Die Einwirkungen des Unionsrechts auf Doppelbesteuerungsabkommen [1 ed.] 9783428558391, 9783428158393

Die Arbeit beschäftigt sich mit Einwirkungen des Unionsrechts auf Doppelbesteuerungsabkommen. Werden Doppelbesteuerungsa

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Die Einwirkungen des Unionsrechts auf Doppelbesteuerungsabkommen [1 ed.]
 9783428558391, 9783428158393

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Schriften zum Steuerrecht Band 149

Die Einwirkungen des Unionsrechts auf Doppelbesteuerungsabkommen Von

Jelka Dombrowsky

Duncker & Humblot · Berlin

Jelka Dombrowsky

Die Einwirkungen des Unionsrechts auf Doppelbesteuerungsabkommen

S c h r i f t e n z u m St e u e r r e c ht Band 149

Die Einwirkungen des Unionsrechts auf Doppelbesteuerungsabkommen

Von

Jelka Dombrowsky

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT. Die Juristische Fakultät der Universität Potsdam hat diese Arbeit im Jahr 2019 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 517 Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0235 ISBN 978-3-428-15839-3 (Print) ISBN 978-3-428-55839-1 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Christian und für meine Eltern Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Januar 2019 von der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam als Dissertation angenommen. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Lutz Lammers, für seine hervorragende Unterstützung und sein persönliches Engagement bei der Betreuung dieser Arbeit. Seine wertvollen Anmerkungen und Ratschläge sowie seine jederzeitige Diskussionsbereitschaft haben entscheidend zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Ebenfalls herzlich bedanken möchte ich mich bei Herrn Professor Dr. Andreas Musil für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens sowie bei Herrn Professor Dr. Tilman Bezzenberger für sein Mitwirken in der Prüfungskommission. Von Herzen ganz besonders danken möchte ich sowohl meinen Eltern ­Barbara und Ulrich Dombrowsky, die mich auf meinem bisherigen Lebensweg uneingeschränkt unterstützt haben, als auch Herrn Dr. Christian Koehler, LL.M. Ihr steter Rückhalt, unermüdlicher Zuspruch und ihre fortwährende liebevolle Unterstützung haben die Anfertigung dieser Arbeit erst ermöglicht. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Berlin, November 2019

Jelka Dombrowsky

Inhaltsverzeichnis Einleitung  ....................................................................................................................... 17 Kapitel 1 Grundlagen 21 § 1 Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung  .............................................. 21 A.

Das Problem der Doppelbesteuerung  ............................................................ 21

B.

I. Begriff der Doppelbesteuerung  ............................................................. 22 II. Ursachen der juristischen Doppelbesteuerung  ...................................... 24 III. Kein ausdrückliches Verbot der juristischen Doppelbesteuerung  ........ 27 Historie, Zweck und Ziele von Doppelbesteuerungsabkommen  .................. 30

C.

Das OECD-Musterabkommen  ....................................................................... 33

D.

Umsetzung der Doppelbesteuerungsabkommen in das innerstaatliche Recht und deren innerstaatlicher Rang  .................................................................... 36 I.

Transformation von Doppelbesteuerungsabkommen in das nationale Recht in Deutschland  ............................................................................. 36 II. Innerstaatlicher Rang der Doppelbesteuerungsabkommen  .................. 37 1. Innerstaatliche Geltung und unmittelbare Anwendbarkeit von Doppelbesteuerungsabkommen  ........................................................ 40 a) Innerstaatliche Geltung der Doppelbesteuerungsabkommen  .. 41 b) Unmittelbare Anwendbarkeit der Doppelbesteuerungsabkommen  ..................................................................................... 43 2. Innerstaatlicher Rang der Doppelbesteuerungsabkommen in Deutschland  ...................................................................................... 44

§ 2 Unionsrechtliches Primärrecht  ................................................................................. 47 A.

Unmittelbare Anwendbarkeit und Anwendungsvorrang des Primärrechts  . 49

B.

I. Unmittelbare Anwendbarkeit  ................................................................. 49 II. Anwendungsvorrang .............................................................................. 50 Primärrecht als Begrenzung der Steuerhoheit der Mitgliedstaaten  .............. 56

C.

Grundfreiheiten des Unionsrechts  ................................................................. 57 I. Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote  ... 57 II. Schutzbereich der Grundfreiheiten  ........................................................ 61 1. Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Artt. 45 ff. AEUV  ....................... 61 2. Niederlassungsfreiheit gemäß Artt. 49 ff. AEUV  ............................. 63 3. Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Artt. 63 ff. AEUV  ............................ 65

8

Inhaltsverzeichnis 4. Verhältnis zwischen den Grundfreiheiten  ......................................... 68 a) Betroffene Regelung hat Kontrollbeteiligung zum Gegenstand  ........................................................................................... 70 aa) Normen mit expliziter Zielrichtung  ................................... 71 bb) Normen, die auf die Beteiligungshöhe abstellen  ................ 72 (1) Einfluss ...................................................................... 73 (2) „Gesicherter“ Einfluss  ............................................... 75 cc) Rechtsfolgen der Prüfung  ................................................... 75 b) Betroffene Regelung lässt Kontrollbeteiligung nicht eindeutig erkennen  ..................................................................................... 76 aa) Tochtergesellschaft hat ihren Sitz in einem EU- oder EWRStaat  .................................................................................... 76 bb) Tochtergesellschaft hat ihren Sitz in einem Drittstaat  ........ 77 c) Zusammenfassung ..................................................................... 79

§ 3 Unionsrechtliches Sekundärrecht  ............................................................................ 79 A.

Grundsätze des Sekundärrechts  .................................................................... 79

B.

Arten des Sekundärrechts  .............................................................................. 80

C.

I. Verordnungen, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen  ........ 80 II. Richtlinien .............................................................................................. 81 Rangverhältnis innerhalb des Unionsrechts  .................................................. 82

§ 4 Verhältnis der Doppelbesteuerungsabkommen zum Primär- und Sekundärrecht  ... 84 A.

Verhältnis bei Anwendung des dualistischen Systems  ................................. 84

B.

Doppelbesteuerungsabkommen mit Drittstaaten sowie Altabkommen  ....... 86 Kapitel 2

Einwirkungen der Grundfreiheiten auf Doppelbesteuerungsabkommen  88 § 5 Verstoß gegen Grundfreiheiten und dessen Rechtfertigung  .................................... 88 A.

Diskriminierung bzw. Beschränkung  ........................................................... 88

B. Rechtfertigung  ................................................................................................ 90 I. Abschließendes Sekundärrecht  .............................................................. 90 II. Objektiv vergleichbare Situation  ........................................................... 90 III. Rechtfertigungsgründe ........................................................................... 91 1. Abwehr von Steuerumgehungen und Vermeidung von Steuerflucht  ................................................................................................. 94 2. Wirksamkeit der Steueraufsicht bzw. Steuerkontrolle  ..................... 96 3. Kohärenz des Steuersystems  ............................................................ 98 4. Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten  ............................................................................................... 100 IV. Verhältnismäßigkeit ............................................................................... 103

Inhaltsverzeichnis

9

§ 6 Konkrete Einwirkungen der Grundfreiheiten auf Doppelbesteuerungsabkommen  . 103 A.

Abkommensberechtigung (Artt. 1 bis 5 OECD-MA)  ................................... 104 I. Beschränkt Steuerpflichtige  .................................................................. 105 II. Betriebstätten  ......................................................................................... 106 1. Überblick und Problemaufriss  .......................................................... 106 2. Die Rechtsprechung des EuGH  ........................................................ 108 a) Avoir fiscal  ................................................................................ 108 b) Saint-Gobain .............................................................................. 110 c) CLT-UFA ................................................................................... 113 d) Philips Electronics  ..................................................................... 114 3. Stellungnahme .................................................................................. 116 a) Verstoß ....................................................................................... 116 b) Vergleichbare Situation von Betriebstätten und Tochtergesellschaften  ............................................................................ 118 c) Ungleichbehandlung und Rechtfertigungsgründe  .................... 121 d)  Art. 24 OECD-MA  ..................................................................... 122 e) Ergebnis und Rechtsfolge  .......................................................... 123 III. Personengesellschaften .......................................................................... 125 1. Überblick .......................................................................................... 125 2. Problemaufriss und Fallgruppen  ...................................................... 126 a) Beispielsfall 1  ............................................................................ 127 b) Beispielsfall 2  ............................................................................ 128 c) Beispielsfall 3  ............................................................................ 129 d) Beispielsfall 4  ............................................................................ 130 3. Problemeinordnung und Prüfungsgang   ........................................... 131 a) Problemeinordnung ................................................................... 131 b) Prüfungsgang ............................................................................. 133 4. Meinungsstand .................................................................................. 135 a) Literatur ..................................................................................... 136 aa) Einordnung nach dem Sitzstaat der Gesellschaft   .............. 136 bb) Einordnung nach dem nationalen Recht der beteiligten Staaten  ................................................................................ 138 cc) Einordnung auch nach dem Quellenstaat  ........................... 139 b) OECD ......................................................................................... 140 c) Finanzverwaltung und Bundesfinanzhof  ................................. 142 d)  Art. 3 des multilateralen Abkommens  ....................................... 145 5. Stellungnahme .................................................................................. 145 a) „Personen“ nach Art. 3 Abs. 1 lit. a) OECD-MA  ..................... 145 b) Abkommensberechtigung und Ansässigkeit der Personengesellschaft  ................................................................................ 147 c) Konkrete Normenanwendung  ................................................... 149

10

Inhaltsverzeichnis

B.

aa) Kritik an der h. M.  .............................................................. 150 bb) Kritik an der Ansicht der OECD  ........................................ 152 cc) Eigene Ansicht  ................................................................... 154 d) Gewährung der Abkommensvorteile  ........................................ 156 6. Zusammenfassung ............................................................................ 158 Aufteilung der Besteuerungszuständigkeit (Artt. 6 bis 21 OECD-MA)  ...... 159 I.

Steuervergünstigungen für beschränkt Steuerpflichtige  ...................... 160 1. Überblick .......................................................................................... 160 2. Die Rechtsprechung des EuGH  ........................................................ 162 a) Schumacker ............................................................................... 162 b) De Groot  .................................................................................... 165 c) Kommission/­Estland  ................................................................. 167 d) X ................................................................................................. 168 3. Meinungen der Literatur  ................................................................... 171 4. Stellungnahme .................................................................................. 173 a) Vorliegen einer vergleichbaren Situation: Die Voraussetzungen  ........................................................................................ 174 aa) Keine „nennenswerten“ Einkünfte im Wohnsitzstaat  ........ 175 bb) „Wesentliches“ Einkommen im Quellenstaat  .................... 177 b) Wann sind Inlandseinkünfte „nicht nennenswert“?  ................ 178 aa) Relative Grenze  .................................................................. 179 bb) Absolute Grenzen  ............................................................... 181 c) Wann ist das Auslandseinkommen „wesentlich“?  .................... 183 d) Aufteilung der Vergünstigungsgewährung  .............................. 187 e) Verfahren zur Gewährung der Vergünstigungen  ..................... 189 5. Zusammenfassung ............................................................................ 192 II. Entstrickungsbesteuerung ...................................................................... 194 1. Überblick .......................................................................................... 194 a) Anwendungsbereich und Auswirkungen der Entstrickungsbesteuerung  ......................................................... 194 b) Entstrickungsbesteuerung aufgrund Wegzugs natürlicher Personen  .......................................................................................... 196 c) Entstrickungsbesteuerung aufgrund Sitzverlegung von Körperschaften  ...................................................................................... 198 d) Entstrickungsbesteuerung aufgrund Verlagerung von Wirtschaftsgütern in einen anderen Mitgliedstaat  ........................... 199 e) Problemaufriss ........................................................................... 200 2. Die Rechtsprechung des EuGH  ........................................................ 202 a) De Lasteyrie du Saillant und N  ................................................. 202 b) National Grid Indus und Kommission/­Portugal  ....................... 206 c) Kommission/­Spanien  ................................................................ 209

Inhaltsverzeichnis

C.

11

d) DMC ........................................................................................... 210 e) A Oy  ........................................................................................... 212 3. Stellungnahme und Meinungen der Literatur  ................................... 213 a) Unwirksamkeit der Entstrickungsbesteuerung nach nationalem Recht  ................................................................................... 213 b) Vorrang des Unionsrechts  ......................................................... 215 c) Beschränkung der Grundfreiheiten  .......................................... 216 aa) Eröffnung des Schutzbereichs  ............................................ 216 bb) Ungleichbehandlung als Beschränkung der Grundfreiheiten  .................................................................................. 219 (1) Anknüpfungspunkt der Entstrickungsbesteuerung  .. 220 (2) Welches Besteuerungsrecht wird beschränkt bzw. ausgeschlossen?  ......................................................... 221 (3) Zeitpunkt der Beschränkung bzw. des Ausschlusses des Besteuerungsrechts des Herkunftsstaats  ............ 222 d) Rechtfertigung ........................................................................... 224 aa) Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten  .................................................. 225 bb) Gefahr der Steuerflucht  ...................................................... 228 e) Verhältnismäßigkeit .................................................................. 229 aa) Sofortige und endgültige Festsetzung  ................................ 229 bb) Sofortige Einziehung  .......................................................... 232 (1) Sofortige Zahlung der Steuer  ..................................... 233 (2) Zahlungsaufschub ...................................................... 234 (a) Zeitraum des Zahlungsaufschubs  ...................... 235 (b) Anforderungen an den Zahlungsaufschub  ........ 236 cc) Berücksichtigung nach der Entstrickung eintretender Wertminderungen  ....................................................................... 238 4. Zusammenfassung ............................................................................ 240 Methode zur Beseitigung der Doppelbesteuerung (Artt. 23 A und 23 B OECD-MA)  .................................................................................................... 241 I.

