen die Anwendung des § 130a VwGO und für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung Daher ist eine Entscheidung für ein vereinfachtes Berufungsverfahren nach § 130a Satz 1 VwGO jedenfalls dann ermessensfehlerhaft, wenn die Rechtssache – insoweit über „besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten“ im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO noch hinausgehend – einen außergewöhnlich hohen Schwierigkeitsgrad aufweist 1138.

6. Bewertung der Praxis des Berufungszulassungsverfahrens aus der Sicht des Rechtsschutzsuchenden und seines Bevollmächtigten „Rechtsmittel haben ihren Grund in der Fehlsamkeit menschlicher Erkenntnis.“ 1139 Die Einführung jedweden Rechtsmittels geht daher von dreierlei aus: Der Möglichkeit menschlichen Irrtums, der Möglichkeit einer Beseitigung des Irrtums ohne einen neuen Irrtum durch andere Richter, sowie von der Verringerung der Rechtszersplitterung durch die Tätigkeit von Obergerichten 1140. 1135

BVerwG, Beschluss vom 24. September 2009, – BVerwG 6 B 5.09 –, Juris. BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2004, – BVerwG 6 C 28.03 –, BVerwGE 121, 211. 1137 BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2004, – BVerwG 6 C 28.03 –, BVerwGE 121, 211. 1138 BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2004, – BVerwG 6 C 28.03 –, BVerwGE 121, 211 [217]; BVerwG, Beschluss vom 24. September 2009, – BVerwG 6 B 5.09 –, Juris. 1139 Blanke, in: Sodan / Ziekow, VwGO, Vorbemerkungen zu § 124 VwGO Rn. 12; ähnlich Buscher, Zulassungsberufung, Seite 105. 1136

276

III. Das Berufungszulassungsverfahren

Die Berufung gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts dient daher der Überprüfung der Entscheidung der Vorinstanz und trägt zu einer rechtsstaatlichen Kontrolle und Rechtseinheit und damit auch zu einer Gleichheit vor dem Gesetz ebenso bei wie zu einer letztlich sozial befriedigenden Konfliktregelung 1141, also zur Gewährleistung von Rechtssicherheit in einem nicht nur formalen, sondern in einem materiellen Sinne 1142. Auch wenn unbestreitbar ein Verwaltungsprozess ohne ein Berufungsverfahren schneller zu Ende ist 1143, gibt es nach wie vor das Berufungsverfahren, und dieses hat das Ziel, Einzelfallgerechtigkeit zu verwirklichen 1144. Jedes gerichtliche Rechtsbehelfssystem verfolgt eine tendenziell bessere Gewähr der Einzelfallgerechtigkeit 1145. Der Zweck einzelner Berufungszulassungsgründe – die Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung – steht dem nicht entgegen: Auch „die Einheit der Rechtsordnung ist im Kern bedroht, wenn gleiches Recht ungleich gesprochen wird.“ 1146 Der allen Berufungszulassungsgründen damit immanente Zweck der Gewährleistung von Einzelfallgerechtigkeit muss daher ausschlaggebende Bedeutung für die Auslegung des § 124a VwGO haben 1147. Dieser Funktion der Berufung stehen die sehr starke Erschwerung des Zugangs des Betroffenen zu dem Oberverwaltungsgericht durch den Gesetzgeber 1148 und die Erhöhung der Hürden für eine Zulassung der Berufung 1149 durch die Praxis entgegen: Es wurde gezeigt, dass das bestehende Berufungszulassungsrecht durch den in der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte praktizierten „filigranen Feinschliff“ 1150 und durch deren „subtile Theoriebildung“ 1151 sich von der Suche nach der materiell richtigen Entscheidung mehr und mehr entfernt hat, dass zu praktisch allen zentralen Fragen des Berufungszulassungsrechts eine unterschiedliche Rechtsprechung vorliegt 1152, dass sich der Fokus der Oberverwaltungsgerichte im Berufungszulassungsverfahren auf die Durchsetzung der Ent1140

Jessen, Rechtsmittelzug, Seite 410. Hufen, Verwaltungsprozessrecht besteht, Seite 527; zu den Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit vergleiche im Übrigen Brohm, Verwaltungsrichter, Seite 137 ff. 1142 Hufen, Verwaltungsprozessrecht besteht, Seite 527. 1143 Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite 577. 1144 Blanke, in: Sodan / Ziekow, VwGO, Vorbemerkungen zu § 124 VwGO Rn. 12. 1145 List, Nichtzulassungsbeschwerde, Seite 574. 1146 List, Nichtzulassungsbeschwerde, Seite 574. 1147 List, Nichtzulassungsbeschwerde, Seite 575. 1148 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124 VwGO Rn. 72. 1149 Hufen, Verwaltungsprozessrecht besteht, Seite 520; Niesler, Berufung im Verwaltungsprozess, Seite 728. 1150 Van Nieuwland, Antrittsrede, Seite 97. 1151 Van Nieuwland, Antrittsrede, Seite 97. 1152 Uechtritz, Konkretisierung, Seite 67; Uechtritz, 6. VwGO-Novelle, Seite 1218. 1141

6. Bewertung der Praxis des Berufungszulassungsverfahrens

277

lastungsfunktion der Reform für die Obergerichte richtet, dass ein Ergebnis des Berufungszulassungsantrags für den Rechtsmittelführer nur schwerlich prognostizierbar ist und dass sich letztlich über die von den Oberverwaltungsgerichten praktizierte Handhabung des Darlegungserfordernisses des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO in dem Verfahren vor dem Obergericht die prozessuale Rollenverteilung zwischen Bevollmächtigtem und Gericht umgekehrt hat: War vor der 6. VwGONovelle regelmäßiges Kennzeichen sowohl des erst- als auch des zweitinstanzlichen Verwaltungsprozesses Sachverhaltsklärung und rechtliche Überprüfung von Amts wegen, so wird nun – unter weitgehender Reformation des Grundsatzes „iura novit curia“ – nunmehr von den Oberverwaltungsgerichten nur noch das geprüft, was von der rechtsmittelführenden Partei „dargelegt“ wird: Das Gericht kennt zwar noch das Recht, wendet es aber nicht mehr von Amts wegen an 1153. Ferner wurde gezeigt, dass zahlreiche in der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte praktizierte Theorienbildungen – insbesondere die überwiegende Nichtberücksichtigung von Veränderungen der Sach- und Rechtslage nach Ablauf der Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO – auch unter Berücksichtigung des Ziels der Verfahrensbeschleunigung der Reform nicht zwingend sind. Das Berufungszulassungsverfahren nach den §§ 124, 124a VwGO ist damit eine prozessrechtliche Regelung, die sowohl als legislative Einengung durch den Gesetzgeber als auch aufgrund der Entwicklungen, die in der Gerichtsbarkeit selbst durch Auslegung und Handhabung der Vorschriften zu beobachten sind, die Effektivität verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes für den Rechtsschutzsuchenden zunehmend in Zweifel zu ziehen geeignet ist 1154. Diesen Befunden entspricht eine in der Literatur erwähnte Zulassungsquote von etwa zehn vom Hundert 1155, die die Berufung zur Ausnahme werden lässt und damit natürlich auch den Zugang zur Revision verschließt und höchstrichterliche Rechtsfortbildung hindert 1156. Literarisch könnte man formulieren: „Die Wahrheit ist oftmals nur noch eine entferntere Verwandte des Berufungszulassungsverfahrens.“ Aus anwaltlicher Sicht besteht die Unwägbarkeit, qualifizierten Rechtsrat auf verschiedensten Rechtsgebieten 1157 erteilen zu wollen, aber letztlich die Erfolgs1153

Seibert, Erfahrungen mit der 6. VwGO-Novelle, Seite 114. Zu einer diesen allgemeinen Themenkomplex behandelnden Fachtagung der Universität Rostock vergleiche Schubert, Verwaltungsrechtsschutz in der Krise. 1155 Stüer / Hermanns, Erfahrungen mit der 6. VwGO-Novelle, Seite 257; vgl. auch die oben II. 2. für das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht wiedergegebenen Zulassungsquoten für das Jahr 2009. 1156 Hufen, Verwaltungsprozessrecht besteht, Seite 531; Happ, in: Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 30. 1157 Hierzu Atzler, Änderungen. 1154

278

III. Das Berufungszulassungsverfahren

aussichten eines Berufungszulassungsantrags insbesondere aufgrund der eigenen Spruchpraxis der Oberverwaltungsgerichte und selbst deren einzelner Senate 1158 nur schwer kalkulieren zu können 1159. Zudem hängt der Zugang zur Berufungsinstanz nunmehr maßgeblich von der Qualität der anwaltlichen Tätigkeit 1160, von der Sorgfalt und von den Rechtskenntnissen des Rechtsanwalts 1161 sowie von dem Gewicht seines Prozessvortrages 1162 ab: Abweisende Entscheidungen sind oftmals die Konsequenz mangelnder anwaltlicher Arbeit 1163. Anstelle des Amtsermittlungsgrundsatzes wird durch das Berufungszulassungsrecht der Rechtsanwalt des Berufungszulassungsantragsstellers in die Pflicht genommen 1164. Ferner wurde aber auch dargestellt, dass dem Gebot, effektiven Rechtsschutz im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG zu gewähren, im Rahmen der geltenden Verwaltungsgerichtsordnung durch die von den Oberverwaltungsgerichten entwickelte und in der Literatur anerkannte Möglichkeit einer Umdeutung eines dargelegten Berufungszulassungsgrundes in einen nicht dargelegten, aber nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts im Berufungszulassungsverfahren offen zu Tage tretenden Berufungszulassungsgrund genügt werden kann und muss. Das nationale Verwaltungsprozessrecht kennt damit die Möglichkeit der Berücksichtigung offen zu Tage tretender Berufungszulassungsgründe bei einem ansonsten zulässigen, insbesondere dem Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO – wenn auch in Bezug auf einen anderen Berufungszulassungsgrund – genügenden Berufungszulassungsantrag. Unter den genannten Voraussetzungen ist unter der Verwaltungsgerichtsordnung daher die Berücksichtigung eines offen zu Tage tretenden, aber nicht dargelegten Berufungszulassungsgrundes durch das Oberverwaltungsgericht von Amts wegen möglich und geboten.

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Uechtritz, Konkretisierung, Seite 67; Guckelberger, Zulassungsbeschwerde, Seite Stüer / Hermanns, Erfahrungen mit der 6. VwGO-Novelle, Seite 257. Uechtritz, Konkretisierung, Seite 66; Happ, Darlegung ernstlicher Zweifel, Seite Seibert, Erfahrungen mit der 6. VwGO-Novelle, Seite 114. Quaas, 6. VwGO-Änderungsgesetz, Seite 701. Uechtritz, Konkretisierung, Seite 67. Stelkens, Aktuelle Probleme, Seite 159.

IV. Die Rechtsmittelzulassung wegen nicht dargelegter unionsrechtlicher Rechtsanwendungsfehler in Literatur und Rechtsprechung 1. Literatur Allgemein werden die Einwirkungen des Unionsrechts auf das nationale Rechtsmittelrecht – so solche überhaupt diskutiert werden – als gering angesehen 1. Dementsprechend finden sich nur wenige Auseinandersetzungen mit der Frage der Zulassung der Berufung wegen unionsrechtlicher und insbesondere nicht dargelegter Rechtsanwendungsfehler 2. a) Zulassung der Berufung Vereinzelt wird allein festgestellt, dass die Auslegung des Unionsrechts auch in dem innerstaatlichen Instanzenzug überprüfbar sei, da nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts das Unionsrecht als Bundesrecht revisibel im Sinne des § 137 VwGO sei 3, und es wird – teilweise ohne ein Eingehen auf eine entsprechende Darlegungsproblematik – darauf hingewiesen, dass es für eine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO genüge, dass in einem künftigen Verfahren voraussichtlich eine obligatorische Vorabentscheidung erforderlich werde 4.

1 Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 464; Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, Rn. 335, behandelt den Einfluss des Unionsrechts auf Rechtmittel vor nationalen Gerichten allein unter den Gesichtspunkten der durch das Unionsrecht vermittelten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und des Vorliegens eines Verfahrensfehlers ohne die entsprechenden Darlegungserfordernisse in den Blick zu nehmen. Buscher, Zulassungsberufung, Seite 104, stellt begründungslos die These auf, dass die Zulassungsberufung mit den Vorgaben des Unionsrechts im Einklang stehe, ohne diese in den Blick zu nehmen. 2 Buscher, Zulassungsberufung, Seite 79 und durchgehend, klammert etwa die Darlegungsproblematik aus. 3 Huber, Europäisierung, Seite 580. 4 Huber, Europäisierung, Seite 580; Frenz, Durchsetzung von Europarecht, Seite 171.

280 IV. Rechtsmittelzulassung wegen nicht dargelegter Rechtsanwendungsfehler

In der Literatur wird weiter – ohne nähere Begründung oder Herleitung – ein „Verstoß gegen gemeinschaftsrechtliche Vorgaben“ als geeignet angesehen, einen Verfahrensfehler in dem Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO zu begründen 5. Dies sei etwa der Fall, wenn ein erstinstanzliches Gericht zu einer Vorlage deswegen verpflichtet gewesen wäre, weil es seinem Urteil die Unwirksamkeit einer entscheidungserheblichen Vorschrift des Unionsrechts zugrunde lege, oder wenn es das ihm nach Art. 267 Abs. 2 AEUV zustehende Ermessen hinsichtlich der Vorlage ermessensfehlerhaft ausgeübt habe 6. Soweit mit dem Begriff eines „Verstoßes gegen gemeinschaftsrechtliche Vorgaben“ auch die oben angeführten Fallgruppen der unionsrechtlichen Rechtsanwendungsfehler durch die Verwaltungsgerichts gemeint sein sollten, ist dem entgegenzuhalten, dass nach dem oben zu dem Zulassungsgrund des Vorliegens eines Verfahrensfehlers, auf dem die Entscheidung beruhen kann, Gesagten die bloße Falsch- oder Nichtanwendung einschlägiger Rechtsvorschriften rechts-, aber eben nicht verfahrensfehlerhaft ist 7. Die Missachtung einer Vorlagemöglichkeit nach Art. 267 Abs. 2 AEUV durch ein Verwaltungsgericht ist – wie gezeigt – ebenfalls nicht einen Verfahrensfehler begründend 8. Dass demgegenüber die Verwerfung einer Norm des Unionsrechts ohne vorherige Anrufung des Gerichtshofs im Wege der Vorabentscheidung verfahrensfehlerhaft ist, wurde oben 9 ebenfalls hergeleitet. Ferner wird teilweise in der Literatur 10 als selbstverständlich angesehen, dass bei einer unionsrechtlich klärungsbedürftigen Frage, die entscheidungserheblich sei, als Voraussetzung einer Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung diese „(Grundsatz-)Frage – den Anforderungen des innerstaatlichen Prozessrechts entsprechend – im Zulassungsantrag dargelegt sein“ 11 müsse, um die Berufung zuzulassen. Weiter wird vertreten 12, dass die nationalen Bestimmungen über die Zulassung von Rechtsmitteln unionsrechtskonform in dem Lichte der Vorlagepflicht 5 So ohne nähere Begründung Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 464; Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 147. 6 Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 147; ähnlich Dörr, Europäisierter Rechtsschutzauftrag, Seite 234 f. 7 III. 2. e). 8 III. 2. e) cc) (5). 9 III. 2. e) cc) (5). 10 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Vorbemerkung § 124a VwGO Rn. 146. 11 Wilke, Europarechtliche Einflüsse, Seite 494. 12 Kokott / Henze / Sobotta, Pflicht zur Vorlage, Seite 634; ähnlich Middeke, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 10 Rn. 59, demgegenüber sieht Gellermann, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 36 Rn. 55 ff. – und damit in dem gleichen Werk – in dem das Rechtsmittelverfahren

1. Literatur

281

auszulegen seien, woraus folge, dass das Gericht entweder bei seiner Entscheidung über die Zulassung oder anschließend in dem Hauptsacheverfahren prüfen müsse, ob eine Vorlage nötig sei; seien Fragen des Unionsrechts für den Fall erheblich, so müsse „die Vorlagepflicht bereits in dem Zulassungsverfahren voll beachtet werden“. Die Maßstäbe des Art. 267 Abs. 3 AEUV seien „Teil der Entscheidung über die Zulassung des Rechtsmittels“ 13. Angedacht wird auch die Möglichkeit, bei Verletzungen der Vorlagepflicht einen außerordentlichen Rechtsbehelf zuzulassen 14. Aus dem Gebot einer unionsrechtskonformen Auslegung des mitgliedsstaatlichen Rechts wird gefolgert, dass nach der Stellung des Berufungszulassungsantrages ergangene Entscheidungen des Gerichtshofs auch dann zu berücksichtigen seien, wenn die Zulassung der Berufung nur wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO beantragt worden sei 15. Nach einer anderen Ansicht 16 ist die Zulassung der Berufung in den Fällen der Erkennbarkeit einer Vorabentscheidungsnotwendigkeit nicht an die Darlegungen des Berufungszulassungsantragsstellers gebunden. Denn eine Frage sei auch dann in dem Sinne des Art. 267 AEUV gestellt, wenn sie nicht dargelegt worden sei, da in derartigen Fällen der Gerichtshof von Amts wegen anzurufen sei. In derartigen Fällen sei in dem Berufungszulassungsverfahren vorzulegen und unter Berücksichtigung der Antwort des Gerichtshofs zu entscheiden, ob ein Berufungszulassungsgrund gegeben sei oder nicht 17. Dünchheim 18 untersucht unionsrechtliche Einflüsse auf das Erfordernis einer fristgerechten Begründung auch in dem Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO und kommt zu dem Ergebnis, dass zwar mit dem Darlegungsgebot aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht „allzu restriktiv“ umgegangen werden dürfe, und dass etwa bei der Geltendmachung einer grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO auch eine nach dem Ablauf der Darlegungsfrist ergangene, dem Berufungszulassungsantragssteller günstige Entscheidung eines Divergenzgerichtes in dem Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO betreffenden Abschnitt keine spezifische unionsrechtliche Problematik in Bezug auf das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO. 13 Frenz, Durchsetzung von Europarecht, Seite 171. 14 Emmert, Entwicklung der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite VIII. 15 Ehlers, Verwaltungsprozessrecht, Seite 1447. 16 Flint, Anmerkung zu OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 29. Januar 1998, Seite 608, der dem von ihm besprochenen Beschluss „im Ergebnis Zustimmung“ zollt, obwohl dieser die von ihm dargestellten Kriterien nicht erfüllt. 17 Flint, Anmerkung zu OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 29. Januar 1998, Seite 608. 18 Dünchheim, Verwaltungsprozessrecht, Seite 183 ff.

282 IV. Rechtsmittelzulassung wegen nicht dargelegter Rechtsanwendungsfehler

zu berücksichtigen sei, dass aber jenseits dieser Ausnahmen es „bei der strikten Linie bleiben“ müsse, „um den mit der fristgebundenen Begründungspflicht einhergehenden Entlastungs-, Beschleunigungs- und Konzentrationseffekt nicht zu gefährden“ 19. Dünchheim ist insoweit der Ansicht, dass „nationale Begründungsfristen für Rechtsmittel- und Rechtsmittelzulassungsanträge [...] keine gemeinschaftsrechtliche Determinierung“ erfahren 20. Mit der Frage der Berücksichtigung des Unionsrechts bei dessen fehlender Darlegung in dem Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO beschäftigt sich ausführlich Ehlers 21. Ehlers vertritt die Auffassung, dass zwar im Grundsatz die über den Berufungszulassungsantrag entscheidenden Gerichte verpflichtet seien, auch zwingende Vorschriften des Unionsrechts zu berücksichtigen, wenn und soweit sie ebenfalls die sich aus einer zwingenden Vorschrift des mitgliedsstaatlichen Rechts ergebenden rechtlichen Gesichtspunkte aufzugreifen berechtigt oder verpflichtet seien 22. Um eine derartige Fallgestaltung handele es sich jedoch bei der Frage der Zulassung der Berufung gerade nicht, da das Oberverwaltungsgericht gerade gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO auf die Prüfung der dargelegten Berufungszulassungsgründe beschränkt sei, mithin eine Prüfung von Amts wegen gerade nicht stattfinde 23. Da der Berufungszulassungsantragssteller bereits die Gelegenheit gehabt habe, sowohl in dem Verwaltungsverfahren als auch in dem erstinstanzlichen Verfahren und auch in dem Berufungszulassungsantrag eine Verletzung des Unionsrechts zu rügen, und da auch mit dem erstinstanzlich entscheidenden Verwaltungsgericht bereits ein Gericht in dem Sinne des Art. 267 AEUV mit dem Rechtsstreit befasst gewesen sei, sodass eine Befassung des Gerichtshofs theoretisch denkbar gewesen sei, trete die Beschleunigungsfunktion des Berufungszulassungsverfahrens in den Vordergrund, die durch Vorgaben des Unionsrechts nicht aufgehoben werde 24. Gleichwohl könne in Einzelfällen eine unionsrechtsfreundliche Auslegung der einschlägigen verwaltungsprozessualen Bestimmungen geboten sein: Habe etwa der Berufungszulassungsantragssteller fristgerecht Gründe für die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache in dem Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO dargelegt, die aber isoliert betrachtet die Zulassung der Berufung nicht trügen, so „wird man den verspäteten Hinweis auf das Gemeinschaftsrecht als Anregung an das Rechtsmittelgericht ansehen können, die Bedeutung der Rechtssache auch im Lichte des Gemeinschaftsrechts zu prüfen“ 25. 19 20 21 22 23 24 25

Dünchheim, Verwaltungsprozessrecht, Seite 185. Dünchheim, Verwaltungsprozessrecht, Seite 186. Ehlers, Europäisierung, Seite 81 ff. Ehlers, Europäisierung, Seite 83. Ehlers, Europäisierung, Seite 83. Ehlers, Europäisierung, Seite 83. Ehlers, Europäisierung, Seite 84.

1. Literatur

283

An dieser sehr zurückhaltend formulierten Sichtweise fällt auf, dass Ehlers lediglich eine „Anregung“ an das Oberverwaltungsgericht für denkbar hält und die Frage einer Berücksichtigungspflicht nicht vertieft problematisiert oder gar in Bezug auf Möglichkeiten eines einschränkenden Verständnisses der Darlegungspflicht behandelt. Ob dem zu folgen ist, ist zu untersuchen. b) Zulassung der Revision Da das Berufungszulassungsverfahren in Teilen dem Revisionszulassungsverfahren nachgebildet ist, sollen Erkenntnisse zu letzterem vorliegend herangezogen werden. In der Literatur wird vertreten, dass die Nichtdurchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens durch das Berufungsgericht eine Grundsatzrevision zu begründen vermöge. Denn eine das Unionsrecht betreffende Frage, deren Beantwortung noch umstritten bzw. die von dem Gerichtshof noch keiner Klärung zugeführt worden sei, habe grundsätzliche Bedeutung im Sinne des Revisionsrechts 26. Dem wird entgegengehalten 27, dass nicht die Möglichkeit der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens, sondern allein die Rechtssache selbst die grundsätzliche Bedeutung des Rechtsmittels bestimme, da andernfalls das nationale Revisionsrecht korrigierend auf die Entscheidung des Gesetzgebers, der in Art. 267 Abs. 2 AEUV eben geregelt habe, dass Instanzgerichte nicht vorlageverpflichtet, sondern nur vorlageberechtigt seien, Einfluss nehme. Als Argument wird hier 28 ferner die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 29 angeführt, das eine Verfassungsbeschwerde abgelehnt habe, mit der gerügt worden sei, dass der Bundesgerichtshof eine Revision nicht angenommen und dabei eine Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV unterlassen habe 30. Diese Sichtweise verkennt indes, dass bei Bejahung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache in denjenigen Fällen, in denen ein Vorabentscheidungsverfahren durchzuführen sein wird, nicht Art. 267 Abs. 2 AEUV auf das nationale Revisionsrecht korrigierend einwirkt, sondern die bejahende Subsumtion eines durchzuführenden Vorabentscheidungsverfahrens unter das Tatbestands26

Heß, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 99 f. Ehricke, Bindungswirkung, Seite 18. 28 Ehricke, Bindungswirkung, Seite 18. 29 BVerfG, Beschluss vom 27. August 1991, – 2 BvR 276/90 –, NJW 1992, 678. 30 Ehricke, Bindungswirkung, Seite 18; auch Haltern, Verschiebungen, Seite 328, verkennt insoweit, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Willkür-Maßstab bei Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG die Bejahung eines Verstoßes gegen den gesetzlichen Richter die seltene Ausnahme ist. 27

284 IV. Rechtsmittelzulassung wegen nicht dargelegter Rechtsanwendungsfehler

merkmal der „grundsätzlichen Bedeutung“ in § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO allein berücksichtigt, dass die Rechtssache eine wesentliche Bedeutung für die einheitliche Auslegung und Anwendung des Rechts – und zwar hier des Unionsrechts als Bestandteil der nationalen Rechtsordnung – hat. Die in Art. 267 Abs. 2 AEUV geregelte „Freiheit der Instanzgerichte in der Vorlage“ wird hierdurch nicht einmal tangiert. Soweit für diese Ansicht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angeführt wird, wird verkannt, dass der dortige tradierte Prüfungsmaßstab – wie noch zu zeigen sein wird 31 – kraft Verfassungsrechts in Anwendung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der einer Willkürkontrolle ist und in dem von dem Bundesverfassungsgericht zu überprüfenden Fall dieser enge Prüfungsmaßstab eben nicht erfüllt war. Die wegen einer angeblichen Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts 32 aus Art. 101 Abs. Satz 2 GG mit einer Verfassungsbeschwerde zur verfassungsrechtlichen Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht gestellte Entscheidung des Bundesgerichtshofs 33 war vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass sich der Bundesgerichtshof an der maßgeblichen Rechtsprechung des Gerichtshofs orientiert hatte und in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 34 entwickelten Kriterien zu einer Einhaltung der Kompetenznorm des Art. 267 AEUV mit diesem davon ausgegangen war, dass es einer Vorlage nicht bedürfe, wenn und soweit der Inhalt der in Betracht kommenden unionsrechtlichen Regelung derart offenkundig sei, dass für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage für den betreffenden Streitfall kein Raum bleibe; der Bundesgerichtshof hatte seine Auffassung, dass dies bei der streitigen Regelung zutreffe, in Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und Literatur sowie unter Zuhilfenahme zahlreicher Auslegungsmethoden ausführlich begründet. Daher hat das Bundesverfassungsgericht Willkür nicht als gegeben angesehen und eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verneint. Folgerungen aus dieser Entscheidung für die Auslegung des einfachgesetzlichen Begriffs der grundsätzlichen Bedeutung verbieten sich insoweit schon aus dogmatischen Gründen; sie verkennen die unterschiedlichen Prüfungsmaßstäbe des Bundesverfassungsgerichts einerseits und der Fachgerichte bei der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts andererseits: Das Bundesverfassungsgericht überprüft eben nicht die Ergebnisrichtigkeit der Verweigerung der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens, sondern beschränkt sich bei der von ihm allein zu entscheidenden Frage, ob jemand seinem gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entzogen wurde, allein auf eine Willkürkontrolle. 31 32 33 34

Teil VIII. Vedder, Neuer gesetzlicher Richter, Seite 527. BGH, Beschluss vom 15. Januar 1990, – II ZR 164/88 –, BGHZ 110, 47 –82. BVerfG, Beschluss vom 27. August 1991, – 2 BvR 276/90 –, NJW 1992, 678.

1. Literatur

285

Grundsätzliche Bedeutung in dem Sinne des Revisionsrechts liegt nach anderer Formulierung immer vor, wenn eine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV im Raume stehe, wenn voraussichtlich eine Vorabentscheidung an den Gerichtshof in Betracht komme 35. In der Literatur 36 wird ferner vertreten, dass eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung auch dann in Betracht komme, wenn zwar nach dem Unionsrecht eine Vorlage an den Gerichtshof unnötig erscheine, wohl aber die Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder aber eine Verkennung der unionsrechtlichen Rechtsfrage durch die Vorinstanz eine Abänderung der angefochtenen Entscheidung erfordere. c) Literaturmeinung zu einer Aussetzung und Vorlage nach Art. 267 AEUV in dem Zulassungsverfahren selbst In der Literatur finden sich nur vereinzelte Stimmen zu der Frage, ob eine Aussetzung und Vorlage an den Gerichtshof in dem Berufungszulassungsverfahren selbst möglich ist. Es wird vertreten, dass bei zulassungsbedürftigen Rechtsmitteln „die Vorlagepflicht bereits im Zulassungsverfahren selbst voll beachtet werden“ 37 müsse, was aber offen lässt, welche Konsequenzen aus diesem Beachten – denkbar wären eine Aussetzung und Vorlage in dem Berufungszulassungsverfahren selbst oder aber eine Zulassung der Berufung – zu ziehen sind. Vereinzelt wird ohne nähere Begründung angeführt, dass bei zulassungspflichtigen Berufungen, in denen vorlagepflichtige Fragen aufträten, die Entscheidungserheblichkeit zu einer Rechtsmittelzulassung zwinge, „damit sodann das Rechtsmittelgericht dem EuGH vorlegen kann.“ 38 An anderen Stellen wird festgestellt, dass in dem Rahmen eines Zulassungsverfahrens ein Vorabentscheidungsersuchen zu stellen sei 39.

35

Baumert, Revisionsverfahren, Seite 607, zum Zivilprozess. So ohne nähere Begründung Heß, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 100 f. 37 Kokott / Henze / Sobotta, Pflicht zur Vorlage, Seite 635. 38 Füßer, Durchsetzung der Vorlagepflicht, Seite 1574. 39 Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, Teil A § 9 Rn. 89; Flint, Anmerkung zu OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 29. Januar 1998, Seite 608. 36

286 IV. Rechtsmittelzulassung wegen nicht dargelegter Rechtsanwendungsfehler

2. Rechtsprechung a) Zulassung der Berufung Die Oberverwaltungsgerichte haben sich in ihrer veröffentlichten Judikatur bislang nur vereinzelt mit der Frage der Berufungszulassung wegen nicht dargelegter, aber ersichtlich vorliegender unionsrechtlicher Rechtsanwendungsfehler beschäftigt. Das Nordrhein-Westfälische OVG 40 hat in einem Fall, in dem im Berufungszulassungsverfahren besondere rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO vorgetragen waren, die die Klägerin daraus herleitete, dass es klärungsbedürftig sei, ob der von ihr in dem gerichtlichen Verfahren zur Überprüfung gestellte Vergnügungssteuerbescheid mit Art. 33 der Mehrwertsteuerrichtlinie 41 zu vereinbaren sei, festgestellt, dass eine Darlegung, weshalb diese Frage besondere rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten aufweisen solle, fehle. Das Nordrhein-Westfälische OVG hat sodann auf die von der Vorinstanz in den Blick genommene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 42 und des Bundesverwaltungsgerichts 43 zur Vereinbarkeit der Vergnügungssteuer auf Spielapparate mit Artikel 33 der 6. Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Umsatzsteuer hingewiesen und das Fehlen einer Aussetzung und Vorlage an den Gerichtshof durch diese Gerichte zu einer Klärung der Frage der Vereinbarkeit der Vergnügungssteuer mit der 6. Mehrwertsteuerrichtlinie nicht als ausreichend angesehen, den Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO darzulegen. „Da dieser und auch andere Zulassungsgründe im Sinne des § 124 Abs. 2 VwGO nicht dargelegt sind, besteht auch für den Senat kein Anlass (und keine Möglichkeit), die Berufung zuzulassen, um dann gegebenenfalls eine Vorabentscheidung einzuholen“ 44. Das Nordrhein-Westfälische OVG hat daher aufgrund der fehlenden Darlegung zwar keinen Anlass, aber ebenfalls auch keine – rechtliche – Möglichkeit gesehen, die Berufung zuzulassen, um etwaigen Zweifeln an der Vereinbarkeit der fragli40

Juris.

Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 23. März 2006, – 14 A 4479/01 –,

41 Sechste Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388/EWG), ABl. L 145 vom 13. Juni 1977, Seite 1, zuletzt geändert durch Richtlinie 2006/18/EG des Rates vom 14. Februar 2006, ABl. L 51 Seite 12 vom 22. Februar 2006. 42 BVerfG, Beschluss vom 1. März 1997, – 2 BvR 1599/89 u. a. –, NVwZ 1997, 573. 43 BVerwG, Beschluss vom 21. März 1997, – BVerwG 8 B 51.97 –, Buchholz 401.68 Nr. 30. 44 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 23. März 2006, – 14 A 4479/01 –, Juris.

2. Rechtsprechung

287

chen Abgabe mit Unionsrecht nachzugehen 45: Es sieht sich durch die fehlenden Darlegungen an einem Vorabentscheidungsverfahren gehindert. In einem Beschluss vom 14. Juli 2003 46 hat das Nordrhein-Westfälische OVG ferner entschieden, dass es in einem Berufungszulassungsverfahren einer Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung in dem Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO vermittele, wenn geltend gemacht werde, dass eine Berufung generell zuzulassen sei, wenn unionsrechtliche Fragen aufgeworfen würden, die der Gerichtshof noch nicht oder nicht abschließend entschieden habe, und das Verwaltungsgericht keine Vorabentscheidung eingeholt habe. Das Nordrhein-Westfälische OVG geht hier davon aus, dass sich die vorgenannte Frage auf die Modalitäten des Zulassungsverfahrens beziehe und „von daher keine für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblichen rechtlichen Aspekte“ betreffe. Nur Fragen der letztgenannten Art können aber, wie oben erläutert, eine grundsätzliche Bedeutung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO begründen. In einem weiteren Beschluss hat das Nordrhein-Westfälische OVG 47 die Ansicht vertreten, dass der entscheidende Senat mit der Ablehnung der Zulassung der Berufung zu einem Gericht werde, dessen Entscheidung selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden könne, „also gleichsam zum letztinstanzlichen Gericht“, sodass die Vorlagepflicht an den Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 3 AEUV entstehen könne. Das Oberverwaltungsgericht sei in Bezug auf die Ablehnung des Zulassungsantrags in einem Berufungszulassungsverfahren letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV 48. In dem hier interessierenden Zusammenhang ist eine weitere Entscheidung des Nordrhein-Westfälischen OVGs 49 interessant. Streitgegenstand dieser Entscheidung war der Anspruch der Klägerin gegen das Bundesgesundheitsministerium auf Erlass einer Allgemeinverfügung nach § 47a LMBG 50, auf deren 45 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 23. März 2006, – 14 A 4479/01 –, Juris [Rn. 7]. 46 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 14. Juli 2003, – 9 A 2667/01 –, Juris. 47 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 22. August 2001, – 13 A 817/01 –, NVwZ-RR 2002, 431 – 434. 48 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 17. Dezember 1999, – 5 A 4915/98 –, DVBl. 2000, 1075; ebenso VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Mai 2005, – 10 S 263/05 –, RdL 2005, 207 – 208. 49 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 22. August 2001, – 13 A 817/01 –, NVwZ-RR 2002, 431 – 434. 50 Die Vorschrift des § 47a LMBG 1974 in der Fassung vom 09. September 1997, gültig ab 01. August 1997, hatte folgenden Wortlaut:„§ 47a Vorläufiges Tabakgesetz Erzeugnisse aus anderen Mitgliedsstaaten oder anderen Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (1) Abweichend von § 47 Abs. 1 Satz 1 dürfen Erzeugnisse im Sinne dieses Gesetzes, die in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaft oder einem anderen

288 IV. Rechtsmittelzulassung wegen nicht dargelegter Rechtsanwendungsfehler

Grundlage die Klägerin Vitaminkapseln, die in Großbritannien als Nahrungsergänzungsmittel verkehrsfähig sind, nach Deutschland verbringen wollte, um sie hier ebenfalls als Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr zu bringen. In dem Berufungszulassungsverfahren war geltend gemacht worden, dass die Vorinstanz Unionsrecht verletzt habe und dass ein Vorabentscheidungsverfahren durchzuführen sei. Hier führte das Nordrhein-Westfälische OVG aus, dass in dem Fall, dass ein Berufungsgericht einen Antrag auf Zulassung der Berufung zurückweise, bei ihm eine Vorlagepflicht zum Gerichtshof nach Art. 267 AEUV entstehen könne. Denn das Oberverwaltungsgericht werde mit der Ablehnung der Zulassung der Berufung zu einem Gericht, dessen Entscheidung selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden kann, also gleichsam zum letztinstanzlichen Gericht, sodass die Vorlagepflicht an den Europäische Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 3 AEUV entstehen könne. Aus diesem Grunde nimmt das Nordrhein-Westfälische OVG dann eine „von dem Vortrag der Klägerin unabhängige Prüfung“ 51 des Vorliegens entscheidungsVertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum rechtmäßig hergestellt und rechtmäßig in den Verkehr gebracht werden oder die aus einem Drittland stammen und sich in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaft oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum rechtmäßig im Verkehr befinden, in das Inland verbracht und hier in den Verkehr gebracht werden, auch wenn sie den in der Bundesrepublik Deutschland geltenden lebensmittelrechtlichen Vorschriften nicht entsprechen. Satz 1 gilt nicht für Erzeugnisse, die 1. den Verboten der §§ 8, 24 oder 30 nicht entsprechen oder 2. anderen zum Schutz der Gesundheit erlassenen Rechtsvorschriften nicht entsprechen, soweit nicht die Verkehrsfähigkeit der Erzeugnisse in der Bundesrepublik Deutschland nach Absatz 2 durch eine Allgemeinverfügung des Bundesministeriums im Bundesanzeiger bekanntgemacht worden ist. (2) Allgemeinverfügungen nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 werden vom Bundesministerium im Einvernehmen mit den Bundesministerien für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und für Wirtschaft erlassen, soweit nicht zwingende Gründe des Gesundheitsschutzes entgegenstehen. Sie sind von demjenigen zu beantragen, der die Erzeugnisse in das Inland zu verbringen beabsichtigt. Das Bundesministerium hat bei der Beurteilung der gesundheitlichen Gefahren eines Erzeugnisses die Erkenntnisse der internationalen Forschung sowie bei Lebensmitteln die Ernährungsgewohnheiten in der Bundesrepublik Deutschland zu berücksichtigen. Allgemeinverfügungen nach Satz 1 wirken zugunsten aller Einführer der betreffenden Erzeugnisse aus Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft oder anderen Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum. (3) Dem Antrag sind eine genaue Beschreibung des Erzeugnisses sowie die für die Entscheidung erforderlichen verfügbaren Unterlagen beizufügen. Über den Antrag ist in angemessener Frist zu entscheiden. Sofern innerhalb von 90 Tagen eine endgültige Entscheidung über den Antrag noch nicht möglich ist, ist der Antragsteller über die Gründe zu unterrichten. (4) Weichen Lebensmittel von den Vorschriften dieses Gesetzes oder der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen ab, sind die Abweichungen angemessen kenntlich zu machen, soweit dies zum Schutz des Verbrauchers erforderlich ist.“

2. Rechtsprechung

289

erheblicher Auslegungsfragen des Unionsrechts vor und verzichtet insoweit auf entsprechende Darlegungen der Klägerin. Demgegenüber geht das OVG Sachsen-Anhalt 52 in einem wesentlich durch die Frage der Vereinbarkeit von Kammerbeiträgen mit dem Unionsrecht bestimmten Streitfall davon aus, dass eine Zulassung der Berufung bei einem unionsrechtlichen Rechtsanwendungsfehler ebenso wie bei einer Notwendigkeit zu einer Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV nur dann in Betracht komme, wenn der Berufungszulassungsantrag die Notwendigkeit der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens oder den Verstoß gegen das Unionsrecht hinreichend darlege. In dem Beschluss heißt es zu dem Berufungszulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, dass ein Verstoß gegen eine einschlägige EG-Richtlinie dadurch ordnungsgemäß dargelegt werden müsse, dass die Klägerin ausführt, „unter welchen abstrakten Voraussetzungen eine innerstaatliche Gebühr dem gemeinschaftsrechtlichen Begriff der Abgabe unterfällt, allgemeiner Natur ist und den Charakter einer Umsatzsteuer annimmt und dass die Kammerbeiträge der Beklagten diese Voraussetzungen erfüllen. Mit dem Hinweis, dass die Kammerbeiträge ebenso wie die Umsatzsteuer den Umsatz als Bemessungsgrundlage hätten und deshalb Parallelen zur Umsatzsteuer vorhanden seien, und der Behauptung, der Rückgriff des Verwaltungsgerichts auf das Umsatzsteuerrecht und die dazu ergangene Kommentierung indiziere den „Umsatzsteuercharakter“ der Kammerbeiträge, ist es nicht getan.“ Im Anschluss hieran sieht der Senat auch die „Bezugnahme auf einen Artikel in der Lebensmittel-Zeitung Nr. 40 vom 2. Oktober 1997, demzufolge der Verwaltungsgerichtshof Wien dem Gerichtshof die Frage vorgelegt hat, ob die in Österreich erhobene Kammerumlage I mit Art 33 der Sechsten Richtlinie Nr. 77/388 (EWG) vereinbar ist“, als nicht dem Darlegungserfordernis genügend an, da „dem Artikel [...] zu entnehmen [ist], dass – anders als im vorliegenden Fall – sich in Österreich die Kammerumlage I nach der Umsatzsteuer und nicht nach dem Umsatz selbst bemisst und auf den Umfang der geschäftlichen Beziehungen des Kammermitgliedes zu seinen Lieferanten und nicht zu seinen Abnehmern abgestellt wird. Dass diese Unterschiede gemeinschaftsrechtlich ohne Bedeutung sind, zeigt die Klägerin nicht auf. Außerdem sind die Voraussetzungen nach Art. [267 AEUV] für die Einholung einer Vorabentscheidung insoweit weiter als die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, als eine Anrufung des Gerichtshofs nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an der Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Norm mit Gemeinschaftsrecht in Betracht kommt, sondern bereits dann, wenn das vorlegende Gericht eine Entscheidung des Gerichtshofs für erforderlich hält.“ Eine 51

Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 22. August 2001, – 13 A 817/01 –, NVwZ-RR 2002, 431 – 434. 52 OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 29. Januar 1998, – A 1 S 177/98 –, NJ 1998, 607 – 608.

290 IV. Rechtsmittelzulassung wegen nicht dargelegter Rechtsanwendungsfehler

eigene Prüfung von Amts wegen, ob der Sache nach ein Vorabentscheidungsverfahren geboten ist, nimmt das OVG Sachsen-Anhalt nicht vor. Zu einer Zulassung der Berufung wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO unter dem Aspekt des Unionsrechts führt das OVG Sachsen-Anhalt anschließend aus 53, dass es insoweit erforderlich sei, darzutun, bei welchen Tatbestandsmerkmalen der Vorschrift des Unionsrechts unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten bestünden und daher das Ergebnis der Auslegung nicht eindeutig sei. Der bloße Hinweis auf die Vorschrift und einen dazu durch ein Gericht eines anderen Mitgliedsstaates ergangenen Aussetzungs- und Vorlagebeschluss zum Gerichtshof genüge insoweit nicht. Das OVG Sachsen-Anhalt zieht ein Vorabentscheidungsverfahren nur dann in Betracht, wenn dessen Notwendigkeit hinreichend dargelegt ist, und sieht für diese Darlegung den Verweis auf eine vergleichbare Problematik in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union nur dann als ausreichend an, wenn zugleich dargelegt wird, dass die rechtlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen nationalen Regelungen unionsrechtlich unerheblich seien, und stellt hohe Anforderungen an die Darlegung eines Verstoßes einer nationalen Regelung gegen das Unionsrecht. Auch von dem VGH Baden-Württemberg wird vertreten 54, dass in dem Fall, dass der Tatbestand des Artikels 267 Absatz 3 AEUV erfüllt ist, bei fehlender diesbezüglicher Darlegung in dem Berufungszulassungsantrag das Oberverwaltungsgericht weder berechtigt noch gar verpflichtet sei, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs einzuholen. Unionsrechtliche Gesichtspunkte, die der Berufungszulassungsantragssteller in seinem Zulassungsantrag nicht erwähne, dürften nicht geprüft werden. Der Entscheidung lag das Begehren eines türkischen Staatsangehörigen zugrunde, eine nach einer rechtskräftig gewordenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs bestandskräftige Ausweisungsverfügung zurückzunehmen. Für den VGH Baden-Württemberg war die Rechtskraftwirkung des § 121 VwGO entscheidungstragend. Denn die „mit der Rechtskraftwirkung verbundene Ungleichbehandlung des Klägers gegenüber anderen Ausländern, die eine Ausweisung nicht vor Gericht angefochten haben, [sei ...] nicht ungerechtfertigt“, da sie auf der Natur der Sache insoweit beruhe, als die Wirkungen der Rechtskraft nach § 121 Nr. 1 VwGO immer nur zugunsten oder zulasten desjenigen eintreten könnten, der als Beteiligter eines gerichtlichen Verfahrens ein rechtskräftiges Urteil erwirkt habe. Diese Grundsätze würden – die Freizügigkeitsberechtigung des Klägers und einen Verstoß der Ausweisung gegen 53

OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 29. Januar 1998, – A 1 S 177/98 –, NJ 1998, 607 – 608. 54 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18. Juni 2008, -13 S 2809/07 –, VBlBW 2009, 73 – 75.

2. Rechtsprechung

291

Unionsrecht von dem Senat zu seinen Gunsten unterstellt – durch das Unionsrecht nicht modifiziert, da der Gerichtshof die Bestandskraft eines Verwaltungsakts als Ausprägung der Rechtssicherheit, die zu den im Unionsrecht anerkannten Grundsätzen zähle, respektiere. Für eine ausnahmsweise Rücknahme einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung wegen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht fehle es an einer der hierfür von dem Gerichtshof aufgestellten Voraussetzungen, nämlich dass das Urteil, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofs zeige, auf einer unrichtigen Auslegung des Unionsrechts beruhe, die erfolgt sei, ohne dass der Gerichtshof um eine Vorabentscheidung ersucht worden sei, obwohl der Tatbestand des Art. 267 Abs. 3 AEUV erfüllt gewesen sei. Diese Voraussetzung sei nicht erfüllt, da der damals zuständige Senat des VGH Baden-Württemberg nicht berechtigt oder gar verpflichtet gewesen sei, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs einzuholen, da in dem Berufungszulassungsantrag Zweifel an den Ausführungen der Vorinstanz zu den unionsrechtlichen Voraussetzungen der verfügten Ausweisung nicht dargelegt worden seien 55. Ohne entsprechende Darlegung sieht der VGH Baden-Württemberg daher keine Möglichkeit, in einem Berufungszulassungsverfahren eine Vorabentscheidung einzuholen oder gar jenseits einer solchen Darlegung aus unionsrechtlichen Gründen die Berufung zuzulassen. b) Zulassung der Revision Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt einer Rechtssache grundsätzliche Bedeutung i. S. d. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu, wenn zu erwarten ist, dass die Entscheidung in einem zukünftigen Revisionsverfahren dazu dienen kann, die Rechtseinheit in ihrem Bestand zu erhalten oder die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern. Das ist der Fall, wenn die Rechtssache eine höchstrichterlich bisher noch nicht geklärte Rechtsfrage von grundsätzlicher, das heißt allgemeiner Bedeutung aufwirft 56. Hierfür ist es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 57 und Bundesverfassungsgerichts 58 in Rechtsstreitigkeiten über die Auslegung einer unionsrechtlichen Regelung ausrei55

VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18. Juni 2008, -13 S 2809/07 –, VBlBW 2009, 73 – 75. 56 BVerwG, Beschluss vom 02. Oktober 1961, – BVerwG VIII B 78.61 –, BVerwGE 13, 90 [91]. 57 BVerwG, Beschluss vom 02. Oktober 1985, – BVerwG 3 B 12.84 –, NJW 1986, 1448 [1449]; BVerwG, Beschluss vom 22. Oktober 1986, – BVerwG 3 B 43.86 –, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 243. 58 BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 1990, – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/ 87 – [Absatzfonds], BVerfGE 82, 159 [196].

292 IV. Rechtsmittelzulassung wegen nicht dargelegter Rechtsanwendungsfehler

chend, wenn dargelegt ist, dass in einem zukünftigen Revisionsverfahren voraussichtlich gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs einzuholen sein wird. Mithin kann die Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 133 Abs. 1 VwGO auf die voraussichtliche Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens durch den Gerichtshof gestützt werden. Eine Prüfung der Vorabentscheidungsbedürftigkeit einer Frage des Unionsrechts nimmt das Bundesverwaltungsgericht demgegenüber von Amts wegen nicht vor. Ferner sieht das Bundesverwaltungsgericht 59 einen Verfahrensmangel in dem Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht als gegeben an, wenn das Oberverwaltungsgericht über die Auslegung und Anwendung revisiblen Rechts entscheide und von einer Aussetzung und Vorlage an den Gerichtshof absehe. Denn in einem derartigen Falle sei das Oberverwaltungsgericht nicht letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV, da die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision angefochten werden könne. Revisionsrechtlich ist auch die Sichtweise des Bundesgerichtshofs zum Zivilprozessrecht interessant: Nach dem Bundesgerichtshof „liegt immer dann ein Grund für die Zulassung der Revision vor, wenn eine entscheidungserhebliche Frage durch eine Vorlage nach Art. [267 AEUV] zu klären ist“ 60. Der Bundesgerichtshof erwähnt in dieser eher apodiktischen Feststellung insoweit nicht die nach § 544 Abs. 2 Satz 3 ZPO 61 bestehende Darlegungspflicht eines Revisionszulassungsgrundes, was dafür sprechen könnte, dass der Bundesgerichtshof auch eine Zulassung der Revision von Amts wegen für geboten erachtet. c) Rechtsprechung zu einer Aussetzung und Vorlage nach Art. 267 AEUV in dem Zulassungsverfahren selbst In der Rechtsprechung wird auch zum Teil eine Aussetzung und Vorlage nach Art. 267 AEUV im Berufungszulassungsverfahren selbst für möglich erachtet. So geht etwa das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht 62 davon aus, dass die Möglichkeit bestehe, das Berufungszulassungsverfahren auszusetzen, um eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs einzuholen.

59 BVerwG, Beschluss vom 22. Dezember 2004, – BVerwG 10 B 21.04 –, NVwZ 2005, 598 – 601. 60 BGH, Beschluss vom 16. Januar 2003, – I ZR 130/02 –, LRE 46, 279 –280. 61 § 544 Abs. 2 Satz 3 ZPO: „In der Begründung müssen die Zulassungsgründe (§ 543 Abs. 2) dargelegt werden.“

3. Entscheidung der Streitfrage, ob eine Aussetzung möglich ist

293

Auch der Bayerische VGH 63 hält eine Aussetzung und Vorlage nach Art. 267 AEUV in einem Berufungszulassungsverfahren selbst für möglich, verneint aber in einer Entscheidung eines anderen Senats die Möglichkeit einer Aussetzung und Vorlage nach Art. 267 AEUV in dem Zulassungsverfahren selbst ohne nähere Begründung 64 mit der Formulierung: „Diese Fragen stellen sich nach Auffassung des Senats in einem Berufungsverfahren nicht und würden auch im Hauptsacheverfahren – im Zulassungsverfahren käme eine Vorlage ohnehin nicht in Betracht – keinen Anlass für eine Vorlage an den EuGH geben.“

3. Entscheidung der Streitfrage, ob eine Aussetzung und Vorlage in dem Berufungszulassungsverfahren selbst möglich ist In Teil III. der Arbeit wurde gezeigt, dass das Berufungszulassungsverfahren und das Berufungsverfahren durch eine eng verzahnte Zweistufigkeit geprägt 65 sind, bei der der Gegenstand des Berufungszulassungsverfahrens die Frage des Zugangs zu der Berufungsinstanz, hingegen Gegenstand des Berufungsverfahrens der Rechtsstreit in der Hauptsache ist 66. Das Berufungszulassungsverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht ist ein selbständiges Verfahren, das nicht Teil des Berufungsverfahrens ist 67. Auch wurde gezeigt, dass der Berufungszulassungsantrag allein aufgrund seines Inhalts und des angegriffenen Urteils des Verwaltungsgerichts entschieden werden können soll. 62

Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 31. März 2008, – 10 LA 73/08 –, http://www.dbovg.niedersachsen.de/. 63 Bayerischer VGH, Beschluss vom 5. Dezember 2000, – 24 ZB 00.3110 –, Juris [Rn. 21]: „Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Eine Vorabentscheidung durch den Gerichtshof kommt nicht in Betracht. Der Verwaltungsgerichtshof fasst das Ansinnen des Klägervertreters einer Vorlage an den Gerichtshof als Anregung auf, weil er kein förmliches Antragsrecht hat (vgl. Kopp, Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, 12. Aufl., § 94 Anm. 22). Gemäß Art. 234 EVG muss das Gericht das Verfahren aussetzen und eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs über die Auslegung des entscheidungserheblichen EU-Rechts einholen, wenn sich in einer für die Entscheidung wesentlichen Frage Zweifel hinsichtlich des EU Rechts ergeben. Dies ist vorliegend nicht der Fall, wie sich bereits aus den Ausführungen zu den genannten Zulassungsgründen ergibt.“ 64 Bayerischer VGH, Beschluss vom 27. März 2003, – 19 ZB 99.1196 –, Juris [Rn. 6]. 65 BVerwG, Urteil vom 04. Oktober 1999, – BVerwG 6 C 31.98 –, BVerwGE 109, 336 – 346. 66 Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 31. 67 Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 31.

294 IV. Rechtsmittelzulassung wegen nicht dargelegter Rechtsanwendungsfehler

Fraglich ist daher, ob eine Aussetzung und Vorlage in dem Berufungszulassungsverfahren selbst möglich ist. Hierfür könnten andere Verfahrenshandlungen wie etwa Beweisaufnahmen angeführt werden, wenn diese auch in einem Berufungszulassungsverfahren statthaft wären; auch Verfahrensaussetzungen nach anderen Vorschriften im Berufungszulassungsverfahren – etwa nach Art. 100 Abs. 1 GG – könnten den Schluss tragen, dass auch eine Aussetzung und Vorlage zu dem Zwecke der Vorabentscheidung möglich sein müsste. Insoweit wird etwa zu Verfahrensrügen vertreten, dass sich das Oberverwaltungsgericht gegebenenfalls durch eine Beweisaufnahme in dem Berufungszulassungsverfahren von dem Vorliegen des geltend gemachten Verfahrensmangels überzeugen müsse 68. Eine Sachverhaltsaufklärung durch Beweisaufnahme ist in einem Berufungszulassungsverfahren zwar nicht generell gesetzlich ausgeschlossen 69. Der funktionale Unterschied zwischen dem Zulassungs- und dem Berufungsverfahren verlangt aber, dass Beweisaufnahmen – von sachlich begründeten Ausnahmen abgesehen – grundsätzlich in einem Berufungsverfahren durchgeführt werden 70. Nichts anderes gilt für Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse: Durch eine Aussetzung und Vorlage schon in dem Zulassungsverfahren würde dieses unverhältnismäßig verlängert 71, was mit dem gesetzgeberischen Ziel der Vereinfachung und Straffung des Verfahrens ganz offensichtlich nicht vereinbar ist 72. Von Ausnahmefällen abgesehen ist einer Beweiserhebung in einem Berufungszulassungsverfahren und auch Aussetzungen und Vorlagen ferner entgegen zu halten, dass das Berufungszulassungsverfahren ein bloßes Vorverfahren ist, das das eigentliche Berufungsverfahren nicht ersetzen kann und ersetzen soll; in ihm ist von seinem Sinn und Zweck her kein Raum für eine erstmalige und umfassende Aufarbeitung und Durchdringung des Prozessstoffes durch das Berufungsgericht 73. Einer solchen Aufarbeitung und Durchdringung bedürfte es aber, wollte man im Berufungszulassungsverfahren eine Aussetzung und Vorlage an den Gerichtshof oder das Bundesverfassungsgericht aussprechen oder eine Beweisaufnahme durchführen. 68

Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124a Rn. 78. Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 91; anders insoweit Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 15, der hier eine Beweisaufnahme ausnahmslos als ausgeschlossen, eine solche aber § 124a Rn. 78 für Verfahrensfehler dann wiederum als möglich ansieht. 70 Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 91. 71 Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 832. 72 Mampel, Beschwerde-Zulassung, Seite 262. 73 Heinig, Ernstliche Zweifel, Seite 530. 69

3. Entscheidung der Streitfrage, ob eine Aussetzung möglich ist

295

Ferner kommt der Rechtsmittelzulassung im Sinne einer Prozessrechtsgestaltung allein die Funktion zu, eine Schranke für den Rechtsmittelzugang zu beseitigen und das Rechtsmittel zu eröffnen 74; erst in dem Berufungsverfahren geht es dann um die Frage, wie jetzt richtiger Weise entschieden werden muss 75. Der Berufungszulassungsantrag ist daher ein verfahrensrechtlicher Rechtsbehelf besonderer Art 76, der sich nur auf eine prozessuale Vorentscheidung, nämlich die Zulässigkeit der Berufung, bezieht 77. Über diesen Antrag wird in einem selbständigen Verfahrensabschnitt (schriftlich) verhandelt und selbständig durch einen Beschluss entschieden 78. Eine Beweisaufnahme oder eine persönliche Anhörung finden im Berufungszulassungsverfahren gerade nicht statt 79. Die Streitparteien haben dann auch keinerlei Einfluss auf die Einleitung und Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens 80. Hierfür kann auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung eines Rechtsmittels als Rechtsbehelf im Sinne des Art. 267 Abs. 2 AEUV 81 angeführt werden, nach der Rechtsfragen aus dem Bereich des Unionsrechts bereits dann grundsätzlich im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind und damit den Revisionsrechtsweg eröffnen, wenn sich voraussichtlich in einem „künftigen Revisionsverfahren“ die Notwendigkeit ergeben würde, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs einzuholen. Das Bundesverwaltungsgericht geht also davon aus, dass in einem „künftigen Revisionsverfahren“ die unionsrechliche Frage geklärt wird und dies nicht etwa schon in einem Revisionszulassungsverfahren geschieht. Eine Aussetzung und Vorlage ist damit nicht bereits in dem Zulassungsverfahren durchzuführen 82. In einem Berufungszulassungsverfahren kommt daher eine Aussetzung und Vorlage an den Gerichtshof nicht in Betracht 83.

74

Rennert, Maßgebliche Perspektive, Seite 666. Piekenbrock / Schulze, Zulassung der Revision, Seite 913, zu der vergleichbaren Problematik in einem Zivilprozess. 76 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124a Rn. 41. 77 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124a VwGO Rn. 66. 78 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124a VwGO Rn. 66. 79 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124a VwGO Rn. 121. 80 Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 12. 81 BVerwG, Beschluss vom 22. Juli 1986, – BVerwG 3 B 104.85 –, BayVBl. 1987, 283 – 284. 82 So zu dem Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision zutreffend Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 832. 83 Bayerischer VGH, Beschluss vom 27. März 2003, – 19 ZB 99.1196 –, Juris [Rn. 6]. 75

296 IV. Rechtsmittelzulassung wegen nicht dargelegter Rechtsanwendungsfehler

Ist aber das Berufungszulassungsverfahren selbst aussetzungs- und vorlagefeindlich, so verlagern sich die unionsrechtlichen Fragestellungen notwenig auf die Zulassungsentscheidung selbst, und es ist zu untersuchen, ob und inwieweit durch unionsrechtliche Vorgaben auch die Entscheidung über die Zulassung der Berufung selbst determiniert wird, und ob diese Entscheidung eine durch das Oberverwaltungsgericht objektiv oder in Abhängigkeit von den Darlegungen des Rechtsmittelführers zu treffende ist. Wären allein die Darlegungen des Berufungszulassungsantragsstellers auch in Bezug auf die Fragen des Unionsrechts maßgeblich, so wäre diesem letztendlich mittelbar auch die Entscheidung über die Anwendung des Unionsrechts übertragen; wäre die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts allein objektiv und unabhängig von den Darlegungen des Berufungszulassungsantragsstellers zu treffen, so bedürfte eine solche Sichtweise angesichts des Wortlauts des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO einer dogmatischen Unterfütterung.

V. Unionsrechtliche Vorgaben Im Folgenden soll untersucht werden, ob und welche Einflüsse des Unionsrechts auf die Entscheidung über die Zulassung der Berufung nach den §§ 124, 124a VwGO in den Fällen bestehen, in denen die objektive Notwendigkeit der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens oder aber eine objektive Nicht- oder Falschanwendung des Unionsrechts von dem Berufungszulassungsantragssteller nicht im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt wurden, aber für das Oberverwaltungsgericht diese Nicht- oder Falschanwendung des Unionsrechts oder die Notwendigkeit der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens in dem Instanzenzug offen zu Tage tritt. Hierbei ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs in den Focus zu nehmen, da die Rechtsentwicklung maßgeblich auf einer richterrechtlichen Grundlage erfolgt 1.

1. Das Vorabentscheidungsverfahren Primäre Schnittstelle zwischen der mitgliedsstaatlichen Gerichtsbarkeit und der der Union 2 und damit auch zwischen dem deutschen Verwaltungsprozess1

Von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, Seite 141. Schoch, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Seite 515; Von Danwitz, Funktionsbedingungen, Seite 776, bezeichnet das Vorabentscheidungsverfahren sogar als den „prozessualen Königsweg“; demgegenüber spricht Emmert, Entwicklung der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite VII, von dem Vorabentscheidungsverfahren als einem „trojanischen Pferd“, durch das sich das Unionsrecht Zugang zu den nationalen Rechtsordnungen verschaffe, was nicht nur fehlende Grundkenntnisse in der griechischen Mythologie offenbart: Schließlich beinhaltet nach der Odyssee Homers (Homer, Odyssee, 8. Gesang, Vers 495 ff.) dieser Mythos, dass, nachdem die Griechen im Trojanischen Krieg lange erfolglos um die Mauern von Troja gekämpft hatten, Odysseus den griechischen Helden riet, Troja nicht mit Gewalt, sondern mit Hilfe einer List zu erobern: Mit Athenes Hilfe schaffte es Odysseus, innerhalb von drei Tagen ein hohles Holzpferd zu schaffen. Nachdem die Armee, die Troja belagerte, den Abzug vorgetäuscht hatte, holten die Trojaner das Pferd trotz vorheriger Warnung des Laokoon vor dem Danaergeschenk in die Stadt, da sie es für ein Abschiedsgeschenk der Griechen hielten. In der Stadt blieben die Warnungen der Kassandra unbeachtet. In der Nacht krochen die Soldaten aus dem Bauch des Pferdes und öffneten die Stadttore. Die Griechen, die in der Nacht zurückgekehrt waren, drangen in die Stadt ein und zerstörten sie. – Wieso eine rechtlich 2

298

V. Unionsrechtliche Vorgaben

recht und dem Unionsrecht ist das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV 3. Es ist zu untersuchen, ob in denjenigen Fällen, in denen die Vorabentscheidungsfähigkeit und -bedürftigkeit einer unionsrechtlichen Frage objektiv vorliegt, aber in dem Berufungszulassungsantrag nicht dargelegt wurde, Art. 267 AEUV Auswirkungen auf die Entscheidung über die Zulassung der Berufung nach den §§ 124, 124a VwGO hat. a) Sinn und Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens Nach Art. 267 AEUV können bzw. müssen nationale Gerichte den Gerichtshof mit Fragen der Auslegung des Unionsrechts befassen. Das Vorabentscheidungsverfahren ist als Kooperationsverhältnis 4 bzw. als Bindeglied 5 zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedsstaaten ausgestaltet; es führt zwischen nationalen Gerichten und Gerichtshof zu einem „Kontrollverbund“ 6, in dem es die nationale Gerichtsbarkeit mit der der Union verzahnt 7 beziehungsweise durch das System des Vorabentscheidungsverfahrens beide miteinander verklammert werden 8. Die dem Gerichtshof zuerkannten Befugnisse bezwecken im Wesentlichen, eine einheitliche und effektive Anwendung des Unionsrechts durch die mitgliedsstaatlichen Gerichte zu gewährleisten 9. Dieses Erfordernis der Einheitlichkeit ist besonders zwingend, wenn es um die Gültigkeit und Wirkung einer Unionshandlung geht. Denn Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gerichten der Mitgliedsstaaten über die Gültigkeit von Unionshandlungen wären geeignet, die Einheit der Unionsrechtsordnung von den Mitgliedsstaaten freiwillig und ohne Vorbehalte übernommene prozessrechtliche Regelung wie die des Art. 267 AEUV mit einer derartigen Kriegslist vergleichbar sein könnte, oder wer – den Griechen der Odyssee vergleichbar – von Art. 267 AEUV rechtswidrig profitieren könnte, vermag ich nicht zu erkennen. 3 Zu der Entstehungsgeschichte des Vorabentscheidungsverfahrens vergleiche Pescatore, Vorabentscheidungsverfahren; zu Besonderheiten der Art. 35 EUV / Amsterdam vergleiche Pechstein, Justitiabilität, sowie Skouris, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 345 f.; zu Entwicklungsperspektiven des Vorabentscheidungsverfahrens Schmidt-Aßmann, System des Rechtsschutzes. 4 Middeke, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 10 Rn. 12; Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 49; zwischen Prüfungs- und Verwerfungskompetenz in dem Verhältnis Bundesverfassungsgericht – Gerichtshof differenzierend Gersdorf, Kooperationsverhältnis. 5 Büscher, Interdependenzen, Seite 210. 6 Schmidt-Aßmann, Aufgaben- und Funktionswandel, Seite 51. 7 Oexle, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 1328; Gärditz, Europäisches Verwaltungsprozessrecht, Seite 387. 8 Rabe, Vorlagepflicht und gesetzlicher Richter, Seite 203. 9 Pache / Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis, Seite 17 f.; Streil, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 69.

1. Das Vorabentscheidungsverfahren

299

selbst zu gefährden und das grundlegende Erfordernis der Rechtssicherheit zu beeinträchtigen 10. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs 11 ist das Vorabentscheidungsverfahren daher von entscheidender Bedeutung dafür, dass das von dem Vertrag geschaffene Recht wirklich gemeinsames Recht bleibt: Das Vorabentscheidungsverfahren soll gewährleisten, dass dieses Recht in allen Mitgliedsstaaten immer die gleiche Wirkung hat. Das Vorabentscheidungsverfahren soll daher unterschiedliche Auslegungen des Unionsrechts in den einzelnen Mitgliedsstaaten verhindern. Ferner hat das Vorabentscheidungsverfahren das Ziel, die Anwendung des Unionsrechts selbst zu gewährleisten, da es ein Mittel ist, das dem nationalen Richter die Möglichkeit gibt, dem Unionsrecht in dem Rahmen der Rechtsordnung des jeweiligen Mitgliedsstaates zu seiner vollen Geltung zu verhelfen 12. Nationale Normen, die ein Vorabentscheidungsverfahren unmöglich machen, stellen damit nach dem Gerichtshof 13 sogar die Wirksamkeit der Vertragsvorschriften als solche sowie die des abgeleiteten Unionsrechts in Frage; Meinungsverschiedenheiten der Gerichte der Mitgliedsstaaten über die Gültigkeit von Unionshandlungen sind nach dem Gerichtshof geeignet, die Einheit der Unionsrechtsordnung selbst aufs Spiel zu setzen und das grundlegende Erfordernis der Rechtssicherheit zu beeinträchtigen 14. Hiervon ausgehend lassen sich vier Funktionen des Vorabentscheidungsverfahrens herausarbeiten 15:

10

EuGH, Urteil vom 06. Dezember 2005, Rs. C-461/03 [Gaston Schul Douane-expediteur BV gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2005, I-10513 [Rn. 21]. 11 EuGH, Urteil vom 16. Januar 1974, Rs. C-166/73 [Rheinmühlen-Düsseldorf gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1974, 33 [Rn. 2]. 12 EuGH, Urteil vom 16. Januar 1974, Rs. C-166/73 [Rheinmühlen-Düsseldorf gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1974, 33 [Rn. 2]. 13 EuGH, Urteil vom 16. Januar 1974, Rs. C-166/73 [Rheinmühlen-Düsseldorf gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1974, 33 [Rn. 2]. 14 EuGH, Urteil vom 22. Oktober 1987, Rs. C-314/85 [Foto-Frost gegen Hauptzollamt Lübeck-Ost], Slg. 1987, 04199. 15 Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 234 EGV Rn. 1 spricht demgegenüber nur von zwei Funktionen des Vorabentscheidungsverfahrens – den sogleich unter aa) und bb) dargestellten –, was aber offensichtlich nur mit einer abweichenden Definition des Begriffs der „Funktion“ – konzeptionell wie bei Schwarze oder faktisch wie hier – zusammenhängt. Die von Groh, Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Seite 462, in diesem Zusammenhang gesehene Rangfolge zwischen den genannten Zielen halte ich für schwerlich begründbar; eher ist insoweit von Überschneidungen auszugehen.

300

V. Unionsrechtliche Vorgaben

aa) Gewährleistung der Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung Primärer Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens ist zunächst die Gewährleistung einer einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts 16, um damit die Einheitlichkeit der unionsrechtlichen Rechtsordnung 17, deren Kohärenz 18, zu gewährleisten. Es sind die nationalen Gerichte, die in nationales Recht umgesetzte Richtlinien sowie unmittelbar anwendbares Unionsrecht in der Praxis anwenden und unionsrechtlichen Rechtsschutz gewähren 19. Wird ein solcher Normtext von verschiedenen Gerichten interpretiert, die noch dazu verschiedenen Rechtsordnungen und -regimen angehören, besteht stets die Gefahr divergierender Entscheidungen bis hin zu einer Rechtszersplitterung 20. Um diese Gefahr zu mindern und um die einheitliche Auslegung des Unionsrechts in allen Mitgliedsstaaten zu gewährleisten, weist Art. 267 AEUV dem 16 Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 243; Hess, Rechtsfragen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 472; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 46; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 16; Middeke, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 10 Rn. 6; Basse, Verhältnis der Gerichtsbarkeit, Seite 201; Lieber, Vorlagepflicht, Seite 5 ff.; Von Danwitz, Garantie effektiven Rechtsschutzes, Seiten 1110 und 1112; Clausnitzer, Vorlagepflicht, Seite 642; Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 4; Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 781; Pache / Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis, Seite 18; Pescatore, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 34; Skouris, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 343; Schwarze, in: Schwarze, EG-Kommentar, Art. 234 EGV Rn. 2; Schmidt-Aßmann, Europäische Rechtsschutzgarantien, Seite 1301; Iglesias, EuGH und Gerichte der Mitgliedsstaaten, Seite 1889; Kenntner, Europarecht im deutschen Verwaltungsprozess, Seite 303; Eicker / Ketteler, Verfahrensrechtliche Durchsetzung, Seite 132; Zuleeg, Rechtsgemeinschaft, Seite 548; Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 1; Germelmann, Wirkung von Ungültigerklärungen, Seite 258 f.; Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 777; Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 47; Dörr, Beschleunigtes Vorabentscheidungsverfahren, Seite 350; Löhr, Wege zum EuGH, Seite 7; Büscher, Interdependenzen, Seite 210; Von Danwitz, Garantie effektiven Rechtsschutzes, Seite 1110; Everling, Funktion des Gerichtshofs, Seite 309; Groh, Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Seite 461; Herrmann, Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht, Seite 231; Schmidt, Vorlageverfahren, Seite 722; Dauses, Aufgabenteilung, Seite 224; Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 567; Oexle, Materielle Präklusion, Seite 37; Scherer / Zuleeg, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite 233; Brück, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 29 f.; Gündisch / Wienhues, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Seite 118; Fredriksen, Zusammenarbeit, Seite 19; Pache, in: Vedder / Heintschel von Heinegg, Verfassungsvertrag, Artikel III – 369 Rn. 2 und 6; Hummert, Acte-clair-Doktrin, Seite 20. 17 Borchardt, Grundlagen, Rn. 488; Von Danwitz, Garantie effektiven Rechtsschutzes, Seite 1110. 18 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 109. 19 Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 4. 20 Groh, Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Seite 461.

1. Das Vorabentscheidungsverfahren

301

Gerichtshof als zentraler Gerichtsinstanz 21 im Vorabentscheidungsverfahren die Befugnis zur letztverbindlichen Auslegung für das Unionsrecht zu 22. Dies nimmt er im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens als prozessualem Zwischenverfahren 23 wahr: Der nationale Richter formuliert eine Rechtsfrage, auf die der Gerichtshof in Form eines – verbindlichen 24 – Urteils antwortet, das aber ebenso wie das gesamte Vorabentscheidungsverfahren nur einen Teil eines Gesamtverfahrens darstellt, das vor dem nationalen Gericht beginnt und auch dort endet 25. Das Vorabentscheidungsverfahren begründet daher ein Kooperationsverhältnis zwischen dem Gerichtshof und dem nationalen Gericht; es ist auch bildlich von einem „Tandem-System“ zwischen dem Gerichtshof und den mitgliedsstaatlichen Gerichten gesprochen worden 26. Letztere bleiben Herren des jeweiligen Verfahrens, können aber in einem „justiziellem Dialog“ 27, einem „Dialog der unterschiedlichen juristischen Kulturen“ 28 dem Gerichtshof Auslegungsfragen vorlegen. Die Vorschriften über das Vorabentscheidungsverfahren stellen damit auch ein Kommunikationsmedium zwischen Gerichten auf nationaler und auf transnationaler Ebene dar 29; sie begründen ein „inter-institutionelles Rechtsgespräch“ 30 und eine „richterliche Zusammenarbeit“ 31. Durch diese Konstruktion des Rechtsprechungsdialogs 32 durch das Vorabentscheidungsverfahren wird zugleich gewährleistet, dass die mitgliedsstaatlichen Gerichte Unionsrecht sprechen, dass also das Unionsrecht neben das mitgliedsstaatliche Recht tritt beziehungsweise sofort als Rechtsordnung anerkannt wird, die Teil des mitgliedsstaatlichen Rechts ist; das Vorabentscheidungsverfahren ist daher Ausdruck der funktionsteiligen Zusammenarbeit zwischen den mitgliedsstaatlichen Gerichten und dem Gerichtshof 33. Durch das Vorabentschei21 EuGH, Urteil vom 16. Januar 1974, Rs. C-166/73 [Rheinmühlen-Düsseldorf gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1974, 33 zu Art. 177 EGV. 22 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 8. 23 Middeke, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 10 Rn. 11; Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 51; Büscher, Interdependenzen, Seite 211; Kenntner, Rechtsschutz in Europa, Rn. 29; Scherer / Zuleeg, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite 233; Brück, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 37; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 241; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 36; Allkemper, Rechtsschutz des Einzelnen, Seite 26; Hummert, Acte-clair-Doktrin, Seite 19. 24 Siehe dazu unten V. 1. c). 25 Borchardt, Grundlagen, Rn. 487. 26 Haltern, Europarecht, Rn. 299; Haltern, Verschiebungen, Seite 313. 27 Ehricke, Bindungswirkung, Seite 9; ähnlich Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, Teil A § 9 Rn. 84. 28 Skouris, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 343. 29 Haltern, Europarecht, Rn. 8 zum Recht als Kommunikationsmedium. 30 Haltern, Europarecht, Rn. 15. 31 Schwarze, in: Schwarze, EG-Kommentar, Art. 234 EGV Rn. 3. 32 Von Danwitz, Kooperation der Gerichtsbarkeiten, Seite 145.

302

V. Unionsrechtliche Vorgaben

dungsverfahren wird Unionsrecht zu mitgliedsstaatlichem Recht, und durch das Vorabentscheidungsverfahren werden die mitgliedsstaatlichen Gerichte funktional zu dezentralen Vollzugs- und Kontrollorganen des Unionsrechts, da sie den Vollzug und die Einhaltung des Unionsrechts durch die Behörden der Mitgliedsstaaten überwachen und sie das vorrangige 34 Unionsrecht selbst anwenden und auch gegenüber anderslautendem mitgliedsstaatlichen Recht – egal welchen Ranges – vollziehen 35. Zudem ist Art. 267 AEUV mit seiner Differenzierung in vorlageverpflichtete und vorlageberechtigte Gerichte so konstruiert, dass die Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung dadurch gewährleistet wird, dass es in jedem mitgliedsstaatlichen Prozess mit einem Unionsrechtsbezug ein vorlageverpflichtetes Gericht gibt 36: Art. 267 AEUV gewährleistet, dass kein Prozess, in dem sich Fragen im Sinne des Art. 267 AEUV stellen, ohne eine vorherige Beteiligung des Gerichtshofs rechtskräftig abgeschlossen wird 37. Das Vorabentscheidungsverfahren ist damit auch unverzichtbares Instrument zu einer Durchsetzung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts 38. bb) Individualrechtsschutz Zweitens dient das Vorabentscheidungsverfahren dem Individualrechtsschutz 39. Zwar ist vertreten worden, dass das Vorabentscheidungsverfahren für den Individualrechtsschutz schon deswegen „nicht wirklich geeignet“ sei, weil es nur 33

Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 109; Haltern, Europarecht, Rn. 348. Dazu sogleich V. 3. 35 Heß, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 64. 36 Kerwer, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, Seite 529. 37 Kerwer, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, Seite 529. 38 Everling, Vorrang des EG-Rechts, Seite 1204. 39 Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 245; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, Seiten 18 und 20; Hess, Rechtsfragen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 472; Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 48; Middeke, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 10 Rn. 8; Fredriksen, Zusammenarbeit, Seite 19; Von Danwitz, Garantie effektiven Rechtsschutzes, Seite 1111; Borchardt, Grundlagen, Rn. 488; Petzold, Wechselwirkungen, Seite 123; Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 783; Pache / Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis, Seite 18; Skouris, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 343; Schwarze, in: Schwarze, EG-Kommentar, Art. 234 EGV Rn. 4; Wegener, Rechtsstaatliche Vorzüge, Seite 53; Haratsch, Kooperative Sicherung, Seite 92; Von Danwitz, Garantie effektiven Rechtsschutzes, Seite 1110 f; Eicker / Ketteler, Verfahrensrechtliche Durchsetzung, Seite 132; Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 1; Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 777; Dörr, Beschleunigtes Vorabentscheidungsverfahren, Seite 350; Löhr, Wege 34

1. Das Vorabentscheidungsverfahren

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von einem mitgliedsstaatlichen Gericht – und nicht von dem Beschwerten – eingeleitet werden könne 40. Die objektive Ausgestaltung des Vorabentscheidungsverfahrens stehe in gewisser Weise seiner Rechtsschutzfunktion entgegen 41, dies allein schon deswegen, weil zahlreiche Rechtsfragen, die eigentlich einer Vorabentscheidung bedürften, nicht den Weg zu dem Gerichtshof fänden 42. Dem ist jedoch nicht zuzustimmen: Der Einzelne hat durch die nur eingeschränkte direkte Klagemöglichkeit Privater zum Gerichtshof 43 bzw. zum Gericht 44 – Fallgruppen dieser Klagen sind insbesondere die Fälle der nach Art. 263 Abs. 4 AEUV 45 gegen an den Kläger gerichtete Entscheidungen eines Organs der Union, die Fälle der Klagen gegen den Kläger unmittelbar und individuell betreffende Verordnungen 46 nach Art. 263 AEUV 47 oder die Fälle der Klagen gegen an Dritte (Konkurrenten) ergangene Entscheidungen 48 sowie Schadensersatzklagen nach Art. 268 AEUV 49 – keine umfassenden Möglichkeiten, gegen zum EuGH, Seite 7; Groh, Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Seite 460; Büscher, Interdependenzen, Seite 210; Herrmann, Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht, Seite 231; Schmidt, Vorlageverfahren, Seite 722; Dauses, Aufgabenteilung, Seite 224; Oexle, Materielle Präklusion, Seite 37; Scherer / Zuleeg, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite 233; Brück, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 31; Gündisch / Wienhues, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Seite 118; Pache, in: Vedder / Heintschel von Heinegg, Verfassungsvertrag, Artikel III – 369 Rn. 2 und 8 bis 10; Hummert, Acte-clair-Doktrin, Seite 22. 40 Hakenberg, Befolgung und Durchsetzung, Seite171. 41 Heß, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 65. 42 Allkemper, Rechtsschutz des Einzelnen, Seite 27 mit Fußnote 34. 43 Skouris, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 343; Brück, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 33; zum Individualrechtsschutz vor dem EuGH umfassend Von Danwitz, Garantie effektiven Rechtsschutzes; Allkemper, Rechtsschutz des Einzelnen. 44 Früher: Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften. 45 Art. 230 Abs. 4 EGV; Cremer, Rechtsschutz des Einzelnen; Cremer, Dezentraler Rechtsschutz, Seite 169 ff.; ferner Frenz / Distelrath, Klagegegenstand und Klagebefugnis, Seite 162 ff., sowie Braun / Kettner, Richterrechtliche Reform. 46 Hierzu EuGH, Urteil vom 17. Juni 1980, Rs. C – 789/79 und C – 790/79 [Calpak und Societa Emiliana Lvorazione Frutta gegen Kommission], Slg. 1980, 1949. 47 Zu diesen Kokott / Dervisopoulos / Henze, Effektiver Rechtsschutz, Seite 14; Frenz / Distelrath, Klagegegenstand und Klagebefugnis. 48 Wie etwa bei der Klage eines Konkurrenten im Rahmen der Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen nach der Verordnung Nr. 4064/89, der gegen eine im Namen der Kommission abgegebene Erklärung des Pressesprechers des für Wettbewerbsfragen zuständigen Mitglieds der Kommission, dass ein beabsichtigter Zusammenschluss zweier Unternehmen nicht unter diese Verordnung falle, da er keine unionsweite Bedeutung im Sinne von deren Artikel 1 habe, die Nichtigkeitsklage erhebt: Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, Urteil vom 24. März 1994, Rs. T-3/93 [Société anonyme à participation ouvrière Compagnie nationale Air France gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften], Slg. 1994, II – 121. 49 Art. 235 EGV.

304

V. Unionsrechtliche Vorgaben

Akte der Union im Wege der Klage vorzugehen 50. Die Durchsetzung der im Unionsrecht wurzelnden Rechte setzt damit voraus, dass Inhalt und Tragweite des Unionsrechts klar und eindeutig umrissen sind 51. Bei der Auslegung fähiger und bedürftiger Normen des Unionsrechts oder bei Zweifeln an der Vereinbarkeit einer Norm des mitgliedsstaatlichen Rechts mit den Normen des Unionsrechts kann diese erforderliche Klarheit nur durch die Anrufung des Gerichtshofs in einem Vorabentscheidungsverfahren hergestellt werden. Art. 267 AEUV schafft insoweit auch mittelbar erst überhaupt die Möglichkeit, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre unionsrechtlichen Rechte vor ihren eigenen nationalen Gerichten einklagen können 52. Schon früh ist daher insoweit von dem Vorabentscheidungsverfahren als der „Hauptwaffe der Vertragsunterworfenen zur Erzwingung einer richterlichen Nachprüfung der Legalität der Handlungen der Gemeinschaftsorgane“ gesprochen worden 53. Die Beachtung der Vorlagepflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV ist daher individualschützend. Positive Nebenfolge dieser individualrechtlichen Zielrichtung des Vorabentscheidungsverfahrens ist eine effektivere Überwachung der Einhaltung des Unionsrechts, als sie durch das Vertragsverletzungsverfahren leistbar wäre: Der um Individualrechtsschutz vor dem nationalen Gericht Nachsuchende agiert gleichsam für „den Prinzipal Europäische Gemeinschaft“ 54, wenn er die Einhaltung des Unionsrechts für sich einfordert; das Unionsrecht wird durch das Vorabentscheidungsverfahren damit faktisch durchgesetzt und vollstreckt 55. Das Vorabentscheidungsverfahren ist damit die Voraussetzung für dezentralen effektiven Individualrechtsschutz bei gleichzeitiger Wahrung der Unionsinteressen 56. Zugleich normiert es indirekt einen unionsrechtlichen Mindeststandard in Bezug auf den Rechtsschutz: Nur wenn ein gerichtlicher Rechtsschutz als solcher gewährleistet wird, kann ein Vorabentscheidungsverfahren durchgeführt werden; Art. 267 AEUV gewährleistet daher auch einen solchen Rechtsschutz 57. Zudem stellt das Vorabentscheidungsverfahren unter dem Topos des Individualrechtsschutzes das hauptsächliche Verfahren für eine Überprüfung grundrechtserheblicher Rechtsfragen des Unionsrechts dar 58.