Gleichwertigkeit der Methoden  .............................................................. 242 1. Überblick .......................................................................................... 242 a) Freistellungsmethode ................................................................ 242 b) Anrechnungsmethode ............................................................... 244 c) Problemaufriss ........................................................................... 245 2. Die Rechtsprechung des EuGH  ........................................................ 247 a) Test Claimants in the FII Group Litigation 2006 und 2012  ...... 247 b) Metallgesellschaft/­Hoechst, Manninen, Meilicke I und II  ...... 249 c) Columbus Container Services  ................................................... 251 d) Haribo Lakritzen und Öster­reichische Salinen  ........................ 252

12

Inhaltsverzeichnis e) Kronos ....................................................................................... 254 3. Zusammenfassung und Stellungnahme  ............................................ 255 II. Grenzüberschreitende Verlustverrechnung  ........................................... 259 1. Überblick .......................................................................................... 259 a) Innerstaatliche Sachverhalte  ..................................................... 260 b) Grenzüberschreitende Sachverhalte  ......................................... 261 aa) Verlustverrechnung innerhalb eines Unternehmens  ........... 261 (1) DBA mit Anrechnungsmethode und kein DBA  ........ 262 (2) DBA mit Freistellungsmethode  ................................. 262 bb) Verlustverrechnung innerhalb eines Konzerns  ................... 263 cc) Problemaufriss .................................................................... 264 2. Die Rechtsprechung des EuGH  ........................................................ 265 a) Marks & Spencer  ....................................................................... 266 b) Lidl Belgium  .............................................................................. 268 c) Krankenheim Wannsee  ............................................................. 270 d) A Oy  ........................................................................................... 272 e) Nordea Bank  .............................................................................. 273 f) Kommission/ ­Vereinigtes Königreich  ....................................... 275 g) Timac Agro  ................................................................................ 276 h) Bevola ........................................................................................ 279 i) NN  .............................................................................................. 281 3. Stellungnahme und Meinungen der Literatur  ................................... 282 a) Beschränkung ............................................................................ 284 b) Vergleichbare Situation  ............................................................. 284 aa) Inländische und ausländische Betriebstätten  ...................... 285 bb) Betriebstätte und Tochtergesellschaft  ................................. 288 cc) Vergleichbare Situation nur bei finalen Verlusten gegeben  .............................................................................. 291 c) Rechtfertigungsgründe .............................................................. 291 aa) Einzelne Rechtfertigungsgründe  ........................................ 292 (1) Aufteilung der Besteuerungsbefugnis  ...................... 292 (2) Gefahr der doppelten Verlustberücksichtigung  ........ 294 (3) Gefahr der Steuerflucht  ............................................. 295 (4) Kohärenz des Steuersystems  ..................................... 296 bb) Verhältnis der Rechtfertigungsgründe  ................................ 296 d) Verhältnismäßigkeit .................................................................. 298 aa) Verfolgte Ziele  .................................................................... 298 bb) Was sind finale Verluste?  ................................................... 299 (1) Alle Möglichkeiten zur Verlustberücksichtigung ausgeschöpft  ............................................................... 300

Inhaltsverzeichnis

13

D.

(2) Keine Möglichkeiten zur Verlustberücksichtigung für künftige Zeiträume  .............................................. 302 (3) Nur Verluste, die im Finalitätsjahr entstanden sind  ... 305 cc) Nachversteuerung als weiteres milderes Mittel  ................. 306 4. Zusammenfassung ............................................................................ 309 Diskriminierungsverbot (Art. 24 OECD-MA)  .............................................. 312

E.

Grundsatz der Meistbegünstigung  ................................................................ 315

F. Missbrauchsabwehr  ........................................................................................ 317 I. Limitation-on-benefits-Klauseln  ........................................................... 319 1. Limitation-on-benefits-Klauseln als besondere Missbrauchsbekämpfungsvorschriften  .............................................................................. 319 2. Allgemeine Missbrauchsbekämpfungsvorschriften  ......................... 322 3. Innerstaatliche Vorschriften  .............................................................. 323 4. Ergebnis ............................................................................................ 327 II. Switch-over-Klauseln ............................................................................. 328 III. Aktivitätsklauseln .................................................................................. 330 IV. Subject-to-tax-Klauseln und Rückfallklauseln  ..................................... 333 V. DBA-Vorbehalte zugunsten nationaler Missbrauchsbekämpfungsvorschriften  ............................................................................................ 335 G. Zusammenfassung  ......................................................................................... 336 Kapitel 3

Einwirkungen der Richtlinien auf Doppelbesteuerungsabkommen  340

§ 7 Grundlagen zu Richtlinien  ....................................................................................... 341 A.

Verhältnis zwischen Richtlinien und Grundfreiheiten  ................................. 342

B.

Ordnungsgemäße Umsetzung einer Richtlinie  ............................................. 345

C.

I. Zuständigkeit und Zustandekommen von Richtlinien  .......................... 345 II. Tatbestandsmerkmale des Art. 115 AEUV  ............................................ 349 1. Rechtsangleichung als Ziel von Richtlinien  ..................................... 349 2. Vorschriften, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarkts auswirken  .................................... 350 Unmittelbare Wirkung und Anwendungsvorrang von Richtlinien  .............. 351 I. Unmittelbare Wirkung von Richtlinien  ................................................. 351 II. Anwendungsvorrang und Sperrwirkung von Richtlinien  ..................... 355

§ 8 Kollisionsauflösungen zwischen Transformationsgesetz und nationalem Steuerrecht  ......................................................................................................................... 356 A.

Grundlagen zur Kollision zwischen DBA und nationalen Vorschriften  ...... 357

B. Kollisionsauflösungsregeln  ........................................................................... 359 I. Allgemeine Kollisionsauflösungsregeln  ................................................ 360 II. Die Geltung von § 2 Abs. 1 AO  ............................................................. 362

14

Inhaltsverzeichnis

C.

1. Rechtscharakter des § 2 Abs. 1 AO  .................................................. 363 2. Stellungnahme .................................................................................. 367 Durchbrechung des DBA-Vorrangs mittels Treaty Override  ........................ 368

I. Überblick und Meinungsstand  ............................................................... 368 II. Stellungnahme ........................................................................................ 371 1. Ausdrückliche Kenntlichmachung im Gesetzestext?  ....................... 371 2. Kenntlichmachung in der Gesetzesbegründung?  ............................. 375 3. Wille des Gesetzgebers aus den Umständen des Einzelfalls  ............ 375 D. Ergebnis  .......................................................................................................... 376 § 9 Einwirkung von Richtlinien auf das Transformationsgesetz  ................................... 377 A.

Kollisionsauflösung zwischen Richtlinie und DBA  ..................................... 377 I.

B.

C.

Kollisionsauflösung bei umgesetzten Richtlinienbestimmungen  ........ 377 1. DBA wird nach Richtlinie abgeschlossen  ........................................ 378 2. Richtlinie wird nach DBA erlassen  .................................................. 379 3. Schlussfolgerung .............................................................................. 380 II. Kollisionsauflösung bei unmittelbarer Wirkung von Richtlinien  ........ 381 1. Richtlinie und DBA sind inhaltsgleich  ............................................. 382 2. Unmittelbare Wirkung und DBA kollidieren inhaltlich  ................... 382 Inhaltliche Kollisionen von konkreten Richtlinien und DBA-Bestimmungen  ........................................................................................................... 385 I. Richtlinie ist günstiger als DBA  ............................................................ 385 II. Richtlinienvorbehalte zugunsten günstigerer DBA  .............................. 388 III. Richtlinienverpflichtung strenger als DBA  ........................................... 390 Inhaltliche Kollisionen von umgesetzten Richtlinienbestimmungen und DBA (§ 8b)  ...................................................................................................... 390 I.

Umsetzung der Mutter-Tochter-Richtlinie in § 8b Abs. 1 KStG  ........... 391 1. Grundsatz: Steuerbefreiung gemäß § 8b Abs. 1 S. 1 KStG  .............. 392 2. Erste Ausnahme: § 8b Abs. 1 S. 2 KStG – materielles Korrespondenzprinzip  ....................................................................................... 393 3. Zweite Ausnahme: § 8b Abs. 1 S. 3 KStG  ....................................... 394 4. Verhältnis von § 8b Abs. 1 KStG und DBA  ..................................... 395 II. Beidseitiges und einseitiges Treaty Override  ........................................ 396 III. Rechtsfolge der Verdrängung der DBA  ................................................. 397

§ 10 Vermeidung von Kollisionen mittels konkludenter Änderung von DBA  ................ 398 I.

Konkludente Änderung aufgrund von Art. 288 Abs. 3 AEUV  ............ 399 1. Umsetzungsverpflichtung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV  ..................... 399 2. Abschluss des EG-Vertrags bzw. Beitritt zur EU  ............................. 400 II. Konkludente Änderung aufgrund von Art. 39 WÜRV  ......................... 403 III. Weitere Argumente gegen eine konkludente Änderung von DBA  ....... 405

Inhaltsverzeichnis

15

§ 11 Multilaterales Abkommen  ....................................................................................... 408 A.

Verfahren, Inkrafttreten und Wirksamwerden  ............................................. 409

B.

Anwendungsbereich, Änderung und Rücktritt  ............................................. 410

C.

Aufbau der materiellen Vorschriften  ............................................................. 411 I. BEPS-Maßnahmen  ................................................................................. 411 1. Aktionsplan 2: Hybride Gestaltungen  .............................................. 411 2. Aktionsplan 6: Verhinderung von Abkommensmissbrauch  ............. 412 3. Aktionsplan 7: Umgehung des Betriebstättenstatus  ......................... 413 II. Vereinbarkeitsklauseln ........................................................................... 413 1. DBA vor Inkrafttreten des multilateralen Instruments geschlossen  . 414 a) Allgemeine Vereinbarkeitsklausel  ............................................ 414 b) Spezielle Vereinbarkeitsklauseln  .............................................. 415 aa) Ausgestaltung der Vereinbarkeitsklauseln im MLI  ............ 415 bb) Auswirkung der Vereinbarkeitsklauseln auf DBA  ............. 416 2. DBA nach Inkrafttreten des multilateralen Instruments geschlossen  ..................................................................................................... 417 3. Verhältnis zu Drittstaaten  ................................................................. 418 III. Vorbehalte und alternative Regelungen  ................................................. 419 IV. Notifikationen ........................................................................................ 420 Kapitel 4



Zusammenfassung und Ausblick 422

§ 12 Zusammenfassung der Ergebnisse  .......................................................................... 422 § 13 Ausblick  .................................................................................................................. 431 Literaturverzeichnis  ..................................................................................................... 434 Sachverzeichnis  ............................................................................................................. 457

Einleitung Die grenzüberschreitende Betätigung innerhalb der Europäischen Union (im Folgenden: EU) gehört zu den wesentlichen Zielen des gemeinsamen Binnenmarkts. Dabei ist es nicht nur für Unternehmen von immenser Wichtigkeit, in anderen Staaten Tochtergesellschaften und Betriebstätten zu errichten sowie ausländische Märkte zu erschließen, sondern auch die grenzüberschreitende Verbringung von Sach- oder Geldkapital sowie die Tätigung von Direktinvestitionen in Form einer Beteiligung an einem Unternehmen mittels Anteilserwerbs ist ein wichtiger Bereich der wirtschaftlichen Betätigung. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist die Freiheit der Arbeitnehmer, einer Beschäftigung im Ausland nachzugehen. Die grenzüberschreitenden Tätigkeiten führen jedoch dazu, dass die beteiligten Staaten die jeweiligen Wirtschaftssubjekte nach ihrem jeweils nationalen Steuerrecht besteuern. Die betreffenden Steuervorschriften sind jedoch weder einheitlich ausgestaltet noch aufeinander abgestimmt. Das Zusammenwirken der verschiedenen nationalen Steuersysteme führt somit zwingendermaßen zu Konflikten und Lücken, welche durch die Globalisierung noch verschärft werden.1 So kann es Besteuerungslücken geben, wenn Einkünfte gänzlich unversteuert bleiben oder nur unangemessen niedrig besteuert werden (sog. weiße Einkünfte). Die Vermeidung dieser weißen Einkünfte soll in der vorliegenden Arbeit nur eine untergeordnete Rolle spielen. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt im Bereich der doppelten Besteuerung desselben Sachverhalts in zwei Staaten, welche infolge des Zusammenwirkens der nationalen Steuersysteme in der Regel entsteht. Da sich eine solche Doppelbesteuerung gesamtwirtschaftlich negativ auswirkt, schließen die Staaten zu ihrer Vermeidung Doppelbesteuerungsabkommen (im Folgenden: DBA) ab, die insbesondere die Besteuerungsbefugnisse der Vertragsstaaten untereinander aufteilen. Sind die beteiligten Staaten zugleich Mitgliedstaaten der EU, gilt für sie neben den bi- oder multilateralen DBA ebenfalls das Unionsrecht. Zwar sind die Mitgliedstaaten in der Besteuerung sowie im Abschluss von DBA souverän, dennoch müssen sie hierbei die Anforderungen insbesondere der Grundfreiheiten sowie der steuerrechtlichen Richtlinien beachten. Diese Arbeit widmet sich eben diesen Fallgestaltungen: In Kapitel 2 werden die Einwirkungen der Niederlassungs- sowie der Kapitalverkehrsfreiheit auf bestimmte DBA-Bestimmungen dargestellt, während in Kapitel 3 das Verhältnis von Richtlinien und DBA untersucht wird. 1 

OECD, Ausarbeitung eines multilateralen Instruments, S. 9.

18

Einleitung

Zuvor werden in Kapitel 1 die Grundlagen der DBA (§ 1), des unionsrechtlichen Primärrechts in Form der Grundfreiheiten (§ 2) sowie des unionsrechtlichen Sekundärrechts in Form der steuerrechtlichen Richtlinien (§ 3) dargestellt. Im Rahmen des Primärrechts wird besonderes Augenmerk auf das Verhältnis zwischen den Grundfreiheiten, insbesondere der Niederlassungs- und der Kapitalverkehrsfreiheit, gelegt (§ 2 C. II. 4.). Hierbei wird deutlich, dass vorrangig die Niederlassungsfreiheit anwendbar ist, während sich der sachliche Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit auf bestimmte Konstellationen beschränkt, in denen beispielsweise die zu prüfende nationale Norm explizit auf Kapitalvorgänge abstellt oder sie keine Kontrollbeteiligung zum Gegenstand hat. Anschließend wird das grundsätzliche Verhältnis der DBA zum Unionsrecht kurz erläutert (§ 4). Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt in der Untersuchung der konkreten Einwirkungen von Grundfreiheiten auf DBA. Hierfür wird vorab dargestellt, wann eine Diskriminierung bzw. Beschränkung vorliegt (§ 5 A.) und unter welchen Umständen die vom Europäischen Gerichtshof (im Folgenden: EuGH) entwickelten Rechtfertigungsgründe eingreifen können (§ 5 B.). Anhand von ausgewählten Beispielen der EuGH-Rechtsprechung werden die Einwirkungen der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV), der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 ff. AEUV) sowie der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 ff. AEUV) auf DBA-Bestimmungen im Bereich der direkten Steuern unter Einordnung in bestimmte Fallgruppen untersucht. Diese Fallgruppen umfassen dabei die wichtigsten Konstellationen, beanspruchen jedoch keine Vollständigkeit. Zunächst wird ein Blick auf die Abkommensberechtigung geworfen (§ 6 A.), welche beim Steuerpflichtigen stets bejaht werden muss, damit dieser die Abkommensvorteile des betreffenden DBA überhaupt in Anspruch nehmen kann. Eine wichtige Rolle spielen hierbei Betriebstätten (§ 6 A. II.) sowie Personengesellschaften (§ 6 A. III.). Als Beispiele aus dem Bereich der abkommensrechtlichen Verteilungsnormen werden die Steuervergünstigungen für beschränkt Steuerpflichtige (§ 6 B. I.) sowie die Entstrickungsbesteuerung (§ 6 B. II.) untersucht. Der EuGH geht hierbei sogar so weit, dass er in die Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse eingreift. Im Bereich der beschränkt Steuerpflichtigen verpflichtet er den Quellenstaat, dem beschränkt Steuerpflichtigen unter bestimmten Voraussetzungen dieselben Steuervergünstigungen zu gewähren wie den inländischen, unbeschränkt Steuerpflichtigen. Bei der Entstrickungsbesteuerung (§ 6 B. II.) durchbricht der EuGH die Aufteilung der Besteuerungszuständigkeit dadurch, dass er dem Wegzugsstaat die Besteuerung der vor dem Wegzug entstandenen stillen Reserven gewährt, obwohl das Besteuerungsrecht gemäß Art. 13 Abs. 5 des OECD-Musterabkommens (im Folgenden: OECD-MA) beim Zuzugsstaat liegt.

Einleitung

19

Zuletzt wirken die Grundfreiheiten ebenfalls auf die Methodenartikel der DBA ein. Es steht den Mitgliedstaaten zwar frei, ob sie sich für die Anwendung der Freistellungs- oder der Anrechnungsmethode entscheiden (§ 6 C. I.). Erforderlich ist aber, dass beide Methoden zum gleichen Ergebnis führen, was jedenfalls für nationale Vorschriften gilt. Die grenzüberschreitende Verlustverrechnung (§ 6 C. II.) stellt sich demgegenüber als wesentlich komplexer dar. Obwohl hierbei grundlegende Unterschiede zwischen der unternehmens- und der konzerninternen Verlustverrechnung bestehen, wendet der EuGH seine Grundsätze einheitlich auf beide Fallgruppen an. Die entscheidende Feststellung ist, dass der Ansässigkeitsstaat des Stammhauses bzw. der Muttergesellschaft verpflichtet wird, die ausländischen Verluste der Betriebstätte bzw. Tochtergesellschaft zu berücksichtigen, obwohl ihm das entsprechende Besteuerungsrecht nach dem DBA für die Gewinne nicht zusteht. Dies gilt jedoch nur für finale Verluste, bei denen im Quellenstaat keine Möglichkeit mehr zur Verrechnung besteht. Ergänzt werden diese Fallgruppen durch Regelungen zur Missbrauchs­ abwehr, auf die nur kurz ein Blick geworfen werden soll. Hierzu zählen das abkommensrechtliche Diskriminierungsverbot (§ 6 D.), welches parallel zum unionsrechtlichen Diskriminierungsverbot besteht, und der Grundsatz der Meistbegünstigung (§ 6 E.). Im Rahmen der Missbrauchsabwehr spielen zudem die Limitation-on-benefits-Klauseln (§ 6 F. I.) eine entscheidende Rolle, welche sowohl in den DBA als auch im nationalen Steuerrecht zu finden sind. Mittels dieser Klauseln soll vermieden werden, dass Steuerpflichtige die in den DBA enthaltenen Steuervergünstigungen missbräuchlich in Anspruch nehmen. Daneben dienen auch Switch-over-Klauseln (§ 6 F. II.), Aktivitätsklauseln (§ 6 F. III.) sowie Subject-to-tax-Klauseln (§ 6 F. IV.) der Vermeidung von missbräuchlichen Gestaltungen sowie der Verhinderung von weißen Einkünften. Abschließend wird ein Blick auf die Vorbehalte in den DBA zugunsten nationaler Missbrauchsbekämpfungsvorschriften (§ 6 F. V.) geworfen. Im dritten Kapitel, in welchem die Einwirkungen der Richtlinien auf DBA untersucht werden, soll näher beleuchtet werden, wie sich sowohl umgesetztes Richtlinienrecht als auch unmittelbar wirkende Richtlinienbestimmungen zu bereits transformiertem DBA-Recht verhalten. Nachdem zunächst die Grundlagen, insbesondere zur ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinien (§ 7 B.) sowie zur unmittelbaren Wirkung (§ 7 C.) dargestellt wurden, stehen die Regeln zur Kollisionsauflösung zwischen dem Transformationsgesetz und dem nationalen Steuerrecht unter besonderer Berücksichtigung des § 2 Abs. 1 AO (§ 8 B.) im Fokus. Hierbei liegt zudem ein besonderes Augenmerk auf der Durchbrechung des Vorrangs von DBA mittels Treaty Override (§ 8 C.). Im Anschluss hieran wird untersucht, in welchem Umfang die Kollisionsauflösungsregeln auf das Verhältnis zwischen Richtlinien und DBA übertragen werden können

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Einleitung

(§ 9 A.) und welche konkreten inhaltlichen Kollisionen in diesem Zusammenhang bestehen (§ 9 B.). Abschließend wird dies anhand des konkreten Beispiels der Umsetzung der Mutter-Tochter-Richtlinie in § 8b KStG (§ 9 C.) dargestellt. In diesem Zusammenhang wird untersucht, ob eine Kollision von Richtlinien und DBA bereits im Vorhinein vermieden werden könnte. In Betracht käme hierfür das Konstrukt, dass sich durch die Richtlinie oder deren Umsetzung in das innerstaatliche Recht gleichzeitig und inhaltsgleich das DBA konkludent ändert (§ 10). Eine solche konkludente Änderung hätte zur Folge, dass die Regelungen in den DBA automatisch an die Richtlinienbestimmungen angepasst würden, wodurch sich eine Kollision vermeiden ließe. Den Abschluss des dritten Kapitels bildet das multilaterale Abkommen, welches von der OECD auf der Grundlage des BEPS-Aktionsplans entwickelt wurde (§ 11). Nachdem das multilaterale Abkommen inhaltlich kurz dargestellt wurde, wird insbesondere dessen Verhältnis zu den bilateralen DBA untersucht. Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag dazu leisten, die EuGH-Rechtsprechung anhand einer klaren Struktur zu untersuchen und anhand dessen die unionsrechtlichen Vorgaben an die nationalen Vorschriften darzustellen.

Kapitel 1

Grundlagen § 1  Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung Zunächst soll ein kurzer Überblick über den Gegenstand der Doppelbesteuerung sowie ihrer Vermeidung gegeben werden. Als Grundlage dient in einem ersten Schritt ein Blick auf das Problem der Doppelbesteuerung (A.). In einem zweiten Schritt sollen insbesondere der Zweck und die Ziele von DBA als In­ strumente zur Vermeidung einer solchen Doppelbesteuerung dargestellt werden (B.). Dabei spielt nicht nur das OECD-MA eine besondere Rolle (C.), sondern auch der Umstand, auf welche Weise DBA abgeschlossen werden und wie sie ihre Geltungskraft im innerstaatlichen Recht erlangen (D.).

A.  Das Problem der Doppelbesteuerung Die Doppelbesteuerung ist das Grundproblem des Internationalen Steuerrechts1 und bildet den Ausgangspunkt für die Entwicklung besonderer Besteuerungsregeln für den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr.2 Der Begriff des Internationalen Steuerrechts ist dabei der Oberbegriff, dem die Unterbegriffe Außensteuerrecht, also das nationale Recht hinsichtlich grenzüberschreitender Sachverhalte, sowie Abkommensrecht, also das Recht der DBA, zuzuordnen sind.3

1  Der

Begriff des Internationalen Steuerrechts ist umstritten. Für die vorliegende Arbeit soll davon ausgegangen werden, dass das Internationale Steuerrecht die Rechtsvorschriften umfasst, die sich auf grenzüberschreitende Sachverhalte beziehen: Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 1.5. Rein nationale Sachverhalte scheiden damit aus dem Regelungsbereich des Internationalen Steuerrechts aus. Vgl. auch: Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung DBA Rn. 20: Anders als das Internationale Privatrecht sei das Internationale Steuerrecht kein Kollisionsrecht, das heißt es werde nicht erst das anzuwendende Sachrecht bestimmt, sondern jeder Staat wende sein Internationales Steuerrecht an, wie er aufgrund seiner Hoheitsgewalt auch anderes öffentliches Recht anwenden würde. 2  Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 1 Rn. 3. 3  Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 16.

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Kapitel 1:  Grundlagen

I.  Begriff der Doppelbesteuerung

Zunächst soll ein Überblick über den Begriff der Doppelbesteuerung verschafft werden, der rechtlich verschiedentlich definiert wird.4 Zum einen existiert der Begriff der internationalen juristischen (rechtlichen) Doppelbesteuerung.5 Darunter versteht man die Erhebung vergleichbarer Steuern6 in zwei (oder mehreren) Staaten von demselben Steuerpflichtigen für denselben Steuergegenstand7 und denselben Zeitraum.8 Dieser Begriff hat sich weltweit durchgesetzt.9 Neben der juristischen Doppelbesteuerung existiert der Begriff der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung, bei der im Gegensatz zur juristischen keine Steuersubjektidentität vorliegt.10 Die wirtschaftliche Doppelbesteuerung um4  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 1: In der Literatur werde unterschieden zwischen Doppelbesteuerung im engeren, weiteren und weitesten Sinne, zwischen formalen und materiellen, zwischen subjektiven und objektiven, zwischen eigentlichen und uneigentlichen, zwischen technischen und untechnischen, zwischen rechtlichen, juristischen und wirtschaftlichen, zwischen direkten und indirekten sowie zwischen horizontalen und vertikalen Doppelbesteuerungen. Vgl. auch: Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 15.1. 5  Der EuGH verwendet den synonymen Begriff der rechtlichen Doppelbesteuerung. Im deutschen Steuerrecht geht es beispielsweise in § 26 KStG, § 34c EStG um die Vermeidung der juristischen Doppelbesteuerung. 6  Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 1 Rn. 10: Im Rahmen des Merkmals der vergleichbaren Steuern komme es auf die Struktur der Steuer an, nicht auf die gleichartige Ausgestaltung, ob es sich also um eine Steuer auf das Einkommen, eine Vermögensteuer oder eine Verkehrsteuer handele. 7  Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 1 Rn. 8: Derselbe Steuergegenstand sei erfasst, wenn dieselbe Quelle der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen in mehr als einem Staat besteuert werde. Die rechtliche Doppelbesteuerung tangiere daher immer den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. 8  Einleitung Nr. 1 OECD-MK; Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 42; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 7; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 2; Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 2; Scheffler, Besteuerung von Unternehmen, Rn. 883. Frotscher meint, dass der Begriff der Doppelbesteuerung implizit eine Wertung dahingehend enthalte, dass die steuerliche Belastung auf Grund der doppelten Erfassung unangemessen hoch sei, wobei angemessen dabei jede Steuerbelastung sei, die dem Steuerniveau eines der beteiligten Staaten entspreche: Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 1 Rn. 5. Eine solche Wertung lasse sich allerdings objektiv nicht belegen, sodass auch eine lediglich geringe steuerliche Belastung vom Begriff der Doppelbesteuerung erfasst werde: Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 2. 9  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 7. 10  Haase, in: Haase, AStG/­ DBA, Einleitung MA Rn. 46; Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 3; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 9; Scheffler, Besteuerung von Unternehmen, Rn. 884. Im deutschen Steuerrecht