50

Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 5 f. Borchardt, Grundlagen, Rn. 488. 52 Haltern, Europarecht, Rn. 333. 53 Tomuschat, Vorabentscheidung, Seite 5. 54 Haltern, Europarecht, Rn. 340. 55 Haltern, Europarecht, Rn. 345. 56 Pache / Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis, Seite 18. 57 Schmidt-Aßmann, System des Rechtsschutzes, Seite 835; Von Danwitz, Garantie effektiven Rechtsschutzes, Seite 1112. 58 Eiffler, Grundrechtsschutz, Seite 1069. 51

1. Das Vorabentscheidungsverfahren

305

cc) Rechtsfortbildung Drittens dient das Vorabentscheidungsverfahren der Rechtsfortbildung 59. Der Gerichtshof hat grundlegende Prinzipien des Unionsrechts im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahren entwickelt, wie etwa die Rechtsnatur der Union oder die Konzeption der unmittelbaren Anwendbarkeit der Grundfreiheiten 60. Hierzu zählen ferner die Geltung von Grundrechten 61, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 62 und der Grundsatz des Vertrauensschutzes 63. dd) Sicherung der Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes Das Vorabentscheidungsverfahren stellt letztlich eine nicht hinweg zudenkende Grundlage für die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes dar 64. Gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 EUV gehört es zu den Aufgaben der europäischen Union, einen Binnenmarkt sowie eine Wirtschafts- und Währungsunion zu errichten, um dadurch in der ganzen Union insbesondere eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens zu erreichen und den wirtschaftlichen Zusammenhalt zwischen den Mitgliedsstaaten zu fördern. Dies ist eine zentrale Aufgabe der Union schlechthin 65. 59 Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 784; Fredriksen, Zusammenarbeit, Seite 19; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 17; Middeke, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 10 Rn. 7; Pescatore, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 36; Wegener, Rechtsstaatliche Vorzüge, Seite 53; Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 49; Dörr, Beschleunigtes Vorabentscheidungsverfahren, Seite 350, der davon spricht, das Vorabentscheidungsverfahren gebe „dem Gerichtshof die Möglichkeit, die Gemeinschaftsrechtsordnung unter Gesichtspunkten des effet utile abzurunden bzw. fortzubilden“; Löhr, Wege zum EuGH, Seite 7; Büscher, Interdependenzen, Seite 210; Büscher, Interdependenzen, Seite 210; Hummert, Acte-clair-Doktrin, Seite 21. 60 Streil, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 70; Wegener, Rechtsstaatliche Vorzüge, Seite 45. 61 Hierzu EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. C-11/70 [Internationale Handelsgesellschaft mbH gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1970, 01125 [Rn. 4], wonach „die Beachtung der Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat.“ 62 EuGH, Urteil vom 21. Juni 1979, Rs. C-240/78 [Atalanta Amsterdam BV gegen Produktschap voor Vee en Vlees], Slg. 1979, 02137 [Rn. 15]; EuGH, Urteil vom 27. September 1979, Rs. C-230/78 [SpA Eridania – Zuccherifici nazionali und SpA Società italiana per l’industria degli zuccheri gegen Minister für Landwirtschaft und Forsten, Minister für Industrie, Handel und Handwerk und SpA Zuccherifici Meridionali], Slg. 1979, 02749 [Rn. 31]. 63 EuGH, Urteil vom 16. Mai 1979, Rs. C-84/78 [Ditta Angelo Tomadini Snc gegen Amministrazione delle finanze dello Stato], Slg. 1979, 01801 [Rn. 20]. 64 EuGH, Bericht, Seite 318; Skouris, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 343; Emmert, Entwicklung der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite VIII.

306

V. Unionsrechtliche Vorgaben

Der Integrationserfolg der Union in diesem Bereich ist letztlich nicht nur von gemeinsamen inhaltlichen Standards der Mitgliedsstaaten abhängig, sondern auch davon, dass diese in den Mitgliedsstaaten in vergleichbarer Weise umgesetzt und geschützt werden 66, wenn eine gleichmäßige personelle Erstreckung des Unionsrechts gewährleistet wird 67. Jede Beeinträchtigung der einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts, das ja gerade den freien Warenverkehr, den freien Personenverkehr und die Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit gewährleisten soll 68, kann daher zu Wettbewerbsverzerrungen und zu Diskriminierungen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern führen 69. Auch der Vermeidung derartiger Beeinträchtigungen dient daher das auf eine einheitliche Anwendung und Auslegung des Unionsrechts hinführende Vorabentscheidungsverfahren 70. b) Die Berechtigung und die Verpflichtung zu einer Aussetzung und Vorlage zum Zwecke der Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV Grundsätzlich können die nationalen Gerichte entscheidungserhebliche Auslegungsfragen über die Auslegung der Verträge sowie über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens durch den Gerichtshof nach Art. 19 Abs. 3 EUV, Art. 267 Abs. 2 AEUV klären lassen. Art. 267 Abs. 3 AEUV bestimmt ferner, dass nationale Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit einem Rechtsbehelf angefochten werden können, bei derartigen Fragen zu einer Vorlage an den Gerichtshof verpflichtet sind. Voraussetzungen des Verfahrens sind, dass das nationale Gericht vorlageberechtigt ist, dass die vorgelegte Frage entscheidungserheblich ist, sie also den Ausgang des Rechtsstreits determiniert, und dass es sich um eine zulässige Vorlagefrage handelt.

65

Scheidler, Grundfreiheiten, Seite 1. Sommermann, Konvergenzen, Seite 133. 67 Erichsen / Frenz, Gemeinschaftsrecht vor deutschen Gerichten, Seite 425. 68 Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 23, zu den negativen Wirkungen des Zivilprozessrechts auf den Binnenmarkt und die Grundfreiheiten. 69 Skouris, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 343. 70 Erichsen / Frenz, Gemeinschaftsrecht vor deutschen Gerichten, Seite 425. 66

1. Das Vorabentscheidungsverfahren

307

aa) Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens sind die Fragen der Auslegung – also der Bestimmung von Inhalt und Tragweite 71 im Sinne einer abstrakten Interpretation einer unionsrechtlichen Regelung 72 – des primären oder des sekundären Unionsrechts und die Frage der Gültigkeit von Handlungen der Organe der Union 73. Auslegung und Gültigkeit hängen hierbei eng miteinander zusammen, da etwa eine unionsrechtliche Bestimmung bei der Auslegung in einer bestimmten Weise von Unwirksamkeitsgründen „gereinigt“ werden kann, die sie bei einer anderen Auslegung aufweisen würde 74. Bezüglich der Auslegung von Richtlinien ist es nicht erforderlich, dass die Richtlinie – mangels nationaler Umsetzung – in unmittelbare Anwendung erwachsen 75 ist. Letzteres ist nach ganz herrschender Meinung 76 der Fall, wenn die Richtlinie nicht fristgerecht und nicht vollständig umgesetzt wurde, und wenn die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, sodass sich der Einzelne gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen in all den Fällen berufen kann 77, in denen der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt hat 78, und in denen die Richtlinie dem Einzelnen ein subjektives Recht vermittelt 79. Zu differenzieren ist bei der Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richtlinie jedoch danach, ob diese vertikal – also in dem Verhältnis des Staates zum Individuum – oder aber horizontal – in dem Verhältnis der Individuen untereinander – wirkende Regelungen enthält 80: Der Einzelne kann sich auf die ihm 71

Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 24 ff. Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 234 Rn. 13. 73 Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 3; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 53 ff. 74 Pescatore, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 35. 75 Zur Richtliniendogmatik allgemein Wolf, Individueller Rechtsschutz, und ausführlich unter V.2.b)bb). 76 EuGH, Urteil vom 20. September 1988, Rs. C-31/87 [Gebroeders Beentjes BV gegen Niederländischer Staat], Slg. 1988, 4635 [Rn. 40]; EuGH, Urteil vom 24. September 1998, Rs. C-76/97 [Walter Tögel gegen Niederösterreichische Gebietskrankenkasse], Slg. 1998, S. I-5357 [Rn. 42]; EuGH, Urteil vom 04. Dezember 1974, Rs. C-41/74 [Yvonne van Duyn gegen Home Office], Slg. 1974, 1337; Löhr, Wege zum EuGH, Seite 6; zur dogmatischen Kritik Haltern, Europarecht, Rn. 14. 77 Zur Klagebefugnis vgl. Ruthig, Transformiertes Gemeinschaftsrecht. 78 Steinberg / Klößner Unmittelbare Wirkung, Seite 36; Jarass, Konflikte, Seite 956. 79 Vgl. EuGH, Urteil vom 04. Dezember 1974, Rs. C-41/74 [Yvonne van Duyn gegen Home Office], Slg. 1974, 1337 [Rn. 12]: „Betroffene Personen“. 80 EuGH, Urteil vom 05. April 1979, Rs. C – 148/78 [Strafverfahren gegen Tullio Ratti], Slg. 1979, 1629 [Rn. 22]; EuGH, Urteil vom 14. Juli 1994, Rs. C-91/92 [Paola Faccini Dori gegen Recreb Srl.], Slg. 1994, I – 3325; Fischer, Unmittelbare Anwendung, 72

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

durch eine nicht rechtzeitig umgesetzte Richtlinie verliehenen Rechte unter den oben genannten Voraussetzungen unmittelbar gegenüber dem Staat berufen; dies ist ihm aber gegenüber anderen Bürgern – etwa Vertragspartnern – versagt. Nur dem Staat ist es untersagt, sich – dann rechtsmissbräuchlich – darauf zu berufen, dass er seine Umsetzungsverpflichtungen nicht erfüllt habe; hingegen ist eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien in horizontalen Beziehungen – gegenüber privaten Dritten – ausgeschlossen, da diese eine Umsetzungsverpflichtung nicht gebrochen haben 81. In diesen letztgenannten Fällen bestehen dann aber gegebenenfalls unionsrechtliche Schadensersatzansprüche gegen den Mitgliedsstaat 82. Aber auch eine nicht in unmittelbare Anwendung erwachsene Richtlinie kann tauglicher Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens sein. Denn auch die Auslegung einer Richtlinie kann – unabhängig von der Frage ihrer unmittelbaren Wirkungen – für das nationale Gericht zweckmäßig sein, damit sichergestellt wird, dass das zur Durchführung der Richtlinie erlassene nationale Gesetz unionsrechtskonform ausgelegt und angewendet wird 83. Auch die – teilweise nunmehr kodifizierten – von dem Gerichtshof entwickelten ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze 84 – wie die Geltung von europäischen Grundrechten 85, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 86 und der Grundsatz des Vertrauensschutzes 87 –, die der Gerichtshof in wertender RechtsSeite 636; Weth / Kerwer, Einfluss des Europäischen Rechts, Seite 426 f.; Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, Seite 24. 81 Haltern, Europarecht, Rn. 14, 676 ff [685], 858 ff. 82 EuGH, Urteil vom 19. November 1991, Rs. C-6/90, C-9/90 [Andrea Francovich u. a. gegen Italienische Republik], Slg. 1991, I-05357; EuGH, Urteil vom 05. März 1996, Rs. C-46/93 [Brasserie du Pêcheur SA gegen Bundesrepublik Deutschland und The Queen gegen Secretary of State for Transport, ex parte: Factortame Ltd und andere], Slg. 1996, I – 1029; Brück, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 11; Guckelberger, Verjährung von Staatshaftungsansprüchen, Seite 75. 83 EuGH, Urteil vom 20. Mai 1976, Rs. C-111/75 [Impresa Costruzioni comm. Quirino Mazzalai. / . Ferrovia del Renon], Slg. 1976, 657. 84 Zu diesen schon früh Tomuschat, Vorabentscheidung, Seite 18 ff.; zu ihrer Rechtsnatur Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 11. 85 Hierzu EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. C-11/70 [Internationale Handelsgesellschaft mbH gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1970, 01125 [Rn. 4], wonach „die Beachtung der Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat.“ 86 EuGH, Urteil vom 21. Juni 1979, Rs. C-240/78 [Atalanta Amsterdam BV gegen Produktschap voor Vee en Vlees], Slg. 1979, 02137 [Rn. 15]; EuGH, Urteil vom 27. September 1979, Rs. C-230/78 [SpA Eridania – Zuccherifici nazionali und SpA Società italiana per l’industria degli zuccheri gegen Minister für Landwirtschaft und Forsten, Minister für Industrie, Handel und Handwerk und SpA Zuccherifici Meridionali], Slg. 1979, 02749 [Rn. 31].

1. Das Vorabentscheidungsverfahren

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vergleichung aus den Rechts- und Verfassungsordnungen der Mitgliedsstaaten entwickelt 88, können Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens sein 89. Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens können nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV auch Fragen der Gültigkeit der Handlungen der Unionsorgane sowie der Europäischen Zentralbank sein 90. Die Gültigkeitsprüfung entspricht einer umfassenden, nicht an die Darlegung von Klagegründen gebundenen Rechtmäßigkeitskontrolle einer beliebigen Rechtshandlung eines Unionsorgans oder der Europäischen Zentralbank. Prüfungsmaßstab sind primär die Verträge und die von dem Gerichtshof entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze wie die Geltung von europäischen Grundrechten – heute normiert in der die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in der überarbeiteten Fassung vom 12. Dezember 2007 91 inkorporierenden Vorschrift des Art. 6 Abs. 1 EUV 92 –, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Grundsatz des Vertrauensschutzes. Weiterer Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens eines nationalen Gerichts können völkerrechtliche Verträge der Europäischen Union als Völkerrechtssubjekt mit Drittstaaten oder internationalen Organisationen sein 93. Denn derartige völkerrechtliche Verträge sind Handlungen der Organe der Union 94. Fragen der Auslegung nationalen Rechts sind demgegenüber kein tauglicher Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens 95. Denn diese obliegt den Gerich87 EuGH, Urteil vom 16. Mai 1979, Rs. C-84/78 [Ditta Angelo Tomadini Snc gegen Amministrazione delle finanze dello Stato], Slg. 1979, 01801 [Rn. 20]. 88 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 7; Dörr, Europäisierter Rechtsschutzauftrag, Seite 41; Oexle, Materielle Präklusion, Seite 45; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 11; Burgi, Verwaltungsprozess und Europarecht, Seite 49; hierzu noch ausführlich unter VII. 1. 89 Borchardt, Grundlagen, Rn. 490; Pescatore, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 34 f.; Schwarze, in: Schwarze, EG-Kommentar, Art. 234 EGV Rn. 12; Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 8; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 64 f. 90 Hierzu Borchardt, Grundlagen, Rn. 487. 91 ABlEU Nr. C 303, Seite 1; BGBl. II 2008, Seite 1165 ff. 92 Daneben gelten die ungeschriebenen Unionsgrundrechte gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts fort; hierzu Ritter, Neue Werteordnung, Seite 1111. 93 Pescatore, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 34; siehe ferner oben unter I. 1. zum ARB 1/80. 94 EuGH, Urteil vom 12. Dezember 1972, Rs. C-21 – 24/72 [International Fruit Company NV und andere gegen Produktschap voor Groenten en Fruit], Slg. 1972, 01219; Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 234 EGV Rn. 10 mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 95 Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 16; Voßkuhle, Verfassungsgerichtsverbund, Seite 5; Lindner, Individualrechtsschutz, Seiten 2 und 5.

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

ten der Mitgliedsstaaten 96. Auch ist der Gerichtshof in dem Fall einer Kollision zwischen mitgliedsstaatlichem und Unionsrecht nicht befugt, über die Vereinbarkeit des mitgliedsstaatlichen Rechts mit dem Primärrecht zu entscheiden 97. Jedoch folgt aus der Möglichkeit einer abstrakten Formulierung einer Vorlagefrage nach der Vereinbarkeit einer bestimmten mitgliedsstaatlichen Vorschrift mit dem Unionsrecht als möglicher Fragestellung 98 eine de facto-Normverwerfungskompetenz des Gerichtshofs 99: Denn ist nach dem Urteil im Vorabentscheidungsverfahren die Unvereinbarkeit einer Norm des mitgliedsstaatlichen Rechts mit dem Unionsrecht festgestellt, so darf diese Norm von dem mitgliedsstaatlichen Gericht nicht mehr angewendet werden 100, auch wenn es letztendlich das mitgliedsstaatliche Gericht ist, das die mitgliedsstaatliche Rechtsvorschrift als mit dem Unionsrecht unvereinbar und damit unanwendbar erklärt. Diese Folgen der Unanwendbarkeit bleiben in ihrem praktischen Ergebnis nur wenig hinter der Nichtigkeit zurück 101. In dem vorliegenden Kontext ist darauf hinzuweisen, dass die Frage, ob die Regeln des mitgliedsstaatlichen Rechts, deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht im Lichte der von dem Gerichtshof gegebenen Auslegungshinweise das vorlegende Gericht zu beurteilen hat, aus dem Bereich der Gesetzgebung, der Verwaltung oder der Rechtsprechung stammen, die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen nicht berührt 102. Daher können auch richterrechtliche Regeln insoweit einer Kontrolle unterworfen werden. Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens kann letztlich nur eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage sein 103. Nicht entscheidungserheblich ist eine 96

EuGH, Urteil vom 26. Januar 2010, Rs. C-118/08 [Transportes Urbanos y Servicios Generales SAL gegen Administración del Estado], Juris [Rn. 24]; Maidowski, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 8; Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 3. 97 EuGH, Urteil vom 7. Februar 1984, Rs. C-237/82 [Jongeneel Kaas BV und andere gegen Niederländischer Staat und Stichting Centraal Orgaan Zuivelcontrole], Slg. 1984, 00483 [Rn. 6]; Jarass / Beljin, Vorrang und Durchführung des EG-Rechts, Seite 4; Erichsen / Weiß, System des europäischen Rechtsschutzes, Seite 590; Dauses, Aufgabenteilung, Seite 230. 98 Heß, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 72. 99 Haltern, Verschiebungen, Seite 315; Brenner, Determinanten, Seite 307; Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 110. 100 Heß, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 73. 101 Jarass, Konflikte, Seite 959. 102 EuGH, Urteil vom 26. Januar 2010, Rs. C-118/08 [Transportes Urbanos y Servicios Generales SAL gegen Administración del Estado], Juris [Rn. 24]. 103 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 121; Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 28 ff.

1. Das Vorabentscheidungsverfahren

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solche Rechtsfrage, die für den Ausgang des Rechtsstreits offensichtlich unerheblich ist 104. Jedoch ist es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs 105 in dem Rahmen der durch das Vorabentscheidungsverfahren geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten mitgliedsstaatlichen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Denn nur das mitgliedsstaatliche Gericht kann die Besonderheiten der Rechtssache hinreichend einschätzen. Das Ersuchen eines nationalen Gerichts um eine Vorabentscheidung kann daher nur dann zurückgewiesen werden, wenn offensichtlich kein Zusammenhang zwischen der von dem mitgliedsstaatlichen Gericht erbetenen Auslegung des Unionsrechts oder der Prüfung der Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts und den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens besteht 106. Ferner spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zu einer Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt hat 107. bb) Vorlageberechtigte Das Vorabentscheidungsverfahren wird nicht von den Parteien eingeleitet, sondern von dem jeweiligen Gericht 108: Zur Vorlage an den Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren berechtigt („fakultative Vorlage“) sind alle „Gerichte eines Mitgliedsstaates“ im Sinne des Art. 267 Abs. 2 AEUV nach ihrem Ermessen 109.

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Borchardt, Grundlagen, Rn. 505. EuGH, Urteil vom 21. November 2002, Rs. C-473/00 [Cofidis SA gegen Jean-Louis Fredout], Slg. 2002, I-10875 [Rn. 20]. 106 EuGH, Urteil vom 22. Juni 2000, Rs. C-318/98 [Strafverfahren gegen Giancarlo Fornasar, Andrea Strizzolo, Giancarlo Toso, Lucio Mucchino, Enzo Peressutti und Sante Chiarcosso], Slg. 2000, I-04785 [Rn. 27]; EuGH, Urteil vom 10. Mai 2001, Verbundene Rechtssachen C-223/99 und C-260/99 [Agorà Srl und Excelsior Snc di Pedrotti Bruna & C. gegen Ente Autonomo Fiera Internazionale di Milano und Ciftat Soc. coop. arl.], Slg. 2001, I-03605 [Rn. 18 und 20]. 107 EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 22]. 108 Petzold, Wechselwirkungen, Seite 124. 109 Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 33. 105

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Der Begriff des Gerichts in diesem Sinne ergibt sich aus dem Unionsrecht selbst 110; es besteht ein autonomer unionsrechtlicher Gerichtsbegriff 111. Für seine Auslegung nicht entscheidend ist die Bezeichnung des jeweiligen Subjekts als Gericht oder als eine andere Institution; maßgebliches Kriterium ist die Funktion und die Stellung des zu beurteilenden Subjekts in dem Rechtsschutzsystem des jeweiligen Mitgliedsstaates. Gerichte im Sinne des Art. 267 AEUV sind danach alle unabhängigen, nicht Weisungen unterworfenen Einrichtungen, die in einem rechtsstaatlich geordneten Verfahren Rechtsstreitigkeiten mit einer der Rechtskraft fähigen Entscheidung beenden 112. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ist zu der Beurteilung der rein unionsrechtlichen Frage, ob die vorlegende Einrichtung Gerichtscharakter im Sinne der Regelungen des Vorabentscheidungsverfahrens besitzt, auf eine Reihe von Gesichtspunkten abzustellen, wie gesetzliche Grundlage der Einrichtung, deren ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit 113. Ein streitiges – also kontradiktorisches – Verfahren stellt demgegenüber kein für den Gerichtsbegriff „absolutes Kriterium“ 114 dar. Unter den unionsrechtlichen Gerichtsbegriff fallen daher etwa Schiedsgerichte nicht, da für Vertragsparteien weder eine rechtliche noch eine tatsächliche 110

Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 13; Haltern, Europarecht, Rn. 379; Heß, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 77 f.; Erichsen / Weiß, System des europäischen Rechtsschutzes, Seite 589. 111 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 111; Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 18; Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, Teil A § 9 Rn. 87; Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 63. 112 EuGH, Urteil vom 4. Februar 1999, Rs. C – 103/97 [Josef Köllensperger GmbH & Co. KG und Atzwanger AG gegen Gemeindeverband Bezirkskrankenhaus Schwaz], Slg. 1999, I-551 [Rn. 19]; EuGH, Urteil vom 30. März 1993, Rs. C-24/92 [Pierre Corbiau gegen Administration des contributions], Slg. 1993, I-1277; EuGH, Urteil vom 16. Juli 1992, Rs. C-67/91 [Dirección General de Defensa de la Competencia gegen Asociación Española de Banca Privada und andere], Slg. 1992, I – 4785; EuGH, Urteil vom 11. Juni 1987, Rs. C – 14/86 [Pretore di Salò gegen X], Slg. 1987, I – 2545 [Rn 7]; Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 13. 113 EuGH, Urteil vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, [Dorsch Consult Ingenieurgesellschaft mbH gegen Bundesbaugesellschaft Berlin mbH], Slg. 1997, I-4961 [Rn. 23]; EuGH, Urteil vom 30. Juni 1966, Rs. C-61/65, [Witwe G. Vaassen-Göbbels gegen Vorstand des Beambtenfonds voor het Mijnbedrijf], Slg. 1966, 584; EuGH, Urteil vom 11. Juni 1987, Rs. C-14/86 [Pretore di Salò gegen X], Slg. 1987, 2545 [Rn. 7]; EuGH, Urteil vom 17. Oktober 1989, Rs. C-109/88, [Handels- og Kontorfunktionærernes Forbund I Danmark gegen Dansk Arbejdsgiverforening, handelnd für Danfoss], Slg. 1989, 3199 [Rn. 7 und 8]; EuGH, Urteil vom 27. April 1994, Rs. C-393/92, [Gemeente Almelo und andere gegen NV Energiebedrijf Ijsselmij], Slg. 1994, I-1477; EuGH, Urteil vom 19. Oktober 1995, Rs. C-111/94, [Job Centre Coop. ARL], Slg. 1995, I-3361 [Rn. 9]. 114 EuGH, Urteil vom 17. September 1997, Rs. C-54/96, [Dorsch Consult Ingenieurgesellschaft mbH gegen Bundesbaugesellschaft Berlin mbH], Slg. 1997, I-4961 [Rn. 31]; EuGH, Urteil vom 17. Mai 1994, Rs. C-18/93, [Corsica Ferries Italia Srl gegen Corpo dei piloti del porto di Genova], Slg. 1994, I-01783.

1. Das Vorabentscheidungsverfahren

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Verpflichtung besteht, ihre Streitigkeiten vor ein Schiedsgericht zu bringen, und da die öffentliche Gewalt des betroffenen Mitgliedsstaats weder in die Entscheidung, den Weg der Schiedsgerichtsbarkeit zu wählen, einbezogen ist, noch von Amts wegen in den Ablauf des Verfahrens vor dem Schiedsrichter eingreifen kann 115. Die Vorlage muss auch funktionell im Rahmen der Rechtsprechungstätigkeit des Gerichts – und nicht etwa in dem Rahmen von dessen Verwaltungstätigkeit – erfolgen 116. Denn sonst wird das Gericht nicht – wie für ein Vorabentscheidungsverfahren erforderlich – mit Rechtsprechungscharakter tätig, weil es nicht einen Rechtsstreit zu entscheiden hat 117. Das ist etwa dann der Fall, wenn das Gericht als Registergericht über den Antrag auf Eintragung einer Gesellschaft in einem Register in einem Verfahren entscheidet, das nicht die Aufhebung eines Rechtsakts zu seinem Gegenstand hat, der ein Recht des Antragstellers verletzt 118. Schon aus dem Wortlaut des Art. 267 Abs. 2 AEUV ergibt sich ferner, dass allein Gerichte, nicht aber Prozessparteien vorlageberechtigt sind 119. Für die vorlageberechtigten, aber nicht vorlageverpflichteten Gerichte ist das Vorabentscheidungsverfahren aber nur dann fakultativ, sofern sie nicht von ihnen für rechtswidrig erachtetes Unionsrecht unangewendet lassen wollen 120. Kommt hingegen ein nichtletztinstanzliches Gericht bei seiner rechtlichen Beurteilung zu dem Ergebnis, dass eine Unionshandlung gegen das Unionsrecht verstößt, so muss es über die bloße Vorlagemöglichkeit des Art. 267 Abs. 2 AEUV hinaus verpflichtend den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersuchen, da andernfalls die Einheitlichkeit des Unionsrechts nicht gewährleistet wäre.

115 EuGH, Urteil vom 23. März 1982, Rs. C- 102/81 [„Nordsee“ Deutsche Hochseefischerei GmbH gegen Reederei Mond Hochseefischerei Nordstern AG & Co. KG und Reederei Friedrich Busse Hochseefischerei Nordstern AG & Co. KG], Slg. 1982, 01095 [Rn. 12]; so auch Tomuschat, Vorabentscheidung, Seite 39; zu dieser Frage auch Hepting, Private Schiedsgerichtsbarkeit, Seite 315 ff. 116 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 112. 117 EuGH, Urteil vom 15. Januar 2002, Rs. C-182/00 [Lutz GmbH und andere], Slg. 2002, I-00547. 118 EuGH, Urteil vom 15. Januar 2002, Rs. C-182/00 [Lutz GmbH und andere], Slg. 2002, I-00547 [Rn. 15]. 119 EuGH, Urteil vom 15. Juni 1972, Rs. C-5/72 [Fratelli Grassi fu Davide gegen die Finanzverwaltung der Italienischen Republik], Slg. 1972, 443 [Rn. 3] zu Art. 177 EGV. 120 EuGH, Urteil vom 22. Oktober 1987, Rs. C-314/85 [Foto-Frost gegen Hauptzollamt Lübeck-Ost], Slg. 1987, 4199; zu diesem Urteil Glaesner, Vorlagepflicht; Van Gerven, Bridging the Gap, Seite 684 f.; zu der Problematik sogleich.

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

cc) Vorlageverpflichtete (1) Letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV Ob ein nationales Gericht nicht nur vorlageberechtigt im Sinne von Art. 267 Abs. 2 AEUV, sondern auch vorlageverpflichtet im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV ist, hängt davon ab, ob es ein „einzelstaatliches Gericht“, „dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“ – also ein letztinstanzliches Gericht – in dem Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV ist 121. In der älteren Literatur 122 ist vertreten worden, dass der Begriff des letztinstanzlichen Gerichts abstrakt (institutionell) zu bestimmen sei. Nach dieser abstrakten (institutionellen) Betrachtungsweise sind vorlageverpflichtet im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV ausschließlich die hierarchisch obersten Gerichte des nationalen Rechts; dies sind die obersten Gerichtshöfe des Bundes im Sinne von Art. 95 Abs. 1 GG 123 sowie das Bundesverfassungsgericht 124. Als Argumente für die abstrakte Theorie lässt sich der Wortlaut des Art. 267 Abs. 3 AEUV, der eben von „dessen Entscheidungen“ spricht und mit der Wahl des Plurals eben nicht auf die konkret anstehende einzelne Entscheidung abstellt, anführen. In der älteren Literatur wurden als Argumente ferner ein Entgegenwirken gegen eine Überlastung des Gerichtshofs mit Verfahren untergeordneter Bedeutung sowie die weitreichende Präjudizwirkung (allein) der Entscheidungen der hierarchisch obersten Gerichte, die die Rechtsfindung der nachgeordneten Gerichte maßgeblich beeinflussen, angeführt 125. Nach der heute allgemeine Meinung 126 darstellenden konkreten (funktionellen) Betrachtungsweise bestimmt sich demgegenüber der Begriff des letztinstanzli121 Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 36 ff. 122 Zu diesem Komplex schon umfassend Tomuschat, Vorabentscheidung, Seite 40 ff. 123 Art. 95 Abs. 1 GG: „Für die Gebiete der ordentlichen, der Verwaltungs-, der Finanz-, der Arbeits- und der Sozialgerichtsbarkeit errichtet der Bund als oberste Gerichtshöfe den Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht, den Bundesfinanzhof, das Bundesarbeitsgericht und das Bundessozialgericht.“ 124 BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1974, – 2 BvL 52/71 – [Solange I], BVerfGE 37, 271 [281]. 125 Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 110 f.; Tomuschat, Vorabentscheidung, Seite 45; vgl. auch die argumentative Zusammenstellung bei Haltern, Europarecht, Rn. 388. 126 EuGH, Urteil vom 04. Juni 2002, Rs. C-99/00, [Strafverfahren gegen Kenny Roland Lyckeskog], Slg. 2002, I-04839 [Rn. 15 f.] zu Art. 234 EG; Petzold, Wechselwirkungen, Seite 124; Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 36; Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 125; Pechstein, EU- / EG-Pro-

1. Das Vorabentscheidungsverfahren

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chen Gerichts und damit der Vorlageverpflichtung nach der jeweiligen konkreten Verfahrensart: Entscheidend ist danach nicht der Rang des entsprechenden Gerichts innerhalb der nationalen Gerichtshierarchie, sondern die Natur der zu treffenden Entscheidung. Damit sind auch solche Gerichte, die nicht an der Spitze der Rechtsprechungshierarchie stehen, sondern nur gelegentlich – wenn in dem konkreten Fall kein Rechtsmittel mehr statthaft ist – endgültige Entscheidungen treffen müssen, in diesen Fällen ihrer konkreten Letztinstanzlichkeit vorlageverpflichtet 127. Entscheidend für die Frage einer Vorlagepflicht im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV ist, ob in dem jeweiligen konkreten Instanzenzug noch Rechtsbehelfe statthaft sind 128. Für diese Ansicht sprechen das Ziel der Union der einheitlichen Auslegung des Unionsrechts egal durch welches Gericht welcher hierarchischen Ebene 129, das Ziel der Rechtsfortbildung, die nicht auf die obersten Gerichtshöfe des Bundes beschränkt ist, sondern auf allen Rechtsprechungsebenen wahrgenommen werden muss und wahrgenommen wird, und das Ziel des unionsrechtlichen Individualrechtsschutzes, der eine Vorlageverpflichtung eben in Abhängigkeit von dem konkret zu entscheidenden Fall erfordert, um einen endgültigen Verlust auf dem Unionsrecht fußender Rechte zu verhindern 130. Nur mit der konkreten Betrachtungsweise kann das Ziel der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte, zu verhindern, dass sich in einem Mitgliedsstaat eine nationale Rechtsprechung herausbildet, die nicht mit den Vorschriften des Unionsrechts in einem Einklang steht 131, erreicht werden. Die konkret-funktionale Betrachtungsweise ist daher heute herrschende Meinung 132. Mit ihr gelten – unabhängig von ihrer Stellung in der Gerichtshierarzessrecht, Rn. 830; Pescatore, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 38; Streil, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 72; Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, Teil A § 9 Rn. 89; Herrmann, Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht, Seite 231; Groh, Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Seite 460. 127 Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 36. 128 Heß, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 78. 129 Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 36; Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 830. 130 Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 77; Löhr, Wege zum EuGH, Seite 8. 131 Kokott / Henze / Sobotta, Pflicht zur Vorlage, Seite 633. 132 EuGH, Urteil vom 04. Juni 2002, Rs. C-99/00, [Strafverfahren gegen Kenny Roland Lyckeskog], Slg. 2002, I-04839 [Rn. 15 f.] zu Art. 234 EG; Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 Rn. 36; Karpenstein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der Europäischen Union, Art. 234 EGV Anm. 52; Middeke, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 10 Rn. 57; Fastenrath, Gesetzlicher Richter, Seite 463; Basse, Verhältnis der Gerichtsbarkeit, Seite 211; Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 77 f.; Füßer, Durchsetzung der Vorlagepflicht, Seite 1574 mit weiteren Nachweisen; Löhr, Wege zum EuGH, Seite 8; Brück, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 151; Ehlers, Europäisierung, Seite 118 f.; Karpenstein, Praxis des EG-Rechts,

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

chie – als letztinstanzlich alle diejenigen Gerichte, deren Entscheidungen im jeweiligen konkreten Einzelfall nicht mehr angefochten werden können. Ferner ist – wie bereits angedeutet – nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch ein nichtletztinstanzliches Gericht dann vorlageverpflichtet, wenn es Unionsrecht gleich welcher Ebene unangewendet lassen will 133. Dies wird damit begründet, dass in diesen Fällen die Einheitlichkeit des Unionsrechts gefährdet wäre, weil sich bei der Bejahung einer Befugnis einzelstaatlicher Gerichte, Handlungen der Unionsorgane für unzulässig zu erklären, bei den Gerichten der Mitgliedsstaaten unterschiedliche Auffassungen zu einer Ungültigkeit der jeweiligen Handlung eines Unionsorgans herausbilden könnten. „Denn Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gerichten der Mitgliedsstaaten über die Gültigkeit von Gemeinschaftshandlungen wären geeignet, die Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung selbst zu gefährden und das grundlegende Erfordernis der Rechtssicherheit zu beeinträchtigen.“ 134 Auch das von dem Vertrag geschaffene Rechtsschutzsystem, das mit dem Vorabentscheidungsverfahren und der Nichtigkeitsklage eine umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Unionsorgane ermögliche, gebe dem Gerichtshof die ausschließliche Zuständigkeit für die Nichtigerklärung der Handlung eines Unionsorgans, der die Befugnis eines nationalen Gerichts, selbst die Ungültigkeit festzustellen, diametral widerspreche. Mit dem vorhandenen Normen habe der Vertrag ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen, das die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe dadurch gewährleisten soll, dass damit der Gerichtshof betraut werde 135. Nationale Gerichte können hiernach die RechtmäRn. 358; Allkemper, Rechtsschutz des Einzelnen, Seite 154; Hummert, Acte-clair-Doktrin, Seite 28; anderer Ansicht lediglich Bleckmann, Europarecht, Rn. 921, der die abstrakte Theorie ohne weitere Belege als „herrschend“ ansieht. Demgegenüber vertreten Pache, in: Vedder / Heintschel von Heinegg, Verfassungsvertrag, Artikel III – 369 Rn. 27; Kenntner, Europarecht im deutschen Verwaltungsprozeß, Seite 305, und Kenntner, Rechtsschutz in Europa, Rn. 33, sowie Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 27, Büscher, Interdependenzen, Seite 211, und Schmidt, Vorlageverfahren, Seite 731, dass die Streitfrage als nicht abschließend geklärt anzusehen sei. Erichsen / Weiß, System des europäischen Rechtsschutzes, Seite 590, sehen ebenfalls die Reichweite der Vorlagepflicht bezüglich der abstrakten und der konkreten Theorie noch als „umstritten“ an. Explizit für die abstrakte Betrachtungsweise spricht sich auch Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 111, aus, der die hiermit verbundene Entlastungsfunktion für den Gerichtshof in den Focus rückt und der die Rechtseinheit als durch das Präjudizsystem und die Unterordnung der Instanzgerichte in dem Instanzenzug als gewahrt ansieht. 133 EuGH, Urteil vom 22. Oktober 1987, Rs. C-314/85 [Foto-Frost gegen Hauptzollamt Lübeck-Ost], Slg. 1987, 4199, zu Art. 177 EGV; Rabe, Vorlagepflicht und gesetzlicher Richter, Seite 202; Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 80; Glaesner, Vorlagepflicht, Seite 145. 134 EuGH, Urteil vom 06. Dezember 2005, Rs. C-461/03 [Gaston Schul Douane-expediteur BV gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2005, I-10513. 135 EuGH, Urteil vom 06. Dezember 2005, Rs. C-461/03 [Gaston Schul Douane-expediteur BV gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2005, I-10513.

1. Das Vorabentscheidungsverfahren

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ßigkeit einer Unionshandlung anhand des Unionsrechts zwar umfassend prüfen, aber nur die Vereinbarkeit der Handlung mit dem Unionsrecht feststellen; demgegenüber ist die Feststellung der Unvereinbarkeit dem Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren vorbehalten. Die Vorlagemöglichkeit aus Art. 267 Abs. 2 AEUV erstarkt also bei der Frage der Verwerfungskompetenz zu einer Vorlageverpflichtung 136; dem Gerichtshof kommt ein Verwerfungsmonopol für unionsrechtliche Normen zu 137. Anders ist dies nur in dem Fall der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch mitgliedsstaatliche Gerichte unter engen Voraussetzungen 138. (2) Begriff des Rechtsmittels Rechtsmittel im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV sind alle ordentlichen Rechtsbehelfe, mit denen eine von einem Gericht erlassenen Entscheidung von einer übergeordneten Gerichtsinstanz in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht oder auch nur in rechtlicher Hinsicht überprüft werden kann 139. Der Umstand, dass eine solche Überprüfung nur nach einer vorherigen Zulassungserklärung durch das mit einem Rechtsmittel angegangene Gericht erfolgen kann, führt nicht dazu, dass den Parteien das Rechtsmittel entzogen wird 140; er ist daher für die Bestimmung des Begriffs der Letztinstanzlichkeit unerheblich. Soweit in der Literatur 141 vertreten wird, dass die Oberverwaltungsgerichte letztinstanzliches Gericht seien, „wenn sie die Revision zum Bundesverwaltungsgericht nicht zulassen“, verkennt dies den Charakter des Rechtsbehelfs der Nichtzulassungsbeschwerde. Ebenso fehlerhaft ist die zu § 124 Abs. 1 VwGO vertretene Ansicht, dass „das Gericht, das über die Zulassung bzw. das zugelassene Rechtsmittel entscheidet, letztinstanzliches Gericht“ 142 sei; dies verkennt die sich an das Berufungsverfahren – dieses ist dann das Verfahren der Entscheidung über das zugelassene Rechtsmittel – anschließende Entscheidung über die Zulassung der Revision bzw. die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision als Rechtsbehelf.

136

Haltern, Europarecht, Rn. 412. Pache / Knauff, Wider die Beschränkung der Vorlagebefugnis, Seite 18; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 19. 138 Dazu sogleich V. 1. b) cc) (3). 139 Borchardt, Grundlagen, Rn. 504. 140 EuGH, Urteil vom 04. Juni 2002, Rs. C-99/00, [Strafverfahren gegen Kenny Roland Lyckeskog], Slg. 2002, I-04839 [Rn. 16]; Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 831. 141 Mutke, Unterbliebene Vorlage, Seite 403. 142 Wilke, Europarechtliche Einflüsse, Seite 494. 137

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung eines Rechtsmittels ist daher Rechtsmittel im Sinne des Art. 267 Abs. 2 AEUV 143. Da es nur auf das objektive Vorliegen eines prozessrechtlich möglichen Rechtsmittels ankommt, kann diesem Ergebnis auch nicht entgegen gehalten werden, dass das ein Rechtsmittel nicht zulassende Gericht sich damit selbst zur letzten Instanz erkläre 144. Hiernach wäre etwa das Verwaltungsgericht, das in seinem Urteil die Berufung nicht zulässt, aus diesem Grunde letztinstanzliches Gericht. Auf eine derartige „Selbstsicht“ kommt es jedoch unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt des Art. 267 AEUV an; zudem ist es unvertretbar, etwa einem Verwaltungsgericht, das über den Rechtsbehelf des Berufungszulassungsantrages in seinem Urteil belehren muss und auch belehrt, zu unterstellen, es erkläre sich selbst zur letzten Instanz, indem es die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung durch das Gericht selbst verneint. Die Verneinung der Zulassungsvoraussetzungen als gerichtliche Subsumtion ist etwas wesentlich anderes als die Verkennung des gerichtlichen Instanzenzuges. Demgegenüber gehören nicht zu den von Art. 267 Abs. 3 AEUV erfassten Rechtsmitteln außerordentliche Rechtsbehelfe wie etwa das Wiederaufnahmeverfahren oder die Verfassungsbeschwerde 145, denn diese haben nur begrenzte spezifische Auswirkungen 146. Zu den Rechtsmitteln im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV zählt daher auch die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision 147 sowie gegen die Nichtzulassung der Berufung in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren 148.

143 So zu Art. 234 EG: EuGH, Urteil vom 04. Juni 2002, Rs. C-99/00, [Strafverfahren gegen Kenny Roland Lyckeskog], Slg. 2002, I-04839 [Rn. 15 f.]; BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 1985, – BVerwG 3 B 12.84 –, NJW 1986, 1448 –1449; BVerwG, Beschluss vom 22. Juli 1986, – BVerwG 3 B 104.85 –, BayVBl. 1987, 283 –284; so auch schon Tomuschat, Vorabentscheidung, Seite 48; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 275; Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 234 Rn. 42; Heßler, in: Zöller, ZPO, § 544 Rn. 5 a; vgl. aber auch Rabe, Vorlagepflicht und gesetzlicher Richter, Seite 203 f., der dies für zweifelhaft hält. 144 So aber Kenntner, Europarecht im deutschen Verwaltungsprozeß, Seite 304. 145 Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, Teil A § 9 Rn. 89. 146 Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 234 EGV Rn. 42; Kenntner, Europarecht im deutschen Verwaltungsprozeß, Seite 304; Schiller, Anmerkung zu BVerwG, Beschluss vom 22. Juli 1986, Seite 915. 147 Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 831. 148 BVerwG, Beschluss vom 20. März 1986, – BVerwG 3 B 3.86 –, NJW 1987, 601 [601]; BVerwG, Beschluss vom 07. Dezember 1983, – BVerwG 3 B 90.82 –, Buchholz 451.90 EWG-Recht Nr. 43.

1. Das Vorabentscheidungsverfahren

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(3) Ausnahmen von der Vorlagepflicht In der Rechtsprechung des Gerichtshofs 149, ihm folgend in der der mitgliedsstaatlichen Gerichte 150 und in der Literatur 151, sind drei Fallgruppen anerkannt, in denen eine Vorlagepflicht auch letztinstanzlicher Gerichte ausnahmsweise nicht besteht. Eine Ausnahme von der grundsätzlichen Vorlagepflicht besteht zunächst dann, wenn zu einer zwischen den Beteiligten streitigen unionsrechtlichen Rechtsfrage bereits eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs vorliegt, der Gerichtshof die Frage also bereits entschieden hat 152 („acte éclairé“ 153). In derartigen Fällen besteht begrifflich und dogmatisch keine „Frage“ in dem Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV: Auch wenn Art. 267 Abs. 3 AEUV letztinstanzliche Gerichte von seinem Wortlaut her uneingeschränkt zu einem Vorabentscheidungsverfahren verpflichtet, so kann doch eine in einem früheren Vorabentscheidungsverfahren von dem Gerichtshof gegebene Auslegung des Unionsrechts „im Einzelfall den inneren Grund dieser Verpflichtung entfallen und sie somit sinnlos erscheinen lassen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die gestellte Frage tatsächlich bereits in einem gleichgelagerten Fall Gegenstand einer Vorabentscheidung gewesen ist“ 154. Entsprechendes gilt ferner, wenn bereits in einem beliebigen Rechtsschutzverfahren eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs vorliegt, durch die die betreffende Rechtsfrage gelöst ist und selbst dann, wenn die strittigen Fragen nicht vollkommen identisch sind 155; in diesen Fällen besteht nach dem Gerichtshof gleichwohl für die mitgliedsstaatlichen Gerichte jeder Ebene die Möglichkeit fort, ihn in dem Wege des Vorabentscheidungsverfahrens anzurufen 156.

149

EuGH, Urteil vom 06. Oktober 1982, Rs. C-283/81 [Srl CILFIT und Lanificio di Gavardo SpA gegen Ministero della Sanità], Slg. 1982, Seite 3415. 150 BVerfG, Beschluss vom 30. August 2010, – 1 BvR 1631/08 –, Juris [Rn. 55 ff.]. 151 Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 40 ff; Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 83 f. 152 Haltern, Europarecht, Rn. 435 ff., bemerkt hierzu kritisch, dass theoretisch über das Präjudizsystem den mitgliedsstaatlichen Gerichten eine „exit-option“ zuwachsen könne, das Präjudizsystem aber tatsächlich den Gerichtshof „in eine privilegierte Position an der Spitze des Gerichtssystems“ rücke und gleichzeitig das Präjudizsystem alle mitgliedsstaatlichen Gerichte an die Vorabentscheidungen binde. 153 BVerfG, Beschluss vom 30. August 2010, – 1 BvR 1631/08 –, Juris [Rn. 56]. 154 EuGH, Urteil vom 27. März 1963, Rs C-28/62 [Da Costa en Schaake NV, Jacob Meijer NV, Hoechst-Holland NV gegen Niederländische Finanzverwaltung], Slg. 1963, 60 [80 f.], zu Art. 177 EGV. 155 EuGH, Urteil vom 06. Oktober 1982, Rs. C-283/81 [Srl CILFIT und Lanificio di Gavardo SpA gegen Ministero della Sanità], Slg. 1982, 03415 [Rn. 14], zu Art. 177 EGV. 156 EuGH, Urteil vom 06. Oktober 1982, Rs. C-283/81 [Srl CILFIT und Lanificio di Gavardo SpA gegen Ministero della Sanità], Slg. 1982, 03415 [Rn. 15], zu Art. 177 EGV.

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Diese Fallgruppe ist damit die der Präzedenzfälle bzw. des Präjudizsystems 157. Präzedenzfall in diesem Sinne ist ein grundlegender, für die Entscheidungsfindung in ähnlich gelagerten Rechtsstreiten geeigneter Musterfall 158. Existiert ein derartiger Präzedenzfall des Gerichtshofs zu einem von einem innerstaatlichen letztinstanzlichen Gericht zu entscheidenden Fall mit unionsrechtlichem Bezug, so besteht eine Vorlagepflicht des innerstaatlichen Gerichts nicht, wenn es der Rechtsansicht des Gerichtshofs in dem Präzedenzfall folgt. Ferner ist es als Ausnahme von der Vorlageverpflichtung anerkannt, wenn „die richtige Anwendung [– nicht: die Geltung 159 –] des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt“ 160: Eine Vorschrift, deren Bedeutung so klar ist, dass sie keiner Auslegung bedarf, muss auch von den letztinstanzlichen Gerichten der Mitgliedsstaaten dem Gerichtshof nicht vorgelegt werden 161. Voraussetzung für diese Ausnahme von der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nach dem Gerichtshof jedoch, dass das mitgliedsstaatliche Gericht davon überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedsstaaten und den Gerichtshof selbst die gleiche Gewissheit in Bezug auf die Auslegung des Unionsrechts bestünde; nur unter dieser Voraussetzung bestehe die Befugnis zu einer eigenverantwortlichen Lösung der unionsrechtlichen Problematik ohne die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens 162. Ob die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Union zu beurteilen 163. Das Vorliegen dieser – wie jeder Ausnahmeregelung dogmatisch eng auszulegenden 164 – Ausnahme kann daher nur dann angenommen werden, wenn das nationale Gericht der Überzeugung ist, dass auch für die Gerichte der anderen

157

Haltern, Europarecht, Rn. 427. Haltern, Europarecht, Rn. 427. 159 Siehe sogleich an dem Ende dieses Abschnitts. 160 EuGH, Urteil vom 06. Oktober 1982, Rs. C-283/81 [Srl CILFIT und Lanificio di Gavardo SpA gegen Ministero della Sanità], Slg. 1982, 03415 [Rn. 16]; EuGH, Urteil vom 06. Dezember 2005, Rs. C-461/03 [Gaston Schul Douane-expediteur BV gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2005, I-10513 [Rn. 16]. 161 Hummert, Acte-clair-Doktrin, Seite 15. 162 EuGH, Urteil vom 06. Oktober 1982, Rs. C-283/81 [Srl CILFIT und Lanificio di Gavardo SpA gegen Ministero della Sanità], Slg. 1982, 03415 [Rn. 16], zu Art. 177 EGV; so auch Pescatore, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 39. 163 EuGH, Urteil vom 15. September 2005, Rs. C-495/03 [Intermodal Transports BV gegen Staatssecretaris van Financiën], Slg. 2005, I-08151 [Rn. 33]. 164 Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 40. 158

1. Das Vorabentscheidungsverfahren

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Mitgliedsstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit über die hypothetische Beantwortung der Vorlagefrage bestünde („acte clair-Doktrin“) 165. Zwar ist gegen diese letztgenannte Einschränkung und die hierin liegenden sehr strengen, realistischerweise nahezu unerfüllbaren 166 Voraussetzungen für die Annahme eines „acte clair“ 167 eingewandt worden, dass damit die „acte clair“-Doktrin praktisch leer laufen würde, da ein nationaler Richter unmöglich feststellen könne, ob dieselbe Gewissheit über die Eindeutigkeit einer unionsrechtlichen Norm auch in den Gerichten der anderen Mitgliedsstaaten bzw. bei dem Gerichtshof bestehe 168. Es erscheine überzogen und wenig praktikabel, von dem mitgliedsstaatlichen Gericht die Überzeugung zu verlangen, dass sämtliche Gerichte der Union zu einer gleichen Auslegung kämen 169. Auch angesichts des Integrationsstandes der Union sei diese Rechtsprechung des Gerichtshofs zu eng 170. Dem kann jedoch nicht gefolgt werden. Denn die von dem Vorabentscheidungsverfahren intendierte einheitliche Auslegung des Unionsrechts setzt schon denklogisch voraus, dass eine ausnahmsweise Befreiung von der grundsätzlichen Vorlagepflicht des Art. 267 Abs. 3 AEUV nur dann in Betracht kommt, wenn auch die Gerichte der anderen Mitgliedsstaaten bei der hypothetischen Beantwortung der Vorlagefrage die gleiche Gewissheit hätten – andernfalls liegt eben kein „acte clair“ sondern ein „acte non-clair“ vor, der die Ausnahme gerade nicht trägt. Bei einem anderen Verständnis der Voraussetzungen dieser Ausnahme von der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV liefen vielmehr die Entscheidungskompetenz und insbesondere das Entscheidungsmonopol des Gerichtshofs leer; der Anwendungsvorrang des Unionsrechts könnte partiell keine Wirkung entfalten 171. 165 Haltern, Europarecht, Rn. 425 ff.; Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 568. 166 Heß, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 81; Hess, Rechtsfragen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 493; Vedder, Neuer gesetzlicher Richter, Seite 527. 167 Haltern, Europarecht, Rn. 447, 449. 168 Ehricke, Bindungswirkung, Seite 17 mit weiteren Nachweisen; kritisch auch Haltern, Europarecht, Rn. 449 ff. 169 Hummert, Acte-clair-Doktrin, Seite 36 f. mit zahlreichen weiteren Nachweisen; Hirsch, Bundesverwaltungsgericht und Gerichtshof, Seite 6, der im Übrigen [Seite 7] die durch nichts belegte oder belegbare These aufstellt, dass „je mehr Ausführungen ein letztinstanzlich zuständiges Gericht der Auslegung von Gemeinschaftsrecht widmet, desto weiter entfernt es sich in der Regel von der C.I.L.F.I.T-Entscheidung des EuGH“: Dies verkennt, das gerade umfängliche Ausführungen zu dem Unionsrecht zu dem Ergebnis des Vorliegens eines „acte clair“ führen können. 170 Büscher, Interdependenzen, Seite 212, sowie die Lösungsansätze Seite 217; Mayer, Verpflichtung zur Vorlage, Seite 246, spricht von einem „sehr strengen Maßstab“. 171 Everling, Vorrang des EG-Rechts, Seite 1206.

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Die strengen Anforderungen 172 des Gerichtshofs an die Annahme eines „acte clair“ sind das Spiegelbild der Verantwortung, die den mitgliedsstaatlichen Gerichten mit der Anerkennung dieser Ausnahme von der Vorlagepflicht zukommt: Das mitgliedsstaatliche Gericht muss sich seiner Verantwortung bewusst sein, die es in dieser Situation für die Union trägt; die Vorlagepflicht mitgliedsstaatlicher Gerichte entscheidet maßgeblich über die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedsstaaten 173. Da die Union vielsprachig ist, aus Staaten mit unterschiedlichen Rechtssystemen besteht und da das Unionsrecht wiederum von den mitgliedsstaatlichen Systemen zu unterscheiden ist, wird durch die Anforderungen, die der Gerichtshof an die Annahme eines „acte clair“ stellt, dem mitgliedsstaatlichen Gericht die Relativität seines Denkschemas vor Augen geführt und es wird verpflichtet, etwas, was innerhalb seines eigenen Bezugsrahmens klar erscheint, anhand der Systeme der anderen Mitgliedsstaaten und der Union zu überprüfen 174. Dass die Anforderungen an die Annahme eines „acte clair“ hoch sind, ist unbestreitbar; dass die Erfüllung dieser Anforderungen „regelmäßig und bestenfalls nur den höchsten deutschen Gerichten“ 175 und eigentlich nur dem Gerichtshof selbst 176 möglich ist, ist eine von einer fehlerhaften Gleichsetzung von Hierarchie- und Qualitätsebene gekennzeichnete Sichtweise, die insbesondere auch verkennt, dass die Anforderungen an die Annahme eines „acte clair“ desto geringer sind, je mehr das Präjudizsystem berücksichtigt wird 177. Denn ein „acte clair“ überschneidet sich naturgemäß in seinem Anwendungsbereich mit dem Präjudizsystem, wenn insbesondere in dem Bereich der Übertragung der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf einen anderen Normzusammenhang die Gewissheit über die Eindeutigkeit der Auslegung einer unionsrechtlichen Norm angenommen wird 178. Den in einem Vorabentscheidungsverfahren ergangenen 172

Streil, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 73. Herrmann, Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht, Seite 231. 174 Pescatore, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 39. 175 Rabe, Vorlagepflicht und gesetzlicher Richter, Seite 205. 176 Rabe, Vorlagepflicht und gesetzlicher Richter, Seite 205. 177 So zutreffend Rabe, Vorlagepflicht und gesetzlicher Richter, Seite 205; Rabe fordert insoweit jedoch weiter – widersprüchlich zu seiner Kritik an der „acte clair“-Doktrin –, dass Art. 267 AEUV dahingehend modifiziert werde, dass auch die Entscheidung unionsrechtlicher Fragen in stärkerem Maße den mitgliedsstaatlichen Gerichten überlassen und eine Vorlagepflicht nur dann vorgesehen werden solle, „wenn ein oberstes Gericht von einer Entscheidung eines anderen obersten Gerichts der Mitgliedsstaaten abweichen“ wolle. Dies erscheint unzweifelhaft für das Jahr 2011 mit 27 Mitgliedsstaaten unvorstellbar, dürfte aber auch schon für das Erscheinungsjahr des Beitrages – 1993 – mit seinerzeit 12 Mitgliedsstaaten mit der von Rabe geäußerten Kritik an der „acte clair“-Doktrin unvereinbar sein: Denn sowohl die von Rabe kritisierte „acte clair“-Doktrin als auch sein „Lösungsansatz“ setzen die vollständige Kenntnis und Analyse der Rechtsprechung der obersten Gerichte der Mitgliedsstaaten doch gleichermaßen voraus. 173

1. Das Vorabentscheidungsverfahren

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Entscheidungen des Gerichtshofs kommt damit eine über den Einzelfall weit hinausgehende, die europäische Rechtspraxis prägende Wirkung zu 179, die die Richterinnen und Richter der mitgliedsstaatlichen Gerichte insbesondere auch bei ihren (Ermessens-) Entscheidungen nach Art. 267 AEUV zu berücksichtigen haben 180. Hervorzuheben ist indes, dass diese Ausnahme von der Vorlagepflicht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht für den Fall gilt, dass die Gültigkeit von Bestimmungen einer Verordnung oder einer Richtlinie im Streit steht, der Gerichtshof jedoch entsprechende Bestimmungen einer anderen, vergleichbaren Verordnung oder Richtlinie bereits für ungültig erklärt hat 181. Denn grundsätzlich sind nach dem Gerichtshof die nationalen Gerichte nicht befugt, selbst die Ungültigkeit von Handlungen der Unionsorgane festzustellen 182. Die genannten Ausnahmen von der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens bei der Auslegung des Unionsrechts können nach dem Gerichtshof selbst dann nicht auf Fragen nach der Gültigkeit von Unionshandlungen ausgedehnt werden, wenn es sich bei der in Rede stehenden Handlung eines Unionsorgans um eine einer solchen ähnliche Handlung handelt, die der Gerichtshof bereits in einem anderen Verfahren für ungültig erklärt hat. Denn nach dem Gerichtshof bezwecken die ihm durch das Vorabentscheidungsverfahren zuerkannten Befugnisse im Wesentlichen, eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts durch die nationalen Gerichte zu gewährleisten. Dieses Erfordernis der Einheitlichkeit ist besonders zwingend, wenn es um die Gültigkeit einer Unionshandlung geht. Denn Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gerichten der Mitgliedsstaaten über die Gültigkeit von Unionshandlungen wären geeignet, die Einheit der Unionsrechtsordnung selbst zu gefährden und das grundlegende Erfordernis der Rechtssicherheit zu beeinträchtigen. Ferner wäre die Möglichkeit für ein nationales Gericht, über die Ungültigkeit einer Unionshandlung zu entscheiden, auch unvereinbar mit der notwendigen Kohärenz des durch den Vertrag geschaffenen Rechtsschutzsystems. Nach dem Gerichtshof stellt die Vorabentscheidungsvorlage zur Beurteilung der Gültigkeit insoweit ebenso wie die Nichtigkeitsklage eine Form der Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Unionshandlungen dar. Mit seinen Art. 263, 264 und 266 AEUV auf der einen und Art. 267 AEUV auf der anderen Seite haben die 178 Kritisch Haltern, Europarecht, Rn. 454, der bei einer solchen Annahme einer Überschneidung von einer „begrifflichen und konzeptionellen Ungenauigkeit“ spricht. 179 Streil, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 77. 180 Streil, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 79. 181 EuGH, Urteil vom 06. Dezember 2005, Rs. C-461/03 [Gaston Schul Douane-expediteur BV gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2005, I-10513 [Rn. 21]. 182 EuGH, Urteil vom 22. Oktober 1987, Rs. C-314/85 [Foto-Frost gegen Hauptzollamt Lübeck-Ost], Slg. 1987, 4199 [Rn. 20].

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Verträge nach dem Gerichtshof ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen, das die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe gewährleisten soll; für die Verneinung der Gültigkeit einer Bestimmung des Unionsrechts durch den nationalen Richter ist daneben kein Raum. Dritte Fallgruppe, für die eine Ausnahme von der Vorlagepflicht anerkannt ist, sind die Fälle des vorläufigen Rechtsschutzes 183. Prinzipiell ist zwar von dem Wortlaut des Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV her auch in dem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens möglich bzw. zwingend, wenn und soweit das Vorabentscheidungsverfahren in dem konkreten Fall mit dem bloß summarischen Charakter des Eilverfahrens, der sich insbesondere in der summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ausdrückt, vereinbar ist. Auch gilt es zu verhindern, dass das nationale Gericht – sei es auch nur im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes – selbst gegebenenfalls inzident die Ungültigkeit einer Unionshandlung feststellt. Dies ist aber dann unschädlich mit der Folge, dass insoweit eine Vorlagepflicht nicht besteht, wenn in einem anschließenden Hauptsacheverfahren eine erneute Prüfung einer in einem summarischen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur einstweilen entschiedenen Rechtsfrage des Unionsrechts erfolgt und diese Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens sein kann. Denn das Ziel der Regelung des Art. 267 Abs. 3 AEUV, zu verhindern, dass sich eine unionsrechtswidrige innerstaatliche Rechtsprechung herausbildet, wird in diesem Fall durch das sich anschließende Hauptsacheverfahren erreicht 184. Insbesondere schließt das Unionsrecht die Befugnis der nationalen Gerichte nicht aus, in Bezug auf einen nationalen Verwaltungsakt, der auf einer Unionsverordnung beruht, deren Gültigkeit Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens ist, einstweilige Anordnungen zur vorläufigen Gestaltung oder Regelung der streitigen Rechtspositionen oder -verhältnisse zu treffen 185. Das nationale Gericht darf aber die Vollziehung eines auf einer Unionsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts nur dann aussetzen, wenn es erhebliche Zweifel an der Gültigkeit der Unionsverordnung hat und diese Gültigkeitsfrage, sofern der Gerichtshof mit ihr noch nicht befasst worden ist, diesem selbst – in dem anschließenden Hauptsacheverfahren – vorlegt, wenn ferner die Entscheidung dringlich ist und wenn dem Antragsteller ohne die Entscheidung ein schwerer und nicht wieder183

EuGH, Urteil vom 06. Dezember 2005, Rs. C-461/03 [Gaston Schul Douane-expediteur BV gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2005, I-10513 [Rn. 16]. 184 EuGH, Urteil vom 27. Oktober 1982, Rs. C-35 und 36/82 [Elestina Esselina Christina Morson gegen Staat der Niederlanden und Leiter der Ortspolizeibehörde im Sinne der Vreemdelingenwet; Sewradjie Jhanjan gegen Staat der Niederlanden], Slg. 1982, 03723 [Rn.8], zu Art. 177 EGV. 185 EuGH, Urteil vom 09. November 1995, Rs. C-465/93 [Atlanta Fruchthandelsgesellschaft mbH und andere gegen Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft], 1995 Seite I-03761 [Rn. 30].

1. Das Vorabentscheidungsverfahren

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gutzumachender Schaden droht, und wenn letztlich das Gericht das Interesse der Union angemessen berücksichtigt 186. Teilweise wird demgegenüber auch ohne diese Differenzierung oder nähere Begründung vertreten, dass die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO überhaupt nicht gelte 187. c) Die Bindungswirkung der Vorabentscheidung Ein Urteil über ein Vorabentscheidungsverfahren entfaltet für das Ausgangsverfahren des vorlegenden Gerichts Bindungswirkung in dem nationalen Instanzenzug 188. Formelle Rechtskraft des Urteils des Gerichtshofs in einem Vorabentscheidungsverfahren tritt mit dem Tag seiner Verkündung ein, da gegen Vorabentscheidungen des Gerichtshofs keine Rechtsmittel gegeben sind 189. Materielle Rechtskraft – also die Maßgeblichkeit der formell rechtskräftigen Entscheidung für einen zweiten Prozess 190 – tritt ebenfalls für alle Verfahrensbeteiligten ein 191. Diese Bindungswirkung folgt unmittelbar aus dem dargelegten Sinn und Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens. Nach Art. 267 AEUV entscheidet der Gerichtshof über die Auslegung „der Verträge“ und „die Auslegung und die Gültigkeit der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union“. Diese Kompetenz würde leer laufen, wenn nicht das Urteil in einem Vorabentscheidungsverfahren endgültig über eine Rechtsfrage des Unionsrechts befinden würde und wenn dieses Urteil nicht das vorlegende Gericht 186 So für Verordnungen EuGH, Urteil vom 09. November 1995, Rs. C-465/93 [Atlanta Fruchthandelsgesellschaft mbH und andere gegen Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft], Slg. 1995, I-03761 [Rn. 33 und 51]; grundlegend bereits EuGH, Urteil vom 21. Februar 1991, Rs. C-143/88 und C-92/89 [Zuckerfabrik Süderdithmarschen AG gegen Hauptzollamt Itzehoe und Zuckerfabrik Soest GmbH gegen Hauptzollamt Paderborn], Slg. 1991, Seite I-00415 [Rn.33]; Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 840. 187 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 22. Februar 2008, – 13 B 1215/07 –, ZfWG 2008, 122 – 131, zu Art. 234 EG. 188 Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 53; Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 140; Pescatore, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 42; Eicker / Ketteler, Verfahrensrechtliche Durchsetzung, Seite 132; Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 90 f.; Germelmann, Wirkung von Ungültigkeitserklärungen, Seite 258; Kenntner, Rechtsschutz in Europa, Rn. 40; Scherer / Zuleeg, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite 235. 189 Weth / Kerwer, Bindungswirkung, Seite 1384. 190 Weth / Kerwer, Bindungswirkung, Seite 1384. 191 Germelmann, Rechtskraft, Seite 347.

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

hinsichtlich der Auslegung der betreffenden unionsrechtlichen Bestimmungen und Handlungen binden würde 192. Art. 267 AEUV spricht daher dem Gerichtshof in dem Verhältnis zu den Gerichten der Mitgliedsstaaten die abschließende Entscheidungsbefugnis über die Auslegung des Vertrages sowie über die Gültigkeit und die Auslegung der dort genannten abgeleiteten gemeinschaftlichen Akte zu mit der weiteren Folge, dass die nach Maßgabe des Art. 267 AEUV ergangenen Urteile des Gerichtshofs für alle mit demselben Ausgangsverfahren befassten mitgliedsstaatlichen Gerichte bindend sind 193. Diese Kompetenzzuweisung ist auf ein Zusammenwirken zwischen den Gerichten der Mitgliedsstaaten und dem Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet; sie dient im Interesse des Vertragszieles der Integration, der Rechtssicherheit und der Rechtsanwendungsgleichheit einer möglichst einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts durch alle Gerichte im Geltungsbereich der Verträge. Die Begründung dieser Kompetenz der Gemeinschaft, die von dem Gerichtshof wahrgenommen wird, ist im Hinblick auf Art. 24 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden 194. Sie schließt dann aber eine konkurrierende Kompetenz der deutschen Gerichte aus; vielmehr besteht allein schon aufgrund dieser Kompetenz eine Bindungswirkung an das Urteil des Gerichtshofs in einem Vorabentscheidungsverfahren. Die Bindungswirkung eines Urteils im Vorabentscheidungsverfahren folgt weiterhin auch aus der Vorschrift des Art. 65 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs 195, wonach das Urteil mit dem Tage seiner Verkündung rechtskräftig wird. Aus diesem Wortlaut folgt die unmittelbare Bindungswirkung des Urteils für den gesamten Ausgangsrechtsstreit 196. Zu begründen ist dies mit der Rechtsnatur der Verfahrensordnung des Gerichtshofs: Die Verfahrensordnung des Gerichtshofs wurde auf der Grundlage des Art. 63 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs 197 erlassen, wonach die Verfahrensordnungen des Gerichtshofs und des Gerichts alle Bestimmungen enthalten, die für die Anwendung dieser Satzung und erforderlichenfalls für ihre Ergänzung notwendig sind. Das Protokoll über die Satzung des Gerichtshofs selbst ist gemäß Art. 51 EUV 198 Bestandteil des Primärrechts und teilt dessen Rang und kann gemäß Art. 281 Abs. 2 Satz 2 AEUV 199 192 EuGH, Urteil vom 03. Februar 1977, Rs. C-52/76 [Luigi Benedetti gegen Munari F.lli s. a.s.], Slg. 1977, Seite 163. 193 BVerfG, Beschluss vom 08. April 1987, – 2 BvR 687/85 –, BVerfGE 75, 223 –246, zu Art. 177 EGV; Weth / Kerwer, Bindungswirkung, Seite 1385. 194 BVerfG, Beschluss vom 08. April 1987, – 2 BvR 687/85 –, BVerfGE 75, 223 –246. 195 Verfahrensordnung des Gerichtshofs [VfO-GH], vom 19. Juni 1991 [ABl. L 176 vom 4. Juli 1991, Seite 7], zuletzt geändert durch Änderungen der Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 15. Januar 2008 [ABl. L vom 29. Januar 2008, Seite 39]. 196 Streinz / Kruis, Mitgliedsstaatliche Gestaltungsspielräume, Seite 3749. 197 Vom 26. Februar 2001 [ABl. EG 2001, C 80/53], zuletzt geändert durch Beschluss 2005/696/EG, Euratom des Rates vom 3. Oktober 2005 [ABl. EU 2005, L 266/60].

1. Das Vorabentscheidungsverfahren

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im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Europäisches Parlament und Rat geändert werden. Die Verfahrensordnung ihrerseits ist dann auf der Grundlage der primärrechtlichen Ermächtigung des Art. 253 Abs. 6 Satz 1 AEUV 200 vom Gerichtshof selbst erlassenes sekundäres Unionsrecht 201. Handelt es sich aber bei Art. 65 VerfOGH um sekundäres Unionsrecht, und regelt dieses den Zeitpunkt der Rechtskraft, so kann aus dieser die Rechtskraft regelnden Norm nur auch eine Bindungswirkung für das nationale Gericht folgen. Letztlich ist fraglich, ob diese Bindungswirkung allein inter partes oder auch erga omnes besteht. Soweit der Gerichtshof sekundäres Unionsrecht für nichtig erklärt, wird man unproblematisch von einer generellen Bindungswirkung auszugehen haben 202. Aber auch jenseits dieser Sonderkonstellation stellt sich die in der Literatur breit diskutierte Frage 203 einer generellen Bindungswirkung indes jedenfalls aus praktischer Sicht bei einer genauen Befolgung der Möglichkeiten eines letztinstanzlichen Gerichts, ausnahmsweise entgegen Art. 267 Abs. 3 AEUV von einem Vorabentscheidungsverfahren abzusehen, nicht. Hier ist zu berücksichtigen, dass nach den obigen Ausführungen eine Ausnahme von der grundsätzlichen Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV in denjenigen Fällen besteht, in denen zu einer zwischen den Beteiligten streitigen unionsrechtlichen Rechtsfrage bereits eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs vorliegt, der Gerichtshof die Frage also bereits entschieden hat, also ein Präzedenzfall vorliegt. Dieses Präjudizsystem rückt den Gerichtshof „in eine privilegierte Position an der Spitze des Gerichtssystems“ 204, in dem es alle mitgliedsstaatlichen Gerichte an die Vorabentscheidungen bindet: Jedem Urteil des Gerichtshofs in einem Vorabentscheidungsverfahren kommt eine Präjudizwirkung zu, weil das Vorabentscheidungsverfahren auf reine Rechtsfragen ausgerichtet ist und weil in seinem Rahmen eine umfassende Diskussion dieser Rechtsfragen unter Einbeziehung der Beteiligten des Ausgangsverfahrens, der Mitgliedsstaaten, der Kommission und gegebenenfalls des Rates stattfindet 205. Eine auf dieser breiten Basis ergehende gerichtliche Entscheidung, die noch dazu das Ziel hat, die Rechtseinheit in der Union sicherzustellen, hat jedenfalls Präjudizwirkung 206. Diese Präjudizwirkung ist umfassend; sie besteht bei 198

Art. 311 EGV. Art. 245 Abs. 2 EGV. 200 Art. 223 Abs. 6 EGV. 201 Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 24. 202 Schmidt, Vorlageverfahren, Seite 734; Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 142. 203 Vgl. die Nachweise bei Ehricke, Bindungswirkung, Fußnoten 190 bis 204; Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 55 f.; Germelmann, Wirkung von Ungültigkeitserklärungen; Weth / Kerwer, Bindungswirkung. 204 Haltern, Europarecht, Rn. 436. 205 Pescatore, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 42 f. 199

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

sämtlichen vergleichbaren Situationen, und zwar nicht nur in den Mitgliedsstaaten, aus denen die ursprüngliche Vorlage stammt, sondern auch in allen anderen Mitgliedsstaaten 207 und damit für alle mitgliedsstaatlichen Gerichte als deren Organe 208, und folgt dogmatisch aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV 209. Sie geht mit dieser normativen Absicherung weit über die in dem mitgliedsstaatlichen Recht bekannte Leitbildfunktion höchstrichterlicher Rechtsprechung hinaus 210: Die Auslegung des Gerichtshofs in einem Vorabentscheidungsverfahren ist generell für die Gerichte der Mitgliedsstaaten maßgeblich 211. Die Möglichkeiten des letztinstanzlichen Gerichts zwischen „acte clair“ und Präjudizsystem sind sehr eingeschränkt: Denn entweder sieht das entscheidende nationale Gericht die Rechtsfrage als in der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt an und legt dann diese Rechtsprechung unter ausnahmsweisem Verzicht auf ein Vorabentscheidungsverfahren seiner Entscheidung zu Grunde – in diesem Fall ist die Diskussion einer inter partes- oder einer erga omnes-Wirkung obsolet, da das Gericht ja selbst von einer solchen Bindung auch für den von ihm aktuell zu entscheidenden Rechtsstreit ausgeht. Oder aber das letztentscheidende Gericht verneint in der konkreten Streitsache eine Klärung der entscheidungserheblichen unionsrechtlichen Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs und hat dann mangels Einschlägigkeit schon keine der erga omnes-Wirkung fähige Rechtsprechung des Gerichtshofs und muss selbst über die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens entscheiden. Die Präjudizwirkung der Rechtsprechung des Gerichtshofs 212 in Verbindung mit der „acte clair“-Doktrin als weiterer eng gefasster Ausnahme von der Verpflichtung funktional letztinstanzlicher Gerichte von der Aussetzungsund Vorlagepflicht des Art. 267 Abs. 3 AEUV führen damit zu einer faktischen und umfassenden erga omnes-Wirkung der Entscheidungen des Gerichtshofs in einem Vorabentscheidungsverfahren 213.

206 Pescatore, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 42 f; Eicker / Ketteler, Verfahrensrechtliche Durchsetzung, Seite 132. 207 Hakenberg, Befolgung und Durchsetzung, Seite 172. 208 Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, Teil A § 9 Rn. 5. 209 Hakenberg, Befolgung und Durchsetzung, Seite 172. 210 Dies verkennt Heß, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 70. 211 BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2010, – 2 BvR 2661/06 –, Juris [Rn. 83]; Fastenrath, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 06. Oktober 1982, Seite 284; Eicker / Ketteler, Verfahrensrechtliche Durchsetzung, Seite 132. 212 Haltern, Europarecht, Rn. 334. 213 Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 92; Eicker / Ketteler, Verfahrensrechtliche Durchsetzung, Seite 132; Schmidt, Vorlageverfahren, Seite 734; Weth / Kerwer, Bindungswirkung, Seite 1389 f.; Kenntner, Rechtsschutz in Europa, Rn. 40; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 301.

2. Die unmittelbare Wirkung des Unionsrechts

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Zudem wird die Verkennung der Präjudizwirkung durch einen drohenden unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch sanktioniert 214. Damit besteht zusammengefasst jedenfalls eine de facto erga omnes-Wirkung 215. Ob jenseits dieser Vorgaben eine rechtliche erga omnes-Wirkung besteht, ist damit eine allein theoretische Frage.

2. Die unmittelbare Wirkung des Unionsrechts Eine Norm des Unionsrechts ist für den mitgliedsstaatlichen Richter nur dann bedeutsam, wenn sie unmittelbare Geltung, Wirkung oder Anwendbarkeit besitzt 216. Die zu dieser Frage entwickelte – heute in der Erklärung Nr. 17 zu dem Vertrag von Lissabon von den Mitgliedsstaaten deklaratorisch bekräftigte 217, aber auch zuvor unangefochtene 218 – Theorie der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts besagt, dass dessen Regelungen ohne weitere Transformations- oder Vollzugsakte in den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten wie innerstaatliches Recht zu beachten sind 219 und auch keiner weiteren nationalen legislativen Kon214 EuGH, Urteil vom 30. September 2003, Rs. C-224/01 [Gerhard Köbler gegen Republik Österreich], Slg. 2003, I-10239; EuGH, Urteil vom 13. Juni 2006, Rs. C-173/03 [Traghetti del Mediterraneo SpA gegen Repubblica italiana], Slg. 2006, I-05177; hierzu umfassend Hummert, Acte-clair-Doktrin, Seite 49 ff. 215 Streinz / Kruis, Mitgliedsstaatliche Gestaltungsspielräume, Seite 3749; Kenntner, Europarecht im deutschen Verwaltungsprozeß, Seite 305; Lutz, Kompetenzkonflikte und Aufgabenverteilung, Seite 82; Tonne, Effektiver Rechtsschutz, Seite 265; demgegenüber differenzieren Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, Teil A § 9 Rn. 102, in der Terminologie zwischen einer Präjudizwirkung in dem hier dargestellten Umfang und einer rechtlichen Bindungswirkung erga omnes, ohne dass deutlich wird, wo in dem praktischen Ergebnis Unterscheide bestünden. Auch Germelmann, Rechtskraft, Seite 404 f., unterscheidet umfänglich zwischen Rechtskraft- und Präjudizienbindung, ohne aber hinreichend in den Blick zu nehmen, dass „die Sanktion für eine Missachtung eines Präjudizes durch ein Untergericht [... nicht allein] der Vorwurf der materiellrechtlich falschen Rechtsanwendung“ ist; Vorwurf ist in dem Präjudizsystem dann letztendlich derjenige der Entziehung des gesetzlichen Richters, wenn man von dem Präjudiz abweicht, und damit der eines Verfassungsverstoßes. Von einer echten erga omnes-Wirkung spricht demgegenüber zutreffend Tonne, Effektiver Rechtsschutz, Seite 345. 216 Jarass, Konflikte, Seite 955; Jarass / Beljin, Unmittelbare Anwendung, Seite 768 f.; Dünchheim, Verwaltungsprozessrecht, Seite 23 ff.; und Gellermann, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 33 Rn. 13, jeweils mit weiteren Ausführungen zur Terminologie. 217 Voßkuhle, Verfassungsgerichtsverbund, Seite 5. 218 Von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, Seite 148. 219 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 182; Huber, Europäisierung, Seite 577; Gellermann, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 33

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

kretisierung bedürfen 220, unionsrechtliche Normen damit per se innerstaatlich vollzugsfähig sind 221, wenn und soweit sie von ihrer Normstruktur her inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind 222. Daher begründen in diesem Sinne unmittelbar wirksame Normen des Unionsrechts Handlungspflichten für die nationalen Verwaltungsbehörden und Gerichte 223 sowie Rechte und Pflichten der Unionsbürger als primären Normadressaten, die sich so auf unionsrechtliche Begünstigungen vor ihren nationalen Stellen berufen können 224. Wesentlicher Inhalt des Prinzips der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts ist damit die Möglichkeit des Einzelnen, sich vor den nationalen Gerichten auf Rechte berufen zu können, die das Unionsrecht mit unmittelbarer Wirkung ohne einen Beitrag des mitgliedsstaatlichen Rechts verleiht 225: Der Einzelne kann sich vor den mitgliedsstaatlichen Gerichten auf das Unionsrecht berufen, die mitgliedsstaatlichen Gerichte sind ihrerseits berechtigt und verpflichtet, das Unionsrecht anzuwenden 226. Folge der Theorie ist, dass unmittelbar wirksame Bestimmungen des Unionsrechts zu „Recht und Gesetz“ im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG gehören und somit auch zu dem Prüfungsmaßstab des nationalen Richters zählen 227: Unionsrecht ist wie innerstaatliches Recht von den mitgliedsstaatlichen Gerichten anzuwenden 228. Insbesondere die Wirksamkeit des Vorabentscheidungsverfahrens nach Artikel 267 AEUV wird entscheidend durch die Theorie der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts mitbestimmt insoweit, als nur dadurch, dass sich der Einzelne vor den nationalen Gerichten auf die ihm durch das Unionsrecht zuerkannten Rechte berufen kann, der Gerichtshof in die tatsächliche Lage versetzt wird, dieses Unionsrecht dann letztverbindlich auszulegen 229. Rn. 9, der auf die zugrundeliegende Integrationsermächtigung in Art. 23 GG als Grundlage verweist [Rn. 11], was aber wohl verkennt, dass die Funktion des auf Art. 23 GG fußenden Zustimmungsgesetzes darin besteht, die deutsche Rechtsordnung für das einfließende Unionsrecht zu öffnen, und dass sich aufgrund dieser Öffnung durch Art. 23 GG das Verhältnis des Unionsrechts zu dem mitgliedsstaatlichen Recht allein nach dem insoweit autonomen Unionsrecht – und nicht nach Art. 23 GG – richtet, vergleiche Burgi, Verwaltungsprozess und Europarecht, Seite 14. 220 Haltern, Europarecht, Rn. 601. 221 Dörr, Europäisierter Rechtsschutzauftrag, Seite 135. 222 Dörr, Europäisierter Rechtsschutzauftrag, Seite 136; Jarass / Beljin, Unmittelbare Anwendung, Seite 770. 223 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 182. 224 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 183. 225 Iglesias, EuGH und Gerichte der Mitgliedsstaaten, Seite 1890. 226 Kraus, Kooperative Sicherung, Seite 124. 227 Haratsch, Kooperative Sicherung, Seite 84; Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 210. 228 Jarass, Konflikte, Seite 956.

2. Die unmittelbare Wirkung des Unionsrechts

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Welche Bestimmungen des Unionsrechts unmittelbar anwendbar sind, und wie weit diese unmittelbare Anwendbarkeit reicht und wem gegenüber sie geltend gemacht werden kann, ist für die einzelnen Normkategorien des Unionsrechts jeweils zu bestimmen 230. a) Die unmittelbare Wirkung des Primärrechts In der Rechtssache van Gend & Loos 231 hat sich der Gerichtshof erstmals grundlegend mit dem Verhältnis des Primärrechts der Union zu dem nationalen Recht beschäftigt. Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens war die Frage, ob ein Einzelner aus einer Regelung des Primärrechts – dort: Dem Verbot der Einführung neuer Zölle 232 – subjektive, von den mitgliedsstaatlichen Gerichten zu berücksichtigende Rechte herleiten kann. Der Gerichtshof hat diese Frage aufgrund des Geistes des EWGV, seiner Systematik und von seinem Wortlaut her bejaht: Das Vertragsziel der Schaffung eines funktionierenden gemeinsamen Marktes betrifft die der Union angehörigen Einzelnen unmittelbar, was alleine schon den EWGV von sonstigen völkerrechtlichen Verträgen abhebt. Die Schaffung von Organen mit sowohl den Mitgliedsstaaten als auch deren Staatsbürgern gegenüber bestehenden Hoheitsbefugnissen, die wie das Europäische Parlament auch von den Bürgern der Mitgliedsstaaten legitimiert werden, als auch das Vorabentscheidungsverfahren, das die einheitliche Auslegung des Vertrages durch die nationalen Gerichte gewährleistet, sprechen nach dem Gerichtshof dafür, dass sich die Bürger vor den nationalen Gerichten auf das Unionsrecht berufen können müssen. Die in den Verträgen zum Ausdruck kommende freiwillige Souveränitätsbeschränkung führt hiernach zu einer Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedsstaaten, sondern auch die Einzelnen sind, die den Einzelnen Pflichten auferlegt und Rechte verleiht. Mit der an Sinn und Zweck der Verträge – dem Gemeinsamen Binnenmarkt – orientierten Zentrierung der Blickrichtung auf die Individuen als den (auch) durch das Primärrecht Begünstigten begründet der Gerichtshof letztlich die unmittelbare Wirkung des Primärrechts, wenn und soweit dieses unbedingt for-

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Haltern, Europarecht, Rn. 605. Kraus, Kooperative Sicherung, Seite 124. 231 EuGH, Urteil vom 05. Februar 1963, – Rs. C-26/62 [NV Algemene Transport- en Expeditie Onderneming van Gend & Loos gegen Niederländische Finanzverwaltung] –, Slg. 1963, 3. 232 Damals Art. 12 EWGV: „Die Mitgliedsstaaten werden untereinander weder neue Einfuhr- oder Ausfuhrzölle oder Abgaben gleicher Wirkung einführen noch die in ihren gegenseitigen Handelsbeziehungen angewandten erhöhen“.; heute in Art. 30 AEUV geregelt. 230

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

muliert ist und die Norm zu ihrer Erfüllung keiner weiteren Handlungen der Mitgliedsstaaten oder der Unionsorgane bedarf 233. An dieser Rechtsprechung zur unmittelbaren Anwendbarkeit hat der Gerichtshof in der Folgezeit durchgehend festgehalten. Hierbei hat er das Prinzip des Vorrangs über das vertikale Verhältnis Staat – Bürger hinaus in dem Anwendungsbereich des freien Personen- und Dienstleistungsverkehrs auch auf das rechtsgeschäftliche Verhältnis zwischen Privaten untereinander ausgedehnt 234, um zu verhindern, dass die einheitliche Anwendung der unionsrechtlichen Norm durch die rechtsgeschäftliche Autonomie umgangen wird. Entsprechendes gilt für Diskriminierungsverbote des Primärrechts 235. Soweit gegen diese Bestimmung der Reichweite des Unionsrechts durch den Gerichtshof eingewandt worden ist, dass es sich um eine „kühne Interpretation“ jenseits des Regelungsgehalts der auszulegenden Vorschrift handele 236, verkennt dies eben das Wesen der teleologischen Auslegung nach den Zielen des Vertrages, wie sie der Gerichtshof praktiziert, und die von dem Gerichtshof beschriebenen Unterschiede zu herkömmlichen völkerrechtlichen Verträgen. b) Die unmittelbare Wirkung des Sekundärrechts Im Sekundärrecht ist gemäß Art. 288 AEUV zwischen Verordnungen und Richtlinien zu unterscheiden 237. aa) Verordnungen Art. 288 Abs. 2 Satz 1 AEUV bestimmt, dass die Verordnung allgemeine Geltung hat. Nach Satz 2 des Art. 288 Abs. 2 AEUV ist sie in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat. 233 Gellermann, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 33 Rn. 14; Dünchheim, Verwaltungsprozessrecht, Seite 23. 234 EuGH, Urteil 12. Dezember 1974, Rs. C-36/74 [B.N.O. Walrave, L.J.N. Koch gegen Association Union cycliste internationale, Koninklijke Nederlandsche Wielren Unie und Federación Española Ciclismo], Slg. 1974, 1405 [Rn. 14 ff.]; vgl. auch Jarass, Konflikte, Seite 956. 235 EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. C-43/75 [Gabrielle Defrenne gegen Société anonyme belge de navigation aérienne Sabena], Slg. 1976, 455; EuGH, Urteil vom 10. Februar 2000, Rs. C-50/96 [Deutsche Telekom AG gegen Lilli Schröder], Slg. 2000, I-00743. 236 Wieland, EuGH im Spannungsverhältnis, Seite 1842. 237 Im Einzelnen Gellermann, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 33 Rn. 17 ff.

2. Die unmittelbare Wirkung des Unionsrechts

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Schon nach dem Wortlaut des Art. 288 Abs. 2 AEUV, wonach die Verordnung nicht für, sondern in dem jeweiligen Mitgliedsstaat gilt, binden die Verordnungen alle nationalen Stellen direkt und unmittelbar und sind diese sowohl in dem Verhältnis Staat – Bürger als auch zwischen den Unionsbürgern, wenn und soweit ein entsprechender sachlicher Regelungsgehalt besteht 238, anwendbar. Aus der in Art. 288 Abs. 2 AEUV angeordneten unmittelbaren Geltung der Verordnungen folgt zugleich, dass die Mitgliedsstaaten alles unterlassen müssen, was diese unmittelbare Wirkung vereitelt. Insbesondere sind deshalb Vollzugsmodalitäten – etwa Durchführungsbestimmungen, die bei den Normadressaten Unsicherheit über die Rechtsnatur der anwendbaren Vorschriften als auch über den Zeitpunkt ihres Inkrafttretens hervorrufen –, die zur Folge haben können, dass der unmittelbaren Geltung der Unionsverordnungen Hindernisse im Wege stehen, wodurch deren gleichzeitige und einheitliche Anwendung in der gesamten Union gefährdet würde, mit dem Vertrag nicht vereinbar 239. bb) Richtlinien (1) Grundsatz Nach Art. 288 Abs. 3 AEUV ist die Richtlinie für jeden Mitgliedsstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Die Richtlinie ist damit der Regelungsmechanismus der Union, den diese dann anwendet, wenn es im Wesentlichen auf das Regelungsresultat ankommt, der Weg zu diesem aber nur geringe Bedeutung hat, sodass es einer Beschränkung der nationalen Souveränität in Bezug auf diesen Weg durch die Union nicht bedarf 240. Richtlinien bedürfen daher begrifflich immer ihrer Umsetzung in mitgliedsstaatliches Recht 241. Erfolgt diese Umsetzung dem Richtlinienziel entsprechend und innerhalb des zeitlichen Umsetzungsrahmens, so stellt sich die Frage einer unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richtlinie nicht. Anders ist dies, wenn der Mitgliedsstaat die Richtlinie nicht, nicht vollständig oder nicht fristgerecht umsetzt. Für diese Fälle der Nichtbefolgung des Umsetzungsbefehls stellt sich die Frage auch der unmittelbaren Anwendung von Richtlinien 242. In diesen Fällen wäre ohne eine Anordnung ihrer unmittelbaren 238

Jarass, Konflikte, Seite 956. EuGH, Urteil vom 7. Februar 1973, Rs. C-39/72 [Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Italienische Republik], Slg. 1973, 00101 [Rn. 17]. 240 Haltern, Europarecht, Rn. 665. 241 Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, Rn. 56. 239

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Geltung das Rechtsschutzsystem aus der Sicht des Einzelnen unvollständig, da sich der Einzelne nicht auf die Richtlinie berufen könnte und damit auch insoweit das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV für ihn mangels einer auf ihn anwendbaren und damit durch den Gerichtshof für ihn auszulegenden Norm unerreichbar wäre; insoweit wäre die Effektivität des Unionsrechts gefährdet, da Mitgliedsstaaten durch eine Nicht-, eine unzulängliche oder eine nicht fristgerechte Umsetzung des Richtlinienziels in nationales Recht dieses umgehen könnten 243. Zwar gelten Richtlinien nach dem Wortlaut des Art. 288 Abs. 3 AEUV nicht unmittelbar, sondern sind für die Mitgliedsstaaten nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich und überlassen diesen die Wahl der Form und der Mittel. Die Tatsache, dass sie als Rechtsnormen an die Mitgliedsstaaten adressiert und ihrer Natur nach auf eine Umsetzung angelegt sind, schließt es jedoch nach dem Gerichtshof nicht aus, dass auch Richtlinien unmittelbare Wirkung entfalten können. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs 244 können sich die einzelnen in all denjenigen Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, vor dem nationalen Gericht gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder unrichtig in nationales Recht umgesetzt hat; zudem muss die Richtlinie nach ihrem Sinngehalt auch den Einzelnen subjektive Rechte vermitteln, also individualbegünstigend 245 sein. Aus ihr muss klar und eindeutig eine Vergünstigung Einzelner hervorgehen, die keiner Bedingung und keinem zeitlichen Aufschub unterliegt, und bei der weder die Union noch die Mitgliedsstaaten einen Spielraum zur Ausgestaltung besitzen 246. Hieran wird deutlich, dass Grundgedanke der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu einer unmittelbaren Wirkung von Richtlinien in erster Linie die subjektiv-rechtliche Sicherung der den Unionsbürgern zuerkannten Rechte gegenüber dem Staat ist 247. 242 Hierzu und insbesondere auch zu dem Sanktionsgedanken durch Staatshaftung bei verspäteter Richtlinienumsetzung Wolf, Individueller Rechtsschutz; Jarass, Konflikte, Seite 956 f.; Streinz, Vollzug des Europäischen Gemeinschaftsrechts, § 182 Rn. 14, sowie Epiney, Unmittelbare Anwendbarkeit. 243 Steinberg / Klößner, Unmittelbare Wirkung, Seite 36. 244 EuGH, Urteil vom 19. Januar 1982, Rs. C-8/81 [Ursula Becker gegen Finanzamt Münster-Innenstadt], Slg. 1982, 53 [Rn. 23 ff.]; EuGH, Urteil vom 22. Juni 1989, Rs. C-103/88 [Fratelli Costanzo SpA gegen Comune di Milano], Slg. 1989, 1839; EuGH, Urteil vom 23. Februar 1994, Rs. C-236/92 [Comitato di coordinamento per la difesa della Cava und andere gegen Regione Lombardia und andere], Slg. 1994, I-00483 [Rn. 8 ff.]; zustimmend Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, Rn. 57. 245 Wolf, Individueller Rechtsschutz, Seite 1367. 246 Zuleeg, Rolle der rechtsprechenden Gewalt, Seite 5. 247 Ruthig, Transformiertes Gemeinschaftsrecht, Seite 290.

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Eine Unionsbestimmung ist in diesem Sinne dann unbedingt, wenn sie eine Verpflichtung begründet, die weder an eine Bedingung geknüpft ist noch zu ihrer Erfüllung und Wirksamkeit einer Maßnahme der Unionsorgane oder der Mitgliedsstaaten bedarf 248. Eine Bestimmung ist in diesem Sinne hinreichend genau, um von einem einzelnen herangezogen und vom Gericht angewandt zu werden, wenn sie unzweideutig eine Verpflichtung begründet 249. Allerdings kommt eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien nur in dem (vertikalen) Verhältnis des Staates zu seinen Bürgerinnen und Bürgern, und nicht in dem durch Gleichordnung geprägten (horizontalen) Verhältnis zwischen den Einzelnen in einem Mitgliedsstaat in Betracht 250. Denn der Staat soll sich – im Sinne eines Ausfluss des Prinzips rechtsmissbräuchlichen Verhaltens 251 – nicht auf die Nichterfüllung seiner Umsetzungsverpflichtung berufen können, wenn er den Bürgerinnen und Bürgern ein Recht verweigert. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu Verordnungen, die auch in horizontalen Konstellationen uneingeschränkt unmittelbar gelten. Würde demgegenüber eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien auch in einem horizontalen Verhältnis anerkannt, so würde der dogmatische Unterschied zwischen Verordnungen und Richtlinien zumindest teilweise nivelliert und der Union käme die Befugnis zu, auch jenseits der Kompetenz zu dem Erlass von Verordnungen unmittelbar geltendes Recht durch Richtlinien zu setzen 252. Andererseits hat die von dem Gerichtshof praktizierte Unterscheidung zwischen – anzuerkennender – vertikaler unmittelbarer Anwendbarkeit und – ausgeschlossener – horizontaler unmittelbarer Anwendbarkeit einer Richtlinie für den Rechtsschutz des Individuums bei der Anwendung des Unionsrechts die Konsequenz, dass die Uneinheitlichkeit der Anwendung des Unionsrechts insoweit verstärkt wird, als seine Anwendung davon abhängt, ob die Mitgliedsstaaten die

248 EuGH, Urteil vom 3. April 1968, Rs. C-28/67 [Firma Molkerei-Zentrale Westfalen / Lippe GmbH gegen Hauptzollamt Paderborn], Slg. 1968, 215. 249 EuGH, Urteil vom 26. Februar 1986, Rs. C-152/84 [M. H. Marshall gegen Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority (Teaching)], Slg. 1986, 723; EuGH, Urteil vom 4. Dezember 1986, Rs. C-71/85 [Niederländischer Staat gegen Federatie Nederlandse Vakbeweging], Slg. 1986, 3855. 250 EuGH, Urteil vom 5. April 1979, Rs. C-148/78 [Strafverfahren gegen Tullio Ratti], Slg. 1979, 01629 [Rn. 22]; EuGH, Urteil vom 17. September 2002, Rs. C-253/00 [Antonio Muñoz y Cia SA und Superior Fruiticola SA gegen Frumar Ltd und Redbridge Produce Marketing Ltd.], Slg. 2002, I-07289 [Rn. 40]; Jarass, Konflikte, Seite 957; Mörsdorf, Unmittelbare Anwendung, Seite 221. 251 Haltern, Europarecht, Rn. 683 f. 252 EuGH, Urteil vom 14. Juli 1994, Rs. C-91/92 [Paola Faccini Dori gegen Recreb Srl.], Slg. 1994, I-03325 [Rn. 24].

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Richtlinie hinreichend umgesetzt haben oder nicht, und ob der Streitgegner dem Staat als Institution zuzurechnen ist oder nicht 253. Dieses Problem wird indes in seiner Tragweite dadurch gemindert, dass der Gerichtshof auch den Bereich des Verwaltungsprivatrechts und des fiskalischen Handelns 254 der Verwaltung dem Staatsbegriff ebenso zuordnet wie das Handeln privatisierter Staatsunternehmen 255, von Einrichtungen, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder die mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Vorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten 256 sowie das Handeln der nicht in den Umsetzungsprozess einer Richtlinie eingebundenen und diesen nicht beeinflussen könnenden Gemeinden 257. Die fehlende unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien in einem horizontalen Verhältnis wird ferner dadurch abgemildert, dass bei nicht oder nicht fristgerechter Umsetzung einer Richtlinie unionsrechtliche Sekundäransprüche auf Schadensersatz bestehen 258. Das Bundesverfassungsgericht 259 sieht sowohl die kompetenz- und die materiellrechtliche Rechtsauffassung des Gerichtshofs als auch die Methode, mit der der Gerichtshof seine Rechtsauffassung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien entwickelt hat, als mit den Zustimmungsgesetzen zu den Verträgen und den rechtsstaatlichen Grenzen des Grundgesetzes vereinbar an.

253

Haltern, Europarecht, Rn. 701 f. EuGH, Urteil vom 26. Februar 1986, Rs. C-152/84 [M. H. Marshall gegen Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority (Teaching)], Slg. 1986, 00723 [Rn. 49]; EuGH, Urteil vom 15. Mai 1986, Rs. C-222/84 [Marguerite Johnston gegen Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary], Slg. 1986, 01651; EuGH, Urteil vom 22. Juni 1989, Rs. C-103/88 [Fratelli Costanzo SpA gegen Comune di Milano], Slg. 1989, 01839. 255 EuGH, Urteil vom 12. Juli 1990, Rs. C-188/89 [A. Foster u. a. gegen British Gas plc.], Slg. 1990, I-03313. 256 EuGH, Urteil vom 12. Juli 1990, Rs. C-188/89 [A. Foster u. a. gegen British Gas plc.], Slg. 1990, I-03313. 257 EuGH, Urteil vom 22. Juni 1989, Rs. C-103/88 [Fratelli Costanzo SpA gegen Comune di Milano], Slg. 1989, 01839. 258 EuGH, Urteil vom 14. Juli 1994, Rs. C-91/92 [Paola Faccini Dori gegen Recreb Srl.], Slg. 1994, I – 3325 [Rn. 27]; diese Grundsätze der Staatshaftung hat der Gerichtshof für die Fälle der Verletzung der Vorlagepflicht weiterentwickelt: EuGH, Urteil vom 30. September 2003, Rs. C-224/01 [Gerhard Köbler gegen Republik Österreich], Slg. 2003, I-10239 [Rn. 32 und 51]; hierzu Büscher, Interdependenzen, Seite 212. 259 BVerfG, Beschluss vom 8. April 1987, – 2 BvR 687/85 –, BVerfGE 75, 223 –246. 254

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(2) Die richtlinienkonforme Auslegung als Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung des mitgliedsstaatlichen Rechts In dem Unionsrecht besteht auf der Grundlage des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV das allgemeine Gebot, das mitgliedsstaatliche Recht unionsrechtskonform auszulegen 260. Unionsrechtskonforme Auslegung bedeutet hierbei die Konkretisierung des deutschen Rechts in dem Hinblick auf das Unionsrecht 261: Das rechtsanwendende Organ muss jedwedes mitgliedsstaatliches Recht unter Berücksichtigung des gesamten Unionsrechts auslegen 262. Eine unionsrechtskonforme Auslegung setzt voraus, dass der Wortlaut einer Norm mehrere Auslegungsmöglichkeiten zulässt, mindestens eine dieser Auslegungsmöglichkeiten mit dem Unionsrecht vereinbar ist und dass die gewählte Auslegung nicht dem Sinn der Norm widerspricht 263. Bei einer unionsrechtskonformen Auslegung ist zu berücksichtigen, dass der Inhalt von Begriffen des Unionsrechts autonom und einheitlich unter Berücksichtigung ihres Regelungszusammenhangs und der mit der Regelung verfolgten Zielsetzung zu erfolgen hat 264, also grundsätzlich ihr Sinn und ihre Tragweite nicht unter Rückgriff oder in Anlehnung an eine oder mehrere mitgliedsstaatliche Rechtsordnungen zu ermitteln ist 265. Das Gebot einer unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts ist nach dem Gerichtshof dem System des Vertrags immanent, da dem nationalen Gericht dadurch ermöglicht wird, im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen, wenn es über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheidet 266. Dies kann jedenfalls dann, wenn eine 260 Umfassend insoweit Kerwer, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, Seite 175 ff.; Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung; so auch Zuleeg, Wechselseitige Einwirkungen, Seite 165; Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 774 f.; Dünchheim, Verwaltungsprozessrecht, Seite 28 ff.; Seyr, Effet utile, Seite 137 f.; demgegenüber leitet Tonne, Effektiver Rechtsschutz, Seite 298 ff., dieses Prinzip aus dem Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes her, ohne dass in dem Ergebnis Unterschiede bestünden. 261 Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, Seite 21. 262 EuGH, Urteil vom 22. Juni 2010, Rs. C-188/10 und C-189/10 [Aziz Melki (C-188/ 10) und Sélim Abdeli (C-189/10)], Juris [Rn 50]; Jarass / Beljin, Unmittelbare Anwendung, Seite 774. 263 Epping, Grundrechte, Rn. 574. 264 Seyr, Effet utile, Seite 41. 265 EuGH, Urteil vom 14. Januar 1982, Rs. C-64/81 [Nicolaus Corman & Fils SA gegen Hauptzollamt Gronau], Slg. 1982, 00013 [Rn. 8]. 266 EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2004, Verbundene Rs. C-397/01 bis C-403/01 [Bernhard Pfeiffer (C-397/01), Wilhelm Roith (C-398/01), Albert Süß (C-399/01), Michael Winter (C-400/01), Klaus Nestvogel (C-401/01), Roswitha Zeller (C-402/01) und Matthias Döbele (C-403/01) gegen Deutsches Rotes Kreuz, Kreisverband Waldshut e.V.], Slg. 2004, I-08835 [Rn. 114].

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

nationale Bestimmung wegen ihrer Klarheit und Eindeutigkeit einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich ist, sie aber gegen einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts verstößt, etwa gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz 267, bedeuten, dass das mitgliedsstaatliche Gericht im Rahmen der Sicherstellung des rechtlichen Schutzes, der sich für den Einzelnen aus dem Unionsrecht ergibt, und im Rahmen der Gewährleistung der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts eine dem jeweiligen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt 268. Dies gilt selbst dann, wenn das mitgliedsstaatliche Gericht die fragliche Bestimmung des nationalen Rechts parallel zu dem Verstoß gegen Unionsrecht für verfassungswidrig halten würde und sie nach nationalem Verfassungsrecht 269 nicht selbst verwerfen dürfte, sondern zuvor eine Entscheidung des nationalen Verfassungsgerichts einholen müsste 270. Auch bezüglich des allgemeinen Gebots der unionsrechtskonformen Auslegung des mitgliedsstaatlichen Rechts ist dogmatische Grundlage Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV 271; die zentrale Bedeutung des Gebots unionsrechtskonformer Auslegung des mitgliedsstaatlichen Rechts folgt daraus, dass zum einen nicht nur unmittelbar wirksame Bestimmungen des Unionsrechts, sondern seine sämtlichen Bestimmungen das Gebot auslösen 272, und zum anderen daraus, dass das Gebot gerade in den Fällen indirekter Kollisio267 EuGH, Urteil vom 22. November 2005, Rs. C-144/04 [Werner Mangold gegen Rüdiger Helm], Slg. 2005, I-09981 [Rn. 74 bis 76]; die Kritik an diesem Urteil umfassend darstellend Möller, Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof, Seite 226. 268 EuGH, Urteil vom 22. November 2005, Rs. C-144/04 [Werner Mangold gegen Rüdiger Helm], Slg. 2005, I-09981 [Rn. 77]; EuGH, Urteil vom 19. Januar 2010, Rs. C-555/ 07 [Seda Kücükdeveci gegen Swedex GmbH & Co. KG], Slg. 2010, I-00365 [Rn. 51]. 269 Etwa Art. 100 GG: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: (1) Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichtes des Landes, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. Dies gilt auch, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes durch Landesrecht oder um die Unvereinbarkeit eines Landesgesetzes mit einem Bundesgesetze handelt. (2) Ist in einem Rechtsstreite zweifelhaft, ob eine Regel des Völkerrechtes Bestandteil des Bundesrechtes ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt (Artikel 25), so hat das Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. (3) Will das Verfassungsgericht eines Landes bei der Auslegung des Grundgesetzes von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes oder des Verfassungsgerichtes eines anderen Landes abweichen, so hat das Verfassungsgericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. 270 EuGH, Urteil vom 19. Januar 2010, Rs. C-555/07 [Seda Kücükdeveci gegen Swedex GmbH & Co. KG], Slg. 2010, I-00365 [Rn. 52 ff.]. 271 Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 775.

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nen – in Fällen direkter Kollisionen greift bei einer nicht durch eine unionsrechtskonforme Auslegung auflösbaren Konfliktlage das sogleich zu beschreibende Prinzip des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts – Normwidersprüche mit seiner Hilfe auflösbar sind 273: Jegliches mitgliedsstaatliches Recht ist konform mit dem einschlägigen – und nicht nur mit dem unmittelbar wirksamen – Unionsrecht auszulegen, sofern das mitgliedsstaatliche Recht Auslegungsspielräume aufweist 274 und zumindest eine Auslegungsmöglichkeit mit dem Unionsrecht vereinbar ist 275. Das Bundesverwaltungsgericht 276 hat die unionsrechtskonforme Auslegung schon frühzeitig anerkannt. Der praktisch relevanteste Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung ist der der richtlinienkonformen Auslegung 277. Durch das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung wird das beschriebene Problem der fehlenden unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richtlinie in einem Streitverhältnis zwischen Privaten gemildert 278: Nach dem Gerichtshof 279 obliegen die sich aus einer Richtlinie ergebenden Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten, das in dieser Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, und deren Pflicht, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt der Mitgliedsstaaten und damit im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten 280, woraus für ein mitgliedsstaatliches Gericht, das bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses Recht auszulegen hat, die 272

Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 775. Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 775. 274 Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 777. 275 Seyr, Effet utile, Seite 138. 276 BVerwG, Beschluss vom 02. Juli 1975, – BVerwG I C 20.73 –, BVerwGE 49, 60 [60 f.]. 277 Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, Seite 16 f.; Jarass, Grundfragen, Seite 89 f.; Jarass / Beljin, Unmittelbare Anwendung, Seite 774; Seyr, Effet utile, Seite 139; Frenz, Vorwirkung von Richtlinien. 278 Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 377; Mörsdorf, Unmittelbare Anwendung, Seite 222, spricht insoweit von einer „Einbruchstelle“, der eine Ersatzfunktion für die in dem Bereich des Privatrechts abgelehnte unmittelbare Anwendung von Richtlinien zukomme. 279 EuGH, Urteil vom 19. Januar 2010, Rs. C-555/07 [Seda Kücükdeveci gegen Swedex GmbH & Co. KG], Slg. 2010, I-00365 [Rn. 47 ff.]. 280 EuGH, Urteil vom 10. April 1984, Rs. C-14/83 [Sabine von Colson und Elisabeth Kamann gegen Land Nordrhein-Westfalen], Slg. 1984, 1891 [Rn. 26]; EuGH, Urteil vom 13. November 1990, Rs. C-106/89 [Marleasing SA gegen La Comercial Internacional de Alimentacion SA], Slg. 1990, I-4135 [Rn. 8]; EuGH, Urteil vom 18. Dezember 1997, Rs. C-129/96 [Inter-Environnement Wallonie ASBL gegen Région wallonne], Slg. 1997, I-7411 [Rn 40]; EuGH, Urteil vom 23. April 2009, Rs. C-378/07 bis C-380/07 [Kiriaki Angelidaki und andere gegen Organismos Nomarchiakis Autodioikisis Rethymnis (C-378/ 07), Charikleia Giannoudi gegen Dimos Geropotamou (C-379/07) und Georgios Kara273

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Verpflichtung folgt, seine Auslegung so weit wie möglich an dem Wortlaut und an dem Zweck dieser Richtlinie ausrichten, um das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen und so Art. 288 Abs. 3 AEUV 281 nachzukommen 282. Die mitgliedsstaatlichen Gerichte müssen ihre gesamte Rechtsordnung 283, soweit dies zu einer zutreffenden Richtlinientransformation erforderlich und methodisch nach ihrer Rechtsordnung noch irgend möglich ist, richtlinienkonform auslegen 284, sodass ein Widerspruch zu einer Bestimmung des Unionsrechts, deren Umsetzung es dient oder in deren Anwendungsbereich es sich befindet, möglichst unterbleibt 285. Dieses Prinzip der richtlinienkonformen Auslegung beinhaltet die Verpflichtung der mitgliedsstaatlichen Gerichte, das jeweilige nationale Recht im Lichte der denselben Regelungsgegenstand betreffenden Richtlinie, auch wenn sie der Mitgliedsstaat noch nicht umgesetzt hat, auszulegen 286. Es folgt aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV, wonach die Mitgliedsstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu der Erfüllung der sich aus den Verträgen oder aus den Handlungen der Organe der Union ergebenden Verpflichtungen ergreifen 287. Eine derartige Auslegungsverpflichtung sieht der Gerichtshof 288 dem EUV im Übrigen als „immanent“ an. Adressaten der Kooperationspflicht des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV sind auch die mitgliedsstaatlichen Gerichte als deren Staatsorgane 289.

bousanos und Sofoklis Michopoulos gegen Dimos Geropotamou (C-380/07)], Slg. 2009, I-03071 [Rn. 106]. 281 „Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedsstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel.“. 282 EuGH, Urteil vom 10. April 1984, Rs. C-14/83 [Sabine von Colson und Elisabeth Kamann gegen Land Nordrhein-Westfalen], Slg. 1984, 1891 [Rn. 26]; EuGH, Urteil vom 13. November 1990, Rs. C-106/89 [Marleasing SA gegen La Comercial Internacional de Alimentacion SA], Slg. 1990, I-4135 [Rn. 8]. 283 EuGH, Urteil vom 13. November 1990, Rs. C-106/89 [Marleasing SA gegen La Comercial Internacional de Alimentacion SA], Slg. 1990, I-4135 [Rn. 8]. 284 Pfeiffer, Richtlinienkonforme Auslegung, Seite 412; Mörsdorf, Unmittelbare Anwendung, Seite 222 f.; Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, Seite 132. 285 Kraus, Kooperative Sicherung, Seite 116; Kenntner, Rechtsschutz in Europa, Rn. 18; Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, Rn. 79. 286 BVerfG, Beschluss vom 30. August 2010, – 1 BvR 1631/08 –, Juris [Rn. 54]. 287 Jarass, Konflikte, Seite 957. 288 EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2004, Verbundene Rs. C-397/01 bis C-403/01 [Bernhard Pfeiffer (C-397/01), Wilhelm Roith (C-398/01), Albert Süß (C-399/01), Michael Winter (C-400/01), Klaus Nestvogel (C-401/01), Roswitha Zeller (C-402/01) und Matthias Döbele (C-403/01) gegen Deutsches Rotes Kreuz, Kreisverband Waldshut e.V.], Slg. 2004, I-08835 [Rn. 114]. 289 EuGH, Urteil vom 10. April 1984, Rs. C-14/83 [Sabine von Colson und Elisabeth Kamann gegen Land Nordrhein-Westfalen], Slg. 1984, 01891 [Rn. 26].

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Anwendungsbereiche der richtlinienkonformen Auslegung sind insbesondere diejenigen Fälle, in denen im Sinne der obigen Ausführung zur unmittelbaren Anwendbarkeit des Unionsrechts 290 eine nicht, nicht hinreichend oder nicht fristgerechte Richtlinie deshalb einer unmittelbare Anwendung nicht fähig ist, weil das betreffende Streitverhältnis horizontaler Natur – also ohne Beteiligung des Staates als dem durch den Umsetzungsmangel seinen Verpflichtungen nicht nachkommenden Streitbeteiligten – ist, sowie diejenigen Fälle, in denen eine unmittelbare Anwendbarkeit einer Richtlinie deswegen nicht in Betracht kommt, weil deren Vorgaben nicht hinreichend klar und präzise abgefasst sind 291. Grenze der richtlinienkonformen Auslegung ist der Wortlaut der Vorschrift des mitgliedsstaatlichen Rechts 292, soweit nicht ausnahmsweise der Wortlaut deswegen keine zwingende Grenze einer unionsrechtskonformen Auslegung darstellt, weil seine Überschreitung nach allgemeinen methodischen Grundsätzen – etwa einer Auslegung anhand der Gesetzesmaterialien – gerechtfertigt ist 293. Das das mitgliedsstaatliche Gericht verpflichtende Gebot einer richtlinienkonformen Auslegung bezieht sich hierbei auf sämtliche den Rechtstreit betreffenden Normen unabhängig davon, ob diese in (unzureichender) Umsetzung der Richtlinie oder in welchem Zeitpunkt diese erlassen wurden 294. Diese sind soweit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der jeweiligen Richtlinie auszulegen, um das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen 295. Zudem folgt aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV in Verbindung mit der jeweiligen Richtlinie das Gebot an die Mitgliedsstaaten, dass die Mitgliedsstaaten als Adressaten der jeweiligen Richtlinie auch schon während deren Umsetzungsfrist keine Vorschriften erlassen dürfen, die geeignet sind, die Erreichung des 290

Soeben V. 2. EuGH, Urteil vom 4. Juli 2006, Rs. C-212/04 [Konstantinos Adeneler und andere gegen Ellinikos Organismos Galaktos (ELOG)], Slg. 2006, I-06057 [Rn. 113]. 292 EuGH, Urteil vom 4. Juli 2006, Rs. C-212/04 [Konstantinos Adeneler und andere gegen Ellinikos Organismos Galaktos (ELOG)], Slg. 2006, I-06057 [Rn. 110]; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 384. 293 Pfeiffer, Richtlinienkonforme Auslegung, Seite 412; anderer Ansicht wohl Jarass, Konflikte, Seite 958, der Wortlaut und Sinn als äußerste Grenze der Auslegung ansieht, sowie Kraus, Kooperative Sicherung, Seite 116, der jede Auslegung über den Wortlaut hinaus als contra legem ansieht. Kritisch zu einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung in der Gestalt einer richtlinienkonformen Auslegung auch Grosche / Höft, Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung, Seite 2416. 294 EuGH, Urteil vom 13. November 1990, Rs. C-106/89 [Marleasing SA gegen La Comercial Internacional de Alimentacion SA], Slg. 1990, I-04135 [Rn. 8]; Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, Seite 132. 295 EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2004, Verbundene Rs. C-397/01 bis C-403/01 [Bernhard Pfeiffer (C-397/01), Wilhelm Roith (C-398/01), Albert Süß (C-399/01), Michael Winter (C-400/01), Klaus Nestvogel (C-401/01), Roswitha Zeller (C-402/01) und Matthias Döbele (C-403/01) gegen Deutsches Rotes Kreuz, Kreisverband Waldshut e.V.], Slg. 2004, I-08835 [Rn. 113]. 291

342

V. Unionsrechtliche Vorgaben

in der Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernsthaft zu gefährden 296. Ebenso sind die Gerichte als Organe der Mitgliedsstaaten 297 gehalten, das nationale Recht soweit wie möglich auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform auszulegen 298.

3. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts Alleine der Umstand, dass eine Norm des Unionsrechts unmittelbare Wirkung hat, sagt solange noch nichts über die Möglichkeit des Einzelnen, sich in einem Rechtsstreit vor einem mitgliedsstaatlichen Gericht auf sie zu berufen aus, solange die unionsrechtliche Norm nicht auch in dem dogmatischen Geflecht der Normenhierarchie etwaigem entgegenstehendem nationalen Recht vorgeht 299. Die Theorie des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts 300 betrifft diese normhierarchische Fragestellung. Die Theorie des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts soll hierbei den Normkonflikt lösen, der besteht, wenn eine unmittelbar geltende oder anwendbare Norm des Unionsrechts – sei es eine Verordnung oder eine in unmittelbare Anwendung erwachsene Richtlinie – für ein und denselben Lebenssachverhalt eine andere Rechtsfolge vorsieht als eine nationale Rechtsnorm 301; wenn also eine sogenannte „direkte Kollision“ zwischen Unions- und mitgliedsstaatlichem Recht vorliegt 302. Für diesen Normkonfliktfall hat der Gerichtshof die Kollisionsregel des „Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts“ 303 – unter der 296 EuGH, Urteil vom 4. Juli 2006, Rs. C-212/04 [Konstantinos Adeneler und andere gegen Ellinikos Organismos Galaktos (ELOG)], Slg. 2006, I-06057 [Rn. 121]. 297 Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 61. 298 EuGH, Urteil vom 4. Juli 2006, Rs. C-212/04 [Konstantinos Adeneler und andere gegen Ellinikos Organismos Galaktos (ELOG)], Slg. 2006, I-06057 [Rn. 123]; anderer Ansicht Frenz, Vorwirkung von Richtlinien, Seite 34, der indes Inkrafttreten einer Richtlinie und Ablauf der Umsetzungsfrist materiell gleichsetzt; diese sind indes entkoppelt, sodass eine Richtlinie auch vor Ablauf ihrer Umsetzungsfrist in Anwendung des Art. 4 Abs. 3 EUV Vorwirkungen auf die Auslegung des mitgliedsstaatlichen Rechts entfaltet. 299 Haltern, Europarecht, Rn. 643; Seyr, Effet utile, Seite 121. 300 Allgemein Everling, Vorrang des EG-Rechts; Von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, Seite 151 ff. 301 Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 774. 302 Weiß, Bestandskraft, Seite 478; Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 774. Demgegenüber geht Schoch, Europäisierung, Seite 293, ohne dogmatische Begründung davon aus, dass das Prinzip des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts sowohl direkte als auch indirekte Kollisionen des mitgliedsstaatlichen Rechts mit dem Unionsrecht erfasse, was aber wohl eher einem abweichenden Verständnis des Begriffs der direkten Kollision – abweichende Rechtsfolge einer unionsrechtlichen Norm für ein und denselben Lebenssachverhalt als eine mitgliedsstaatliche Rechtsnorm als der hier zugrunde

3. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts

343

Geltung des EUV und des AEUV als „Anwendungsvorrang des Unionsrechts“ zu bezeichnen – entwickelt 304. Ohne die Theorie des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts käme selbst dem europäischen Primärrecht über die Zustimmungsgesetze nach Art. 59 Abs. 2 GG nur der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu 305. Demgemäß wäre das Unionsrecht nachrangig gegenüber den Bestimmungen des Grundgesetzes sowie gegenüber zeitlich nachfolgenden Bundesgesetzen 306. Da alle Mitgliedsstaaten der Union eigene, voneinander abweichende Normkollisionsregelungen zu einer Bestimmung des Ranges des Unionsrechts haben, wäre eine einheitliche, unionsweite Geltung des Unionsrechts nicht denkbar. Die Theorie des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ist daher einer derjenigen Pfeiler, mit denen der Gerichtshof – neben der Theorie der unmittelbaren Anwendung des Unionsrechts 307 sowie der Doktrin, dass dem Unionsrecht eine Sperrwirkung gegenüber nationaler Gesetzgebung zukomme, sobald ein Regelungsfeld vom Unionsrecht erfasst ist 308 – der Unionsrechtsordnung eine neue Qualität gegenüber den nationalen Rechtsordnungen zugeschrieben hat 309. Sie ist von dem Bundesverfassungsgericht ausdrücklich und in ständiger Rechtsprechung anerkannt 310. gelegte Begriffsinhalt, allgemeine Einwirkung unionsrechtlicher Vorgaben auf das mitgliedsstaatliche Recht bei Schoch – geschuldet sein dürfte. 303 EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Rs. C-6/64 [Flaminio Costa gegen E.N.E.L.], Slg. 1964, 1253 [1269 f.]; ständige Rechtsprechung. 304 Umfassend Niedobitek, Kollisionen, Seite 60 ff. 305 Kenntner, Europarecht im deutschen Verwaltungsprozeß, Seite 300. 306 Kenntner, Europarecht im deutschen Verwaltungsprozeß, Seite 300; Kenntner, Rechtsschutz in Europa, Rn. 16. 307 Soeben V. 2. 308 Busch, Umsetzung der Lauterkeitsrichtlinie, Seite 163 f. 309 Haltern, Europarecht, Rn. 24. 310 BVerfG, Beschluss vom 09. Juni 1971, – 2 BvR 225/69 –, BVerfGE 31, 145: „Verfassungsrechtliche Bedenken dagegen, daß der Bundesfinanzhof dem Art. 95 EWGV auf der Grundlage der gemäß Art. 177 EWGV eingeholten Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 16. Juni 1966 den Vorrang vor entgegenstehendem deutschen Steuerrecht eingeräumt hat, bestehen nicht. Denn durch die Ratifizierung des EWG-Vertrages (vgl. Art. 1 des Gesetzes vom 27. Juli 1957 – BGBl. II S. 753 -) ist in Übereinstimmung mit Art. 24 Abs. 1 GG eine eigenständige Rechtsordnung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entstanden, die in die innerstaatliche Rechtsordnung hineinwirkt und von den deutschen Gerichten anzuwenden ist (vgl. BVerfGE 22, 293 (296)). Die im Rahmen seiner Kompetenz nach Art. 177 EWGV ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung des Art. 95 EWGV war für den Bundesfinanzhof verbindlich. Art. 24 Abs. 1 GG besagt bei sachgerechter Auslegung nicht nur, daß die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen überhaupt zulässig ist, sondern auch, daß die Hoheitsakte ihrer Organe, wie hier das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, vom ursprünglich ausschließlichen Hoheitsträger anzuerkennen sind.“; zuletzt etwa BVerfG,

344

V. Unionsrechtliche Vorgaben

Das Prinzip des Anwendungsvorrangs ist im Anhang Nummer 17 zum AEUV kodifiziert 311. Wegen der dortigen expliziten Inbezugnahme der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist deren Kenntnis für das Verständnis des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unabdingbar 312. a) Grundsatz Nach dem Gerichtshof haben in einem Unterschied zu gewöhnlichen internationalen Verträgen schon die Vorgängerverträge des EUV und des AEUV eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei ihrem Inkrafttreten in die RechtsordBeschluss vom 6. Juli 2010, – 2 BvR 2661/06 –, Juris [Rn 53]: „Von dieser Rechtslage ausgehend müssen seit dem Inkrafttreten des Gemeinsamen Markts die deutschen Gerichte auch solche Rechtsvorschriften anwenden, die zwar einer eigenständigen außerstaatlichen Hoheitsgewalt zuzurechnen sind, aber dennoch aufgrund ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof im innerstaatlichen Raum unmittelbare Wirkung entfalten und entgegenstehendes nationales Recht überlagern und verdrängen; denn nur so können die den Bürgern des Gemeinsamen Markts eingeräumten subjektiven Rechte verwirklicht werden.“ 311 Amtsblatt Nr. C 115 vom 09. Mai 2008, Seite 0001 –0388; 17. Erklärung zum Vorrang. Die Konferenz weist darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedsstaaten haben. Darüber hinaus hat die Konferenz beschlossen, dass das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates zum Vorrang in der Fassung des Dokuments 11197/07 (JUR 260) dieser Schlussakte beigefügt wird: „Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates vom 22. Juni 2007 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Vorrang des EG-Rechts einer der Grundpfeiler des Gemeinschaftsrechts. Dem Gerichtshof zufolge ergibt sich dieser Grundsatz aus der Besonderheit der Europäischen Gemeinschaft. Zum Zeitpunkt des ersten Urteils im Rahmen dieser ständigen Rechtsprechung (Rechtssache 6/64, Costa gegen ENEL, 15. Juli 1964 [1] war dieser Vorrang im Vertrag nicht erwähnt. Dies ist auch heute noch der Fall. Die Tatsache, dass der Grundsatz dieses Vorrangs nicht in den künftigen Vertrag aufgenommen wird, ändert nichts an seiner Existenz und an der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs. [1] ‚Aus (...) folgt, dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.‘“ 312 Und erübrigt sich ein Eingehen auf die Herleitung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts aus dem deutschen Zustimmungsgesetz, vgl. BVerfG, Urteil vom 12. Oktober 1993, – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92 –, BVerfGE 89, 155 –213 [190], das Geltung und Anwendung des Unionsrechts in Deutschland aus dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes herleitet; hierzu Papier, Gerichtshöfe, Seite 12 ff.

3. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts

345

nungen der Mitgliedsstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden sei. Denn durch die Gründung einer Union für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedsstaaten auf die Union herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet sei, hätten die Mitgliedsstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und für sie selbst verbindlich sei. Die Aufnahme der Bestimmungen des Unionsrechts in das Recht der einzelnen Mitgliedsstaaten sowie der „allgemeine Wortlaut und Geist der Verträge“ hätten zur Folge, dass es den Mitgliedsstaaten unmöglich sei, gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene Rechtsordnung „nachträgliche einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen“, insbesondere eine von dem Unionsrecht abweichende innerstaatliche Gesetzgebung zu betreiben. Systematisch werde der Vorrang des Unionsrechts durch die Regelungen der Verträge über die Berechtigung zu einseitigem Vorgehen, über das Erteilen von Ausnahmegenehmigungen sowie insbesondere durch die Vorschrift über die unmittelbare Geltung von Verordnungen 313, die ohne Bedeutung wären, wenn die Mitgliedsstaaten sie durch eigene Gesetzgebungsakte leer laufen lassen könnten, bestätigt. Das Unionsrecht besitzt daher Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht: Die einheitliche Geltung des Unionsrechts würde beeinträchtigt, wenn bei der Entscheidung über die Gültigkeit von Handlungen der Unionsorgane Normen oder Grundsätze des nationalen Rechts herangezogen werden 314. Daher kann auch die Gültigkeit einer Unionshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedsstaat nicht durch die mitgliedsstaatlichen oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung berührt werden 315; zu prüfen ist nach dem Gerichtshof indes, ob eine entsprechende unionsrechtliche Garantie besteht. Man kann insoweit von einem Rangverhältnis zwischen nationalem und Unionsrecht dahingehend sprechen, dass den unionsrechtlichen Vorschriften in einem gerichtlichen Verfahren entgegenstehendes mitgliedsstaatliches Recht weichen muss 316: Unionsrecht ist das normhierarchisch gegenüber den nationalen Rechtsordnungen höher angesiedelte Recht 317. 313

EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Rs. C-6/64 [Flaminio Costa gegen E.N.E.L.], Slg. 1964, 1253 [1270] zu Art. 189 EGV a.F. 314 EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. C-11/70 [Internationale Handelsgesellschaft mbH gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1970, 1125 [Rn. 3]; Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, Rn. 17. 315 EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. C-11/70 [Internationale Handelsgesellschaft mbH gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1970, 1125 [Rn. 3]; Suerbaum, Europäisierung, Seite 174. 316 Demleitner, Normverwerfungskompetenz, Seite 1526.

346

V. Unionsrechtliche Vorgaben

Konstruktiv folgt das Vorrangprinzip letztendlich aus einer freiwilligen Souveränitätsbeschränkung der Mitgliedsstaaten 318, ist aber mittlerweile – wie ausgeführt – positivrechtlich im Primärrecht kodifiziert. b) Der Vorrang des Unionsrechts in seinem Verhältnis zu der mitgliedsstaatlichen Rechtsordnung Der Vorrang des Unionsrechts ist in seinem Verhältnis zu der mitgliedsstaatlichen Rechtsordnung allumfassend 319 und absolut 320 dahingehend, dass das Unionsrecht „wie immer gearteten mitgliedsstaatlichen Rechtsvorschriften“ 321 und damit auch solchen des Grundgesetzes 322 vorgeht. Von dem Vorrangprinzip erfasst werden auch nach dem Ergehen der Unionshandlung erst erlassene neue mitgliedsstaatliche Gesetzgebungsakte 323, sodass die Normkollisionsregel lex posterior derogat legi priori in Bezug auf das Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedsstaatlicher Rechtsordnung nicht gilt. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts wird ferner in der Weise relevant, als die mitgliedsstaatlichen Gerichte ihrer Rechtsprechung diejenige Auslegung des Unionsrechts zugrunde legen sollen, die der Gerichtshof diesen Bestimmungen gegeben hat 324. Denn durch eine Auslegung einer unionsrechtlichen Norm durch den Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren wird klargestellt, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen ist 325. Letztlich müssen nach dem Prinzip des Vorrangs des Unionsrechts auch bestandskräftige individuell-konkrete Verwaltungsentscheidungen – Verwaltungsakte im Sinne des § 35 VwVfG – in den Fällen ihrer erkannten Unionsrechtswidrigkeit insoweit künftig unangewendet bleiben, als sie in ihren Regelungswirkungen zwar als bestandskräftig anzuerkennen sind 326, sie aber nicht zu einer 317

Haltern, Europarecht, Rn. 596. Haltern, Europarecht, Rn. 920. 319 Jarass, Konflikte, Seite 954. 320 Haltern, Europarecht, Rn. 934. 321 EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. C-11 – 70 [Internationale Handelsgesellschaft mbH gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1970, 01125 [Rn. 3]; vgl. auch Kraus, Kooperative Sicherung, Seite 115. 322 Murswiek, Entwicklung des Unionsvertrages, Seite 484. 323 EuGH, Urteil vom 9. März 1978, Rs. C-106/77 [Staatliche Finanzverwaltung gegen S.p.A. Simmenthal], Slg. 1978, 00629 [Rn. 17/18]. 324 Kraus, Kooperative Sicherung, Seite 115. 325 Kraus, Kooperative Sicherung, Seite 115. 326 Hierzu noch ausführlich später. 318

3. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts

347

Grundlage für weitere Verwaltungsentscheidungen gemacht werden dürfen 327. Denn diese würden dann den Unionsrechtsverstoß gleichsam perpetuieren. c) Verwerfung oder Nichtanwendung als Folge des Vorrangs des Unionsrechts In älteren Entscheidungen ist der Gerichtshof davon ausgegangen, dass als Folge des Vorrangprinzips „ein wirksames Zustandekommen neuer staatlicher Gesetzgebungsakte insoweit verhindert wird, als diese mit Gemeinschaftsnormen unvereinbar wären.“ 328 Das Abstellen des Gerichtshofs auf ein „wirksames Zustandekommen“ könnte – vergleichbar zu dem durch Art. 31 GG angeordneten Geltungsvorrang 329 – dafür sprechen, von einer Nichtigkeit der mitgliedsstaatlichen Norm in dem Falle ihrer Kollision mit dem Unionsrecht auszugehen, denn nur eine nichtige Norm ist nicht wirksam (zustandegekommen). Jedoch formuliert der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung 330, dass jeder in dem Rahmen seiner mitgliedsstaatlichen Zuständigkeit angerufene Richter verpflichtet sei, „das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es dem Einzelnen verleiht, zu schützen, indem er jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts [...] unangewendet lässt“ 331, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste 332. Daher wird nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts der Konflikt zwischen einer Vorschrift des nationalen Gesetzes und einer unmittelbar anwendbaren Vertragsbestimmung oder einer sonstigen unionsrechtlichen Norm für ein nationales Gericht dadurch gelöst, dass das mitgliedsstaatliche Gericht 327 EuGH, Urteil vom 29. April 1999, Rs. C-224/97 [Erich Ciola gegen Land Vorarlberg], Slg. 1999, I-02517 [Rn. 27 und 32 ff.]. 328 EuGH, Urteil vom 9. März 1978, Rs. C-106/77 [Staatliche Finanzverwaltung gegen S.p.A. Simmenthal], Slg. 1978, 00629 [Rn. 17/18]. 329 Kenntner, Europarecht im deutschen Verwaltungsprozeß, Seite 300. 330 EuGH, Urteil vom 9. März 1978, Rs. C-106/77 [Staatliche Finanzverwaltung gegen S.p.A. Simmenthal], Slg. 1978, 00629 [Rn. 17/18]; EuGH, Urteil vom 22. November 2005, Rs. C-144/04 [Werner Mangold gegen Rüdiger Helm], Slg. 2005, I-09981 [Rn. 77]; EuGH, Urteil vom 27. Oktober 2009, Rs. C-115/08 [Land Oberösterreich gegen ČEZ as], Juris [Rn. 138]; EuGH, Urteil vom 19. Januar 2010, Rs. C-555/07 [Seda Kücükdeveci gegen Swedex GmbH & Co. KG], Slg. 2010, I-00365 [Rn. 54]. 331 EuGH, Urteil vom 9. März 1978, Rs. C-106/77 [Staatliche Finanzverwaltung gegen S.p.A. Simmenthal], Slg. 1978, 00629 [Rn. 21/23]; hierzu Caranta, Judical Protection, Seite 705 f. 332 EuGH, Urteil vom 19. November 2009, Rs. C-314/08 [Krzysztof Filipiak gegen Dyrektor Izby Skarbowej w Poznaniu], Juris [Rn. 81].

348

V. Unionsrechtliche Vorgaben

das Unionsrecht anwendet und die entgegenstehende nationale Vorschrift erforderlichenfalls unangewandt lässt, und nicht dadurch, dass es die Nichtigkeit der nationalen Vorschrift feststellt 333. Es besteht daher ein Anwendungs- und nicht etwa ein Geltungsvorrang des Unionsrechts 334. Ein derartiger Anwendungsvorrang lässt im Gegensatz zu einem Geltungsvorrang die herausgehobene Stellung eines von einem Parlament beschlossenen Gesetzes unberührt und verlangt von keinem mitgliedsstaatlichen Richter, einem solchen Gesetz die Gültigkeit abzusprechen 335, ist also schonender 336, obwohl er gleichwohl den Rechtsanwender von der Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 GG dispensiert 337. Der Anwendungsvorrang setzt dogmatisch voraus, dass die fragliche unionsrechtliche Norm unmittelbar anwendbar in dem oben 338 beschriebenen Sinne ist 339.

4. „Effet utile“, Verpflichtung zu einer unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Prozessrechts und der allgemeine Rechtsgrundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes Kann aufgrund seiner unmittelbaren Wirkung sowohl das primäre als auch das sekundäre Unionsrecht durchsetzbare Rechte und Pflichten der Einzelnen begründen, so kommt der praktischen Durchsetzung dieser Rechte eine hohe 333

EuGH, Urteil vom 19. November 2009, Rs. C-314/08 [Krzysztof Filipiak gegen Dyrektor Izby Skarbowej w Poznaniu], Juris [Rn. 82]; Lindner, Bayern in der Europäischen Union, Seite 5. 334 Haltern, Europarecht, Rn. 940; Bergmann, Europarecht im deutschen Verwaltungsprozess, Seite 184; Oexle, Materielle Präklusion, Seite 66; umfassend zu den dogmatischen Begründungsansätzen Gellermann, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 34 Rn. 7 ff.; Kerwer, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, Seite 147 f.; Seyr, Effet utile, Seite 118. 335 Zuleeg, Wechselseitige Einwirkungen, Seite 163. 336 Bergmann, Europarecht im deutschen Verwaltungsprozess, Seite 184. 337 Suerbaum, Europäisierung, Seite 174; diese Dispensfunktion des Vorrangprinzips für die Gesetzesbindung aus Art. 20 Abs. 3 GG verkennt Stadie, Unmittelbare Wirkung, Seite 437, der von einem „grundsätzlichen Verstoß“ gegen die Grundrechtsbestimmung in dem Falle der Nichtberücksichtigung der mitgliedsstaatlichen Gesetzeslage aufgrund des Vorrangprinzips ausgeht. 338 V. 2. 339 Zuleeg, Wechselseitige Einwirkungen, Seite 163.

4. „Effet utile“

349

Bedeutung zu. Die mitgliedsstaatliche Verantwortung für die Um- und Durchsetzung des Unionsrechts auf der nationalen Ebene kann zu einem Konflikt mit nationalen Prozessregelungen, und zwar nicht zu einer sogenannten indirekten Kollision – verstanden als der Kollision mitgliedsstaatlicher Normen mit Unionsregelungen aus einem anderen Bereich 340 –, sondern zu einer direkten Kollision 341 – führen, der durch die Verpflichtung zu einer unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Prozessrechts als Folge des allgemeinen Rechtsgrundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV oder durch die Kollisionsregel des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts gelöst werden muss (b). Daneben besteht eine Verpflichtung für die mitgliedsstaatlichen Organe, Handlungen der Unionsorgane einer bestimmten Interpretation zu unterwerfen – der des „effet utile“ 342 –, um dem Unionsrecht eine ausreichende Effektivität zuwachsen zu lassen (c). Zunächst ist die Terminologie in dem Verhältnis zwischen effet utile einerseits und Effektivitätsgrundsatz andererseits zu bestimmen (a). a) „Effet utile“ und Effektivitätsgrundsatz als Synonyme? Die Auslegung nach dem Grundsatz des „effet utile“ bedeutet den Vorrang derjenigen Auslegung, die mit dem erkennbaren Vertragszweck harmoniert und am meisten zu seiner Verwirklichung beiträgt 343. Der Effektivitätsgrundsatz folgt aus dem Primärrecht: Nach Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV ergreifen die Mitgliedsstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben. aa) Tradierte Begrifflichkeit In der deutschen Rechtsprechung werden die Begriffe „effet utile“ und „Effektivitätsgrundsatz“ weitgehend synonym verstanden. So formuliert etwa das Bundessozialgericht 344: „Anknüpfungspunkt für den Anspruch auf Kostenerstattung ist insoweit das EG-rechtliche Gebot, die gemeinschaftsrechtlichen Regelungen möglichst wirksam umzusetzen (effet utile).“ Auch das Bundesverwaltungsgericht spricht von dem „gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz des effet utile“ 345 im Sinne des Effektivitätsgrundsatzes des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV. Nahezu durch340

Weiß, Bestandskraft, Seite 478. Tonne, Effektiver Rechtsschutz; Seite 250 f.; Von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, Seite 115 f. 342 Umfassend zum effet utile Seyr, Effet utile. 343 Bernhardt, Auslegung, Seite 97; Zuleeg, Auslegung, Seite 107; Looschelders, Aktuelle Auswirkungen, Seite 426. 344 BSG, Urteil vom 30. Juni 2009, – B 1 KR 22/08 R –, Juris [Rn. 24]. 341

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

gehend werden in der Rechtsprechung „effet utile“ und Effektivitätsgrundsatz als Synonyme in dem Sinne verstanden, dass damit „der allgemeine europarechtliche Gedanken der möglichst einheitlichen und wirksamen Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedsstaaten, der Gedanke des sog. effet utile“ 346 gemeint sei. Das Bundesverfassungsgericht versteht in seinem Maastricht-Urteil den Grundsatz des „effet utile“ dahingehend, dass dieser „eine Vertragsauslegung im Sinne einer größtmöglichen Ausschöpfung der Gemeinschaftsbefugnisse (‚effet utile‘)“ meine 347. In der Literatur werden zu dem Problemkreis einer Auslegung des Unionsrechts nach dem Ziel des jeweiligen Beitrags zu dem Gelingen des den Verträgen zu Grunde liegenden Integrationsvorhabens weitere, verschiedene Begriffe verwandt, neben dem des „effet utile“ etwa derjenige der Auslegung nach dem Vertragszweck, der einer teleologischen Auslegung, der einer dynamischen Auslegung oder der einer effektuierenden Auslegung 348, ohne dass insoweit greifbare Unterscheide herausgearbeitet werden könnten 349. In der weiteren Literatur werden Effektivitätsgrundsatz und „effet utile“ teilweise gleichgesetzt 350, etwa wenn es heißt: „Der diese Dogmatik [die der unmittelbaren Anwendbarkeit des Unionsrechts] treibende Gedanke ist derjenige der Effektivität des Gemeinschaftsrechts (effet utile)“ 351, oder wenn der Grundsatz, dass die durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden dürfen, als „effet-utilePostulat des EuGH“ 352 bezeichnet wird. Etwa wird auch davon gesprochen 353, dass das Erfordernis, die Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten und das 345 BVerwG, Beschluss vom 09. September 2009, – BVerwG 4 BN 4.09 –, Juris [Rn. 13]. 346 OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 14. Juli 2009, – 10 B 10601/09 –, RdL 2009, 293 – 296. 347 BVerfG, Urteil vom 12. Oktober 1993, – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92 –, BVerfGE 89, 155 [210]. 348 Böhm, Kompetenzauslegung und Kompetenzlücken, Seite 86 ff., mit weiteren Nachweisen zu den einzelnen Begriffen. 349 Böhm, Kompetenzauslegung und Kompetenzlücken, Seite 103. 350 Streinz, in: Streinz, EUV / EGV, Art. 10 EGV Rn. 16, spricht etwa von dem effet utile als dem Leitbegriff des aus Geist und System des Vertrages unter Einbeziehung einzelner Normen folgenden Effektivitätsgrundsatzes; Tonne, Effektiver Rechtsschutz, Seite 283; gleichsetzend auch Möslein, Richtlinienkonforme Auslegung im Zivilverfahrensrecht, Seite 59. 351 Haltern, Europarecht, Rn. 788; so auch in Rn. 806; ähnlich Eicker / Ketteler, Verfahrensrechtliche Durchsetzung, Seite 135, die den effet utile als Gebot an die Mitgliedsstaaten begreifen, dem Unionsrecht die größtmögliche Wirksamkeit zu verschaffen, ohne das Gebot dogmatisch zu verorten. 352 Haratsch, Kooperative Sicherung, Seite 87.

4. „Effet utile“

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Unionsinteresse in einen Ausgleich zu bringen, häufig unter dem Topos der „Wahrung des effet utile des Unionsrechts“ zusammengefasst werde. Eine derartige Gleichsetzung liegt auch vor, wenn formuliert wird, dass „die Zauberformel vom effet utile, von der Effizienz des Europarechts, nahezu jede Auslegung des Rechts, wenn sie Europa nützt“, rechtfertige 354. Es wird in der Literatur in ähnlichem Sinne auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs dahingehend analysiert, dass dieser die Begriffe Effizienzgebot, effet utile, praktische Wirksamkeit, einheitliche Anwendung und nützliche Wirkung synonym gebrauche 355. Demgegenüber wird in der neueren Literatur herausgearbeitet, dass der Grundsatz des „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine teleologische Auslegungsmethode darstellt 356, die besagt, dass die praktische Wirksamkeit der einzelnen Norm des Unionsrechts und die bestmögliche Erreichung der Vertragsziele der Union sowie deren Funktionsfähigkeit maßgebliches Auslegungskriterium sind 357. Hiernach stellt der Grundsatz des „effet utile“ eine Unterart der teleologischen Interpretation in der Rechtsprechung des Gerichtshofs dar: Der Gerichtshof formuliert als Ziel der Auslegung einer Norm des Unionsrechts, deren größtmögliche praktische Wirksamkeit sicherzustellen, ihre „nützlichen Wirkung“. Eine Vorschrift ist nach dem Grundsatz des „effet utile“ so auszulegen, dass nach Möglichkeit ihr Zweck vollständig erreicht wird und sich ihre „Nutzwirkung“ bestmöglich entfalten kann. Eine Auslegung hat so zu erfolgen, dass die Vertragsziele weitest möglich gefördert werden. Es wird in der Literatur weiter erkannt 358, dass der Gerichtshof mit der Auslegungsregel des „effet utile“ ein über den Äquivalenzgrundsatz und über das Effektivitätsgebot hinausgehendes Instrument zum Setzen richterrechtlicher Ausgestaltungsbedingungen „kreiert“ 359 hat, das dementsprechend auch von dem Effektivitätsgrundsatz aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV abzugrenzen ist.

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Kraus, Kooperative Sicherung, Seite 127. Kokott, Aussprache, Seite 275; ähnlich kritisch zum effet utile Von Danwitz, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 22. Oktober 1998, Seite 199, der von „einer vom effet utile getragenen Überformung, Verdrängung und Neukonzeption des mitgliedsstaatlichen Verwaltungsrechts durch gemeinschaftsrechtliche Vorgaben“ spricht. 355 Suerbaum, Europäisierung, Seite 176. 356 Umfassend zum effet utile Seyr, Effet utile, insbesondere Seite 100 ff. 357 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 10; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 18. 358 Schoch, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Seite 512 f. 359 Voßkuhle, Verfassungsgerichtsverbund, Seite 5. 354

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

bb) Differenzierung nach dem jeweiligen Adressaten des Effektivitätsgrundsatzes einerseits und der Auslegungsregel des „effet utile“ andererseits Jedoch ist auch eine Differenzierung zwischen dem Effektivitätsgrundsatz des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV einerseits und einer Auslegungsregel des „effet utile“ andererseits nach dem jeweiligen Adressaten des Gebots möglich: Ausgehend von dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV wird hiernach durch den Effektivitätsgrundsatz ausschließlich eine Verpflichtung „der Mitgliedsstaaten“ und ihrer Organe – damit auch eine solche der Gerichte der Mitgliedsstaaten – begründet 360. Für die Unionsgerichte im institutionellen Sinn – den Gerichtshof, das Gericht 361 und die Fachgerichte der Europäischen Union – entfaltet Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV demgegenüber von seinem Wortlaut her keinerlei Bindungswirkung, auch wenn der Gerichtshof den Grundsatz der Sache nach gleichwohl über seinen Wortlaut hinaus als eine allgemeine Verpflichtung zu einer loyalen Zusammenarbeit vereinzelt auch in dem Verhältnis der Mitgliedsstaaten zu den Unionsorganen angewandt hat 362. Als Gegenpunkt bezeichnet bei einer derartigen differenzierten Betrachtung dann das Gebot des „effet utile“ in dem Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Auslegung einer Norm des Unionsrechts dahingehend, ihr die stärksten Normwirkungen und den größten praktischen Nutzen zukommen zu lassen: Für den von ihm zu entscheidenden Konflikt, ob ein Begriff einer Unionsrechtsnorm 363 autonom auszulegen ist oder ob insoweit eine Verweisung auf die Terminologie des innerstaatlichen Rechts eines der Mitgliedsstaaten angenommen werden kann, hat der Gerichtshof entschieden, dass insoweit bei der Auslegung einer Unionsrechtsnorm „keiner dieser beiden Möglichkeiten unter Ausschluss der anderen der Vorrang [gebühre], da eine sachgerechte Entscheidung nur für jede Bestimmung des Übereinkommens gesondert getroffen werden kann; hierbei ist jedoch die volle Wirksamkeit des Übereinkommens unter dem Gesichtspunkt der Ziele des Artikels 220 EWG-Vertrag 364 sicherzustellen.“ 365 360

Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 21; von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der Europäischen Union, Art. 10 EGV Rn. 24. 361 Früher: Europäisches Gericht erster Instanz. 362 EuGH, Urteil vom 10. Februar 1983, Rs. C-230/81 [Großherzogtum Luxemburg gegen Europäisches Parlament], Slg. 1983, 00255 [Rn. 37]; EuGH, Urteil vom 14. Dezember 2000, Rs. C-344/98 [Masterfoods Ltd gegen HB Ice Cream Ltd.], Slg. 2000, I-11369 [Rn. 56] zu Wettbewerbsregelungen; Jarass, Grundfragen, Seite 10; Geiger, in: Geiger / Khan / Kotzur, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 5; auch Hirsch, Europäisierung, Seite 126, spricht von der effizienten und kohärenten Durchsetzung des Unionsrechts als einer Aufgabe des Gerichtshofs. 363 Dort der der Rechtshängigkeit im Sinne des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen.

4. „Effet utile“

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Zu der Wirksamkeit des Vorabentscheidungsverfahrens bei der Auslegung des Unionsrechts durch die Mitgliedsstaaten hat der Gerichtshof ausgeführt, dass „die praktische Wirksamkeit des mit Artikel 177 EWG-Vertrag geschaffenen Systems“ voraussetzt, „dass die innerstaatlichen Gerichte im weitestmöglichen Umfang zur Anrufung des Gerichtshofes befugt sind, wenn sie der Auffassung sind, dass ein bei ihnen anhängiger Rechtsstreit Fragen nach der Auslegung oder der Gültigkeit gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften aufwirft, die zur Entscheidung dieses Rechtsstreits erforderlich sind“ 366. Dieser „weitestmögliche Umfang“ der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts ist dann das von den Mitgliedsstaaten und deren Organen zu beachtende Gebot des „effet utile“. Die genannten Entscheidungen des Gerichtshofs zeigen, dass die so verstandene Auslegungsmethode des „effet utile“ dann als Ausdruck des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts – anders als das allein an die Mitgliedsstaaten und ihre Organe adressierte Gebot des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV – sowohl die Mitgliedsstaaten und deren Organe – insbesondere die mitgliedsstaatlichen Gerichte – als auch die Unionsgerichte im institutionellen Sinne selbst verpflichtet. cc) Eigene Stellungnahme Dogmatisch sind zwar der Effektivitätsgrundsatz aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV einerseits und das Auslegungsgebot des „effet utile“ zu trennen. Denn beide haben insoweit teilweise unterschiedliche Adressatenkreise, als der Effektivitätsgrundsatz des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV nach seinem einer erweiternden Auslegung nicht fähigen oder bedürftigen Wortlaut allein die Mitgliedsstaaten und deren Organe – und damit auch die mitgliedsstaatlichen Gerichte, die Unionsgerichte im funktionellen Sinne sind 367 – als Normverpflichtete benennt 368, 364

Artikel 220: Soweit erforderlich, leiten die Mitgliedsstaaten untereinander Verhandlungen ein, um zugunsten ihrer Staatsangehörigen folgendes sicherzustellen: Den Schutz der Personen sowie den Genuss und den Schutz der Rechte zu den Bedingungen, die jeder Staat seinen eigenen Angehörigen einräumt, die Beseitigung der Doppelbesteuerung innerhalb der Gemeinschaft, die gegenseitige Anerkennung der Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2, die Beibehaltung der Rechtspersönlichkeit bei Verlegung des Sitzes von einem Staat in einen anderen und die Möglichkeit der Verschmelzung von Gesellschaften, die den Rechtsvorschriften verschiedener Mitgliedsstaaten unterstehen, die Vereinfachung der Förmlichkeiten für die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung richterlicher Entscheidungen und Schiedssprüche. 365 EuGH, Urteil vom 8. Dezember 1987, Rs. C-144/86 [Gubisch Maschinenfabrik KG gegen Giulio Palumbo], Slg. 1987, 04861 [Rn. 7]. 366 EuGH, Urteil vom 27. Juni 1991, Rs. C-348/89 [Mecanarte – Metalúrgica da Lagoa Ldª gegen Chefe do Serviço da Conferência Final da Alfândega do Porto], Slg. 1991, I-03277 [Rn. 44].

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

hingegen das Gebot des „effet utile“ hierüber hinausgehend auch die Unionsgerichte im institutionellen Sinne selbst als Verpflichtete beinhaltet. Auch kann der Effektivitätsgrundsatz aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV nur in denjenigen Fällen Anwendung finden, in denen eine Kollision zwischen dem mitgliedsstaatlichen Recht einerseits und dem Unionsrecht andererseits besteht 369; regelt das Unionsrecht hingegen abschließend die fraglichen Rechte und (ausnahmsweise) auch das Verwaltungsverfahren, dann besteht eine das Handlungsgebot des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV auslösender Normkonflikt ebenso wenig, wie wenn allein mitgliedsstaatliches Recht anwendbar ist. Hingegen ist in dem erstgenannten Fall einer ausnahmsweisen Regelung sowohl des materiellen Rechts als auch des Verfahrens durch das Unionsrecht gleichwohl noch Raum für eine Auslegung nach dem Grundsatz des „effet utile“, was ebenfalls für eine Differenzierung spricht. Andererseits kann der von dem Gerichtshof entwickelte Auslegungsgrundsatz des „effet utile“ in seiner dogmatischen Herleitung auch (nur) auf Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV gestützt werden 370. Dies spricht gegen eine weitergehende Differenzierung. Zudem bestehen jedenfalls in dem hier zu behandelnden Kontext praktische Unterschiede in dem jeweiligen Ergebnis nicht: Ob ein hier allein in den Blick zu nehmendes mitgliedsstaatliches Oberverwaltungsgericht sich gegebenenfalls aufgrund des Handlungsgebotes des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV in Verbindung mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet sieht, eine nationale Norm zugunsten einer solchen des Unionsrechts nicht anzuwenden, oder ob es eine solche Verpflichtung aus dem Grundsatz des „effet utile“ als Auslegungsmethode folgert, würde in dem jeweiligen Ergebnis keinen Unterschied machen. Denn auch das Gebot einer unionsrechtskonformen Auslegung auch des nationalen Rechts ist nach dem Gerichtshof dem System des Vertrags immanent, da dem nationalen Gericht dadurch ermöglicht wird, im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen, wenn es über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheidet 371. Die beiden Begriffe werden daher auch in der vorliegenden Untersuchung synonym verwendet, wobei das – nor367 Gärditz, Europäisches Verwaltungsprozessrecht, Seite 388; Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 1. 368 von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der Europäischen Union, Art. 10 EGV Rn. 9. 369 Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 21. 370 Streinz, in: Streinz, EUV / EGV, Art 10 EGV Rn. 16 ff. zur Herleitung des effet utile aus Art. 10 EGV. 371 EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2004, Verbundene Rs. C-397/01 bis C-403/01 [Bernhard Pfeiffer (C-397/01), Wilhelm Roith (C-398/01), Albert Süß (C-399/01), Michael Winter (C-400/01), Klaus Nestvogel (C-401/01), Roswitha Zeller (C-402/01) und Matthias Döbele (C-403/01) gegen Deutsches Rotes Kreuz, Kreisverband Waldshut e.V.],

4. „Effet utile“

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mierte – Prinzip des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV in den Fokus gerückt wird und auf etwaige Besonderheiten beziehungsweise Weiterungen des – sprachlich „schöneren“ – Auslegungsprinzips des „effet utile“ so weit erforderlich eingegangen wird. b) Die Verpflichtung zu einer unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Prozessrechts und das Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und kompetenzrechtliche Aspekte Art. 197 Abs. 1 AEUV 372 deklariert, dass die effektive Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedsstaaten für das ordnungsgemäße Funktionieren der Union entscheidend und daher als Frage von gemeinsamer Bedeutung anzusehen ist. Es stellt sich die Frage, ob und welche Vorgaben das Primärrecht für das mitgliedsstaatliche Berufungszulassungsrecht enthält. aa) Vollzugsstruktur des Unionsrechts, Kompetenz der Union zu einer Regelung des Verwaltungsprozessrechts und Grundsatz der mitgliedsstaatlichen Verfahrensautonomie (1) Vollzugsstruktur des Unionsrechts Regelmäßig bedarf auch unmittelbar wirkendes Unionsrecht noch des Vollzuges durch Einzelakte durch die mitgliedsstaatlichen Behörden 373. Vollziehen die mitgliedsstaatlichen Behörden das Unionsrecht, so spricht man von einem „indirekten Vollzug“ 374, der den Regelfall des Verwaltungsvollzuges in der Union darstellt 375. Die Vollzugsstruktur des Unionsrechts ist daher eine duale 376: Unionsrechtliche Normen werden entweder – dies ist der Ausnahmefall 377 – von den Slg. 2004, I-08835 [Rn. 114]; EuGH, Urteil vom 19. Januar 2010, Rs. C-555/07 [Seda Kücükdeveci gegen Swedex GmbH & Co. KG], Slg. 2010, I-00365 [Rn. 48]. 372 Hierzu Schröder, Effektiver Vollzug. 373 Von Danwitz, Garantie effektiven Rechtsschutzes, Seite 1112; Frenz, Verwaltungskooperation mit der Union, Seite 66. 374 Weber, Verwaltungsverfahren, Seite 59 f.; Geiger, in: Geiger / Khan / Kotzur, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 37. 375 Rengeling, Wechselseitige Einwirkungen, Seite 205; Classen, Strukturunterschiede, Seite 2458; Von Danwitz, Garantie effektiven Rechtsschutzes, Seite 1112; Schoch, Europäisierung, Seite 290; Everling, Funktion des Gerichtshofs, Seite 297; Emmert, Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite VI; Frenz, Verwaltungskooperation mit der Union, Seite 66; Ehlers, Europäisierung, Seite 28; Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 7. 376 Lindner, Individualrechtsschutz, Seite 1; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 360; Gellermann, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 34 Rn. 25 ff.

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Unionsorganen selbst – sogenannter direkter Vollzug 378 – vollzogen; Beispiele sind etwa Personalangelegenheiten der Union oder die Wettbewerbsaufsicht 379 nach Art. 105 AEUV in dem Rahmen des Kartellverbots nach Art. 101 AEUV 380. Oder – dies ist der Regelfall 381 – unionsrechtliche Normen werden – je nachdem, ob das Unionsrecht zuvor in mitgliedsstaatliches Recht umgesetzt werden musste als unmittelbar oder mittelbar zu bezeichnend – im Wege des indirekten Vollzugs durch die mitgliedsstaatlichen Behörden vollzogen 382. Der regelmäßige Vollzug durch die mitgliedsstaatlichen Behörden geschieht daher in Anwendung des mitgliedsstaatlichen Verfahrensrechts 383; es bestehen in dieser Vollzugsform zudem nur geringe Kontroll- und keinerlei Weisungsrechte der Unionsorgane 384. Die Struktur des Vollzuges des Unionsrechts lässt damit als solche Einflussmöglichkeiten der Union auf die Durchsetzung des Unionsrechts in einem Verwaltungsprozess unmittelbar nicht erkennen.

377 Hauser, Europarecht im deutschen Verwaltungsprozess, Seite 378; Kahl, Kompetenz zur Regelung des allgemeinen Verwaltungsrechts, Seite 866; Weber, Durchführung des Gemeinschaftsrechts, Seite 45; Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 7. 378 Hierzu ausführlich Gärditz, Verwaltungsdimension; Bergmann, Europarecht im deutschen Verwaltungsprozess, Seite 184 f.; Weber, Verwaltungsverfahren, Seite 60 f.; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 360; Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, Rn. 226; Kment, Eigenverwaltungsrecht. 379 Umfassend zu den Wettbewerbsregelungen des Unionsrechts Schneider, Zivilrecht und praktische Wirksamkeit. 380 Weitere Beispiele bei Streinz, Vollzug des Gemeinschaftsrechts, § 182 Rn. 4, und bei Kahl, Kompetenz zur Regelung des allgemeinen Verwaltungsrechts, Seite 866; zu den diesbezüglichen verwaltungsspezifischen Regelungsgehalten des Primärrechts Gärditz, Verwaltungsdimension; zur diesbezüglichen Verwaltungsorganisation Bieber, Verwaltungsorganisation, Seite 85 ff. 381 Hirsch, Bundesverwaltungsgericht und Gerichthof, Seite 5; Rengeling, Wechselseitige Einwirkungen, Seite 205; Hauser, Europarecht im deutschen Verwaltungsprozess, Seite 378; Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 31; Frenz, Durchsetzung von Europarecht, Seite 160; Hölscheidt, Durchsetzung des Unionsrechts, Seite 345; Niedzwicki, Präklusionsvorschriften, Seite 221. 382 Haratsch, Kooperative Sicherung, Seite 82; Stern, Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts, Seite 770; Rengeling, Wechselseitige Einwirkungen, Seite 205; Suerbaum, Europäisierung, Seite 171 f.; Streinz, Vertrauensschutz und Gemeinschaftsinteresse, Seite 155 f.; Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 31; Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, Rn. 226 und 240 ff. 383 Eicker / Ketteler, Verfahrensrechtliche Durchsetzung, Seite 132; Frenz, Verwaltungskooperation mit der Union, Seite 66 f.; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 360 und 362; Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite 23. 384 von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der Europäischen Union, Art. 10 EGV Rn. 2.

4. „Effet utile“

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(2) Die Kompetenz der Union zu einer Regelung des Verwaltungsprozessrechts Das Unionsrecht bleibt als autonomes Recht von der vertraglichen Übertragung und Ermächtigung durch die Mitgliedsstaaten abhängig 385: Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EUV und dem Grundsatz der ausdrücklich zugewiesenen Zuständigkeiten 386 üben die Organe der Union ihre Befugnisse nach Maßgabe des Primärrechts aus und bedürfen daher für jeden Rechtsakt einer ausdrücklichen oder zumindest im Rahmen der Auslegung nachweisbaren Rechtsgrundlage im Primärrecht 387. Dieses Prinzip bringt zum Ausdruck, dass die Kompetenzen der Union von den Mitgliedsstaaten abgeleitet sind 388. Hiervon ausgehend hat die Union keine Verbandskompetenz zu einer Regelung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens in den Mitgliedsstaaten 389 sowie keine Kompetenz-Kompetenz, eine solche zu schaffen 390. Eine Kompetenz des Gerichtshofs als Organ der Union zu einer Rechtsfortbildung in dem den Mit385 BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2010, – 2 BvR 2661/06 –, Juris [Rn 55], das aus diesem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung seine Berechtigung zur Unanwendbarkeit kompetenzüberschreitender Handlungen für die deutsche Rechtsordnung ableitet [Rn. 55], diese „Pflicht des Bundesverfassungsgerichts“ zu einer ulra-vires-Kontrolle aber unionsrechtsfreundlich [Rn. 58] ausüben will, und das die Annahme eines ultra-vires-Aktes erst nach einer Anrufung des Gerichtshofs in dem Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV, das diesem die Gelegenheit zu einer Vertragsauslegung sowie zu einer Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte gibt, aussprechen will [Rn. 60]. 386 Weber, Vertrag von Lissabon, Seite 8; Schoch, Europäisierung, Seite 293; Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 11; Von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, Seite 144 ff.; Tonne, Effektiver Rechtsschutz, Seite 216 ff.; Jarass, Grundfragen, Seite 11 ff.; Von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, Seite 96 ff.; Magiera, in: Schulze / Zuleeg / Kadelbach, Europarecht, § 13 Rn. 16. 387 Brück, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 12. 388 Burgi, Verwaltungsprozess und Europarecht, Seite 24. 389 Schoch, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Seite 508; Kadelbach, Europäischer Einfluß, Seite 41; Rengeling, Wechselseitige Einwirkungen, Seite 231; Schwarze, Europäische Rahmenbedingungen, Seite 244; Finger, Zugang zur deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite 228; Kenntner, Rechtsschutz in Europa, Rn. 26; Micklitz / Rott, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, H. V. Rn. 570; zweifelnd Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite 184, der „einige allgemeine Regeln für den Vollzug bestimmter, materiell ohnehin von der EG geregelten Bereiche“ offenbar als kompetenzmäßig unproblematisch ansieht, ohne das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in den Blick zu nehmen, und der allein die materielle Rechtsverwirklichung als maßgeblich ansieht. 390 Wolff, Integrationskontrollverfahren, Seite 49; Suerbaum, Europäisierung, Seite 201; Papier, Gerichtshöfe, Seite 11 f.; vgl. zur Kompetenz-Kompetenz auch Schröder, Offene Flanke, Seite 308; Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 11.

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

gliedsstaaten zugewiesenen Bereich des Verwaltungsprozessrechts würde eine entsprechende Verbandskompetenz der Union voraussetzen 391, an der es nach den Verträgen fehlt. (3) Der Grundsatz der mitgliedsstaatlichen Verfahrensautonomie In denjenigen Fällen, in denen die mitgliedsstaatlichen Behörden das Unionsrecht vollziehen, ist gegen die nationalen Vollzugsakte Rechtsschutz vor und durch die mitgliedsstaatlichen Gerichte zu gewähren. Die mitgliedsstaatlichen Gerichte haben hierbei den beschriebenen 392 Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht zu wahren 393. Die unionsrechtlichen Bestimmungen enthalten aufgrund des Vollzugs des Unionsrechts durch die Mitgliedsstaaten daher regelmäßig keine Verfahrensvorschriften, sondern nur materielle Rechte 394. Daher wird regelmäßig das nationale Recht des Verwaltungsvollzugs ebenso wenig wie die darauf bezogene Ausgestaltung des Rechtsschutzes durch das zu vollziehende Unionsrecht verdrängt, sodass unmittelbare Kollisionen zwischen Vollzugs- und Prozessrecht einerseits und Unionsrecht andererseits zunächst überwiegend ausgeschlossen erscheinen 395. Die Rechtsbehelfe bei Negierung der unionsrechtlichen materiellen Rechte fallen damit – mangels entsprechender Regelungen in dem Unionsrecht selbst – regelmäßig in die Regelungszuständigkeiten der Mitgliedsstaaten 396. Dies bestätigt auch Art. 197 AEUV, da das dort geregelte gemeinsame Interesse an der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts voraussetzt, dass die entsprechende Kompetenz bei den Mitgliedsstaaten verblieben ist 397. Daher ist es Sache der nationalen Rechtsordnung jedes Mitgliedsstaats der Gemeinschaft, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und diejenigen Verfahrensmodalitäten der gerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen zu regeln, die den Schutz der den Einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts 391 Kokott, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Seite 358; Hauser, Europarecht im deutschen Verwaltungsprozess, Seite 382; Schoch, Europäisierung, Seite 294; Roeben, Einwirkung der Rechtsprechung, Seite 375; auf die Bedeutung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung für die Bestimmung der Organkompetenzen weist auch Von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, Seite 146, hin. 392 V. 3. 393 Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 42. 394 Stern, Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts, Seite 669; Hirsch, Europarechtliche Perspektiven, Seite 72. 395 Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 45 f. 396 Haltern, Europarecht, Rn. 793; Schoch, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Seite 508; Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite 26. 397 Schröder, Effektiver Vollzug, Seite 671.

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erwachsenden Rechte sichern sollen 398; die Art und Weise der Rechtsschutzgewähr durch die nationalen Gerichte unterliegt damit dem Grundsatz der institutionellen und Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten 399. Dieser Grundsatz umfasst die Einrichtung von Behörden und Gerichten und deren Verfahren, die Regelung des Rechtsweges und der Rechtsmittel zu einer Gewährung effektiven Rechtsschutzes sowie Bestimmungen über den Vollzug von Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen 400. Auch wenn die einzelstaatlichen Gerichte verpflichtet sind, die Beachtung des Unionsrechts durchzusetzen und die Rechte des Einzelnen aus dem Unionsrecht zu schützen, so werden doch solche Verfahren grundsätzlich nach den einzelstaatlichen Verfahrensvorschriften durchgeführt 401. Der Grundsatz ist kompetenzrechtlicher Natur 402.

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EuGH, Urteil vom Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. C-33/76 [Rewe-Zentralfinanz eG und Rewe-Zentral AG gegen Landwirtschaftskammer für das Saarland], Slg. 1976, 01989 [Rn. 5]; EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. C-45/76 [Comet BV gegen Produktschap voor Siergewassen], Slg. 1976, 02043 [Rn. 11/18]; EuGH, Urteil vom 5. März 1980, Rs. 265/78 [H. Ferwerda BV gegen Produktschap voor Vee en Vlees], Slg. 1980, 617 [670]; EuGH, Urteil vom 13. März 2007, Rs. C-432/05 [Unibet (London) Ltd und Unibet (International) Ltd gegen Justitiekanslern], Slg. 2007, I-02271 [Rn. 39]; Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 46; Götz, Europarechtliche Vorgaben, Seite 2; Von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, Seite 302 ff. 399 Hirsch, Bundesverwaltungsgericht und Gerichthof, Seite 10; Germelmann, Rechtskraft, Seite 259; Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, Rn. 246; Kenntner, Rechtsschutz in Europa, Rn. 26; ähnlich Stern, Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts, Seite 769; Wilke, Europarechtliche Einflüsse, Seite 492; Hirsch, Europarechtliche Perspektiven, Seite 72; Huber, Europäisierung, Seite 578; Fredriksen, Zusammenarbeit, Seite 12; Gellermann, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 34 Rn. 28 und 52; Möslein, Richtlinienkonforme Auslegung im Zivilverfahrensrecht, Seite 58; Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 777; Von Danwitz, Aktuelle Fragen, Seite 538; Rodríguez Iglesias, Grenzen der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedsstaaten, Seite 289; Hölscheidt, Durchsetzung des Unionsrechts, Seite 346; Heinze, Europäisches Primärrecht und Zivilprozess, Seite 654; Koch, Richterliche Vertragsverletzungen, Seite 26; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 402, sprechen von „Verfahrensautonomie“; kritisch zu dem Begriff von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der Europäischen Union, Art. 10 EGV Rn. 43, sowie Burgi, Verwaltungsprozess und Europarecht, Seite 48, da der Begriff die Kompetenzlage als auch den tatsächlichen Grad der rechtlichen Verzahnung verschleiere, was allerdings verkennt, dass es sich eben nur um einen „Grundsatz“ handelt. – Dieser Grundsatz kommt im Übrigen auch schon in einer Erklärung zu dem sogenannten Subsidiaritätsprotokoll zum Ausdruck, nach dem die administrative Durchführung des Unionsrechts grundsätzlich Sache der Mitgliedsstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften bleibt, vgl. Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrages über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, ABl. 1997 Nr. C 340, „Erklärung zum Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.“ 400 Hirsch, Bundesverwaltungsgericht und Gerichthof, Seite 10; vgl. auch Schwarze, Europäische Rahmenbedingungen, Seite 244.

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

bb) Notwendige Einwirkungen des Unionsrechts auf das mitgliedsstaatliche Verfahrensrecht aus dem Charakter der Union als Rechtsgemeinschaft heraus Andererseits ist die Union eine Rechtsgemeinschaft 403: „Sie ist eine Rechtsgemeinschaft 1. nach ihrer Entstehung und Struktur, das heißt sie ist eine Schöpfung des Rechts, 2. nach ihrer Aufgabenstellung und Tätigkeit, das heißt sie ist eine Quelle des Rechts, und 3. nach ihrer ideellen Zielsetzung, das heißt, sie ist eine Verwirklichung der Rechtsidee“ 404. Die Funktionsfähigkeit der Union als einer solchen Rechtsgemeinschaft hängt aufgrund dieser dominierenden Funktion des Unionsrechts zentral von einem loyalen Mitwirken der Mitgliedsstaaten und einem loyalen Zusammenwirken der Union und der Mitgliedsstaaten untereinander ab 405, auch in Bezug auf den Verwaltungsvollzug, und von der Existenz einer Rechtsschutzgarantie für die von dem Unionsrecht gewährten Rechte 406. Je restriktiver bei dem Verwaltungsvollzug das Verfahrensrecht ausgeformt ist, desto größer ist die Gefahr, dass das Unionsrecht in dem Ergebnis keine Anwendung findet und damit ohne Wirkung bleibt 407; je unterschiedlicher die mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen insbesondere im Verwaltungs- und im Gerichtsverfahrensrecht ausgestaltet sind, desto mehr wird die einheitliche Rechtsanwendung in der Union gefährdet 408. 401 Vgl. EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2006, Rs. C-368/04 [Transalpine Ölleitung in Österreich GmbH und andere gegen Finanzlandesdirektion für Tirol und andere], Slg. 2006, I-09957 [Rn. 45]; EuGH, Urteil vom, Rs. C-526/04 [Laboratoires Boiron SA gegen Union de recouvrement des cotisations de sécurité sociale et d’allocations familiales (Urssaf) de Lyon, Rechtsnachfolgerin der Agence centrale des organismes de sécurité sociale (ACOSS)], Slg. 2006, I-7529 [Rn. 51]. 402 Götz, Europarechtliche Vorgaben, Seite 2; demgegenüber bezeichnet ihn Hess, Rechtsfragen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 474, unzutreffend als eine „untechnische Kollisionsnorm“. 403 EuGH, Urteil vom 23. April 1986, Rs. C-294/83 [Parti écologiste „Les Verts“ gegen Europäisches Parlament], Slg. 1986, 01339 [Rn. 23]; EuGH, Bericht, Seite 316; Nicolaysen, Rechtsgemeinschaft; Zuleeg, Rechtsgemeinschaft; Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, Teil A § 9 Rn. 1, Brenner; Allgemeine Prinzipien, Seite 3; Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 777; Von Danwitz, Aktuelle Fragen, Seite 537; Ehlermann, Europäische Gemeinschaft, Seite 1856; Dauses, Aufgabenteilung, Seite 223; Kenntner, Rechtsschutz in Europa, Rn. 11; Weber, Effektivität des Rechtsschutzes, Seite 127; Seyr, Effet utile, Seite 23; Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 1; Magiera, in: Schulze / Zuleeg / Kadelbach, Europarecht, § 13 Rn. 1. 404 Hallstein, Rechtsgemeinschaft, Seite 343. 405 Streinz, in: Streinz, EUV / EGV, Art. 10 EGV Rn. 5; von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der Europäischen Union, Art. 10 EGV Rn. 7. 406 Gundel, Rechtsschutzlücken, Seite 91; Weber, Effektivität des Rechtsschutzes, Seiten 128 und 130; Tonne, Effektiver Rechtsschutz, Seite 27. 407 Cahn, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Seite 975. 408 Schoch, Europäisierung, Seite 293; Frenz, Subjektiv-öffentliche Rechte, Seite 409.