§ 1  Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung

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fasst nach überwiegendem Verständnis insbesondere die folgenden Bereiche:11 Erstens erfasst sie Fälle, in denen Einkünfte in einem Vertragsstaat dem wirtschaftlichen Eigentümer (z. B. Treugeber), im anderen Vertragsstaat dagegen dem rechtlichen Eigentümer (z. B. Treuhänder) zugerechnet werden. Zweitens umfasst sie Fälle, in denen ein Vertragsstaat Personengesellschaften als intransparent behandelt, während der andere Vertragsstaat diese als transparent behandelt.12 Drittens erfasst der Begriff der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung die in der Praxis sehr bedeutsame Besteuerung von Dividenden der ausschüttenden Körperschaft bei ihren Anteilseignern nach bereits erfolgter Besteuerung der Unternehmensgewinne bei dieser ausschüttenden Körperschaft. Viertens spielt die wirtschaftliche Doppelbesteuerung auch im Rahmen der unterschiedlichen Behandlung des Arbeitsgebers bzw. der Arbeitnehmer als Steuerschuldner der Lohnsteuer nach §§ 40, 40a oder 40b EStG eine Rolle.13 Die wirtschaftliche Doppelbesteuerung wird dann bedeutsam, wenn es darum geht, die Einwirkungen des Unionsrechts auf DBA zu untersuchen, da diese nur die juristische Doppelbesteuerung im Blick haben. Denn wie sich noch zeigen wird,14 kann die wirtschaftliche Doppelbesteuerung bereits einen Verstoß gegen das Unionsrecht darstellen. Der Begriff der effektiven Doppelbesteuerung15 spielt vorliegend keine entscheidende Rolle. Relevanz gewinnen demgegenüber die Fälle einer virtuellen Doppelbesteuerung und einer Nichtbesteuerung16. Eine solche Nichtbesteuerung liegt vor, wenn der eine Staat zwar besteuern kann, tatsächlich aber nicht besteuert, und der andere Staat aufgrund eines DBA zur Steuerfreistellung verpflichtet ist. In diesem Fall werden die Einkünfte in keinem der beiden Ver-

geht es beispielsweise in § 8b Abs. 1 KStG um die Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung. 11  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 9. 12  Siehe hierzu ausführlich § 6 A. III. 13  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 2. 14  Siehe dazu § 6. 15  Eine effektive Doppelbesteuerung liege vor, wenn der Steuerpflichtige in beiden Vertragsstaaten eine Steuerzahlungsverpflichtung tatsächlich erfülle, sodass es auch tatsächlich zu einer doppelten Besteuerung komme. Im Gegensatz dazu liege eine virtuelle Doppelbesteuerung vor, wenn eine Inanspruchnahme des Steuersubjekts zwar möglich sei, sie aber tatsächlich nicht erfolge. Siehe dazu: Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 4; Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 48; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 15.8. 16  Dass in der Literatur überwiegend von einer „doppelten“ Nichtbesteuerung gesprochen wird, ist sprachlich unglücklich, da eine auch „doppelte“ Nichtbesteuerung eine Nichtbesteuerung ist.

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Kapitel 1:  Grundlagen

tragsstaaten besteuert.17 Um eine derartige Nichtbesteuerung zu vermeiden, fügen die Vertragsstaaten häufig sog. Subject-to-tax-Klauseln bzw. Rückfallklauseln in die DBA ein, wodurch das Besteuerungsrecht an den jeweils anderen Staat zurückfällt.18 II.  Ursachen der juristischen Doppelbesteuerung19

Bei der juristischen Doppelbesteuerung geht es um grenzüberschreitende Sachverhalte, in denen sich der Steuerpflichtige durch eine Überschneidung der nationalen Steuersysteme dem Steuerzugriff mehrerer Staaten ausgesetzt sieht, dort also jeweils steuerpflichtig wird.20 Die Ursache der doppelten Steuerpflicht liegt im gleichzeitigen Nebeneinander von Steuerpflichten in mindestens zwei Staaten,21 nämlich darin, dass ein Sachverhalt vom Anwendungsbereich mindestens zweier verschiedener Normen umfasst wird.22 Der Grund für dieses Nebeneinander ist, dass fast alle Staaten die unbeschränkte und beschränkte Steuerpflicht kennen und sich somit zwangsläufig eine Doppelbesteuerungslage ergibt.23 Die Ursache der juristischen Doppelbesteuerung beruht somit regelmäßig darauf, dass der Steuerpflichtige bei einem grenzüberschreitenden Sachverhalt in einem Staat mit seinen weltweiten Einkünften unbeschränkt steuerpflichtig ist (Welteinkommens- bzw. Universalitätsprinzip), während er zugleich in dem Staat, aus dem die Einkünfte stammen (Quellenstaat), mit diesen Einkünften der beschränkten Steuerpflicht unterliegt (Territorialitäts- bzw. Quellenprinzip).24 Das Territorialitäts- bzw. Quellenprinzip bestimmt dabei, welche Sachverhalte der jeweilige Staat innerhalb seines eigenen Staatsgebiets besteuern kann. Die17  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 4; Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 48; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 15.8; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 69: Die Anrechnungsmethode setze hingegen vorbehaltlich der Möglichkeit fiktiver Anrechnung grundsätzlich voraus, dass im Nichtansässigkeitsstaat tatsächlich besteuert wurde. 18  Siehe dazu § 6 F. IV. Vgl. auch: Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 15.8; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 70 ff.; ders., IStR 2012, 389 (393). 19  Zu den Ursachen der wirtschaftlichen Besteuerung siehe bereits unter § 1 A. II. 20  Statt vieler: Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 15.2. Zur Abgrenzung der juristischen von der wirtschaftlichen Besteuerung siehe auch § 1 A. I. 21  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 16.3 ff.; Scheffler, Besteuerung von Unternehmen, Rn. 886 f. 22  BVerfG v. 29.1.1974 – 2 BvN 1/­ 69, BVerfGE 36, 342 (363); Schlücke, Die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in das deutsche Steuerrecht, S. 61. 23  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 7; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­ Ditz, DBA, Systematik Rn. 5; Brähler, Internationales Steuerrecht, S. 19. 24  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 5.

§ 1  Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung

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sen Grundsatz durchbricht das Welteinkommensprinzip. Es gibt den Staaten die zusätzliche Möglichkeit, die Besteuerung auch auf auslandsbezogene Sachverhalte auszuweiten. Voraussetzung für diesen Steuerzugriff ist jedoch, dass eine Beziehung zum Staatsgebiet besteht (sog. genuine link).25 Im deutschen Steuerrecht begründet sich dieser Anknüpfungspunkt bei natürlichen Personen durch den Wohnsitz, den gewöhnlichen Aufenthalt oder die Staatsangehörigkeit (§ 1 Abs. 1 S. 1 EStG) und bei Körperschaften durch den Sitz oder den Ort der Geschäftsleitung (§ 1 Abs. 1 KStG).26 Der Anknüpfungspunkt ist bei der unbeschränkten Steuerpflicht somit personenbezogen.27 Bei der beschränkten Steuerpflicht ist er hingegen objektbezogen, da die inländische Quelle der Einkünfte und somit der Ort der Einkünfteerzielung den erforderlichen genuine link herstellt.28 Die Staaten, die nach dem Welteinkommensprinzip besteuern, lösen somit die Gefahr einer Doppelbesteuerung erst aus, sodass es vor allem ihre Aufgabe ist, Maßnahmen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung zu ergreifen.29 Ein Nebeneinander von unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht ist der klassische Fall der juristischen Doppelbesteuerung und damit deren Haupt­ ursache.30 Liegt bei einer natürlichen Person weder deren Wohnsitz noch deren gewöhnlicher Aufenthalt im Inland, so ist sie gemäß § 1 Abs. 4 EStG beschränkt steuerpflichtig, sofern sie inländische Einkünfte im Sinne des § 49 EStG hat.31 Ein Nebeneinander von unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht liegt bei einer natürlichen Person beispielsweise dann vor, wenn diese ihren Wohnsitz in einem der betroffenen Staaten hat, während sie zugleich Einkünfte aus Quellen im anderen Staat erzielt, die dort der beschränkten Steuerpflicht unterliegen. Bei einer juristischen Person mit Sitz in Deutschland liegt ein Nebeneinander von unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht beispielsweise dann vor, wenn sie im Ausland Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung erzielt, 25  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 16.1; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 11. 26  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 11. 27  Lampert, in: Gosch, KStG, § 12 Rn. 2. 28 So ist beispielsweise eine Betriebstätte regelmäßig Anknüpfungspunkt der beschränkten Steuerpflicht im Tätigkeitsstaat. Diese Differenzierung liege auch der zwischenstaatlichen Aufteilung von Besteuerungsansprüchen durch DBA zugrunde: Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 11; Lampert, in: Gosch, KStG, § 12 Rn. 2. 29  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 5; Faust, in: Rupp/­K nies/­Ott/­Faust, Internationales Steuerrecht, S. 17. 30  Die Vermeidung der Doppelbesteuerung kann somit als Kehrseite der Besteuerung des Welteinkommens betrachtet werden: RegE, BT-Drs. 8/­3648, S. 19 ff. 31  Ein Nebeneinander von unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht liegt bei einer natürlichen Person beispielsweise dann vor, wenn diese ihren Wohnsitz in einem der betroffenen Staaten hat, während sie zugleich Einkünfte aus Quellen im anderen Staat erzielt, die dort der beschränkten Steuerpflicht unterliegen.

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Kapitel 1:  Grundlagen

die dort der beschränkten Steuerpflicht unterliegen. Die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung werden dann sowohl in Deutschland als auch im Ausland besteuert. Bei Personengesellschaften mit Sitz in Deutschland richten sich sowohl die unbeschränkte als auch die beschränkte Steuerpflicht aufgrund der steuerlichen Transparenz der Personengesellschaft nur nach den hinter der Gesellschaft stehenden Gesellschaftern.32 Weniger praktisch bedeutsam, aber nicht ausgeschlossen, ist der Fall der doppelt unbeschränkten Steuerpflicht bzw. doppelten Ansässigkeit.33 Bei einer natürlichen Person ist dies beispielsweise dann der Fall, wenn sie ihren Wohnsitz in einem Vertragsstaat, jedoch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Vertragsstaat hat. Sofern die beteiligten Rechtsordnungen diese Merkmale für die unbeschränkte Steuerpflicht voraussetzen, gilt die natürliche Person in zwei Staaten als unbeschränkt steuerpflichtig. Ein Beispiel hierfür ist ein Zusammenwirken mit dem österreichischen Rechtssystem, nach dessen § 1 Abs. 2 öEStG natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, unbeschränkt steuerpflichtig sind. Unter Umständen ist auch eine dreifache Besteuerung möglich, sofern die Person in einem weiteren Staat beschränkt steuerpflichtige Einkünfte erzielt. Bei juristischen Personen liegt eine doppelt unbeschränkte Steuerpflicht dann vor, wenn die beteiligten Rechtsordnungen zum einen den Satzungssitz und zum anderen den Ort der Geschäftsleitung als Merkmal für die unbeschränkte Steuerpflicht voraussetzen und beide Anknüpfungspunkte in verschiedenen Vertragsstaaten vorliegen. Hat beispielsweise eine GmbH mit Sitz in Deutschland ihren Ort der Geschäftsleitung nach Österreich verlegt, ist sie sowohl nach deutschem als auch nach österreichischem Recht (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 öKStG – Geschäftsleitung oder Sitz im Inland) unbeschränkt steuerpflichtig. In diesem Falle ist auch hier eine dreifache Besteuerung möglich, wenn die GmbH zusätzlich Einkünfte in einem dritten Staat erzielt, die dort der beschränkten Steuerpflicht unterliegen. Als dritter Fall kommt darüber hinaus eine Doppelbesteuerung aufgrund eines gleichzeitigen Nebeneinanders zweifacher, beschränkter Steuerpflicht in Betracht.34 Eine solche doppelte beschränkte Steuerpflicht liegt aus deutscher Sicht beispielsweise dann vor, wenn eine ausländische Gesellschaft in Deutsch32  Anders ist dies beispielsweise bei der belgischen C. V. (Kommanditgesellschaft). Siehe dazu näher unter § 6 A. III. 33  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 12b; Scheffler, Besteuerung von Unternehmen, Rn. 888 f., 926 ff. 34  Scheffler, Besteuerung von Unternehmen, Rn. 889; Potthof, Finanzierung ausländischer Unternehmenseinheiten, S. 29.