4. „Effet utile“

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Ist das materielle Unionsrecht hinsichtlich seiner verfahrensrechtlichen Durchsetzung auf das mitgliedsstaatliche Prozessrecht angewiesen, so wirkt die Anerkennung einer allzu großzügigen Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten der Union aus der Sicht des Unionsrechts wie ein potentielles Hindernis gegenüber seiner zeitnahen und umfassenden Durchsetzung 409 und behindert die subjektive Durchsetzung der Unionsrechte des Einzelnen 410. Zudem kann die Anwendung des jeweiligen mitgliedsstaatlichen Verfahrensrechts bei der Ausführung des Unionsrechts durch die Mitgliedsstaaten – trotz der in allen Mitgliedsstaaten einheitlichen Geltung des Unionsrechts – dazu führen, dass die tatsächliche Rechtslage von Mitgliedsstaat zu Mitgliedsstaat unterschiedlich ist 411 und dass die Realisierung von Rechten und Pflichten von Mitgliedsstaat zu Mitgliedsstaat Unterschiede aufweisen kann 412. Denn die Effektivität des Rechtsschutzes in Bezug auf durch das Unionsrecht gewährte Rechtspositionen hängt maßgeblich von dem Verfahren zur Verwirklichung dieser Positionen ab 413. Die mitgliedsstaatlichen Vorschriften des Verfahrensrechts stehen daher ihrerseits wieder unter dem Vorbehalt der unionsrechtlichen Verfahrensgrundsätze 414, die Bestandteil des Primärrechts oder aus diesem herzuleiten sind 415. cc) Einschränkungen des Grundsatzes der nationalen Verfahrensautonomie durch das Effektivitäts- und durch das Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes Primärrechtlich normiert Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV als für die Funktionsfähigkeit der Union zentraler Norm 416 eine allgemeine Unterstützungspflicht auch in Bezug auf den Verwaltungsvollzug 417. Nach Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV ergreifen 409

Schoch, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Seite 511. Gärditz, Europäisches Verwaltungsprozessrecht, Seite 388. 411 Jarass / Beljin, Vorrang und Durchführung des EG-Rechts, Seite 10; Kenntner, Rechtsschutz in Europa, Rn. 28. 412 Niedobitek, Kollisionen, Seite 74 f.; Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite 29; Von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, Seite 148. 413 Niedzwicki, Präklusionsvorschriften, Seite 222. 414 Eicker / Ketteler, Verfahrensrechtliche Durchsetzung, Seite 132. 415 Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 363. 416 Streinz, in: Streinz, EUV / EGV, Art. 10 EGV Rn. 3; Due, Grundsatz der Gemeinschaftstreue, Seite 1; von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der Europäischen Union, Art. 10 EGV Rn. 1, spricht von einer „Schlüsselbestimmung“; Hölscheidt, Durchsetzung des Unionsrechts, Seite 344, charakterisiert die Norm als „allgemeine Durchsetzungsnorm“; Tonne, Effektiver Rechtsschutz, Seite 249, spricht von einem „zentralen Kompetenzscharnier“. 417 Frenz, Verwaltungskooperation mit der Union, Seite 67. 410

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

die Mitgliedsstaaten „alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben“. Ausgehend von der Funktionsfähigkeit des Unionsrechts soll die Norm des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV eine umfassende, in allen Mitgliedsstaaten gleichmäßige und homogene Durchsetzung des Unionsrechts gewährleisten 418. Hiernach hat auch die Jurisdiktion für die volle Wirksamkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen Sorge zu tragen 419. Begründet das – unmittelbar wirksame 420 – Unionsrecht für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger Rechte, so haben die mitgliedsstaatlichen Gerichte diese zu schützen 421. Nationales Recht haben sie – über die insoweit einen Unterfall bildende, bereits oben 422 erläuterte richtlinienkonforme Auslegung hinaus – unionsrechtskonform auszulegen 423. Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV begründet damit einen umfassenden Pflichtenkanon der Mitgliedsstaaten, der in seinen Einzelheiten durch die Rechtsprechung weiter konkretisiert worden ist 424. Nichts anderes folgt aus dem ebenfalls aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV herzuleitenden unionsrechtlichen Gebot effektiven gerichtlichen und lückenlosen 425 Rechtsschutzes 426. Die Mitgliedsstaaten sind aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV verpflichtet, in dem Bereich des Vollzuges des vorrangigen Unionsrechts einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten 427. Auch das primäre oder sekundäre Unionsrecht selbst verlangt, einen solchen Rechtsschutz zu einer Gewährleistung der durch es selbst verliehenen Rechte vorzusehen 428; die erfolgreiche Europäisierung des materiellen Rechts kann nur dann gelingen, wenn sie durch eine einheitliche und effiziente Rechtsdurchsetzung flankiert wird 429. Dementspre418 Demleitner, Normverwerfungskompetenz, Seite 1526; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 417; Seyr, Effet utile, Seite 134 f. 419 Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 778; Ehlers, Verwaltungsprozessrecht, Seite 1441 f.; Ehlers, Europäisierung, Seite 3. 420 Soeben V. 2. 421 EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. C-45/76 [Comet BV gegen Produktschap voor Siergewassen], Slg. 1976, 02043 [Rn. 11/18]; Weber, Durchführung des Gemeinschaftsrechts, Seite 57. 422 V. 2. b) bb) (2). 423 Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 32; Fastenrath, Kooperation, Seite 273; Geiger, in: Geiger / Khan / Kotzur, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 38. 424 Weber, Effektivität des Rechtsschutzes, Seite 138 f.; Krieger, Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, Seiten 185, 187 und 226 mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 425 Zuleeg, Rechtsgemeinschaft, Seite 545. 426 Heinze, Europäisches Primärrecht und Zivilprozess, Seite 656 ff.; Schneider, Zivilrecht und praktische Wirksamkeit, Seite 6; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 412 ff. 427 Triantafyllou, Europäisierung, Seite 130; Rengeling, Wechselseitige Einwirkungen, Seite 215. 428 Iglesias, EuGH und Gerichte der Mitgliedsstaaten, Seite 1892.

4. „Effet utile“

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chend verpflichtet etwa Art. 19 Abs. 1 EUV die Mitgliedsstaaten ausdrücklich, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit wirksamer Rechtsschutz in den von dem Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist, und verpflichtet Art. 197 Abs. 1 AEUV die Mitgliedsstaaten, die effektive Durchführung des Unionsrechts in den Mitgliedsstaaten als die für das ordnungsgemäße Funktionieren der Union entscheidende Frage von gemeinsamem Interesse anzusehen 430. Zudem gehört die Rechtsstaatlichkeit nach Art. 2 Satz 1 EUV zu den konstitutiven Grundsätzen der Union 431. Zu den zentralen Gewährleistungen der Rechtsstaatlichkeit zählt ebenfalls das Recht auf effektiven Rechtsschutz, das in den Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union 432 verankert ist 433. Prozessuale Konsequenz des Gebotes der Rechtsstaatlichkeit ist es ebenfalls, dass die Einzelnen einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz für die Rechte, die sie aus der Unionsrechtsordnung herleiten, in Anspruch nehmen können müssen. Nach dem Gerichtshof 434 besteht in Bezug auf den gerichtlichen Rechtsschutz in dem Unionsrecht ferner ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, der den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten zugrunde liegt, dahingehend, dass jeder, der sich für beschwert hält, seine Rechte auch gerichtlich geltend machen können muss 435. „Den Mitgliedsstaaten obliegt es, eine effektive richterliche Kontrolle der Einhaltung der einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und des innerstaatlichen Rechts sicherzustellen, das der Verwirklichung der in der Richtlinie vorgesehenen Rechte dient“ 436. Dieser allgemeine Rechtsgrundsatz folgt nach dem Gerichtshof zudem aus den Artikeln 6 und 13 429

Brenner, Determinanten, Seite 304. Hierzu Otting / Olgemöller, Europäischer Rechtsschutz, Seite 155; Schröder, Effektiver Vollzug. 431 Hierzu umfassend Kraus, Kooperative Sicherung; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 411 ff. 432 Vom 12. Dezember 2007, ABl. Nr. C 303 Seite 1. 433 Kokott / Dervisopoulos / Henze, Effektiver Rechtsschutz, Seite 10. 434 EuGH, Urteil vom 15. Mai 1986, Rs. C-222/84 [Marguerite Johnston gegen Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary], Slg. 1986, 01651 [Rn. 9, 18]; EuGH, Urteil vom 13. März 2007, Rs. C-432/05 [Unibet (London) Ltd und Unibet (International) Ltd gegen Justitiekanslern], Slg. 2007, I-02271 [Rn. 37]; zustimmend etwa Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite 31. 435 EuGH, Urteil vom 25. Juli 2002, Rs. C-50/00 P [Unión de Pequeños Agricultores gegen Rat der Europäischen Union], Slg. 2002, I-06677 [Rn. 39]; zu diesem Urteil umfassend Weber, Effektivität des Rechtsschutzes, Seite 3 ff.; zu dem allgemeinen Rechtsgrundsatz auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz auch Ehlers, Verwaltungsprozessrecht, Seite 1441 f.; Heinze, Europäisches Primärrecht und Zivilprozess, Seite 656; Von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, Seite 273; Van Gerven, Bridging the Gap, Seite 682. 430

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

der Europäischen Menschenrechtskonvention 437. Die Europäische Union ist eine Rechtsgemeinschaft, in der die Handlungen ihrer Organe darauf hin kontrolliert werden, ob sie mit dem Primärrecht und mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, zu denen auch die Grundrechte gehören 438, vereinbar sind 439. Zu diesen Unionsgrundsätzen gehört auch das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz 440. Es ist Konstitutionsprinzip 441 in dem Sinne seiner Zugehörigkeit zu dem Primärrecht 442. Adressaten des allgemeinen Rechtsgrundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes sind sowohl die institutionellen Unionsgerichte als Unionsorgane im Rahmen ihrer Rechtsprechungstätigkeit 443 als auch die Mitgliedsstaaten und deren Organe 444, mithin auch die mitgliedsstaatlichen Gerichte. Sein Schutzobjekt sind die unionsrechtlich eingeräumten Rechtspositionen Einzelner 445. Der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes hat – wie alle allgemei-

436 EuGH, Urteil vom 15. Mai 1986, Rs. C-222/84 [Marguerite Johnston gegen Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary], Slg. 1986, 01651 [Rn. 19]; ähnlich EuGH, Urteil vom 13. März 2007, Rs. C-432/05 [Unibet (London) Ltd und Unibet (International) Ltd gegen Justitiekanslern], Slg. 2007, I-02271 [Rn. 37]. 437 EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1987, Rs. C-222/86 [Union nationale des entraîneurs et cadres techniques professionnels du football (Unectef) gegen Georges Heylens und andere], Slg. 1987, 04097 [Rn. 14]; EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010, Rs. C-279/09 [DEB Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft mbH gegen Bundesrepublik Deutschland], Juris [Rn. 29]; zu dem Grundsatz des Effektivität des Rechtsschutzes nach den Vorschriften der EMRK Weber, Effektivität des Rechtsschutzes, Seite 39 ff. 438 Durch den Lissabon-Vertrag ist indes der Grundrechtsschutz in der Union auf mehrere Grundlagen gestellt: Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EUV ist die Charta der Grundrechte der Union in der überarbeiteten Fassung vom 12. Dezember 2007 den Verträgen rechtlich gleichgestellt und hat dadurch Rechtsverbindlichkeit erlangt; die ungeschriebenen Unionsgrundrechte gelten daneben als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV fort. Ergänzt wird dieses grundrechtliche Schutzkonzept durch Art. 6 Abs. 2 EUV, der die Union ermächtigt und verpflichtet, der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten beizutreten. 439 EuGH, Urteil vom 25. Juli 2002, Rs. C-50/00 P [Unión de Pequeños Agricultores gegen Rat der Europäischen Union], Slg. 2002, I-06677 [Rn. 38]. 440 Weinzierl / Hruschka, Effektiver Rechtsschutz, Seite 1542; Von Danwitz, Aktuelle Fragen, Seite 537. 441 Knapp, Effektiver Rechtsschutz, Seite 19; Brenner, Determinanten, Seite 305. 442 Ehlers, Verwaltungsprozessrecht, Seite 1441; eine Abgrenzung zu Art. 19 Abs. 4 GG findet sich bei Weber, Effektivität des Rechtsschutzes, Seite 22 ff. 443 EuGH, Urteil des Gerichtshofes vom 26. April 1994, Rs. C-228/92 [Roquette Frères SA gegen Hauptzollamt Geldern], Slg. 1994, I-01445 [Rn. 27]. 444 Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 23. 445 Dörr, Europäisierter Rechtsschutzauftrag, Seite 48; Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 25.

4. „Effet utile“

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nen Grundsätze des Unionsrechts – den Charakter einer Regelung des Primärrechts 446. Weiterhin enthält Art. 47 GRCh das „Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein unparteiisches Gericht“. Dieses Recht ist mit dem Primärrecht rechtlich gleichrangig 447 und steht neben dem gezeigten allgemeinen Rechtsgrundsatz, da Art. 6 EUV die Grundrechte-Charta und die Grundrechte aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen in seinen Abätzen 1 und 3 explizit parallel zueinander aufführt 448. Eine Pflicht zu einer unionsrechtskonformen Auslegung des mitgliedsstaatlichen Prozessrechts kann auch aus dem Sekundärrecht selbst folgen 449. Die Pflicht eines Mitgliedsstaats, alle zur Erreichung der durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Ziele erforderlichen Maßnahmen zu treffen, ist eine durch Art. 288 Abs. 3 AEUV 450 und durch die jeweilige Richtlinie selbst auferlegte zwingende Pflicht 451. Diese Pflicht, alle allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu treffen, obliegt allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedsstaaten einschließlich der Gerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeiten 452. Unionsrechtskonform auszulegen ist hierbei sowohl nationales Recht jeder Rangstufe, das in Umsetzung von Unionsrecht ergangen ist, als auch jede andere Rechtsvorschrift, soweit sie einen Bezug zu den in Frage stehenden Bestimmungen des Unionsrechts aufweist 453. Auch kann das Sekundärrecht selbst einzelne Anforderungen an den zu gewährenden Rechtsschutz formulieren 454. Mit den verschiedenen positivrechtlichen Herleitungen der Rechtsschutzgarantie aus dem Primärrecht ist der Effektivitätsgrundsatz damit im Ergebnis eng mit 446

Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 50. EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010, Rs. C-279/09 [DEB Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft mbH gegen Bundesrepublik Deutschland], Juris [Rn. 30 ff.]. 448 Jarass, EU-Rechtsschutzgewährleitung, Seite 1394. 449 Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 414. 450 Art. 249 Abs. 3 EGV. 451 So zu Artikel 189 Abs. 3 EGV EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1996, Rs. C-72/95, [Aannemersbedrijf P.K. Kraaijeveld BV e.a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland], Slg. 1996, I-5403 Rn 55; EuGH, Urteil vom 1. Februar 1977, Rs. C-51/76 [Verbond van Nederlandse Ondernemingen gegen Inspecteur der Invoerrechten en Accijnzen], Slg. 1977, 113, [Rn. 22/29]; EuGH, Urteil vom 26. Februar 1986, Rs. C-152/84 [M. H. Marshall gegen Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority], Slg. 1986, 723 [Rn. 48]. 452 EuGH, Urteil vom 13. November 1990, Rs. C-106/89, [Marleasing SA gegen La Comercial Internacional de Alimentacion SA], Slg. 1990, I-4135 [Rn. 8]. 453 EuGH, Urteil vom 13. November 1990, Rs. C-106/89, [Marleasing SA gegen La Comercial Internacional de Alimentacion SA], Slg. 1990, I-4135; Fastenrath, Kooperation, Seite 273; Dauses, Aufgabenteilung, Seite 225. 454 Hierzu noch umfassend V. 4. b) dd) (2) (f) (bb). 447

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

dem Prinzip des Vorrangs des Unionsrechts verknüpft 455: Da das unionsrechtliche Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes unmittelbare Wirkungen entfaltet und an dem Vorrang des Unionsrechts teilnimmt, muss das mitgliedsstaatliche Recht unionsrechtskonform ausgelegt und vollzogen werden und wird es in einem nicht durch eine unionsrechtskonforme Auslegung zu lösenden Konfliktfall auch verdrängt 456. Art. 4 Abs. 3 EUV stellt sich damit als der „fundamentaler Grundsatz“ 457 des Unionsrechts dar, der sowohl Auslegungskriterium für besondere Bestimmungen als auch Rechtsgrundlage für eigene Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten sein kann 458. Aus ihm folgt das Gebot, auch das mitgliedsstaatliche Prozessrecht unionsrechtskonform auszulegen 459. dd) Folgerungen aus dem kompetenzrechtlichen Aspekt und dem Effektivitätsgebot Da wie soeben erläutert die Kompetenz des Gerichtshofs als Organ der Union nicht weiter reichen kann als die Kompetenz der Union selbst 460, darf eine Auslegung des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV andererseits nicht zu einem Ergebnis führen, das einer Erweiterung der Verträge gleichkommt 461. Zulässig ist damit allein eine solche Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof, die etwa die Unionstreue ausgestaltet 462, die aber die Kompetenzordnung als solche unangetastet lässt 463. Mit Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV liegt dann insoweit auch eine in 455

Jarass, Konflikte, Seite 954 mit Fußnote 2. EuGH, Urteil vom 26. September 2000, Rs. C-262/97 [Rijksdienst voor Pensioenen gegen Robert Engelbrecht], Slg. 2000, I-07321 [Rn. 40]; Ehlers, Verwaltungsprozessrecht, Seite 1442. 457 Due, Grundsatz der Gemeinschaftstreue, Seite 3. 458 Due, Grundsatz der Gemeinschaftstreue, Seite 8. 459 Fredriksen, Zusammenarbeit, Seite 13. 460 So zutreffend Suerbaum, Europäisierung, Seite 202; Schoch, Europäisierung, Seite 294; Herzog / Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, Seite 143; weniger deutlich Wilke, Europarechtliche Einflüsse, Seite 491, der von dem Sicherstellungsauftrag des EuGH zu einer Wahrung des Unionsrechts prozessrechtliche Regelungen als mit umfasst ansieht. 461 Zuleeg, Rolle der rechtsprechenden Gewalt, Seite 3; Seyr, Effet utile, Seite 136; vgl. auch BVerfG, Urteil vom 12. Oktober 1993, – 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92 –, BVerfGE 89, 155 [210], das indes den effet utile nicht als eine Auslegung in dem Sinne einer möglichst großen Wirkungsentfaltung der einzelnen unionsrechtlichen Norm, sondern als „auf eine Vertragsauslegung im Sinne einer größtmöglichen Ausschöpfung der Gemeinschaftsbefugnisse“ im Sinne der Kompetenzausdehnung versteht; zu dem notwendigen Erhalt der Kompetenzordnung der Verträge auch Kahl, Kompetenz zur Regelung des allgemeinen Verwaltungsrechts, Seite 868. 462 Rengeling, Wechselseitige Einwirkungen, Seite 233. 456

4. „Effet utile“

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der Literatur 464 geforderte, die Verbandskompetenz der Union und ihr folgend die Organkompetenz der Gerichtshofs begründende primärrechtliche Norm vor, an der sich mitgliedsstaatliche prozessrechtliche Normen messen lassen müssen 465. Es dürfte allgemein anerkannt sein, dass Kompetenznormen nicht immer „wahrhaft ausdrücklich“ sein müssen, sondern auch durch Auslegung gewonnen werden können 466. Nur in demjenigen Rahmen, in dem der effet utile beziehungsweise das Effektivitätsgebot des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV, das unionsrechtliche Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, das Rechtsstaatsprinzip oder gar das materielle Unionsrecht betroffen sind, besteht ferner wie ausgeführt 467 auch überhaupt nur eine Verbandskompetenz der Union und eine entsprechende (Annex)-Kompetenz des Gerichtshofs zu einer Rechtsfortbildung, die auf das Verwaltungsprozessrecht der Mitgliedsstaaten einwirken kann 468. Nur in diesem Maße darf der Gerichtshof rechtsvereinheitlichend auf das mitgliedsstaatliche Prozessrecht einwirken und so für eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts sowie seine praktische Wirksamkeit Sorge tragen 469. Eine auf den Gedanken des „effet utile“ des materiellen Unionsrechts bzw. auf Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV gestützte Auslegung muss daher das Fehlen einer unionsrechtlichen Kompetenz zu dem Erlass einer sachgebietsübergreifenden Kodifizierung des Verfahrensrechts respektieren 470; mit dem Prinzip des „effet utile“ können daher nicht unter einer Berufung auf Kollisionen zwischen dem Unionsrecht einerseits und dem mitgliedsstaatlichen Prozessrecht andererseits beliebige unionsrechtliche Vorgaben gerechtfertigt werden, da dann entgegen der Kompetenzordnung der Verträge das mitgliedsstaatliche Verfahrensrecht kraft Richterspruchs des Gerichtshofs überlagert würde 471. 463 BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2010, – 2 BvR 2661/06 –, Juris [Rn 65]; Seyr, Effet utile, Seite 136. 464 Schoch, Europäisierung, Seite 294, Roeben, Einwirkung der Rechtsprechung, Seite 378 ff., der die sogleich zu beschreibende Möglichkeit einer Kompetenzbestimmung durch Auslegung nicht in Betracht zieht. 465 Tonne, Effektiver Rechtsschutz, Seite 248 ff.; Dörr, Europäisierter Rechtsschutzauftrag, Seite 48, der zutreffend aus der Norm eine „konkrete Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes“ ableitet; anderer Ansicht Schoch, Europäisierung, Seite 294 f., der insoweit einen Fall zweckorientierter, rechtpolitisch postulierter und rechtsdogmatisch unvertretbarer Rechtsschöpfung ohne entsprechende Kompetenznorm durch den Gerichtshof annimmt. 466 So für Ermächtigungsgrundlagen BVerwG, Urteil 29. November 1985, – BVerwG 8 C 105.83 –, NJW 1986, 1120; für Gesetzgebungskompetenzen kraft Sachzusammenhangs etwa BVerfG, Urteil vom 02. März 2010, – 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR 586/08 –, Juris [Rn. 201 f.]. 467 V. 4. b). 468 Kokott, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Seite 339. 469 Kokott, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Seite 340. 470 Suerbaum, Europäisierung, Seite 201.

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Dieses Spannungsfeld zwischen der unionsrechtlichen Letztentscheidungsbefugnis des Gerichtshofs und der mitgliedsstaatlichen Verfahrensautonomie 472 ist damit maßgeblich für die zu entscheidende Frage einer Berücksichtigung des Unionsrechts in einem Berufungszulassungsverfahren jenseits entsprechender Darlegungen. Es ist aufzulösen durch eine Abwägung 473 unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz. Materielles Unionsrecht kann über aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV herzuleitende Ge- oder Verbote so abgesichert werden 474. Der hier vertretenen, aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV und dem primärrechtlichen Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes folgenden eingeschränkten Verbandskompetenz der Union und Organkompetenz des Gerichtshofs zu einer Einwirkung auf das mitgliedsstaatliche Prozessrecht ist entgegengehalten worden, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs den Grundsatz der institutionellen und Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten immer stärker eingeschränkt, eingegrenzt und durchbrochen habe 475, und dass die Feststellung eines Verstoßes gegen den Effektivitätsgrundsatz zu einer verkappten „effet utile“-Prüfung umgewandelt worden sei, deren Rationalität sich jeder kritischen Nachprüfung entziehe 476, und die den Grundsatz der Verfahrensautonomie so zu einer bloßen Fassade gewandelt habe 477. Hierin liege eine richterrechtliche Harmonisierung des Unionsverwaltungsrechts, die kompetenzrechtlich bedenklich sei 478. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs sei damit von einer beständigen Verdrängung des geltenden Rechts der Mitgliedsstaaten sowie einer Neuschöpfung unionseinheitlicher Vorgaben für die administrative und judikative Durchführung des Unionsrechts gekennzeichnet 479, obwohl es in den zu entscheidenden Fällen gerade an einer direkten Normenkollision des mitgliedsstaatlichen Rechts mit einer vorrangigen Unionsrechtsnorm fehle 480. 471

Suerbaum, Europäisierung, Seite 205 f.; von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der Europäischen Union, Art. 10 EGV Rn. 34. 472 Wiedemann, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 12. Februar 2008, Seite 532, spricht nicht von einem Spannungs-, sondern von einem „Minenfeld“. 473 von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der Europäischen Union, Art. 10 EGV Rn. 8. 474 von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der Europäischen Union, Art. 10 EGV Rn. 13 und 16; Dünchheim, Verwaltungsprozessrecht, Seite 40. 475 Von Danwitz, Umweltrechtliche Präklusionsnormen, Seite 327. 476 Von Danwitz, Umweltrechtliche Präklusionsnormen, Seite 328; Von Danwitz, Eigenverantwortung, Seite 428. 477 Von Danwitz, Eigenverantwortung, Seite 423. 478 Von Danwitz, Eigenverantwortung, Seite 423. 479 Von Danwitz, Eigenverantwortung, Seite 427; noch weiter gehen Herzog / Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, Seite 144, die davon sprechen, dass der Gerichtshof die „Kompetenzen der Mitgliedsstaaten selbst im Kernbereich nationaler Zuständigkeiten aushöhlt“.

4. „Effet utile“

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Dieser prinzipiellen Kritik ist nicht beizutreten. Wie ausgeführt, haben das Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes mit seinen verschiedenen unionsrechtlichen Herleitungen sowie Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV den Charakter von Normen des Primärrechts, die an dem Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung und an dem Prinzip des Vorrangs des Unionsrechts gegenüber entgegenstehendem mitgliedsstaatlichen Recht – auch: gegenüber Prozessrecht – dann und soweit teilnehmen, wie ihre autonom durch das Unionsrecht zu bestimmende Reichweite geht 481. Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV und das Prinzip effektiven Rechtsschutzes verpflichten auch den mitgliedsstaatlichen Richter, das Unionsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die dieses Rechtsordnung dem Einzelnen verleiht, zu schützen 482. Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV verlangt es gerade auch, den eigenen Verwaltungsvollzug – behördlich und gerichtlich – unionsrechtskonform auch dann auszurichten, wenn daraus erhebliche Konsequenzen im Hinblick auf das mitgliedsstaatliche Recht entstehen 483. Es bedarf daher letztlich immer einer Abwägung zwischen dem aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung folgenden Grundsatz der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedsstaaten und den aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV herzuleitenden Prinzipien der Äquivalenz und der Effektivität 484. (Nur) in diesem Rahmen fehlt es damit weder an einer Verbandskompetenz der Union zu einer Einwirkung auf das mitgliedsstaatliche Verfahrensrecht noch an einer (Rechtsfortbildungs-)kompetenz des Gerichtshofs als Organ der Union. Die hier vorgenommene Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem unionsrechtlichen Gebot effektiven Rechtsschutzes einerseits und dem Grundsatz der mitgliedsstaatlichen Verfahrensautonomie andererseits gewährleistet sowohl, dass das Verwaltungsprozessrecht auch unter dem Einfluss des Unionsrechts eine Materie der mitgliedsstaatlichen Rechtsordnung bleibt 485 und die kompetenzrechtlichen Vorgaben der Verträge gewahrt bleiben, und gewährleistet andererseits einen effektiven Schutz der durch das Unionsrecht begründeten Rechte, die in ihren Grundlagen nicht unter dem Vorbehalt des mitgliedsstaatlichen Prozessrechts stehen dürfen. Der Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie hat als Vollzug dieser Abwägung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs 486 weitreichende Einschränkungen 487 in der Form zweier unmittelbar greifender Schranken 488 erfahren 489: 480

Von Danwitz, Eigenverantwortung, Seite 427; zu der Frage, ob eine direkte oder eine indirekte Normenkollision vorliegt, sogleich. 481 Ehlers, Verwaltungsprozessrecht, Seite 1442. 482 Rodríguez Iglesias, Grenzen der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedsstaaten, Seite 295. 483 Frenz, Verwaltungskooperation mit der Union, Seite 67. 484 Rodríguez Iglesias, Grenzen der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedsstaaten, Seite 295. 485 Götz, Europarechtliche Vorgaben, Seite 1.

370

V. Unionsrechtliche Vorgaben

Bei der gerichtlichen Geltendmachung in dem Unionsrecht wurzelnder Rechte der Bürgerinnen und Bürger dürfen zum einen die Verfahrensmodalitäten nicht ungünstiger gestaltet werden als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen 490 und die keinen Bezug zu dem Unionsrecht haben; dieses Diskriminierungsverbot 491 wird als das Prinzip der Äquivalenz 492 oder der Gleichwertigkeit 493 bezeichnet ([2.]). Zum anderen dürfen die mitgliedsstaatlichen Ver486

EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. C-33/76 [Rewe-Zentralfinanz eG und Rewe-Zentral AG gegen Landwirtschaftskammer für das Saarland], Slg. 1976, 1989; EuGH, Urteil vom 16. Mai 2000, Rs. C-78/98 [Shirley Preston u. a. gegen Wolverhampton Healthcare NHS Trust u. a. und Dorothy Fletcher u. a. gegen Midland Bank plc.], Slg. 2000, I-03201 [Rn. 31]; EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2006, Rs. C-368/04 [Transalpine Ölleitung in Österreich GmbH und andere gegen Finanzlandesdirektion für Tirol und andere], Slg. 2006, I-09957 [Rn. 45]; EuGH, Urteil vom 7. Dezember 2006, Rs. C-526/04 [Laboratoires Boiron SA gegen Union de recouvrement des cotisations de sécurité sociale et d’allocations familiales (Urssaf) de Lyon, Rechtsnachfolgerin der Agence centrale des organismes de sécurité sociale (ACOSS)], Slg. 2006, I-7529 [Rn. 51]; EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93 [Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat], 1995, I-04599. 487 So zutreffend Streinz, in: Streinz, EUV / EGV, Art. 10 Rn. 29; Huber, Europäisierung, Seite 578; Steinbeiß-Winkelmann, Europäisierung des Verwaltungsrechtsschutzes, Seite 1233; Götz, Europarechtliche Vorgaben, Seite 3; demgegenüber spricht Steinhauff, Anmerkung zu: EuGH, Urteil vom 03. September 2009, Rs. C-2/08, insoweit unzutreffend von einer „Abkehr [des Gerichtshofs] von seiner früheren, auf den effet utile gestützten Rechtsprechung“, und verkennt insoweit, dass Effektivitäts- und Äquivalenzprinzip insoweit allein den Grundsatz des effet utile relativieren, dieser jedoch stets Ausgangspunkt der Überlegungen des Gerichtshofs ist, was eine „Abkehr“ gerade ausschließt [vgl. das von Steinhauff besprochene Urteil, Rn. 6]. 488 Jarass / Beljin, Vorrang und Durchführung des EG-Rechts, Seite 10; Tonne, Effektiver Rechtsschutz, Seiten 193 ff.; Von Danwitz, Aktuelle Fragen, Seite 539, und Eigenverantwortung, Seite 422, spricht von einer „Doppelschranke“; Hess, Rechtsfragen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 474, spricht von „Mindestvorbehalten“. 489 Demgegenüber geht Kment, Stellung nationaler Unbeachtlichkeits-, Heilung- und Präklusionsvorschriften, Seite 220, dogmatisch verfehlt davon aus, dass etwa die Zulässigkeit von Ausschlussfristen des mitgliedsstaatlichen Rechts durch den Grundsatz der Rechtssicherheit gerechtfertigt sein könnte, dessen „Schranken-Schranken“ dann die Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz seien. Dies verkennt die Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten als gedanklichen Ausgangspunkt der Durchsetzung des Unionsrechts. 490 EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. C-45/76 [Comet BV gegen Produktschap voor Siergewassen], Slg. 1976, 02043 [Rn. 11/18]. 491 Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 45; Otting / Olgemöller, Europäischer Rechtsschutz, Seite 156; Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro vom 1. März 2007, Verbundene Rechtssachen C-222/05 bis C-225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/ 05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 17]. 492 Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 21; Schoch, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Seite 511; Geiger, in: Geiger / Khan / Kotzur, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 39.

4. „Effet utile“

371

fahrensregelungen die Ausübung der durch das Unionsrecht gewährten Rechte nicht praktisch unmöglich machen 494 oder erheblich erschweren 495; dies wird als das Prinzip der Effektivität 496 oder Effizienz 497 bezeichnet ([1.]). Diese Einschränkungen der Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten gelten allgemein immer dann, wenn es um die mitgliedsstaatliche Durchführung des Unionsrechts mit der Hilfe mitgliedsstaatlicher Bestimmungen geht und begrenzen letztere 498. Diese Erfordernisse in Bezug auf die Äquivalenz und die Effektivität sind als Ausdruck der beschriebenen allgemeinen Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, den gerichtlichen Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte zu gewährleisten 499, und damit als Ausfluss des allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts der Gewährleistung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes 500 bzw. des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte 501 zu verstehen 502. Sie gelten sowohl für die Bestimmung der Gerichte, die für die Entscheidung über auf dieses Recht gestützte Klagen zuständig sind, als auch für die Bestimmung der Verfahrensmodalitäten 503. Beide Gebote sind unmittelbar wirksame, von dem nationalen Richter eigenständig zu beachtende Prinzipien, auch wenn es sich insoweit um ungeschriebene Normen des Unionsrechts handelt 504. Zutreffend ist davon gesprochen worden, dass es sich insoweit um „Grundanforderungen“ 493 EuGH, Urteil vom 29. Oktober 2009, Rs. C-63/08 [Virginie Pontin gegen T-Comalux SA], Juris [Rn. 43]; Armbrüster / Kämmerer, Verjährung von Staatshaftungsansprüchen, Seite 3603. 494 EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. C-45/76 [Comet BV gegen Produktschap voor Siergewassen], Slg. 1976, 02043 [Rn. 11/18]. 495 EuGH, Urteil vom 5. März 1996, Verbundene Rs. C-46/93 und C-48/93 [Brasserie du Pêcheur SA gegen Bundesrepublik Deutschland und The Queen gegen Secretary of State for Transport, ex parte: Factortame Ltd und andere], Slg. 1996, I-01029 [Rn. 67]. 496 Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 21; Ziekow, Europa und der deutsche Verwaltungsprozess, Seite 793; Geiger, in: Geiger / Khan / Kotzur, EUV / AEUV, Art. 4 EUV Rn. 39. 497 Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 45. 498 Jarass / Beljin, Vorrang und Durchführung des EG-Rechts, Seite 10. 499 EuGH, Urteil vom 29. Oktober 2009, Rs. C-63/08 [Virginie Pontin gegen T-Comalux SA], Juris [Rn. 44]. 500 Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 22; Armbrüster / Kämmerer, Verjährung von Staatshaftungsansprüchen, Seite 3603. 501 EuGH, Urteil vom 29. Oktober 2009, Rs. C-63/08 [Virginie Pontin gegen T-Comalux SA], Juris [Rn. 41]; Steinbeiß-Winkelmann, Europäisierung des Verwaltungsrechtsschutzes, Seite 1233. 502 Dies verkennt Stadie, Unmittelbare Wirkung, Seite 439, der das Effektivitätsgebot lediglich als Auslegungsmaxime berücksichtigen will und seinen positivrechtlichen Rechtsgehalt verkennt. 503 EuGH, Urteil vom 29. Oktober 2009, Rs. C-63/08 [Virginie Pontin gegen T-Comalux SA], Juris [Rn. 44].

372

V. Unionsrechtliche Vorgaben

des Unionsrechts an den mitgliedsstaatlichen Verwaltungsvollzug 505 und dessen gerichtliche Überprüfung handele. Letztendlich sind die Prinzipien der Äquivalenz und der Effektivität zwingende Folgen aus dem Gebot der Funktionsfähigkeit der Union bzw. der Unionstreue in Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV sowie aus dem Verbot der Diskriminierung in dem Anwendungsbereich der Verträge 506. Es wird vertreten, dass es sich bei den Einflüssen des Effektivitätsprinzips auf das mitgliedsstaatliche Prozessrecht um sogenannte indirekte Kollisionen handele: Eine indirekte Kollision liege vor, wenn es zu einem Konflikt zwischen Normen komme, die verschiedene Materien regelten, was etwa – wegen des Fehlens einer Kompetenz der Union für das gerichtliche Verfahren – bei den Einwirkungen des Unionsrecht auf das Prozessrecht der Mitgliedsstaaten meistens der Fall sei 507. Für die Bestimmung, ob eine direkte oder eine indirekte Kollision vorliege, sei auf die „Art der beteiligten Normen“ 508 abzustellen; direkte Kollisionen lägen (nur) vor, wenn Unions- und mitgliedsstaatliches Recht „auf demselben Sachgebiet Regelungen mit einander widersprechenden Rechtsfolgen getroffen“ 509 hätten. Bei indirekten Kollisionen, die etwa auf dem „Standard“ der Unionstreue aus Art. 4 Abs. 3 EUV auf Seiten des Unionsrechts fußen könnten, sei durch eine Abwägung im weitesten Sinne die Herstellung praktischer Konkordanz zu suchen 510; bei direkten Kollisionen greife demgegenüber das Vorrangprinzip 511. Dies ist zweifelhaft. Dogmatisch liegt wegen der genannten Herleitungen bei der Anwendung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität vielmehr eine direkte Normkollision zwischen dem Primärrecht der Union – Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV – und den aus diesem herzuleitenden Prinzipien mit dem mitgliedsstaatlichen (Prozess-)recht vor. Denn wenn aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV (oder auch aus einem allgemeinen Rechtsgrundsatz, einem Unionsgrundrecht oder einer sekundärrechtlichen Norm) konkrete und spezifische unionsrechtliche Verfahrensanforderungen folgen 512, dann können diese nur direkt – und nicht nur 504 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 226 – 228; Steinbeiß-Winkelmann, Europäisierung des Verwaltungsrechtsschutzes, Seite 1233. 505 Schoch, Europäische Perspektive, Seite 285. 506 Streinz, Vertrauensschutz und Gemeinschaftsinteresse, Seite 170; Steinbeiß-Winkelmann, Europäisierung des Verwaltungsrechtsschutzes, Seite 1233; Armbrüster / Kämmerer, Verjährung von Staatshaftungsansprüchen, Seite 3603. 507 Seyr, Effet utile, Seite 152; Kadelbach, Europäischer Einfluß, Seite 26. 508 Kadelbach, Europäischer Einfluß, Seite 47. 509 Kadelbach, Europäischer Einfluß, Seite 49. 510 Kadelbach, Europäischer Einfluß, Seite 53. 511 Seyr, Effet utile, Seite 152 mit Fußnote 377; Kadelbach, Europäischer Einfluß, Seite 51.

4. „Effet utile“

373

indirekt – mit entgegenstehenden prozessrechtlichen Normen des mitgliedsstaatlichen Rechts kollidieren 513. Maßgeblich für die Annahme einer direkten Kollision ist nicht, welche abstrakte Materie auf welchem Sachgebiet durch die kollidierenden Normen geregelt ist – etwa Wettbewerbsrecht einerseits oder Prozessrecht andererseits 514 –, sondern ob die verschiedenen Normen auf die identische – materielle oder prozessuale – Rechtspositionen des Einzelnen Einfluss haben, ob eben eine unmittelbar wirksame Norm des Unionsrechts für einen Sachverhalt eine andere Rechtsfolge vorsieht als eine nationale Norm 515. Für die Durchsetzung der materiellen Rechtspositionen des Unionsrechts formulieren die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz Minimalanforderungen 516 in dem Sinne einer objektiv-rechtlichen Pflicht der mitgliedsstaatlichen Gerichte, effektiven und äquivalenten Rechtsschutz zu gewährleisten 517, und Normen des mitgliedsstaatlichen Prozessrechts, die dieses Minimalniveau unterschreiten, stehen zu diesen Grundsätzen und damit zu ihrer primärrechtlichen Herleitung in einer direkten Kollision. Abstrakt gesprochen: Die aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung folgende Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten wird unionsrechtsimmanent durch Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV begrenzt. Soweit die Ausstrahlungswirkung des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV reicht, also Verfahrensgrundsätze aus ihm herzuleiten sind, kollidiert entgegenstehendes mitgliedsstaatliches Verfahrensrecht daher direkt und nicht lediglich indirekt 518. Eine derartige Normkollision ist – wenn eine unionsrechtskonforme Auslegung scheitert 519 – nach der oben 520 beschriebenen Kollisionsregel des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts dahingehend zu lösen, dass die mitgliedsstaatlichen Gerichte einzelstaatliche Verfahrensvorschriften nicht anwenden dürfen, wenn andernfalls die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität verletzt würden 521. Nichts anderes gilt, wenn und soweit Normen 512

So zutreffend Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 181. Tonne, Effektiver Rechtsschutz, Seite 250 f.; zu den Konstellationen von Kollisionen umfassend Kadelbach, Europäischer Einfluß, Seite 25 ff. 514 Kadelbach, Europäischer Einfluß, Seite 26. 515 Stern, Einwirkung des Gemeinschaftsrechts, Seite 773. 516 Hess, Rechtsfragen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 474, spricht vergleichbar von „Mindestvorbehalten“. 517 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 226. 518 Tonne, Effektiver Rechtsschutz, Seite 251. 519 EuGH, Urteil vom 26. September 2000, Rs. C-262/97 [Rijksdienst voor Pensioenen gegen Robert Engelbrecht], Slg. 2000, I-07321 [Rn. 40]. 520 V. 3. 521 EuGH, Urteil vom 9. März 1978, Rs. C-106/77 [Staatliche Finanzverwaltung gegen S.p.A. Simmenthal], Slg. 1978, 00629 [Rn. 21/23 und 24]; EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2006, Rs. C-232/05 [Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Französische Republik], Slg. 2006, I-10071 [Rn. 49 – 53]; Ehlers, Verwaltungsprozessrecht, Seite 1442; die Konfliktlösung durch das Vorrangprinzip auch betonend Germelmann, Rechts513

374

V. Unionsrechtliche Vorgaben

des sekundären Unionsrechts Anforderungen an den Rechtsschutz formulieren, die mit dem mitgliedsstaatlichen Verfahrensrecht nicht harmonieren, oder wenn aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen eine Folgerung für das Prozessrecht zu ziehen ist. In all diesen Fällen liegen unionsrechtliche Verfahrensanforderungen vor, die in ihrem Rahmen zu direkten Kollisionen mit entgegenstehenden Vorschriften des mitgliedsstaatlichen Prozessrechts führen können. Ob eine nationale Regelung den Geboten der Gleichwertigkeit und der Effektivität entspricht, ist von den mitgliedsstaatlichen Gerichten im Rahmen ihrer Rechtsanwendung zu prüfen. Denn dem Gerichtshof kommt es nach seiner ständigen Rechtsprechung nicht zu, sich zu der Auslegung innerstaatlichen Rechts zu äußern, da diese Aufgabe ausschließlich Sache des in dem Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vorlegenden Gerichts ist: Dieses muss in seinem zu entscheidenden Fall prüfen, ob die einschlägige nationale Regelung den Erfordernissen in Bezug auf die Gleichwertigkeit und die Effektivität genügt 522. Der Gerichtshof gibt jedoch in dem Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens dem vorlegenden Gericht gegebenenfalls Klarstellungen, um dem nationalen Gericht eine Leitlinie für seine Auslegung des mitgliedsstaatlichen Rechts zu geben 523. Zu den Einzelheiten der Prinzipien der Gleichwertigkeit und der Effektivität hat sich eine umfangreiche Judikatur des Gerichtshofs entwickelt 524, die in dem Folgenden auf ihre Relevanz für die Erfüllung des Darlegungsgebots des § 124a Abs. 4 VwGO bei unionsrechtlichen Rechtsanwendungsfehlern zu untersuchen ist. Soweit demgegenüber gefordert wird 525, die Reichweite des Effektivitätsgebots generell-abstrakt und nicht einzelfallbezogen zu bestimmen, verkennt dies, dass – wie oben 526 in der Beschreibung des Spannungsfeldes zwischen fehlender kraft, Seite 260; und Seyr, Effet utile, Seite 137, Stern, Einwirkung des Gemeinschaftsrechts, Seite 773. 522 EuGH, Urteil vom 23. April 2009, Rs. C- 378/07 bis 380/07 [Kiriaki Angelidaki und andere gegen Organismos Nomarchiakis Autodioikisis Rethymnis (C-378/07), Charikleia Giannoudi gegen Dimos Geropotamou (C-379/07) und Georgios Karabousanos und Sofoklis Michopoulos gegen Dimos Geropotamou (C-380/07)], Juris [Rn. 163]. 523 EuGH, Urteil vom 7. September 2006, Rs. C-53/04, [Cristiano Marrosu und Gianluca Sardino gegen Azienda Ospedaliera Ospedale San Martino di Genova e Cliniche Universitarie Convenzionate], Slg. 2006, I-7213 [Rn 54]; EuGH, Urteil vom 7. September 2006, Rs. C-180/04 [Andrea Vassallo gegen Azienda Ospedaliera Ospedale San Martino di Genova e Cliniche Universitarie Convenzionate], Slg. 2006, I-7251 [Rn. 39]; EuGH, Beschluss vom 12. Juni 2008, Rs. C-364/07 [Spyridon Vassilakis und andere gegen Dimos Kerkyraion], Slg. 2008, I-00090 [Rn. 143]; EuGH, Urteil vom 29. Oktober 2009, Rs. C-63/08 [Virginie Pontin gegen T-Comalux SA], Juris [Rn. 49]. 524 Suerbaum, Europäisierung, Seite 206; von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der Europäischen Union, Art. 10 EGV Rn. 8, spricht insoweit zutreffend von einer durch die Präjudizien des Gerichtshofs geleiteten Abwägung. 525 Von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, Seite 280.

4. „Effet utile“

375

Kompetenz zu einer umfassenden Regelung des Verwaltungsverfahrens und dem Gebot des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV erläutert – die Reichweite des Effektivitätsgebots eben nur in Bezug auf die Anwendung der jeweiligen mitgliedsstaatlichen Verfahrensregelung und die konkreten Umstände des Einzelfalles und damit allein einzelfallbezogen erfolgen kann. (1) Gleichwertigkeits- bzw. Äquivalenzgebot (a) Inhalt Nach dem Äquivalenz- oder Gleichbehandlungsgebot dürfen die Bedingungen für die Verfolgung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht ungünstiger gestaltet werden als für gleichartige Klagen, die allein mitgliedsstaatliches Recht betreffen 527. Das Äquivalenzgebot verlangt insbesondere, dass die von dem mitgliedsstaatlichen Recht aufgestellten Voraussetzungen für die Prüfung einer Bestimmung des Unionsrechts von Amts wegen nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die die Prüfung gleichrangiger Bestimmungen des nationalen Rechts regeln 528. Der Äquivalenzgrundsatz verlangt daher, dass bei der Anwendung sämtlicher für Rechtsbehelfe geltenden Vorschriften nicht danach unterschieden wird, ob ein Verstoß gegen Unionsrecht oder gegen mitgliedsstaatliches Recht gerügt wird 529. Die Vorgaben des mitgliedsstaatlichen Prozessrechts stellen damit die Obergrenze dessen dar, was an prozessualen Hürden für die unionsrechtlichen Rechtspositionen zulässig ist 530; das Äquivalenzgebot wahrt daher in besonderem Maße den Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten, da es lediglich die Gerechtigkeitsvorstellungen der Rechtsordnung des jeweiligen Mitgliedsstaates auf unionsrechtlich begründete Rechte überträgt 531. Die Wahrung des Grundsatzes der Gleichwertigkeit setzt also voraus, dass die streitige Regelung des nationalen Prozessrechts in gleicher Weise für Klagen gilt, die auf die Verletzung des Unionsrechts gestützt sind, wie für solche, 526

V. 4. b). EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. C-33/76 [Rewe-Zentralfinanz eG und Rewe-Zentral AG gegen Landwirtschaftskammer für das Saarland], Slg. 1976, 1989 [Rn. 5]; ähnlich – für richtlinienumsetzendes Recht – Kock, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 8. Juli 2010, Seite 2716. 528 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 13 und 17]; EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom Telecomunicaciones SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris [Rn. 49]. 529 EuGH, Urteil vom 26. Januar 2010, Rs. C-118/08 [Transportes Urbanos y Servicios Generales SAL gegen Administración del Estado], Juris [Rn. 33]. 530 Ruthig, Transformiertes Gemeinschaftsrecht, Seite 290. 531 Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 149. 527

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

die auf die Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, sofern diese Klagen einen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund haben 532. Die Prüfung des Äquivalenzprinzips erfordert daher insoweit eine vergleichende Bewertung 533. Das Äquivalenzprinzip stellt von seinem Ansatz her letztendlich ein Diskriminierungsverbot dar, das zu der Verwirklichung eines Binnenmarktes unerlässlich ist 534. Das Äquivalenzprinzip soll Diskriminierungen von Teilnehmern des Binnenmarktes gegenüber solchen des rein innerstaatlichen Wirtschaftsverkehrs vermeiden 535. Nicht zu verkennen ist indes, dass seine Schwäche aus unionsrechtlicher Sicht darin besteht, dass das Äquivalenzprinzip immer auf die Rechtslage innerhalb eines Mitgliedsstaates bezogen ist und damit die – sicherlich weitaus größeren – Unterschiede zwischen den 27 Mitgliedsstaaten zu beseitigen nicht in der Lage ist, sondern diese vielmehr sogar bestätigt 536. (b) Abgrenzung des Prüfungsumfangs des Gerichtshofs in Bezug auf den Grundsatz der Äquivalenz zu dem der mitgliedsstaatlichen Gerichte Für die Prüfung durch das mitgliedsstaatliche Gericht in dem bei ihm anhängigen Verfahren, ob der Äquivalenzgrundsatz gewahrt ist, besitzt allein das mitgliedsstaatliche Gericht die erforderliche unmittelbare Kenntnis der Verfahrensmodalitäten für Klagen in dem Bereich des nationalen Rechts. Das mitgliedsstaatliche Gericht hat daher sowohl den Gegenstand als auch die wesentlichen Merkmale der als vergleichbar dargestellten Klagen zu prüfen 537. Das mitgliedsstaatliche Gericht muss bei einer Entscheidung über die Gleichwertigkeit von Verfahrensvorschriften objektiv und abstrakt prüfen, ob die fraglichen Vorschriften unter dem Gesichtspunkt ihrer Stellung in dem gesamten Verfahren, des Ablaufs dieses Verfahrens und der Besonderheiten der Vorschriften gleichartig sind 538. Der Gerichtshof kann dem nationalen Gericht im Vorabentscheidungs-

532 EuGH, Urteil vom 1. Dezember 1998, Rs. C-326/96 [B.S. Levez gegen T.H. Jennings (Harlow Pools) Ltd.], Slg. 1998, I-7835, [Rn. 41]; EuGH, Urteil vom 29. Oktober 2009, Rs. C-63/08 [Virginie Pontin gegen T-Comalux SA], Juris [Rn. 45]. 533 Steinbeiß-Winkelmann, Europäisierung des Verwaltungsrechtsschutzes, Seite 1233. 534 Schoch, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Seite 511. 535 Haratsch, Kooperative Sicherung, Seite 86. 536 Streinz, Vollzug des Europäischen Gemeinschaftsrechts, § 182 Rn. 25. 537 EuGH, Urteil vom 16. Mai 2000, Rs. C-78/98 [Shirley Preston u. a. gegen Wolverhampton Healthcare NHS Trust u. a. und Dorothy Fletcher u. a. gegen Midland Bank plc.], Slg. 2000, I-03201 [Rn. 49 und 56]. 538 EuGH, Urteil vom 16. Mai 2000, Rs. C-78/98 [Shirley Preston u. a. gegen Wolverhampton Healthcare NHS Trust u. a. und Dorothy Fletcher u. a. gegen Midland Bank plc.], Slg. 2000, I-03201 [Rn. 61 bis 63].

4. „Effet utile“

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verfahren allein in dem Hinblick auf die von diesem vorzunehmende Prüfung Hinweise zu einer Auslegung des Unionsrechts geben 539. Bei dieser Prüfung ist es nach dem Gerichtshof zu berücksichtigen, ob die fragliche (Richtlinien-) Bestimmung des Unionsrechts eine solche zwingenden Charakters ist, und ob die unionsrechtliche Norm für die Erfüllung der Aufgaben der Europäischen Union und hier insbesondere für die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität in der ganzen Union unerlässlich ist 540. Zu analysieren ist durch das mitgliedsstaatliche Gericht letztlich, ob in Anbetracht von Natur und Bedeutung des öffentlichen Interesses, auf dem der Schutz beruht und den die unionsrechtliche Norm sicherstellen soll, diese den nationalen Bestimmungen, die im nationalen Recht zwingend sind, gleichwertig ist 541. Fraglich ist hier zunächst, wie der Begriff der „Unionsvorschrift zwingenden Charakters“ zu verstehen ist. Aus der begrifflichen Gegenüberstellung zu „nationalen Bestimmungen, die im nationalen Recht zwingend sind“, folgt, dass der Gerichtshof die auf dem mitgliedsstaatlichen Recht beruhenden Klagegründe – etwa nach den Kategorien Sachurteilsvoraussetzungen, Zuständigkeitsvorschriften oder materielle Rechte – mit denen des Unionsrechts dahingehend vergleicht 542, ob ihre Berücksichtigung von Amts wegen und damit ihre Behandlung gleichwertig erfolgt. Hieraus folgt, dass es in diesem Kontext nicht darauf ankommt, ob die zu einem Vergleich herangezogene mitgliedsstaatliche Bestimmung „parteidispositiv“ ist oder nicht, sondern ob sie von Amts wegen berücksichtigt werden müsste, weil sie die Eigenschaft besitzt, innerstaatlich zugunsten des Einzelnen unmittelbar anwendbar zu sein. Dies wird in vielen Fällen zwar zu keinen unterschiedlichen Ergebnissen führen, ist aber mit der des Gerichts und nicht der der Parteien eine andere Perspektive, die zu abweichenden Ergebnissen führen kann.

539 EuGH, Urteil vom 16. Mai 2000, Rs. C-78/98 [Shirley Preston u. a. gegen Wolverhampton Healthcare NHS Trust u. a. und Dorothy Fletcher u. a. gegen Midland Bank plc.], Slg. 2000, I-03201 [Rn. 50]; EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom Telecomunicaciones SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris [Rn. 50]. 540 EuGH, Urteil vom 26. Oktober 2006, Rs. C-168/05 [Elisa María Mostaza Claro gegen Centro Móvil Milenium SL], Slg. 2006, I-10421 [Rn. 37]; EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom Telecomunicaciones SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris [Rn. 51]. 541 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom Telecomunicaciones SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris [Rn. 52]. 542 EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 29 bis 31].

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Prüfungsmaßstab für die verschiedenen Verfahrensmodalitäten sind nicht die subjektiven Umstände des Einzelfalls; die Prüfung muss vielmehr einen objektiven, abstrakten Vergleich der betreffenden Verfahrensmodalitäten zu ihrem Gegenstand haben 543. (c) Begriff der „gleichartigen Klagen, die allein mitgliedsstaatliches Recht betreffen“ Die Wahrung des Grundsatzes der Gleichwertigkeit setzt voraus, dass die streitige Regelung in gleicher Weise für Klagen gilt, die auf die Verletzung des Unionsrechts gestützt sind, wie für solche, die auf die Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, sofern diese Klagen einen ähnlichen Gegenstand oder Rechtsgrund haben 544. Fraglich ist zunächst, wie der Begriff der „Klagen“ zu verstehen ist, ob dieser „Klagearten“ oder lediglich „Klagegründe“ im Sinne von Anspruchsgrundlagen meint. Unproblematisch erfasst der Begriff der „Klagen“ verschiedene Verfahrensarten, eventuell sogar vor verschiedenen mitgliedsstaatlichen Gerichten, und mit insoweit unterschiedlichen Fristen und Kosten für die Geltendmachung von aus dem Unionsrecht fließenden Rechten einerseits und in dem nationalen Recht wurzelnden Ansprüchen andererseits 545, wenn also verschiedene Rechtsbehelfe unterschiedlicher Günstigkeit für das mitgliedsstaatliche und für das Unionsrecht bestehen. Ob hierüber hinaus der Begriff der „gleichartigen Klagen“ in dem Sinne von Klagearten zu verstehen ist, ist zweifelhaft. Denn maßgeblich ist ein Vergleich, „ob die Verfahrensmodalitäten, die im innerstaatlichen Recht den Schutz der Rechte gewährleisten sollen, den die Bürger aufgrund des Gemeinschaftsrechts genießen, dem Grundsatz der Gleichwertigkeit entsprechen“ 546, also ein Vergleich der Verfahrensmodalitäten für eine Durchsetzbarkeit des mitgliedsstaatlichen Rechts einerseits und des Unionsrechts andererseits. Der Gerichtshof verlangt für die Prüfung des Grundsatzes der Gleichwertigkeit durch das 543 EuGH, Urteil vom 16. Mai 2000, Rs. C-78/98 [Shirley Preston u. a. gegen Wolverhampton Healthcare NHS Trust u. a. und Dorothy Fletcher u. a. gegen Midland Bank plc.], Slg. 2000, I-03201 [Rn. 62 und 63]. 544 EuGH, Urteil vom 16. Mai 2000, Rs. C-78/98 [Shirley Preston u. a. gegen Wolverhampton Healthcare NHS Trust u. a. und Dorothy Fletcher u. a. gegen Midland Bank plc.], Slg. 2000, I-03201 [Rn. 55]. 545 EuGH, Urteil vom 1. Dezember 1998, Rs. C-326/96 [B.S. Levez gegen T.H. Jennings (Harlow Pools) Ltd.], Slg. 1998, I-7835, [Rn. 36]. 546 EuGH, Urteil vom 1. Dezember 1998, Rs. C-326/96 [B.S. Levez gegen T.H. Jennings (Harlow Pools) Ltd.], Slg. 1998, I-7835, [Rn. 39].

4. „Effet utile“

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mitgliedsstaatliche Gericht einen Vergleich, ob „diese Klagen einen ähnlichen Gegenstand oder Rechtsgrund haben“, wofür der „Gegenstand als auch die wesentlichen Merkmale der angeblich vergleichbaren Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen, zu prüfen“ 547 seien. Dies spricht dafür, den Begriff der „Klagen“ – jedenfalls auch – im Sinne von „Anspruchsgrundlagen“ oder „Klagegründen“ zu verstehen, da dies eben der jeweilige „Rechtsgrund“ ist und nur diese Anspruchsgrundlagen verschiedenen Verfahrensmodalitäten unterliegen können 548. Zudem hat der Gerichtshof den Grundsatz der Äquivalenz auch und gerade in denjenigen Fällen angewandt, in denen für die Klagen nach dem mitgliedsstaatlichen Recht die Möglichkeit der Berücksichtigung von Rechtsgründen von Amts wegen bestanden hat, etwa durch die Verwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs wie dem der „öffentlichen Ordnung“, und für diese Fälle eine Subsumtion auch des Unionsrechts unter diesen Begriff eingefordert 549, woran deutlich wird, dass von dem Begriff der „Klagen“ jedenfalls auch ein Vergleich mitgliedsstaatlicher mit unionsrechtlichen Anspruchsgrundlagen in einer nach dem mitgliedsstaatlichen Recht identischen Klageart – etwa einer Anfechtungsklage nach § 113 Abs. 1 VwGO oder einer Verpflichtungsklage nach § 113 Abs. 5 VwGO – erfasst sind. Entscheidend ist, ob die streitige Regelung des Verfahrensrechts in gleicher Weise für Klagen gilt, die auf die Verletzung des Unionsrechts gestützt sind, wie für solche, die auf die Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützt sind 550. Bestätigt wird dieses Ergebnis etwa durch eine Entscheidung des Gerichtshofs, in der dieser in Bezug auf den Grundsatz der Äquivalenz fragt, „ob eine Ausschlussfrist [des mitgliedsstaatlichen Rechts] den Anforderungen gleichwertig ist, die an die Geltendmachung vergleichbarer Forderungen innerstaatlicher Art gestellt werden“ 551, der Gerichtshof also die Verfahrensmodalitäten für die Geltendmachung von (mitgliedsstaatlichen oder unionsrechtlichen) Rechten vergleicht. 547 EuGH, Urteil vom 16. Mai 2000, Rs. C-78/98 [Shirley Preston u. a. gegen Wolverhampton Healthcare NHS Trust u. a. und Dorothy Fletcher u. a. gegen Midland Bank plc.], Slg. 2000, I-03201 [Rn. 55 und 56]. 548 EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 29 bis 31]. 549 EuGH, EuGH, Urteil vom 1. Juni 1999, Rs. C-126/97 [Eco Swiss China Time Ltd gegen Benetton International NV], Slg. 1999, I-03055 [Rn. 37]. 550 EuGH, Urteil vom 29. Oktober 2009, Rs. C-63/08 [Virginie Pontin gegen T-Comalux SA], Juris [Rn. 45]. 551 EuGH, Urteil vom 10. Juli 1997, Rs. C-261/95 [Rosalba Palmisani gegen Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS)], Slg. 1997, I-04025 [Rn. 32].

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Zu beachten ist indes, dass für die Annahme einer Verletzung des Äquivalenzgrundsatzes sich die vergleichbaren Verfahrensmodalitäten auf zwei parallele Grundsätze auf zwei verschiedenen Ebenen, nämlich der nationalen und der unionsrechtlichen, beziehen müssen; es müssen zwei vergleichbare Klagen in dem eben beschriebenen Sinne vorliegen, von denen die eine auf ein Recht unionsrechtlichen Ursprungs, die andere auf ein innerstaatliches Recht gestützt ist 552. Zwei Klagen in diesem Sinne liegen daher etwa dann nicht vor, wenn die auf das nationale Recht gestützte Klage materiell auf die Umsetzung des unionsrechtlichen Aktes gestützt wird, da dann ein und dieselbe Klageart im unionsrechtlichen Sinne vorliegt. Der Begriff der Klageart wird daher von dem Gerichtshof auch insoweit im Sinne eines Klagegrundes – der Anspruchsgrundlage – verstanden 553. (d) Erstarken einer Möglichkeit zu einer Berücksichtigung mitgliedsstaatlichen Rechts von Amts wegen zu einer unionsrechtlichen Berücksichtigungspflicht Das mitgliedsstaatliche Gericht ist, wenn es nach den Bestimmungen seines nationalen Verfahrensrechts von Amts wegen den Verstoß gegen zwingende nationale Vorschriften prüfen muss, nach dem Äquivalenzgrundsatz auch verpflichtet, die Unionsrechtskonformität von Amts wegen zu prüfen, sobald es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt 554. Eine Verpflichtung, das Unionsrecht von Amts wegen zu prüfen, obliegt dem mitgliedsstaatlichen Gericht ferner aber auch dann, wenn es im Rahmen des nationalen Rechtspflegesystems nur über die bloße Möglichkeit verfügt, den Verstoß gegen zwingende nationale Bestimmungen von Amts wegen zu prüfen 555; zu einer Sicherung der Effektivität des Unionsrechts verdichtet sich daher in Anwen552 Schlussanträge des Generalanwalts Léger vom 12. Mai 1998, Rs. C-326/96 [B.S. Levez gegen T.H. Jennings (Harlow Pools) Ltd.], Slg. 1998, I-07835 [Rn. 43 –48]; EuGH, Urteil vom 16. Mai 2000, Rs. C-78/98 [Shirley Preston u. a. gegen Wolverhampton Healthcare NHS Trust u. a. und Dorothy Fletcher u. a. gegen Midland Bank plc.], Slg. 2000, I-03201 [Rn. 51]. 553 EuGH, Urteil vom 16. Mai 2000, Rs. C-78/98 [Shirley Preston u. a. gegen Wolverhampton Healthcare NHS Trust u. a. und Dorothy Fletcher u. a. gegen Midland Bank plc.], Slg. 2000, I-03201 [Rn. 52], der dort explizit auf die Frage der bloßen Erfüllung unionsrechtlicher Umsetzungsverpflichtungen durch die mitgliedsstaatliche Klageart als Ausschlussgrund für eine Heranziehbarkeit als geeigneter Vergleichsgrundlage bei der Prüfung der Beachtung des Grundsatzes der Gleichwertigkeit abstellt. 554 EuGH, EuGH, Urteil vom 1. Juni 1999, Rs. C-126/97 [Eco Swiss China Time Ltd gegen Benetton International NV], Slg. 1999, I-03055 [Rn. 37]; EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, Rs. C-243/08 [Pannon GSM Zrt. gegen Erzsébet Sustikné Győrfi], Juris [Rn. 29 – 32]; EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom Telecomunicaciones SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris [Rn. 53].

4. „Effet utile“

381

dung des Äquivalenzprinzips die Möglichkeit des mitgliedsstaatlichen Gerichts zu einer Prüfung nationaler Vorschriften von Amts wegen zu einer unionsrechtlichen Pflicht zu einer Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen. Der Gerichtshof hat das Äquivalenzprinzip damit in Bezug auf die Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen von einem reinen Diskriminierungsverbot hin zu einem Optimierungsgebot erweitert. Diese besondere Bedeutung gerade des Äquivalenzprinzips wird in der Literatur zu einem Teil verkannt, wenn „nennenswerte Auswirkungen“ des Äquivalenzprinzips auf das deutsche Verwaltungsprozessrecht verneint werden, da das deutsche Verwaltungsprozessrecht für die Eröffnung und Gestaltung der Verfahren nicht darauf abstelle, „woher das jeweils maßgebende materielle Recht stammt“ 556, oder wenn behauptet wird, dass das deutsche Verwaltungsprozessrecht den unionsrechtlichen Vorgaben „in vollem Umfang gerecht“ 557 werde. Verkannt wird insoweit die von dem Gerichtshof aus dem Äquivalenzprinzip hergeleitete Pflicht zu einer Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen bei einer bloßen prozessrechtlichen Berücksichtigungsmöglichkeit. (e) Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen bei (nicht, nicht hinreichend oder nicht fristgerecht umgesetzten) Richtlinien Eine Pflicht der mitgliedsstaatlichen Gerichte zu einer Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen kann bei dem Äquivalenzprinzip auch aus einer Richtlinie der Union folgen, die der Mitgliedsstaat nicht, nicht hinreichend oder nicht fristgerecht umgesetzt hat. Denn die Pflicht eines Mitgliedsstaats, alle zur Erreichung des durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Zieles erforderlichen Maßnahmen zu treffen, ist eine durch Artikel 288 Abs. 3 AEUV und durch die Richtlinie selbst auferlegte zwingende Pflicht 558, die allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedsstaaten einschließlich der Gerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeiten obliegt 559. Da es mit der durch Art. 288 Abs. 3 AEUV zuerkannten verbindlichen Wirkung unvereinbar wäre, grundsätzlich auszuschließen, dass 555 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 13, 14 und 22]; EuGH, Urteil vom 12. Februar 2008, Rs. C-2/06 [Willy Kempter KG gegen Hauptzollamt Hamburg-Jonas], Slg. 2008, I-411 [Rn 45]; EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom Telecomunicaciones SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris [Rn. 54]. 556 Steinbeiß-Winkelmann, Europäisierung des Verwaltungsrechtsschutzes, Seite 1234. 557 Lindner, Europarecht in der Rechtsprechung, Seite 71. 558 EuGH, Urteil vom 26. Februar 1986, Rs. C-152/84 [M. H. Marshall gegen Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority (Teaching)], Slg. 1986, 723 [Rn 48]; EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1996, Rs. C-72/95 [Aannemersbedrijf P.K. Kraaijeveld BV e.a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland], Slg. 199, I-05403 [Rn. 55].

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

sich betroffene Personen auf die durch eine Richtlinie auferlegte Verpflichtung berufen können, insbesondere wenn die Mitgliedsstaaten durch eine Richtlinie zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet werden, würde die praktische Wirksamkeit einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die Bürger sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die nationalen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Unionsrechts berücksichtigen könnten, um zu prüfen, ob der nationale Gesetzgeber in dem Rahmen der ihm vorbehaltenen Befugnis, Form und Mittel für die Umsetzung der Richtlinie zu wählen, innerhalb des in der Richtlinie vorgesehenen Ermessensspielraums geblieben ist 560. Müssen in derartigen Konstellationen die mitgliedsstaatlichen Gerichte nach dem nationalen Recht die sich aus einer zwingenden innerstaatlichen Vorschrift ergebenden rechtlichen Gesichtspunkte, die die Parteien nicht geltend gemacht haben, von Amts wegen aufgreifen, so besteht eine solche Verpflichtung auch dann, wenn es sich um zwingende Unionsvorschriften wie die in einer in unmittelbare Anwendbarkeit erwachsenen Richtlinie handelt 561. Das Gleiche gilt bei einer bloßen Berechtigung der mitgliedsstaatlichen Gerichte, die zwingende mitgliedsstaatliche Rechtsvorschrift von Amts wegen anzuwenden, aufgrund der Verpflichtung der Mitgliedsstaaten und ihrer Organe aus Art. 4 Abs. 3 EUV. Ist daher ein Gericht nach dem nationalen Recht verpflichtet oder berechtigt, von Amts wegen die sich aus einer zwingenden innerstaatlichen Vorschrift ergebenden rechtlichen Gesichtspunkte aufzugreifen, die die Parteien nicht geltend gemacht haben, so hat es im Rahmen seiner Zuständigkeit auch von Amts wegen zu prüfen, ob eine Richtlinie hinreichend umgesetzt ist; ist dies nicht der Fall, so hat das mitgliedsstaatliche Gericht im Rahmen seiner Zuständigkeiten alle erforderlichen allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu treffen, der Richtlinie Geltung zu verschaffen 562. Das mitgliedsstaatliche Gericht muss nach seinem nationalen Recht alle Konsequenzen ziehen, die aus der Geltung der Richtlinie folgen und um dieser Geltung zu ihrem Durchbruch zu verhelfen 563.

559 EuGH, Urteil vom 13. November 1990, Rs. C-106/89 [Marleasing SA gegen La Comercial Internacional de Alimentacion SA], Slg. 1990, I-04135 [Rn. 8]. 560 EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1996, Rs. C-72/95 [Aannemersbedrijf P.K. Kraaijeveld BV e.a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland], Slg. 199, I-05403 [Rn. 56]. 561 EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1996, Rs. C-72/95 [Aannemersbedrijf P.K. Kraaijeveld BV e.a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland], Slg. 199, I-05403 [Rn. 57]. 562 EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1996, Rs. C-72/95 [Aannemersbedrijf P.K. Kraaijeveld BV e.a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland], Slg. 199, I-05403 [Rn. 58, 60 und 62]. 563 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom Telecomunicaciones SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris [Rn. 58].

4. „Effet utile“

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(2) Effizienz- bzw. Effektivitätsgebot Nach dem Effektivitätsgebot dürfen die nationalen Verfahrensregeln und Fristen die Verfolgung von Rechten, die das Unionsrecht verleiht, nicht praktisch unmöglich machen 564 oder – nach neueren Entscheidungen – nicht übermäßig erschweren 565. Mit der Erweiterung des Effektivitätsgrundsatzes in der Rechtsprechung des Gerichtshofs von einem „praktisch Unmöglichmachen“ hin zu einem Verbot des „übermäßig Erschwerens“ ist ein Wechsel von einer bloßen Konfliktvermeidungsstrategie in dem Sinne eines „Vereitelungsverbots“ hin zu einem „Koordinierungsinstrument mit positiven Ausgestaltungsbedingungen“ in dem Sinne eines „Erschwerungsverbots“ verbunden 566. Diese Entwicklung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird zum Teil verkannt 567, wenn der Effektivitätsgrundsatz unzutreffend auf diejenigen Fälle reduziert wird, in denen die Durchführung des Unionsrechts „praktisch unmöglich“ gemacht wird 568; oder wenn andererseits der Sinn der Formulierung, dass die Rechtsverwirklichung nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden dürfe, ohne nähere dogmatische Begründung darauf reduziert wird, dass dem Effektivitätsgebot „Genüge getan [sei], wenn eine gemeinschaftsrechtliche Rechtsposition über eine realistische Chance der Rechtsverwirklichung verfügt“ 569. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs haben die nationalen Gerichte aufgrund ihrer Mitwirkungspflicht aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV den Rechtsschutz zu gewährleisten, der sich für die Einzelnen aus der unmittelbaren 564 EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. C-33/76 [Rewe-Zentralfinanz eG und Rewe-Zentral AG gegen Landwirtschaftskammer für das Saarland], Slg. 1976, 1989 [Rn. 5]. 565 EuGH, Urteil vom 5. März 1996, Verbundene Rs. C-46/93 und C-48/93 [Brasserie du Pêcheur SA gegen Bundesrepublik Deutschland und The Queen gegen Secretary of State for Transport, ex parte: Factortame Ltd und andere], Slg. 1996, I-01029 [Rn. 67]; so auch Heinze, Europäisches Primärrecht und Zivilprozess, Seite 661; Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, Rn. 245. 566 So zutreffend Schoch, Europäische Perspektive, Seite 286 f. 567 Etwa Stern, Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts, Seite 774. 568 Ebenso das Effektivitätsgebot reduzierend Streinz, Vollzug des Europäischen Gemeinschaftsrechts, § 182 Rn. 26, sowie Streinz, in: Streinz, EUV / EGV, Art. 10 EGV Rn. 9, differenzierend Rn. 17 und 26, wo aber einerseits – zu weit – eine bloße Beeinträchtigung, andererseits – zu eng – auf (insbesondere) ein „praktisches Unmöglichmachen“ als mit dem Effektivitätsgrundsatz unvereinbar abgestellt wird; ähnlich Wahl, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozessrecht, Seiten 1285 und 1287, der auch ein bloßes „praktisches Unmöglichmachen“ als den Effektivitätsgrundsatz verletzend ansieht, sowie Zuleeg, Wechselseitige Einwirkungen, Seite 193, der bloße „Beeinträchtigungen“ der Tragweite und Wirksamkeit des Unionsrechts genügen lässt. 569 Niedobitek, Kollisionen, Seite 75, der den Maßstab der Chancenverwirklichung nicht weiter präzisiert.

384

V. Unionsrechtliche Vorgaben

Wirkung des Unionsrechts ergibt. Auch wenn nach dem genannten „Grundsatz der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie der Mitgliedsstaaten“ 570 es wie gesagt Aufgabe der Mitgliedsstaaten ist, die zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung von Verfahrens, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, zu regeln, so dürfen jedoch andererseits diese Verfahren die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren 571. Dies trägt auch dem Zusammenhang zwischen dem Prozessrecht und dem materiellen Recht Rechnung 572. Insoweit stellt der Gerichtshof zunächst einen Zusammenhang dieses Effektivitätsgrundsatzes zu dem bereits oben dargestellten Verfahren der Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV her, indem er betont, dass eine Vorschrift des nationalen Rechts, die der Durchführung des in Art. 267 AEUV des Vertrages vorgesehenen Verfahren entgegensteht, unangewendet bleiben muss 573. Der Gerichtshof stellt damit die herausragende Bedeutung auch und gerade des Effektivitätsgrundsatzes in Bezug auf diejenigen Bereiche der Rechtsanwendung, in denen eine Vorabentscheidung in Betracht kommt, heraus 574. Für die Anwendung des Effektivitätsgrundsatzes ist nach dem Gerichtshof jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter 570

Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 180. EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. C-33/76 [Rewe-Zentralfinanz eG und Rewe-Zentral AG gegen Landwirtschaftskammer für das Saarland], Slg. 1976, 1989 [Rn. 5]; EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. C- 45/76 [Comet BV gegen Produktschap voor Siergewassen], Slg. 1976, 2043 [Rn. 12 bis 16]; EuGH, Urteil vom 27. Februar 1980, Rs. C-68/79 [Hans Just I / S gegen Ministerium für das Steuerwesen], Slg. 1980, 501 [Rn. 25]; EuGH, Urteil vom 9. November 1983, Rs. C-199/82 [Amministrazione delle finanze dello Stato gegen SpA San Giorgio], Slg. 1983, 3595, [Rn. 14]; EuGH, Urteil vom 25. Februar 1988, Rs. C-331/85, 376/85 und 378/85 [Les Fils de Jules Bianco SA und J. Girard Fils SA gegen Directeur général des douanes et droits indirects], Slg. 1988, 1099 [Rn. 12]; EuGH, Urteil vom 24. März 1988, Rs. C-104/86 [Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Italienische Republik], Slg. 1988, 1799 [Rn. 7]; EuGH, Urteil vom 14. Juli 1988, Rs. C-123/87 und 330/87 [Léa Jeunehomme und Société anonyme d‘étude et de gestion immobilière „EGI“ gegen Belgischer Staat], Slg. 1988, 4517 [Rn. 17]; EuGH, Urteil vom 9. Juni 1992, Rs. C-96/91 [Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich Spanien], Slg. 1992, I-3789 [Rn. 12]; EuGH, Urteil vom 19. November 1991, Rs. C-6/90 und C-9/90 [Andrea Francovich u. a. gegen Italienische Republik], Slg. 1991, I-5357 [43]; EuGH, Urteil 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93 [Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat], 1995, I-04599. 572 Wahl, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozessrecht, Seite 1286. 573 EuGH, Urteil vom 16. Januar 1974, Rs. C-166/73 [Rheinmühlen-Düsseldorf gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1974, 33 [Rn. 2 und 3]. 574 Von Danwitz, Umweltrechtliche Präklusionsnormen, Seite 326. 571

4. „Effet utile“

385

Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift in dem gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen 575. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens 576. Der Effektivitätsgrundsatz statuiert damit einen Mindeststandard, hinter dem das mitgliedsstaatliche (Prozess-) Recht nicht zurückbleiben darf 577. In verschiedenen verfahrensrechtlichen Konstellationen hat sich der Gerichtshof bereits mit den konkreten Folgerungen aus dem Effektivitätsgrundsatz beschäftigt. Dass es sich bei dem Effektivitätsprinzip in der Praxis des Gerichtshofs um ein „kaum berechenbares, flexibles Koordinierungsinstrument auf dem Gebiet des Verwaltungsprozessrechts“ handeln soll 578, das der Gerichtshof „von Fall zu Fall entscheide, [...] [und sich nur] schwer vorhersagen [lasse], wohin die Reise gehen wird“ 579, oder dass sich der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dem Effektivitätsgebot „keine einheitliche Linie entnehmen“ 580 lasse, wird durch die folgende Darstellung und Systematisierung der Fallgruppen widerlegt. (a) Schaffung von Rechtsbehelfen Das europäische Primärrecht hat für Privatpersonen mehrere Möglichkeiten der direkten Klage zu den Unionsgerichten eröffnet. Über diese hinaus will es nicht zusätzlich zu den nach mitgliedsstaatlichem Recht bereits bestehenden Rechtsbehelfen neue Klagemöglichkeiten zur Wahrung des Unionsrechts vor den nationalen Gerichten schaffen 581.

575 EuGH, Urteil 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93 [Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat], 1995, I-04599. 576 EuGH, Urteil vom 29. Oktober 2009, Rs. C-63/08 [Virginie Pontin gegen T-Comalux SA], Juris [Rn. 47]. 577 Ruthig, Transformiertes Gemeinschaftsrecht, Seite 290, der indes fehlerhaft die Anwendung des Prozessrechts nur dann einer Ergebniskontrolle unterwerfen will, „wenn, aber auch nur dann, wenn nach nationalen Recht eine Klagemöglichkeit für im Gemeinschaftsrecht wurzelnde Rechtspositionen nicht gegeben ist“ [Seite 291, ähnlich Seite 292], was die sogleich darzustellenden vielschichtigen Folgerungen aus dem Effektivitätsgrundsatz unvertretbar reduziert. 578 So Schoch, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, Seite 512; ähnlich Hess, Rechtsfragen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 474, der von einem „grobmaschigen Maßstab“ spricht, der dem Gerichtshof „erheblichen Spielraum bei der Kontrolle der nationalen Prozessrechte“ eröffne. 579 Ehlers, Verwaltungsprozessrecht, Seite 1442. 580 Seyr, Effet utile, Seite 175.

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Anders ist dies nur dann, wenn es nach dem System der betreffenden mitgliedsstaatlichen Rechtsordnung keinen Rechtsbehelf gäbe, mit dem wenigstens inzident die Wahrung der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleistet werden könnte 582. In einem solchen Fall müssen die Mitgliedsstaaten den Zugang zu ihren Gerichten einräumen, selbst wenn dies von dem mitgliedsstaatlichen Prozessrecht nicht vorgesehen ist 583. Soweit der Gerichtshof für eine derartige inzidente Überprüfung ein Strafoder Ordnungswidrigkeitenverfahren allein als nicht geeignet ansieht, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten 584, ist dem zuzustimmen. Sich der Gefahr der Strafverfolgung auszusetzen, um inzident die Unionsrechtswidrigkeit einer Maßnahme überprüfen zu lassen, stellt keine Möglichkeit eines „effektiven“ gerichtlichen Rechtsschutzes dar 585. Auf Ordnungswidrigkeitenverfahren und deren gerichtliche Überprüfung oder auf Strafverfahren muss sich niemand verweisen lassen 586. Aus dem Effektivitätsgrundsatz folgt nach dem Gerichtshof daher (nur) dann die Verpflichtung der mitgliedsstaatlichen Gerichte, auch einen in der nationalen Rechtsordnung nicht vorgesehenen Rechtsbehelf zu schaffen, wenn andernfalls die volle Wirksamkeit des Unionsrechts in Bezug auf die aus dem Unionsrecht hergeleiteten Rechte nicht gewährleistet wäre 587. Systematisch handelt es sich bei dieser Forderung des Gerichtshofs letztlich auch um eine nähere Bestimmung 581 EuGH, Urteil vom 13. März 2007, Rs. C-432/05 [Unibet (London) Ltd und Unibet (International) Ltd gegen Justitiekanslern], Slg. 2007, I-02271 [Rn. 40]. 582 EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. C-45/76 [Comet BV gegen Produktschap voor Siergewassen], Slg. 1976, 02043 [Rn. 16]; EuGH, Urteil vom 13. März 2007, Rs. C-432/05 [Unibet (London) Ltd und Unibet (International) Ltd gegen Justitiekanslern], Slg. 2007, I-02271 [Rn. 41, 55 ff.]. 583 Haratsch, Kooperative Sicherung, Seite 91. 584 EuGH, Urteil vom 13. März 2007, Rs. C-432/05 [Unibet (London) Ltd und Unibet (International) Ltd gegen Justitiekanslern], Slg. 2007, I-02271 [Rn. 64]. 585 Haratsch, Kooperative Sicherung, Seite 94. 586 Im deutschen öffentlichen Recht kommt in Bezug auf das Unionsrecht jedenfalls als geeigneter Rechtsbehelf eine Feststellungsklage nach § 43 VwGO gerichtet auf die Feststellung, dass wegen Ungültigkeit oder Unanwendbarkeit einer Rechtsnorm kein Rechtsverhältnis zu dem anderen Beteiligten begründet ist, wobei die Unanwendbarkeit einer Rechtsnorm aus einem Verstoß gegen Unionsrecht, folgt, in Betracht; vgl. BVerwG, Urteil vom 23. August 2007, – BVerwG 7 C 13.06 –, Juris [Rn. 20]; hierzu auch Haratsch, Kooperative Sicherung, Seite 94 ff.; Kraus, Kooperative Sicherung, Seite 123 f.; Gundel, Rechtsschutzlücken, Seite 100; Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 134 ff.; Cremer, Dezentraler Rechtsschutz, Seiten 174 f. und 182 f. 587 EuGH, Urteil vom 19. Juni 1990, Rs. C-213/89 [The Queen gegen Secretary of State for Transport, ex parte: Factortame Ltd u. a.], Slg. 1990, I-02433 [Rn. 21]; zu dieser Entscheidung umfassend Kwanka, Einwirkungen des Europarechts, Seite 43 ff.; hierzu Caranta, Judical Protection, Seite 707 f.; vgl. auch Kraus, Kooperative Sicherung, Seite 124; Hauser, Europarecht im deutschen Verwaltungsprozess, Seite 378 f.

4. „Effet utile“

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der Tragweite des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV unter dem Gesichtspunkt des „effet utile“ dieser Norm 588: Nur wenn überhaupt ein Verfahren zur Verfügung steht, in dem eine Vorabentscheidung eingeholt werden kann, kann auch gewährleistet werden, dass der Gerichtshof bei Zweifelsfragen über die aus dem Unionsrecht folgenden Rechte und Pflichten entscheiden kann. Das Gebot, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts notfalls durch die Schaffung von Rechtsbehelfen sicherzustellen, bedeutet in diesen Fällen zudem eine verfahrensrechtliche Besserstellung von Beteiligten, die ihre Position auf das Unionsrecht stützen können 589. (b) Ausschluss des Berufenkönnens eines Hoheitsträgers auf den Lauf einer Klagefrist bei verspäteter Richtlinienumsetzung Auf eine materielle Rechte nach dem Unionsrecht ausschließende Fristenregelung in einer nationalen Vorschrift kann sich in Anwendung des Effektivitätsprinzips ausnahmsweise ein Staat nicht berufen, der die fraglichen Rechte begründende Richtlinie verspätet umsetzt; erst die ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinie kann den Lauf einer Klagefrist des nationalen Rechts in Gang setzen 590. Dies gilt indes nur in denjenigen Fällen, in denen dem Kläger des Ausgangsverfahrens durch den Ablauf der Klagefrist jede Möglichkeit genommen war, seinen auf eine Unionsrichtlinie gestützten Anspruch auf Gleichbehandlung geltend zu machen 591. 588

Schwarze, Grundzüge, Seite 1071. Cahn, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Seite 977. 590 EuGH, Urteil vom 25. Juli 1991, Rs. C-208/90 [Theresa Emmott gegen Minister for Social Welfare und Attorney General], Slg. 1991, I-04269 [Rn. 22 f.]; kritisch zu diesem Urteil und seine Verbindlichkeit anzweifelnd Stadie, Unmittelbare Wirkung. Auf die besonderen Umstände des durch den Gerichtshof entschiedenen Einzelfalles weisen demgegenüber zutreffend OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 12. Mai 1998, – 12 A 12501/ 97 –, NVwZ 1999, 198 – 201, sowie BVerwG, Beschluss vom 4. Oktober 1999, – BVerwG 1 B 55.99 –, NVwZ 2000, 193 – 194; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn., 444; Ehlers, Europäisierung, Seite 77 ff.; und Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 76, hin. 591 EuGH, Urteil vom 27. Oktober 1993, Rs. C-338/91 [H. Steenhorst-Neerings gegen Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor Detailhandel, Ambachten en Huisvrouwen], Slg. 1993, I-05475 [Rn. 19 ff.]; EuGH, Urteil vom 6. Dezember 1994, Rs. C-410/92 [Elsie Rita Johnson gegen Chief Adjudication Officer], Slg. 1994, I-05483 [Rn. 26]; EuGH, Urteil vom 17. Juli 1997, Rs. C-90/94 [Haahr Petroleum Ltd gegen Åbenrå Havn, Ålborg Havn, Horsens Havn, Kastrup Havn NKE A / S, Næstved Havn, Odense Havn, Struer Havn und Vejle Havn, Streithelfer: Trafikministeriet], Slg. 1997, I-04085 [Rn. 52]; EuGH, Urteil vom 17. Juli 1997, Rs. C-114/95 und C-115/95 [Texaco A / S gegen Middelfart Havn, Århus Havn, Struer Havn, Ålborg Havn, Fredericia Havn, Nørre Sundby Havn, 589

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

(c) Mitgliedsstaatliche Entschädigungsobergrenzen, die nicht geeignet sind, diskriminierende Wirkungen richtlinienkonform angemessen auszugleichen Auch sind etwa Höchstgrenzen des nationalen Schadensersatzrechts als Ausfluss des Effektivitätsgrundsatzes unbeachtlich, wenn in Umsetzung einer Richtlinie, deren Ziel die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen in den Mitgliedstaaten ist, und in deren Umsetzung der Mitgliedsstaat eine finanzielle Wiedergutmachung gewählt hat, die danach mögliche Wiedergutmachung jedoch unangemessen in dem Sinne ist, dass sie nicht geeignet ist, die durch die diskriminierende Entlassung tatsächlich entstandenen Schäden gemäß den anwendbaren staatlichen Regeln in vollem Umfang auszugleichen. In einem derartigen Fall ist die Obergrenze des mitgliedsstaatlichen Rechts für eine Entschädigung nicht anwendbar 592. (d) Setzung angemessener Ausschlussfristen Demgegenüber kann die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung in dem Interesse der Rechtssicherheit mit dem Unionsrecht vereinbar sein, da solche Fristen nicht geeignet sind, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren 593. Denn eine angemessene Ausschlussfrist lässt dem Einzelnen regelmäßig hinreichend Zeit, seine aus dem Unionsrecht folgenden Rechte geltend zu machen, und sie stellt einen Anwendungsfall des für die Unionsrechtsordnung grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit dar 594.

Hobro Havn, Randers Havn, Åbenrå Havn, Esbjerg Havn, Skagen Havn und Thyborøn Havn und Olieselskabet Danmark amba gegen Trafikministeriet, Fredericia Kommune, Køge Havn, Odense Havnevæsen, Holstebro-Struer Havn, Vejle Havn, Åbenrå Havn, Ålborg Havnevæsen, Århus Havnevæsen, Frederikshavn Havn, Esbjerg Havn], Slg. 1997, I-04263 [Rn. 47. ff]; EuGH, Urteil vom 02. Dezember 1997, Rs. C-188/95 [Fantask A / S e.a. gegen Industriministeriet (Erhvervministeriet], Slg. 1997, I-06783 [Rn. 51]. 592 EuGH, Urteil vom 2. August 1993, Rs. C-271/91 [M. Helen Marshall gegen Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority], Slg. 1993, I-04367 [Rn. 26 und 30]. 593 EuGH, Urteil vom 29. Oktober 2009, Rs. C-63/08 [Virginie Pontin gegen T-Comalux SA], Juris [Rn. 48]; zu diesem Urteil insoweit Epiney, Grundfreiheiten und Gleichstellungsrecht, Seite 1070; vergleiche auch allgemein Ehlers, Europäisierung, Seite 75. 594 EuGH, Urteil vom 16. Mai 2000, Rs. C-78/98 [Shirley Preston u. a. gegen Wolverhampton Healthcare NHS Trust u. a. und Dorothy Fletcher u. a. gegen Midland Bank plc.], Slg. 2000, I-03201 [Rn. 33]; zu diesem Urteil ausführlich Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 67 ff.; jüngst etwa EuGH, Urteil vom 8. Juli 2010, Rs. C-246/09 [Susanne Bulicke gegen Deutsche Büro Service GmbH], NJW 2010, 2713 [Rn. 36].

4. „Effet utile“

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Der Gerichtshof hat zu den Ausschlussfristen außerdem entschieden, dass es Sache der Mitgliedsstaaten ist, für nationale Regelungen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, Fristen festzulegen, die insbesondere der Bedeutung der zu treffenden Entscheidungen für die Betroffenen, der Komplexität der Verfahren und der anzuwendenden Rechtsvorschriften, der Zahl der potenziell Betroffenen und den anderen zu berücksichtigenden öffentlichen oder privaten Belangen entsprechen 595. Eine Ausschlussfrist von sechs Monaten etwa kann nach dem Gerichtshof nicht als Hindernis für die Erlangung von auf dem Unionsrecht beruhenden Rechten angesehen werden, da eine solche Frist die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht unmöglich macht und sie nicht übermäßig erschwert, sodass sie den Wesensgehalt dieser Rechte selbst dann nicht antastet, wenn diese Frist zu einer vollständigen oder teilweisen Abweisung der aufgrund des Unionsrechts erhobenen Klage führt 596. Zu einer Klagefrist von drei Monaten nach der Niederlegung eines Schiedsspruchs hat der Gerichtshof 597 entschieden, dass diese „gemessen an den in den Rechtsordnungen der anderen Mitgliedsstaaten vorgesehenen Fristen nicht unangemessen kurz“ erscheine und nicht dazu führe, „dass die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte übermäßig erschwert oder praktisch unmöglich gemacht“ werde, sondern eine solche Frist vielmehr „durch grundlegende Prinzipien des nationalen Rechtssystems, wie das der Rechtssicherheit und das daraus abgeleitete Prinzip der Beachtung der Rechtskraft, gerechtfertigt“ sei. Auch eine Ausschlussfrist von 60 Tagen für die Einlegung von Rechtsbehelfen, um die aus einer Richtlinie folgenden Rechte geltend zu machen, ist unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit gerechtfertigt und mit dem Grundsatz der Effektivität daher vereinbar 598. Zu prüfen ist jedoch, ob die Anwendung einer solchen Frist auch unter den konkreten Umständen des jeweiligen Falles mit 595 EuGH, Urteil vom 24. September 2002, Rs. C-255/00 [Grundig Italiana SpA gegen Ministero delle Finanze], Slg. 2002, I-8003 [Rn. 34]; EuGH, Urteil vom 12. Februar 2008, Rs. C-2/06 [Willy Kempter KG gegen Hauptzollamt Hamburg-Jonas], Slg. 2008, I-411 [Rn 58 mit weiteren Nachweisen]; EuGH, Urteil vom 18. Dezember 2008, Rs. C-349/07 [Sopropé – Organizações de Calçado Lda gegen Fazenda Pública], Juris [Rn. 40]; EuGH, Urteil vom 29. Oktober 2009, Rs. C-63/08 [Virginie Pontin gegen T-Comalux SA], Juris [Rn. 48]. 596 EuGH, Urteil vom 16. Mai 2000, Rs. C-78/98 [Shirley Preston u. a. gegen Wolverhampton Healthcare NHS Trust u. a. und Dorothy Fletcher u. a. gegen Midland Bank plc.], Slg. 2000, I-03201 [Rn. 33 und 67]. 597 EuGH, Urteil vom 1. Juni 1999, Rs. C-126/97 [Eco Swiss China Time Ltd gegen Benetton International NV], Slg. 1999, I-03055 [Rn. 44 bis 46]. 598 EuGH, Urteil vom 27. Februar 2003, Rs. C-327/00 [Santex SpA gegen Unità Socio Sanitaria Locale n. 42 di Pavia, Beteiligte: Sca Mölnlycke SpA, Artsana SpA und Fater

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

dem Effektivitätsprinzip vereinbar ist; dies ist etwa dann nicht der Fall, wenn ein „wechselhaftes Verhalten“ 599 des beteiligten Hoheitsträgers einen Rechtsträger daran gehindert hat, seine Rechte aus dem Unionsrecht innerhalb der Ausschlussfrist geltend zu machen 600, oder wenn der Rechtsinhaber mangels einer entsprechenden Kenntnis eines Richtlinienverstoßes – etwa dem einer Diskriminierung wegen des Alters – nicht in der Lage ist, die durch die Richtlinie gewährten Rechte zu verfolgen 601. Auch eine Anfechtungsfrist von 60 Tagen – etwa gegen einen Schiedsspruch – ist insoweit unbedenklich 602. Die bundesgesetzlichen Fristen zur Einlegung von Rechtsbehelfen von einem Monat sind ebenfalls als angemessen anzusehen 603. Demgegenüber hat der Gerichtshof den Grundsatz der Effektivität bei einer Fünfzehntagesfrist für die Klage einer schwangeren Frau „in Anbetracht unter anderem der Lage, in der sich eine Frau zu Beginn der Schwangerschaft befindet, als besonders kurz an[ge]sehen“, zumal bei der zugrundeliegenden nationalen Rechtslage „mehrere Tage vergehen [können], die in die Fünfzehntagesfrist eingerechnet werden, bevor die schwangere Frau das Kündigungsschreiben erhält und so von ihrer Kündigung erfährt“ 604, da das mitgliedsstaatliche Recht bestimmte, dass der Lauf der Fünfzehntagesfrist nach der Rechtsprechung der (luxemburgischen) Gerichte mit der Aufgabe des Kündigungsschreibens zur Post begann. Entsprechendes gilt für Verjährungsfristen, für die der Gerichtshof entschieden hat, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung in dem Interesse der Rechtssicherheit, die zugleich den Betroffenen und die Behörde schützt, mit dem Unionsrecht vereinbar ist, da solche Fristen nämlich nicht geeignet sind, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung SpA], Slg. 2003, I-01877 [Rn. 54]; EuGH, Urteil vom 8. Juli 2010, Rs. C-246/09 [Susanne Bulicke gegen Deutsche Büro Service GmbH], NJW 2010, 2713 [Rn. 39]. 599 Begrifflich zu verstehen in dem Sinne eines treuwidrigen Verhaltens. 600 EuGH, Urteil vom 27. Februar 2003, Rs. C-327/00 [Santex SpA gegen Unità Socio Sanitaria Locale n. 42 di Pavia, Beteiligte: Sca Mölnlycke SpA, Artsana SpA und Fater SpA], Slg. 2003, I-01877 [Rn. 57, 58 und 61]. 601 EuGH, Urteil vom 8. Juli 2010, Rs. C-246/09 [Susanne Bulicke gegen Deutsche Büro Service GmbH], NJW 2010, 2713 [Rn. 40]. 602 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom Telecomunicaciones SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris [Rn. 43]. 603 EuGH, Urteil vom 19. September 2006, Rs. C-392/04 und C-422/04 [i-21 Germany GmbH (C-392/04) und Arcor AG & Co. KG (C-422/04) gegen Bundesrepublik Deutschland], Slg. 2006, I-08559 [Rn. 59, 60, 62]. 604 EuGH, Urteil vom 29. Oktober 2009, Rs. C-63/08 [Virginie Pontin gegen T-Comalux SA], Juris [Rn. 62 und 63].

4. „Effet utile“

391

verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren 605. (e) Durchbrechung von Vorschriften des nationalen Rechts, in denen der Grundsatz der Rechtskraft verankert ist Auch die Frage, ob die Anwendung einer den Grundsatz der Rechtskraft 606 aufstellenden Vorschrift des nationalen Rechts möglich ist, wenn durch diese Anwendung ein dem Unionsrecht zuwiderlaufendes Ergebnis bestätigt würde, war Gegenstand der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Ob eine Vorschrift des nationalen Rechts, die den Grundsatz der Rechtskraft aufstellt, auch dann anzuwenden ist, wenn durch diese Anwendung ein dem Unionsrecht zuwiderlaufendes Ergebnis bestätigt wird, ist mangels unionsrechtlicher Vorschriften – in den Grenzen der erläuterten Grundsätze der Gleichwertigkeit und der Effektivität – ausgehend von der Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten eine Frage der Auslegung der mitgliedsstaatlichen Rechtsordnung 607. Nach dem Gerichtshof hat der Grundsatz der Rechtskraft sowohl in der Unionsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen eine besondere Bedeutung 608. Denn der Grundsatz der Rechtskraft ist zu einer Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie zu einer geordneten Rechtspflege erforderlich und gewährleistet von seinem Inhalt her, dass die nach der Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordenen Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können. Auch in dem bundesdeutschen Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrecht stellen die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen wie auch die Bestandskraft von Verwaltungsakten ein wesentliches, Rechtsfrieden und Rechtsbeständigkeit den Vorrang gegenüber der Einzelfallgerechtigkeit einräumendes Strukturelement dar 609.

605 EuGH, Urteil vom 15. April 2010, Rs. C-542/08 [Friedrich G. Barth gegen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung], Juris [Rn. 28]. 606 Zu diesem umfassend und rechtsvergleichend Germelmann, Rechtskraft. 607 EuGH, Urteil vom 3. September 2009, Rs. C-2/08 [Amministrazione dell’Economia e delle Finanze und Agenzia delle entrate gegen Fallimento Olimpiclub Srl.], Juris [Rn. 22]. 608 EuGH, Urteil vom 30. September 2003, Rs. C-224/01 [Gerhard Köbler gegen Republik Österreich], Slg. 2003, I-10239 [Rn. 38]; EuGH, Urteil vom 16. März 2006, Rs. C-234/04 [Rosmarie Kapferer gegen Schlank & Schick GmbH], Slg. 2006, I-02585 [Rn. 20]. 609 Stadie, Unmittelbare Wirkung, Seite 436.

392

V. Unionsrechtliche Vorgaben

Aufgrund dieser Bedeutung des Grundsatzes der Rechtskraft gebietet es deshalb das Unionsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund derer eine Entscheidung Rechtskraft erlangt hat, abzusehen, auch wenn dadurch ein Verstoß dieser neuen Entscheidung gegen Unionsrecht hervorgerufen werden könnte 610. Anders ist dies nach dem Gerichtshof dann, wenn die Auslegung des Grundsatzes der Rechtskraft durch das mitgliedsstaatliche Gericht dazu führt, dass eine rechtskräftig gewordene gerichtliche Entscheidung, die auf einer unionsrechtswidrigen Auslegung der unionsrechtlichen Vorschriften beruht, sich für die Zukunft wiederholt und damit perpetuiert, ohne dass diese in dem Hinblick auf das Unionsrecht fehlerhafte Auslegung korrigiert werden kann. Denn eine derartige Behinderung der effektiven Anwendung der unionsrechtlichen Regeln auch für die Zukunft ist durch den Grundsatz der Rechtssicherheit nicht zu rechtfertigen und widerspricht dem Effektivitätsgrundsatz 611. Diese Rechtsprechung des Gerichtshofs ist dahingehend verallgemeinerungsfähig, dass die in dem mitgliedsstaatlichen Recht vorgesehene Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen jedenfalls nicht dazu führen darf, dass eine in einer solchen rechtskräftigen Gerichtsentscheidung enthaltene Unionsrechtswidrigkeit sich über den Einzelfall hinaus für die Zukunft perpetuiert und die Unionsrechtswidrigkeit für die Zukunft festgeschrieben wird 612. Entsprechendes gilt nach dem Gerichtshof für erkanntermaßen unionsrechtswidrige, aber bestandskräftige konkret-individuelle Verwaltungsentscheidungen 613: Diese können nach dem Prinzip des Anwendungsvorrangs 614 des Unionsrechts nicht zu einer Grundlage weiterer selbständiger Verwaltungsentscheidungen – etwa einer Geldbuße wegen der Nichtbefolgung einer bestandskräftigen, aber unionsrechtswidrigen Nebenbestimmung – gemacht werden 615, können aber 610 EuGH, Urteil vom 3. September 2009, Rs. C-2/08 [Amministrazione dell’Economia e delle Finanze und Agenzia delle entrate gegen Fallimento Olimpiclub Srl.], Juris [Rn. 23]. 611 EuGH, Urteil vom 3. September 2009, Rs. C-2/08 [Amministrazione dell’Economia e delle Finanze und Agenzia delle entrate gegen Fallimento Olimpiclub Srl.], Juris [Rn. 30 f.]. 612 Epiney, Europäisches Verfassungsrecht 2009, Seite 1005. 613 Hierzu Weiß, Bestandskraft, Seite 478. 614 Insoweit weist Weiß, Bestandskraft, Seiten 480 und 487, zutreffend darauf hin, dass die Frage einer Kollision zwischen einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung und dem materiellen Unionsrecht eigentlich eine solche direkter Art darstellt, die jedenfalls für die Zukunft an dem Vorrangprinzip zu messen ist, demgegenüber die Bestandskraft als solche aber an den Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz zu messen ist. 615 EuGH, Urteil vom 29. April 1999, Rs. C-224/97 [Erich Ciola gegen Land Vorarlberg], Slg. 1999, I-02517; zu den besonderen Umständen dieses Falles Weiß, Bestandskraft, Seite 480.

4. „Effet utile“

393

gleichwohl in den Grenzen der Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz etwa einer Vollstreckung zugänglich sein 616. Dem ist zuzustimmen. Würde eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, die gegen das Unionsrecht verstößt, zu einer Grundlage auch aller künftigen gerichtlichen Entscheidungen dahingehend gemacht werden müssen, dass die mitgliedsstaatlichen Gerichte sehenden Auges dem Unionsrecht objektiv widersprechende Urteile fällen müssten, so würden sowohl der Grundsatz des „effet utile“ als auch der Anwendungsvorrang des Unionsrechts leerlaufen und sich ein Unionsrechtsverstoß ohne Korrekturmöglichkeit perpetuieren. Die Rechtskraft mitgliedsstaatlicher, objektiv unionsrechtlicher Gerichtsentscheidungen kann damit allein für den rechtskräftig entschiedenen Streitgegenstand, nicht aber für weitere Streitgegenstände einen Verstoß gegen das Unionsrecht rechtfertigen. Entsprechendes gilt für einen mitgliedsstaatlichen Grundsatz der Bestandskraft unionsrechtswidriger Verwaltungsentscheidungen. Aus dem unionsrechtlichen Rechtsstaatsprinzip folgt nicht nur der Grundsatz der Bestandskraft als Teil der Rechtssicherheit, sondern auch das Prinzip der materiellen Richtigkeit einer Vollzugesentscheidung 617. Ein Zielkonflikt zwischen diesen beiden Elementen der Rechtsstaatlichkeit tritt bei unionsrechtswidrigen, aber bestandskräftigen Vollzugesentscheidungen insoweit zu Tage, als grundsätzlich die Rechtssicherheit dafür streitet, dass Verwaltungsentscheidungen nicht zeitlich unbefristet in Frage gestellt werden können, während das Prinzip der materiellen Richtigkeit für eine Fehlerkorrektur streitet. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt sich in diesem Spannungsfeld regelmäßig der Grundsatz der Bestandskraft und damit das Element der Rechtssicherheit durch, denn es besteht ein erhebliches Interesse an nach dem Ablauf angemessener Fristen oder durch eine Erschöpfung des Rechtsweges bestandskräftigen Verwaltungsentscheidungen sowie an einer geordneten Rechtspflege und der Verfahrensökonomie 618. Anders ist dies nur dann, wenn der Grundsatz der Unionstreue ausnahmsweise eine Durchbrechung der Rechts- oder Bestandskraft rechtfertigt. Dies ist 616 Niedobitek, Kollisionen, Seite 79; anderer Ansicht wohl Weiß, Bestandskraft, Seite 487, der den Anwendungsvorrang des Unionsrechts auch als umfassendes Vollzugs- und Vollstreckungshindernis ansieht und damit der Sache nach das Prinzip der Bestandskraft auf eine bloße formelle Hülle reduziert. 617 Kraus, Kooperative Sicherung, Seite 125. 618 EuGH, Urteil vom 14. September 1999, Rs. C-310/97 P [Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen AssiDomän Kraft Products AB, Iggesunds Bruk AB, Korsnäs AB, MoDo Paper AB, Södra Cell AB, Stora Kopparbergs Bergslags AB und Svenska Cellulosa AB], Slg. 1999, I-05363 [Rn. 61]; EuGH, Urteil vom 19. September 2006, Rs. C-392/04 und C-422/04 [i-21 Germany GmbH (C-392/04) und Arcor AG & Co. KG (C-422/04) gegen Bundesrepublik Deutschland], Slg. 2006, I-08559 [Rn. 51].

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

nach dem Gerichtshof 619 mit den Folgen einer Verpflichtung zu einer Überprüfung der bestandskräftigen Entscheidung und ihrer eventuellen Rücknahme der Fall, wenn kumulativ (1) die Behörde nach dem von ihr anzuwendenden mitgliedsstaatlichen Recht befugt ist, diese bestandskräftige Entscheidung zurückzunehmen, (2) die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden mitgliedsstaatlichen Gerichts bestandskräftig geworden ist, (3) dieses mitgliedsstaatliche letztinstanzliche Urteil ausweislich einer nach seinem Erlass ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs auf einer unrichtigen Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Artikels 267 Abs. 3 AEUV erfüllt war, und (4) wenn sich der Betroffene, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichtshofs erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt und die Rücknahme der bestandskräftigen Entscheidung beantragt hat 620. Weitere Voraussetzung ist, dass durch eine Rücknahmeentscheidung die Belange Dritter nicht verletzt werden 621. Ratio der Formulierung dieser Voraussetzungen durch den Gerichtshof ist, dass das Prinzip der Rechtssicherheit (nur) in denjenigen Fällen hinter dem Prinzip der Rechtmäßigkeit zurücktreten soll, in denen der Einzelne in seinem Verhältnis zu staatlichen Stellen alle ihm zumutbaren und möglichen Schritte unternommen hat, um sein Recht durchzusetzen, die angegangenen Gerichte jedoch gleichwohl insbesondere unter Verletzung der unionsrechtlichen Vorlageverpflichtung des Art. 267 Abs. 3 AEUV entschieden haben 622. Auch an dieser Rechtsprechung wird daher wieder die herausragende Bedeutung, die der Gerichtshof dem Vorabentscheidungsverfahren zumisst, deutlich. Zudem ist diese Rechtsprechung des Gerichtshofs dadurch gekennzeichnet, dass der Gerichtshof in hohem Maße mitgliedsstaatliche Rücknahmeregelungen akzeptiert, die ihrerseits ja auch schon einen Ausgleich zwischen den Prinzipien der Gesetzmäßigkeit und der Rechtssicherheit suchen 623.

619 EuGH, Urteil vom 13. Januar 2004, Rs. C-453/00 [Kühne & Heitz NV gegen Produktschap voor Pluimvee en Eieren], Slg. 2004, I-00837 [Rn 28]; EuGH, Urteil vom 19. September 2006, Rs. C-392/04 und C-422/04 [i-21 Germany GmbH (C-392/04) und Arcor AG & Co. KG (C-422/04) gegen Bundesrepublik Deutschland], Slg. 2006, I-08559 [Rn. 52]. 620 Zu diesen Voraussetzungen auch Kanitz / Wendel, Bestandskraftdurchbrechung, Seite 232; Büscher, Interdependenzen, Seite 217 f.; Eicker / Ketteler, Verfahrensrechtliche Durchsetzung, Seite 133; Germelmann, Rechtskraft, Seite 266. 621 Kokott / Henze / Sobotta, Pflicht zur Vorlage, Seite 639. 622 Kokott / Henze / Sobotta, Pflicht zur Vorlage, Seite 639. 623 Weiß, Bestandskraft, Seite 484.

4. „Effet utile“

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(f) Die Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen Zu den denkbaren unionsrechtlichen Rechtsanwendungsfehlern und zu dem Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO wurde gezeigt, dass ein Berufungszulassungsantragssteller nach der bisherigen Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte durch das Unterlassen tatsächlich oder rechtlichen Vortrags die Anwendung des Unionsrechts (unabsichtlich oder absichtlich) prozessual vereiteln kann. Es ist daher zu untersuchen, ob und in welchen Fällen eine Berücksichtigungsfähigkeit oder -verpflichtung unionsrechtlich relevanter Tatsachen oder Rechtsnormen von Amts wegen besteht. Auch kommt in Betracht, dass sekundärrechtliche Normen selbst ihre amtswegige Berücksichtigung fordern. Zu der Frage der Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen und ihrer Begrenzung durch die Bindung des mitgliedsstaatlichen Gerichts an das Parteivorbringen und an den Streitgegenstand liegen eine umfangreiche Judikatur des Gerichtshofs sowie einige Versuche – insbesondere der Zivilrechtswissenschaft – zu deren Systematisierung vor. Ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs ohnehin schon allgemein dadurch gekennzeichnet, dass der Verweis auf die vorherige Rechtsprechung in ausgeprägtem Maße zu einer Legitimation von Entscheidungen dient 624, so weist der Gerichtshof für die Frage der Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen explizit darauf hin, dass er den mitgliedsstaatlichen Gerichten in seinen Urteilen Hinweise zu der Auslegung der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz geben wolle, damit diese beurteilen könnten, ob sie nach dem Unionsrecht gehalten seien, „nationale Regelungen [...] wegen Verletzung des Unionsrechts durch ein nationales Gesetz unangewendet zu lassen“ 625. In der unionsrechtlichen Literatur wird dem Gerichtshof „in diesem Bereich eine dynamisch ausgreifende Rechtsprechung“ 626, die eine einheitliche Linie noch nicht sicher erkennen lasse 627, attestiert, und die einer dogmatischen Aufbereitung bedürfe. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu einer Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen wird sogar als von einem „heillosen Durcheinander“ 628 gekennzeichnet angesehen. Im Folgenden sollen demgegenüber verallgemeinerungsfähige Grundsätze der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu einer Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen anhand der deutlich erkennbaren Rechtsprechungslinien des Gerichtshofs herausgearbeitet werden. 624

Von Danwitz, Kooperation der Gerichtsbarkeiten, Seite 146. EuGH, Urteil vom 26. Januar 2010, Rs. C-118/08 [Transportes Urbanos y Servicios Generales SAL gegen Administración del Estado], Juris [Rn. 26]. 626 Von Danwitz, Eigenverantwortung, Seite 423. 627 Heinze, Europäisches Primärrecht und Zivilprozess, Seite 664. 628 Weymüller, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93, Seite 348. 625

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Entwicklungslinien der Rechtsprechung des Gerichtshofs lassen sich aus meiner Sicht für die Bereiche des Vorhandenseins positiver Verfahrensregelungen in Richtlinien der Union sowie dem – hiermit zusammenhängenden – allgemeinen Gebot einer richtlinienkonformen Auslegung des mitgliedsstaatlichen (Prozess-)rechts [hierzu (bb)], zu der Frage, ob Voraussetzung der Anwendbarkeit des Unionsrechts dessen Geltendmachung im Prozess ist, oder ob diese von Amts wegen zu erfolgen hat [hierzu (aa)], und zu der Ausstrahlungswirkung des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV [hierzu (cc)] unterscheiden. Bei der Bildung dieser Entwicklungslinien ist zu berücksichtigen, dass einige der in der Literatur breit diskutierten Entscheidungen des Gerichtshofs insoweit nur beschränkt verallgemeinerungsfähig sind, als sie maßgeblich durch die jeweiligen besonderen Umstände des Einzelfalls geprägt waren, dass also zwischen dogmatischen Grundsatzurteilen und Urteilen, die den konkreten Umständen des Einzelfalls geschuldet sind, zu unterscheiden ist. Ferner ist festzustellen, dass einige der maßgeblichen Entscheidungen bei einer genaueren Analyse eher dem Prinzip der Äquivalenz als dem der Effektivität zuzuordnen sind, auch wenn sie unter dem letztgenannten Topos ergangen sind, und dass – insbesondere in dem Bereich der Richtlinien – Überschneidungen und Annäherungen mit bzw. an das Prinzip des Vorrangs des Unionsrechts zu verzeichnen sind. (aa) Die Geltendmachung des Unionsrechts durch die Beteiligten als Voraussetzung seiner Anwendbarkeit im Prozess (α) Rs. C-87/90, C-88/90 und C-89/90 Im Jahr 1991 hatte der Gerichtshof 629 erstmals konkret die Frage zu entscheiden, ob das Unionsrecht ein nationales Gericht daran hindert, von Amts wegen die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit den genauen und unbedingten Vorschriften einer Richtlinie, für die die Umsetzungsfrist abgelaufen ist, zu prüfen, wenn der Einzelne sich vor dem Gericht auf diese Richtlinie nicht berufen hat. Mit einer Streitigkeit zwischen einer staatlichen Rentenkasse auf der einen und rentenberechtigten Bürgern auf der anderen Seite betraf die Entscheidung das Verhältnis zwischen Privatrechtssubjekten und Staat als einander gegenüber stehenden Beteiligten. Seiner rechtlichen Würdigung 630 hat der Gerichtshof als rechtlichen Ausgangspunkt seiner Beurteilung das Vorabentscheidungsverfahren und seine diesbezügliche Rechtsprechung 631 vorangestellt, nach der die nationa629 EuGH, Urteil vom 11. Juli 1991, Rs. C-87/90, C-88/90 und C-89/90 [A. Verholen und andere gegen Sociale Verzekeringsbank Amsterdam], Slg. 1991, I-03757. 630 EuGH, Urteil vom 11. Juli 1991, Rs. C-87/90, C-88/90 und C-89/90 [A. Verholen und andere gegen Sociale Verzekeringsbank Amsterdam], Slg. 1991, I-03757 [Rn. 12]. 631 EuGH, Urteil vom 16. Januar 1974, Rs. C-166/73 [Rheinmühlen-Düsseldorf gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1974, 33 [Rn. 3].

4. „Effet utile“

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len Gerichte berechtigt und unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet sind, zur Vorabentscheidung vorzulegen, sofern sie von Amts wegen oder auf Anregung der Parteien feststellen, dass es für die Entscheidung des Rechtsstreits auf eine der in Art. 267 AEUV genannten Fragen ankommt. Da diese Befugnis der mitgliedsstaatlichen Gerichte, die Frage der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahren auch von Amts wegen aufzuwerfen, voraussetze, dass nach der Ansicht des nationalen Gerichts entweder das Unionsrecht anzuwenden sei – wobei das nationale Recht, wenn nötig, unangewendet bleibe – oder das nationale Recht in Einklang mit dem Unionsrecht auszulegen sei 632, und da sich eine solche Frage der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens insbesondere bei einer von den nationalen Stellen nicht innerhalb der festgesetzten Frist umgesetzte Richtlinie stellen könne, die für die Mitgliedsstaaten verbindlich ist und deren genaue und unbedingte Vorschriften der Rechtsprechung des Gerichtshofes zufolge von einem nationalen Gericht unmittelbar angewendet werden können 633, schließe das dem Einzelnen zuerkannte Recht, sich vor dem nationalen Gericht unter bestimmten Umständen auf eine Richtlinie zu berufen, für die die Umsetzungsfrist abgelaufen sei, daher die Befugnis des nationalen Gerichts nicht aus, diese Richtlinie auch dann zu berücksichtigen, wenn sich der Einzelne nicht auf sie berufen habe 634. Daraus folge, dass das Unionsrecht ein nationales Gericht nicht daran hindere, von Amts wegen die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit den genauen und unbedingten Vorschriften einer Richtlinie, für die die Umsetzungsfrist abgelaufen ist, zu prüfen, wenn der Einzelne sich vor dem Gericht auf diese Richtlinie nicht berufen habe 635. In der zivilrechtlichen Literatur 636 wird zutreffend darauf hingewiesen, dass aufgrund der von dem aussetzenden und vorlegenden Gericht formulierten Fragen hier allein von dem Gerichtshof zu entscheiden gewesen war, ob eine Befugnis zu einer amtswegigen Berücksichtigung des Unionsrechts durch die mitgliedsstaatlichen Gerichte existiere, nicht aber, ob eine Verpflichtung zu einer Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen bestehe.

632

EuGH, Urteil vom 11. Juli 1991, Rs. C-87/90, C-88/90 und C-89/90 [A. Verholen und andere gegen Sociale Verzekeringsbank Amsterdam], Slg. 1991, I-03757 [Rn. 13]. 633 EuGH, Urteil vom 11. Juli 1991, Rs. C-87/90, C-88/90 und C-89/90 [A. Verholen und andere gegen Sociale Verzekeringsbank Amsterdam], Slg. 1991, I-03757 [Rn. 14]. 634 EuGH, Urteil vom 11. Juli 1991, Rs. C-87/90, C-88/90 und C-89/90 [A. Verholen und andere gegen Sociale Verzekeringsbank Amsterdam], Slg. 1991, I-03757 [Rn. 15]. 635 EuGH, Urteil vom 11. Juli 1991, Rs. C-87/90, C-88/90 und C-89/90 [A. Verholen und andere gegen Sociale Verzekeringsbank Amsterdam], Slg. 1991, I-03757 [Rn. 16]. 636 Herb, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationaler Zivilprozess, Seite 18; Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 140.

398

V. Unionsrechtliche Vorgaben

(β) Rs. C-430/93 und C-431/93 Zu dem Verhältnis einer Streitigkeit zwischen Privaten hatte der Gerichtshof am 14. Dezember 1995 in der verbundenen Rechtssache van Schijndel und van Veen 637 Stellung zu nehmen. Dem Vorabentscheidungsverfahren lag ein Rechtsmittelverfahren eines niederländischen Gerichts zu Grunde, das nach dem nationalen Zivilprozessrecht dadurch gekennzeichnet war, dass das Rechtsmittelgericht in dem Rechtsmittelzug allein neues rechtliches Vorbringen berücksichtigen durfte, nicht hingegen solches tatsächlicher Art, zudem das angegangene Rechtsmittelgericht auch den Vortrag, dass eine Zwangsmitgliedschaft in einem Berufsrentensystem mit den Wettbewerbsregelungen des Unionsrechts unvereinbar sei, zählte 638. Der Gerichtshof charakterisierte die in Rede stehenden Regelungen des Unionsrechts über den freien Wettbewerb zunächst als zwingende, in der nationalen Rechtsordnung unmittelbar anwendbare Vorschriften 639 und stellte fest, dass die Verpflichtung zu einer Rechtsprüfung durch ein mitgliedsstaatliches Gericht von Amts wegen aufgrund des mitgliedsstaatlichen Prozessrechts auch diese zwingenden Unionsrechtsbestimmungen mit umfasse 640, und dass eine solche Prüfungspflicht des zwingenden Unionsrechts von Amts wegen auch bei einer bloßen Befugnis, mitgliedsstaatliches Recht von Amts wegen zu prüfen, bestehe 641: Gestattet das nationale Prozessrecht auch in Anbetracht der Verfügungsbefugnis der Parteien über die Ansprüche und die ihnen zugrunde zu legenden Normen eine Prüfung von Rechtsvorschriften von Amts wegen, so verdichtet sich in dem Bereich des Unionsrechts diese Möglichkeit der Rechtsanwendung zu einer Anwendungsverpflichtung für das mitgliedsstaatliche Gericht 642. Aus der allgemeinen Mitwirkungspflicht des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV bei der Gewährleistung 637

EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705. 638 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 10,11]. 639 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 13]. 640 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 13]. 641 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 14 und 15]. 642 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 14].

4. „Effet utile“

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effektiven Rechtsschutzes ist zu folgern, dass eine mitgliedsstaatlich eingeräumte Prüfungsbefugnis in Ansehung des Unionsrechts zu einer Prüfungsverpflichtung für die mitgliedsstaatlichen Gerichte avanciert 643. Allerdings müssen die mitgliedsstaatlichen Gerichte wegen der Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten und unter Einbeziehung des Effektivitätsgrundsatzes dann nicht von Amts wegen Fragen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht aufgreifen, wenn sie dadurch die ihnen durch das nationale Prozessrecht aufgegebene grundsätzliche Passivität aufgeben müssten, indem sie die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten und sich auf andere Tatsachen und Umstände stützen, als sie die Prozesspartei, die ein Interesse an ihrer Anwendung hat, ihrem Begehren zugrunde legt 644. In der zivilrechtlichen Literatur ist zu diesem Urteil die Frage diskutiert worden, wie der Begriff der „zwingenden Unionsvorschriften“ zu verstehen sei. Insoweit wird vertreten 645, dass „zwingend“ mit „nicht parteidispositiv“ zu übersetzen sei. Nach anderer Formulierung qualifiziere der Gerichtshof „jene gemeinschaftsrechtlichen Normen als zwingend [...], welche in erster Linie zivilrechtliche Beziehungen betreffen und privatrechtlichen Rechtssubjekten Rechte einräumen und Pflichten auferlegen, welche die Beteiligten vertraglich nicht abändern bzw. auf welche sie nicht verzichten dürfen“ 646. Zur Begründung wird angeführt, dass der Gerichtshof zwar durch die Formulierung „zwingende, in den nationalen Rechtsordnungen unmittelbar anwendbare Vorschriften“ 647 einen Beziehung zwischen den Rechtsbegriffen „zwingend“ und „unmittelbar anwendbar“ hergestellt habe, was vordergründig für eine Gleichsetzung beider Begriffe angeführt werden könne. Jedoch habe der Gerichtshof mit der anschließenden Formulierung „Soweit die Gerichte nach dem nationalen Recht die rechtlichen Gesichtspunkte, die sich aus einer von den Parteien nicht geltend gemachten innerstaatlichen Vorschrift zwingenden Charakters ergeben, von Amts wegen prüfen müssen, besteht eine solche Verpflichtung auch dann, wenn es sich um zwingende Gemeinschaftsvorschriften handelt“ 648, den Begriff „zwingend“ allein auf die nationalen Vorschriften bezogen, für die die Theorie der unmittelbaren Anwendbarkeit des Unionsrechts nicht gelte, da mitgliedsstaatliches Recht ohne 643

Von Danwitz, Umweltrechtliche Präklusionsnormen, Seite 326. EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 22]. 645 Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 151 mit Fußnote 42; Herb, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationaler Zivilprozess, Seite 21 f. 646 Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 142 f. 647 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 13] zur Charakterisierung der Wettbewerbsregelungen des Primärrechts. 644

400

V. Unionsrechtliche Vorgaben

die dogmatische Notwendigkeit der Umgehung eines Transformationsaktes immer unmittelbar anwendbar sei. Der von dem Gerichtshof benutze Begriff des „zwingenden“ Rechts sei daher mit „nicht parteidispositiv“ zu erläutern; diese Eigenschaft könnten sowohl mitgliedsstaatliche Vorschriften als auch solche des Unionsrechts haben. Ergänzend wird insoweit zwar erkannt, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 24. Oktober 1996 649 zwar ebenfalls den Begriff des „zwingenden Rechts“ verwendet, ohne dass dort – mit einem verwaltungsgerichtlichen Sachverhalt als Ausgangsfall des Vorabentscheidungsverfahrens – eine Gleichsetzung des „zwingenden Rechts“ mit „nicht parteidispositiv“ möglich sei; dem in jener Entscheidung verwandten Begriff des „zwingenden Rechts“ müsse dort aber – ohne dass dies begründet oder inhaltlich bestimmt wird – eine abweichende Bedeutung zukommen 650. Diese Auslegung geht fehl. Eine zwingende Unionsvorschrift in dem Verständnis des Gerichtshofs ist vielmehr eine solche, die „unmittelbare Wirkungen in den Beziehungen zwischen Einzelnen erzeugt und unmittelbar in deren Person Rechte entstehen lässt, die die Gerichte der Mitgliedsstaaten zu wahren haben“ 651, die also die Eigenschaft besitzt, innerstaatlich zugunsten des Einzelnen anwendbar zu sein. Dieses Verständnis folgt aus der von dem Gerichtshof in diesem Kontext zu beantwortende Vorlagefrage, seiner Inbezugnahme seiner früheren Rechtsprechung sowie der konkret gegebene Antwort und aus erläuternden Hinweisen in seiner späteren Rechtsprechung. Die Vorlagefrage lautete: „Hat ein nationales Zivilgericht in einem Rechtsstreit, der der freien Verfügung der Parteien unterliegende zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen betrifft, die [Wettbewerbsregelungen des EUV] auch dann anzuwenden, wenn sich die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung hat, nicht auf sie berufen hat?“ 652. Anders formuliert lautete die Frage demnach, ob Voraussetzung der Anwendbarkeit des Unionsrechts dessen Geltendmachung im Prozess ist, oder ob diese von Amts wegen zu erfolgen hat. Allein zu dieser Frage gibt der Gerichtshof die Antwort, dass immer dann, wenn ein Gericht innerstaatliche Vorschriften zwingenden Charakters von Amts wegen 648 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 13]. 649 EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1996, Rs. C-72/95 [Aannemersbedrijf P.K. Kraaijeveld BV e.a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland], Slg. 1996, I-05403; hierzu sogleich ausführlich unter (γ). 650 Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 151 mit Fußnote 42. 651 EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, Rs. C-8/08 [Mobile Netherlands BV, KPN Mobile NV, Orange Nederland NV und Vodafone Libertel NV gegen Raad van bestuur van de Nederlandse Mededingingsautoriteit], Juris [Rn. 49]. 652 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 12].

4. „Effet utile“

401

prüfen muss, es diese Prüfung auch auf das Unionsrecht zu erstrecken hat, und dass dieses auch dann gilt, wenn es nationale Vorschriften nicht von Amts wegen prüfen muss, aber von Amts wegen prüfen darf. Das Unionsrecht soll daher nicht nur nicht schlechter als das mitgliedsstaatliche Recht gestellt werden, sondern eine Berücksichtigungsfähigkeit nationaler Vorschriften von Amts wegen soll in dem Bereich des Unionsrechts zu einer Berücksichtigungspflicht erstarken. Der Formulierung „zwingenden Charakters“ in Bezug auf die „innerstaatlichen Vorschriften“ kommt insoweit keine über die Formulierung, dass diese „auf dem Unionsrecht fußende Rechte begründen“ müssen hinausgehende Bedeutung zu, insbesondere nicht eine solche, dass „zwingend“ mit „nicht parteidispositiv“ gleichzusetzen ist. Hierfür spricht auch die Bezugnahme des Gerichtshofs in der Entscheidung auf seine frühere Rechtsprechung. Der Gerichtshof verweist hier 653 unmittelbar zu dem Begriff der „zwingenden Gemeinschaftsvorschriften“ mit der Formulierung „siehe insbesondere“ auf Randnummer 5 seines Urteils vom 16. Dezember 1976 654, das im Primär- und im Sekundärrecht ausgesprochene Verbote behandelt, die „unmittelbar wirken“ und die „für die einzelnen Bürger Rechte begründen“, „welche die innerstaatlichen Gerichte zu schützen haben“, und in dem anschließend die Prinzipien der Mitwirkungspflicht der Mitgliedsstaaten, der Grundsatz ihrer Verfahrensautonomie sowie das Prinzip der Effektivität umschrieben werden. Blickrichtung des Gerichtshofs ist daher die von der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts aus; allein in diesem Sinne – unmittelbar wirkend und Rechte begründend – ist der Begriff „zwingend“ zu verstehen. Bestätigt wird dieses Verständnis durch eine Inblicknahme der zusammenfassenden Antwort des Gerichtshofs auf die gestellte Frage, welche lautet: „Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass ein nationales Gericht in einem Rechtsstreit, der der freien Verfügung der Parteien unterliegende zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen betrifft, die [Wettbewerbsregelungen des Primärrechts], sofern das nationale Recht eine derartige Anwendung gestattet, auch dann anzuwenden hat, wenn sich die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung hat, nicht auf sie berufen hat.“ 655 Hieran wird deutlich, dass der Gerichtshof eine Verpflichtung des mitgliedsstaatlichen Gerichts zu einer Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen immer (schon) dann und 653 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 13]. 654 EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1976, Rs. C-33/76 [Rewe-Zentralfinanz eG und Rewe-Zentral AG gegen Landwirtschaftskammer für das Saarland], Slg. 1976, 01989 [Rn. 5]. 655 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 15].

402

V. Unionsrechtliche Vorgaben

unabhängig von seiner Geltendmachung annimmt, wenn das mitgliedsstaatliche Recht eine derartige Anwendung gestattet. Auf einen „zwingenden“ oder gar „nicht parteidispositiven“ Charakter der mitgliedsstaatlichen oder der unionsrechtlichen Vorschriften kommt es bei dieser Betrachtung allein aus der Blickrichtung des mitgliedsstaatlichen Prozessrechts nicht an. Entscheidend für die Berücksichtigung des Unionsrechts ist allein, ob das Unionsrecht für den einzelnen Bürger Rechte begründet, die die mitgliedsstaatlichen Gerichte zu schützen unionsrechtlich verpflichtet und mitgliedsstaatlich-prozessrechtlich berechtigt sind, und ob das mitgliedsstaatliche Gericht ausnahmsweise zu einer Passivität verpflichtet ist. Derartige Vorschriften des Unionsrechts mögen dann parallel auch oftmals „nicht parteidispositiv“ sein; jedoch vermag dieser national-prozessrechtliche Begriff nicht den unionsrechtlichen Inhalt des Begriffs der „zwingenden Vorschriften“ zu bestimmen. Eine weitergehende Unterscheidungspflicht – insbesondere danach, ob es sich bei dem in Rede stehenden Unionsrecht um „grundlegende Bestimmungen“ 656 der Unionsrechtsordnung handelt – ist dann nur insoweit relevant, als bei einer „für die Erfüllung der Aufgaben der Europäischen [Union] unerlässlichen Vorschrift“ diese „der öffentlichen Ordnung zuzurechnen ist und von den nationalen Gerichten von Amts wegen angewandt werden muss“ 657, wenn eine nationale Anwendungsmöglichkeit besteht; sie verdeutlicht nur den Normrang der das Unionsrecht gewährenden Vorschrift und damit ihre Bedeutung, ohne bei normhierarchisch „niedriger“ angesiedelten Rechtsgewährungen des Unionsrechts deren Berücksichtigungsverpflichtung von Amts wegen generell auszuschließen 658. Bestätigt wird dieses Ergebnis weiterhin durch die Entscheidung des Gerichtshofs vom 24. Oktober 1996 659, in der der Gerichtshof den Begriff eben gerade nicht in dem Sinne von „nicht parteidispositiv“ verwandte. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Gerichtshof in einem vergleichbaren Kontext zur Lösung eines vergleichbaren Problems eine identische Terminologie in einem nicht nur abweichenden, sondern eher gegensätzlichen Sinne verwendet. 656 Zu diesem Begriff dann EuGH, Urteil vom 1. Juni 1999, Rs. C-126/97 [Eco Swiss China Time Ltd gegen Benetton International NV], Slg. 1999, I-03055 [Rn. 36]; EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, Rs. C-8/08 [Mobile Netherlands BV, KPN Mobile NV, Orange Nederland NV und Vodafone Libertel NV gegen Raad van bestuur van de Nederlandse Mededingingsautoriteit], Juris [Rn. 49 und 50]. 657 EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, Rs. C-8/08 [Mobile Netherlands BV, KPN Mobile NV, Orange Nederland NV und Vodafone Libertel NV gegen Raad van bestuur van de Nederlandse Mededingingsautoriteit], Juris [Rn. 49 und 50]. 658 Vgl. EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, Rs. C-8/08 [Mobile Netherlands BV, KPN Mobile NV, Orange Nederland NV und Vodafone Libertel NV gegen Raad van bestuur van de Nederlandse Mededingingsautoriteit], Juris [Rn. 49 und 50]. 659 EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1996, Rs. C-72/95 [Aannemersbedrijf P.K. Kraaijeveld BV e.a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland], Slg. 1996, I-05403; hierzu sogleich ausführlich unter (γ).

4. „Effet utile“

403

Gegen eine derartige Unterscheidung zwischen „grundlegenden“ und „sonstigen“ Bestimmungen des Unionsrechts als maßgeblich für die Entscheidung der Frage, ob die fragliche Norm von den mitgliedsstaatlichen Gerichten zu berücksichtigen ist, spricht im Übrigen auch, dass die Einordnung als „grundlegende Bestimmung“ regelmäßig durch die mitgliedsstaatlichen Gerichte vorzunehmen ist, und dass der Begriff der „grundlegenden Bestimmung“ eine sehr große Interpretationsbreite zulässt, die daher die große und nicht zu unterschätzende Gefahr einer unterschiedlichen Interpretation durch die verschiedenen mitgliedsstaatlichen Gerichte in sich trägt. Dies widerspricht dem grundlegenden Ziel einer einheitlichen und gleichmäßigen Anwendung des Unionsrechts. Zusammenfassend lässt sich daher der Grundsatz festhalten, dass unmittelbar wirksame Normen des Unionsrechts schon bei einer bloßen Berücksichtigungsmöglichkeit des mitgliedsstaatlichen Rechts zwingend anzuwenden sind, wenn und soweit die mitgliedsstaatlichen Gerichte hierdurch nicht eine ihnen von ihrem mitgliedsstaatlichen Prozessrecht aufgegebene grundsätzliche Passivität aufgeben müssten, indem sie die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten und sich auf andere Tatsachen und Umstände stützen, als sie die Prozesspartei, die ein Interesse an ihrer Anwendung hat, ihrem Begehren zugrunde legt. (γ) Rs. C-72/95 In einem ein Verwaltungsstreitverfahren nach niederländischem Recht als Ausgangsverfahren habenden Vorabentscheidungsverfahren hatte der Gerichtshof die Frage zu entscheiden, ob ein mitgliedsstaatliches Gericht das Unionsrecht – in diesem Fall eine nicht fristgerecht in mitgliedsstaatliches Recht umgesetzte Richtlinie, die UVP-Richtlinie 660 – von Amts wegen zu berücksichtigen habe, wenn sich die Beteiligten nicht auf diese berufen hatten 661. In dieser Entscheidung fokussierte der Gerichtshof den Blick auf das Rechtsinstrument der Richtlinie und deren „praktischer Wirksamkeit“ 662; demgegenüber finden das Prinzip der Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten und die Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz keine Erwähnung. Der Gerichtshof führt zu der Frage einer Pflicht zu einer Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen aus, dass die Pflicht eines Mitgliedsstaats, alle 660 Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. L 175 vom 5. 7. 1985, S. 40 – 48. 661 EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1996, Rs. C-72/95 [Aannemersbedrijf P.K. Kraaijeveld BV e.a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland], Slg. 1996, I-05403. 662 EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1996, Rs. C-72/95 [Aannemersbedrijf P.K. Kraaijeveld BV e.a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland], Slg. 1996, I-05403 [Rn. 56].

404

V. Unionsrechtliche Vorgaben

zur Erreichung des durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Zieles erforderlichen Maßnahmen zu treffen, eine durch Art. 288 Abs. 3 AEUV und durch die Richtlinie selbst auferlegte zwingende Pflicht sei 663. Diese Pflicht, alle allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu treffen, obliege allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedsstaaten einschließlich der Gerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeiten 664. Nach einer Referierung seiner oben wiedergegebenen 665 Grundsätze zu einer Möglichkeit des Einzelnen, sich auf eine Richtlinie zu berufen, und des mitgliedsstaatlichen Gerichts, diese im Rahmen ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit zu berücksichtigen, stellt der Gerichtshof fest, dass die mitgliedsstaatlichen Gerichte, soweit sie nach dem nationalen Recht die sich aus einer zwingenden innerstaatlichen Vorschrift ergebenden rechtlichen Gesichtspunkte, die die Parteien nicht geltend gemacht haben, von Amts wegen aufgreifen müssen, einer solchen Verpflichtung auch dann unterfallen, wenn es sich um zwingende Unionsvorschriften handelt 666. Dies Verpflichtung dehnt der Gerichtshof sodann auf diejenigen Fälle aus, in denen das mitgliedsstaatliche Gericht nach dem nationalen Recht lediglich befugt ist, die zwingende Rechtsvorschrift von Amts wegen anzuwenden 667, da nach dem in Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV niedergelegten Grundsatz der Zusammenarbeit die mitgliedsstaatlichen Gerichte den Rechtsschutz zu gewähren haben, der sich für die Bürger aus der unmittelbaren Wirkung der Vorschriften des Unionsrechts ergibt. Ist also ein mitgliedsstaatliches Gericht nach dem nationalen Recht verpflichtet oder berechtigt, von Amts wegen die sich aus einer zwingenden innerstaatlichen Vorschrift ergebenden rechtlichen Gesichtspunkte aufzugreifen, die die Parteien nicht geltend gemacht haben, so ist es im Rahmen seiner Zuständigkeit auch von Amts wegen verpflichtet, zu prüfen, ob den zwingenden Vorgaben des aus einer Richtlinie folgenden Unionsrechts genügt wird 668. In der zivilprozessualen Literatur 669 ist diese Entscheidung dahingehend diskutiert worden, dass aufgrund eines Verwaltungsstreitverfahrens als Ausgangsverfahren fraglich sei, ob der Begriff „zwingend“ im Sinne von „nicht parteidispositiv“ zu interpretieren sei, wie es angeblich für zivilrechtlich geprägte 663

EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1996, Rs. C-72/95 [Aannemersbedrijf P.K. Kraaijeveld BV e.a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland], Slg. 1996, I-05403 [Rn. 55]. 664 EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1996, Rs. C-72/95 [Aannemersbedrijf P.K. Kraaijeveld BV e.a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland], Slg. 1996, I-05403 [Rn. 55]. 665 V. 2. b) bb) (1). 666 EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1996, Rs. C-72/95 [Aannemersbedrijf P.K. Kraaijeveld BV e.a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland], Slg. 1996, I-05403 [Rn. 57]. 667 EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1996, Rs. C-72/95 [Aannemersbedrijf P.K. Kraaijeveld BV e.a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland], Slg. 1996, I-05403 [Rn. 58]. 668 EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1996, Rs. C-72/95 [Aannemersbedrijf P.K. Kraaijeveld BV e.a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland], Slg. 1996, I-05403 [Rn. 60]. 669 Herb, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationaler Zivilprozess, Seite 25.

4. „Effet utile“

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Ausgangsverfahren der Fall sei 670. Auch ist angesprochen worden, ob der Gerichtshof dadurch, dass er seine Grundsätze zu der Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten sowie zu den Prinzipien der Äquivalenz und der Effektivität nicht anspreche, seine Rechtsprechung hierzu aufgebe 671. Beide Diskussionen verkennen jedoch schon in ihrem Ansatz, dass der Gerichtshof in dieser Entscheidung letztlich von dem Regelungsinstitut der Richtlinie aus argumentiert und der Sache nach die unmittelbare Wirkung des Unionsrechts problematisiert hat. Dass dieses Unionsrecht in dem Ausgangsverfahren auch von Amts wegen berücksichtigt werden durfte, stand außer Frage 672; fraglich war eine entsprechende Verpflichtung der Gerichte, nicht hinreichend umgesetzte Richtlinien unabhängig von dem Parteivortrag zu berücksichtigen. Der Gerichtshof hat dann in dieser Entscheidung unter dem Topos der „praktischen Wirksamkeit“ einer Richtlinie und unter Berücksichtigung der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts den Grundsatz aufgestellt, unmittelbar wirkendes Unionsrecht müsse schon bei einer bloßen Berücksichtigungsmöglichkeit von Amts wegen auch tatsächlich zwingend berücksichtigt werden. Dieses Verständnis beeinflusst dann auch die Auslegung des Begriffs der „zwingenden innerstaatlichen Vorschrift“ 673, der (nur) dahingehend zu verstehen ist, dass dieser eben das „von Amts wegen“ zu berücksichtigende mitgliedsstaatliche Recht umschreibt. Zu diesem darf aufgrund des Prinzips der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts und des Charakters der Richtlinien als solchen und der diesbezüglichen Mitwirkungspflicht der Mitgliedssaaten, die sich in dem Gebot unionsrechtskonformer Auslegung des gesamten mitgliedsstaatlichen Rechts manifestiert, das Unionsrecht dann nicht „schlechter“ behandelt werden. Zusammenfassend ist für den hier interessierenden Kontext festzuhalten, dass aus dem Regelungsinstitut der Richtlinie heraus und wegen der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts nach dem Gerichtshof immer dann, wenn ein Gericht mitgliedsstaatliches Recht von Amts wegen berücksichtigen darf, dieses Prinzip auch für das Unionsrecht gilt und sogar – letztlich aus dem Gebot zu einer unionsrechtskonformen Auslegung des gesamten mitgliedsstaatlichen Rechts heraus 674 – zu einer Berücksichtigungspflicht erstarkt. Mit dieser Rechtsprechung besteht dann aber eine partielle Überlappung zu dem Inhalt des Äquivalenzprinzips. 670

Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 151 mit Fn. 42. Herb, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationaler Zivilprozess, Seite 25. 672 Dies erkennt auch Herb, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationaler Zivilprozess, Seite 25, die aber die aus diesem Umstand resultierenden Folgen in dem Verhältnis zu den von ihr behandelten zivilprozessualen Streitigkeiten ausblendet. 673 EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1996, Rs. C-72/95 [Aannemersbedrijf P.K. Kraaijeveld BV e.a. gegen Gedeputeerde Staten van Zuid-Holland], Slg. 1996, I-05403 [Rn. 60]. 674 Zu diesem oben V. 2. b) bb) (2). 671

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

(δ) Rs. C-126/97 In einem Urteil vom 1. Juni 1999 675 hatte der Gerichtshof in einem Verfahren über die gerichtliche Aufhebung eines Schiedsspruchs zu entscheiden. Eine solche Aufhebung war nach dem maßgeblichen niederländischen Verfahrensrecht wegen eines Widerspruchs gegen die öffentliche Ordnung prozessual zulässig, wobei hierfür die „schlichte Rechtswidrigkeit“ – der Umstand, dass aufgrund des Inhalts oder der Vollstreckung des Schiedsspruchs eine Verbotsbestimmung des Wettbewerbsrechts unangewendet bleibt – grundsätzlich nicht als Widerspruch gegen die öffentliche Ordnung anzusehen war. Der fragliche Schiedsspruch verstieß aus Sicht des vorlegenden Gerichts gegen Art. 101 AEUV. Der Gerichtshof stellte hier darauf ab, dass die fragliche Bestimmung des Primärrechts „eine grundlegende Bestimmung“ darstelle, „die für die Erfüllung der Aufgaben der Gemeinschaft und insbesondere für das Funktionieren des Binnenmarktes unerlässlich“ 676 sei, was insbesondere aus der in ihrem Absatz 2 ausdrücklich angeordneten Rechtsfolge der Nichtigkeit nach diesem Artikel verbotener Vereinbarungen oder Beschlüsse folge. Aus dieser Einordnung folge dann auch die Verpflichtung des mitgliedsstaatlichen Gerichts zu einer Zuordnung dieser unionsrechtlichen Bestimmung zu dem mitgliedsstaatlichen Begriff der öffentlichen Ordnung, wenn das Gericht einem Antrag auf Aufhebung eines Schiedsspruchs wegen Verletzung nationaler Bestimmungen, die zur öffentlichen Ordnung gehören, stattgeben müsse 677. In dieser Entscheidung wird von dem Gerichtshof eine Einordnung der in Rede stehenden Norm des Primärrechts der Union als „grundlegende Bestimmung“ und ihre „Unerlässlichkeit“ für die Erfüllung der Aufgaben der Union und für das Funktionieren des Binnenmarktes abgestellt. Dies könnte dafür sprechen, dass der Gerichtshof bei der Frage der Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen eine Differenzierung nach dem Inhalt der in Rede stehenden Unionsnorm vornehmen will. Andererseits betont der Gerichtshof ausdrücklich die Besonderheiten des Einzelfalls, wenn er formuliert, „dass das Gemeinschaftsrecht bei der hier gegebenen Situation, anders als im Urteil Van Schijndel und Van Veen, verlangt, dass Fragen nach der Auslegung von Artikel [101 AEUV] durch die für die Überprüfung der Wirksamkeit von Schiedssprüchen zuständigen staatlichen Gerichte untersucht und gegebenenfalls dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorge675 EuGH, Urteil vom 1. Juni 1999, Rs. C-126/97 [Eco Swiss China Time Ltd gegen Benetton International NV], Slg. 1999, I-03055. 676 EuGH, Urteil vom 1. Juni 1999, Rs. C-126/97 [Eco Swiss China Time Ltd gegen Benetton International NV], Slg. 1999, I-03055 [Rn. 36]. 677 EuGH, Urteil vom 1. Juni 1999, Rs. C-126/97 [Eco Swiss China Time Ltd gegen Benetton International NV], Slg. 1999, I-03055 [Rn. 37].

4. „Effet utile“

407

legt werden können“ 678. Auch diese Entscheidung ist daher maßgeblich durch die ihr zugrunde liegenden Umstände des Einzelfalles geprägt und nur beschränkt einer Verallgemeinerung fähig. Insbesondere ist durch diese Entscheidung nicht der Schluss gerechtfertigt, dass die jeweils für eine Berücksichtigung von Amts wegen in Rede stehenden Bestimmungen des Unionsrechts stets darauf hin untersucht werden müssten, ob es sich um „grundlegende Bestimmungen“ des Unionsrechts handele 679. Denn wie gezeigt können auch etwa Vorschriften einer in unmittelbare Anwendung erwachsenen Richtlinie für diese Problematik in Betracht kommen 680; dass aber etwa die UVP-Richtlinie eine „grundlegende Bestimmung“ des Unionsrechts sein könnte, ist nicht erkennbar. Aus der genannten Entscheidung kann man daher allein den Schluss ziehen, dass „grundlegende Bestimmungen“ des Unionsrechts unionsrechtlich geeignet sind, auch eine in der mitgliedsstaatlichen Rechtsprechung tradierte Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs – wie die des Begriffs der „öffentlichen Ordnung“ – durch eine neue, unionsrechtskonforme Auslegung zu überwinden. Dann ist die Entscheidung aber letztendlich in Anwendung des Äquivalenzgrundsatzes ergangen, nicht in einer solchen des Effektivitätsgrundsatzes. So hat sie der Gerichtshof später auch ausdrücklich interpretiert 681: Stellt das mitgliedsstaatliche Recht ein normatives „Einfallstor“ für eine Berücksichtigung von Rechtsnormen von Amts wegen zur Verfügung, so muss dieses auch in einem identischen Rahmen – etwa bezogen allein auf Zuständigkeitsvorschriften oder aber auf alle materiellen Gründe – eine Berücksichtigung des Unionsrechts zulassen und zwingend entsprechend ausgelegt werden. Das Vermissen einer „näheren Begründung“ für diese Entscheidung in der zivilrechtlichen Literatur 682 verkennt diese Fokussierung des Urteils des Gerichtshofs vom 1. Juni 1999 auf das Äquivalenzprinzip. Aus diesem Grunde geht auch die dort 683 geäußerte Auffassung fehl, dass die Argumentation des Ge678 EuGH, Urteil vom 1. Juni 1999, Rs. C-126/97 [Eco Swiss China Time Ltd gegen Benetton International NV], Slg. 1999, I-03055 [Rn. 40]. 679 So aber für den Bereich des Zivilrechts Herb, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationaler Zivilprozess, Seite 234. 680 Soeben V. 4. b) dd) (2) (f) (aa) (γ). 681 EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 40 am Ende]; Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro vom 1. März 2007, Verbundene Rechtssachen C-222/05 bis C-225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 27]. 682 Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 151. 683 Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 156.

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

richtshofs inhaltlich „über die Zuordnung des Art. [101 AEUV] zur öffentlichen Ordnung i. S. d. nationalen Rechts hinaus [gehe], in dem sie eine Anwendung des Art. [101 AEUV] abweichend auch von weiteren Verfahrensvorschriften des nationalen Rechts zu ermöglichen“ bestimmt sei. Diese Auffassung ist eben von dem Missverständnis geprägt, dass die vorliegende Fallgestaltung nach dem Grundsatz der Effektivität zu entscheiden sei; sie ist aber wie gezeigt in einer Anwendung des Äquivalenzprinzips erfolgt. Diese Entscheidung ist damit auch nicht – wie vertreten – „schwer verständlich“ 684 oder durch das Fehlen einer Abgrenzung zu der Situation in dem Urteil des Gerichtshof vom 14. Dezember 1995 685 gekennzeichnet. Die in der Literatur 686 vertretene These, „eine zusammenhängende Betrachtung von Tenor und Gründen“ spreche „für die Pflicht zur Anwendung des Art. [101 AEUV] unabhängig vom schiedsgerichtlichen Passivitätsgebot“ ist ebenfalls von der fehlerhaften Verortung der Entscheidung bei dem Effektivitäts- und nicht bei dem Äquivalenzprinzip geprägt 687. (ε) Rs. C-295/04 bis C-298/04 Fragen der Berücksichtigung des Primärrechts der Union von Amts wegen waren von dem Gerichtshof erneut im Juli 2006 zu entscheiden 688. In den Ausgangsverfahren wurde unter Bezugnahme auf Art. 101 AEUV 689 Schadensersatz von Versicherungsunternehmen begehrt, die ein nach Art. 101 Abs. 1 AEUV unzulässiges Kartell gebildet hatten. Das mitgliedsstaatliche (italienische) Wettbewerbsrecht sah für Nichtigkeits- und Schadensersatzklagen wegen Verstoßes gegen dass Kartellverbot eine spezielle, in dem Verhältnis zu sonstigen Streitigkeiten kosten- und zeitintensivere und damit ungünstigere gerichtliche Zuständigkeit sowie eine Verjährungsfrist für Schadensersatzklagen und die Deckelung des Höchstbetrages des Schadensersatzes vor.

684

Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 156. EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705. 686 Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 156. 687 Dass sie hier gleichwohl innerhalb des Effektivitätsgebotes diskutiert wird, ist dieser zivilrechtlichen Literatur geschuldet. 688 EuGH, Urteil vom 13. Juli 2006, Verbundene Rechtssachen C-295/04 bis C-298/ 04 [Vincenzo Manfredi gegen Lloyd Adriatico Assicurazioni SpA (C-295/04), Antonio Cannito gegen Fondiaria Sai SpA (C-296/04) und Nicolò Tricarico (C-297/04) und Pasqualina Murgolo (C-298/04) gegen Assitalia SpA], Slg. 2006, I-06619. 689 Entspricht Artikel 81 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Amsterdam konsolidierte Fassung), Amtsblatt Nr. C 340 vom 10. November 1997, Seite 0208. 685

4. „Effet utile“

409

Der Gerichtshof stellte zunächst – explizit aber noch in dem Rahmen der Zulässigkeitsprüfung des Vorabentscheidungsverfahrens 690 – fest, dass die wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen des Primärrechts Bestimmungen seien, „die der öffentlichen Ordnung zuzurechnen sind und von den nationalen Gerichten von Amts wegen angewandt werden müssen“ 691, und nahm insoweit ausdrücklich Bezug auf seine Rechtsprechung in dem Verfahren Rs. C-126/97 [Eco-Swiss] 692, in der es aber – wie ausgeführt – eine Norm des mitgliedsstaatlichen Rechts gab, unter deren Tatbestandsmerkmal der „öffentlichen Ordnung“ subsumiert werden konnte. Insoweit stellt sich zunächst die Frage, ob aus dieser Erwägung des Gerichtshofs geschlossen werden könnte, dass Normen des Unionsrechts oder zumindest solche des Primärrechts generell als Teil einer – wie auch immer abzugrenzenden – „öffentlichen Ordnung“ von den mitgliedsstaatlichen Gerichten immer von Amts wegen zu berücksichtigen sind. Indes war in dem vorliegenden Ausgangsrechtsstreit eine solche mitgliedsstaatliche Norm mit einem derartigen offenen Tatbestand nicht ersichtlich. Ich halte es aber auch nicht für möglich, aus der bloßen Erwähnung einer Einordnung der Normen des Primärrechts über den Wettbewerbsschutz als der öffentlichen Ordnung zugehörig bei gleichzeitiger Bezugnahme auf die Eco-Swiss-Entscheidung den Schluss zu ziehen, dass das Primärrecht als der öffentlichen Ordnung zugehörig generell und losgelöst von dem Vorhandensein einer subsumtionsfähigen Generalklausel von den mitgliedsstaatlichen Gerichten von Amts wegen zu berücksichtigen sei. Denn insoweit lassen die Begründetheitsausführungen des Gerichtshofs weitere Erkenntnisse über die Verpflichtung zu einer Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen durch die mitgliedsstaatlichen Gerichte zu: So lässt sich in der Sache den Schlussanträgen des Generalanwalts Geelhoed 693 entnehmen, dass (allein) bezüglich einer denkbaren Gewährung von Strafschadensersatz eine 690 EuGH, Urteil vom 13. Juli 2006, Verbundene Rechtssachen C-295/04 bis C-298/ 04 [Vincenzo Manfredi gegen Lloyd Adriatico Assicurazioni SpA (C-295/04), Antonio Cannito gegen Fondiaria Sai SpA (C-296/04) und Nicolò Tricarico (C-297/04) und Pasqualina Murgolo (C-298/04) gegen Assitalia SpA], Slg. 2006, I-06619[Rn. 32]. 691 EuGH, Urteil vom 13. Juli 2006, Verbundene Rechtssachen C-295/04 bis C-298/ 04 [Vincenzo Manfredi gegen Lloyd Adriatico Assicurazioni SpA (C-295/04), Antonio Cannito gegen Fondiaria Sai SpA (C-296/04) und Nicolò Tricarico (C-297/04) und Pasqualina Murgolo (C-298/04) gegen Assitalia SpA], Slg. 2006, I-06619 [Rn. 31]. 692 EuGH, Urteil vom 1. Juni 1999, Rs. C-126/97 [Eco Swiss China Time Ltd gegen Benetton International NV], Slg. 1999, I-03055; hierzu soeben ausführlich unter (δ). 693 Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed vom 26. Januar 2006, Verbundene Rechtssachen C-295/04 bis C-298/04 [Vincenzo Manfredi gegen Lloyd Adriatico Assicurazioni SpA (C-295/04), Antonio Cannito gegen Fondiaria Sai SpA (C-296/04) und Nicolò Tricarico (C-297/04) und Pasqualina Murgolo (C-298/04) gegen Assitalia SpA],

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

hier interessierende Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen in Rede stand. Ob es zu einer effektiven Durchsetzung der Wettbewerbsregeln des Primärrechts notwendig ist, dem durch ein unzulässiges Kartell geschädigten Dritten von Amts wegen Strafschadensersatz zuzusprechen, beantwortet der Gerichtshof 694 in Anwendung des Grundsatzes des „effet utile“ des Art. 101 AEUV sowie der Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz: Ausgehend von dem Prinzip, dass die mitgliedsstaatlichen Gerichte, die in dem Rahmen ihrer Zuständigkeit das Unionsrecht anzuwenden hätten, die volle Wirkung dieses Rechts zu gewährleisten und die Rechte zu schützen hätten, die das Unionsrecht dem Einzelnen verleihe 695, wären die volle Wirksamkeit des Artikels 101 AEUV und insbesondere die praktische Wirksamkeit des Verbotes des Artikels 101 Absatz 1 AEUV beeinträchtigt, wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens (Vermögensschaden, entgangener Gewinn und Zinsen) verlangen könnte, der ihm durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder durch ein entsprechendes Verhalten entstanden ist. Denn einen solchen Schadensersatzanspruch sieht der Gerichtshof als die Durchsetzungskraft der unionsrechtlichen Wettbewerbsvorschriften erhöhend und damit als geeignet an, von – oft verschleierten – Vereinbarungen oder Verhaltensweisen abzuhalten, die den Wettbewerb beschränken oder verfälschen können. Die Entscheidung über eine Zuerkennung von über diesen Schaden hinausgehenden Schadensersatz und die eventuelle Gewährung von Strafschadensersatz (von Amts wegen) sieht der Gerichtshof in Ermangelung einschlägiger Unionsvorschriften als Aufgabe des innerstaatlichen Rechts des einzelnen Mitgliedsstaates an, bei der der Äquivalenz- und der Effektivitätsgrundsatz zu beachten seien 696. Den Äquivalenzgrundsatz präzisiert der Gerichtshof in Bezug auf einen besonderen unionswettbewerbsrechtlichen Schadensersatz und in Bezug auf einen Strafschadensersatz dahingehend, dass ein solcher gewährt werden können müsse, wenn er im Rahmen vergleichbarer, auf das innerstaatliche Recht gegründeter Klagen zugesprochen werden könne, wobei eine ungerechtfertigte Slg. 2006, I-06619 [Rn. 62: „Bei dieser Frage geht es um die Möglichkeit, von Amts wegen einen Strafschadensersatz zuzuerkennen“]. 694 EuGH, Urteil vom 13. Juli 2006, Verbundene Rechtssachen C-295/04 bis C-298/ 04 [Vincenzo Manfredi gegen Lloyd Adriatico Assicurazioni SpA (C-295/04), Antonio Cannito gegen Fondiaria Sai SpA (C-296/04) und Nicolò Tricarico (C-297/04) und Pasqualina Murgolo (C-298/04) gegen Assitalia SpA], Slg. 2006, I-06619 [Rn. 89 bis 100]. 695 EuGH, Urteil vom 9. März 1978, Rs. C-106/77 [Staatliche Finanzverwaltung gegen S.p.A. Simmenthal], Slg. 1978, 00629 [Rn. 16]; EuGH, Urteil vom 19. Juni 1990, Rs. C-213/89 [The Queen gegen Secretary of State for Transport, ex parte: Factortame Ltd u. a.], Slg. 1990, I-02433 [Rn. 19]. 696 EuGH, Urteil vom 13. Juli 2006, Verbundene Rechtssachen C-295/04 bis C-298/ 04 [Vincenzo Manfredi gegen Lloyd Adriatico Assicurazioni SpA (C-295/04), Antonio Cannito gegen Fondiaria Sai SpA (C-296/04) und Nicolò Tricarico (C-297/04) und Pasqualina Murgolo (C-298/04) gegen Assitalia SpA], Slg. 2006, I-06619 [Rn. 92].

4. „Effet utile“

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Bereicherung der Anspruchsberechtigten mitgliedsstaatsrechtlich ausgeschlossen werden könne 697. Sodann folgert der Gerichtshof „aus dem Effektivitätsgrundsatz und dem Recht einer jeden Person auf Ersatz des Schadens, der ihr durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder ein entsprechendes Verhalten entstanden ist“ 698, die Verpflichtung der mitgliedsstaatlichen Gerichte, einem Geschädigter nicht nur den Ersatz des Vermögensschadens, sondern auch den des entgangenen Gewinns sowie die Zahlung von Zinsen zuzusprechen. Demgegenüber besteht keine unionsrechtliche Verpflichtung auf Zuerkennung eines Strafschadensersatzes, den das mitgliedsstaatliche Recht auch sonst nicht für vergleichbare Fälle kennt 699. Diese Vorgehensweise des Gerichtshofs überzeugt sowohl dogmatisch als auch in ihrem unionsrechtlichen Ergebnis. Art. 101 AEUV wäre ohne die Zubilligung eines korrespondierenden Schadensersatzanspruches eine Norm mit einer eher geringen Durchsetzungskraft, da der Unternehmer zu Lasten des Verbrauchers regelmäßig handeln könnte, ohne eine drohende Rückabwicklung eines nach Art. 101 Abs. 2 AEUV nichtigen Vertrages, Schadensersatz und Zinsen als Sanktion befürchten zu müssen. Art. 101 AEUV ist aber nur dann praktisch wirksam, wenn der Unternehmer von Vereinbarungen oder Verhaltensweisen abgehalten wird, die den Wettbewerb beschränken oder verfälschen. Die Zubilligung eines Schadensersatzes durch die mitgliedsstaatlichen Gerichte hat damit die unmittelbare Funktion, den Wettbewerb in der Union und damit Art. 101 AEUV für die durch die Norm Begünstigten effektiv zu machen. Dies ist der „effektive“ Gehalt der Norm. Wenn aber weiterhin Art. 101 AEUV „in den Beziehungen zwischen Einzelnen unmittelbare Wirkungen“ erzeugt und „unmittelbar in deren Personen Rechte entstehen“ lässt, „die die Gerichte der Mitgliedsstaaten zu wahren haben“ 700, dann verlangt „der Vorrang des Gemeinschaftsrechts 697 EuGH, Urteil vom 13. Juli 2006, Verbundene Rechtssachen C-295/04 bis C-298/ 04 [Vincenzo Manfredi gegen Lloyd Adriatico Assicurazioni SpA (C-295/04), Antonio Cannito gegen Fondiaria Sai SpA (C-296/04) und Nicolò Tricarico (C-297/04) und Pasqualina Murgolo (C-298/04) gegen Assitalia SpA], Slg. 2006, I-06619 [Rn. 93 und 94]. 698 EuGH, Urteil vom 13. Juli 2006, Verbundene Rechtssachen C-295/04 bis C-298/ 04 [Vincenzo Manfredi gegen Lloyd Adriatico Assicurazioni SpA (C-295/04), Antonio Cannito gegen Fondiaria Sai SpA (C-296/04) und Nicolò Tricarico (C-297/04) und Pasqualina Murgolo (C-298/04) gegen Assitalia SpA], Slg. 2006, I-06619 [Rn. 95 sowie auch Rn. 100]. 699 EuGH, Urteil vom 13. Juli 2006, Verbundene Rechtssachen C-295/04 bis C-298/ 04 [Vincenzo Manfredi gegen Lloyd Adriatico Assicurazioni SpA (C-295/04), Antonio Cannito gegen Fondiaria Sai SpA (C-296/04) und Nicolò Tricarico (C-297/04) und Pasqualina Murgolo (C-298/04) gegen Assitalia SpA], Slg. 2006, I-06619 [Rn. 93 f.]. 700 EuGH, Urteil vom 13. Juli 2006, Verbundene Rechtssachen C-295/04 bis C-298/ 04 [Vincenzo Manfredi gegen Lloyd Adriatico Assicurazioni SpA (C-295/04), Antonio

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

[...], dass jede nationale Rechtsvorschrift, die einer Gemeinschaftsvorschrift entgegensteht, unangewendet bleibt“ 701, und damit auch eine solche, die die volle Wirksamkeit der Norm durch den Ausschluss eines Schadensersatzanspruchs behindert 702. Demgegenüber ist die Zuerkennung von Strafschadensersatz nicht notwendig, um Art. 101 AEUV effektiv zu machen und daher nicht von dem Effektivitätsprinzip geboten; sieht das mitgliedsstaatliche Recht einen solchen auch nicht für vergleichbare Streitigkeiten nach dem rein mitgliedsstaatlichen Recht vor, so ist auch das Äquivalenzprinzip nicht betroffen. Aus dieser Analyse der Begründetheitserwägungen lässt sich dann aber auch der Rückschluss ziehen, dass die in der Zulässigkeitsprüfung des Vorabentscheidungsverfahrens von dem Gerichtshof vorgenommene Einordnung des Art. 101 AEUV als der „öffentlichen Ordnung“ zugehörig und „von den nationalen Gerichten von Amts wegen“ anzuwenden die unmittelbare Wirkung der Norm, deren Vorrang und deren Effektivität meint. Nur in diesem Rahmen besteht eine Verpflichtung zu einer Prüfung des Unionsrechts von Amts wegen; die Existenz einer immer von Amts wegen anzuwenden „öffentlichen Ordnung“ des Unionsrechts losgelöst von den Kategorien der unmittelbaren Wirkung, des Vorrangs und des „effet utile“ war von dem Gerichtshof erkennbar nicht gemeint. (ζ) Rs. C-222/05 bis C-225/05 Zu einer Präzisierung und teilweisen Systematisierung der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Bezug auf die Anwendung des Unionsrechts von Amts wegen führte dessen Entscheidung vom 7. Juni 2007 703. Das Vorabentscheidungsverfahren betraf die Auslegung des Unionsrechts im Hinblick auf die Befugnis des nationalen Gerichts, einen Verwaltungsakt von Amts wegen auf seine Vereinbarkeit mit der Richtlinie 85/511/EWG des Rates vom 18. November 1985 zur Einführung von Maßnahmen der Union zur Bekämpfung der Maul- und Klauenseuche 704 hin zu prüfen 705. Das mitgliedsCannito gegen Fondiaria Sai SpA (C-296/04) und Nicolò Tricarico (C-297/04) und Pasqualina Murgolo (C-298/04) gegen Assitalia SpA], Slg. 2006, I-06619 [Rn. 39]. 701 EuGH, Urteil vom 13. Juli 2006, Verbundene Rechtssachen C-295/04 bis C-298/ 04 [Vincenzo Manfredi gegen Lloyd Adriatico Assicurazioni SpA (C-295/04), Antonio Cannito gegen Fondiaria Sai SpA (C-296/04) und Nicolò Tricarico (C-297/04) und Pasqualina Murgolo (C-298/04) gegen Assitalia SpA], Slg. 2006, I-06619 [Rn. 39]. 702 EuGH, Urteil vom 13. Juli 2006, Verbundene Rechtssachen C-295/04 bis C-298/ 04 [Vincenzo Manfredi gegen Lloyd Adriatico Assicurazioni SpA (C-295/04), Antonio Cannito gegen Fondiaria Sai SpA (C-296/04) und Nicolò Tricarico (C-297/04) und Pasqualina Murgolo (C-298/04) gegen Assitalia SpA], Slg. 2006, I-06619 [Rn. 60]. 703 EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233.

4. „Effet utile“

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staatliche niederländische Recht sah für Verwaltungsprozesse folgende Rolle des Gerichts vor: „(1) Das Gericht entscheidet aufgrund der Klage, der vorgelegten Unterlagen, der Vorprüfung und der Erörterung der Sache in der mündlichen Verhandlung. (2) Das Gericht ergänzt die Rechtsgründe von Amts wegen. (3) Das Gericht kann den Sachverhalt von Amts wegen ergänzen.“ 706

Richterrechtlich wurde diese Norm in ihrem Absatz 2 unstreitig dahingehend ausgelegt, dass das Gericht die von dem Kläger gegen den angefochtenen Verwaltungsakt vorgebrachten Rügen allein in eine rechtliche Form bringt. Nur insoweit bestehe eine Pflicht zu einer Ergänzung der Klagegründe von Amts wegen. Demgegenüber nehme das Gericht von sich aus einer Beurteilung der Rechtsgründe hierüber hinaus nicht vor. Letztere sei nur dann vorzunehmen, „wenn Regelungen, die der öffentlichen Ordnung zuzurechnen seien, also Bestimmungen, die die Befugnisse von Verwaltungsstellen und des Gerichts selbst beträfen, sowie Zulässigkeitsvorschriften angewandt würden“. 707 Mit den Maßstäben der Verwaltungsgerichtsordnung betrachtet ist diese Ergänzung von Rechtsgründen damit allein mit Zuständigkeitsfragen und Sachurteilsvoraussetzungen vergleichbar. Das vorlegende Gericht sah sich an einer Berücksichtigung ihm von außerhalb des Ausgangsverfahren her bekannten, in dem Unionsrecht wurzelnden materiellen Klagegründen durch die genannte Vorschrift in ihrer tradierten Auslegung gehindert und legte die Frage vor, „ob eine Bestimmung des nationalen Verfahrensrechts, wonach das Gericht Klagegründe, die über die Grenzen des Rechtsstreits hinausgingen, nicht beurteilen dürfe, die Ausübung der durch die 704

Richtlinie 85/511/EWG des Rates vom 18. November 1985 zur Einführung von Maßnahmen der Gemeinschaft zur Bekämpfung der Maul- und Klauenseuche, ABl. L 315 vom 26. November 1985, S. 11 – 18, in der Fassung der Richtlinie 90/423/EWG des Rates vom 26. Juni 1990 zur Änderung der Richtlinie 85/511/EWG zur Einführung von Maßnahmen der Gemeinschaft zur Bekämpfung der Maul- und Klauenseuche, der Richtlinie 64/432/EWG zur Regelung viehseuchenrechtlicher Fragen beim innergemeinschaftlichen Handelsverkehr mit Rindern und Schweinen und der Richtlinie 72/462/EWG zur Regelung viehseuchenrechtlicher und gesundheitlicher Fragen bei der Einfuhr von Rindern und Schweinen, von frischem Fleisch oder von Fleischerzeugnissen aus Drittländern, ABl. L 224 vom 18. August 1990, Seiten 13 – 18. 705 Wolf, Individueller Rechtsschutz, Seite 1375, sieht diese Entscheidung fehlerhaft als zu einer nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinie ergangen an. 706 EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 7]. 707 EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 16 und 29].