§ 1  Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung

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land eine Betriebstätte unterhält, über die sie Einkünfte (beispielsweise Dividenden, Zinsen oder Lizenzen) aus einem dritten Staat erzielt. Der dritte Staat erhebt aufgrund der dort bestehenden beschränkten Steuerpflicht auf diese Einkünfte eine Quellensteuer, während Deutschland diese Einkünfte der Betriebstätte zurechnet.35 Aufgrund der fehlenden Ansässigkeit in Deutschland ist die ausländische Gesellschaft mit ihren Betriebstätteneinkünften beschränkt steuerpflichtig (§§ 2 Nr. 1, 8 Abs. 1 KStG, § 49 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) EStG). In Betracht kommen ferner Fälle, in denen sich die jeweiligen nationalen Regeln zur Ermittlung der Bemessungsgrundlagen überschneiden oder die beteiligten Staaten den Besteuerungszeitpunkt unterschiedlich festlegen.36 III.  Kein ausdrückliches Verbot der juristischen Doppelbesteuerung

Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist es wichtig, zunächst festzustellen, dass ein generelles Verbot der Doppelbesteuerung nach heutigem Rechtsstand nicht besteht. So existiert weder ein völkerrechtliches37 noch ein unionsrechtliches38 Verbot der Doppelbesteuerung. Bezogen auf die unionsrechtlichen Regelungen wurde die bis zum 30.11.2009 in Art. 293 Spiegelstrich 2 EGV enthaltene Aufforderung bzw. Verpflichtung zur Beseitigung der Doppelbesteuerung nicht in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (im Folgenden: AEUV) übernommen. Etwas Anderes lässt sich auch nicht aus Art. 26 Abs. 1 AEUV herleiten. Denn danach sind die Mitgliedstaaten nur verpflichtet, untereinander Verhandlungen zur Beseitigung der Doppelbesteuerung aufzunehmen und 35 

Schreiber, Besteuerung der Unternehmen, S. 386. Scheffler, Besteuerung von Unternehmen, Rn. 890 f. Möglich sei auch die Situation, dass der Steuerpflichtige in keinem der beteiligten Staaten als ansässig gelte, sodass in beiden Staaten nur das Quellen- bzw. Territorialitätsprinzip zur Anwendung komme, der Steuerpflichtige aber die Anknüpfungskriterien jeweils nicht erfülle, sodass es zu einer Nichtbesteuerung komme: Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 39. 37  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 13; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 17.3: Insbesondere habe sich bislang auch kein Völkergewohnheitsrecht entwickelt, aufgrund dessen eine übereinstimmende Rechtsüberzeugung festgestellt werden könnte, dass eine Doppelbesteuerung vermieden werden müsste. 38  Vgl. EuGH v. 15.4.2010, C-96/­08 – CIBA, Slg. 2010, I-2911 Rn. 27 ff.; v. 16.7.2009, C-128/­08  – Damseaux, Slg. 2009, I-6823 Rn. 26 ff.; v. 12.2.2009, C-67/­ 08 – Block, Slg. 2009, I-883 Rn. 30 f.; Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot v. 9.7.2009, C182/­ 08 Rn. 58 ff.; Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.7.2017, C292/­16 Rn. 48: „Wenn aber eine Doppelbesteuerung keine Frage des Unionsrechts und damit der Grundfreiheiten ist, dann kann im Umkehrschluss auch eine Vermeidung einer Doppelbesteuerung keinen Einfluss auf die Rechtfertigung der Beschränkung einer Grundfreiheit haben.“ 36 

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Kapitel 1:  Grundlagen

DBA abzuschließen.39 Eine juristische Doppelbesteuerung an sich ist daher insbesondere mit den Grundfreiheiten vereinbar.40 Dem Fehlen einer ausdrücklichen Verbotsnorm steht jedoch das Bedürfnis nach der Vermeidung einer Doppelbesteuerung gegenüber, sodass eine solche Vermeidung in Einzelfällen erforderlich ist.41 Hier greifen verschiedene Rechtsgrundsätze, welche eine Doppelbesteuerung vermeiden sollen. Erstens begrenzt das aus dem völkerrechtlichen Gebot internationaler Rücksichtnahme folgende Territorialitätsprinzip (genuine link) den Besteuerungszugriff eines Staates,42 sodass eine Besteuerung nur bei Sachverhalten möglich ist, die einen solchen genuine link zum besteuernden Staat aufweisen.43 In sachlicher Hinsicht genügt es, wenn zumindest Teile des Sachverhalts oder der Gegenstand der Handlung einen genuine link aufweisen.44 Zweitens findet eine Doppelbesteuerung im Einzelfall seine Grenzen im Unionsrecht, auch wenn dieses kein generelles Verbot der Doppelbesteuerung ausspricht. So entspricht es mittlerweile ständiger Rechtsprechung des EuGH, dass zumindest eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung gegen Unionsrecht ver-

39  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­ Ditz, DBA, Systematik Rn. 7: Ein Doppelbesteuerungsverbot ergebe sich auch nicht aus der Verpflichtung zur Vermeidung der dadurch entstehenden Wettbewerbsbeeinträchtigungen. Die Doppelbesteuerung sei insoweit wettbewerbsbeeinträchtigend, als sie ausländische Wettbewerber auf dem Inlandsmarkt (Kapitalimporteure) und inländische Wettbewerber auf dem Auslandsmarkt (Kapitalexporteure) benachteilige. 40 EuGH v. 12.5.1998, C-336/­ 96 – Gilly, Slg. 1998, I-2793 Rn. 30; v. 14.11.2006, C-513/­04  – Kerckhaert und Morres, Slg. 2006, I-10967; v. 12.12.2006, C-374/­04 – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation, Slg. 2006, I-11673; v. 13.3.2007, C-524/­04  – Test Claimant in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107; v. 6.12.2007, C-298/­ 05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451. Vgl. auch: Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 119 f. 41  Diese Erwägungen finden sich auch in der Einleitung Nr. 1 OECD-MK: „Ihre [der Doppelbesteuerung] nachteiligen Folgen für den Waren-, Dienstleistungs-, Kapital-, Technologie- und Personenverkehr sind zu bekannt, als dass auf die Bedeutung hingewiesen werden müsste, die der Beseitigung der Hindernisse zukommt, welche sich aus der Doppelbesteuerung für die Ausweitung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Staaten ergeben.“ 42  Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 11; Takacs, Das Steuerrecht der EU, S. 491; Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 1 Rn. 30; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 8; BFH v. 16.12.1964 – II 154/­61 U, BStBl. III 1965, S. 134; v. 18.12.1963 – I 230/­61 S, BStBl. III 1964, S. 253. 43  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 8. 44  Takacs, Das Steuerrecht der EU, S. 491.

§ 1  Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung

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stößt, wenn die Mitgliedstaaten in- und ausländische Steuerpflichtige ungleich behandeln.45 Drittens schränkt auch das deutsche Rechtssystem die Doppelbesteuerung ein. Obwohl dieses kein ausdrückliches Verbot einer Doppelbesteuerung kennt, besteht eine verfassungsrechtliche Pflicht, eine Doppelbesteuerung durch unilaterale Maßnahmen, ergänzt durch ein Bemühen um bilaterale Maßnahmen, zu vermeiden.46 Diese Pflicht des Staates ist zwingend und folgt aus Art. 3 Abs. 1 GG, der das Gebot der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (sog. Leistungsfähigkeitsprinzip) statuiert.47 Diese Vorgaben determinieren und begrenzen die nationale Steuersouveränität hinsichtlich der Besteuerung von Auslandssachverhalten.48 Eine (auch wirtschaftliche) Doppelbesteuerung würde diesem Gebot widersprechen. Ob das Leistungsfähigkeitsprinzip neben dem deutschen auch für das internationale Steuerrecht gilt, ist umstritten.49 Jedenfalls berücksichtigen die Mitgliedstaaten die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen dahingehend, dass sie bereits im Ausland entrichtete Steuern auf die nationale Steuer anrechnen oder ausländische Einkünfte von der eigenen Besteuerung freistellen, um eine Doppelbesteuerung zu vermeiden.

45 Vgl.

grundlegend: EuGH v. 7.9.2004, C-319/­ 02 – Manninen, Slg. 2004, I-7477 Rn. 20 f.; zuletzt: EuGH v. 10.2.2011, C-437/­08 und 438/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, EuZW 2011, 728 Rn. 59 ff. Für die juristische Doppelbesteuerung habe der EuGH dies bislang noch nicht festgestellt: Lehner, FR 2011, 1087 (1090). 46  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 20. 47 St. Rspr. des Bundesverfassungsgerichts: BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/­ 78, BVerfGE 61, 319 (343); v. 22.2.1981 – 1 BvL 10/­80, BVerfGE 66, 214 (223); v. 28.11.1984 – 1 BvR 1157/­82, BVerfGE 68, 287. Das Leistungsfähigkeitsprinzip besagt, dass jeder Steuerpflichtige nach Maßgabe seiner individuellen ökonomischen Leistungsfähigkeit zur Besteuerung herangezogen werden soll. Vgl. auch: Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 20; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 10: Es handele sich nicht lediglich um eine im Ermessen des Staates stehende Zweckmäßigkeitserwägung. 48  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 20. 49  Dies bejahend: Kirchhof, BB 2017, 662; Elicker, DStZ 2011, 162 (168): Der Gleichheitssatz sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit konstituierten auch für die europäische Ebene einen verfassungsfesten Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Kritisch: Pohl, in: Blümich, AStG, § 1 Rn. 11 ff. mwN: Dem herkömmlichen Verständnis von Leistungsfähigkeit und dem Verfassungsgebot der Folgerichtigkeit könnten keine klaren Aussagen für die Besteuerung ausländischen Einkommens entnommen werden. Vielmehr finde oftmals eine unterschiedliche Behandlung von „in- und ausländischer Leistungsfähigkeit“ statt.

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Kapitel 1:  Grundlagen

B.  Historie, Zweck und Ziele von Doppelbesteuerungsabkommen Zur Vermeidung der Doppelbesteuerung kommen neben den bilateralen Maßnahmen in Form der DBA auch multilaterale DBA50 sowie supranationale51 und unilaterale52 Maßnahmen in Betracht. Mit Ausnahme des von der OECD am 24.11.2016 veröffentlichten multilateralen Instruments zur Anpassung von DBA („Multilateral Convention to Implement Tax Treaty Related Measures to Prevent Base Erosion and Profit Shifting“; im Folgenden: MLI)53 spielen als Maßnahmen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung in der vorliegenden Arbeit nur DBA eine Rolle, sodass auf die anderen Maßnahmen nicht weiter eingegangen wird. Das erste DBA überhaupt wurde am 16.4.1869 zwischen Preußen und Sachsen54 abgeschlossen. Zum eigentlichen Aufbau eines umfassenden DBA-Netzes kam es in Deutschland erst nach dem 1. Weltkrieg im Zuge der weltwirtschaftlichen Verflechtung der deutschen Wirtschaft.55 Seitdem wird das Netz der DBA weltweit immer weiter ausgebaut, insbesondere auf dem Gebiet der Besteuerung des Einkommens und Vermögens.56 Da dieses weltweite Netz aber noch 50  Multilaterale DBA werden in der Regel regional abgeschlossen. Eine Übersicht findet sich beispielsweise in Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 40a. Deutschland ist an multilateralen DBA nicht beteiligt. Teilweise werden mehrseitigeVerträge mit einer überschaubaren Zahl von Parteien auch als plurilateral bezeichnet: von Arnauld, Völkerrecht, § 3 Rn. 193. 51  Beispiele sind die Fusionsrichtlinie, die Mutter-Tochter-Richtlinie, die Zinsrichtlinie sowie die Zins- und Lizenzrichtlinie. Siehe dazu § 7. 52  Unilaterale Maßnahmen seien die im nationalen Steuerrecht eines Staates enthaltenen Regelungen zur Beseitigung der internationalen Doppelbesteuerung im Wege des völligen oder teilweisen Steuerverzichts unabhängig vom Vorgehen des anderen Staates: Faust, in: Rupp/­K nies/­Ott/­Faust, Internationales Steuerrecht, S. 18; Brähler, Internationales Steuerrecht, S. 21. Beispiele sind die Anrechnung der ausländischen Steuern nach § 34c EStG, die Berücksichtigung des Progressionsvorbehalts nach § 32b Abs. 1 Nr. 3 bis 5 EStG sowie die Anrechnung der ausländischen Steuer bei Körperschaften nach § 26 Abs. 1 KStG. Im deutschen Steuerrecht findet bei den Personensteuern im Regelfall die Anrechnungsmethode Anwendung: Scheffler, Besteuerung von Unternehmen Rn. 913. 53  (Stand: Juli 2019). Siehe dazu § 11. 54 Übereinkunft zwischen Preußen und Sachsen wegen Beseitigung der doppelten Besteuerung der beiderseitigen Staats-Angehörigen vom 16.4.1869 (No. 64. Sitzungsperiode 1869–70 des Preußischen Abgeordnetenhauses). Der Textabdruck findet sich auf der Umschlagseite III des IStR-Heftes 24/­2006. 55  Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 32; ausführlich dazu: Wasser­ meyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 71 ff. 56  Deutschland verfügt derzeit über insgesamt 96 DBA auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und Vermögen. Weitere DBA befinden sich in Planung oder in – häufig langwieriger – Neuverhandlung: Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 5 Rn. 563. Daneben gibt es DBA für Steuern von Erbschaften, Schenkungen sowie

§ 1  Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung

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nicht vollständig ist, sind die unilateralen Maßnahmen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung weiterhin unverzichtbar.57 Dies gilt insbesondere auch für die Fälle, in denen DBA die Doppelbesteuerung nicht vollkommen beseitigen. DBA sind rechtsquellenmäßig dem Völkerrecht und dort speziell dem Vertragsrecht zuzuordnen.58 Sie sind somit völkerrechtliche Verträge59, die primär der Vermeidung der internationalen Doppelbesteuerung dienen.60 Ob sie daneben auch eine Nichtbesteuerung vermeiden sollen, ist umstritten.61 DBA haben jedenfalls die sekundäre Aufgabe, die Besteuerungsrechte so zu ordnen, dass jeder Vertragsstaat gleichmäßig und angemessen an der Besteuerung des wirtschaftlichen Ergebnisses beteiligt wird.62 Da völkerrechtliche Verträge nicht nur

Nachlässen. Eine aktuelle Übersicht über die bestehenden DBA findet sich im Schreiben des BMF v. 17.1.2019, IV B 2 – S 1301/­07/­10017-10. 57  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 17.40. 58  Drüen, in: Tipke/­K ruse, § 2 AO Rn. 27; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 19.19; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 63; Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 9; Scheffler, Besteuerung von Unternehmen, Rn. 914. Strukturtypisch sind DBA völkerrechtliche Verträge und zählen zu den Völkerrechtsnormen nach Art. 38 Abs. 1 lit. a) IGH-Statut (Statut des Internationalen Gerichtshofs v. 26.6.1945, BGBl. II 1973, S. 505). 59 Ein völkerrechtlicher Vertrag bestehe dabei aus aufeinander bezogenen, sich deckenden Willenserklärungen zwischen mindestens zwei Völkerrechtssubjekten, gerichtet auf die Begründung, Abänderung oder Aufhebung bestimmter völkerrechtlicher Beziehungen: Vitzthum, in: Vitzthum/­Proelß, Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 115; Stein/­von Buttlar/­Kotzur, Völkerrecht, § 4 Rn. 27; Verdross/­Simma, Universelles Völkerrecht, § 534. 60  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­ Ditz, DBA, Systematik Rn. 10; Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 56; Kluge, Das Internationale Steuerrecht, Rn. 1; Art. 1 Nr. 7 OECD-MK: DBA sollen hauptsächlich durch Vermeidung der internationalen Doppelbesteuerung den Austausch von Gütern und Dienstleistungen sowie den Kapital- und Personenverkehr fördern. Sie sollen aber auch die Steuerumgehung oder -hinterziehung verhindern. 61 Dies bejahend: Drüen, in: Tipke/­ K ruse, § 2 AO Rn. 27a; Benz/­Kroon, IStR 2012, 910; Wichmann, FR 2011, 1082; Müller-Gatermann, FR 2012, 1032 (1033); a. A.: Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 13; Lang, IStR 2002, 609 (613); Lehner, FR 2011, 1087 (1091); Lüdicke, FR 2011, 1077 (1078). Auch die Deutsche Verhandlungsgrundlage zielt in ihrer Präambel eindeutig auf die Vermeidung der Nichtbesteuerung ab: „[…] in der Absicht, die jeweiligen Besteuerungsrechte gegenseitig so abzugrenzen, dass sowohl Doppelbesteuerungen wie auch Nichtbesteuerungen vermieden werden […]“. 62  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 11; Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 5 Rn. 326: Über die Frage, was eine angemessene Beteiligung des jeweiligen Ansässigkeits- bzw. Quellenstaates sei, bestünden unterschiedliche Sichtweisen zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern.