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich mache oder übermäßig erschwere“ 708. Der Gerichtshof ging in seinem Urteil von dem Grundsatz der Verfahrensautonomie und den diesen einschränkenden Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz aus und sah den Äquivalenzgrundsatz deshalb nicht als verletzt an, weil die Beschränkung einer amtswegigen Rechtsprüfung auf bloße Zulässigkeits- und Zuständigkeitsvorschriften gleichermaßen materielle Klagegründe des mitgliedsstaatlichen Rechts als auch solche des Unionsrechts – hier: der Richtlinie – erfasse 709. In Bezug auf den Effektivitätsgrundsatz geht der Gerichtshof nach der Darstellung seines Prüfungsrahmens von seiner Entscheidung in der Rs. C-430/93 van Schijndel und van Veen 710 aus und wiederholt seine dortige Feststellung, dass mit dem Effektivitätsgrundsatz ein nationaler Rechtsgrundsatz vereinbar sei, wonach die Befugnis des Gerichts, in einem nationalen Verfahren bestimmte Gesichtspunkte von Amts wegen zu prüfen, dadurch begrenzt ist, dass sich das Gericht an den Streitgegenstand halten und seine Entscheidung auf den ihm vorgetragenen Sachverhalt stützen müsse, da dieses Prinzip dadurch gerechtfertigt werde, dass die Initiative in einem Prozess den Parteien zustehe und das Gericht folglich nur in Ausnahmefällen im Interesse der öffentlichen Ordnung von Amts wegen tätig werden dürfe, es die Verteidigungsrechte schütze und den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens dadurch gewährleiste, dass es dieses insbesondere vor den mit der Prüfung neuen Vorbringens verbundenen Verzögerungen bewahre 711. Der Effektivitätsgrundsatz steht nach dem Gerichtshof daher einer nationalen Vorschrift, die die nationalen Gerichte daran hindert, von Amts wegen die Frage eines Verstoßes gegen Unionsvorschriften aufzugreifen, dann nicht entgegen, wenn die mitgliedsstaatlichen Gerichte durch die Prüfung dieser Frage die ihnen grundsätzlich gebotene Passivität aufgeben müssten, indem sie die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten und sich auf andere Tatsachen 708 EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 17]. 709 EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 28 bis 31]. 710 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705. 711 EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 33 bis 35].

4. „Effet utile“

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und Umstände stützen, als sie die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung der betreffenden Unionsvorschriften hat, ihrem Begehren zugrunde gelegt hat, und zwar selbst dann nicht, wenn nur eine gerichtliche Entscheidungsinstanz vorhanden ist 712. Anschließend 713 sieht der Gerichtshof die Notwendigkeit, das von ihm gefundene Ergebnis mit seiner übrigen bisherigen Rechtsprechung in einen Einklang zu bringen und sieht die Urteile in den Rechtssachen C-126/97 714, C-240/98 bis C-244/98 715, C-473/00 716 und C-168/05 717 zum einen als durch die besonderen Umstände des Einzelfalls geprägt an, da in jenen Streitsachen dem Kläger des Ausgangsverfahrens die Möglichkeit genommen gewesen sei, die Unvereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit dem Gemeinschaftsrecht in geeigneter Weise geltend zu machen. Zum anderen seien jene Entscheidungen durch das Erfordernis gerechtfertigt gewesen, für Verbraucher den mit der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen angestrebten effektiven Schutz sicherzustellen. Der Gerichtshof sieht damit eine Abweichung von den in seinem Urteil vom 7. Juni 2007 gegebenen Grundsätzen in einem Einzelfall nur dann als geboten an, wenn dem Kläger des jeweiligen Ausgangsverfahrens ansonsten die Möglichkeit genommen wäre, die Unvereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit dem Unionsrecht in geeigneter Weise geltend zu machen, oder wenn im Sinne eines „effet utile“ in obigem Verständnis andernfalls der durch eine Richtlinie angestrebte effektive (Verbraucher-) Schutz nicht gewährleistet wäre. Dies betont den Charakter des Urteils als Leitentscheidung. In dem hier zu entscheiden Zusammenhang ist ferner hervorzuheben, dass der Gerichtshof das geschriebene Prozessrecht explizit immer allein in seiner 712

EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 36 bis 38]. 713 EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 39 bis 40]. 714 EuGH, EuGH, Urteil vom 1. Juni 1999, Rs. C-126/97 [Eco Swiss China Time Ltd gegen Benetton International NV], Slg. 1999, I-03055. 715 EuGH, Urteil vom 27. Juni 2000, Rs.C-240/98 bis 244/98 [Océano Grupo Editorial SA gegen Roció Murciano Quintero (C-240/98) und Salvat Editores SA gegen José M. Sánchez Alcón Prades (C-241/98), José Luis Copano Badillo (C-242/98), Mohammed Berroane (C-243/98) und Emilio Viñas Feliú (C-244/98)], Slg. 2000, I-04941. 716 EuGH, Urteil vom 21. November 2002, Rs. C-473/00 [Cofidis SA gegen Jean-Louis Fredout], Slg. 2002, I-10875. 717 EuGH, Urteil vom 26. Oktober 2006, Rs. C-168/05 [Elisa María Mostaza Claro gegen Centro Móvil Milenium SL], Slg. 2006, I-10421.

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die Rechtswirklichkeit widerspiegelnden richterrechtlichen Auslegung berücksichtigt 718. (η) Ergebnis Der Effektivitätsgrundsatz selbst verpflichtet nach dem Gerichtshof die mitgliedsstaatlichen Gerichte nur in Ausnahmefällen auch dazu, einen Klagegrund von Amts wegen zu prüfen. Die in der Literatur vertretene These, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs „die verfahrensrechtliche Autonomie gegenüber dem Grundsatz der Effektivität im Konfliktfall grundsätzlich zurücktreten muss“ 719, lässt sich demgegenüber nicht vertreten. Erstes Prinzip in der Rechtsprechung des Gerichtshof ist es, dass eine Verpflichtung der mitgliedsstaatlichen Gerichte zu einer Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen dann nicht besteht, wenn das mitgliedsstaatliche Recht eine solche Anwendung von Amts wegen untersagt 720. Das Unionsrecht ist demgegenüber immer dann von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn eine mitgliedsstaatliche Norm – etwa durch die Verwendung eines generalklauselartigen Begriffes wie dem der „öffentlichen Ordnung“ – eine Möglichkeit gibt, das Unionsrecht von Amts wegen zu berücksichtigen. Eine Pflicht zu einer Anwendung des Unionsrechts von Amts wegen besteht immer schon dann, wenn das mitgliedsstaatliche Recht eine Rechtsprüfung von Amts wegen nur gestattet 721. Eine solche Berücksichtigung muss dann von Amts wegen erfolgen, um der Effektivität des Unionsrechts Wirkung zu verschaffen. Eine solche Möglichkeit zu einer Berücksichtigung des mitgliedsstaatlichen Rechts von Amts wegen kann – wie gezeigt 722 – auch richterrechtlich bestehen; jede geschriebene oder richterrechtliche Möglichkeit zu einer Berücksichtigung des mitgliedsstaatlichen Rechts – insbesondere über die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe – erstarkt dann zu einer unionsrechtlichen Berücksichtigungspflicht. Insoweit überschneiden sich die Folgerungen aus dem Effektivitätsgebot mit dem Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs einer mitgliedsstaatlichen Rechtsnorm und den Folgerungen aus dem Äquivalenzprinzip.

718 So auch schon EuGH, Urteil vom 9. Dezember 2003, Rs. C-129/00 [Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Italienische Republik], Slg. 2003, I-14637 [Rn 30]: „Die Bedeutung der nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften ist unter Berücksichtigung ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte zu beurteilen.“ 719 Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 149. 720 Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 151. 721 Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 152. 722 V. 4. b) (2) (f) (aa) (ζ).

4. „Effet utile“

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Ein weiteres Prinzip liegt darin, dass andererseits – sozusagen als Rückausnahme – mit dem Effektivitätsgrundsatz ein nationaler Rechtsgrundsatz vereinbar ist, wonach die Befugnis des Gerichts, in einem nationalen Verfahren bestimmte Gesichtspunkte von Amts wegen zu prüfen, dadurch begrenzt wird, dass sich das Gericht an den Streitgegenstand halten und seine Entscheidung auf den ihm vorgetragenen Sachverhalt stützen muss. Denn dieses (Rückausnahme-) Prinzip wird dadurch gerechtfertigt, dass die Initiative in einem Prozess den Parteien zusteht und das Gericht folglich nur in Ausnahmefällen im Interesse der öffentlichen Ordnung von Amts wegen tätig werden darf, dass es die Verteidigungsrechte schützen muss und dass es den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens dadurch gewährleistet, dass es dieses insbesondere vor den mit der Prüfung neuen Vorbringens verbundenen Verzögerungen bewahrt 723. Die Begrenzung der gerichtlichen Entscheidungskompetenz durch den Streitgegenstand folgt damit auch aus unionsrechtlicher Sicht bereits aus dem reaktiven Auftrag jeder Rechtsprechung, als unbeteiligte und neutrale Instanz Streitigkeiten Dritter zu entscheiden, was ein gerichtliches Initiativrecht gerade ausschließt 724. Der Effektivitätsgrundsatz steht nach dem Gerichtshof daher einer nationalen Vorschrift, die die nationalen Gerichte daran hindert, von Amts wegen die Frage eines Verstoßes gegen Unionsvorschriften aufzugreifen, dann nicht entgegen, wenn die mitgliedsstaatlichen Gerichte durch die Prüfung dieser Frage die ihnen grundsätzlich gebotene Passivität aufgeben müssten, indem sie die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten und sich auf andere Tatsachen und Umstände stützen, als sie die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung der betreffenden Gemeinschaftsvorschriften hat, ihrem Begehren zugrunde gelegt hat, und zwar selbst dann nicht, wenn nur eine gerichtliche Entscheidungsinstanz vorhanden ist 725. Eine Einordnung der in Rede stehenden Norm des Unionsrechts nach ihrer Bedeutung für das Unionsinteresse beziehungsweise eine materielle Unterscheidung zwischen grundlegenden Bestimmungen des Unionsrechts und seinen sonstigen Vorschriften 726 ist damit nicht unter dem Topos des Effektivitätsprinzips 727, 723

EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 33 bis 35]. 724 Gärditz, Europäisches Verwaltungsprozessrecht, Seite 393. 725 EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 36 bis 38]; Hirsch, Europarechtliche Perspektiven, Seite 73. 726 Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 161. 727 Anderer Ansicht Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 153.

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

sondern allenfalls zu der Frage, ob eine Richtlinie ein effektiv zu schützendes Recht gewährt 728, notwendig 729. Bei der hier erfolgten Prinzipienbildung ist ferner die Bildung eines „ordre public communautaire“ – der Bestimmung eines öffentlichen Unionsinteresses und einer Pflicht, in dessen Bereich Unionsrecht von Amts wegen durch die mitgliedsstaatlichen Gerichte grundsätzlich von Amts wegen anzuwenden 730, überflüssig, sodass die insoweit bestehenden kompetenzrechtlichen Bedenken 731 – Schaffung einer wie ausgeführt nach den Verträgen nicht bestehenden Kompetenz für das gerichtliche Verfahren über die Rechtsfigur eines „ordre public communautaire“ – nicht nachgegangen zu werden braucht. (bb) Vorhandensein positiver Verfahrensregelungen in Richtlinien und richtlinienkonforme Auslegung des mitgliedsstaatlichen (Prozess-)rechts Unter dem Topos einer Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen werden in der Literatur auch zahlreiche Entscheidungen des Gerichtshofs diskutiert, die sich mit positiven Verfahrensregelungen in Richtlinien beschäftigten. Es soll gezeigt werden, dass diese Entscheidungen der Sache nach unter den Topoi des Vorrangs des Unionsrechts bzw. einer richtlinienkonformen Auslegung zu verorten sind. (α) Rs. C-240/98 bis C-244/98 Fragen einer richtlinienkonforme Auslegung des mitgliedsstaatlichen Zivilprozessrechts hatte ein Urteil des Gerichtshofs vom 27. Juni 2000 zu seinem Gegenstand 732. Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens war die Frage, ob der Schutz, den die Richtlinie 93/13 733 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen den Verbrauchern gewährt, es erfordert, dass das mitgliedsstaatliche Gericht 728

Ad hoc. Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro vom 1. März 2007, Rs. C-222/ 05 bis C-225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 27 ff.]. 730 Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 161. 731 Vgl. oben V. 4. b) aa). 732 EuGH, Urteil vom 27. Juni 2000, Rs.C-240/98 bis 244/98 [Océano Grupo Editorial SA gegen Roció Murciano Quintero (C-240/98) und Salvat Editores SA gegen José M. Sánchez Alcón Prades (C-241/98), José Luis Copano Badillo (C-242/98), Mohammed Berroane (C-243/98) und Emilio Viñas Feliú (C-244/98)], Slg. 2000, I-04941. 729

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von Amts wegen prüfen kann, ob eine Klausel des ihm vorgelegten Vertrages missbräuchlich ist, wenn es die Zulässigkeit einer bei den nationalen Gerichten eingereichten Klage prüft. Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie lautet: „Eine Vertragsklausel, die nicht im einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.“ 6 Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie verweist auf deren Anhang, der „eine als Hinweis dienende und nicht erschöpfende Liste der Klauseln [enthält], die für missbräuchlich erklärt werden können“. In diesem Anhang werden unter Nummer 1 die Klauseln aufgeführt, „die darauf abzielen oder zur Folge haben, dass [...] q) dem Verbraucher die Möglichkeit, Rechtsbehelfe bei Gericht einzulegen oder sonstige Beschwerdemittel zu ergreifen, genommen oder erschwert wird ...“. Artikel 7 Abs. 1 der Richtlinie bestimmte ferner, dass die Mitgliedsstaaten dafür sorgen, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird. Artikel 7 Abs. 2 der Richtlinie schreibt die Verbandsklage als zulässig vor. In den Ausgangsverfahren hatten die Beklagten – spanische und dort wohnende Staatsbürger – Ratenkaufverträge über eine Enzyklopädie für private Zwecke geschlossen; die ebenfalls in Spanien ansässigen Kläger und Verkäufer dieser Enzyklopädien hatten mit Vertragsklauseln ihren Sitz – Barcelona – als Gerichtsstand vereinbart, wo keiner der Beklagten des Ausgangsverfahrens wohnte. Das angegangene spanische Gericht stellte den Beklagten wegen Zweifeln an seiner Zuständigkeit in Anbetracht der Reglungen der Richtlinie 93/13 nicht zu, sodass sich diese auch nicht auf diese berufen konnten. Die fragliche Richtlinie war mangels einer fristgemäßen Umsetzung durch Spanien in unmittelbare Anwendung erwachsen. Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass eine Gerichtsstandsklausel, die in einen Vertrag zwischen einem Verbraucher und einem Gewerbetreibenden aufgenommen worden sei, ohne im Einzelnen ausgehandelt worden zu sein, und die die ausschließliche Zuständigkeit dem Gericht zuweise, in dessen Bezirk der Gewerbetreibende seine Niederlassung habe, als missbräuchlich im Sinne des Artikels 3 der Richtlinie 93/13 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen anzusehen sei, da sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertiges Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursache 734. Damit bejahte der Gerichtshof die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage. 733

Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. L 95 vom 21. April 1993, S. 29 –34 [Klausel- bzw. Verbraucherschutzrichtlinie].

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Die Frage, ob ein Gericht, das mit einem Rechtsstreit über einen Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher befasst ist, von Amts wegen prüfen kann, ob eine Klausel dieses Vertrages missbräuchlich ist, geht der Gerichtshof in der Argumentation von dem Institut der Richtlinie und deren Sinn und Zweck her an, indem er zunächst feststellt, dass das durch die Richtlinie eingeführte Schutzsystem davon ausgehe, dass der Verbraucher sich gegenüber dem Gewerbetreibenden in einer schwächeren Verhandlungsposition befinde und einen geringeren Informationsstand besitze, was dazu führe, dass er den vom Gewerbetreibenden vorformulierten Bedingungen zustimme, ohne auf deren Inhalt Einfluss nehmen zu können 735. Das Ziel des Artikels 6 der Richtlinie, nach dem die Mitgliedsstaaten vorsähen, dass missbräuchliche Klauseln für den Verbraucher unverbindlich seien, könne nicht erreicht werden, wenn die Verbraucher die Missbräuchlichkeit solcher Klauseln selbst geltend machen müssten 736. Hierfür führt der Gerichtshof insbesondere das mit einem Anwaltsprozess verbundene Prozessrisiko an, das gerade bei geringen Streitwerten den Verbraucher davon abhalten könne, sich gegen die Anwendung einer missbräuchlichen Klausel zur Wehr zu setzen, sowie die Unkenntnis der Verbraucher von den schützenden Regelungen an. „Infolgedessen kann ein wirksamer Schutz des Verbrauchers nur erreicht werden, wenn dem nationalen Gericht die Möglichkeit eingeräumt wird, eine solche Klausel von Amts wegen zu prüfen.“ 737 Auch gehe das durch die Richtlinie eingeführte Schutzsystem davon aus, dass die Ungleichheit zwischen Verbraucher und Gewerbetreibenden nur durch ein positives Eingreifen von dritter Seite, die von den Vertragsparteien unabhängig ist, ausgeglichen werden könne. Daher schreibe auch Artikel 7 der Richtlinie in 734

EuGH, Urteil vom 27. Juni 2000, Rs.C-240/98 bis 244/98 [Océano Grupo Editorial SA gegen Roció Murciano Quintero (C-240/98) und Salvat Editores SA gegen José M. Sánchez Alcón Prades (C-241/98), José Luis Copano Badillo (C-242/98), Mohammed Berroane (C-243/98) und Emilio Viñas Feliú (C-244/98)], Slg. 2000, I-04941 [Rn. 21 ff.]. 735 EuGH, Urteil vom 27. Juni 2000, Rs.C-240/98 bis 244/98 [Océano Grupo Editorial SA gegen Roció Murciano Quintero (C-240/98) und Salvat Editores SA gegen José M. Sánchez Alcón Prades (C-241/98), José Luis Copano Badillo (C-242/98), Mohammed Berroane (C-243/98) und Emilio Viñas Feliú (C-244/98)], Slg. 2000, I-04941 [Rn. 25]. 736 EuGH, Urteil vom 27. Juni 2000, Rs.C-240/98 bis 244/98 [Océano Grupo Editorial SA gegen Roció Murciano Quintero (C-240/98) und Salvat Editores SA gegen José M. Sánchez Alcón Prades (C-241/98), José Luis Copano Badillo (C-242/98), Mohammed Berroane (C-243/98) und Emilio Viñas Feliú (C-244/98)], Slg. 2000, I-04941 [Rn. 26]. 737 EuGH, Urteil vom 27. Juni 2000, Rs.C-240/98 bis 244/98 [Océano Grupo Editorial SA gegen Roció Murciano Quintero (C-240/98) und Salvat Editores SA gegen José M. Sánchez Alcón Prades (C-241/98), José Luis Copano Badillo (C-242/98), Mohammed Berroane (C-243/98) und Emilio Viñas Feliú (C-244/98)], Slg. 2000, I-04941 [Rn. 26].

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seinem Absatz 1 den Mitgliedsstaaten vor, dafür zu sorgen, dass angemessene und wirksame Mittel vorhanden seien, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln ein Ende gesetzt werde. Diesem Ausgleich diene auch Absatz 2 des Artikel 7, der vorsehe, dass diese Mittel die Möglichkeit anerkannter Verbraucherschutzverbände einschließen müssten, die Gerichte anzurufen, um klären zu lassen, ob Vertragsklauseln, die im Hinblick auf eine allgemeine Verwendung abgefasst worden seien, missbräuchlich seien, und gegebenenfalls deren Verbot zu erreichen, auch wenn sie nicht konkret in einem Vertrag verwendet worden seien. Aus der expliziten Zulassung der Verbandsklage als noch stärkerem Schutzmittel der Richtlinie sei dann aber auch auf die Möglichkeit des Gerichts, von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Klausel zu prüfen, zu schließen 738. Art. 288 Abs. 3 AEUV erfordere daher eine richtlinienkonforme Auslegung, „um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise [Art 288 Abs. 3 AEUV] nachzukommen“ 739. Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist damit, dass der Gerichtshof zentral von Art. 288 Abs. 3 AEUV aus argumentiert und keine Differenzierung nach etwaigen „Wertigkeiten“ der fraglichen Bestimmungen des Unionsrechts (hier: dem Verbraucherschutz) vornimmt. Auch sind diese dogmatischen Herleitungen und Formulierungen des Urteils nicht geeignet, eine Differenzierung zwischen Gerichtsstandsklauseln und sonstigen – auch materiell – missbräuchlichen Klauseln zu tragen. Der Gerichtshof sieht die Richtlinie gerade deshalb als existent an, weil in ihrem Anwendungsbereich angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse am Markt die Privatautonomie nicht in der Lage ist, für einen angemessenen Interessenausgleich zwischen den Vertragsparteien zu sorgen; die Einschränkung der autonomen Gestaltung der Vertragsverhältnisse durch den Richtliniengeber indiziert dann auch die Notwendigkeit einer amtswegigen Berücksichtigung des jeweiligen Regelungsgehalts der Richtlinienbestimmung. Die Entscheidung argumentiert damit letztendlich von dem Vorrang des Unionsrechts aus. (β) Rs. C-473/00 Diese Argumentation „aus Art. 288 Abs. 3 AEUV und der Richtlinie heraus“ bestätigte der Gerichtshof durch eine Entscheidung vom 27. November 2002 740. 738 EuGH, Urteil vom 27. Juni 2000, Rs.C-240/98 bis 244/98 [Océano Grupo Editorial SA gegen Roció Murciano Quintero (C-240/98) und Salvat Editores SA gegen José M. Sánchez Alcón Prades (C-241/98), José Luis Copano Badillo (C-242/98), Mohammed Berroane (C-243/98) und Emilio Viñas Feliú (C-244/98)], Slg. 2000, I-04941 [Rn. 27 f.]. 739 EuGH, Urteil vom 27. Juni 2000, Rs.C-240/98 bis 244/98 [Océano Grupo Editorial SA gegen Roció Murciano Quintero (C-240/98) und Salvat Editores SA gegen José M. Sánchez Alcón Prades (C-241/98), José Luis Copano Badillo (C-242/98), Mohammed Berroane (C-243/98) und Emilio Viñas Feliú (C-244/98)], Slg. 2000, I-04941 [Rn. 30].

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Obwohl in dem Verfahren, das eine Regelung des nationalen Verbraucherschutzrechts zu seinem Gegenstand hatte, die für Streitigkeiten aus der Anwendung des die Verbraucherschutzrichtlinie umsetzenden Gesetzes eine mitgliedsstaatliche Ausschlussfrist von zwei Jahren nach dem die Streitigkeit auslösenden Ereignis – der Verwendung einer beeinträchtigenden missbräuchlichen Vertragsklausel durch einen Gewerbetreibenden – vorsah, vorgetragen worden war, dass „die Frage der Geltung einer solchen Frist nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie zu beantworten [sei, nachdem] es Sache jedes Mitgliedsstaats [sei], in seinem innerstaatlichen Recht unter Beachtung der Grundsätze der Gleichwertigkeit und der Effektivität die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die zur Wahrung derjenigen Rechte erhoben würden, die der Einzelne aus der Richtlinie ableite“ 741, ging der Gerichtshof davon aus, dass „die Befugnis des Gerichts, von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Klausel zu prüfen, als ein Mittel anzusehen ist, das geeignet ist, das in Artikel 6 der Richtlinie festgelegte Ziel, zu verhindern, dass der einzelne Verbraucher an eine missbräuchliche Klausel gebunden ist, zu erreichen und die Verwirklichung des Zieles des Artikels 7 der Richtlinie zu fördern, da eine solche Prüfung abschreckend wirken kann und damit dazu beiträgt, dass der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch Gewerbetreibende in Verbraucherverträgen ein Ende gesetzt wird“ 742. Der den Verbrauchern durch die Richtlinie gewährte Schutz erstrecke sich daher auf alle Fälle, in denen dieser seine Rechte nicht kenne oder er durch die zu erwartenden Kosten der Rechtsverfolgung von deren Geltendmachung abgeschreckt werde: „Daher ist in von Gewerbetreibenden gegen Verbraucher angestrengten Verfahren, die auf die Durchsetzung missbräuchlicher Klauseln gerichtet sind, die Festlegung einer zeitlichen Begrenzung für die Befugnis des Gerichts, solche Klauseln von Amts wegen oder auf eine vom Verbraucher erhobene Einrede hin unberücksichtigt zu lassen, geeignet, die Effektivität des von den Artikeln 6 und 7 der Richtlinie gewollten Schutzes zu beeinträchtigen. Die Gewerbetreibenden brauchten nämlich, um dem Verbraucher diesen Schutz zu nehmen, nur den Ablauf der vom nationalen Gesetzgeber festgelegten Frist abzuwarten, um sodann Klage zur Durchsetzung der weiter in ihren Verträgen verwendeten missbräuchlichen Klauseln zu erheben.“ 743 Daher sei „eine Verfahrensbestimmung, die es dem nationalen Gericht nach Ablauf einer Ausschlussfrist verwehrt, von Amts wegen oder auf eine von einem Verbraucher erhobene Einrede hin die 740

EuGH, Urteil vom 21. November 2002, Rs. C-473/00 [Cofidis SA Jean-Louis Fredout], Slg. 2002, I-10875; hierzu auch Micklitz / Rott, in: Dauses, buch des EU-Wirtschaftsrechts, H. V. Rn. 576. 741 EuGH, Urteil vom 21. November 2002, Rs. C-473/00 [Cofidis SA Jean-Louis Fredout], Slg. 2002, I-10875 [Rn. 28]. 742 EuGH, Urteil vom 21. November 2002, Rs. C-473/00 [Cofidis SA Jean-Louis Fredout], Slg. 2002, I-10875 [Rn. 32]. 743 EuGH, Urteil vom 21. November 2002, Rs. C-473/00 [Cofidis SA Jean-Louis Fredout], Slg. 2002, I-10875 [Rn. 35].

gegen Handgegen gegen gegen

4. „Effet utile“

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Missbräuchlichkeit einer Klausel festzustellen, zu deren Durchsetzung der Gewerbetreibende Klage erhoben hat, geeignet, in Rechtsstreitigkeiten, in denen der Verbraucher Beklagter ist, die Gewährung des Schutzes, den die Richtlinie dem Verbraucher zukommen lassen will, übermäßig zu erschweren.“ 744 Der Gerichtshof argumentiert hier also von dem Schutzzweck der Richtlinie aus und folgt aus diesem die Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen auch bis zu einer Verdrängung einer expliziten mitgliedsstaatlichen Ausschlussfrist hin. Die alleinige Argumentation von dem Schutzzweck der Richtlinie her wird noch unterstrichen, wenn man sich klar macht, dass der Gerichtshof durch die gewählten Formulierungen allein Klagen des Gewerbetreibenden gegen den zu schützenden Verbraucher oder dessen Einreden in den Blick nimmt. Gleichzeitig stellt der Gerichtshof hier fest, dass es sich bei dem entschiedenen Fall eigentlich nicht um eine Anwendung des Prinzips der Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten und deren Einschränkung durch die beschriebenen Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz, sondern um die Durchsetzung des Vorrangprinzips – hier: einer Richtlinie – zu Lasten des mitgliedsstaatlichen Prozessrechts handelt. Sieht man diese Blickrichtung des Gerichtshofs vom Vorrangprinzip her, so stellt sich auch nicht die in der zivilrechtlichen Literatur 745 gestellte Frage, ob aus dieser Entscheidung nicht nur eine Berechtigung der mitgliedsstaatlichen Gerichte zu einer Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen, sondern auch eine entsprechende Verpflichtung folge. Zum einen differenziert der Gerichtshof wörtlich danach, das Unionsrecht „von Amts wegen oder auf eine vom Verbraucher erhobene Einrede hin“ 746 zu berücksichtigen, und nimmt damit sowohl die Möglichkeit der Berücksichtigung auf eine Einrede hin als auch eine Verpflichtung von Amts wegen in den Blick. Zum anderen ist nur durch eine Berücksichtigung von Amts wegen der von dem Gerichtshof aus der Richtlinie heraus geforderte bestmögliche Verbraucherschutz zu realisieren. Das Unionsrecht ist daher insoweit nach dem Gerichtshof von Amts wegen zu berücksichtigen 747, aber als Ausfluss des Vorrangprinzips.

744 EuGH, Urteil vom 21. November 2002, Rs. C-473/00 [Cofidis SA gegen Jean-Louis Fredout], Slg. 2002, I-10875 [Rn. 36]. 745 Herb, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationaler Zivilprozess, Seite 31. 746 EuGH, Urteil vom 21. November 2002, Rs. C-473/00 [Cofidis SA gegen Jean-Louis Fredout], Slg. 2002, I-10875 [Rn. 35]. 747 Borges, AGB-Kontrolle durch den EuGH, NJW 2001, 2061 [2061].

424

V. Unionsrechtliche Vorgaben

(γ) Rs. C-168/05 Erneut zu der zuvor bereits behandelten Verbraucherschutzrichtlinie äußerte sich der Gerichtshof in einem Urteil vom 26. Oktober 2006 748. Bei einer – soweit hier interessanten – hinreichenden Umsetzung der Verbraucherschutzrichtlinie in das mitgliedsstaatliche spanische Recht bestanden ferner die mitgliedsstaatlichen Regelungen, dass der Einspruch gegen ein Schiedsverfahren – unter anderem wegen der Nichtigkeit der Schiedsvereinbarung – in dem Zeitpunkt der Antragsstellung in dem Schiedsverfahren zu stellen sei; ferner sah das mitgliedsstaatliche Recht vor, dass ein Schiedsspruch gerichtlich unter anderem wegen eines Widerspruchs zur öffentlichen Ordnung aufgehoben werden konnte. Da die Verbraucherin in dem Schiedsverfahren über Ansprüche aus einem von ihr geschlossenen Mobilfunkvertrag, der eine missbräuchliche Schiedsklausel enthielt, das Schiedsverfahren und die Schiedsvereinbarung nicht angriff, sondern Argumente zur Sache vortrug, stellte sich für das vorlegende Gericht, vor dem die beklagte Verbraucherin den ihr ungünstigen Schiedsspruch angegriffen hatte, die Frage, ob es die Nichtigkeit der Schiedsvereinbarung prüfen könne, wenn diese nicht in dem Schiedsverfahren, sondern erst in dem gerichtlichen Verfahren angegriffen worden sei. Der Gerichtshof argumentiert in der Entscheidung zunächst von seinem in ständiger Rechtsprechung formulierten Grundsatz aus, nach dem mangels einer einschlägigen Unionsregelung die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedsstaats sind; sie jedoch nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln (Äquivalenzprinzip), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsprinzip) dürfen 749. Anschließend 750 geht der Gerichtshof zu dem durch die Richtlinie eingeführten Schutzsystem über, beschreibt die schwächere Verhandlungsposition der Verbraucher gegenüber dem Gewerbetreibenden sowie das Informationsdefizit des Verbrauchers und die hieraus resultierende Akzeptanz vorformulierter Vertragsbedingungen, und bewertet diese Ungleichheit zwischen Verbraucher und Gewerbetreibendem als nur durch ein positives Eingreifen von dritter, von den Vertragsparteien unabhängiger Seite ausgleichbar. 748 EuGH, Urteil vom 26. Oktober 2006, Rs. C-168/05 [Elisa María Mostaza Claro gegen Centro Móvil Milenium SL], Slg. 2006, I-10421. 749 EuGH, Urteil vom 26. Oktober 2006, Rs. C-168/05 [Elisa María Mostaza Claro gegen Centro Móvil Milenium SL], Slg. 2006, I-10421 [Rn. 24]. 750 EuGH, Urteil vom 26. Oktober 2006, Rs. C-168/05 [Elisa María Mostaza Claro gegen Centro Móvil Milenium SL], Slg. 2006, I-10421 [Rn. 25 bis 31].

4. „Effet utile“

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Einen solchen, angesichts der nicht zu unterschätzenden Gefahr, dass der Verbraucher seine Rechte nicht kennt oder Schwierigkeiten hat, sie auszuüben, für den wirksamen Schutz des Verbrauchers als notwendig anzusehenden Ausgleich für die schwächere Verbraucherposition stelle auch die Befugnis der Gerichte dar, von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Klausel zu prüfen, da diese ein geeignetes Mittel sei, um das in Artikel 6 der Richtlinie festgelegte Ziel zu erreichen, zu verhindern, dass der einzelne Verbraucher an eine missbräuchliche Klausel gebunden werde, und um die Verwirklichung des Zieles des Artikels 7 der Richtlinie zu fördern, da eine solche Prüfung abschreckend wirken könne und damit dazu beitrage, dass der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch Gewerbetreibende in Verbraucherverträgen ein Ende gesetzt werde. Das von Artikel 6 der Richtlinie verfolgte Ziel, das die Mitgliedsstaaten verpflichtet, vorzusehen, dass die Verbraucher an missbräuchliche Klauseln nicht gebunden sind, könne nicht erreicht werden, wenn das Gericht, das über eine Klage auf Aufhebung eines Schiedsspruchs entscheide, nur deshalb daran gehindert sei, die Nichtigkeit dieses Schiedsspruchs zu prüfen, weil der Verbraucher die Nichtigkeit der Schiedsvereinbarung nicht in dem Rahmen des Schiedsverfahrens vorgebracht habe. Da das von der Richtlinie eingerichtete besondere Schutzsystem damit endgültig beeinträchtigt wäre, erfordere der Effektivitätsgrundsatz die Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen 751. Dem können nach dem Gerichtshof Erfordernisse der Wirksamkeit des Schiedsverfahrens, die es rechtfertigten, Schiedssprüche nur in beschränktem Umfang zu überprüfen und die Aufhebung eines Schiedsspruchs nur in außergewöhnlichen Fällen vorzusehen, dann nicht entgegen gehalten werden, wenn – wie hier – ein staatliches Gericht, soweit es nach seinen nationalen Verfahrensregeln einem Antrag auf Aufhebung eines Schiedsspruchs wegen Verletzung nationaler Bestimmungen, die zur öffentlichen Ordnung gehören, stattgeben muss; denn in einem solchen Fall müsse es einem solchen Antrag auch dann stattgeben, wenn er auf die Verletzung von entsprechenden Unionsvorschriften gestützt sei 752. Im Anschluss an diese Feststellung charakterisiert der Gerichtshof Art. 6 der Richtlinie wegen der Bedeutung des Verbraucherschutzes als eine zwingende Vorschrift, die wegen der Unterlegenheit einer der Vertragsparteien darauf ziele, die formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien als solcher durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so deren Gleichheit wiederherzustellen, und die Verbraucherschutzrichtlinie als solche als eine Maßnahme, die für die Erfüllung der Aufgaben der Union und insbesondere für die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität in der ganzen Union uner751

EuGH, Urteil vom 26. Oktober 2006, Rs. C-168/05 [Elisa María Mostaza Claro gegen Centro Móvil Milenium SL], Slg. 2006, I-10421 [Rn. 25 ff]. 752 EuGH, Urteil vom 26. Oktober 2006, Rs. C-168/05 [Elisa María Mostaza Claro gegen Centro Móvil Milenium SL], Slg. 2006, I-10421 [Rn. 34 und 35].

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

lässlich sei; die Art und die Bedeutung des öffentlichen Interesses, auf dem der durch die Richtlinie den Verbrauchern gewährte Schutz beruhe, „rechtfertigten es weiter“, dass das nationale Gericht von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel prüfen und damit dem Ungleichgewicht zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden abhelfen müsse 753. In der Bewertung haben damit die letztgenannten Erwägungen zur Bedeutung des Verbraucherschutzes eher den Charakter von Hilfserwägungen („rechtfertigen es weiter“). Auch in dieser Entscheidung argumentiert der Gerichtshof insbesondere von der Richtlinie und deren Schutzsystem her, das anders als durch eine Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen effektiv nicht verwirklicht werden könnte. Allerdings besteht auch bei dieser Entscheidung mit der Generalklausel der „öffentlichen Ordnung“ ein „Einfallstor“ für das mitgliedsstaatliche Gericht zu einer Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen, die der Gerichtshof einfordert. Dieser Ansatz des Gerichtshofs muss damit aber auch oder sogar eher mit dem Äquivalenzprinzip mit seinem oben beschriebenen Inhalt in Verbindung gebracht werden, nach dem die Verfahrensmodalitäten für unionsrechtlich geprägte Sachverhalte nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln: Die Vorschriften des Unionsrechts können die Wertung tragen, dass der Schiedsspruch der öffentlichen Ordnung widerspricht und eine entsprechende Subsumtion von Amts wegen rechtfertigen und sogar einfordern. (δ) Rs. C-243/08 Die Richtlinie 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen und die Prüfung ihrer Vorgaben von Amts wegen in dem mitgliedsstaatlichen Prozess war auch Gegenstand des Urteils des Gerichtshofs vom 4. Juni 2009 754. Das mitgliedsstaatliche (ungarische) Zivilrecht unterschied zwischen nichtigen und anderen Vertragsklauseln, die – wie die hier problematische, in Allgemeinen Geschäftsbedingungen getroffene Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten des Firmensitzes eines Mobilfunkunternehmens und zu Lasten des Wohnortes einer hiervon 275 km und ohne direkte Anbindung im öffentlichen Personenverkehr entfernt wohnenden Invalidin – nach einer hier erfolgten Sacheinlassung nicht mehr in Frage gestellt werden konnten. Eine derartige Gerichtsstandsklausel hat der Gerichtshof als alle Kriterien erfüllend angesehen, um als missbräuchlich in dem Sinne der Richtlinie bewertet werden zu 753

EuGH, Urteil vom 26. Oktober 2006, Rs. C-168/05 [Elisa María Mostaza Claro gegen Centro Móvil Milenium SL], Slg. 2006, I-10421 [Rn. 36 bis 38]. 754 EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, Rs. C-243/08 [Pannon GSM Zrt. gegen Erzsébet Sustikné Győrfi], NJW 2009, 2367.

4. „Effet utile“

427

können 755, und hat dann zu der Frage, ob eine solche Klausel von Amts wegen oder nur auf eine Rüge des durch sie Beschwerten zu berücksichtigen sei, ausgeführt, dass das Schutzziel des Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie, nach dem die Mitgliedsstaaten vorsehen, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und sie die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften festlegen, dann nicht erreicht werden könne, wenn die Verbraucher die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel selbst geltend machen müssten, und dass ein wirksamer Verbraucherschutz nur durch die Möglichkeit einer amtswegigen Prüfung derartiger Klauseln durch das Gericht gewährleistet werden könne 756. Bei Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie handele es sich um eine „zwingende Vorschrift, die wegen der Unterlegenheit einer der Vertragsparteien darauf zielt, die formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so deren Gleichheit wiederherzustellen“ 757, und die es daher wegen des durch die Richtlinie gewährten Schutzsystems und der Bedeutung des öffentlichen Interesses am Verbraucherschutz rechtfertige, eine Missbräuchlichkeit von Amts wegen zu prüfen und so die „praktische Wirksamkeit“ des mit der Richtlinie angestrebten Schutzes zu gewährleisten 758. Anders sei dies nur dann, wenn der Verbraucher trotz eines entsprechenden Hinweises des Gerichts die Missbräuchlichkeit einer Klausel und deren Unverbindlichkeit nicht geltend machen möchte 759. Dieses Urteil bestätigt das oben gefundene Ergebnis zur Bedeutung des Begriffs des zwingenden Unionsrechts als denjenigen Vorschriften, die „unmittelbar wirken“, und deren „praktische Wirksamkeit“ wegen des von der sie enthaltenden Richtlinie und deren Schutzsystem her, das anders als durch eine Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen effektiv nicht verwirklicht werden könnte, eben von Amts wegen zu berücksichtigen sind. Der Gerichtshof geht auch hier letztlich von dem Vorliegen einer direkten Kollision zwischen Richtlinienbestimmung und mitgliedsstaatlichem Prozessrecht aus, die in ihrem Ergebnis materiell nach dem Prinzip des Anwendungsvorrangs gelöst wird: Maßgeblich ist, welche Wirkungen der „effet utile“ der Richtlinie auf das Verfahrensrecht hat 760. Letztendlich sieht der Gerichtshof durch die Richtlinie einen 755

EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, Rs. C-243/08 Sustikné Győrfi], NJW 2009, 2367 [Rn. 40]. 756 EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, Rs. C-243/08 Sustikné Győrfi], NJW 2009, 2367 [Rn. 23]. 757 EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, Rs. C-243/08 Sustikné Győrfi], NJW 2009, 2367 [Rn. 25]. 758 EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, Rs. C-243/08 Sustikné Győrfi], NJW 2009, 2367 [Rn. 31 f.]. 759 EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, Rs. C-243/08 Sustikné Győrfi], NJW 2009, 2367 [Rn. 33].

[Pannon GSM Zrt. gegen Erzsébet [Pannon GSM Zrt. gegen Erzsébet [Pannon GSM Zrt. gegen Erzsébet [Pannon GSM Zrt. gegen Erzsébet [Pannon GSM Zrt. gegen Erzsébet

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Mindestschutz als gewährt an, dessen Garantien nicht durch das mitgliedsstaatliche Prozessrecht beeinträchtigt werden dürfen. (ε) Rs. C-40/08 Mit einem Urteil vom 6. Oktober 2009 761 entschied der Gerichtshof erneut Fragestellungen im Zusammenhang mit der Verbraucherschutz-Richtlinie; die Entscheidung problematisiert Fragen der Durchbrechung der Rechtskraft durch eine Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen. Das (spanische) Ausgangsverfahren war ein Vollstreckungsverfahren aus einem rechtskräftigen Schiedsspruch. Dieser war zustandegekommen aufgrund einer in einem Mobilfunkvertrag enthaltenen missbräuchlichen Schiedsklausel; diese enthielt den Sitz des Schiedsgerichtes nicht, und die Kosten der Verbraucherin zu einer Reise zu dessen Sitz hätten die streitige Forderung überstiegen. Die Rechtskraft des Schiedsspruchs trat dadurch ein, dass die betroffene Verbraucherin keinen Antrag auf Aufhebung dieses Spruchs innerhalb der hierfür gesetzlich vorgesehenen Frist gestellt hatte. Das spanische Vollstreckungsverfahren sah ferner vor, dass das zur Vollstreckung eines rechtskräftigen Schiedsspruchs angerufene Gericht dafür zuständig ist, die Frage, ob eine Schiedsklausel in einem Vertrag zwischen einem Verbraucher und einem Gewerbetreibenden wegen Verstoßes gegen zwingende nationale Vorschriften nichtig ist, von Amts wegen zu beurteilen 762. Das spanische Vollstreckungsgericht legte die Frage vor, ob die Richtlinie 93/13 dahin auszulegen sei, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Antrag auf Zwangsvollstreckung aus einem in Abwesenheit des Verbrauchers ergangenen rechtskräftigen Schiedsspruch anhängig ist, verpflichtet sei, die Missbräuchlichkeit der in einem zwischen einem Gewerbetreibenden und diesem Verbraucher geschlossenen Vertrag enthaltenen Schiedsklausel von Amts wegen zu prüfen und diesen Schiedsspruch aufzuheben 763. Der Gerichtshof stellt seiner Beurteilung die Bedeutung des mit der Richtlinie 93/13 geschaffenen Schutzsystems zu Gunsten des Verbrauchers, dessen schwächere Position gegenüber dem Gewerbetreibenden, den zwingenden Charakter der Unverbindlichkeitsanordnung für missbräuchliche Klauseln nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie, die Notwendigkeit eines positiven Eingreifens von dritter, von den Vertragsparteien unabhängiger Seite zum Verbraucherschutz und die aus diesen Grundsätzen folgende Verpflichtung der mitgliedsstaatlichen Ge760

Pfeiffer, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, Seite 2369. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom Telecomunicaciones SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris. 762 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom Telecomunicaciones SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris [Rn. 25, 40 und 55]. 763 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom Telecomunicaciones SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris [Rn. 28]. 761

4. „Effet utile“

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richte zu einer Prüfung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel von Amts wegen voran 764. Anschließend betont er die vorliegende Besonderheit, dass die Verbraucherin „im Laufe der verschiedenen Verfahren im Zusammenhang mit ihrem Rechtsstreit [...] völlig untätig geblieben ist und insbesondere keinen Antrag auf Aufhebung des Schiedsspruchs [...] mit dem Ziel gestellt hat, die Missbräuchlichkeit der Schiedsklausel anzufechten, sodass dieser Schiedsspruch jetzt in Rechtskraft erwachsen ist“ 765: „Unter diesen Umständen ist zu bestimmen, ob die Notwendigkeit, die formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so deren Gleichheit wiederherzustellen, das Vollstreckungsgericht verpflichtet, einen absoluten Schutz für den Verbraucher sicherzustellen, selbst wenn dieser keine Schritte zur gerichtlichen Geltendmachung seiner Rechte unternommen hat und ungeachtet des nationalen Verfahrensrechts, das den Grundsatz der Rechtskraft regelt“ 766. Diesen Prinzipien und Besonderheiten stellt der Gerichtshof sodann die von ihm in ständiger Rechtsprechung angenommene Bedeutung des Grundsatzes der Rechtskraft sowohl in dem Unionsrecht als auch in den nationalen Rechtsordnungen gegenüber und wiederholt seinen Grundsatz, dass es das Unionsrecht einem nationalen Gericht nicht gebietet, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch ein Verstoß dieser Entscheidung gegen Unionsrecht abgestellt werden könnte 767. In diesem Spannungsfeld leitet der Gerichtshof zu dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten und den diesen einschränkenden Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz über. Zu dem Effektivitätsgrundsatz stellt der Gerichtshof maßgeblich darauf ab, dass der Schiedsspruch des Ausgangsverfahrens dadurch rechtskräftig geworden ist, dass die betroffene Verbraucherin keinen Antrag auf Aufhebung dieses Spruchs innerhalb der hierfür vorgesehenen Frist gestellt hat. Derartige angemessene Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung seien jedoch in dem Interesse der Rechtssicherheit mit dem Unionsrecht vereinbar, da sie nicht geeignet seien, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren. Auch sei die konkrete 764 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris [Rn. 29 bis 32]. 765 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris [Rn. 33]. 766 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris [Rn. 34]. 767 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris [Rn. 35 bis 37].

Telecomunicaciones Telecomunicaciones Telecomunicaciones Telecomunicaciones

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Frist von 60 Tagen angemessen, sodass der Gerichtshof nicht feststellen konnte, dass die spanischen Verfahrensvorschriften zum Schutz der Verbraucher vor missbräuchlichen Vertragsklauseln die Ausübung der den Verbrauchern durch die Richtlinie 93/13 verliehenen Rechte unmöglich machen oder außerordentlich erschweren würde; ein Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz liege daher nicht vor 768. Die Entscheidung liegt damit unter dem hier relevanten Blick einer Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen auf der bisherigen generellen Linie des Gerichtshofs. Jedoch verwundert stark, dass der Gerichtshof, der ja auch zuvor des Öfteren darauf abgestellt hat, dass der Verbraucher seine Rechte nicht kennen würde oder die im Verhältnis zu der streitigen Forderung unverhältnismäßigen Kosten der Rechtsverfolgung scheuen würde, nun zumindest ein Tätigwerden des Verbrauchers, ein „sich Wehren“ fordert. Dass es aber keinen Unterschied machen kann, ob der Verbraucher, der seine Rechte nicht kennt, sich wehrt oder nicht, und dass allein schon höhere, die streitige Forderung übersteigende Reisekosten zum Ort des Schiedsgerichts auch schon ein Handeln als solches im Sinne eines „sich Wehrens“ hindern können, liegt auf der Hand. (ζ) Rs. C-227/08 Zu der Anwendbarkeit des Unionsrechts von Amts wegen in dem Geltungsbereich einer anderen Richtlinie in dem Bereich des Verbraucherschutzes – der sogenannten Haustürwiderrufsrichtlinie 769 – urteilte der Gerichtshof am 17. Dezember 2009 770. In den Erwägungsgründen 4 bis 6 der Richtlinie wird Folgendes ausgeführt: „Verträge, die außerhalb der Geschäftsräume eines Gewerbetreibenden abgeschlossen werden, sind dadurch gekennzeichnet, dass die Initiative zu den Vertragsverhandlungen in der Regel vom Gewerbetreibenden ausgeht und der Verbraucher auf die Vertragsverhandlungen nicht vorbereitet ist. Letzterer hat häufig keine Möglichkeit, Qualität und Preis des Angebots mit anderen Angeboten zu vergleichen. ... Um dem Verbraucher die Möglichkeit zu geben, die Verpflichtungen aus dem Vertrag noch einmal zu überdenken, sollte ihm das Recht eingeräumt werden, innerhalb von mindestens sieben Tagen vom Vertrag zurückzutreten. 768 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom Telecomunicaciones SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris [Rn. 4 bis 48]. 769 Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. L 372 vom 31. Dezember 1985, S. 31 – 33 [Haustürwiderrufsrichtlinie]. 770 EuGH, Urteil vom 17. Dezember 2009, Rs. C-227/08 [Eva Martín Martín gegen EDP Editores SL.], Juris.

4. „Effet utile“

431

Außerdem ist es geboten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass der Verbraucher schriftlich von seiner Überlegungsfrist unterrichtet ist.“

Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt, dass die Richtlinie für Verträge gilt, die zwischen einem Gewerbetreibenden, der Waren liefert oder Dienstleistungen erbringt, und einem Verbraucher geschlossen werden, wenn diese unter anderem anlässlich eines Besuchs des Gewerbetreibenden beim Verbraucher in seiner oder in der Wohnung eines anderen Verbrauchers, sofern der Besuch nicht auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers erfolgt, geschlossen werden. Art. 4 der Richtlinie normiert, dass der Gewerbetreibende den Verbraucher bei Geschäften im Sinne des Artikels 1 schriftlich über sein Widerrufsrecht innerhalb der in Artikel 5 festgelegten Fristen zu belehren und dabei den Namen und die Anschrift einer Person anzugeben hat, der gegenüber das Widerrufsrecht ausgeübt werden kann. Die Belehrung ist zu datieren und hat Angaben zu enthalten, die eine Identifizierung des Vertrages ermöglichen. Sie ist dem Verbraucher auszuhändigen, und zwar in dem Falle eines Besuchs des Gewerbetreibenden in der Wohnung des Verbrauchers zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Art. 4 der Richtlinie bestimmt ferner, dass die Mitgliedsstaaten dafür sorgen, dass ihre innerstaatlichen Rechtsvorschriften geeignete Maßnahmen zum Schutz des Verbrauchers vorsehen, wenn die in diesem Artikel vorgesehene Belehrung nicht erfolgt. Art. 5 der Richtlinie regelt die Rechtsfolgen einer unterbliebenen Belehrung: Nach Absatz 1 besitzt der Verbraucher das Recht, von der eingegangenen Verpflichtung zurückzutreten, indem er dies innerhalb von mindestens sieben Tagen nach dem Zeitpunkt, zu dem ihm die in Artikel 4 genannte Belehrung erteilt wurde, entsprechend dem Verfahren und unter Beachtung der Bedingungen, die im einzelstaatlichen Recht festgelegt sind, anzeigt. Absatz 2 bestimmt, dass die Anzeige bewirkt, dass der Verbraucher aus allen aus dem widerrufenen Vertrag erwachsenden Verpflichtungen entlassen ist. Die Richtlinie war hinreichend in das fragliche – spanische – mitgliedsstaatliche Recht umgesetzt worden, das in prozessualer Hinsicht den Dispositionsgrundsatz enthielt, nach dem das Gericht Tatsachen, Beweise und Ansprüche, die die Parteien nicht geltend gemacht haben, nicht von Amts wegen prüfen kann. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens hatte bei sich zu Hause einen Verbrauchervertrag mit dem Kläger des Ausgangsverfahrens über die Lieferung von 15 Büchern, fünf DVDs und einem DVD-Abspielgerät geschlossen, ohne über ihr Widerrufsrecht belehrt worden zu sein, und wurde gerichtlich auf die Zahlung von 1.861,52 Euro zuzüglich Zinsen und Kosten in Anspruch genommen. Das erstinstanzliche Urteil gab der Klage statt. Das Berufungsgericht stellte dem Gerichtshof die Frage nach der Berücksichtigung der Nichtigkeit des Vertrages wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht von Amts wegen, da die Beklagte des Ausgangsverfahrens die Nichtigkeit weder in dem ersten Rechtszuge noch in der Berufungsschrift geltend gemacht habe.

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V. Unionsrechtliche Vorgaben

Der Gerichtshof referiert auch hier zunächst die in den zuvor besprochenen Urteilen genannten Grundsätze zu einer Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen, wonach es das Unionsrecht von den nationalen Gerichten grundsätzlich nicht verlangt, von Amts wegen die Frage eines Verstoßes gegen das Unionsrecht aufzugreifen, wenn sie für die Prüfung dieser Frage die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten und sich auf andere Tatsachen und Umstände stützen müssten, als sie die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung der betreffenden Gemeinschaftsvorschriften hat, ihrem Begehren zugrunde gelegt hat 771. Anders sei dies, wenn ein Einschreiten in dem Interesse der öffentlichen Ordnung erforderlich sei 772. Hierfür sieht der Gerichtshof ein aus der unionsrechtlichen Bestimmung folgendes „öffentliches Interesse“ 773 als ausreichend an, das er aus dem Schutzzweck für den Verbraucher, der der Richtlinie zugrunde liege, folgert. Für diesen Schutzzweck nehme die Pflicht zu einer Widerrufsbelehrung „eine zentrale Stellung als wesentliche Garantie für die tatsächliche Ausübung des Widerrufsrechts und daher für die praktische Wirksamkeit des vom Gemeinschaftsgesetzgeber angestrebten Verbraucherschutzes“ 774 ein; sie betreffe daher die öffentliche Ordnung und könne ein positives Eingreifen des nationalen Gerichts in dem Sinne einer Berücksichtigung von Amts wegen rechtfertigen 775. Anschließend weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Gerichte das gesamte innerstaatliche Recht so weit wie möglich so auszulegen hätten, dass ein Ergebnis erzielt werde, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel vereinbar sei 776; allenfalls ein explizit entgegenstehender Wille des Verbrauchers sei zu berücksichtigen 777. Folge sei eine Berücksichtigung der Nichtigkeit von Amts wegen. Die Entscheidung bestätigt damit zunächst die vorherigen Erkenntnisse auch für den Anwendungsbereich einer weiteren Richtlinie, die prozessuale Anforderungen an die Wirksamkeit des zu gewährenden Rechtsschutzes formuliert.

771 EuGH, EDP Editores 772 EuGH, EDP Editores 773 EuGH, EDP Editores 774 EuGH, EDP Editores 775 EuGH, EDP Editores 776 EuGH, EDP Editores 777 EuGH, EDP Editores

Urteil vom 17. Dezember 2009, SL.], Juris [Rn. 19]. Urteil vom 17. Dezember 2009, SL.], Juris [Rn. 20]. Urteil vom 17. Dezember 2009, SL.], Juris [Rn. 21]. Urteil vom 17. Dezember 2009, SL.], Juris [Rn. 27]. Urteil vom 17. Dezember 2009, SL.], Juris [Rn. 28 f.]. Urteil vom 17. Dezember 2009, SL.], Juris [Rn. 31]. Urteil vom 17. Dezember 2009, SL.], Juris [Rn. 35].

Rs. C-227/08 [Eva Martín Martín gegen Rs. C-227/08 [Eva Martín Martín gegen Rs. C-227/08 [Eva Martín Martín gegen Rs. C-227/08 [Eva Martín Martín gegen Rs. C-227/08 [Eva Martín Martín gegen Rs. C-227/08 [Eva Martín Martín gegen Rs. C-227/08 [Eva Martín Martín gegen

4. „Effet utile“

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Indes fällt auf, dass der Gerichtshof eine Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen in Rn. 20 des Urteils als möglich ansieht, wenn ein Einschreiten des mitgliedsstaatlichen Gerichts „im Interesse der öffentlichen Ordnung“ geboten sei, er in der folgenden Randnummer jedoch prüft, ob die fragliche Bestimmung des Unionsrechts „auf einem solchen öffentlichen Interesse beruht“, und er dann in seiner abschließenden Würdigung Randnummer 28 feststellt, dass diese Richtlinienbestimmung über die Widerrufsbelehrung „die öffentliche Ordnung“ betreffe. Damit könnte sich auch hier die Frage stellen, ob der Gerichtshof zwischen „öffentlicher Ordnung“ und „öffentlichem Interesse“ differenziert, und ob er hier eine Art „ordre-Public des Unionsrechts“ etablieren will. Jedoch spricht die französische Textfassung des Urteils 778 durchgehend in allen drei Urteilspassagen von „intérêt public“, ebenso die englische Textfassung 779 von „public interest“, was entscheidend gegen eine in der deutschen Urteilsfassung verwendete weitergehende Differenzierung zwischen öffentlicher Ordnung und öffentlichem Interesse spricht. Auszugehen ist vielmehr davon, dass der Gerichtshof auch in dieser Entscheidung dem materiellen Unionsrecht Anforderungen an die Ausgestaltung des mitgliedsstaatlichen Prozessrechts entnimmt, die eine unionsrechtskonforme Auslegung des mitgliedsstaatlichen Prozessrechts gebieten oder in einem so nicht auflösbaren Konfliktfall das Prinzip des Anwendungsvorrangs zum Tragen kommen lassen. (η) Ergebnis Die überwiegende Anzahl der in diesem Abschnitt dargestellten Entscheidungen hat der Gerichtshof als primär durch das Erfordernis gerechtfertigt angesehen, den durch eine Richtlinie – die Verbraucherschutzrichtlinie – angestrebten effektiven Schutz sicherzustellen 780. Dies betrifft die Urteile vom 1. Juni 1999 in der Rechtssache C-126/97 781, vom 27. Juni 2000 in den Rechtssachen C-240/98 bis C-244/98 782, vom 21. November 2002 in der Rechtssache C-473/00 783 und 778 http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62008J0227:FR: HTML [zuletzt aufgerufen am 27. September 2010]. 779 http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62008J0227:EN: HTML [zuletzt aufgerufen am 27. September 2010]. 780 EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Verbundene Rs. C-222/05 bis C-225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007 Seite I-04233 [Rn. 39 und 40]. 781 EuGH, EuGH, Urteil vom 1. Juni 1999, Rs. C-126/97 [Eco Swiss China Time Ltd gegen Benetton International NV], Slg. 1999, I-03055. 782 EuGH, Urteil vom 27. Juni 2000, Rs. C-240/98 bis C-244/98 [Océano Grupo Editorial SA gegen Roció Murciano Quintero (C-240/98) und Salvat Editores SA gegen José M. Sánchez Alcón Prades (C-241/98), José Luis Copano Badillo (C-242/98), Mohammed Berroane (C-243/98) und Emilio Viñas Feliú (C-244/98)], Slg. 2000, I-4941.

434

V. Unionsrechtliche Vorgaben

vom 26. Oktober 2006 in der Rechtssache C-168/05 784. In diesen Entscheidungen wird die den mitgliedsstaatlichen Gerichten der Sache nach bestehende Verpflichtung zu einer richtlinienkonformen Auslegung nicht nur des mitgliedsstaatlichen materiellen 785, sondern auch des Verfahrensrechts betont 786. Der Gerichtshof selbst misst diesen genannten Entscheidungen daher nur einen beschränkt generalisierbaren Erkenntnisgewinn zu und sieht sie für die Frage der Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen unter dem Topos des Effektivitätsprinzips als „nicht einschlägig“ 787 an. Dem ist zuzustimmen, da der Fokus des Gerichtshofs insoweit auf dem Vorrangprinzip liegt: Das Schutzsystem der Richtlinie 93/13/EWG geht von dem Grundsatz aus, dass in einem Vertrag zwischen einem Verbraucher und einem Gewerbetreibenden regelmäßig ein vertragliches Ungleichgewicht herrscht 788. Demzufolge ist der Verbraucher in einem derartigen Verbrauchervertrag grundsätzlich die schwächere Vertragspartei, hat er regelmäßig einen geringeren Informationsstand und eine Unkenntnis des geltenden rechtlichen Rahmens 789. Dieses Ungleichgewicht will die Klauselrichtlinie zugunsten des Verbrauchers und der Herstellung eines vertraglichen Gleichgewichts beseitigen. Zu diesem Zweck erlegen Art. 6 und 7 der Klauselrichtlinie Verpflichtungen auf, die auch auf der prozessrechtlichen Ebene wirken 790. Ordnet aber die Klauselrichtlinie eine unbedingte Rechtsfolge an, so besteht der Sache nach eine direkte Kollision, die nach dem Prinzip des Vorrangs des Unionsrechts zu lösen ist. Daraus folgt dann aber auch, dass die missbräuchliche Klausel weder vertraglich abdingbar noch rechtlich durchsetzbar sein darf und dass dieses Schutzsystem unabhängig von 783 EuGH, Urteil vom 21. November 2002, Rs. C-473/00 [Cofidis SA gegen Jean-Louis Fredout], Slg. 2002, I-10875. 784 EuGH, Urteil vom 26. Oktober 2006, Rs. C-168/05 [Elisa María Mostaza Claro gegen Centro Móvil Milenium SL], Slg. 2006, I-10421. 785 In der zivilrechtlichen Literatur ist zutreffend darauf hingewiesen worden, dass das Verbraucherschutzrecht das wichtigste Werkzeug zu einer Vereinheitlichung des allgemeinen Vertragsrechts bildet, vgl. etwa Paparseniou, Verbrauchsgüterkauf, Seite 282. 786 So zutreffend Möslein, Richtlinienkonforme Auslegung im Zivilverfahrensrecht, Seite 63 zu den Urteilen EuGH, Urteil vom 27. Juni 2000, Rs. C-240/98 bis C-244/98 [Océano Grupo Editorial SA gegen Roció Murciano Quintero (C-240/98) und Salvat Editores SA gegen José M. Sánchez Alcón Prades (C-241/98), José Luis Copano Badillo (C-242/98), Mohammed Berroane (C-243/98) und Emilio Viñas Feliú (C-244/98)], Slg. 2000, I-4941 und EuGH, Urteil vom 21. November 2002, Rs. C-473/00 [Cofidis SA gegen Jean-Louis Fredout], Slg. 2002, I-10875. 787 EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Verbundene Rs. C-222/05 bis C-225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007 Seite I-04233 [Rn. 40]. 788 Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 161. 789 Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 162. 790 Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 162.

4. „Effet utile“

435

dem Verhalten des Verbrauchers funktionieren muss 791, es sei denn, der Verbraucher verweigert in seiner Kenntnis diesen Schutz. Aus der Klauselrichtlinie folgen damit nicht nur materiell-rechtliche, sondern auch prozessuale Vorgaben für die Mitgliedsstaaten 792. Gleiches gilt für die Haustürwiderrufsrichtlinie, die Gegenstand der Rechtssache C-227/08 war. Damit liegt der genannten Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Richtlinien das Prinzip zu Grunde, dass die Unionsbürger einen Anspruch auf die Gewährung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes in Bezug auf die durch eine Richtlinie verliehenen Rechte haben, der so wirksam sein muss, dass das Ziel der Richtlinie erreicht wird, und dass die Betroffenen die ihnen dadurch verliehenen Rechte auch tatsächlich vor den mitgliedsstaatlichen Gerichten geltend machen können müssen 793. Es besteht daher ein unionsrechtliches Optimierungsgebot dahingehend, das mitgliedsstaatliche (Verwaltungs-) Prozessrecht möglichst so auszulegen, dass die praktische Wirksamkeit einer Richtlinie gewährleistet und die Garantie effektiven Rechtsschutzes in Bezug auf die durch sie verliehenen Rechte verwirklicht wird 794. Auch das nicht ausdrücklich zu einer Umsetzung gedachte nationale Recht ist in dem Anwendungsbereich einer Richtlinie richtlinienkonform auszulegen 795. Muss etwa der durch eine Richtlinie angestrebte effektive (Verbraucher-) Schutz angesichts der nicht zu unterschätzenden Gefahr, dass der durch die Richtlinie begünstigte Unionsbürger seine Rechte regelmäßig nicht kennt oder er Schwierigkeiten hat, sie auszuüben, durch ein Eingreifen der mitgliedsstaatlichen Gerichte als „Dritten“ gewährleistet werden 796, so kann die auch effektiven Rechtsschutz gewährende Richtlinie in einer – direkten – Kollision zu dem mitgliedsstaatlichen Prozessrecht stehen, die zu einer richtlinienkonformen Aus791

Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 162 f. Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 166. 793 Rodríguez Iglesias, Grenzen der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedsstaaten, Seite 290; Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro vom 1. März 2007, Verbundene Rechtssachen C-222/05 bis C-225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/ 05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 24 f.]. 794 Brenner / Huber, Europarecht und Europäisierung, Seite 776. 795 Pfeiffer, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, Seite 2369. 796 EuGH, Urteil vom 27. Juni 2000, Rs. C-240/98 bis C-244/98 [Océano Grupo Editorial SA gegen Roció Murciano Quintero (C-240/98) und Salvat Editores SA gegen José M. Sánchez Alcón Prades (C-241/98), José Luis Copano Badillo (C-242/98), Mohammed Berroane (C-243/98) und Emilio Viñas Feliú (C-244/98)], Slg. 2000, I-4941 [Rn. 25 ff.], EuGH, Urteil vom 21. November 2002, Rs. C-473/00 [Cofidis SA gegen Jean-Louis Fredout], Slg. 2002, I-10875 [Rn. 33]; EuGH, Urteil vom 26. Oktober 2006, Rs. C-168/05 [Elisa María Mostaza Claro gegen Centro Móvil Milenium SL], Slg. 2006, I-10421 [Rn. 29]. 792

436

V. Unionsrechtliche Vorgaben

legung oder – wo eine solche nicht möglich ist – zu einer Lösung der Kollision durch die Anwendung des Vorrangprinzips führen muss. Das Bemühen um Effektivität, das einer Richtlinie zugrunde liegt, muss dazu führen, dass etwa auch prozessrechtliche Beweislastregelungen, die ihrer Regelungsintention entgegenstehen, unangewendet bleiben 797. Zu berücksichtigen ist weiterhin das Verhalten des durch eine ihm günstige Richtlinienbestimmung Begünstigten. Bleibt dieser vollständig untätig und macht er (bewusst nach entsprechendem gerichtlichen Hinweis) keinerlei Rechte geltend, so kann dies gegen eine Ausgleichspflicht eines Gerichts für die schwächere Position des Verbrauchers sprechen 798. Haben daher die Parteien eines mitgliedsstaatlichen Rechtsstreits tatsächlich die Möglichkeit, einen auf das Unionsrecht gestützten Klagegrund geltend zu machen, und nehmen sie diese überhaupt nicht wahr, so besteht keine unionsrechtliche Verpflichtung der mitgliedsstaatlichen Gerichte, Verstöße gegen das Unionsrecht von Amts wegen zu prüfen 799: Sofern die Rechtspositionen des Unionsrechts nicht geltend gemacht werden, obwohl hierfür eine reale Möglichkeit besteht, tritt auch das Unionsinteresse an einer einheitlichen Rechtsdurchsetzung gegenüber den mitgliedsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen zurück. Das Systeminteresse an der einheitlichen Durchsetzung des Unionsrechts tritt dann hinter dem Individualrechtsschutz zurück 800. (cc) Ausstrahlungswirkung des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV (α) Rs. C-312/93 Ein weiteres Urteil des Gerichtshofs vom 14. Dezember 1995 ist das in der Rechtssache Peterbroeck 801, das das Verhältnis zwischen dem Staat und einem Privatrechtssubjekt betraf. Ausgangsverfahren des Vorabentscheidungsersuchens war ein Rechtsmittelverfahren, das nach dem mitgliedsstaatlichen Prozessrecht dadurch gekennzeichnet war, dass die Prüfung solcher Rügen ausgeschlossen war, die nicht bereits in dem vorangegangenen Verwaltungsverfahren angebracht wurden, oder die nicht inner797 Rodríguez Iglesias, Grenzen der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedsstaaten, Seite 291. 798 EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2009, Rs. C-40/08 [Asturcom Telecomunicaciones SL gegen Cristina Rodríguez Nogueira], Juris [Rn. 40 bis 47]. 799 Von Danwitz, Aktuelle Fragen, Seite 540. 800 Von Bogdandy, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der Europäischen Union, Art. 10 EGV Rn. 54. 801 EuGH, Urteil 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93 [Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat], 1995, I-04599.

4. „Effet utile“

437

halb einer Ausschlussfrist von 60 Tagen – beginnend mit der Einreichung der Verfahrensunterlagen durch die Ausgangsbehörde bei Gericht – geltend gemacht wurden. Der Kläger des Ausgangsverfahrens erhob die Rüge einer Verletzung der Niederlassungsfreiheit erst nach Ablauf dieser Ausschlussfrist, sodass dem angegangenen Ausgangsgericht ebenso wie dem Rechtsmittelgericht deren Berücksichtigung nach dem mitgliedsstaatlichen Prozessrecht untersagt war. Nach Referierung seiner Grundsätze zu den Mitwirkungspflichten, zu einer Gewährleistung der Garantie effektiven Rechtsschutzes, zur unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts, zur Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten und zu den Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz 802 stellt der Gerichtshof entscheidend für die von ihm bejahte Annahme eines Verstoßes gegen den Effektivitätsgrundsatz darauf ab, dass es durch die genannte, durch eine Handlung der Verwaltung beginnende Frist der Geltendmachung einer Rüge bei Gericht ausgeschlossen war, dass irgend ein nationales Gericht in dem Rechtsmittelzug die Vereinbarkeit eines nationalen Aktes mit dem Unionsrecht überprüfen konnte 803. Dies sei auch nicht durch die Grundsätze der Rechtssicherheit oder des ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs zu rechtfertigen 804. Die Entscheidung ist damit aus meiner Sicht maßgeblich durch die besonderen Umstände des Einzelfalles geprägt; sie ist damit nicht – wie in der Literatur vertreten – „überraschend“ 805 sondern eher lediglich Selbstverständliches betonend 806, und stellt auch nicht etwa zentral auf eine „Abwägung des Interesses an der Anwendung des Gemeinschaftsrechts einerseits und der Bedeutung und der Auswirkungen der betreffenden Vorschrift des innerstaatlichen Rechts andererseits“ 807 ab. Die Entscheidung argumentiert vielmehr letztlich der Sache nach von Art. 267 AEUV und dessen Vorrang her: Das auf einer Norm des mitgliedsstaatlichen Prozessrechts beruhende Fehlen jedweder Möglichkeit, dass ein mitgliedsstaatliches Gericht die Vereinbarkeit eines nationalen Aktes mit dem Unionsrecht überprüfen kann, hindert zugleich jede Möglichkeit der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens 808. In einem derartigen Fall besteht 802 EuGH, Urteil 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93 [Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat], 1995, I-04599 [Rn. 12]. 803 EuGH, Urteil 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93 [Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat], 1995, I-04599 [Rn. 15 ff.]. 804 EuGH, Urteil 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93 [Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat], 1995, I-04599 [Rn. 20]. 805 Müller, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Seite 639. 806 Rainer, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Seite 95. 807 Cahn, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Seite 977. 808 Cahn, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Seite 980; Oexle, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 130; Tonne, Effektiver Rechtsschutz, Seite 212, der aber Seite 269 kritisch anmerkt, dass potentiell jede mitgliedsstaatliche Prozessrechtsnorm das Vorabentscheidungsverfahren beschränke, was indes verkennt, dass

438

V. Unionsrechtliche Vorgaben

eine direkte Kollision des mitgliedsstaatlichen Prozessrechts mit Art. 267 AEUV als prozessrechtlicher Norm auf der Ebene des Primärrechts. Diese Entscheidung betont damit den Vorrang des Unionsrechts 809 – des Art. 267 AEUV – und ist damit deutlich weniger spektakulär als in der Literatur angenommen 810. (β) Ergebnis Zunächst ist zu berücksichtigen, dass diese Entscheidung des Gerichtshofs durch die besonderen Umstände des Einzelfalls insoweit geprägt ist, als dem Kläger des Ausgangsverfahrens durch prozessuale Besonderheiten die Möglichkeit genommen war, die Unvereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit dem Unionsrecht in geeigneter Weise geltend zu machen. Dies betont auch der Gerichtshof in einer späteren Entscheidung 811. Trotz der Betonung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls lässt sich der Entscheidung jedoch der hohe Stellenwert des Vorabentscheidungsverfahrens für den Gerichtshof entnehmen. Aus der Entscheidung ist zu folgern, dass prozessrechtliche Vorschriften, die es abstrakt oder in ihrer konkreten Anwendung hindern, dass ein Vorabentscheidungsverfahren überhaupt durchgeführt werden kann, außer Anwendung zu bleiben haben. Denn immer dann, wenn dem Kläger eines Ausgangsverfahrens die Möglichkeit genommen war, die Unvereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit dem Unionsrecht in geeigneter Weise geltend zu machen 812, können Art. 267 AEUV oder das Vorrangprinzip eine Prüfung des Unionsrechts von Amts wegen verlangen: Zu einem es nicht auf „potentielle Beschränkungen“, sondern auf die Realisierbarkeit in concreto der von Art. 267 Abs. 3 AEUV für jeden Instanzenzug vorgesehenen Vorlageverpflichtung eines Gerichtes ankommt; die konkreten und faktischen Umstände der Entscheidung betonen auch Hirsch, Bundesverwaltungsgericht und Gerichthof, Seite 12 f., und Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 129 ff.; sie verkennt Roeben, Einwirkung der Rechtsprechung, Seite 360 f. 809 Weymüller, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93, Seite 348. 810 Etwa betont Kment, Stellung nationaler Unbeachtlichkeits-, Heilung- und Präklusionsvorschriften, Seite 201, ihre Bedeutung; ebenso spricht Von Danwitz, Umweltrechtliche Präklusionsnormen, Seite 325 f., von einer überraschenden Kehrtwende des Gerichtshofs zu seiner bisherigen Rechtsprechung. Die vorgebliche Bedeutung der Entscheidung behandeln auch ausführlich Oexle, Materielle Präklusion, Seite 33 ff. und ihm – in zahlreichen Argumenten und Überlegungen folgend – Niedzwicki, Präklusionsvorschriften, Seite 225 ff., sowie ferner Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 116 ff. 811 EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Verbundene Rs. C-222/05 bis C-225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007 Seite I-04233 [Rn. 39 und 40]. 812 EuGH, Urteil 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93 [Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat], 1995, I-04599 [Rn. 16 ff]; EuGH, Urteil vom

4. „Effet utile“

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effektiven Schutz der durch das Unionsrecht gewährten Rechte muss die zutreffende Anwendung des Unionsrechts zumindest durch ein vorlageverpflichtetes Gericht des Mitgliedsstaates in dem Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV überprüft werden können 813. Dem Einzelnen darf weder abstrakt noch konkret nach den Umständen des jeweiligen Falles in der konkreten Verfahrenssituation die Möglichkeit genommen werden, gegen hoheitliche Akte mit unionsrechtlichem Bezug Rechtsschutz zu erlangen 814. Wenn auf der mitgliedsstaatlichen Ebene die durch das Unionsrecht gewährten Rechte prozessual so behandelt werden, dass dem Begünstigten jede Rechtsschutzmöglichkeit genommen wird, ist dies mit dem Grundsatz der Effektivität nicht vereinbar. Denn in diesem Fall ist es nicht mehr gewährleistet, dass die durch das Unionsrecht gewährten Rechtspositionen über eine Verwirklichungsmöglichkeit verfügen 815. Wird entweder diese prinzipielle Rechtsschutzmöglichkeit genommen, oder sind ausnahmsweise die konkreten unionsrechtlichen Regelungen daraufhin angelegt, dass sie einen besonderen Zweck verfolgen oder ein besonderes unionsrechtliches Recht gewähren, das es ausnahmsweise gebietet, dass dem Begünstigten ein dauerhaftes und unbeschränkbares und damit auch von Amts wegen zu berücksichtigender unionsrechtlicher Rechtsschutz zu Teil wird 816, so sind die die Rechtsverfolgung beziehungsweise die gerichtliche Überprüfbarkeit grundsätzlich ausschließenden oder sie limitierenden mitgliedsstaatlichen Prozessregelungen grundsätzlich unanwendbar. Soll der durch sie zu gewährende Schutz nach einer Auslegung der fraglichen Norm des Unionsrechts unbeschränkt und unbeschränkbar sein, so kann auch das mitgliedsstaatliche Prozessrecht ihn nicht beschränken. Dies ist dann aber eine Ausprägung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts: Im Gegensatz zur Einschränkung des Grundsatzes der institutionellen und Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten allein durch die Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz erkennt der Gerichtshof eine unmittelbare Verdrängung gerichtsverfahrensrechtlicher Vorschriften des mitgliedsstaatlichen Rechts an, wenn diese den Geltungsanspruch der Vorlagebefugnis nach Art. 267 AEUV beeinträchtigen 817. Das Vorabentscheidungsverfahren ist damit Teil des Effektivitätsprinzips 818: Das Vorabentscheidungsverfahren funktioniert nicht, wenn 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 39.]. 813 Hirsch, Europarechtliche Perspektiven, Seite 73. 814 Kment, Stellung nationaler Unbeachtlichkeits-, Heilung- und Präklusionsvorschriften, Seite 218. 815 Kment, Stellung nationaler Unbeachtlichkeits-, Heilung- und Präklusionsvorschriften, Seite 202 f. 816 Vgl. Kment, Stellung nationaler Unbeachtlichkeits-, Heilung- und Präklusionsvorschriften, Seite 221. 817 Von Danwitz, Eigenverantwortung, Seite 422.

440

V. Unionsrechtliche Vorgaben

der Rechtsschutz ausgeschlossen ist und der Einzelne die Rechte, die ihm das Unionsrecht verleiht, überhaupt nicht vor seinen mitgliedsstaatlichen Gerichten geltend machen kann. Dieser Sichtweise ist entgegengehalten worden 819, dass aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Fall Peterbroeck kein Gebot zu einer allgemeinen Durchbrechung der Verfahrensgrundsätze des mitgliedsstaatlichen Rechts bei Präklusionsfristen gefolgert werden könne, sondern der Gerichtshof – nicht verallgemeinerungsfähig – lediglich deren konkrete Handhabung sanktioniert habe. Dies geht indes fehl. Wie gezeigt, hat der Gerichtshof, der in jedem seiner insoweit ergangenen Judikate sowohl die mitgliedsstaatlichen Normen des Prozessrechts als solche als auch diese in ihrer konkreten Anwendung in den Blick nimmt, den Grundsatz aufgestellt, dass eventuelle Verstöße gegen das Unionsrecht jedenfalls einmal zu der Kenntnis eines Gerichts in dem Sinne des Art. 267 AEUV gelangen müssen. Dies bedeutet eben keine allgemeine Durchbrechung von Präklusionsfristen, sondern nur die Durchbrechung solcher Fristen, die das (eine) Verfahren nach Art. 267 Abs. 3 AEUV hindern. Da aber die Konstellation, dass das mitgliedsstaatliche Prozessrecht oder seine konkrete Handhabung jedwede gerichtliche Überprüfung hindern, eine Sonderkonstellation ist, gehen andererseits Versuche in der Literatur 820, eine vertiefte Abgrenzung der beiden Entscheidungen des Gerichtshofs vom 14. Dezember 1995 in der Rechtssache C-312/93 821 einerseits und in den Rechtssachen C-430/93 und C-431/93 822 andererseits vorzunehmen, ins Leere.

818

Haltern, Europarecht, Rn. 674. Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 133 ff. 820 Etwa Giannopoulos, Einfluss der Rechtsprechung des EuGH, Seite 166 ff., der indes die relative Wirkung des erstgenannten Urteils erkennt. 821 EuGH, Urteil 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93 [Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat], 1995, I-04599. 822 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und C-431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705. 819

VI. Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben für das Berufungszulassungsverfahren 1. Nicht- oder eingeschränkte Anwendbarkeit des Darlegungsgebots des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO unmittelbar aus Art. 267 AEUV a) Einordnung der Oberverwaltungsgerichte in dem Berufungszulassungsverfahren und in dem Berufungsverfahren als letztinstanzliche oder als Instanzgerichte Es ist in einer Anwendung der oben beschriebenen Prinzipien des Vorabentscheidungsverfahrens zunächst die Frage zu stellen, ob die Oberverwaltungsgerichte in Anwendung der konkreten Betrachtungsweise letztinstanzliche Gerichte in dem Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV sind. Soweit diesbezüglich die Ansicht vertreten wird: „Ein nationales Gericht, dessen Entscheidung noch mit Rechtsmitteln angefochten werden kann (VG, OVG, VGH) entscheidet nun jedoch nach eigenem Ermessen selbst über die richtige Auslegung des Unionsrechts und seine Anwendung auf den Sachverhalt und damit auch über die Frage, ob eine Vorlage zur Vorabentscheidung durch den EuGH für erforderlich gehalten wird“ 1, was eine Einordnung der Oberverwaltungsgerichte entbehrlich machen würde, ist dies unvertretbar, da es weder die konkrete noch die abstrakte Betrachtungsweise zu einer Bestimmung der Letztinstanzlichkeit in den Blick nimmt und da es das Berufungszulassungsverfahren, in dem gemäß § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO mit der Ablehnung des Zulassungsantrages das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird, vollständig in seiner Existenz negiert. Vielmehr ist das Oberverwaltungsgericht funktional im Hinblick auf das Berufungszulassungsverfahren und auf das Berufungsverfahren in Bezug auf die Letztinstanzlichkeit zu betrachten.

1

Hoffmann, Verbesserungen im Rechtsschutz, Seite 4.

442

VI. Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben

aa) Letztinstanzlichkeit des Oberverwaltungsgerichts nach einer die Berufung zulassenden Entscheidung Gibt das Oberverwaltungsgericht dem Antrag auf Zulassung der Berufung statt, so wird nach § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht. Nach § 124 Abs. 6 VwGO ist die Berufung in diesem Fall innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen (§ 124a Abs. 6 Satz 2 VwGO). Nach § 124a Abs. 6 Satz 3 VwGO in Verbindung mit § 124a Abs. 3 Sätze 3 bis 5 VwGO kann die Begründungsfrist auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig 2. Das Berufungsverfahren ist ein vollständiges Rechtsmittelverfahren, dem Devolutiv- und Suspensiveffekt zukommen, und bei dem das angegriffene Urteil vollumfänglich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht überprüft wird: Nach § 128 Satz 1 VwGO prüft das Oberverwaltungsgericht den Streitfall innerhalb des Berufungsantrags im gleichen Umfang wie das Verwaltungsgericht. Es berücksichtigt hierbei gemäß § 128 Satz 2 VwGO – eingeschränkt durch die Präklusionsvorschrift des § 128a VwGO – auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel. Gegen das im Berufungsverfahren ergangene Urteil des Oberverwaltungsgerichts besteht grundsätzlich die Möglichkeit der Revision. § 49 Nr. 1 VwGO bestimmt, dass das Bundesverwaltungsgericht über das Rechtsmittel der Revision gegen Urteile des Oberverwaltungsgerichts nach § 132 VwGO entscheidet. Nach § 132 Abs. 1 VwGO steht den Beteiligten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1 VwGO) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision das Bundesverwaltungsgericht sie zugelassen hat. § 132 Abs. 2 VwGO normiert abschließend die Revisionszulassungsgründe. Nach dieser Norm ist die Revision nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr.1), das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr. 2) oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (Nr. 3.). 2 Zu dem Verfahren nach einer Zulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht im Einzelnen vgl. oben III. 5.

1. Anwendbarkeit des Darlegungsgebots

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§ 133 VwGO normiert das Verfahren, mit dem die Nichtzulassung der Revision durch Beschwerde angefochten werden kann. Nach § 133 Abs. 2 VwGO ist die Beschwerde bei dem Gericht, gegen dessen Urteil Revision eingelegt werden soll, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils einzulegen. Die Beschwerde muss das angefochtene Urteil bezeichnen. § 133 Abs. 3 VwGO bestimmt, dass die Beschwerde innerhalb von zwei Monaten nach der Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen ist. Die Begründung ist bei dem Gericht, gegen dessen Urteil Revision eingelegt werden soll, einzureichen. In der Begründung muss die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden. Nach § 133 Abs. 4 VwGO hemmt die Einlegung der Beschwerde die Rechtskraft des Urteils. Wird der Beschwerde nicht abgeholfen, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Beschluss (§ 133 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Beschluss soll kurz begründet werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist (§ 133 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht wird das Urteil rechtskräftig (§ 133 Abs. 5 Satz 3 VwGO). Aus diesen Regelungen folgt, dass das Oberverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung in einem Berufungsverfahren nicht letztinstanzliches Gericht ist 3. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, ist es nicht mehr letztinstanzliches Gericht, weil gegen sein anschließendes Urteil jedenfalls die Nichtzulassungsbeschwerde statthaft ist 4. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Revision zu, so ist das Bundesverwaltungsgericht an diese Entscheidung gemäß § 132 Abs. 3 VwGO gebunden, und (erst) das Bundesverwaltungsgericht ist damit letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Revision nicht zu, so steht dem Beschwerten die Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 133 Abs. 1 VwGO offen. Hilft das Oberverwaltungsgericht der Beschwerde nicht ab (§ 133 Abs. 5 Satz 1 1. Halbsatz VwGO), so legt das Oberverwaltungsgericht die Beschwerde gemäß § 135 Abs. 5 VwGO dem Bundesverwaltungsgericht als Revisionsinstanz vor. Wie ausgeführt, ist die Nichtzulassungsbeschwerde als Rechtsmittel im Sinne 3

Fehlerhaft insoweit Mutke, Unterbliebene Vorlage, Seite 403, die das Oberverwaltungsgericht als letztinstanzliches Gericht ansieht, „wenn sie die Revision zum BVerwG nicht zulassen“, sowie Wilke, Europarechtliche Einflüsse, Seite 494, für den „das Gericht, das über die Zulassung bzw. das zugelassene Rechtsmittel entscheidet, letztinstanzliches Gericht“ ist. Ist aber das Rechtsmittel – die Berufung – zugelassen, so ist wie gezeigt gegen das anschließende Urteil die Nichtzulassungsbeschwerde Rechtsmittel im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV, wenn das Oberverwaltungsgericht die Revision nicht zulässt. 4 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124a VwGO Rn. 146.

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VI. Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben

von Art. 267 Abs. 3 AEUV anzusehen. Daher ist das Oberverwaltungsgericht, wenn es die Revision nicht zulässt, ebenfalls nicht letztinstanzliches Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV. Dieses Ergebnis ist unter dem Aspekt der oben dargelegten Funktionen des Art. 267 AEUV jedenfalls dann mit der Norm vereinbar, wenn gewährleistet ist, dass in dem Rahmen einer anschließenden Nichtzulassungsbeschwerde zu dem Bundesverwaltungsgericht entscheidungserhebliche Fragen zum Gegenstand der revisionsrechtlichen Klärung gemacht und dem Gerichtshof vorgelegt werden können. Hilft das Oberverwaltungsgericht der Beschwerde nicht ab, so entscheidet das Bundesverwaltungsgericht nach § 133 Abs. 5 VwGO über die Nichtzulassungsbeschwerde. Nach § 135 Abs. 5 Satz 3 VwGO wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts mit der Ablehnung der Beschwerde rechtskräftig; weitere Rechtsmittel sind nicht gegeben. Insbesondere ist die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG – etwa wegen eines behaupteten Verstoßes gegen den gesetzlichen Richter – kein Rechtsmittel im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV, sondern bloßer außerordentlicher Rechtsbehelf. Das Bundesverwaltungsgericht ist also bei der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV und vorlageverpflichtet im Sinne dieser Norm. Hieraus folgt zwingend, dass das Oberverwaltungsgericht in jedem Fall einer Entscheidung in einem Berufungsverfahren (nur) Instanzgericht im Sinne des Art. 267 Abs. 2 AEUV ist. Dies gilt naturgemäß entsprechend, wenn schon das Verwaltungsgericht die Berufung gemäß § 124a Abs. 1 VwGO zugelassen hat. bb) Letztinstanzlichkeit des Oberverwaltungsgerichts in dem Berufungszulassungsverfahren selbst In der Literatur wird angedacht, zu einer Beurteilung der Frage der Letztinstanzlichkeit in einem Berufungszulassungsverfahren danach zu differenzieren, ob das Oberverwaltungsgericht den Zulassungsantrag ablehne oder ihm stattgebe 5. Gegen einen ablehnenden Beschluss des Oberverwaltungsgerichts sei gemäß § 124a Abs. 5 S. 4 VwGO kein Rechtsmittel gegeben. Daher sei das Oberverwaltungsgericht in diesem Falle letztinstanzliches Gericht 6. Lasse das Oberverwaltungsgericht hingegen die Berufung zu, so sei es nicht als letztinstanzliches Gericht anzusehen, weil gegen seine in einem Berufungsverfahren 5 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 126; Petzold, Wechselwirkungen, Seite 125; Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 836; Maidowski, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 8; Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 147, die auf die Darlegungsproblematik nicht eingeht; Löhr, Wege zum EuGH, Seite 10. 6 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 126.

1. Anwendbarkeit des Darlegungsgebots

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ergehende Entscheidung die Revision gemäß § 132 VwGO oder die Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 133 Abs. 1 VwGO zulässig sei 7. Nach anderen Formulierungen ist für die Frage einer Vorlageverpflichtung entscheidend, ob das Oberverwaltungsgericht „die Berufungszulassung ablehnen möchte“ 8 oder das Oberverwaltungsgericht den Berufungszulassungsantrag ablehnen „will“ 9: Habe sich der Berufungszulassungsantragssteller nicht auf eine Verletzung des Unionsrechts, sondern auf andere, nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts nicht vorliegende Berufungszulassungsgründe berufen, so sei es letztinstanzliches Gericht in dem Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV, obwohl mangels Darlegung der unionsrechtlichen Problematik gleichwohl keine Aussetzungs- und Vorlagepflicht bestehe 10. Nach dieser Ansicht begründet das Oberverwaltungsgericht seine eigene Vorlagepflicht, wenn das Oberverwaltungsgericht beabsichtigt, die Berufung nicht zuzulassen. Beabsichtigt das Oberverwaltungsgericht hingegen, die Berufung zuzulassen, so ist gegen die im Rahmen der Berufungsverfahren ergehende Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts die Zulassung zur Revision gemäß § 132 Abs. 1 VwGO möglich. Demnach ist das Oberverwaltungsgericht nach dieser Ansicht im Falle der stattgebenden Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag nicht vorlageverpflichtet. Andererseits ist nach dieser Ansicht wegen der Unanfechtbarkeit der Entscheidung das Oberverwaltungsgericht bei Ablehnung des Berufungszulassungsantrages letztinstanzliches Gericht 11. Auch in der Rechtsprechung 12 wird davon ausgegangen, dass das Oberverwaltungsgericht „in Bezug auf die Ablehnung des Zulassungsantrags im vorliegenden Verfahren letztinstanzliches Gericht“ im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV sei, dass also das Oberverwaltungsgericht „mit der Ablehnung der Zulassung der Berufung zu einem Gericht [werde], dessen Entscheidung selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden kann“ 13. Auch das Bundesverfassungsgericht 14 geht davon aus, dass sich die Möglichkeit, dass eine Vorlageverpflichtung bestehe, auch auf die Entscheidung über die 7 Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124a VwGO Rn. 146. 8 Maidowski, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 8; Meyer-Ladewig / Rudisile, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 124a VwGO Rn. 146. 9 Ehlers, Europäisierung, Seite 120; Seibert, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 124 VwGO Rn. 137. 10 Ehlers, Europäisierung, Seite 120. 11 Löhr, Wege zum EuGH, Seite 12; Kukk, in: Quaas / Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, § 6 Rn. 55. 12 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 17. Dezember 1999, – 5 A 4915/98 –, NVwZ 2000, 1069. 13 Nordrhein-Westfälisches OVG, Beschluss vom 22. August 2001, – 13 A 817/01 –, NVwZ-RR 2002, 431 – 434.

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VI. Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben

Zulassung von Rechtsmitteln auswirke. Die Vorlagepflicht könne hier nur bei dem Gericht eintreten, das letztinstanzlich über die Zulassung des Rechtsmittels entscheide: „Für die Zwecke des Zulassungsverfahrens ist dieses Gericht letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 234 Abs. 3 EG; dass sich nach erfolgter Rechtsmittelzulassung – insbesondere nach Zulassung der Berufung – eine weitere Instanz anschließen kann, ändert daran nichts“ 15. Werde das Rechtsmittel nicht zugelassen, so sei diese Entscheidung an den von dem Bundesverfassungsgericht herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstäben 16 für die Handhabung des Art. 267 Abs. 3 AEUV zu messen. Dies alles gelte auch für die Ablehnung der Zulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht 17. Die Ansicht, dass das Oberverwaltungsgericht „für die Zwecke des Berufungszulassungsverfahrens“ oder bei „beabsichtigter“ Ablehnung des Berufungszulassungsantrags letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV sei, ist ebenso abzulehnen wie das Abstellen auf subjektive Kriterien wie das „Ablehnen möchten“ durch den Senat. Gegen diese Ansicht von Literatur und Rechtsprechung spricht zunächst, dass die Frage der Letztinstanzlichkeit hiernach nicht objektiv allein nach dem geltenden Prozessrecht, sondern nur nach diesem in Verbindung mit der zu erwartenden Zulassungsentscheidung selbst, die naturgemäß richterliche Wertungen etwa über die Anforderungen an die erforderliche Darlegung enthält, zu entscheiden wäre: Die Qualifizierung eines Gerichts als letztinstanzlich hinge daher von seinem eigenen Urteil ab 18. Allein aus dem Gesetz ist nach dieser Ansicht die Frage, ob das entscheidende Gericht ein letztinstanzliches Gericht im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV ist, nicht zu beantworten. Das von dieser Ansicht eingeführte Kriterium der „Beabsichtigung“ einer positiven oder negativen Zulassungsentscheidung ist kein solches des Prozessrechts und nicht normativ fassbar. Das geltende Prozessrecht kennt nur die Entscheidung über den Zulassungsantrag selbst durch Beschluss (§ 124a Abs. 5 Satz 1 VwGO), und nicht eine diesem vorgelagerte „Absicht“, einen solchen Beschluss zu fassen, oder gar eine Norm, 14 BVerfG, Beschluss vom 25. August 2008, – 2 BvR 2213/08 –, NVwZ 2009, 519 – 521. 15 BVerfG, Beschluss vom 25. August 2008, – 2 BvR 2213/08 –, NVwZ 2009, 519 – 521; BVerfG, Beschluss vom 25. August 2008, – 2 BvR 2213/06 –, EuGRZ 2008, 633 – 636. 16 BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 1990, – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/ 87 –, BVerfGE 82, 159 [196]; BVerfG, Beschluss vom 22. Dezember 1992, – 2 BvR 557/ 88 –, NVwZ 1993, 883; BVerfG, Beschluss vom 16. Dezember 1993, – 2 BvR 1725/88 –, NJW 1994, 2017. 17 BVerfG, Beschluss vom 25. August 2008, – 2 BvR 2213/08 –, NVwZ 2009, 519 – 521; BVerfG, Beschluss vom 25. August 2008, – 2 BvR 2213/06 –, EuGRZ 2008, 633 – 636; BVerfG, Beschluss vom 1. Oktober 2004, – 1 BvR 2221/03 –, NJW 2005, 737 [738]; BVerfG, Beschluss vom 6. Mai 2008, – 2 BvR 1830/06 –, FamRZ 2008, 1321. 18 Lieber, Vorlagepflicht, Seite 98.

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die an ein solches richterliches Internum Rechtsfolgen knüpft. Eine Differenzierung danach, dass das Oberverwaltungsgericht letztinstanzliches Gericht sei, „solange sie die Berufung nicht zugelassen haben“ 19, nimmt daher fehlerhaft die erst noch zu treffende Entscheidung als Bezugspunkt; deren Inhalt muss aber berücksichtigen, ob das Oberverwaltungsgericht letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV ist oder nicht und kann hierfür nicht gleichsam selbst erst konstitutiv sein. Ob ein Gericht letztinstanzlich im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV ist, ist daher allein nach der jeweiligen Prozessordnung zu bestimmen 20, nicht nach der zu erwartenden Entscheidung. Für die Fallgruppe, dass das Oberverwaltungsgericht beabsichtigt, die Berufung nicht zuzulassen, kann gegen diese Ansicht ferner eingewandt werden, dass das Oberverwaltungsgericht über den Zulassungsantrag gemäß § 124a Abs. 5 Satz 1 VwGO durch Beschluss und damit gemäß § 124a Abs. 5 S. 1 in Verbindung mit § 9 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit den aufgrund der letztgenannten Ermächtigung ergangenen landesrechtlichen Normen 21 in der Besetzung mit drei Berufsrichtern und in einem schriftlichen Verfahren gemäß § 124a Abs. 5 VwGO entscheidet. Ein derartiger Beschluss wird für das Oberverwaltungsgericht selbst jedenfalls in dem Moment existent und bindend, in dem er von den zuständigen Richterinnen und Richtern unterzeichnet auf der Geschäftsstelle des Senats eingeht. Bis zu diesem Zeitpunkt gibt es allenfalls Beschlussentwürfe, Diskussionsstände oder Beratungen; dies alles ist aber rechtlich nicht mit Außenwirkung fassbar. Eine „Absicht“ gibt es vor dem Ergehen des Beschlusses als rechtlich fassbares Kriterium nicht; sie ist mit dem Erfordernis einer eindeutig geregelten Vorlageverpflichtung nach Art. 267 Abs. 3 AEUV, die für die Beteiligten und die Richter zu Beginn eines Prozesses mit Bestimmtheit feststeht, unvereinbar 22. Weiterhin wird über die Zulassung der Berufung erst am Ende des Berufungszulassungsverfahrens entschieden. Im Falle der Nichtzulassung stünde also erst am Ende des Berufungszulassungsverfahrens fest, dass das Oberverwaltungsgericht selbst vorlagepflichtig war. In diesem Zeitpunkt – dem der Beschlussfassung – müssen aber die materiell-rechtlichen Fragen des Falles längst geklärt 19

Petzold, Wechselwirkungen, Seite 125. Wilke, Europarechtliche Einflüsse, Seite 494. 21 Etwa für Niedersachsen § 4 des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zur Verwaltungsgerichtsordnung [NdsAGVwGO vom 1. Juli 1993, Nds. GVBl. 1993, 175, zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 25. November 2009, Nds. GVBl. S. 437]: (1) Die Senate des Oberverwaltungsgerichts entscheiden in der Besetzung von drei Richterinnen oder Richtern und zwei ehrenamtlichen Richterinnen oder Richtern. (2) Bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung und bei Gerichtsbescheiden wirken die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter nicht mit. Dies gilt nicht für Beschlüsse, durch die in Verfahren nach § 47 der Verwaltungsgerichtsordnung in der Hauptsache entschieden wird. 22 Lieber, Vorlagepflicht, Seite 98. 20

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VI. Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben

sein, vor allem die der Entscheidung vorgreifliche Frage eines Vorabentscheidungsverfahrens 23. Zudem ist bei dieser Ansicht nicht erklärbar, in welchem Verfahren die nach ihr auch in der Fallgruppe, dass die Berufung nicht zugelassen wird, dann theoretisch denkbare Aussetzung und Vorlage ergehen sollte: Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung nicht zu, so wird eben das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 3 VwGO) und das Verfahren ist rechtskräftig beendet; eine Vorlage kommt in diesem Verfahren dann naturgemäß nicht mehr in Betracht. Die Konstruktion, dass eine Letztinstanzlichkeit dann gegeben sein soll, wenn das Oberverwaltungsgericht „beabsichtigt“, die Berufung nicht zuzulassen, verkennt, dass die Vorlagefrage dann aus prozessrechtlichen Gründen in der überkommenen Auslegung der Vorschriften über die Zulassung der Berufung dann schon offenbar nicht entscheidungserheblich im obigen Sinne ist. Denn offenbar kann in diesem Fall der Zulassungsantrag ohne Entscheidung der unionsrechtlichen Fragestellung abschlägig entschieden werden. Dies zeigt, dass das Differenzierungskriterium einer „negativen Entscheidungsabsicht“ des Oberverwaltungsgerichts ungeeignet zu einer Beurteilung der Frage der Letztinstanzlichkeit ist. Soweit das Bundesverfassungsgericht 24 das Oberverwaltungsgericht „für die Zwecke des Zulassungsverfahrens“ als letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV ansieht und davon ausgeht, dass dem nicht entgegenstehe, „dass sich nach erfolgter Rechtsmittelzulassung – insbesondere nach Zulassung der Berufung – eine weitere Instanz anschließen“ könne, ist dies ebenfalls kein taugliches Abgrenzungskriterium. Denn diese Zweckbestimmung ist wie gezeigt mit den Tatbestandsmerkmalen des Art. 267 AEUV schwerlich vereinbar. Ist die „Absicht“ der Ablehnung des Berufungszulassungsantrages nach dem Gesagten damit kein taugliches Abgrenzungskriterium für die Frage, ob das Oberverwaltungsgericht letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV ist, so drängt sich naturgemäß die Frage auf, wie diese Abgrenzung ansonsten zu erfolgen hat. Indes ist nach dem oben Gesagten maßgeblich für die Einordnung des Oberverwaltungsgerichts als letztinstanzliches Gericht im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV oder als Instanzgericht im Sinne von Art. 267 Abs. 2 AEUV, ob dessen Entscheidung im Sinne obiger Definitionen und Herleitungen noch mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angegriffen werden kann. In den Blick ist damit das Entscheidungsergebnis zu nehmen. Dieses Entscheidungsergebnis wird – in dem hier interessierenden Zusammenhang – die Zulassung der Beru23

Lieber, Vorlagepflicht, Seite 98. BVerfG, Beschluss vom 25. August 2008, – 2 BvR 2213/06 –, NVwZ 2009, 519 – 521. 24

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fung sein, wenn die Notwendigkeit der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens von dem Zulassungsantragsteller im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO hinreichend dargelegt wurde. In diesem – unproblematischen – Falle lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung aus dem dargelegten Grund gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO zu und ist das Oberverwaltungsgericht – wie soeben gezeigt – nicht letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV. Problematisch ist damit allein die Fallgruppe, in der die Notwendigkeit der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens in dem Instanzenzug zwar objektiv und für das Oberverwaltungsgericht offen zu Tage tretend vorliegt, aber von dem Zulassungsantragsteller nicht oder nicht hinreichend in dem Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt worden ist. Für diesen Fall wäre indes eine Einordnung des Oberverwaltungsgerichts als letztinstanzliches – oder als Instanzgericht nur dann relevant, wenn nicht bereits unmittelbar aus Art. 267 AEUV folgen würde, dass das Oberverwaltungsgericht jenseits der von dem Zulassungsantragsteller dargelegten Berufungszulassungsgründe im Sinne von § 124 Abs. 2 VwGO die Berufung zur Durchführung eines objektiv gebotenen Vorabentscheidungsverfahrens zuzulassen hätte. Wäre dies der Fall, so käme es weder auf eine „Absicht“ des Oberverwaltungsgerichts an, in dem einen oder anderen Sinne zu entscheiden, noch wäre die bundesverfassungsgerichtliche Einordnung nach dem „Verfahrenszweck“ relevant; eine Einordnung des Oberverwaltungsgerichts im Berufungszulassungsverfahren selbst in Bezug auf eine Letztinstanzlichkeit wäre vielmehr überflüssig und könnte gänzlich unterbleiben. b) Vorgaben des Art. 267 AEUV in dem Berufungszulassungsverfahren Daher ist das Bestehen einer unmittelbar aus Art. 267 AEUV folgenden Pflicht, jenseits der Normen der §§ 124, 124a VwGO die Berufung in dem Falle der Notwendigkeit der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens zuzulassen, zu untersuchen. Es kommt in Betracht, dass Art. 267 AEUV selbst Vorgaben für die Zulassung der Berufung enthält, die das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO überlagern. In dem Verhältnis zwischen dem Unionsrecht und der Durchsetzung auf ihm wurzelnder Rechte und Pflichten des Einzelnen gilt wie gezeigt der „Grundsatz der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie“ 25: Streitigkeiten über aus dem Unionsrecht folgende Rechte und Pflichten, die in die Zuständigkeit der nationalen Gerichte fallen, sind von diesen in Anwendung des nationalen Pro-

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zessrechts zu entscheiden. Ferner obliegt es den mitgliedsstaatlichen Gerichten in diesem Rahmen, durch Anwendung des in Art. 4 Abs. 3 EUV 26 niedergelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit den sich aus der unmittelbaren Wirkung der Unionsvorschriften ergebenden Rechtsschutz zu gewährleisten. Es ist hierbei Sache der nationalen Rechtsordnung jedes Mitgliedsstaates, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und diejenigen Verfahrensmodalitäten der gerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen zu regeln, die den Schutz der den Einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts erwachsenden Rechte sichern sollen 27. Der Grundsatz der institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie gilt indes nur dann und soweit, wie das Unionsrecht nicht selbst den Rechtsschutz regelnde Bestimmungen enthält. Die bindenden Vorgaben des Unionsrechts wie dessen Vorrang als Strukturprinzip der Union können das nationale Prozessrecht überlagern und sogar verdrängen 28. Insoweit kommt Art. 267 AEUV mit der Regelung des Vorabentscheidungsverfahrens selbst als prozessrechtliche Regelung auf der Ebene des primären Unionsrechts 29 in Betracht, die die Nichtanwendbarkeit nationaler Verfahrensvorschriften zu begründen vermag, die eine Vorlage an den Gerichtshof erschweren oder vereiteln oder hierzu geeignet sind 30. Hierfür kann angeführt werden, dass der Gerichtshof 31 die Reglungen in Art. 267 AEUV über das Vorabentscheidungsverfahren zutreffend als für den nationalen Richter zwingendes Recht ansieht, das sich auch gegenüber nationalen Normen des Prozessrechts durchsetzt und das Beschränkungen durch nationales Prozess- oder Verfahrensrecht weder in direkter noch in indirek25

Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 180; Iglesias, Grenzen der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedsstaaten, Seite 289. 26 Art. 10 EGV: (1) Die Mitgliedsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben. Sie erleichtern dieser die Erfüllung ihrer Aufgaben. (2) Sie unterlassen alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrages gefährden könnten. 27 EuGH, Urteil vom 5. März 1980, Rs. C-265/78 [Ferwerda. / . Produktshap voor Vee en Vlees], Slg. 1980, 617. 28 Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 181. 29 Weyer, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, Seite 146; Kenntner, Europarecht im deutschen Verwaltungsprozeß, Seite 301; Kokott / Henze / Sobotta, Pflicht zur Vorlage, Seite 636. 30 EuGH, Urteil vom 16. Januar 1974, Rs. C-166/73 [Rheinmühlen-Düsseldorf gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1974, 33 [Rn. 2] zu Art. 177 EGV; Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 779. 31 EuGH, Urteil vom 16. Januar 1974, Rs. C-166/73 [Rheinmühlen-Düsseldorf gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1974, 33 [Rn. 2] zu Art. 177 EGV.

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ter Weise zulässt 32. In dem Verfahren Rheinmühlen-Düsseldorf gegen Einfuhrund Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel I hatte der Gerichtshof das Verhältnis zwischen der Vorlageberechtigung nichtletztinstanzlicher Gerichte nach Art. 177 EGV zu der nationalen prozessrechtlichen Bindungswirkung zurückverweisender Entscheidung der Obersten Gerichtshöfe des Bundes zu präzisieren. Hier stellte der Gerichtshof darauf ab, dass das Vorabentscheidungsverfahren von entscheidender Bedeutung dafür ist, dass das von dem Vertrag geschaffene Recht „wirklich gemeinsames Recht bleibt“ und eine unterschiedliche Auslegung des Unionsrechts zu verhindern bestimmt ist, da das Vorabentscheidungsverfahren „dem nationalen Richter die Möglichkeit gibt, die Schwierigkeiten auszuräumen, die sich aus der Notwendigkeit ergeben können, dem Gemeinschaftsrecht im Rahmen der Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten zur vollen Geltung zu verhelfen“ 33. Dieser besonderen Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahren wird nur ein Verständnis der es regelnden Norm als zwingendes und für die mitgliedsstaatlichen Gerichte unbeschränktes Recht gerecht, das allein daran anknüpft, ob das mitgliedsstaatliche Gericht der Auffassung ist, dass eine bei ihm anhängige Rechtssache Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit unionsrechtlicher Bestimmungen aufwirft 34. Demnach ist auch eine prozessrechtliche Bindung nichtletztinstanzliche Gerichte an die rechtliche Beurteilung unionsrechtlicher Fragen durch das übergeordnete Gericht mit Art. 267 AEUV unvereinbar 35. Hiernach ist die Vorlageberechtigung der Instanzgerichte unbeschränkt und durch eine prozessrechtliche Norm, die eine Bindungswirkung an eine Entscheidung höher-instanzlicher Urteile vorsieht, auch nicht beschränkbar. Es besteht ein „unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof“ 36, um die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedsstaaten zu gewährleisten. Diese Rechtsprechung hat der Gerichtshof in späteren Urteilen bestätigt 37. Das Vorabentscheidungsverfahren setzt sich daher gegenüber jeder prozessualen 32 So auch Middeke, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 10 Rn. 53. 33 EuGH, Urteil vom 16. Januar 1974, Rs. C-166/73 [Rheinmühlen-Düsseldorf gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1974, 33 [Rn. 2]. 34 EuGH, Urteil vom 16. Januar 1974, Rs. C-166/73 [Rheinmühlen-Düsseldorf gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1974, 33 [Rn. 3]. 35 EuGH, Urteil vom 16. Januar 1974, Rs. C-166/73 [Rheinmühlen-Düsseldorf gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1974, 33 [Rn. 2 –4] zu Art. 177 EGV. 36 EuGH, Urteil vom 16. Januar 1974, Rs. C-166/73 [Rheinmühlen-Düsseldorf gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1974, 33 [Rn. 3]; EuGH, Urteil vom 22. Juni 2010, Rs. C-188/10 und C-189/10 [Aziz Melki (C-188/10) und Sélim Abdeli (C-189/10)], Juris [Rn 42 und 44]; ähnlich Lenz, Wirkungsmechanismus des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 214. 37 EuGH, Urteil vom 9. März 1978, Rs. C-106/77 [Staatliche Finanzverwaltung gegen S.p.A. Simmenthal], Slg. 1978, 00629 [Rn.19/20]; EuGH, Urteil vom 19. Juni 1990,

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VI. Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben

Norm des mitgliedsstaatlichen Rechts durch, die das jeweilige Gericht daran hindern könnte, dem Unionsrecht entsprechend eine Vorabentscheidung einzuholen 38. Art. 267 AEUV ist daher in einem objektiven Sinne dahingehend zu verstehen, dass eine Vorlage zu einer Vorabentscheidung immer zulässig ist, sobald sich objektiv eine unionsrechtliche Frage vor einem mitgliedsstaatlichen Gericht stellt, unabhängig davon, ob sie zunächst von einer Partei aufgeworfen oder von dem Gericht erkannt worden ist 39. Die Vorlageberechtigung beziehungsweise -verpflichtung ist daher als durch den mitgliedsstaatlichen Gesetzgeber nicht einschränkbar anzusehen 40; die Vorlageberechtigung aus Art. 267 AEUV „unterliegt keinen verfahrenspraktisch relevanten Grenzen“ 41 und besteht „von Amts wegen“ 42 als zwingendes Recht 43. Denn das Vorabentscheidungsverfahren ist kein Rechtsbehelf der Beteiligten, sondern Mittel zu einer Gewährleistung der einheitlichen Geltung des Unionsrechts in allen Mitgliedsstaaten 44. Art. 267 AEUV verknüpft die Vorlageberechtigung bzw. die Vorlageverpflichtung mit der Stellung des jeweiligen Gerichts in dem mitgliedsstaatlichen Instanzenzug 45. Grundkonzeption des Art. 267 AEUV ist, dass jedes mitgliedsstaatliche Gericht von sich aus den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung ersuchen kann, ohne auf einen Antrag einer Partei 46 oder darauf angewiesen zu sein, dass sich eine Partei auf Unionsrecht beruft 47. Das Vorabentscheidungsverfahren ist Rs. C-213/89 [The Queen gegen Secretary of State for Transport, ex parte: Factortame Ltd u. a.], Slg. 1990, I-02433 [Rn. 18]; EuGH, Urteil vom 12. Februar 2008, Rs. C-2/06 [Willy Kempter KG gegen Hauptzollamt Hamburg-Jonas], Slg. 2008, Seite I-00411 [Rn. 41]; EuGH, Urteil vom 16. Dezember 2008, Rs. C-210/06 [CARTESIO Oktató és Szolgáltató bt.], Slg. 2008, I-09641 [R. 96 bis 98]; EuGH, Urteil vom 22. Juni 2010, Rs. C-188/10 und C-189/10 [Aziz Melki (C-188/10) und Sélim Abdeli (C-189/10)], Juris [Rn 41 ff.]. 38 Karpenstein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der Europäischen Union, Art. 234 EGV Anm. 61, der dieses zutreffende Ergebnis dann jedoch Rn. 66 wieder aus dem Blick gleiten lässt; Oexle, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 1330. 39 Pescatore, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 36. 40 Kerwer, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, Seite 482; Roeben, Einwirkung der Rechtsprechung, Seite 313; Petzold, Wechselwirkungen, Seite 124; Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, Teil A § 9 Rn. 88; Middeke, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 10 Rn. 53. 41 So Schmidt, Vorlageverfahren, Seite 729; ähnlich Koch, Richterliche Vertragsverletzungen, Seite 41, der jede Beeinträchtigung der praktischen Wirksamkeit des Art. 267 AEUV als ausgeschlossen ansieht. 42 Middeke, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, § 10 Rn. 53. 43 Kerwer, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, Seite 482. 44 Fastenrath, Gesetzlicher Richter, Seite 464. 45 Burgi, Verwaltungsprozess und Europarecht, Seite 71. 46 Skouris, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 343.

1. Anwendbarkeit des Darlegungsgebots

453

„der Parteiherrschaft entzogen“ 48. Diese Grundkonzeption würde in ihr Gegenteil verkehrt, wenn man für ein Vorabentscheidungsersuchen eine entsprechende Darlegung des Berufungszulassungsantragsstellers der vorzulegenden Fragen im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO fordern würde; die Darlegung wäre in diesem Fall nichts anderes als ein durch Art. 267 AEUV gerade nicht vorgesehenes Antragserfordernis eines Beteiligten 49 bzw. ein Fall der Befreiung von der Vorlagepflicht jenseits der CILFIT-Rechtsprechung des Gerichtshofs 50. Auch § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO kann die unbeschränkte und unbeschränkbare Berechtigung der mitgliedsstaatlichen Gerichte aus Art. 267 AEUV daher nicht begrenzen 51. Nur bei einem solchen Verständnis des Art. 267 AEUV wird gewährleistet, dass eine Befassung des Gerichtshofs mit materiell einer Vorabentscheidung fähigen und bedürftigen Sachen nicht von den finanziellen, zeitlichen und intellektuellen Ressourcen der Beteiligten des Ausgangsverfahrens und ihrer Vertreter abhängt, sondern – wie von Art. 267 AEUV vorgesehen – allein von der unionsrechtlichen Sensibilität und Kreativität des mitgliedsstaatlichen Richters 52, der die „Herrschaft über das Vorabentscheidungsverfahren“ 53 inne hat. Nur bei einem solchen Verständnis des Art. 267 AEUV werden ferner die Prinzipien des Vorrangs und der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts gewährleistet, die ebenfalls nicht von einer entsprechenden Geltendmachung abhängen 54, und kann die individualrechtsschützende Funktion der Norm zum Tragen kommen 55. Dogmatisch folgt dieses Ergebnis aus dem erläuterten Prinzip des Vorrangs des Unionsrechts 56, nach dem dem von dem Vertrag geschaffenen und somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer geartete innerstaatliche Rechtsvorschrift vorgehen kann, wenn ihm nicht sein Charakter als Unionsrecht abgesprochen werden und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Union selbst in Frage gestellt werden 47

Wiedemann, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 12. Februar 2008, Seite 533. EuGH, Urteil vom 12. Februar 2008, Rs. C-2/06 [Willy Kempter KG gegen Hauptzollamt Hamburg-Jonas], Slg. 2008, Seite I-00411 [Rn. 41]. 49 Zu dem bei Art. 267 AEUV fehlenden Antragserfordernis vgl. Kokott / Henze / Sobotta, Pflicht zur Vorlage, Seite 633. 50 EuGH, Urteil vom 06. Oktober 1982, Rs. C-283/81 [Srl CILFIT und Lanificio di Gavardo SpA gegen Ministero della Sanità], Slg. 1982, Seite 3415; hierzu oben V. 1. b) cc). 51 Flint, Anmerkung zu OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 29. Januar 1998, Seite 608; Baumgärtel, Zulassungsberufung, Seite 263. 52 Skouris, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 343. 53 Epiney, Europäisches Verfassungsrecht 2008, Seite 953. 54 Wiedemann, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 12. Februar 2008, Seite 532. 55 Roeben, Einwirkung der Rechtsprechung, Seite 314. 56 Kerwer, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, Seite 482; Bieber / Epiney / Haag, Europäische Union, Teil A § 9 Rn. 88; vergleiche auch Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 779; vgl. auch Fastenrath, Gesetzlicher Richter, Seite 469. 48

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VI. Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben

soll. „Infolgedessen ist [das Vorabentscheidungsverfahren] ohne Rücksicht auf innerstaatliche Gesetze anzuwenden, wenn sich die Auslegung des Vertrages betreffende Fragen stellen“ 57. Dass es sich bei Art. 267 AEUV um eine – die einzige – Norm des Primärrechts handelt, die eine unmittelbar wirksame Regelung des Prozessrechts aller Mitgliedsstaaten enthält, dürfte aufgrund ihres oben dargestellten Regelungsinhaltes und ihres Sinns und Zwecks unbestreitbar sein 58. Die direkte Kollision zwischen den beiden prozessrechtlichen Vorschriften des Art. 267 AEUV und des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ist durch das Vorrangprinzip, also durch die Nichtanwendung des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO in den Fällen einer objektiv in dem Berufungszulassungsverfahren zu Tage tretenden Vorabentscheidungsbedürftigkeit zu lösen. Soweit zum Teil in der Literatur 59 vertreten wird, dass der Gerichtshof mit seiner Rheinmühlen-Entscheidung nicht zum Ausdruck habe bringen wollen, dass eine Vorlagebefugnis mitgliedsstaatlicher Gerichte immer und unabhängig von dem Parteivortrag bestehe, sondern der Gerichtshof allein über eine Bindung eines mitgliedsstaatlichen Gerichts an die Entscheidung eines übergeordneten Gerichts, nach der keine Vorlageverpflichtung bestehe, entschieden habe, und allein über die Befugnis, eine schon aufgeworfene Frage des Unionsrechts vorzulegen, von dem Gerichtshof entschieden worden sei 60, ist dem nicht beizutreten. Der Gerichtshof hat Art. 267 AEUV dahingehend ausgelegt, dass „die nationalen Gerichte ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof haben, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen aufwirft, über die diese Gerichte im konkreten Fall entscheiden müssen“; die von der Literatur aus dem Anlass des Vorlageverfahrens, das ja nationale Rechtsnormen betrifft, für deren Auslegung der Gerichtshof nicht zuständig ist, gefolgerte Einschränkung lässt sich dem nicht entnehmen 61. Vielmehr hat der Gerichtshof in einer späteren Entscheidung im Jahr 1991 die sich der Rheinmühlen-Entschei57 EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Rs. C-6/64 [Flaminio Costa gegen E.N.E.L.], Slg. 1964, 1253 [1270 f.]. 58 Dörr, Europäisierter Rechtsschutzauftrag, Seite 158, der zutreffend von einer „verbindlichen Verfahrensnorm“ spricht; Kerwer, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, Seite 11, spricht von Art. 267 AEUV als einer Vorgabe des formellen Rechts; Burgi, Verwaltungsprozess und Europarecht, Seite 71; anders wohl Stern, Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts, Seite 769, der in einer Verkennung des rein prozessrechtlichen Regelungscharakters des Art. 267 AEUV davon ausgeht, dass das Primärrecht keine Regelungen enthalte, auf deren Grundlage die Unionsbürger ihre aus dem Unionsrecht resultierenden Rechte gegenüber den mitgliedsstaatlichen Behörden durchsetzen können, und der damit die oben V. 1. a) bb) beschriebene auch individualschützende Funktion des Art. 267 AEUV verkennt. 59 Herb, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationaler Zivilprozess, Seite 16. 60 Herb, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationaler Zivilprozess, Seite 16. 61 So aber wohl Pfeiffer, Beschwerde gegen EuGH-Vorlagen, Seite 1997, der dort indes verkennt, dass bei dem richtigen Verständnis des Art. 267 AEUV als einer Norm des

1. Anwendbarkeit des Darlegungsgebots

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dung entnehmen lassende umfassende Vorlageprüfung von Amts wegen gerade unter Bezugnahme auf die Rheinmühlen-Entscheidung bestätigt und betont, dass die Befugnis zu einer Aussetzung und Vorlage an den Gerichtshof allein von der Ansicht des mitgliedsstaatlichen Gerichts, dass es auf eine vorabentscheidungsfähige Rechtsfrage ankomme, abhänge 62. Weitere Voraussetzungen – etwa ein Aufwerfen der unionsrechtlichen Problematik durch die Beteiligten – hat der Gerichtshof gerade nicht formuliert 63. Mitgliedsstaatliche Gerichts- und Prozessordnungen vermögen daher das Vorlagerecht und die Vorlagepflicht eines mitgliedsstaatlichen Gerichts nicht zu beschränken 64. Ist damit Art. 267 AEUV dahingehend zu interpretieren, dass die nationalen Gerichte „berechtigt und unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet [sind], zur Vorabentscheidung vorzulegen, sofern sie von Amts wegen oder auf Anregung der Parteien feststellen, dass es für die Entscheidung des Rechtsstreits auf eine der in Artikel [267] Absatz 1 genannten Fragen ankommt“, so hat dies auch Auswirkungen auf die Frage, ob bei einer offen zu Tage tretenden Vorabentscheidungsnotwendigkeit deren fehlende Darlegung im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entscheidungserheblich für den Berufungszulassungsantrag sein kann: Die von dem Gerichtshof damit ausdrücklich in den Blick genommene Prüfung „von Amts wegen“ der Notwendigkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens zu einer Durchsetzung des Unionsrechts ist die einzige Möglichkeit, das Vorabentscheidungsverfahren umfassend zu dem oben umrissenen Sinn und Zweck einer Durchsetzung des Unionsrechts nutzbar zu machen. Nur dann, wenn der Gerichtshof durch nationale Vorlagen ausnahmslos in allen denjenigen Fällen, in denen seine Auslegung des Unionsrechts zu dessen Durchsetzung erforderlich ist, überhaupt erst in die Lage versetzt wird, Entscheidungen über Fragen das Unionsrecht betreffend zu fällen 65, funktioniert das Instrumentarium des Vorabentscheidungsverfahrens mit seinen oben umschriebenen Zwecken; nur dann kann das Rechts- und Rechtsschutzsystem der Union das Zentrum der Integration 66 bilden. Ohne das Ersuchen der nationalen Gerichte um VorabentscheidunProzessrechts auf der Ebene des Primärrechts sich die Frage nach einer ansonsten durch den Gerichtshof weitestgehend respektierten Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten nicht stellt. 62 EuGH, Urteil vom 11. Juli 1991, Rs. C-87/90, C-88/90 und C-89/90 [A. Verholen und andere gegen Sociale Verzekeringsbank Amsterdam], Slg. 1991, I-03757 [Rn. 12 und 13]. 63 So auch Pescatore, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 36. 64 So zum Vorlagerecht Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 25. 65 Ehricke, Bindungswirkung, Seite 11. 66 Haltern, Europarecht, Rn. 300.

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VI. Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben

gen an den Gerichtshof fehlt diesem jede Möglichkeit der Einflussnahme auf die Auslegung des Unionsrechts durch die nationalen Gerichte 67. Das Nichteinholen eines nach Art. 267 AEUV notwendigen Vorabentscheidungsverfahrens stellt sich daher materiell aus der Sicht des Sinns und Zwecks des Vorabentscheidungsverfahrens betrachtet nicht anders dar, als wenn ein Gericht ein Vorabentscheidungsverfahren durchführt, aber die anschließende Entscheidung als nicht bindend betrachtet und übergeht, oder wenn das Vorabentscheidungsverfahren entgegen seiner Konzeption durch das mitgliedsstaatliche Prozessrecht von dem entsprechenden Antrag eines Beteiligten abhängig gemacht würde. In all diesen Fällen läuft die grundsätzliche Konzeption des Vorabentscheidungsverfahrens leer: Die Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung, wie sie durch ein gleichmäßiges Verständnis des Unionsrechts in den einzelnen Mitgliedsstaaten erreicht werden soll, läuft in dem Maße leer, in dem nationale Regelungen verhindern, dass der Gerichtshof mit bestimmten Fragen des Unionsrechts überhaupt befasst wird 68 oder diese Befassung zu einer Disposition der Parteien durch das Erfordernis entsprechenden Vortrags gestellt wird. Einschränkungen des Vorlagerechts aus Art. 267 AEUV sind damit durch das mitgliedsstaatliche Prozessrecht nicht möglich 69; derartige Einschränkungen – Antragserfordernis, Darlegungserfordernis oder Ähnliches – liefen praktisch darauf hinaus, dass das Vorabentscheidungsverfahren hinter einer Vielzahl von Vorschriften, die in ihren Einzelregelungen von Mitgliedsstaat zu Mitgliedsstaat abweichen, zurücktreten müsste. Der Vertragstext kann aber nicht im Wege mitgliedsstaatlicher Gesetzgebung modifiziert werden 70. Allein durch ein durch das mitgliedsstaatliche Prozessrecht unbeschränktes und unbeschränkbares Vorlagerecht wird verhindert, dass in den Mitgliedsstaaten die Anwendung des Unionsrechts in dem jeweiligen Hoheitsgebiet unter den Vorbehalt jeweils verschiedener Prozessordnungen, Wertvorstellungen und Auslegungsmethoden gestellt wird, und erreicht, dass das Unionsrecht in allen Mitgliedsstaaten gleichmäßig angewandt und die Einheit der Unionsrechtsordnung gewahrt wird. Eine weitere Kontrollüberlegung bestätigt das gefundene Ergebnis: Wie oben 71 ausgeführt ist Art. 267 AEUV so konzipiert, dass es in jedem Prozess vor einem mitgliedsstaatlichen Gericht, in dem sich unionsrechtliche Fragen im Sinne des Art. 267 AEUV stellen, ein mitgliedsstaatliches Gericht gibt, das vorlagever67

Haltern, Europarecht, Rn. 354. Ehricke, Bindungswirkung, Seite 11 f. 69 Wegener, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, Art. 267 AEUV Rn. 25; Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 98; Frenz, Subjektive Rechte, Seite 139. 70 Schlussanträge des Generalanwaltes Jean-Pierre Warner vom 12. Dezember 1973, Rs. C-146/73 und C-166/73 [Rheinmühlen-Düsseldorf gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1974, 40 [43]. 71 V. 1. a) aa). 68

1. Anwendbarkeit des Darlegungsgebots

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pflichtet im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV ist 72. Dies wäre dann nicht gewährleistet, wenn es auf die Darlegung einer Frage im Sinne des Art. 267 AEUV in dem Berufungszulassungsantrag ankäme, um die Vorlagepflicht auszulösen: Das Verwaltungsgericht wäre als Instanzgericht im Sinne von Art. 267 Abs. 2 AEUV nicht vorlagepflichtig, das Oberverwaltungsgericht wäre wegen der Nichterfüllung des Darlegungsgebotes des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ebenfalls nicht vorlagepflichtig. In einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren, in dem sich eine Frage in dem Sinne des Art. 267 AEUV objektiv stellt, diese aber nicht dargelegt in dem Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO wäre, wäre damit entgegen der Konzeption des Art. 267 AEUV kein Gericht vorlagepflichtig. Es bestände daher insoweit eine Rechtsschutzlücke in dem Vorabentscheidungsverfahren, die durch das von den Verträgen geschaffene Rechtsschutzsystem gerade ausgeschlossen sein soll 73. Dies wäre zudem in einem Hinblick auf den Grundrechtsschutz der Union problematisch, der gerade voraussetzt, dass die nationalen Fachgerichte Vorlagepflichten und -rechte beachten 74. Das Bundesverfassungsgericht übt seine Grundrechtskontrolle über in Deutschland angewandtes Unionsrecht grundsätzlich nicht mehr aus, solange und soweit die Europäische Union einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Union generell gewährleistet, der dem von dem Grundgesetz jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist 75. Ratio dieser Selbstbeschränkung ist es, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Union einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleistet, der dem von dem Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist. Wegen der Selbstbeschränkung des bundesverfassungsgerichtlichen Grundrechtsschutzes 76 zugunsten einer institutionellen Prüfung von Grundrechtsverletzungen durch den Gerichtshof sowohl bei Verordnungen 77 als auch bei richtlinienumsetzenden Gesetzen 78 wäre in derartigen Konstellationen eine Überprüfung an dem Maßstab der Unionsgrundrechte in dem Sinne des Art. 6 EUV ausgeschlossen: Dem Ge72

Kerwer, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, Seite 529. 73 Kraus, Kooperative Sicherung, Seite 118. 74 Möller, Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof, Seite 227; Füßer, Durchsetzung der Vorlagepflicht, Seite 1575. 75 BVerfG, Beschluss vom 29. April 2010, – 2 BvR 871/04, 2 BvR 414/08 –, Juris [Rn. 28]; BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009, – 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/ 08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08, 2 BvR 182/09 –, BVerfGE 123, 267 –437 [399]; BVerfG, Beschluss vom 07. Juni 2000, – 2 BvL 1/97 –, BVerfGE 102, 147 –166 [162 f.]. 76 Augsberg, Prüfungsumfang, Seite 153 ff., zum Grundrechtsschutz im Mehrebenensystem. 77 BVerfG, Beschluss vom 22. Oktober 1986, – 2 BvR 197/83 –, BVerfGE 73, 339 – 388 [387].

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VI. Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben

richtshof würde die grundrechtsrelevante Problematik nicht vorgelegt, das Bundesverfassungsgericht würde sich in „justizieller Zurückhaltung“ 79 zugunsten des Gerichtshofs üben, wenn es bezüglich der Erforderlichkeit einer Aussetzung und Vorlage auf die entsprechenden Darlegungen des Berufungszulassungsantragsstellers ankäme. Denn das Verwaltungsgericht wäre als Instanzgericht nicht vorlagepflichtig, das Oberverwaltungsgericht wäre aufgrund der Nichterfüllung des Darlegungsgebotes des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht vorlageverpflichtet, sodass eine Überprüfung eines Grundrechtsverstoßes durch den Gerichtshof prozessual verhindert wäre, und eine solche wäre durch das Bundesverfassungsgericht aufgrund dessen Selbstbeschränkung nicht möglich. Der Grundrechtsschutz liefe leer. Damit ist die primärrechtliche Regelung des Art. 267 AEUV unmittelbar das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO verdrängend bzw. einschränkend dann anzusehen, wenn und soweit ein Vorabentscheidungsverfahren aus der objektiven Sicht des Oberverwaltungsgerichts und jenseits der in dem Zulassungsantrag dargelegten Gründe zu einer unionsrechtskonformen Entscheidung der Streitsache erforderlich ist 80. Auf die Frage, ob der Berufungszulassungsantragssteller die Notwendigkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt oder gar die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens beantragt hat 81 kommt es damit nicht an. Da wie ausgeführt 82 eine Aussetzung und Vorlage nach Art. 267 AEUV in dem sich als bloßes Zwischenverfahren darstellendem Berufungszulassungsverfahren, das allein auf die Entscheidung über die Zulassung der Berufung ausgerichtet ist, nicht in Betracht kommt, enthält Art. 267 AEUV gleichsam als Minus zu der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens den Rechtsanwendungsbefehl, dessen Durchführung durch die Zulassung der Berufung zu ermöglichen 83. Nur durch ein solches Verständnis kann die Vorgabe des Gerichtshofs, dass bei zulassungsbedürftigen Rechtsmitteln immer dann, wenn „sich eine Frage nach der Auslegung oder der Gültigkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift [stellt, ...] das oberste Gericht nach Artikel [267 Abs. 3 AEUV] verpflichtet [ist], dem Gerichtshof entweder im Stadium der Zulassungsprüfung oder in einem späteren Stadium eine Vorabentscheidungsfrage vorzulegen“ 84, erfüllt werden. Ist in dem Stadium der Zulassungsprüfung, wie für das Berufungszulassungsverfahren 78 BVerfG, Beschluss vom 9. Januar 2001, – 1 BvR 1036/99 –, NJW 2001, 1267 [1268]; BVerfG, Beschluss vom 27. Juli 2004, – 1 BvR 1270/04 –, NVwZ 2004, 1346. 79 Augsberg, Prüfungsumfang, Seite 156. 80 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / Kuntze / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 51. 81 Eine solche Beantragung wohl aber als erforderlich ansehend BVerwG, Urteil vom 12. April 2005, – BVerwG 1 C 9.04 –, BVerwGE 123, 190 –203. 82 IV. 3. 83 Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 51.

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nach der VwGO gezeigt, eine Aussetzung und Vorlage nicht möglich, so kommt nur die Zulassung der Berufung in Betracht. Allein das objektive Bestehen einer materiellen Vorlagebedürftigkeit verpflichtet das Oberverwaltungsgericht daher jenseits des Inhalts des Berufungszulassungsantrags zu einer Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO oder wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO 85. Vorzuziehen sein dürfte insoweit indes eine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, da eine entscheidungserhebliche unionsrechtliche Gültigkeits- oder Zweifelsfrage stets auch eine grundsätzliche Bedeutung in dem oben beschriebenen 86 Sinne enthält 87. Der Rechtsstreit erhält seine grundsätzliche Bedeutung infolge der Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, Verletzungen des Unionsrechts gemäß Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV zu unterlassen, die Vorlageverpflichtung nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zu respektieren und dem Betroffenen den Weg zu seinem gesetzlichen Richter 88 offenzuhalten 89. Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass Art. 267 AEUV eine explizite Bestimmung bezüglich des nationalen Prozesses auf des Ebene des primären Unionsrechts enthält 90, die aufgrund der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts Teil des nationalen Rechts ist und die aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO überlagert und verdrängt, wenn objektiv die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens in dem Instanzenzug notwendig sein wird. Die Zulassung der Berufung kann daher nicht nur als Ausfluss des Art. 267 AEUV „auch unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfragenklärung durch den Gerichtshof“ geboten sein 91; dieses Ergebnis ist vielmehr verpflichtend. Auf die in der Literatur und der Rechtsprechung diskutierte Frage der Zuordnung des Oberverwaltungsgerichts in einem Berufungszulassungsverfahren unter die Kategorien des Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV, namentlich auf die Absicht des Senats, die Berufung zuzulassen oder nicht, kommt es daher unter keinem 84

EuGH, Urteil vom 4. Juni 2002, Rs. C-99/00 [Strafverfahren gegen Kenny Roland Lyckeskog], Slg. 2002, I-04839 [Rn. 18]. 85 Petzold, Wechselwirkungen, Seite 124 f. 86 II. 2.c). 87 Schiller, Anmerkung zu BVerwG, Beschluss vom 22. Juli 1986, Seite 916. 88 Hierzu sogleich VIII. 89 Meier, Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts, Seite 13. 90 Burgi, Verwaltungsprozess und Europarecht, Seite 71; Fastenrath, Kooperation, Seite 274, spricht von Art. 267 Abs. 3 AEUV als einer „prozessualen Norm“. 91 So zur Revisionszulassung BVerwG, Beschluss vom 7. Mai 1985, – BVerwG 3 B 49.84 –, Buchholz 451.531 GFlHG Nr. 3.

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VI. Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben

rechtlichen Gesichtspunkt an. Ebenso unerheblich ist es, ob die Notwendigkeit der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens von dem Berufungszulassungsantragssteller gesehen oder gar im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt worden ist. Bei dem Vorliegen einer Frage der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts oder der Handlung eines Unionsorgans, die fähig und bedürftig ist, in einem Vorabentscheidungsverfahren geklärt zu werden, hat das Oberverwaltungsgericht vielmehr allein aus diesem Grunde auf der Grundlage des Art. 267 AEUV die Berufung zuzulassen 92. Hieraus folgt dann aber auch zwingend, dass das Oberverwaltungsgericht in einem Berufungszulassungsverfahren niemals zu einer Vorlage verpflichtetes letztinstanzliches Gericht in dem Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV sein kann: Ist eine vorabentscheidungsfähige und -bedürftige Frage nicht ersichtlich, so fehlt es schon an diesem Tatbestandsmerkmal des Art. 267 Abs. 3 AEUV, sodass sich die Frage der Letztinstanzlichkeit nicht stellt. Liegt hingegen eine vorabentscheidungsfähige und -bedürftige Frage vor, so ist von Amts wegen unabhängig von eventuellen diesbezüglichen Darlegungen des Berufungszulassungsantragstellers im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO die Berufung zuzulassen, sodass in jedem Fall gegen die anschließende Berufungsentscheidung ein Rechtsmittel – entweder die zugelassene Revision oder aber die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision – gegeben ist. In all diesen Fällen kann das Oberverwaltungsgericht daher niemals letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV sein.

2. Das Verhältnis des Darlegungsgebots zu den Prinzipien der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs des Unionsrechts sowie zu dem Effektivitätsgrundsatz und dem Auslegungsprinzip des effet utile a) Prüfungsmaßstab Es wurde gezeigt 93, dass wegen des Grundsatzes der Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten eine nach dem mitgliedsstaatlichen Prozessrecht ausgeschlossene Rechtsmittelzulassung unter Außerachtlassung von deren mitgliedsstaatlichen prozessualen Voraussetzungen nicht allein deswegen von Amts wegen zu erfolgen hat, weil das Unionsrecht nicht, nicht hinreichend oder nicht richtig berücksichtigt wurde 94. Hinzutreten muss vielmehr ein Verstoß gegen die Grund-

92

Bader, in: Bader / Funke-Kaiser / von Albedyll, VwGO, § 124 Rn. 51. V. 4. 94 So aber zu einer Revisionszulassung im Zivilprozess Heß, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 100. 93

2. Das Verhältnis des Darlegungsgebots zu anderen Prinzipien

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sätze der Effektivität oder der Äquivalenz 95 im Sinne obiger Ausführungen, oder ein Verstoß gegen das Vorrangprinzip. Fraglich ist damit, ob das unionsrechtliche Effizienzgebot und die Verpflichtung zu einer unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Prozessrechts aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV gegen eine Anwendung des Darlegungsgebots des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO in den hier zu untersuchenden Fallgruppen sprechen können. In Bezug auf den Effektivitätsgrundsatz ist – wie ausgeführt – nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie zum Beispiel der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens 96. Das Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO könnte sowohl gegen das Effektivitätsprinzip verstoßen (b.]), und zwar in Bezug auf die Länge der Darlegungsfrist ([aa]) als auch in Bezug auf das Verbot der Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen ([bb]), als auch gegen das Äquivalenzprinzip (c.]). Letztlich sind Fälle denkbar, in denen sekundäres Unionsrecht Anforderungen an die Qualität des Rechtsschutzes enthält und mit dem Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO kollidiert (d.]). b) Das Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO unter dem Gesichtspunkt der Effektivität aa) Die Länge der Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO Zunächst ist zu untersuchen, ob die Länge der zweimonatigen Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO als solche mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist. Dies wäre dann nicht der Fall, wenn eine zweimonatige Darlegungsfrist 95

Jarass / Beljin, Vorrang und Durchführung des EG-Rechts, Seite 5. EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93 [Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat], Slg. 1995, I-4599 [Rn. 14]; EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 19]; EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 33]. 96

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VI. Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben

regelmäßig geeignet wäre, die Berufung auf das dem Berufungszulassungsantragssteller günstige Unionsrecht zu vereiteln oder übermäßig zu erschweren. Dies ist indes nicht der Fall. Unionsrechtlich und unter dem Gesichtspunkt des Effektivitätsprinzips ist die Zweimonatsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO als solche nicht zu beanstanden 97. Denn diese dient dem genannten Prinzip der Rechtssicherheit, das wie ausgeführt als Element des Rechtsstaatsprinzips der Union ebenfalls primärrechtlichen Charakter hat. So hat der Gerichtshof entschieden, dass nationale Vorschriften über angemessene Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Derartige Fristen können nämlich nicht als so geartet angesehen werden, dass sie die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, selbst wenn ihr Ablauf per definitionem zur vollständigen oder teilweisen Abweisung der Klage führt 98. Da der Gerichtshof – wie ausgeführt – auch kürzere Fristen als die Zwei-Monats-Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO als mit dem Unionsrecht vereinbar angesehen hat, ist gegen die Länge der Frist nichts zu erinnern. bb) Das Darlegungsgebot als solches unter dem Gesichtspunkt der Effektivität Fraglich ist weiter, ob das Darlegungsgebot als solches mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist. (1) Unionsrechtskonforme Auslegung des Darlegungsgebots unter dem Gesichtspunkt der Effektivität Zunächst ist festzustellen, dass das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO einer unionsrechtskonformen Auslegung dahingehend, dass es in dem Anwendungsbereich des Unionsrechts keinerlei Geltung beanspruchen würde, nicht zugänglich ist. Die unionsrechtskonforme Auslegung des mitgliedsstaatlichen Rechts setzt wie gezeigt voraus, dass das mitgliedsstaatliche Recht mehrere Deutungen zulässt, von denen zumindest eine dem Unionsrecht nicht widerspricht 99. Sie findet 97 EuGH, Urteil 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93 [Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat], 1995 Seite I-04599 [Rn. 16] zu einer 60-Tages-Frist. 98 EuGH, Urteil vom 2. Dezember 1997, Rs. C-188/95 [Fantask A / S e.a. gegen Industriministeriet (Erhvervministeriet)], Slg. 1997, I-06783 [Rn. 48]; EuGH, Urteil vom 1. Dezember 1998, Rs. C-326/96 [B.S. Levez gegen T.H. Jennings (Harlow Pools) Ltd.], Slg. 1998, I-7835, [Rn. 19]. 99 Zuleeg, Wechselseitige Einwirkungen, Seite 166.

2. Das Verhältnis des Darlegungsgebots zu anderen Prinzipien

463

nach den allgemeinen Auslegungsregelungen ihre Grenze dort, wo Wortsinn und Bedeutungsgehalt der mitgliedsstaatlichen Norm über den Rahmen dessen hinaus verändert würden, was als Auslegung noch zulässig ist 100, es sei denn, dass ausnahmsweise der Wortlaut deswegen keine zwingende Grenze der unionsrechtskonformen Auslegung darstellt, weil seine Überschreitung nach allgemeinen methodischen Grundsätzen – etwa einer Auslegung anhand der Gesetzesmaterialien – gerechtfertigt ist 101. Gegen eine unionsrechtskonforme Auslegung des Darlegungsgebots des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO in diesem Sinne spricht entscheidend, dass weder Wortlaut noch Bedeutungsgehalt des § 124a Abs. 4 VwGO nach seiner obigen Auslegung einen Anhaltspunkt dafür erkennen lassen, dass er in dem Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht anzuwenden wäre. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO enthält keine Auslegungsspielräume in Bezug auf eine prinzipielle Unanwendbarkeit, sodass einer unionsrechtskonformen Auslegung in Bezug hierauf der Weg versperrt ist. Denn eine unionsrechtskonforme Auslegung einer nationalen Norm, für die sich unter Heranziehung der anerkannten Auslegungsmethoden des Wortlauts, der inneren und äußeren Systematik der Norm, ihres Sinne und Zwecks sowie ihrer Entstehungsgeschichte keinerlei Anhaltspunkte entnehmen lassen, ist nicht statthaft 102. Auch in dem Anwendungsbereich des Unionsrechts bedarf es daher prinzipiell der Erfüllung des Darlegungserfordernisses. Damit ist indes noch nicht gesagt, ob sich diese Darlegungen auch speziell auf das Unionsrecht beziehen müssen. (2) Darlegungsgebot und Effektivitätsprinzip Man könnte für die Annahme eines Verstoßes gegen das unionsrechtliche Effektivitätsgebot die Besonderheiten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens anführen. Denn das verwaltungsgerichtliche Verfahren ist in tatsächlicher Hinsicht durch den Untersuchungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz VwGO geprägt, nach dem das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen erforscht 103. Das anzuwendende Recht hat das Gericht demgegenüber zu kennen. Dies folgt zwar nicht aus Art. 19 Abs. 4 GG, der keinen Anspruch auf eine materi100

Haratsch, Kooperative Sicherung, Seite 85; Kraus, Kooperative Sicherung, Seite 116; Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 385. 101 Pfeiffer, Richtlinienkonforme Auslegung, Seite 412; anderer Ansicht wohl Jarass, Konflikte, Seite 958, der Wortlaut und Sinn als äußerste Grenze der Auslegung ansieht, sowie Kraus, Kooperative Sicherung, Seite 116, der jede Auslegung über den Wortlaut hinaus als contra legem ansieht. Kritisch zu einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung in der Gestalt einer richtlinienkonformen Auslegung auch Grosche / Höft, Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung, Seite 2416. „Teleologisch im Sinne des EuGH“ legt eine Norm auch Kock, Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 8. Juli 2010, Seite 2716, aus. 102 Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 385. 103 Umfassend Kaufmann, Untersuchungsgrundsatz und Verwaltungsgerichtsbarkeit.

464

VI. Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben

ell-rechtlich richtige Entscheidung begründet 104. Die Verpflichtung des Gerichts zur Feststellung und Auslegung des anwendbaren Rechts ergibt sich aber aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG sowie insbesondere aus der Bindung des Gerichts an Gesetz und Recht in Verbindung mit den Aufgaben des Gerichts 105. „Recht und Gesetz“ in dem Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG ist auch das Unionsrecht 106. Übergeht aber das erstinstanzliche Gericht das Unionsrecht und legt der Berufungszulassungsantragsteller diesen Mangel nicht fristgerecht dar, so kann in Anwendung des Darlegungsgebotes des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO kein anderes nationales Gericht in einem späteren Verfahren die Vereinbarkeit eines nationalen Aktes mit dem Unionsrecht überprüfen. Dies könnte zunächst für eine Bejahung eines Verstoßes gegen das Effektivitätsprinzip angeführt werden. Hiergegen spricht jedoch, dass – wie ausgeführt – in Anwendung der oben gebildeten Prinzipien der Rechtsprechung des Gerichtshofs mit dem Effektivitätsgrundsatz ein nationaler Rechtsgrundsatz vereinbar ist, nach dem die Befugnis des Gerichts, in einem nationalen Verfahren bestimmte Gesichtspunkte von Amts wegen zu prüfen, dadurch begrenzt ist, dass sich das Gericht an den Streitgegenstand halten und seine Entscheidung auf den ihm vorgetragenen Sachverhalt stützen muss 107. Denn diese Beschränkung der Befugnis des nationalen Gerichts wird durch das Prinzip gerechtfertigt, dass die Initiative in einem Prozess den Parteien zusteht und das Gericht folglich nur in Ausnahmefällen im Interesse der öffentlichen Ordnung von Amts wegen tätig werden darf. Dieses Prinzip schützt die Verteidigungsrechte und gewährleistet den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens, insbesondere indem es dieses vor den mit der Prüfung neuen Vorbringens verbundenen Verzögerungen bewahrt 108. Der Effektivitätsgrundsatz steht daher einer nationalen Vorschrift, die die nationalen Gerichte daran hindert, von Amts wegen die Frage eines Verstoßes gegen Gemeinschaftsvorschriften aufzugreifen, dann nicht entgegen, wenn die mitgliedsstaatlichen Gerichte durch die Prüfung dieser Frage die ihnen grundsätzlich gebotene Passivität aufgeben müss104

Kaufmann, Untersuchungsgrundsatz und Verwaltungsgerichtsbarkeit, Seite 261. Kopp, / Schenke, VwGO, § 86 Rn. 1 a. 106 Steinbeiß-Winkelmann, Europäisierung des Verwaltungsrechtsschutzes, Seite 1233; Dörr, in: Sodan / Ziekow, VwGO, EVR Rn. 210. 107 EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 34]. 108 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 21]; EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 35]. 105

2. Das Verhältnis des Darlegungsgebots zu anderen Prinzipien

465

ten, indem sie die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten und sich auf andere Tatsachen und Umstände stützen, als sie die Prozesspartei, die ein Interesse an der Anwendung der betreffenden Gemeinschaftsvorschriften hat, ihrem Begehren zugrunde gelegt hat 109. Damit ist fraglich, ob es sich bei dem Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO um einen solchen, den Prüfungsumfang in dem Sinne einer Passivitätsverpflichtung begrenzenden Rechtsgrundsatz handelt. Hierfür spricht zwar, dass das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO von seinem Grundsatz her den Oberverwaltungsgerichten im Interesse der Verfahrensbeschleunigung durch eine Begrenzung des Streitstoffs eine Rolle auferlegt, die sowohl den Untersuchungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 VwGO als auch die rechtsstaatliche Verpflichtung zur Anwendung des geltenden Rechts einschränkt. Andererseits ist hier zu berücksichtigen, dass wie gezeigt die „Passivität“ des Oberverwaltungsgerichts nur eine sehr eingeschränkte ist: Das Oberverwaltungsgericht stellt etwa immer auf die Ergebnisrichtigkeit der Entscheidung ab und beurteilt diese oftmals auch und gerade aufgrund von Erwägungen, die in dem erstinstanzlichen Verfahren oder in dem erstinstanzlichen Urteil keine Rolle gespielt haben, oder die sich gar erst aufgrund des nicht dem Darlegungsgebot oder dessen zeitlicher Beschränkung unterliegenden Vortrags des Berufungszulassungsantragsgegners ergeben. Von einer grundsätzlichen Passivität kann daher nicht gesprochen werden: Beruft sich zum Beispiel der Berufungszulassungsantragsgegner für seinen Standpunkt erstmals zu einem beliebigen Zeitpunkt des Berufungszulassungsverfahrens auf ihm günstiges Unionsrecht, so würde das Oberverwaltungsgericht eine aus dessen Anwendbarkeit und dessen Anwendung folgende Ergebnisrichtigkeit des erstinstanzlichen Urteils dem Berufungszulassungsantragssteller, der das Unionsrecht nicht problematisiert hat, entgegen halten. Beruft sich der Berufungszulassungsantragssteller demgegenüber nicht oder nach Ablauf der Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO auf ihm günstiges Unionsrecht, würde nach der bislang herrschenden Meinung das Oberverwaltungsgericht regelmäßig dieses nicht anwenden. Man kann also davon sprechen, dass nach der gesetzlichen Konzeption des Berufungszulassungsverfahrens das Oberverwaltungsgericht nicht passiv, sondern einseitig passiv zu Lasten des Berufungszulassungsantragstellers ist. Die Anwendung und 109 EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 22]; EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Rs. C-222/05 bis 225/05 [J. van der Weerd und andere (C-222/05), H. de Rooy sr. und H. de Rooy jr. (C-223/05), Maatschap H. en J. van ’t Oever und andere (C-224/05) und B. J. van Middendorp (C-225/05) gegen Minister van Landbouw, Natuur en Voedselkwaliteit], Slg. 2007, I-04233 [Rn. 36].

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VI. Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben

Anwendbarkeit des Unionsrechts ist damit von dem Zufall abhängig, welche Prozesspartei in welcher Rolle sich auf dieses beruft. Zudem wurde gezeigt, das prozessual die Möglichkeit besteht, dass das Oberverwaltungsgericht bei hinreichender Darlegung eines Berufungszulassungsgrundes diesen umdeutet, wenn er aus seiner Sicht nicht vorliegt, und das Obergericht dann in dem Rahmen dieser Umdeutung auch eine offen zu Tage tretende Unionsrechtswidrigkeit des angefochtenen Urteils berücksichtigen kann. Die prozessuale Möglichkeit einer Umdeutung ist damit die Annahme von Passivität hindernd. Dies spricht für die Annahme eines Verstoßes gegen den Effektivitätsgrundsatz, wenn das Obergericht eine Umdeutung in Bezug auf das Unionsrecht nicht vornimmt, obwohl ihm dies prozessual möglich ist. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass der Gerichtshof die Frage der Passivität explizit nicht für das Verfahren als solches, sondern in Bezug auf ein sich Stützen auf andere Tatsachen und Umstände, als sie die Prozesspartei, die ein Interesse an ihrer Anwendung hat, ihrem Begehren zugrunde legt, bezieht 110. Der Gerichtshof will zwar eine „aufgedrängte Rechtsanwendung“ vermeiden und reduziert vordergründig unter dem Topos der Effektivität die Frage der Passivität des mitgliedsstaatlichen Gerichts auf die Blickrichtung desjenigen, dem die Anwendung des Unionsrechts für den von ihm geltend gemachten Anspruch günstig ist. Anspruch in diesem Sinne ist in dem vorliegenden Kontext derjenige der Berufungszulassung; in Bezug auf die von der dieses Begehren erhebenden Prozesspartei und nicht etwa umfassend in Bezug auf alle Beteiligten ist die Frage der Passivität zu beziehen. Wegen der Möglichkeiten der Umdeutung und der Möglichkeit der Obergerichte, aus anderen als dem angefochtenen Urteil beigegebenen Gründen den Berufungszulassungsantrag zu bescheiden, kann jedoch auch insoweit von einer strikten Passivität auch aus der Blickrichtung des Berufungszulassungsantragstellers nicht gesprochen werden. Daher spricht Entscheidendes dafür, das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO als insoweit nicht mit dem Grundsatz der Effektivität vereinbar anzusehen, wie eine Umdeutung dargelegter Berufungszulassungsgründe, die aus Sicht des Obergerichtes nicht vorliegen, in offen zu Tage tretende Gründe des Unionsrechts nicht in den Blick genommen wird.

110

EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1995, Rs. C-430/93 und 431/93 [Jeroen van Schijndel und Johannes Nicolaas Cornelis van Veen gegen Stichting Pensioenfonds voor Fysiotherapeuten], Slg. 1995, I-04705 [Rn. 22].

2. Das Verhältnis des Darlegungsgebots zu anderen Prinzipien

467

c) Das Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO unter dem Gesichtspunkt der Äquivalenz Letztlich stellt sich noch die Frage, ob das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO bei unionsrechtlichen Rechtsanwendungsfehlern, die offen zu Tage treten, mit dem Äquivalenzprinzip vereinbar ist. Bedenken bestehen insoweit, als wie ausgeführt in dem Anwendungsbereich des Unionsrechts sich eine prozessuale Möglichkeit zu einer Berücksichtigung nationalen Rechts durch ein Gericht von Amts wegen zu einer Pflicht, das Unionsrecht von Amts wegen zu prüfen, verdichtet. Eine solche Möglichkeit der Berücksichtigung von Amts wegen stellt die Umdeutung dar. In Bezug auf nach dem mitgliedsstaatlichen Recht zu entscheidende Rechtsstreitigkeiten ist oben 111 zu dem für die Frage der Zulassung der Berufung zentralen Darlegungserfordernis aus § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargestellt worden, dass das Oberverwaltungsgericht bei nach nationalem Recht zu entscheidenden Streitigkeiten – in dem mitgliedsstaatlichen Recht wurzelnde Ansprüche der Bürger – einen nicht dargelegten, aber offen zu Tage tretenden Berufungszulassungsgrund dann in dem Wege der Umdeutung berücksichtigen kann, wenn der Berufungszulassungsantragsteller einen beliebigen Berufungszulassungsgrund fristgerecht innerhalb der Zweimonatsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO darlegt hat und der Berufungszulassungsantrag damit als solcher zulässig ist. Nach der hier vertretenen – insoweit aber nicht entscheidenden, da die bloße Möglichkeit der Berücksichtigung unionsrechtlich genügt – Auffassung besteht wegen Art. 19 Abs. 4 GG sogar eine diesbezügliche Umdeutungspflicht. Mit der Umdeutung und der mit ihr verbundenen Beziehung der Darlegungspflicht des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO auf die Zulässigkeit des Berufungszulassungsantrags als solchem gibt das mitgliedsstaatliche Recht der Bundesrepublik den Oberverwaltungsgerichten die Möglichkeit, von Amts wegen eine Prüfung im Hinblick auf eine sonstige, offen zu Tage tretende Fehlerhaftigkeit des Urteils der Vorinstanz vorzunehmen. Die Oberverwaltungsgerichte sind daher nach den nationalen Verfahrensregelungen zumindest berechtigt, jedenfalls zu einem Teil sogar verpflichtet, derartige Verstöße gegen nationale Bestimmungen zwingenden Rechts 112 zu berücksichtigen. Diese richterrechtliche Auslegung des Darlegungsgebots des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO liegt dem nationalen Verfahren zugrunde, da sie die Möglichkeit gibt, in dem Verfahren von Amts wegen einen offen zu Tage tretenden Berufungszulassungsgrund zu berücksichtigen.

111

III. 3. EuGH, Urteil vom 1. Juni 1999, Rs. C-126/97 [Eco Swiss China Time Ltd gegen Benetton International NV], Slg. 1999, I-03055 [Rn. 36]. 112

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VI. Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben

Die Anwendung des Äquivalenzgrundsatzes führt daher dazu, dass das Oberverwaltungsgericht einen für es in dem Berufungszulassungsverfahren offen zu Tage tretenden Verstoß gegen primäres oder sekundäres Unionsrecht über den Weg der Umdeutung eines anderen, hinreichend dargelegten Berufungszulassungsgrundes berücksichtigen muss 113. Dogmatisch folgt dieses Ergebnis wie gezeigt aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV, gegebenenfalls in Verbindung mit dem unmittelbar wirkenden Sekundärrecht. Soweit vertreten worden ist, dass das Erfordernis einer fristgerechten Begründung des Berufungszulassungsantrages, wie es die Verwaltungsgerichtsordnung mit § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO statuiere, gar kein Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes mit seinen Elementen der Effektivität und der Äquivalenz sein könne, da § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO ja gerade eine Rechtsprüfung von Amts wegen ausschließe, sodass es sich nicht um eine Fallgestaltung handele, in der das Oberverwaltungsgericht die Vereinbarkeit eines innerstaatlichen Rechtsaktes mit einer Vorschrift der Unionsrechtsordnung überprüfen dürfe oder wenigstens könne 114, verkennt diese Sichtweise die ausführlich dargestellte Möglichkeit einer Umdeutung, die gerade die von dieser Ansicht vermisste rechtliche Möglichkeit der Berücksichtigung nicht dargelegter Berufungszulassungsgründe darstellt. Nur durch ein solches Verständnis kann im Übrigen die oben 115 wiedergegebene überkommene Rechtsprechung, nach der das Oberverwaltungsgericht bei Darlegung ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO oder besonderer rechtlicher oder tatsächlicher Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO durch den Zulassungsantragsteller, die nicht auf Unionsrecht fußen, gleichwohl den Berufungszulassungsantrag ablehnen kann, wenn sich diese Schwierigkeiten unter der – erstmals von dem Oberverwaltungsgericht vorgenommenen – Berücksichtigung des Unionsrechts nicht stellen würden, sich die Entscheidung der Vorinstanz also aus anderen – unionsrechtlichen – Gründen als richtig erweist, nach der aber umgekehrt das Oberverwaltungsgericht von ihm objektiv gesehene unionsrechtliche Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 VwGO, die nicht dargelegt wurden, nicht berücksichtigen würde, mit dem Unionsrecht in Einklang gebracht werden. Es wurde gezeigt, dass diese Rechtsprechung in ihrem Ergebnis bedeutet, dass das Unionsrecht bei der hier interessierenden Fallkonstellation, in der es von dem Verwaltungsgericht nicht oder nicht richtig angewandt wurde, und bei der der Berufungszulassungsantragssteller nicht „schlauer“ als das Verwaltungsgericht ist und diesen Mangel im Berufungszulassungsverfahren unter dem 113 In dem Ergebnis ebenso zu § 546 Abs. 1 Satz 3 ZPO Koch, Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts, Seite 83 f. 114 Ehlers, Europäisierung, Seite 81 ff. [83]. 115 III. 2. a) ff).

2. Das Verhältnis des Darlegungsgebots zu anderen Prinzipien

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Gesichtspunkt eines Berufungszulassungsgrundes darlegt, in seiner Anwendung von Amts wegen durch das Oberverwaltungsgericht immer nur zu Lasten des Berufungszulassungsantragsstellers zu seiner Anwendung kommt, regelmäßig aber nicht zu Gunsten des Berufungszulassungsantragsstellers. Dass aber Unionsrecht immer nur zu Lasten des Berufungszulassungsantragsstellers von Amts wegen berücksichtigt wird, um die Ergebnisrichtigkeit zu begründen, aber ignoriert wird, wenn es dem Rechtsmittelführer günstig ist, von diesem aber nicht dargelegt wurde, erscheint mit dem dem Äquivalenzprinzip innewohnenden Gedanken einer nichtdiskriminierenden Anwendung des Unionsrechts schwerlich vereinbar. d) Direkte Kollisionen sekundären Unionsrechts mit dem Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO Letztlich sind Fälle denkbar, in denen sekundäres Unionsrecht mit dem Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO kollidiert. Wenn in dem Bereich des öffentlichen Rechts sekundäres Unionsrecht – etwa eine umzusetzende Richtlinie – auch konkrete Anforderungen an die Effektivität des zu gewährenden Rechtsschutzes stellt, und das Unionsrecht trotz der verwaltungsprozessualen Rechtsanwendung und Tatsachenfeststellung durch das Verwaltungsgericht von Amts wegen (§ 86 VwGO) in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht keine Berücksichtigung findet, und wenn dieser Mangel auch nicht von dem Berufungszulassungsantragssteller gerügt wird, stellt sich die Frage, ob auch insoweit gleichwohl das Unionsrecht von Amts wegen berücksichtigt werden kann oder muss. Wie gezeigt, ist darauf hinzuweisen, dass der oben 116 dargestellten Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Richtlinien das Prinzip zu Grunde liegt, dass die Unionsbürger einen Anspruch auf die Gewährung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes in Bezug auf die durch eine Richtlinie verliehenen Rechte haben, der so wirksam sein muss, dass das Ziel der Richtlinie erreicht wird, und dass die Betroffenen die ihnen dadurch verliehenen Rechte auch tatsächlich vor den mitgliedsstaatlichen Gerichten geltend machen können. Es besteht daher ein unionsrechtliches Optimierungsgebot dahingehend, das mitgliedsstaatliche Verwaltungsprozessrecht möglichst so auszulegen, dass die praktische Wirksamkeit einer Richtlinie gewährleistet und die Garantie effektiven Rechtsschutzes in Bezug auf die durch sie verliehenen Rechte verwirklicht wird. Auch das nicht ausdrücklich zu einer Umsetzung gedachte nationale Recht wie etwa die Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung ist in dem Anwendungsbereich einer Richtlinie richtlinienkonform auszulegen. Ist etwa einer Richtlinie durch ihre Auslegung zu entnehmen, dass das Unionsrecht auch verlangt, die durch sie gewährten Rechte effektiv zu schützen, so kann diese auch effektiven Rechtsschutz 116

V. 4. b) dd) (2) (f) (bb).

470

VI. Folgerungen aus den unionsrechtlichen Vorgaben

gewährende Richtlinie in einer – direkten – Kollision zu dem mitgliedsstaatlichen Prozessrecht stehen, die jedenfalls zu einer richtlinienkonformen Auslegung des Prozessrechts führt. Das Bemühen um Effektivität, das einer Richtlinie zugrunde liegt, kann dann etwa dazu führen, dass das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 VwGO, das – wie ausgeführt – 117 zwar nicht einer richtlinienkonformen Auslegung in dem Sinne eines Verzichts auf jedwede Darlegung zugänglich ist, das jedoch – wie soeben gezeigt – auch so ausgelegt werden kann, dass dargelegte Berufungszulassungsgründe in nicht dargelegte, aber offen zu Tage tretende Berufungszulassungsgründe umgedeutet werden, insoweit richtlinienkonform ausgelegt wird.

117

VI. 2. b) bb) (1).

VII. Unionsrechtliche Rechtfertigung des Darlegungserfordernisses 1. Rechtfertigung des Darlegungserfordernisses durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Mitgliedsstaaten Anders wäre das gefundene Ergebnis zu beurteilen, wenn die Nichtberücksichtigung des Unionsrechts aufgrund im Berufungszulassungsverfahren unterbliebener Darlegung im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Mitgliedsstaaten 1 zu rechtfertigen wäre. Bei den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts handelt es sich um Grundsätze und Prinzipien, die den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten gemeinsam sind, die sich in die Struktur und in die Ziele der Union einfügen und die daher auf die Ebene des Unionsrechts übertragbar sind 2. Diese allgemeinen Rechtsgrundsätze der Mitgliedsstaaten können hindern, dass sich Unionsrechtsnormen gegenüber Bestimmungen des mitgliedsstaatlichen Verfahrensrechts, die sie nachteilig betreffen, durchsetzen 3, da sie für die Union Verfassungsrang 4 in dem Sinne eines tragenden Strukturprinzips haben. Stimmt die mitgliedsstaatliche Norm des Prozessrechts mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen überein, so kann sie nicht in einem Widerspruch zu dem sonstigen Unionsrecht stehen 5.

1 Zu diesen umfassend Schilling, Rechtsgrundsätze; Rengeling, Quellen des Verwaltungsrechts, Seite 40 ff.; Gündisch / Wienhues, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Seite 33 ff.; Lecheler, Allgemeine Rechtsgrundsätze. 2 Brenner; Allgemeine Prinzipien, Seite 11. 3 Koch, Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts, Seite 79; Burgi, Gemeinschaftsrechtsgerichte, Seite 779. 4 Streinz, Vertrauensschutz und Gemeinschaftsinteresse, Seite 163; zweifelnd Classen, Rechtsstaatlichkeit, Seite 11. 5 EuGH, Urteil vom 21. September 1983, Rs. C-205 bis C-215/82 [Deutsche Milchkontor GmbH und andere gegen Bundesrepublik Deutschland], Slg. 1983, 02633 [Rn. 30 ff.]; Koch, Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts, Seite 80.

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VII. Unionsrechtliche Rechtfertigung des Darlegungserfordernisses

a) Herleitung Die rechtliche Herleitung der Anerkennung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts beruht auf der Überlegung, dass das Unionsrecht keine Einheit darstellt, sondern sich als Vernetzung von Rechtsregimen, Rechtsordnungen und Rechtsräumen darstellt 6. In dem Wege der wertenden Rechtsvergleichung werden die mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen als Rechtserkenntnisquellen herangezogen 7, jedoch nicht etwa, indem die verschiedenen nationalen Lösungen in dem Sinne der Suche nach einem „kleinsten gemeinsamen Nenner“ miteinander verglichen werden 8 oder in dem eine arithmetische Mehrheit errechnet wird 9, sondern in dem von dem Gerichtshof Vorbilder ausgewählt werden, die den Strukturen, Zielen und Bedürfnissen der Union am Besten entsprechen 10 und die den gebotenen Schutz deutlich und wirkungsvoll bieten 11. Es genügt daher für die Feststellung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes, dass dieser nur in einem Teil der Mitgliedsstaaten besteht. Dies gilt umso mehr, als die europäischen Rechtsordnungen bei allen Unterschieden im Einzelnen doch in einem Verbund ihrer historischen, kulturellen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen stehen 12. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze leisten durch diese Art ihrer Gewinnung einen Beitrag zur Rechtsharmonisierung in der Union 13. Adressaten der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts sind sowohl die Union als auch die Mitgliedsstaaten sowie deren Organe 14.

6

Haltern, Europarecht, Rn. 294. BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2010, – 2 BvR 2661/06 –, Juris [Rn 63]; Germelmann, Rechtskraft, Seite 5; Brenner; Allgemeine Prinzipien, Seite 11; Oexle, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 1332; Oexle, Materielle Präklusion, Seite 45; verkürzt demgegenüber Koch, Richterliche Vertragsverletzungen, Seite 32 ff.; Von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, Seite 212 f.; Schwarze, Rolle allgemeiner Rechtsgrundsätze, Seite 722. 8 So zutreffend Oexle, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 1332; Zuleeg, Wechselseitige Einwirkungen, Seite 173. 9 So zutreffend Schwarze, Rolle allgemeiner Rechtsgrundsätze, Seite 723. 10 EuGH, Urteil vom 17. Dezember 1970, Rs. C- 11/70 [Internationale Handelsgesellschaft mbH gegen Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel], Slg. 1970, 01125 [Rn. 4]; Seyr, Effet utile, Seite 83 f.; Oexle, Materielle Präklusion, Seite 45. 11 Zuleeg, Wechselseitige Einwirkungen, Seite 173. 12 Schmidt-Aßmann, Europäisierung, Seite 513. 13 Schwarze, Rolle allgemeiner Rechtsgrundsätze, Seite 724 f. 14 Schilling, Rechtsgrundsätze, Seite 19; zweifelnd Streinz, Vertrauensschutz und Gemeinschaftsinteresse, Seite 174 f. mit weiteren Nachweisen. 7

1. Rechtfertigung des Darlegungserfordernisses

473

b) Inhalt Die „allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts“ umfassen die Grundrechte der EMRK, die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten sowie weitere Grundsätze funktionalen Inhalts 15 wie etwa den bereits umschriebenen 16 Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes sowie die Grundsätze der Rechtssicherheit 17, des Vertrauensschutzes 18 oder das Rückwirkungsverbot 19 sowie auch etwa den Grundsatz der Gleichbehandlung 20. Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören ferner das Verhältnismäßigkeitsprinzip 21 sowie der Grundsatz der ordnungsgemäßen (guten) Verwaltung oder der der Staatshaftung 22. Man kann zutreffend von einem „Netz rechtsstaatlicher Grundsätze“ sprechen 23. Durch die Regelungen des Art. 6 Abs. 1 EUV ist die Grundrechtecharta mittlerweile positiv-rechtlicher Bestandteil des Unionsrechts 24; daneben tritt die Union gemäß Art. 6 Abs. 2 der EMRK bei. Weiterhin sind die Grundrechte in dem Rahmen der Gewährleistungen der EMRK und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV allgemeine Grundsätze des Unionsrechts. Die Beachtung der Grundrechte hat ferner für die Union Grundlagencharakter und ist gemäß Art. 2 EUV „zentraler Verfassungsbaustein“ 25 der Union.