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Kapitel 1:  Grundlagen

dem Recht eines der Vertragspartner unterstellt sind,63 verpflichten sich die Vertragsstaaten eines DBA gegenseitig, soweit keine Steuern zu erheben, wie das Abkommen dem anderen Vertragsstaat das Recht zur Besteuerung zuweist.64 Sie enthalten damit wechselseitige Verzichte der Vertragsstaaten auf ihre innerstaatlich eigentlich bestehenden Besteuerungsrechte.65 DBA setzen also abkommensrechtliche Schranken anhand eines Systems von Verteilungs- und Verzichtsnormen (Artt. 6 bis 22 OECD-MA).66 Im Gegensatz zu den unilateralen Maßnahmen bewirken DBA damit, dass entweder Doppelbesteuerungslagen rechtlich erst gar nicht auftreten können oder im Fall einer Doppelbesteuerung Methoden zur Verfügung gestellt werden, die nach innerstaatlichem Recht nicht vorgesehen sind.67 Diese Methoden sind hierbei die Anrechnungs- sowie die Freistellungsmethode, wobei aus deutscher Sicht beide Methoden Anwendung finden.68 DBA können mangels rechtlicher Grundlage keinem Staat ein Besteuerungsrecht zuweisen oder originär begründen, das er ohne das DBA nicht hätte.69 Weder eine völker- noch eine verfassungsrechtliche Vorschrift verbietet aber die Erweiterung der Steuerpflichten durch DBA.70 Insbesondere sollen DBA nicht gewährleisten, dass die Steuern, die von dem Steuerpflichtigen in dem einen 63  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 17.3. Das formelle Recht für völkerrechtliche Verträge, und damit auch für DBA, beurteilt sich nach dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WÜRV) v. 23.5.1969 (BGBl. II 1985, S. 926), das für die Bundesrepublik Deutschland am 20.8.1987 in Kraft getreten ist (BGBl. II 1987, S. 757). 64  DBA wirken auch dann, wenn einer der Vertragsstaaten von dem ihm vorbehaltenen Recht zur Besteuerung keinen Gebrauch macht. Die dadurch ggf. eintretende Nichtbesteuerung solle insbesondere durch Treaty Overrides verhindert werden: Schönfeld/­ Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 13; siehe dazu § 8 C. 65  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­ Ditz, DBA, Systematik Rn. 22; Brähler, Internationales Steuerrecht, S. 21; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 64; BFH v. 28.6.1972 – I R 35/­70, BStBl. II 1972, S. 789. 66  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 19.32; Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 68; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 22; Faust, in: Rupp/­K nies/­Ott/­Faust, Internationales Steuerrecht, S. 243; BFH v. 5.2.1965 – VI 334/­63 U, BStBl. III 1965, S. 352. 67  Faust, in: Rupp/­K nies/­O tt/­Faust, Internationales Steuerrecht, S. 179. Während die kollisions- bzw. konfliktbegründenden Normen Bestandteil des innerstaatlichen Rechts sind, erfolgt die Kollisionsauflösung auf der Ebene des Abkommensrechts. 68  Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 53; Scheffler, Besteuerung von Unternehmen, Rn. 918; Siehe dazu § 6 C. I. 69  Vogel, IStR 2003, 523 (524); Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­ Ditz, DBA, Systematik Rn. 22; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 65; Haase, in: Haase, AStG/­ DBA, Einleitung MA Rn. 68; Scheffler, Besteuerung von Unternehmen, Rn. 914. 70  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 1 Rn. 10.

§ 1  Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung

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Staat erhoben werden, nicht höher sind als diejenigen, die von ihm in dem anderen Staat erhoben werden.71 In der Praxis dienen die Abkommen allerdings in der Regel der Beschränkung von Steuerpflichten.72 Der Vertragscharakter der DBA bietet insbesondere den Vorteil, dass kein Staat einseitig auf Besteuerungsrechte verzichtet, sondern als Gegenleistung für eigene steuerliche Beschränkungen Verzichtsnormen beim Vertragspartner aushandeln kann.73 Damit können durch DBA die einzelnen Methoden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung sowie deren Umfang an den steuerlichen und wirtschaftlichen Belangen der Vertragsstaaten ausgerichtet werden. An diese Aufteilung haben sich die Vertragsstaaten vor dem Hintergrund des Grundsatzes pacta sunt servanda zu halten.74 Wie bereits erwähnt, kann es in Bezug zum nationalen Recht jedoch vorkommen, dass ein Staat zur Reaktion auf geänderte Anforderungen im nationalen Steuerrecht kurzfristige und punktuelle Steuernormen schafft, ändert oder aufhebt, die teilweise ausdrücklich im Widerspruch zu DBA stehen (sog. Treaty Override).75 Der Vertragsstaat verletzt damit einseitig die in einem DBA getroffenen Vereinbarungen und ordnet eine vom DBA abweichende Beanspruchung des Besteuerungsrechts an.76 In diesen Fällen versagt insbesondere die Schrankenwirkung von DBA.77 Im Rahmen der Rechtfertigung von nationalen Maßnahmen kann sich der Mitgliedstaat nicht auf seine auf völkerrechtlicher Ebene eingegangene Verpflichtung berufen, um im nationalen Steuerrecht Regelungen zu schaffen, die er ohne das DBA aufgrund der Bindungen durch das Unionsrecht nicht erlassen dürfte.78

C.  Das OECD-Musterabkommen79 Obwohl die DBA zwischen den Staaten gesondert verhandelt werden, orientieren sich die Mitgliedstaaten der OECD bei diesen Verhandlungen über den 71 

EuGH v. 12.5.1998, C-336/­96 – Gilly, Slg. 1998, I-2823 Rn. 46. Takacs, Das Steuerrecht der EU, S. 492. 73  BFH v. 19.5.1993 – I R 80/­92, BStBl. II 1993, S. 656. 74  Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 5 Rn. 572. 75  Lüdicke, Überlegungen zur deutschen DBA-Politik, S. 33; Siehe dazu § 8 C. 76  Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 5 Rn. 571. 77  Brähler, Internationales Steuerrecht, S. 107: Die durch ein DBA geschaffenen Beschränkungen der Besteuerungskompetenzen würden dadurch ausgehöhlt und die Funktion eines DBA konterkariert. 78  Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.155. 79 OECD-Musterabkommen zur Vermeidung von Doppelbesteuerung des Einkommens und des Vermögens. Bereits ab 1921 entwickelte der Völkerbund erste Gutachten 72 

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Kapitel 1:  Grundlagen

konkreten Inhalt eines DBA an dem OECD-MA80 und dem dazu ergangenen Muster-Kommentar (im Folgenden: OECD-MK) .81 Viele der weltweit abgeschlossenen DBA ähneln sich somit.82 Auch der EuGH erkennt die Geltung des OECD-MA ausdrücklich an.83 Da auch die DBA aus deutscher Sicht überwiegend auf dem OECD-MA beruhen, wird dieses in der vorliegenden Arbeit beispielhaft zugrunde gelegt. Im konkreten Einzelfall ist jedoch in erster Linie das betreffende DBA zu berücksichtigen. Das OECD-MA hat zum Ziel, bilaterale Abkommen der Mitgliedstaaten zu harmonisieren, indem es einheitliche Begriffe und Grundsätze verwendet sowie auf eine einheitliche Systematik und Auslegung bei Abschluss und Anwendung von DBA zurückgreift.84 Das OECD-MA selbst ist kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern lediglich eine Empfehlung des Rats der OECD an deren derzeit 36 Mitgliedstaaten.85 Gemäß den OECD-Verfahrensvorschriften ist eine Empfehlung aber eine politische Verpflichtung eines Staates, dieser im Rahmen der Umsetzung der innerstaatlichen Politik zu folgen.86 Es besteht somit eine Art sowie Abkommensmuster. Hieran knüpfte die OECD an, die im Jahr 1963 das vollständige Musterabkommen sowie den Musterkommentar vorlegte. Die aktuelle Version ist aus dem Jahr 2014. Eine detaillierte Darstellung zur Entstehung findet sich in Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 33 ff. 80  Auch andere internationale Organisationen sowie Staaten haben Musterabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung entwickelt, beispielsweise das Musterabkommen der UNO (sog. UN-Modell), das Musterabkommen der sog. Andengruppe (sog. Anden-­ Modell) oder das weitgehend auf dem OECD-MA basierende US-Musterabkommen. 81  Faust, in: Rupp/­K nies/­O tt/­Faust, Internationales Steuerrecht, S. 242. 82  Das OECD-MA ist im Jahr 2019 Basis für weltweit mehr als 3.000 DBA. Zwar hat die Bundesrepublik Deutschland eine eigene Verhandlungsgrundlage für Doppelbesteuerungsabkommen (Verhandlungsgrundlage für Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen, BMF v. 19.4.2013, IV B 2 – S 1301/­10/­10022-32), diese enthält im Vergleich zum OECD-MA jedoch nur geringfügige Änderungen. Eine Gegenüberstellung findet sich in der IFSt-Schrift Nr. 492, S. 171 ff. 83  So jedenfalls zum Zweck der Aufteilung der Steuerhoheit zwischen den Mitgliedstaaten. Vgl. EuGH v. 12.5.1998, C-336/­96 – Gilly, Slg. 1998, I-2793 Rn. 30; v. 23.2.2006, C513/­03  – van Hilten-van der Heijden, Slg. 2006, I-1957 Rn. 48; v. 7.9.2006, C470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 45. 84  Brähler, Internationales Steuerrecht, S. 97. 85  Das OECD-MA stellt eine Empfehlung im Sinne des Art. 5 lit. b) OECD-Statut dar, welches den Mitgliedstaaten gemäß Art. 18 lit. c) OECD-Verfahrensordnung zum Zwecke der Durchführung vorgelegt wird. Vgl. auch: Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 27; Scheffler, Besteuerung von Unternehmen, Rn. 915. 86  Ault, DStJG 36 (2013), 115; Faust, in: Rupp/­K nies/­O tt/­Faust, Internationales Steuerrecht, S. 184; Lehner, FR 2011, 1087 (1090): Das OECD-MA und der OECD-MK seien immerhin Empfehlungen des Rates der OECD, die jedenfalls eine „abgeschwächte Verpflichtung“ der Mitgliedstaaten begründeten.

§ 1  Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung

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faktischer Gruppenzwang.87 Die Vertragspartner weichen daher nur in den Bereichen vom OECD-MA ab, in denen sie ihre speziellen wirtschaftspolitischen und rechtlichen Bedürfnisse berücksichtigen wollen.88 Der bereits oben erwähnte gegenseitige Steuerverzicht wird dadurch gewährleistet, dass die Besteuerung mittels Verteilungsnormen im jeweiligen Mitgliedstaat umgrenzt wird (Artt. 6 bis 22 OECD-MA). Die Verteilungsnormen sehen dabei entweder eine abschließende oder eine offene Rechtsfolge vor. Enthält die DBA-Bestimmung die Formulierung „können nur in […] besteuert werden“89 (so beispielsweise in Art. 7 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 OECD-MA), muss der andere Vertragsstaat die Einkünfte freistellen, sodass die Verteilungsnorm selbst ihre Rechtsfolge beinhaltet (sog. Verteilungsnorm mit abschließender Rechtsfolge).90 Grundsätzlich steht in diesen Fällen dem Ansässigkeitsstaat die Besteuerungsbefugnis zu, sodass der andere Vertragsstaat die Einkünfte freizustellen hat.91 Enthält die Verteilungsnorm hingegen die Formulierung „können in […] besteuert werden“92 (so beispielsweise in Art. 7 Abs. 1 S. 2 OECD-MA), liegt die Besteuerungsbefugnis stets beim Quellenstaat. Die Rechtsfolge im Ansässigkeitsstaat bleibt hingegen offen (sog. Verteilungsnorm mit offener Rechtsfolge), sodass sich die Vermeidung der Doppelbesteuerung – je nach anwendbarem DBA – erst aus dem Methodenartikel (Art. 23A/­B OECD-MA) ergibt.93 Als Rechtsfolge sieht das DBA somit entweder die Freistellungs- (Art. 23A OECDMA) oder die Anrechnungsmethode (Art. 23B OECD-MA) vor.