15

Schmidt-Aßmann, Europäische Rechtsschutzgarantien, Seite 1296. V. 4. b) cc). 17 EuGH, Urteil vom 6. April 2000, Rs. C-286/95 P [Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Imperial Chemical Industries plc (ICI)], Slg. 2000, I-02341 [Rn. 45]; Lecheler, Allgemeine Rechtsgrundsätze, Seite 83 ff. 18 Schwarze, Konvergenz, Seite 883; Streinz, Vertrauensschutz und Gemeinschaftsinteresse, Seite 153. 19 Pechstein, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 50. 20 EuGH, Urteil vom 22. November 2005, Rs. C-144/04 [Werner Mangold gegen Rüdiger Helm], Slg. 2005, I-09981 [Rz.74]. 21 EuGH, Urteil vom 19. Juni 1980, Rs. C-41/79, 121/79 und 796/79 [Vittorio Testa, Salvino Maggio und Carmine Vitale gegen Bundesanstalt für Arbeit], Slg. 1980, 01979 [Rn. 21]; Schwarze, Konvergenz, Seite 883; Rengeling, Wechselseitige Einwirkungen, Seite 208 f. 22 EuGH, Urteil vom 30. September 2003, Rs. C-224/01 [Gerhard Köbler gegen Republik Österreich], Slg. 2003, I-10239 [Rn. 30 ff.]; EuGH, Urteil vom 26. Januar 2010, Rs. C-118/08 [Transportes Urbanos y Servicios Generales SAL gegen Administración del Estado], Juris [Rn. 29]. 23 Schwarze, Rolle allgemeiner Rechtsgrundsätze, Seite 722. 24 Augsberg, Prüfungsumfang, Seite 153; Schwarze, Rolle allgemeiner Rechtsgrundsätze, Seite 722. 25 Kotzur, Kooperativer Grundrechtsschutz, Seite 678. 16

474

VII. Unionsrechtliche Rechtfertigung des Darlegungserfordernisses

Zu einer Rechtfertigung in Betracht kommen hier nach ihrem Topos allein die Grundsätze der Rechtssicherheit oder des ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs. Der Grundsatz der Rechtssicherheit soll gewährleisten, zu verhindern, dass Unionshandlungen zeitlich unbefristet in Frage gestellt werden können 26. Er umfasst ferner das Bestimmtheitsgebot. Der Grundsatz der ordnungsgemäßen (guten) Verwaltung umfasst verschiedene Verwaltungsrechtsgrundsätze wie etwa die Pflicht zu einer Ermittlung des Sachverhalts, der ordnungsgemäßen Ermessensausübung und auch der Prüfung der Verhältnismäßigkeit 27 und verbindet diese zu einer umfassenden, gerichtlich überprüfbaren Sorgfalts- und Untersuchungspflicht. Als Kriterien für eine „gute Verwaltungspraxis“ werden ferner genannt Rechtmäßigkeit, Nichtdiskriminierung (Gleichheit), Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, Objektivität, Fairness, Höflichkeit, Recht auf Anhörung und Abgabe von Erklärungen sowie angemessene Entscheidungsfrist und die Pflicht zur Begründung von Entscheidungen 28. Der Grundsatz der „guten Verwaltung“ hat nach Art. 41 Gr-Charta in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 EUV Grundrechtscharakter 29. c) Rechtfertigung Damit könnte es als Rechtfertigungsgrund für einen Ausschluss unionsrechtlicher Fragestellungen in einem Rechtsmittelverfahren mangels entsprechender Darlegung der rechtsmittelführenden Partei in Betracht kommen, dass es eine entsprechende übereinstimmende Überzeugung im Prozessrecht der Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft gibt. Nach dem Gerichtshof lässt sich jedoch ein Verstoß gegen das unionsrechtliche Effektivitätsgebot, der dazu führt, dass es den nationalen Gerichten unmöglich ist, von Amts wegen auf Unionsrecht gestützte Gesichtspunkte aufzugreifen, nicht durch Grundsätze wie den der Rechtssicherheit oder den des ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs in vertretbarer Weise rechtfertigen 30. Dem ist zuzustimmen. Der Grundsatz der Rechtssicherheit ist nicht betroffen. Zwar hat der Gerichtshof entschieden, dass aus dem in Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV 26 Schilling, Rechtsgrundsätze, Seite 19 mit weiteren Nachweisen; Lecheler, Allgemeine Rechtsgrundsätze, Seite 83 für Verwaltungsakte. 27 Schilling, Rechtsgrundsätze, Seite 22 f. mit weiteren Nachweisen. 28 Wahl, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozessrecht, Seite 1289; zu einer Begründungspflicht ferner Schwarze, Konvergenz, Seite 884. 29 Gärditz, Verwaltungsdimension, Seite 460. 30 So ohne nähere Begründung EuGH, Urteil 14. Dezember 1995, Rs. C-312/93 [Peterbroeck, Van Campenhout & Cie SCS gegen Belgischer Staat], 1995 Seite I-04599 [Rn. 20].

2. Unionsrechtliche Rechtfertigung

475

folgenden Effektivitätsgebot grundsätzlich nicht die Verpflichtung folge, „von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Entscheidung Rechtskraft erlangt hat, abzusehen“ 31. Denn der Grundsatz der Rechtskraft habe sowohl in der Gemeinschaftsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen eine hohe Bedeutung, da er zu einer Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen beitragen sowie eine geordneten Rechtspflege gewährleisten solle, sodass nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden könnten 32. Um derartige rechtskräftige Entscheidungen handelt es sich hier gerade nicht. Denn die Vorschrift des § 124a Abs. 4 Satz 6 VwGO formuliert für den Berufungszulassungsantrag insoweit eindeutig: „Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils.“ Ferner wurde gezeigt, dass die Vorschriften über die Zulassung der Berufung und hier insbesondere das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht dem Prinzip der Rechtssicherheit, sondern einer Entlastung der Berufungsinstanz, der Verfahrensbeschleunigung und der „Standortsicherung“ des Wirtschaftsstandortes Deutschland und damit nicht primär dem Ziel der Rechtssicherheit dienen. Auch der Grundsatz des ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs ist nicht betroffen. Adressat dieses Grundsatzes sind allein Vollzugsorgane der Mitgliedsstaaten im Verwaltungsverfahren, nicht aber im Gerichtsverfahren.

2. Unionsrechtliche Rechtfertigung des Darlegungserfordernisses unter dem Gesichtspunkt des Fehlens eines „Anspruchs auf einen Instanzenzug“ Weder das Effektivitätsgebot in dem oben dargelegten Sinne noch das Grundrecht auf einen effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG gebieten indes einen innerstaatlichen Instanzenzug 33. Man könnte daher argumentieren, dass der Rechtsschutzsuchende nicht allein wegen des Vorhandenseins einer weder verfassungs- noch unionsrechtlich geforderten Rechtsmittelinstanz durch eine Berücksichtigung des Unionsrechts unter Einschränkung des Erfordernisses der 31 EuGH, Urteil vom 16. März 2006, Rs. C-234/04 [Rosmarie Kapferer gegen Schlank & Schick GmbH], Slg. 2006, I-02585 [Rn. 20 f.]. 32 EuGH, Urteil vom 30. September 2003, Rs. C-224/01 [Gerhard Köbler gegen Republik Österreich], Slg. 2003, I-10239 [Rn. 38]; EuGH, Urteil vom 16. März 2006, Rs. C-234/04 [Rosmarie Kapferer gegen Schlank & Schick GmbH], Slg. 2006, I-02585 [Rn. 20]. 33 Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 464.

476

VII. Unionsrechtliche Rechtfertigung des Darlegungserfordernisses

Darlegung und sozusagen von Amts wegen einen Erfolg erzielen können soll, für den er selbst in erster Instanz auch die unionsrechtliche Problematik nicht gesehen hat. Hiergegen spricht jedoch, dass das Effektivitätsgebot in dem dargelegten Sinne zwar keinen Instanzenzug garantiert, aber bei einem nach dem nationalen Prozessrecht vorhandenem Instanzenzug Beachtung verlangt. Insoweit gilt nichts anderes wie für die oben dargestellte Auslegung des Art. 19 Abs. 4 GG. Das Effektivitätsgebot als auch Art. 267 AEUV garantieren die Beachtung des Unionsrechts und der Vorlageverpflichtung in einem tatsächlich vorhandenen Instanzenzug; der Richter des Obergerichtes muss in Anbetracht des Effektivitätsgebots und der Vorlageverpflichtung nicht sehenden Auges eine unionsrechtswidrige Entscheidung bestätigen. Insoweit unterscheidet sich die vorliegende Problematik auch von der, dass das Rechtsmittel etwa aus anderen Gründen nicht zulässig ist, etwa wegen einer fehlerhaften Einlegung – bei dem Oberverwaltungsgericht statt bei dem Verwaltungsgericht (§ 124a Abs. 2 Satz 1 VwGO) –, oder wegen Nichtwahrung der Einlegungsfrist von einem Monat nach Zustellung des vollständigen Urteils (§ 124a Abs. 2 Satz 1 VwGO). So ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshof etwa anerkannt, dass der Grundsatz der Rechtskraft sowohl in der Unionsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen eine umfassende Bedeutung hat: Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nämlich nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können 34. Auch wenn etwa Fehler in Bezug auf die Einhaltung von Rechtsmittelfristen ebenfalls wie die mangelnde Darlegung einer unionsrechtlichen Problematik dazu führen können, dass eine rechtlich gebotene Aussetzung und Vorlage nach Art. 267 AEUV unterbleibt oder dass Normen des Unionsrechts nicht oder fehlerhaft angewandt bleiben, ohne dass dies das Rechtsmittelgericht korrigieren kann, so lassen sich derartige prozessrechtliche Mängel eben mit dem in allen Staaten der Union geltenden Gebot der Rechtssicherheit rechtfertigen. Demgegenüber hat das Darlegungserfordernis – wie gezeigt – keinen solchen letztlich auf das Rechtsstaatsprinzip zurückzuführenden Inhalt, sondern stellt sich als Maßnahme zur Entlastung der Obergerichte in ihrer Spruchtätigkeit dar.

34 EuGH, Urteil vom 16. März 2006, Rs. C-234/04 [Rosmarie Kapferer gegen Schlank & Schick GmbH], Slg. 2006, I-02585.

3. Rechtfertigung aufgrund einer „Hinnahme von Disharmonien“

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3. Rechtfertigung des Darlegungserfordernisses aufgrund einer „Hinnahme von Disharmonien in der Anwendung des Unionsrechts“ durch die Verträge selbst? Man könnte letztlich argumentieren, dass Art. 267 AEUV selbst gewisse Disharmonien in der Anwendung des Unionsrechts hinnehme, in dem Absatz 2 der Vorschrift als Ermessensvorschrift eben nur die Möglichkeit, nicht aber die Verpflichtung der Instanzgerichte zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens statuiere, und sich hierin schon zeige, dass der AEUV eine geringere Bindung der Instanzgerichte an das Unionsrecht in Kauf nehme 35. Da es offen sei, ob etwa gegen ein unionsrechtswidriges Urteil eines Instanzgerichtes ein Rechtsmittel eingelegt werde, sei die einheitliche Geltung des Unionsrechts in den Mitgliedsstaaten ohnehin eine relative 36. Dem ist in dem hier zu beurteilenden Zusammenhang jedoch entgegenzuhalten, dass die Frage der Geltung des Darlegungserfordernisses des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO eben das Berufungszulassungsverfahren und damit denjenigen Bereich betrifft, in dem Art. 267 Abs. 3 AEUV Geltung beansprucht und somit hier die Entscheidung eines vorlage- bzw. als Minus zulassungspflichtigen Gerichts im Streit steht, für den Art. 267 Abs. 3 AEUV die genannten Disharmonien gerade nicht in Kauf nimmt.

35 36

Ehricke, Bindungswirkung, Seite 16. Vgl. zu dem Gedanken Ehricke, Bindungswirkung, Seite 15 f.

VIII. Folgerungen für die Frage des gesetzlichen Richters Es stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls welche Auswirkungen die gefundenen Ergebnisse auf die Frage des gesetzlichen Richters im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG haben. Es kommt in Betracht, dass die Verletzung der Vorlagepflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV beziehungsweise der hergeleiteten Pflicht zu einer Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO von Amts wegen bei dem objektiven Vorliegen einer Vorabentscheidungsbedürftigkeit zugleich eine Entziehung des gesetzlichen Richters bedeutet, die mit der Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG als einem außerordentlichen Rechtsbehelf 1, der auf den Schutz der Grundrechte und der grundrechtsgleichen Rechte beschränkt ist und der „nur dann gegeben ist, wenn alle sonstigen Möglichkeiten zu allgemeiner richterlicher Nachprüfung erschöpft sind“ 2, gerügt werden kann 3.

1. Einordnung des Gerichtshofs als gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Absatz 1 Satz 2 GG Der Gerichtshof der Europäischen Union, der über eine in dem Verfahren vor dem einzelstaatlichen Gericht gestellte unionsrechtliche Frage unter bestimmten Voraussetzungen im Wege der Vorabentscheidung zwingend zu entscheiden hat, ist als gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG anzusehen 4. 1 BVerfG, Entscheidung vom 27. Januar 1965, – 1 BvR 213/58, 1 BvR 715/58, 1 BvR 66/60 –, BVerfGE 18, 315 [325]. 2 BVerfG, Urteil 13. Juni 1952, – 1 BvR 137/52 –, BVerfGE 1, 332 [344]. 3 Allgemein Klein / Sennekamp, Verfassungsbeschwerde. 4 BVerfG, Beschluss vom 22. Oktober 1986, – 2 BvR 197/83 – [Solange II], BVerfGE 73, 339 [366]; BVerfG, Beschluss vom 8. April 1987, – 2 BvR 687/85 –, BVerfGE 75, 223 – 246; BVerfG, Beschluss vom 25. August 2008, – 2 BvR 2213/06 –, EuGRZ 2008, 633 – 636; BVerfG, Beschluss vom 30. August 2010, – 1 BvR 1631/08 –, Juris [Rn. 46]; BVerwG, Beschluss vom 20. März 1986, – BVerwG 3 B 3.86 –, NJW 1987, 601; Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO, Rn. 61 ff.; Fastenrath,

1. Einordnung des Gerichtshofs als gesetzlicher Richter

479

Welcher Richter der „gesetzliche“ ist, ergibt sich regelmäßig aus den Zuständigkeitsregelungen des einfachen Rechts und sonstiger außerverfassungsrechtlicher Regelungen 5; insoweit ist Art. 101 GG ein normgeprägtes grundrechtsgleiches Recht, der einen gewissen Bestand an Normen zur Bestimmung des gesetzlichen Richters voraussetzt 6. Das Bundesverfassungsgericht 7 leitet die Einordnung des Gerichtshofs als gesetzlichem Richter zutreffend daraus her, dass der Gerichtshof in seiner Funktion die einheitliche Auslegung und Anwendung des Vertrages zu wahren und zu gewährleisten hat. Im Rahmen des miteinander verschränkten und für wechselseitige Einwirkungen zugänglichen Zusammenwirkens von mitgliedsstaatlicher Rechtsordnung und Unionsrechtsordnung ist die Anwendung des Unionsrechts weitgehend den nationalen Gerichten überlassen. Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV weist dem Gerichtshof jedoch die Aufgabe zu, das Unionsrecht einheitlich auszulegen und die Beachtung des einheitlich ausgelegten Rechts zu gewährleisten. Die Norm soll auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts sicherstellen, dass das Unionsrecht in allen Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft immer die gleiche Wirkung hat. Das Bundesverfassungsgericht misst dem Umstand, dass die Aufgaben zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof geteilt sind, eine hohe Bedeutung zu: Das jeweilige nationale Gericht ist für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zuständig, hat also das Recht – einschließlich des Unionsrechts – auf den Einzelfall anzuwenden. Sind für diese Einzelfallentscheidung demgegenüber Zweifel über die Auslegung des Unionsrechts oder die Gültigkeit eines Unionsrechtsaktes zu klären, so trifft der Gerichtshof diese Vorabentscheidung gegenüber dem nationalen Gericht. Der Gerichtshof stellt also dem nationalen Gericht einen bisher zweifelhaften Rechtsmaßstab in einer für die Union einheitlichen Auslegung zur Verfügung; das nationale Gericht wendet diesen unionsrechtlichen Maßstab zusammen mit dem sonst einschlägigen Recht zur Entscheidung des anhängigen Einzelfalles an. Da Art. 267 AEUV bestimmt, dass ein letztinstanzliches nationales Gericht unter den Voraussetzungen des Abs. 3 der Norm von Amts wegen gehalten ist, den Gerichtshof anzurufen, und diese Anrufungspflicht des Art. 267 AEUV kraft der durch die Zustimmungsgesetze gemäß Art. 23 8, Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erteilten Rechtsanwendungsbefehle Teil der innerstaatlich gelKooperation, Seite 273; Roth, Verfassungsgerichtliche Kontrolle der Vorlagepflicht, Seite 347; Dörr, Europäisierter Rechtsschutzauftrag, Seite 155; Hummert, Acte-clair-Doktrin, Seite 55; Epping, Grundrechte, Rn. 936. 5 BVerfG, Beschluss vom 12. September 2007, – 2 BvR 868/06 –, Juris. 6 Epping, Grundrechte, Rn. 929. 7 BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 1990, – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/ 87 –, BVerfGE 82, 159 – 198. 8 Zu dem Konzept der Integrationsverantwortung vgl. Nettesheim, Integrationsverantwortung.

480

VIII. Folgerungen für die Frage des gesetzlichen Richters

tenden Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland geworden ist und von ihren Gerichten zu beachten sei, kommt dem Einzelnen im jeweiligen Ausgangsverfahren ein Anspruch auf Wahrung der Gewährleistungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu 9. Die Nichteinleitung eines Vorlageverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV kann somit nach dem Bundesverfassungsgericht eine der einheitlichen Auslegung bedürftige Frage des Unionsrechts der Entscheidung des gesetzlichen Richters – des Gerichtshofs – vorenthalten und damit das Ergebnis der Entscheidung beeinflussen. Über das Verfahren des Art. 267 AEUV ist damit der Gerichtshof funktional in die Gerichtsbarkeit der Mitgliedsstaaten eingegliedert, soweit ihm in dem Interesse der Rechtssicherheit und der Rechtsanwendungsgleichheit die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts aufgegeben ist 10. Die funktionelle Verschränkung der Gerichtsbarkeit der Europäischen Union mit der Gerichtsbarkeit der Mitgliedsstaaten sowie die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts sind die dogmatische Grundlage dieser Einordnung des Gerichtshofs als gesetzlichem Richter in dem Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG 11. Daher ist bei einem Verstoß gegen die Vorlagepflicht eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG zu erwägen, die durch eine Verfassungsbeschwerde gerügt werden könnte 12.

2. Der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts für die Prüfung einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter a) Herleitung des Willkürmaßstabs des Bundesverfassungsgerichts aus dem Verhältnis des einfachen zu dem Verfassungsrecht Das Bundesverfassungsgericht setzt hierfür jedoch der Sache nach sehr hohe Hürden. Es sieht sich durch die grundrechtsähnliche Gewährleistung 13 des Artikel 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht in der Rolle eines „Kontrollorgan[s], das jeden einem Gericht unterlaufenden Verfahrensfehler korrigieren müsste“ 14: 9 BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 1990, – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/ 87 –, BVerfGE 82, 159 – 198. 10 BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 1990, – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/ 87 –, BVerfGE 82, 159 – 198; Sensburg, Vorlagepflicht, Seite 1259. 11 Sensburg, Vorlagepflicht, Seite 1259. 12 Umfassend Frenz, Durchsetzung von Europarecht, Seite 170 ff. 13 Frenz, Durchsetzung von Europarecht, Seite 170.

2. Der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts

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Nicht jeder Verstoß gegen die aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG folgenden Verpflichtungen stelle eine Entziehung des gesetzlichen Richters dar. Vielmehr muss die Entscheidung willkürlich unrichtig sein 15. Da nicht jeder Verstoß gegen die den gesetzlichen Richter bestimmenden Regelungen des einfachen Rechts zu einer Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG führt, der von dem Bundesverfassungsgericht zu korrigieren wäre, sondern vielmehr die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregelungen Sache der Fachgerichte ist 16, reicht für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht jede irrtümliche Überschreitung der den Fachgerichten gezogenen Grenzen aus 17. Nicht jede fehlerhafte Anwendung oder Nichtbeachtung einer einfachgesetzlichen Verfahrensvorschrift ist zugleich eine Verfassungsverletzung; andernfalls würde die Anwendung einfachen Rechts auf die Ebene des Verfassungsrechts gehoben werden 18. Die Grenze zu einer Verfassungswidrigkeit ist dementsprechend nach dem Bundesverfassungsgericht erst dann überschritten, wenn die – fehlerhafte – Auslegung und Anwendung einfachen Rechts willkürlich ist 19. Das Bundesverfassungsgericht leitet die Beschränkung der Bejahung einer Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG aus der geschichtlichen Entwicklung der Norm her: Das Recht auf den gesetzlichen Richter schützte zunächst die Unabhängigkeit der Justiz vor sachfremden Eingriffen der Exekutive, einschließlich der Justizverwaltung. Später schützte es auch vor Eingriffen der Landesgesetzgebung und – seit der Aufnahme in Art. 105 WRV – in gewissem Umfange auch der Reichsgesetzgebung. „Willkürlich“ meint in diesem historischen Kontext nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts also eher eine Zuständigkeitsbestimmung von Fall zu Fall im Gegensatz zu einer normativen, abstrakt-generellen Vorherbestimmung des Richters 20. Dies spricht nach Ansicht des Bundesverfas14 BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2001, – 1 BvR 481/01, 1 BvR 518/01 –, NordÖR 2001, 261 – 263. 15 BVerfG, Beschluss vom 03. November 1992, – 1 BvR 137/92 –, BVerfGE 87, 282 [284 f.]; vgl. auch die Nachweise bei Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Anh. § 40 VwGO Rn. 61 ff; das Kriterium der Willkür übergehen Eicker / Ketteler, Verfahrensrechtliche Durchsetzung, Seite 132. Zur historischen Herleitung des Willkür-Maßstabes vgl. Fastenrath, Gesetzlicher Richter, Seite 472 ff. 16 BVerfG, Beschluss vom 12. September 2007, – 2 BvR 868/06 –, Juris. 17 BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1954, – 1 BvR 537/53 –, BVerfGE 3, 359 [364 f.]; Beschluss vom 03. Oktober 1961, – 2 BvR 4/60 –, BVerfGE 13, 132 [144]; Beschluss vom 07. Oktober 1970, – 1 BvR 409/67 –, BVerfGE 29, 166 [172 f.]; BVerfG, Beschluss vom 15. Mai 1984, – 1 BvR 967/83 –, 67, 90 [95]; BVerfG, Beschluss vom 16. Juni 1987, – 1 BvR 1113/86 –, BVerfGE 76, 93 [96 f.]. 18 BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1990, – 1 BvR 984/87, 1 BvR 985/87 –, BVerfGE 82, 286 [299]. 19 Grundlegend BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 1954, – 1 BvR 537/53 –, BVerfGE 3, 359 [364 f.].

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VIII. Folgerungen für die Frage des gesetzlichen Richters

sungsgerichts vielleicht sogar dafür, dass Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG niemals durch Akte der Rechtsprechung verletzt werden könne; doch erscheint nach dem Bundesverfassungsgericht gleichwohl die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass ein Gericht seine Zuständigkeit offenbar willkürlich bejaht oder verneint und dadurch eine Verschiebung der gesetzlich vorgesehenen Zuständigkeit im Einzelfall zum Nachteil einer Prozesspartei bewirkt. Auch sei anerkannt, dass die formelle Justizverweigerung – z. B. durch bewusste Nichterledigung einer Sache – einen durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verbotenen Fall darstelle. Dies alles spricht nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts dafür, anzunehmen, dass jemand seinem gesetzlichen Richter nur durch Maßnahmen oder Entscheidungen eines Gerichts entzogen werden kann, wenn diese willkürlich sind. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG schützt damit nicht gegen Verfahrensfehler, die infolge eines Irrtums des Gerichts unterlaufen, sondern nur gegen Willkür 21. Denn das Bundesverfassungsgericht wird durch die grundrechtsähnliche Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht zu einem Kontrollorgan, das jeden einem Gericht unterlaufenen, die Zuständigkeit des Gerichts berührenden Verfahrensfehler korrigieren müsste. Vielmehr beurteilt das Bundesverfassungsgericht die Zuständigkeitsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als Teil des rechtsstaatlichen Objektivitätsgebots, das auch die Beachtung der Kompetenzregeln fordert, die den oberen Fachgerichten die Kontrolle über die Befolgung der Zuständigkeitsordnung überträgt und auf den Instanzenzug begrenzt 22. Der Maßstab der Willkür gilt auch, wenn ein Gericht die Verpflichtung zur Vorlage an ein anderes Gericht außer Acht lässt 23. Eine verfassungswidrige Entziehung des gesetzlichen Richters durch eine derartige richterliche Zuständigkeitsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt 24. Das gilt auch bei einer pflichtwidrig unterlassenen Vorlage in dem Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV 25. 20 BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1990, – 1 BvR 984/87, 1 BvR 985/87 –, BVerfGE 82, 286. 21 BVerfG, Beschluss vom 13. Oktober 1970, – 2 BvR 618/68 –, BVerfGE 29, 198 – 213. 22 BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 1990, – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/ 87 –, BVerfGE 82, 159. 23 BVerfG, Beschluss vom 03. Oktober 1961, – 2 BvR 4/60 –, BVerfGE 13, 132 [143]; BVerfG, Beschluss vom 29. Juni 1976, – 2 BvR 948/75 –, BVerfGE 42, 237 [241]; BVerfG, Beschluss vom 15. Mai 1984, – 1 BvR 967/83 –, BVerfGE 67, 90 [95]; BVerfG, Beschluss vom 16. Juni 1987, – 1 BvR 1113/86 –, BVerfGE 76, 93 [96]. 24 BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1990, – 1 BvR 984/87, 1 BvR 985/87 –, BVerfGE 82, 286 [299]. 25 BVerfG, Beschluss vom 22. Oktober 1986, – 2 BvR 197/83 – [Solange II], BVerfGE 73, 339 [366 f.]; BVerfG, Beschluss vom 9. November 1987, – 2 BvR 808/92 –, EuGRZ 1988, 109 – 113; demgegenüber noch offen gelassen etwa in BVerfG, Beschluss vom

2. Der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts

483

Von Willkür kann nach dem Bundesverfassungsgericht nur dann die Rede sein, wenn die Entscheidung sich bei der Anwendung und Auslegung von Zuständigkeitsnormen, zu denen in einem weiteren Sinne auch Vorschriften über die Vorlage an ein anderes Gericht gehören, so weit von dem diese Normen beherrschenden Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt, dass die Gerichtsentscheidung nicht mehr zu rechtfertigen ist. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wird nur durch solche gerichtliche Entscheidungen verletzt, die bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind 26. b) Fallgruppen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Anwendung dieses Inhalts des Willkürmaßstabes auf die Vorlagepflicht deutscher Gerichte hat das Bundesverfassungsgericht 27 durch drei mögliche Fallgruppen veranschaulicht 28: aa) Grundsätzliche Verkennung der Vorlageverpflichtung In der Fallgruppe der grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht zieht ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt 29. Die Vorlagepflicht wird in diesen Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt 30. 13. Oktober 1970, – 2 BvR 618/68 –, BVerfGE 29, 198 –213; BVerfG, Beschluss vom 12. September 2007, – 2 BvR 868/06 –, Juris. 26 BVerfG, Beschluss vom 13. Oktober 1970, – 2 BvR 618/68 –, BVerfGE 29, 198 – 213 [207]; Beschluss vom 30. Juni 1970, – 2 BvR 48/70 –, BVerfGE 29, 45; BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 1990, – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/87 –, BVerfGE 82, 159 [195]; BVerfG, Beschluss vom 30. August 2010, – 1 BvR 1631/08 –, Juris [Rn. 48]; so auch Rabe, Vorlagepflicht und gesetzlicher Richter, Seite 207; Papier, Gerichtshöfe, Seite 3. 27 BVerfG, Beschluss vom 25. August 2008, – 2 BvR 2213/06 –, EuGRZ 2008, 633 – 636. 28 Hierzu auch Rabe, Vorlagepflicht und gesetzlicher Richter, Seite 210; Wegener, Rechtsstaatliche Vorzüge, Seite 55 f.; Sensburg, Vorlagepflicht, Seite 1260; Thomy, Individualrechtsschutz, Seite 143 ff.; Löhr, Wege zum EuGH, Seite 12; Büscher, Interdependenzen, Seite 214; Fastenrath, Kooperation, Seite 274; Roth, Verfassungsgerichtliche Kontrolle der Vorlagepflicht, Seite 349; Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, Rn. 366; Hummert, Acte-clair-Doktrin, Seite 55 f.; Bäcker, EuGH als gesetzlicher Richter, Seite 270.

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VIII. Folgerungen für die Frage des gesetzlichen Richters

Das bloße Übersehen einer Vorlageverpflichtung genügt hier demgegenüber nicht 31. Erforderlich für die Annahme von Willkür ist, dass das Gericht, das eine Vorlage an den Gerichtshof nicht in Erwägung zieht, bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs abweicht oder das Unionsrecht jedenfalls in unvertretbarer Weise auslegt 32. bb) Bewusstes Abweichen von der Rechtsprechung des Gerichtshofs ohne Vorlagebereitschaft In der zweiten Fallgruppe, in der das Bundesverfassungsgericht Willkür bejaht, weicht das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen ab und legt gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vor (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft) 33. cc) Nichtvorlage trotz Unvollständigkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs In der dritten Fallgruppe, in der das Bundesverfassungsgericht Willkür bejaht, liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs noch nicht vor oder hat dieser in der vorliegenden Rechtsprechung eine entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet, oder es erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit. In dieser Fallgruppe wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Unvollständigkeit der Rechtsprechung) 34. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der von dem Gericht vertretenen Meinung eindeu29 BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 1990, – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/ 87 –, BVerfGE 82, 159 – 198 [195]; diese Entscheidung ist von Rabe, Vorlagepflicht und gesetzlicher Richter, Seite 211, als „trotzig“ bezeichnet worden. 30 BVerfG, Beschluss vom 25. August 2008, – 2 BvR 2213/06 –, EuGRZ 2008, 633 – 636. 31 Dies verkennt Kenntner, Rechtsschutz in Europa, Rn. 35. 32 Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 569. 33 BVerfG, Beschluss vom 08. Mai 1987, – 2 BvR 687/85 –, BVerfGE 75, 223, 245;; Beschluss vom 31. Mai 1990, – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/87 –, BVerfGE 82, 159 [195]; BVerfG, Beschluss vom 25. August 2008, – 2 BvR 2213/06 –, EuGRZ 2008, 633 – 636. 34 BVerfG, Beschluss vom 30. August 2010, – 1 BvR 1631/08 –, Juris [Rn. 48].

2. Der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts

485

tig vorzuziehen sind 35. Fehlt es an einer unionsrechtlichen Begründung für das Absehen von der Erfüllung der Vorlageverpflichtung trotz des Vorliegens einer Normenkollision, die dem Bundesverfassungsgericht eine Überprüfung anhand der von ihm zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entwickelten Maßstäbe ermöglicht, hat die Verfassungsbeschwerde regelmäßig Erfolg 36. Bei dieser Fallgruppe kommt es für die Prüfung einer Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts an, sondern auf die Vertretbarkeit der Handhabung des Art. 267 Abs. 3 AEUV 37. Eine Prüfung dieser Fallgruppe erfordert, dass das Fachgericht diejenigen Gründe angibt, die zeigen, ob es sich hinsichtlich des Rechts der Union ausreichend kundig gemacht hat 38. dd) Beispielscharakter der Fallgruppen Bei den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Fallgruppen handelt es sich jedoch nicht um eine abschließende Aufzählung von Beispielen für eine verfassungsrechtlich erhebliche Verletzung der Vorlagepflicht 39. In einer neueren Entscheidung 40 hat das Bundesverfassungsgericht jedoch seine Akzentuierung leicht weg von der Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts hin zu der Beachtung oder Verkennung der Voraussetzungen der Vorlagepflicht nach der Vorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV unter Berücksichtigung der CILFITKriterien des Gerichtshofs verschoben 41: Das Bundesverfassungsgericht stellt als Obersatz fest, dass ein Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen muss, wenn sich in dem bei ihm anhängigen Verfahren eine entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die betreffende Bestimmung des Unionsrechts bereits Gegenstand einer Auslegung des Gerichtshofs war oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt, und rezipiert auch für Letzteres als Voraussetzung, dass das innerstaatliche Gericht 35

BVerfG, Beschluss vom 31. Mai 1990, – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/ 87 –, BVerfGE 82, 159 [195]. 36 BVerfG, Beschluss vom 9. Januar 2001, – 1 BvR 1036/99 –, NJW 2001, 1267. 37 BVerfG, Beschluss vom 30. August 2010, – 1 BvR 1631/08 –, Juris [Rn. 48]. 38 BVerfG, Beschluss vom 30. August 2010, – 1 BvR 1631/08 –, Juris [Rn. 49]. 39 BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 2010, – 1 BvR 230/09 –, EuGRZ 2010, 247. 40 BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 2010, – 1 BvR 230/09 –, EuGRZ 2010, 247. 41 EuGH, Urteil vom 06. Oktober 1982, Rs. C-283/81 [Srl CILFIT und Lanificio di Gavardo SpA gegen Ministero della Sanità], Slg. 1982, Seite 3415; hierzu oben V. 1. b) cc) (3).

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VIII. Folgerungen für die Frage des gesetzlichen Richters

davon überzeugt sein muss, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedsstaaten und für den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde 42. Die sich anschließende Folgerung des Bundesverfassungsgerichts, dass ein letztinstanzliches mitgliedsstaatliches Gericht, das von einem Vorabentscheidungsersuchen absieht, dem Recht der Prozessparteien auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG in der Regel nur dann gerecht wird, „wenn es nach Auswertung der entscheidungserheblichen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts eine vertretbare Begründung dafür gibt, dass die maßgebliche Rechtsfrage durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bereits entschieden ist oder dass die richtige Antwort auf diese Rechtsfrage offenkundig ist“, und dass „die gemeinschaftsrechtliche Rechtsfrage [...] hingegen nicht zumindest vertretbar beantwortet [wird], wenn das nationale Gericht eine eigene Lösung entwickelt, die nicht auf die bestehende Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zurückgeführt werden kann und auch nicht einer eindeutigen Rechtslage entspricht.“ 43, hat hiermit freilich wenig zu tun, da eine „vertretbare“ Lösung eben weniger ist als eine Lösung, für die die Gewissheit der Lösungsidentität bei dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedsstaaten besteht. Das Bundesverfassungsgericht fordert auch hier nur, dass sich das letztinstanzliche Gericht „ausreichend kundig“ macht, dass es „sich zu dieser Frage [...] mit den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundlagen auseinander“ setzt, und das Bundesverfassungsgericht prüft, ob „es jedenfalls vertretbar [ist], dass das Bundesarbeitsgericht ohne ein Vorabentscheidungsersuchen“ entscheidet 44. Mehr als eine Akzentverschiebung bei gleichbleibend hoher Kontrollhürde für eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist in der Entscheidung damit nicht zu sehen: Das Bundesverfassungsgericht hat die Pflicht zu einer Anrufung des Gerichtshofs „unterstrichen“ 45, nicht aber weiter gefasst. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht 46 jüngst erneut bestätigt, dass die Kontrolle der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV allein an dem Maßstab der Willkür zu erfolgen habe 47.

42

BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 2010, – 1 BvR 230/09 –, EuGRZ 2010, 247. BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 2010, – 1 BvR 230/09 –, EuGRZ 2010, 247. 44 BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 2010, – 1 BvR 230/09 –, EuGRZ 2010, 247. 45 Reinhardt, Anmerkung zu BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 2010, Seite 1271. 46 BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2010, – 2 BvR 2661/06 –, Juris [Orientierungssatz 4b und Rn. 89]. 47 Hierzu Bäcker, EuGH als gesetzlicher Richter. 43

2. Der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts

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c) Bewertung der Prüfungsintensität des Bundesverfassungsgerichts Die Prüfungsintensität des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf Verletzungen der Vorlageverpflichtung aus Art. 267 Abs. 3 AEUV unter dem Gesichtspunkt einer Entziehung des gesetzlichen Richters ist damit eher gering ausgestaltet 48. Der bundesverfassungsgerichtliche Prüfungsmaßstab der Willkür für Verletzungen der Vorlagepflicht führt dazu, dass es für eine erfolgreiche Rüge eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht ausreicht, lediglich Zweifel an der zutreffenden Auslegung des Unionsrechts darzulegen; vielmehr muss das Bundesverfassungsgericht überzeugt werden, dass die von dem Beschwerdeführer vertretene Auslegung des Unionsrechts derjenigen des mitgliedsstaatlichen letztinstanzlichen Gerichts nicht nur gleichwertig, sondern sogar unzweifelhaft überlegen ist 49, mithin die Auslegung des letztinstanzlichen Gerichts nicht vertretbar ist. Dies führt dazu, dass eine Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nur in ganz krassen Ausnahmefällen mit der Verfassungsbeschwerde erfolgreich angegriffen werden kann, obwohl es nach dem Konzept des Vorabentscheidungsverfahrens Aufgabe des Gerichtshofs ist, zu entscheiden, welche von mehreren möglichen Auslegungsvarianten des Unionsrechts zutreffend ist 50. Nur wenn es an einer sachgerechten Herangehensweise an eine Frage mit unionsrechtlichem Bezug und einem vertretbaren Ergebnis fehlt, nur wenn sich das Gericht nicht ausreichend kundig gemacht oder nicht intensiv mit dem Unionsrecht auseinander gesetzt hat, kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde Erfolg haben 51.

48 Klein / Sennekamp, Verfassungsbeschwerde, Seite 947; Kerwer, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, Seite 579; Lutz, Kompetenzkonflikte und Aufgabenverteilung, Seite 86; Löhr, Wege zum EuGH, Seite 12; Roth, Verfassungsgerichtliche Kontrolle der Vorlagepflicht, Seite 350; Hummert, Acte-clair-Doktrin, Seite 59; Fastenrath, Kooperation, Seite 274, spricht davon, dass das Bundesverfassungsgericht „seine verfassungsrechtliche Prüfungskompetenz in nicht zu erklärender Weise“ zurücknehme; Schmidt, Vorlageverfahren, Seite 738, spricht von einem „stumpfen Schwert“; anderer Ansicht Thomy, Individualrechtsschutz, die von einer „wirkungsvollen Sanktionsmöglichkeit“ durch das Bundesverfassungsgericht spricht. 49 Clausnitzer, Vorlagepflicht, Seite 643. 50 Clausnitzer, Vorlagepflicht, Seite 643. 51 Frenz, Durchsetzung von Europarecht, Seite 172 f.

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VIII. Folgerungen für die Frage des gesetzlichen Richters

3. Verschiebungen des bundesverfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabes der Willkür aufgrund des Unionsrechts? a) Verschiebung des bundesverfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabes der Willkür in den Fällen einer Verletzung der Vorlagepflicht aufgrund der Kriterien der CILFIT-Entscheidung des Gerichtshofs? Es ist vertreten worden, dass die gezeigten Prüfungsmaßstäbe des Bundesverfassungsgerichts nicht mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu vereinbaren seien 52. Denn die oben beschriebenen Kriterien des Gerichtshofs 53 für eine Ausnahme von der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV seien mit dem bundesverfassungsgerichtlichen Überprüfungsrahmen, ob das konkrete Auslegungsergebnis nachvollziehbar begründet worden sei, sodass die Nichtvorlage nicht das Recht auf den gesetzlichen Richter entziehe, nicht vereinbar. Auch erhalte das Willkürkriterium seine Rechtfertigung aus seiner gezeigten Herleitung aus dem Verhältnis des mitgliedsstaatlichen Prozessrechts zu dem Verfassungsrecht und sei daher nicht ohne weiteres auf eine Verletzung der unionsrechtlich begründeten Vorlagepflicht, bei der jede Verletzung zugleich einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV begründe, übertragbar 54. Ein zu einer Stattgabe einer 52 Heß, Einwirkungen des Vorabentscheidungsverfahrens, Seite 83; Fastenrath, Kooperation, Seite 274 f.; Fastenrath, Gesetzlicher Richter, Seite 461, spricht von „unreflektierter Verwendung tradierter Formeln zur Willkür- und verfassungsspezifischen Kontrolle“ durch das Bundesverfassungsgericht; Roth, Kontrolle der Vorlagepflicht an den EuGH, Seite 350; vorsichtig Brück, Vorabentscheidungsverfahren, Seite 157, der eine Deckungsgleichheit der Kriterien des Gerichtshofs für Ausnahmen von der Vorlagepflicht mit denen des Bundesverfassungsgerichts für eine Verletzung der Vorlagepflicht für wünschenswert hält; deutlicher demgegenüber für eine Deckungsgleichheit beider Maßstäbe auf Seite 175. – Demgegenüber vertritt Dörr, Europäisierter Rechtsschutzauftrag, Seite 165, die Ansicht, dass aufgrund der CILFIT-Rechtsprechung des Gerichtshofs den mitgliedsstaatlichen letztinstanzlichen Gerichten trotz des strikten Wortlauts des Art. 267 Abs. 3 AEUV ein Spielraum, ein Freiraum zu einer eigenständigen Beurteilung und Auslegung ihrer Vorlagepflicht eröffnet sei, was die CILFIT-Kriterien als den genannten Fallgruppen des Bundesverfassungsgerichts angenähert erscheinen lasse. Dies verkennt indes, dass – wie ausgeführt – die Anforderungen des Gerichtshofs an die für eine eigenständige Beantwortung der Rechtsfrage des Unionsrechts als Absehensgrund von der Vorlagepflicht gerade in Bezug auf die erforderliche Rechtsvergleichung in den Mitgliedsstaaten sehr hoch sind, und dass das Bundesverfassungsgericht demgegenüber eine letztendlich „vertretbare“ und / oder gut begründete Lösung der unionsrechtlichen Frage genügen lässt; dies stellt zutreffend Hummert, Acte-clair-Doktrin, Seite 56 f., heraus. 53 EuGH, Urteil vom 06. Oktober 1982, Rs. C-283/81 [Srl CILFIT und Lanificio di Gavardo SpA gegen Ministero della Sanità], Slg. 1982, Seite 3415; hierzu oben V. 1. b) cc) (3). 54 Vedder, Neuer gesetzlicher Richter, Seite 530 f.

3. Verschiebungen des Prüfungsmaßstabes der Willkür?

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Verfassungsbeschwerde führender Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sei vielmehr unter Verzicht auf den Willkürmaßstab bei jedem Verstoß gegen die durch den Gerichtshof konkretisierte Vorlagepflicht anzunehmen 55; jedenfalls sei die Prüfungsdichte zu erhöhen 56. Diese Kritik ist in ihrem gedanklichen Ansatz zwar insoweit zutreffend, als die Kriterien des Gerichtshofs für eine Ausnahme von der Vorlagepflicht in einem Vorabentscheidungsverfahren deutlich enger sind als der Willkür-Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts. Jedoch ist diese Kritik insoweit dogmatisch fehlerhaft und damit unergiebig, als verkannt wird, dass der verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts aufgrund der oben wiedergegebenen historischen Herleitung eben nicht der der Überprüfung des einfachen Rechts, sondern nur der des deutschen Verfassungsrechts ist 57. Art. 267 AEUV ist jedoch der Sache nach – wie gezeigt – eine prozessrechtliche Vorschrift auf der Ebene des Primärrechts, sodass das beschriebene Verhältnis zwischen Prozess- und Verfassungsrecht sehr wohl übertragbar ist. Damit gilt auch für die verfassungsgerichtliche Überprüfung insoweit zunächst der Willkürmaßstab für die Handhabung des Prozessrechts durch die Fachgerichte, ohne dass aus den CILFITKriterien für eine Ausnahme von der Vorlagepflicht anderes hergeleitet werden könnte oder dürfte. Würde man vielmehr die CILFIT-Kriterien für eine Ausnahme von der Vorlagepflicht als für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG maßgeblich ansehen, so würde man zudem das durch Art. 267 AEUV normierte System einer Vorlagepflicht nur für letztinstanzliche Gerichte durcheinander bringen und das Bundesverfassungsgericht selbst als das letztinstanzliche Gericht einordnen, das diese Kriterien zu beachten hätte 58. Das Bundesverfassungsgericht ist aber gerade keine „Superrevisionsinstanz“ 59. Ferner wird eingewandt, dass das Bundesverfassungsgericht mit seiner Rechtsprechung den Willkür-Maßstab im Übrigen an die falsche Norm anlege, da es prüfe, ob das letztentscheidende Fachgericht die streitentscheidende Norm des Unionsrechts in verständiger Weise ausgelegt habe und es aus seiner Sicht keine Auslegungszweifel gehabt habe; zutreffend sei aber nicht auf die unionsrechtliche Sachnorm, sondern auf die prozessuale Norm des Art. 267 Abs. 3 AEUV abzustellen 60. Dies verkennt jedoch, dass Zweifel an der Auslegung der Verträge 55

Lenz, Rechtsschutz im Binnenmarkt, Seite 2065. Bäcker, EuGH als gesetzlicher Richter, Seite 272. 57 Kerwer, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, Seite 581. 58 Frenz, Durchsetzung von Europarecht, Seite 161. 59 BVerfG Beschluss vom 19. September 2006, – 2 BvR 2115/01, 2 BvR 2132/01, 2 BvR 348/03 –, EuGRZ 2006, 684 – 693. 56

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VIII. Folgerungen für die Frage des gesetzlichen Richters

oder der Handlungen der Organe der Union Tatbestandsmerkmal – „eine derartige Frage“ – des Art. 267 Abs. 3 AEUV sind. Für dieses Tatbestandsmerkmal der prozessrechtlichen Norm wird der Willkür-Maßstab angewandt; es lässt sich nur anhand der konkreten unionsrechtlichen Norm prüfen. Der insoweit letztlich angeführten These, dass das Bundesverfassungsgericht in dem als selbständig anzusehenden verfassungsgerichtlichen Verfahren einzige und damit auch letzte Instanz sei, die zu der Beurteilung der Frage eines Verfassungsverstoßes die unionsrechtliche Vorfrage eines Verstoßes gegen Art. 267 Abs. 3 AEUV zu beantworten und daher selbst insoweit ein Vorabentscheidungsverfahren zu betreiben habe 61, ist entgegenzuhalten, dass dogmatisch das Bundesverfassungsgericht eben nur die Frage eines Verfassungsverstoßes prüft, die aufgrund des beschriebenen Verhältnisses zwischen dem Verfassungsrecht und dem einfachen Recht eben nicht anhand des einfachen Rechts zu lösen ist; aus der Sicht des Verfassungsrechts (und auch sonst) ist Art. 267 Abs. 3 AEUV aber eben „nur“ eine prozessrechtliche Norm auf der Ebene des Primärrechts der Union und damit keine Vorfrage der Auslegung des Verfassungsrechts. b) Verschiebung des Prüfungsmaßstabes aufgrund von Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV und einer unionsrechtskonformen Auslegung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Jedoch unterliegt der sich selbst auf eine Willkürkontrolle beschränkende Kontrollmaßstab des Bundesverfassungsgerichts für Verletzungen der Vorlagepflicht aus anderen Gründen durchgreifenden rechtlichen Bedenken: Auch das Bundesverfassungsgericht ist als Verfassungsorgan ein Organ eines Mitgliedsstaates und unterliegt daher der aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV resultierenden Verpflichtung, mit den ihm zu seiner Verfügung stehenden Mitteln – hier: mit der Gewährung verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes durch Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Entziehung des gesetzlichen Richters – sicherzustellen, dass eine entgegen der Regelung des Art. 267 Abs. 3 AEUV unterbliebene Vorlage an den Gerichtshof nachgeholt wird 62. „Entziehung“ bedeutet begrifflich, zu verhindern, dass der zuständige Richter tätig wird, insbesondere dadurch, dass ein anderer an seiner Stelle seine 60 Fastenrath, Kooperation, Seite 274; Roth, Kontrolle der Vorlagepflicht an den EuGH, Seite 350. 61 Fastenrath, Kooperation, Seite 274. 62 Meier, Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts, Seite 13; Weber, Durchführung des Gemeinschaftsrechts, Seite 93; Allkemper, Rechtsschutz des Einzelnen, Seite 163 f.; Fastenrath, Gesetzlicher Richter, Seite 481.

3. Verschiebungen des Prüfungsmaßstabes der Willkür?

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Funktion wahrnimmt 63. Es liegt auf der Hand, dass in Anwendung der gängigen Auslegungsmethoden auch eine bloß irrtümliche Verkennung der Vorlagepflicht in diesem Sinne verhindert, dass der zuständige Richter – der Gerichtshof – tätig wird und ein solcher Fehler damit unter den Begriff der „Entziehung“ in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu subsumieren ist. Dies gilt erst recht, wenn das vorlageverpflichtete Gericht die vorlagepflichtige Frage selbst entgegen Art. 267 Abs. 3 AEUV – zu Ungunsten des Rechtsschutzsuchenden – beantwortet 64. Auch der richterrechtlich entwickelte Willkür-Kontrollmaßstab des Bundesverfassungsgerichts ist damit nach dem Prinzip des effet utile bzw. aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV heraus dann überlagert und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unionsrechtskonform so auszulegen, dass objektiv notwendige, aber unterbliebene Vorlagen an den Gerichtshof auch dann nachgeholt werden können, wenn das Unterlassen der Vorlage nicht willkürlich in dem Sinne der von dem Bundesverfassungsgericht entwickelten Fallgruppen war 65. Diese Nachholungsmöglichkeit ist dadurch zu gewährleisten, dass das Bundesverfassungsgericht entsprechenden Verfassungsbeschwerden stattzugeben hat. Nur durch eine auch für das Bundesverfassungsgericht verbindliche Anwendung des Art. 267 AEUV kann verhindert werden, dass die Vorlageverpflichtung des Art. 267 Abs. 3 AEUV ausgehöhlt wird 66; nur durch eine solche Auslegung kann der durch Art. 267 AEUV und Art. 4 Abs. 3 Satz 2 AEUV vorgegebene Mechanismus der Wahrung des Unionsrechts – das Unionsrecht wird mit Letztentscheidungskompetenz des Gerichtshofs von diesem ausgelegt, die mitgliedsstaatlichen Gerichte – auch das Bundesverfassungsgericht – sorgen dafür, dass die relevante Frage auch zu dem Gerichtshof gelangt 67 – funktionieren. Daher ist das in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 AEUV hineininterpretierte 68 Willkür-Kriterium in dem Bereich des Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht anzuwenden 69. Dogmatisch erfolgt dies durch eine unionsrechtskonforme Auslegung des Tatbestandes des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG anhand der Kriterien des Art. 267 AEUV und in Umsetzung des Effektivitätsgebots aus Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV 70. Dieser Sichtweise wird zunächst entgegengehalten, dass Art. 267 AEUV in seinem dogmatischen Verhältnis zu Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV eine abschließende

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Dörr, Europäisierter Rechtsschutzauftrag, Seite 156. Dörr, Europäisierter Rechtsschutzauftrag, Seite 158. 65 Meier, Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts, Seite 13; Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO Anhang zu § 40 Rn. 62. 66 Clausnitzer, Vorlagepflicht, Seite 643. 67 Ost, Europarecht vor dem Bundesverfassungsgericht, Seite 402. 68 Vedder, Neuer gesetzlicher Richter, Seite 530. 69 Vedder, Neuer gesetzlicher Richter, Seite 531. 70 Allkemper, Rechtsschutz des Einzelnen, Seite 174 f. 64

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VIII. Folgerungen für die Frage des gesetzlichen Richters

Regelung in dem Sinne einer Spezialnorm darstelle und damit unanwendbar sei 71. Dieser Einwand verkennt jedoch, dass Art 267 AEUV wie gezeigt eine rein prozessrechtliche Norm auf der Ebene des Primärrechts und eben keine Konkretisierung oder gar Spezialregelung des allgemeinen Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit in dem Sinne des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV ist. Weiter wird eingewandt, dass durch einen Rückgriff auf Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV in dem Rahmen der Prüfung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 in Bezug auf Verletzungen der Vorlagepflicht durch das Bundesverfassungsgericht die Unabhängigkeit der mitgliedsstaatlichen Gerichte beeinträchtigen würde 72. Auch dies geht fehl. Die Prüfung der Tatbestandsmerkmale des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch das Bundesverfassungsgericht ist Subsumtion unter verfassungsrechtliche Normen; stattgebende Verfassungsbeschwerden greifen per se niemals in die richterliche Unabhängigkeit derjenigen Richter ein, deren Urteile aufgehoben werden, sondern zeigen einen Verstoß gegen Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte auf. Wieso etwa ein objektiver Verstoß gegen Art 267 Abs. 3 AEUV anders als etwa ein solcher gegen einen Geschäftsverteilungsplan 73 die richterliche Unabhängigkeit tangieren könnte, vermag sich nicht zu erschließen. Fraglich ist letztlich, ob dieses Ergebnis deswegen zweifelhaft sein kann, weil Art. 267 AEUV selbst nicht einmal verlangt, dass das mitgliedsstaatliche Prozessrecht überhaupt Rechtsbehelfe gegen eine Verletzung der Vorlagepflicht eröffnet 74. Wenn die Rechtsordnung des Mitgliedsstaates überobligatorisch einen solchen Rechtsbehelf dennoch vorsehe, könne das Unionsrecht jedenfalls keine Vorgaben für den mitgliedsstaatlich anzuwendenden Kontrollmaßstab enthalten 75. Hiergegen spricht jedoch entscheidend, dass es nicht um die Schaffung von Rechtsbehelfen gegen eine Verletzung der Vorlagepflicht geht, sondern allein in Frage steht, die Voraussetzungen eines objektiv und tatsächlich vorhandenen und 71

Frenz, Durchsetzung von Europarecht, Seite 175; das Verhältnis zwischen Art. 267 AEUV und Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV beschreibt auch Fredriksen, Zusammenarbeit, Seite 11, dahingehend, dass Art. 267 AEUV eine Konkretisierung des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV sei. 72 Frenz, Durchsetzung von Europarecht, Seite 175 f. 73 BVerfG, Beschluss vom 16. Februar 2005, – 2 BvR 581/03 –, NJW 2005, 2689 – 2691. 74 Schiller, Anmerkung zu BVerwG, Beschluss vom 20. März 1986, Seite 473; Frenz, Durchsetzung von Europarecht, Seite 175; Glaesner, Vorlagepflicht unterinstanzlicher Gerichte, Seite 150; Roth, Kontrolle der Vorlagepflicht an den EuGH, Seite 351. 75 BVerfG, Beschluss vom 6. Juli 2010, – 2 BvR 2661/06 –, Juris [Rn. 89] unter Bezugnahme auf Kokott / Henze / Sobotta, Pflicht zur Vorlage, Seite 636 f.

4. Ergebnis

493

auch zu einer Beseitigung von Verstößen gegen die Vorlagepflicht geeigneten Rechtsbehelfs – der Verfassungsbeschwerde – unionsrechtskonform auszulegen. Für die Auslegung des mitgliedsstaatlichen (auch: Verfassungsprozess- und Verfassungs-)Rechts gilt das oben 76 beschriebene Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung. Das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung enthält damit ein Gebot für die Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG als einer Norm, die mit der Verfassungsbeschwerde als einem tatsächlich existenten und einer unionsrechtskonformen Handhabung zugänglichen außerordentlichen Rechtsbehelf sanktioniert ist. Zwar ist es nicht zu verkennen, dass die durch Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV zwingend gebotene Auslegung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG für die Fälle einer unterbliebenen Vorlage an den Gerichtshof Unionsbürger privilegiert, die eine Verletzung der Vorlagepflicht rügen, während im Übrigen Verfassungsbeschwerdeführer, die die Entziehung des gesetzlichen Richters rügen, weiterhin lediglich eine bloße Willkürkontrolle des Bundesverfassungsgerichts zu erwarten haben 77. Eine derartige Privilegierung der das Unionsrecht rügenden Unionsbürger liegt jedoch in der Logik der Unionsrechtsordnung, die die Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber den Mitgliedsstaaten erweitert 78 und ist unionsrechtlich unbedenklich 79.

4. Ergebnis Damit ist als Ergebnis festzuhalten, dass eine objektiv notwendige, aber unterbliebene Aussetzung und Vorlage zum Zwecke der Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV – bzw. als Minus eine Nichtzulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO – in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren als Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gerügt werden kann. Selbst wenn aber allein die von dem Bundesverfassungsgericht entwickelten Fallgruppen seiner Rechtsprechung zu dem Vorliegen von Willkür in den Blick zu nehmen sein sollten, spricht Überwiegendes auch für die Bejahung von Willkür:

76

V. 2. b) bb) (2). Meier, Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts, Seite 13. 78 Meier, Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts, Seite 13. 79 Vgl. EuGH, Urteil vom 20. Februar 1979, Rs. C-120/78 [Rewe-Zentral AG gegen Bundesmonopolverwaltung für Branntwein], Slg. 1979, 00649, der insoweit keine Bedenken geäußert hat. 77

494

VIII. Folgerungen für die Frage des gesetzlichen Richters

Aus den obigen Ausführungen zu den unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 267 AEUV sowie zu dem unionsrechtlichen Effizienzgebot folgt, dass die Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG jedenfalls dann verletzt ist, wenn das Oberverwaltungsgericht in einem Berufungszulassungsverfahren die materiellunionsrechtliche Notwendigkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens positiv erkennt, der Klärung der unionsrechtlichen Frage aber wegen fehlender oder nicht hinreichender Darlegung eines genau hierauf Bezug nehmenden Zulassungsgrundes nicht nachgeht und so sehenden Auges das Fehlen einer notwendigen Klärung durch den Gerichtshof in Kauf nimmt. In diesem Fall wird willkürlich an dem wie gezeigt kraft Unionsrecht nur eingeschränkt anwendbaren Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO festgehalten; das Oberverwaltungsgericht überschreitet in solchen Fällen den ihm notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise, handelt willkürlich im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und verletzt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Dieser Verstoß ist mit der Verfassungsbeschwerde zu rügen. Allerdings kollidiert diese Sichtweise mit der tradierten Auslegung des Subsidiaritätsgebots der Verfassungsbeschwerde durch das Bundesverfassungsgericht: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 80 steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde in diesen Fällen der in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität entgegen, nachdem die Beschwerdeführer über das Gebot der Rechtswegerschöpfung hinaus alle im Rahmen des fachgerichtlichen Verfahrens gegebenen Möglichkeiten nutzen müssen, um der Rechtsverletzung abzuhelfen 81. Eine Abhilfemöglichkeit im Sinne des Subsidiaritätsgrundsatzes besteht nicht nur dann, wenn der Erfolg vorher feststeht; vielmehr ist jede Möglichkeit, der Grundrechtsverletzung im fachgerichtlichen Verfahren abzuhelfen, zu nutzen, wenn ihr Erfolg zumindest möglich erscheint 82. Als eine solche Möglichkeit sieht es das Bundesverfassungsgericht auch an, in der Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde darauf hinzuweisen, dass sich aus Sicht des Rechtsmittelführers die Notwendigkeit einer Revisionszulassung auch beziehungsweise gerade aus der Pflicht des angegangenen Gerichts ergab, dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorzulegen 83. Jedoch verkennt diese Anforderung des Bundesverfassungsgerichts in dem Falle der Verletzung der Vorlagepflicht des Art. 267 Abs. 3 AEUV gerade, dass 80 BVerfG, Beschluss vom 01. April 2008, – 2 BvR 2680/07 –, NVwZ-RR 2008, 611 – 613 [612]. 81 BVerfG, Beschluss vom 08. Juli 1986, – 2 BvR 152/83 –, BVerfGE 73, 322 –330 [325]. 82 BVerfG, Beschluss vom 08. Januar 1985, – 1 BvR 700/83, 1 BvR 1141/83 –, BVerfGE 68, 376 – 384 [380 f.]. 83 BVerfG, Beschluss vom 01. April 2008, – 2 BvR 2680/07 –, NVwZ-RR 2008, 611 – 613.

4. Ergebnis

495

wie gezeigt die prozessrechtliche Norm des Art. 267 Abs. 3 AEUV von keinerlei Darlegung oder Anragstellung abhängig ist, sodass das Bundesverfassungsgericht durch die hier vorliegende extensive Auslegung des Subsidiaritätsgrundsatzes ein solches Kriterium gerade contra legem einführt.

IX. Gesetzgeberische Folgerungen Art. 19 Abs. 1 Satz 2 AEUV bestimmt, dass die Mitgliedsstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den von dem Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Wie gezeigt, genügen die Regelungen der §§ 124, 124a VwGO in der bisherigen Rechtpraxis nicht, um dem Vorabentscheidungsverfahren sowie dem unionsrechtlichen Effektivitätsgebot hinreichend Rechnung zu tragen und Durchsetzungskraft zu vermitteln. Auch wenn – wie gezeigt – jenseits entsprechender Darlegungen im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO – die Berufung unmittelbar kraft der Norm des Art. 267 AEUV dann zuzulassen ist, wenn ein Vorabentscheidungsverfahren in dem Instanzenzug durchzuführen sein wird, sollte für die übrigen Fälle unionsrechtlicher Rechtsanwendungsfehler die hergeleitete eingeschränkte Anwendbarkeit des Darlegungserfordernisses des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO in dem Gesetzeswortlaut künftig ihren Niederschlag finden, letztlich auch deshalb, um so den Berufungsgerichten die Problematik aufzuzeigen und die unionsrechtliche Sensibilität über die Darlegungen des Zulassungsantragsstellers hinaus zu erhöhen. Möglich und geboten wäre es, daher die §§ 124, 124a VwGO in dem Sinne einer „beherzten Entscheidung des Gesetzgebers“ 1 wie folgt zu ergänzen: § 124 Verwaltungsgerichtsordnung (1) Gegen Endurteile einschließlich der Teilurteile nach § 110 und gegen Zwischenurteile nach den §§ 109 und 111 steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie von dem Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen wird. (2) Die Berufung ist nur zuzulassen, 1. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen, 2. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist, 3. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, 4. wenn das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes, oder des Bundesverfassungsgerichts oder des Gerichtshofs abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder 1 Huber, Europäisierung, Seite 585, fordert derartige Entscheidungen zur Erhöhung der unionsrechtlichen Anpassungsflexibilität des mitgliedsstaatlichen Rechts.

IX. Gesetzgeberische Folgerungen

497

5. wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann oder 6. wenn die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV in Betracht kommt oder bei der Entscheidung der Rechtssache Unionsrecht nicht oder nicht richtig angewandt wurde. § 124a Verwaltungsgerichtsordnung (1) Das Verwaltungsgericht lässt die Berufung in dem Urteil zu, wenn die Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 vorliegen. Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden. Zu einer Nichtzulassung der Berufung ist das Verwaltungsgericht nicht befugt. (2) Die Berufung ist, wenn sie von dem Verwaltungsgericht zugelassen worden ist, innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Verwaltungsgericht einzulegen. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen. (3) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 2 innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig. (4) Wird die Berufung nicht in dem Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, so ist die Zulassung innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils zu beantragen. Der Antrag ist bei dem Verwaltungsgericht zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe im Sinne des § 124 Abs. 2 Ziffern 1 bis 5 VwGO darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Stellung des Antrags hemmt die Rechtskraft des Urteils. (5) Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss. Die Berufung ist zuzulassen, wenn einer der Gründe des § 124 Abs. 2 Ziffern 1 bis 6 vorliegt und in den Fällen des § 124 Abs. 2 Ziffern 1 bis 5 dargelegt ist; in dem Falle des § 124 Abs. 2 Nr. 6 2. Alternative VwGO muss jedenfalls einer der Gründe des § 124 Abs. 2 VwGO hinreichend dargelegt worden sein. Der Beschluss soll kurz begründet werden. Mit der Ablehnung des Antrags wird das Urteil rechtskräftig. Lässt das Oberverwaltungsgericht die Berufung zu, wird das Antragsverfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht. (6) Die Berufung ist in den Fällen des Absatzes 5 innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Absatz 3 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.

Einer besonderen Ergänzung der Regelungen für den Fall einer Abweichung der erstinstanzlichen Entscheidung von einer Entscheidung des Gerichtshofs als

498

IX. Gesetzgeberische Folgerungen

Unterfall der Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO bedarf es – auch in Bezug auf das Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO – zwar nicht, da in jedem Fall einer Divergenz der angefochtenen Entscheidung zu einer Entscheidung des Gerichtshofs denklogisch auch das Unionsrecht im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 6 VwGO nicht richtig angewandt wurde und die Berufung daher unter diesem Gesichtspunkt ohne entsprechende Darlegung zuzulassen wäre. Angesichts des einer Steigerung noch fähigen Standes der Integration ist es indes wünschenswert, den Gerichtshof in den Kreis der Divergenzgerichte aufzunehmen. Mit der vorgeschlagenen Regelung wird ferner für den Bereich auf Unionsrecht beruhender Rechtsanwendungsfehler auf das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht gänzlich verzichtet, sondern lediglich die oben als unionsrechtlich notwendig erachtete Wahrnehmung der Möglichkeit einer Umdeutung hinreichend im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegter Berufungszulassungsgründe gesetzlich ausdrücklich normiert. Damit werden auf dem Unionsrecht fußende Rechtsanwendungsfehler nicht weitergehend privilegiert, als es das materielle Unionsrecht ohnehin gebietet.

X. Zusammenfassung in Thesen 1. Das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO und die Berufungszulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO sind in dem Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG so auszulegen, dass dem Rechtsmittelführer der Zugang zu der Berufungsinstanz nicht unzumutbar und in aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird. Diesem Gebot genügt die Rechtsprechung der Obergerichte zur Auslegung des Begriffsinhalts der einzelnen Berufungszulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO und zu den Anforderungen an das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht durchgehend. 2. Auch der Antrag auf Zulassung der Berufung ist ein Rechtsbehelf, der den Beteiligten in dem Dienste der Entscheidung ihres Streitfalles gegeben ist. Sämtliche Berufungszulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO haben daher (zumindest auch) das Ziel der Wahrung der Einzelfallgerechtigkeit, zu dem weitere Ziele – etwa die Einheitlichkeit der Rechtsprechung, die Rechtsfortbildung oder die Kontrollfunktion gegenüber den Vordergerichten – hinzutreten. Diese hinzutretenden Funktionen sind jedoch auch jeweils nur ein Weg zu der Erzielung von Einzelfallgerechtigkeit. 3. Der Berufungszulassungsgrund der ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO dient primär der Einzelfallgerechtigkeit. Fordert das materielle Recht als maßgeblichen Zeitpunkt der Beurteilung der Sach- und Rechtslage den der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz, so sind in einem Berufungszulassungsverfahren auch solche dem Berufungszulassungsantragssteller günstige Tatsachen- und Rechtsentwicklungen zu berücksichtigen, die erst nach dem Ablauf der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO geltend gemacht werden, wenn und soweit diese feststehend oder offen zu Tage tretend sind. 4. Einem Berufungszulassungsantragsteller günstige Rechtsänderungen des Unions- und des mitgliedsstaatlichen Rechts, die zwischen dem Ergehen der erstinstanzlichen Entscheidung und der Entscheidung über den Berufungszulassungsantrag eingetreten sind, sind entgegen der bislang herrschenden Meinung aufgrund einer richterrechtlich zu schließenden planwidrigen Regelungslücke in § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO auch dann zu berücksichtigen, wenn sie der Zulassungsantragssteller nicht in seinem Berufungszulassungsantrag innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt hat, sofern nach dem materiellen

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X. Zusammenfassung in Thesen

Recht der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über den Zulassungsantrag zu der Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblich ist. 5. Die Vorschriften der §§ 124, 124a VwGO stehen einer Umdeutung hinreichender Darlegungen des Berufungszulassungsantragsstellers zu einem nach der Ansicht des Oberverwaltungsgerichts objektiv nicht vorliegenden Berufungszulassungsgrund in einen nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts offen zu Tage tretenden anderen Berufungszulassungsgrund nicht entgegen; eine solche Umdeutung ist vielmehr regelmäßig zu einer Gewährung effektiven Rechtsschutzes in dem Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG von Amts wegen vorzunehmen. Eine derartige Umdeutung ist auch mit den Zielen der Zulassungsberufung – dem der Verfahrensbeschleunigung und dem der Richtigkeitsgewähr im Einzelfall – vereinbar, da das offen zu Tage tretende keiner vertiefenden Prüfung mehr bedarf und offen zu Tage tretende Rechtsanwendungsfehler in einem Berufungsverfahren korrigiert werden. 6. Eine Umdeutung kommt in Betracht und ist von Amts wegen dann vorzunehmen, wenn aus Sicht des Oberverwaltungsgerichts (erstens) ein nicht dargelegter Berufungszulassungsgrund deutlich zu Tage tritt, (zweitens) mindestens einer der in § 124 Abs. 2 VwGO genannten Berufungszulassungsgründe als gedanklicher Ausgangspunkt einer Umdeutung hinreichend im Sinne von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt ist, und sich dieser (drittens) ferner in dem Sinne der oben wiedergegebenen Zusammenfassung eignet, in den aus Sicht des Oberverwaltungsgerichts offen zu Tage tretenden Berufungszulassungsgrund umgedeutet zu werden. 7. Art. 267 AEUV enthält eine explizite Bestimmung bezüglich des nationalen Prozesses auf des Ebene des primären Unionsrechts, die nach dem Prinzip des Vorrangs des Unionsrechts das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO immer dann überlagert, wenn aus Sicht des Oberverwaltungsgerichts zu einer Entscheidung der Streitsache die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV in dem Instanzenzug objektiv notwendig sein wird. In diesem Fall ist allein kraft der Vorschrift des Art. 267 AEUV jenseits der Erfüllung des Darlegungserfordernisses die Berufung des Rechtsmittelführers zuzulassen. Einer Einordnung des Oberverwaltungsgerichte als Instanzgericht in dem Sinne von Art. 267 Abs. 2 AEUV oder als letztinstanzliches Gericht in dem Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV, wie sie in Lehre und Rechtsprechung für das Berufungszulassungsverfahren diskutiert wird, bedarf es daher unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt. 8. Daher sind die von der derzeit herrschenden Meinung zur Einordnung des Oberverwaltungsgerichts als Instanzgericht im Sinne von Art. 267 Abs. 2 AEUV oder aber als letztinstanzliches Gericht im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV herangezogenen Abgrenzungskriterien (das Abstellen auf eine „Absicht“ der Ablehnung des Zulassungsantrages bzw. das Abstellen allein auf das sich

X. Zusammenfassung in Thesen

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anschließende Berufungsverfahren) obsolet. Das Oberverwaltungsgericht ist vielmehr in einem Berufungszulassungsverfahren immer als Instanzgericht in dem Sinne des Art. 267 Abs. 2 AEUV anzusehen. 9. Eine Aussetzung und Vorlage nach Art. 267 AEUV in einem Berufungszulassungsverfahren selbst ist nicht möglich. Sie ist aufgrund des Zwangs zur Zulassung der Berufung unmittelbar aus Art. 267 AEUV bei dem objektiven Vorliegen einer Vorabentscheidungserheblichkeit und unabhängig von den Darlegungen des Zulassungsantragstellers als „Minus“ zu einer Aussetzung und Vorlage auch nicht notwendig. 10. Das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO stellt eine Regelung des Prozessrechts dar, die mit den von dem Gerichtshof in seiner Rechtsprechung aufgestellten Prinzipien für die Anwendung des Effektivitätsprinzips nur zu einem Teil vereinbar ist. Zwar sind weder die Länge der Darlegungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO noch das Darlegungsgebot als solches geeignet, die Verfolgung der aus der Unionsrechtsordnung folgenden Rechte unmöglich zu machen oder wesentlich zu erschweren. Jedoch verlanget das Effektivitätsprinzip bei der bestehenden Möglichkeit einer Umdeutung bei einem ansonsten dem Darlegungsgebot genügenden Berufungszulassungsantrag die Berücksichtigung einer offen zu Tage tretenden Unionsrechtswidrigkeit des angefochtenen Urteils. 11. Kommt in einem möglichen Berufungsverfahren zwar kein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV in Betracht, hat aber die Vorinstanz entscheidungserhebliche Regelungen des primären oder des sekundären Unionsrechts übersehen oder fehlerhaft angewandt, so fordern ebenfalls das unionsrechtliche Äquivalenzgebot sowie gegebenenfalls auch das Prinzip des Vorrangs des Unionsrechts die Korrektur dieses Fehlers in einem anschießenden Berufungsverfahren von Amts wegen, wenn der Berufungszulassungsantrag ansonsten zulässig ist und insbesondere überhaupt dem Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entspricht. Zu einer Sicherung der Effektivität des Unionsrechts („effet utile“) verdichtet sich in Anwendung des Äquivalenzprinzips die in Form einer Umdeutung bestehende Möglichkeit des mitgliedsstaatlichen Gerichts zu einer Prüfung mitgliedsstaatlicher Vorschriften von Amts wegen zu einer unionsrechtlichen Pflicht zu einer Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen. 12. Dogmatisch erreicht wird dieses Ergebnis durch eine Umdeutung des Vorbringens des Zulassungsantragstellers in seinem Zulassungsantrag. Das Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO bezieht sich in diesen Fällen auf die hinreichende Darlegung eines Berufungszulassungsgrundes im Sinne des § 124 Abs. 2 VwGO durch den Berufungszulassungsantragssteller als gedanklichem Ausgangspunkt einer Umdeutung. 13. Zu einer Klarstellung sollten die gesetzlichen Vorschriften der §§ 124, 124a VwGO ergänzt werden.

502

X. Zusammenfassung in Thesen

14. Das Bundesverfassungsgericht hat als Organ eines Mitgliedsstaates in dem Sinne des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV bei seiner Auslegung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der Norm des Art. 267 AEUV Rechnung zu tragen und es zu ermöglichen, notwendige, aber unterbliebene Vorlagen nachzuholen. Der von dem Bundesverfassungsgericht praktizierte enge Kontrollmaßstab der Willkür verstößt insoweit gegen Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV. 15. Übergeht das Oberverwaltungsgericht eine offen zu Tage tretende, nicht dargelegte unionsrechtliche Fragestellung, die in einem Vorabentscheidungsverfahren der Klärung fähig und bedürftig ist, so wird dem Berufungszulassungsantragssteller der gesetzliche Richter aber auch in dem Sinne der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG willkürlich entzogen.

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Sachwortverzeichnis Ablehnung von Beweisanträgen 198 ff. Acte clair-Doktrin 320 ff., 328 Acte éclairé 319 f. Äquivalenzprinzip 370 ff., 375 ff. – gleichartige Klagen 378 f. – Inhalt 375 ff. – Prüfungsumfang 376 f. Allgemeine Rechtsgrundsätze 308 f., 472 ff. – Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung 474 – Herleitung 308 f., 472 – Inhalt 472 f. – Rechtsstaatlichkeit 363 f., 474 – Verhältnismäßigkeit 308 – Vertrauensschutz 308 Alternativbegründungen 214 f. Amtsermittlungsgrundsatz 196 ff. Amtswegige Berücksichtigung des Unionsrechts 395 ff. Anschlussberufung 272 f. Antragsfristen im Berufungszulassungsverfahren 55 Antragserfordernis 51 Anwendungsvorrang des Unionsrechts 342 ff. – und nationales Verfassungsrecht 346 – Verwerfung 347 f. Assoziationsratsbeschluss 1/80 41 Aufenthaltsrecht 41, 43, 142 ff. Ausforschungsbeweisanträge 199 f. Auslegung von Anträgen 56 ff. Ausschlussfristen 388 ff. Begründungsfehler 105 ff.

Beiladung 207 ff. – notwendige Beiladung 208 – unterbliebene notwendige Beiladung als Verfahrensmangel 207 ff. Benennung des Berufungszulassungsgrundes 84 ff. Berücksichtigung des Unionsrechts von Amts wegen 381 ff. Berufungsbegründung 270 ff. Berufungszulassungsverfahren – Adressat der Begründung 58 f. – Adressat des Antrags 55 ff. – Antragserfordernis 51 – Antragsfrist 55 – Antragsstellung zur Niederschrift 52 ff. – Benennung des Berufungszulassungsgrundes 85 ff. – Beschleunigungszweck 45, 91 f., 124 f. – Beschwer 45 f. – Bezeichnung des angefochtenen Urteils 60 – Bezugnahmen 66 – Darlegungserfordernis 61 ff. – Entstehungsgeschichte 47 ff. – Form des Antrags 52 ff. – notwendige Beiladung 92 f. – Prüfungsmaßstab des Oberverwaltungsgerichts 88 ff. – Sinn und Zweck 112 ff. – summarische Prüfung 88 ff. – verfassungsrechtliche Wechselwirkungen 67 ff. – Vertretungszwang 52 ff., 62 ff. Beschleunigungsfunktion 45, 110 f. Beschwer 51 f.

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Sachwortverzeichnis

– formelle Beschwer 52 – materielle Beschwer 52 Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten 152 ff. – Abgrenzung zu ernstlichen Zweifeln 167 ff. – Begriffsbestimmung 154 ff. – materielle Betrachtungsweise 158 – Prüfungsmaßstab 160 ff. – und Begründungsaufwand des Urteils 157 – und Einzelrichterübertragung 154 f. – und Kammerbesetzung 154 f. – und Problemstruktur 155 – und Spezialisierung 156 f. Beurteilungsspielraum 160 ff. Beweisanregung 200 f. Beweisantrag, Ablehnung 198 ff. Beweisantragsrecht 197 ff. Beweisaufnahme 140 ff. Beweiswürdigung 140 f. Bezugnahme auf erstinstanzliches Vorbringen 66 f. Bindungswirkung des Vorabentscheidungsverfahrens 325 ff. Binnenmarkt 305 f. Darlegung – besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten 164 ff. – der Divergenz 192 ff. – ernstlicher Zweifel 148 ff. – grundsätzlicher Bedeutung 178 ff. – und Umdeutung 215 ff. Darlegungserfordernis 61 ff. – Begriffsinhalt 61 f. – Entstehungsgeschichte 64 f. – Sinn und Zweck 64 – und Äquivalenzprinzip 467 ff. – und Effektivitätsprinzip 462 ff. – und Prozesskostenhilfebewilligung 83 – und Vertretungszwang 62 ff.

Darlegungsfrist und Effektivität 461 f. de facto-Normverwerfungskompetenz 310 Devolutiveffekt 273 Direkter Vollzug 355 ff. Direktklagen 303 f. Divergenzberufung 182 ff. – Bewusstsein der Abweichung 187 f. – Divergenzbegriff 186 ff. – divergenzbegründende Tatsachenfragen 185 f. – Divergenzgerichte 182 ff. – Gerichtshof als Divergenzgericht 182 ff. – Hilfsbegründungen 191 – Normidentität 187 – Obiter dicta 191 f. – Rechtsanwendungsfehler 190 – stillschweigendes Übergehen 190 f. – Zeitpunkt der Divergenzentscheidung 188 f. Effektiver Rechtsschutz 67 ff., 104 – als unionsrechtliches Gebot 362 f. – Begriffsinhalt 67 f. – und Beurteilungsspielraum 160 ff. – und einfaches Recht 72 f. – und Prozessrecht 70 – und Rechtsmittelgewährung 70 f. – und Teilrechtsweg 71 f. Effektivitätsgrundsatz 349 ff., 383 ff. – und amtswegige Berücksichtigung des Unionsrechts 395 ff. – und Ausschlussfristen 388 ff. – und Entschädigungsobergrenzen 388 – und Rechtskraft 391 ff. – und Schaffung von Rechtsbehelfen 385 ff. – und verspätete Richtlinienumsetzung 387 Effet utile 35, 348 ff. Effizienzprinzip siehe Effektivitätsprinzip Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung 300 ff.

Sachwortverzeichnis Entschädigungsobergrenzen 388 Entzug des gesetzlichen Richters siehe Gesetzlicher Richter Ergebnisrichtigkeit 105 ff. Ernstliche Zweifel 94 ff. – Abgrenzung zu besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten 167 ff. – im Asylrecht 98 f. – im Aufenthaltsrecht 142 ff. – im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes 102 f. – Ernstlichkeit des Zweifels 96 ff., 100 ff. – neuer Tatsachenvortrag 116 ff. – Rechtsänderungen 132 ff. – Richtigkeit des Urteils 105 ff., 119 f. – Substantiierungspflicht 129 ff. – und Präklusionsvorschriften 120 f., 137 f. – Würdigung einer Beweisaufnahme 140 ff. – Zweifel 99 f. – Zweifelsbegründende Tatsachenfragen 95 ff. Falsa demonstratio 57 Formelle Beschwer 52 Franchise-System 42 Gerichtsbegriff 312 f. Gesetzlicher Richter 284, 479 ff. – Fallgruppen 483 ff. – Gerichtshof als gesetzlicher Richter 479 ff. – Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts 480 ff., 487 – Willkürmaßstab 480 ff. Gleichartige Klagen 378 f. Gleichwertigkeitsprinzip siehe Äquivalenzprinzip Greifbare Gesetzeswidrigkeit 243 ff. Grundsätzliche Bedeutung 173 ff. – Begriffsbestimmung 174

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– nichtrevisibles Recht 173 – Parallelfälle 177 – Rechtsmittelzug 175 – Sinn und Zweck 176 – Tatsachenfragen 174 f. Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung 474 Grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht 483 Historische Auslegungsmethode 103 Indirekter Vollzug 355 ff. Individualrechtsschutzfunktion des Vorabentscheidungsverfahrens 302 ff. Kollisionen 342 ff., 349 ff., 358, 368 f., 372 ff., 469 ff. – Direkte Kollisionen 349, 372 ff., 469 ff. – Indirekte Kollisionen 349, 372 ff. Kompetenzen der Union 33, 357 f. Kompetenz-Kompetenz 357 Kooperationsverpflichtung 34 Kursorische Prüfung 89 Letztinstanzliches Gericht 314 ff., 442 ff. Mehrfachbegründungen 214 f. Mitgliedsstaatliche Verfahrensautonomie 358 ff. Mitgliedsstaatlicher Vollzug 32 Mitwirkungspflichten 128 f. Ordentlicher Geschäftsgang 59 Präjudizsystem 319 f., 328 Präsente Beweismittel 89 Primärrecht 32 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 357 f. Prozesskostenhilfebewilligung 83 Prozessuale Fürsorgepflicht 56 Prüfungsmaßstab des Oberverwaltungsgerichts 88 ff.

532

Sachwortverzeichnis

Rechtliches Gehör 114, 196 ff., 205 f., 207, 260 Rechtsanwendungsfehler 38, 41 ff. Rechtsfortbildung 305, 357, 366 f. Rechtsgemeinschaft 360 f. Rechtsgrundsätze siehe Allgemeine Rechtsgrundsätze Rechtskraft 391 ff. Rechtsmittel 317 f. Rechtsmittelbelehrung 266 ff. Rechtsmittelklarheit 268 Rechtsmittelzug 175 f. Rechtsschutzgarantie 32, 67 ff. Rechtsschutzgleichheit 68, 74 ff. – Ungleichbehandlung 74 ff. Rechtsstaatsprinzip 67, 73 f. – als unionsrechtlicher Grundsatz 363 f. Revisionsrecht 111 f., 114 f. Richtigkeit des Urteils 105 ff. Richtlinien 43 – als Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens 307 ff. – unmittelbare Wirkung 44, 307 ff., 333 ff. – verspätete Umsetzung 43 f., 387 richtlinienkonforme Auslegung 337 ff. Schaffung von Rechtsbehelfen 385 ff. Schriftform 52 ff. Schwierigkeiten, besondere tatsächliche oder rechtliche 152 ff. Sekundärrecht 32, 332 ff. Subventionsrecht 42 Summarische Prüfung 88 ff. Tatsachenfeststellung 197 Telefax 59 f. Transformation 31 Überraschungsentscheidung 206 Umdeutung 215 ff. – Antragsumdeutung 221 f. – Begriffsbestimmung 223 f.

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eines Verwaltungsaktes 222 f. empirische Bewertung 249 f. Fallgruppen 224 ff. greifbare Gesetzeswidrigkeit 243 ff. im Zivilprozessrecht 220 im Zivilrecht 218 f. rechtliches Gehör 260 und Darlegungsgebot 252 ff. verfassungsrechtliche Notwendigkeit 217 f. Unerheblichkeit der Beweistatsache 199 Unionsrechtskonforme Auslegung 337 ff., 355 ff., 365 Unionsvorschrift zwingenden Charakters 377 f. Unmittelbare Wirkung des Unionsrechts 44, 329 ff. – des Primärrechts 331 f. – des Sekundärrechts 332 ff. – und richtlinienkonforme Auslegung 337 ff. – von Richtlinien 333 ff. – von Verordnungen 332 f. Unterschriftserfordernis 54 f. Unterstützungspflicht 361 f. Urkundsbeamter der Geschäftsstelle 52 f. Vereinfachtes Berufungsverfahren 274 f. Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten 34 Verfahrensbeschleunigung 64 Verfahrensmangel 194 ff. – Abweisung der Klage durch Prozessstatt durch Sachurteil 213 – Begriff des Verfahrensmangels 194 f. – Beruhenkönnen 195 – Nichtbescheiden wesentlichen Vorbringens 205 f. – Übergehen einer Vorlageprüfung 210 ff. – unterbliebene notwendige Beiladung 207 f.

Sachwortverzeichnis – Verstoß gegen Amtsermittlungsgrundsatz 196 ff. – Verstoß gegen Denkgesetze 205 – Verwerfung einer Unionsrechtsnorm 210 ff. Verordnungen 332 Vertretungszwang 52 ff., 262 Verwaltungsprivatrecht 336 Vollzugsstruktur des Unionsrechts 355 ff. Vorabentscheidungsverfahren 33, 297 ff., 436 ff. – abstrakte Theorie 314 – als prozessrechtliche Norm 449 ff. – Bindungswirkung 325 ff. – de facto-Normverwerfungskompetenz 310 – Entscheidungserheblichkeit 310 f. – funktionale Theorie 314 f. – Funktionen 299 ff. – Gegenstand 307 ff. – Gerichtsbegriff 312 f. – Individualrechtsschutz 302 ff. – in einem Berufungszulassungsverfahren 285 f., 292 ff. – konkrete Theorie 314 f.

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letztinstanzliches Gericht 314 ff. Präjudizsystem 319 f. Rechtsmittelbegriff 317 ff. Sinn und Zweck 298 ff. und allgemeine Rechtsgrundsätze 308 f. – und Effektivitätsprinzip 384 f. – und völkerrechtliche Verträge 309 – Vorlageberechtigte 311 ff. Vorlageberechtigung 311 ff., 449 ff. Vorlagepflicht 314 ff. – Ausnahmen 319 ff. – und gesetzlicher Richter 478 ff. Vorläufiger Rechtsschutz 89 ff. – und Vorabentscheidungsverfahren 324 f. Wahrunterstellung 198 ff. Wiederholung erstinstanzlichen Vorbringens 66 f. Willkürmaßstab 480 ff. Zulassungspraxis 45 f., 50 Zweifel siehe ernstliche Zweifel Zwingende Unionsvorschriften 399 ff.