87 So:

Ault, DStJG 36 (2013), 115. Brähler, Internationales Steuerrecht, S. 96. 89  In der englischen Fassung: „shall be taxable only“; in der französischen Fassung: „ne sont imposables que dans“. 90  Dürrschmidt, in: Vogel/­Lehner, DBA, Vor Art. 6 bis 22 Rn. 4; Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 82. 91  Dürrschmidt, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Vor Art. 6 bis 22 Rn. 4 mit einer Aufzählung von Ausnahmen hierzu, in denen die vorrangige Besteuerungszuständigkeit dem Nichtansässigkeitsstaat als Quellenstaat zugewiesen wird. 92  In der englischen Fassung: „may be taxed“; in der französischen Fassung: „sont imposables dans“. 93  Dürrschmidt, in: Vogel/­Lehner, DBA, Vor Art. 6 bis 22 Rn. 6. 88 

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Kapitel 1:  Grundlagen

D.  Umsetzung der Doppelbesteuerungsabkommen in das innerstaatliche Recht und deren innerstaatlicher Rang I.  Transformation von Doppelbesteuerungsabkommen in das nationale Recht in Deutschland

Das Entstehen von DBA als völkerrechtliche Verträge richtet sich sowohl nach dem jeweiligen innerstaatlichen Recht als auch nach dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (im Folgenden: WÜRV). DBA werden dabei in einem mehrstufigen Verfahren vom Abschluss der Vertragsverhandlungen über das parlamentarische Verfahren bis hin zur Ratifikation durch den Bundespräsidenten und zum abschließenden Austausch der Ratifikationsurkunden abgeschlossen.94 Das DBA als solches entsteht bereits mit der Unterzeichnung der entsprechenden Verträge, es tritt jedoch in der Regel erst mit Austausch der Ratifikationsurkunden in Kraft. Darüber hinaus entfaltet es seine Bindungswirkung nur zwischen den beteiligten Vertragspartnern. Für eine umfassende Geltung gegenüber dem Steuerpflichtigen ist im deutschen Recht die Transformation in innerstaatliches Recht erforderlich.95 Erst dadurch wird der einzelne Steuerpflichtige berechtigt und verpflichtet.96 Dies geschieht über ein Zustimmungs- bzw. Vertragsgesetz97 (Art. 59 Abs. 2 GG).98 Das DBA verwandelt sich damit in eine innerstaatliche Rechtsquelle bzw. ihm wird eine 94 Für das Entstehen völkerrechtlicher Verträge sind vorrangig die Normen des Grundgesetzes sowie die Regelungen des WÜRV anzuwenden. Eine detaillierte Beschreibung des Verfahrens des Vertragsabschlusses findet sich unter anderem in Schweitzer/­ Weber, Handbuch der Völkerrechtspraxis Rn. 20 ff. sowie in Stein/­von Buttlar/­Kotzur, Völkerrecht Rn. 50 ff. 95  Kunig, in: Vitzthum/­ Proelß, Völkerrecht, 2. Abschnitt Rn. 30; Stein/­von Buttlar/­ Kotzur, Völkerrecht Rn. 182; Schmahl, JuS 2013, 961 (964). Neben der Transformationslehre wird die Vollzugslehre vertreten, nach der das Zustimmungsgesetz lediglich den Vollzug des völkerrechtlichen Vertrags bewirkt, ohne zugleich eine innerstaatliche Rechtsquelle zu schaffen. 96  Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 5 Rn. 200; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 5 Rn. 569. 97 Die vom Bundesverfassungsgericht gewählte Terminologie ist nicht einheitlich: BVerfG v. 3.7.2007 – 2 BvE 2/­07, BVerfGE 118, 224: „Vertragsgesetz“; v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/­04, BVerfGE 111, 307: „Zustimmungsgesetz“. 98  Die erforderlichen Fassungen des Zustimmungsgesetzes bei bilateralen Verträgen ergeben sich aus den „Richtlinien für die Fassung von Vertragsgesetzen und vertragsbezogenen Verordnungen“ (RiVeVO Neufassung 1999 des Auswärtigen Amtes), die das Bundesministerium für Justiz nach § 73 Abs. 3 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien Besonderer Teil (GGO II) erlassen hat. Demgemäß lautet etwa die Eingangsformel bei Vertragsgesetzen, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen: „Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen.“: Schweitzer/­Weber, Handbuch der Völkerrechtspraxis, Rn. 13.

§ 1  Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung

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zweite Natur verschafft, die neben der Eigenschaft als Völkerrechtsquelle besteht.99 Das Zustimmungsgesetz gibt zudem den Rang des DBA im innerstaatlichen Recht vor.100 II.  Innerstaatlicher Rang der Doppelbesteuerungsabkommen

Das Völkerrecht enthält keine Vorgaben, wie dessen Verhältnis zum nationalen Recht festzulegen ist; es obliegt vielmehr dem einzelnen Staat, dieses Verhältnis für sich zu bestimmen.101 Entscheidend ist hierbei, welchen Rang die staatliche Verfassungsordnung den völkerrechtlichen Vorschriften innerhalb der von ihr vorgesehenen Normenhierarchie beimisst.102 Fast jede staatliche Rechtsordnung hat für sich eine eigene Sonderform geschaffen, sodass es kaum einen Staat geben wird, der in dieser Frage mit der Praxis eines anderen Staates übereinstimmt.103 Die Frage nach dem Verhältnis von Völkerrecht – und damit auch DBA – und nationalem Recht lässt sich daher im Ergebnis nicht mit einer allgemein gültigen Formel beantworten. Dennoch lassen sich die verschiedenen Ansatzpunkte in zwei grundlegende Theorien einordnen: dem Monismus und dem Dualismus. Nach der monistischen Theorie104 sind Völkerrecht und innerstaatliches Recht Bestandteile einer einzigen Rechtsordnung, in der das Völkerrecht die Grenzen der staatlichen 99 

Kunig, in: Vitzthum/­Proelß, Völkerrecht, 2. Abschnitt Rn. 116. Nettesheim, in: Maunz/­Dürig, GG, Art. 59 Rn. 184: Es werde in diesem Zusammenhang häufig postuliert, der umzusetzenden völkerrechtlichen Norm könne im innerstaatlichen Bereich nur jener Rang zukommen, den der nationale Umsetzungsakt aufweise. Dies mündee in die Schlussfolgerung, völkerrechtlichen Verträgen müsste einfach-gesetzlicher Rang zugeschrieben werden, weil auch das Vertragsgesetz den Rang eines einfachen Gesetzes aufweise. Dies sei keinesfalls zwingend. Zwingend sei auch nicht, völkerrechtlichen Normen, die durch Vertragsgesetz umgesetzt werden, den Rang einfachen Gesetzesrechts einzuräumen. 101  Kunig, in: Vitzthum/­P roelß, Völkerrecht, 2. Abschnitt Rn. 30; Dahm, Völkerrecht, § 10, S. 106; von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 496. Lediglich in Art. 27 WÜRV ist für das Völkervertragsrecht geregelt, dass sich eine Vertragspartei nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen kann, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen. 102  Kunig, in: Vitzthum/­P roelß, Völkerrecht, 2. Abschnitt Rn. 47. 103  Von Kyaw, Die Gewährleistung des Völkerrechts, S. 69. Festzuhalten sei jedenfalls, dass Völkerrecht nur insoweit im innerstaatlichen Recht gelte, als dies eine Norm des innerstaatlichen Rechts gebiete: Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 2, 6. 104  Im Rahmen des monistischen Systems gibt es insbesondere zwei Formen: Zum einen den Monismus mit Primat des nationalen Rechts, nach dem das nationale Recht Vorrang hat und entgegenstehendes Völkerrecht aufhebt. Diese Form wird nicht mehr vertreten. Zum anderen gibt es den Monismus mit Primat des Völkerrechts, nach dem das Völkerrecht vorgeht, völkerrechtswidrige innerstaatliche Rechtsakte aber bestehen bleiben. Vgl. hierzu: Kunig, in: Vitzthum/­Proelß, Völkerrecht, 2. Abschnitt Rn. 32. 100  A. A.:

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Kapitel 1:  Grundlagen

Souveränität festlegt.105 Die h. M. vertritt hierbei einen gemäßigten Monismus, nach dem eine dem Völkerrecht widersprechende nationale Vorschrift unanwendbar ist.106 Dementsprechend gilt, dass höherrangige den niederrangigen Normen vorgehen und Maßstab für diese sind.107 Im Rahmen des Monismus gelten völkerrechtliche Vorschriften automatisch und unmittelbar als Völkerrecht – nicht als nationales Recht –, ohne dass es eines Transformationsaktes bedarf.108 Wird eine Völkerrechtsnorm geändert oder aufgehoben, entfaltet dieser Akt unmittelbare Auswirkungen auf das innerstaatliche Recht.109 Das monistische System räumt dem Völkerrecht im Kollisionsfall typischerweise einen Vorrang vor dem nationalen Recht ein.110 Daher können Treaty Overrides in den Staaten mit diesem System nicht entstehen.111 Der EuGH vertritt zur Bestimmung des Verhältnisses von Völkerrecht und Unionsrecht eine monistische Grundposition.112 Das System des Dualismus sieht hingegen vor, dass Völkerrecht und innerstaatliches Recht zwei eigenständige, voneinander unabhängige Rechtskreise sind, sodass es keinen grundsätzlichen Vorrang des einen vor dem anderen ge-

105  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 10; Kunig, in: Vitzthum/­Proelß, Völkerrecht, 2. Abschnitt Rn. 31; Stein/­von Buttlar/­Kotzur, Völkerrecht, Rn. 176. 106  Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 1; Stein/­von Buttlar/­Kotzur, Völkerrecht, Rn. 177. 107  Stein/­von Buttlar/­Kotzur, Völkerrecht, Rn. 176. 108  Nettesheim, in: Maunz/­ Dürig, GG, Art. 59 Rn. 168: Der Geltungsanspruch ist dem Völkerrecht dabei inhärent (strenger Monismus) oder beruht auf einem nationalen Rechtssatz (gemäßigter Monismus). Vgl. Rojahn, in: von Münch/­Kunig, GG, Art. 59 Rn. 35; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 150; Kunig, in: Vitzthum/­Proelß, Völkerrecht, 2. Abschnitt Rn. 31; Stein/­von Buttlar/­Kotzur, Völkerrecht, Rn. 178: Die Aufnahme des Völkerrechts in das innerstaatliche Recht vollziehe sich in der Regel über eine verfassungsrechtliche Generalklausel, die zugleich den Rang des Völkerrechts kläre. 109  Stein/­von Buttlar/­Kotzur, Völkerrecht, Rn. 179. 110  Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 1; Stein/­von Buttlar/­Kotzur, Völkerrecht, Rn. 177: Der Monismus mit Primat des Völkerrechts biete unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten für Kollisionsfälle: Nach dem radikalen Monismus komme dem Völkerrecht ein unbedingter Geltungsvorrang zu, sodass jeder entgegenstehende innerstaatliche Akt ohne weiteres nichtig sei. Der gemäßigte Monismus vermeide diesen radikalen Vorrang und sehe einen dem Völkerrecht entgegenstehenden nationalen Akt nicht als nichtig, sondern nur als unanwendbar an, der allerdings durch eine verbindliche völkerrechtliche Entscheidung auch ganz beseitigt werden könne (h. M. unter den monistischen Theorien). 111  Vogel/­Rust, in: Reimer/­Rust, Klaus Vogel on Double Taxation Conventions, Introduction Rn. 160. 112  Nettesheim, in: Maunz/­D ürig, GG, Art. 59 Rn. 169.

§ 1  Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung

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ben kann.113 Die heute h. M. vertritt einen gemäßigten Dualismus114: Danach sind sowohl das Völkerrecht als auch das innerstaatliche Recht zwar eigenständige Rechtsordnungen, sie stehen jedoch nicht isoliert nebeneinander, sondern sind in vielfältiger Weise miteinander verwoben.115 Folglich kann es zwischen beiden Rechtsordnungen zu Normenkollisionen kommen, indem beispielsweise die eine auf die andere verweist oder Bezug nimmt.116 Kommt es zu einer solchen Normenkollision zwischen nationalem Recht und Völkerrecht, muss das Verhältnis der beiden Rechtsordnungen geklärt werden, insbesondere mithilfe von Kollisionsnormen. Hier ist es möglich, dass eine nationale Vorschrift dem Völkerrecht vorgeht, nämlich immer dann, wenn sie sich selbst einen solchen Vorrang einräumt oder durch andere Vorschriften eingeräumt bekommt (Treaty Override).117 Die innerstaatlichen Vorschriften gelten unabhängig davon, ob sie mit dem Völkerrecht übereinstimmen oder nicht, sodass der innerstaatliche Akt zunächst wirksam bleibt, der betroffene Staat sich aber unter Umständen völkerrechtlich haftbar macht.118

113  Stein/­von Buttlar/­Kotzur, Völkerrecht, Rn. 180; Nettesheim, in: Maunz/­D ürig, GG, Art. 59 Rn. 167; Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 10; Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 1; Will, JA 2015, 1164 (1166); Kunig, in: Vitzthum/­ Proelß, Völkerrecht, 2. Abschnitt Rn. 30. 114  Siehe zum früher noch vertretenen radikalen Dualismus: Stein/­von Buttlar/­Kotzur, Völkerrecht, Rn. 180; Nettesheim, in: Maunz/­Dürig, GG, Art. 59 Rn. 167; Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 10; Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 1; Will, JA 2015, 1164 (1166). 115  Beck, Qualifikationskonflikte, S. 56 f. mwN; Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 2; Stein/­von Buttlar/­Kotzur, Völkerrecht, Rn. 181; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 15: Nach dem gemäßigten Monismus behalte dem Völkerrecht entgegenstehendes Landesrecht eine vorläufige Geltung, bis das Völkerrecht nach den innerstaatlichen Regelungen inkorporiert und völkerrechtswidriges Landesrecht nach den innerstaatlichen Verfahren beseitigt sei; nach dem gemäßigten Dualismus gelte das dem Völkerrecht entgegenstehende Landesrecht grundsätzlich nur vorläufig, weil die Staaten verpflichtet seien, innerstaatlich eine völkerrechtsgemäße Lage herzustellen. Die Theorien des gemäßigten Monismus und gemäßigten Dualismus haben sich mittlerweile weitgehend angenähert, sodass sie zwar unterschiedliche Ausgangspunkte haben, sich ihre Rechtsfolgen aber angeglichen haben. 116  Will, JA 2015, 1164 (1166). 117  Kunig, in: Vitzthum/­ Proelß, Völkerrecht, 2. Abschnitt Rn. 30; Stein/­von Buttlar/­ Kotzur, Völkerrecht Rn. 181: Im Ergebnis entspreche dies weitgehend der Lösung des gemäßigten Monismus mit Völkerrechtsprimat. 118  Von Kyaw, Die Gewährleistung des Völkerrechts, S. 30.

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Kapitel 1:  Grundlagen

Aufgrund des Erfordernisses einer Vertragsumsetzung gilt in Deutschland das dualistische System. Dem folgen auch der Bundesfinanzhof119 sowie das Bundesverfassungsgericht120. Der von der h. M. vertretene gemäßigte Dualismus wird in drei Bereichen sichtbar:121 Erstens sieht Art. 25 GG vor, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts ohne Umsetzung Bestandteil des Bundesrechts sind, was dem monistischen System entspricht. Bei DBA ist jedoch ein Zustimmungsgesetz erforderlich, welches bereits vor der Ratifikation beschlossen wird und somit dem dualistischen System entspricht (Art. 59 Abs. 2 GG). Zweitens besteht im Zusammenhang mit der Rangfrage der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. Drittens müssen die innerstaatlichen Gesetze völkerrechtskonform interpretiert und ausgelegt werden. Für das Verhältnis zwischen zwei DBA gilt im Übrigen Folgendes: Wegen der grundsätzlichen Gleichrangigkeit der völkerrechtlichen Verträge finden bei einer Kollision von vertraglichen Verpflichtungen die Grundsätze lex ­posterior derogat legi priori sowie lex specialis derogat legi generali Anwendung.122 1.  Innerstaatliche Geltung und unmittelbare Anwendbarkeit von Doppelbesteuerungsabkommen

Zudem ist die Frage zu klären, auf welche Art und Weise DBA auf nationaler Ebene Anwendung finden.123 Hierbei ist zwischen der innerstaatlichen Geltung und der unmittelbaren Anwendbarkeit der DBA zu unterscheiden.

119  Dementsprechend hat er beispielsweise das in § 50d Abs. 1 EStG enthaltene Treaty Override für zulässig und gegenüber dem Steuerpflichtigen für wirksam erklärt: BFH v. 15.1.1971 – III R 125/­69, BStBl. II 1971, S. 379. 120  Vgl. BVerfG v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/­0 4, BVerfGE 111, S. 307 (318). 121  Von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 518 ff. 122  Verdross/­Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 640, 786: Art. 30 WÜRV bestätige und präzisiere dieses Ergebnis, indem er festlege, dass bei Aufeinanderfolgen zweier Verträge über denselben Gegenstand zwischen denselben Parteien der frühere Vertrag nur mehr insoweit Anwendung finde, als er mit dem späteren Vertrag vereinbar sei. 123  Nettesheim, in: Maunz/­ Dürig, GG, Art. 59 Rn. 173; Dahm, Völkerrecht, § 10, S. 104: Für den reinen Monismus ergebe sich die Frage der Überführung von Völkerrecht in den innerstaatlichen Bereich und seine Anwendung durch die staatlichen Organe gar nicht erst.

§ 1  Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung

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a)  Innerstaatliche Geltung der Doppelbesteuerungsabkommen

Mit der innerstaatlichen Geltung von DBA ist die Frage gemeint, wie dessen Normen Bestandteil der innerstaatlichen Rechtsordnung werden.124 Die innerstaatliche Geltung richtet sich in erster Linie an die innerstaatlichen Staatsorgane, die für die Umsetzung des DBA in nationales Recht zuständig sind.125 Zur innerstaatlichen Geltung der DBA werden verschiedene Theorien vertreten. Zum einen bestehen die Transformations- sowie die Vollzugstheorie, welche beide übereinstimmend einen innerstaatlichen Rechtsakt für erforderlich erachten, damit das DBA innerstaatlich gelten kann. Keine Übereinstimmung besteht hingegen bei der Frage, ob das Zustimmungsgesetz das DBA als völkerrechtlichen Vertrag in innerstaatliches Recht umwandelt bzw. transformiert (sog. Transformationstheorie126) oder ob das Zustimmungsgesetz das DBA selbst im Wege eines Vollzugs- bzw. Rechtsanwendungsbefehls innerstaatlich für vollziehbar erklärt (sog. Vollzugstheorie127).128 Die Frage ist insbesondere entscheidend für die Bestimmung des innerstaatlichen Rangs von DBA.129 Die Transformationstheorie hält eine Umwandlung des DBA in innerstaatliches Recht für erforderlich, wodurch das DBA als inhaltsgleiches innerstaatliches Recht anzuwenden ist, daneben aber als völkerrechtlicher Vertrag bestehen bleibt.130 Die Transformation erfolgt bei DBA grundsätzlich mittels eines einzelnen Rechtsaktes in Form eines Zustimmungsgesetzes. Die Wirksamkeit des innerstaatlichen Gesetzes ist dabei vom völkerrechtlichen Zustandekom-

124  Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 5; Schweitzer/­Weber, Handbuch der Völkerrechts­ praxis, Rn. 110; Wünschmann, Geltung und gerichtliche Geltendmachung völkerrechtlicher Verträge, S. 42; Stein/­von Buttlar/­Kotzur, Völkerrecht, Rn. 185; Haltern, Europarecht, § 8 Rn. 588. 125  Beck, Qualifikationskonflikte, S. 59; Kunig, in: Vitzthum/­ Proelß, Völkerrecht, 2. Abschnitt Rn. 42; von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 506: In Deutschland erlangen die DBA ihre innerstaatliche Geltung aufgrund des erforderlichen Zustimmungsgesetzes. 126  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 11: Das Zustimmungsgesetz werde insofern als Transformationsgesetz bezeichnet. Vgl. auch: Haa­ se, Internationales und Europäisches Steuerrecht, Rn. 569; Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 7. 127  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 67; Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 7; Drüen, in: Tipke/­K ruse, AO, § 2 Rn. 28. 128  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­ Ditz, DBA, Systematik Rn. 67; Schweitzer/­Weber, Handbuch der Völkerrechtspraxis, Rn. 111; Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 OECD-MA Rn. 10. 129  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 67. 130  Beck, Qualifikationskonflikte, S. 62; von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 503: Die Völkerrechtsnorm werde damit „verdoppelt“.

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Kapitel 1:  Grundlagen

men und Wirksambleiben abhängig.131 Diese Theorie entspricht somit weitgehend dem (gemäßigten) Dualismus.132 Das Bundesverwaltungsgericht133 sowie der Bundesfinanzhof134 scheinen eher zur Transformationstheorie zu tendieren. Die Formulierungen des Bundesgerichtshofs lassen sich sowohl im Sinne der Transformations- als auch der Vollzugslehre deuten.135 Nach der Vollzugstheorie behält das DBA hingegen seinen Charakter als Völkerrecht und somit seine völkerrechtliche Verortung und Rechtsnatur, dem DBA wird lediglich ein innerstaatlicher Vollzugsbefehl erteilt; das Zustimmungsgesetz als ein solcher Vollzugsbefehl führt somit nicht dazu, dass der Vertrag zu einem Bestandteil des innerstaatlichen Rechts wird.136 Die DBA-­ Regelungen gelten dennoch genau wie die innerstaatlichen Regelungen.137 Auch die Vollzugstheorie nähert sich damit weitgehend dem gemäßigten Dualismus an.138 Das Bundesverfassungsgericht139, die herrschende Lehre sowie die Zustimmungspraxis des Bundestages scheinen regelmäßig der Vollzugstheorie zu folgen.140 Zum anderen gibt es die Adoptions- bzw. Inkorporationstheorie, nach der das DBA ohne zusätzlichen Rechtsakt im innerstaatlichen Recht unmittelbar 131  Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung DBA Rn. 57; Schwarz, in: Schwarz, AO, § 2 Rn. 1. 132  Beck, Qualifikationskonflikte, S. 62; Kunig, in: Vitzthum/­ Proelß, Völkerrecht, 2. Abschnitt Rn. 38; Nettesheim, in: Maunz/­Dürig, GG, Art. 59 Rn. 174; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 150; Dahm, Völkerrecht, § 10, S. 105. 133  BVerwG v. 12.6.1970 – VII C 64.68, BVerwGE 35, 262 (265); v. 18.1.1994 – 9 C 48/­ 92, BVerwGE 95, 42 (49). 134  Vgl. BFH v. 19.5.2010 – I B 191/­09, BStBl. II 2011, S. 156. 135  Schweitzer/­Weber, Handbuch der Völkerrechtspraxis, Rn. 111 ff. 136  Beck, Qualifikationskonflikte, S. 63; Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 7; Nettes­ heim, in: Maunz/­Dürig, GG, Art. 59 Rn. 176; Schwarz, in: Schwarz, AO, § 2 Rn. 1; von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 503. 137  Nettesheim, in: Maunz/­D ürig, GG, Art. 59 Rn. 179. 138  Stein/­von Buttlar/­Kotzur, Völkerrecht, Rn. 179. 139  BVerfG v. 13.12.1977 – 2 BvM 1/­76, BVerfGE 46, 342 (363); v. 12.7.1994 – 2 BvE 3/­92 u. a., BVerfGE 90, 286 (364): Das Bundesverfassungsgericht spricht insoweit von dem „Rechtsanwendungsbefehl“ des Zustimmungsgesetzes. Teilweise scheint das Bundesverfassungsgericht die Theorien aber auch zu vermischen: „Damit hat [der Bundesgesetzgeber die Übereinkommen] in das deutsche Recht transformiert und einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt.“: BVerfG v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/­04, BVerfGE 111, 307 (315 f.); Rojahn, in: von Münch/­Kunig, GG, Art. 59 Rn. 36 mwN; von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 503 mwN; Schweitzer/­Weber, Handbuch der Völkerrechtspraxis, Rn. 111 ff. 140  Von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 503; Nettesheim, in: Maunz/­D ürig, GG, Art. 59 Rn. 177; Will, JA 2015, 1164 (1171 f.) mwN.

§ 1  Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung

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als Völkerrecht gilt und dabei nicht dessen Rechtsqualität als Völkerrecht verliert.141 Diese Theorie soll in der vorliegenden Arbeit keine Rolle spielen. b)  Unmittelbare Anwendbarkeit der Doppelbesteuerungsabkommen

Die darüber hinaus zu prüfende unmittelbare Anwendbarkeit betrifft die Frage, ob für die innerstaatliche Anwendung der Normen des DBA noch ein staatlicher Durchführungsakt erforderlich ist oder nicht.142 Grundsätzlich verleihen völkerrechtliche Verträge dem Einzelnen keine Rechte, da Adressaten die jeweiligen Vertragsstaaten sind.143 Die DBA-Bestimmungen können nach ihrer Übernahme in das nationale Recht aber auch unmittelbar anwendbare Regelungen enthalten, die den Steuerpflichtigen unmittelbare Rechte und Pflichten einräumen.144 Die unmittelbare Wirkung als Unterfall der unmittelbaren Anwendung ist dabei die stärkste Form der Anwendung eines völkerrechtlichen Vertrages in der Unionsrechtsordnung, sodass sie die Geltung des völkerrechtlichen Vertrages im Unionsrecht voraussetzt.145 Sind die Bestimmungen des DBA hinreichend bestimmt146, sodass sie ohne weitere gesetzgeberische Maßnahmen 141  Nettesheim, in: Maunz/­D ürig, GG, Art. 59 Rn. 175: Je nachdem, wie die Inkorporation erfolge, stünden die jeweiligen Lehren eher monistischen oder eher dualistischen Konzeptionen nahe. Will, JA 2015, 1164 (1167): Die Übernahme der DBA-Normen in das nationale Recht erfolge hierbei – je nach den Regelungen der innerstaatlichen Rechtsordnung – entweder pauschal über eine Generalklausel oder aber für jede DBA-Norm einzeln. 142  Schweitzer/­Weber, Handbuch der Völkerrechtspraxis, Rn. 110: Im ersteren Fall enthalte die Vertragsnorm einen Rechtsetzungsauftrag, während im letzteren Fall die innerstaatlichen Gerichte und Behörden aus dem Vertrag unmittelbar Rechtsfolgen für den Einzelfall ableiten könnten; Wünschmann, Geltung und gerichtliche Geltendmachung völkerrechtlicher Verträge, S. 46; Stein/­von Buttlar/­Kotzur, Völkerrecht, Rn. 187; a. A.: Ro­ jahn, in: von Münch/­Kunig, GG, Art. 59 Rn. 37 f.; Beck, Qualifikationskonflikte, S. 66; Nettesheim, in: Maunz/­Dürig, GG, Art. 59 Rn. 179; Haltern, Europarecht, § 8 Rn. 588. 143  Haltern, Europarecht, § 8 Rn. 589. 144  Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 5 Rn. 322; Heintschel, in: BeckOK-GG, Art. 25 Rn. 17; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 24; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 56; Wünschmann, Geltung und gerichtliche Geltendmachung völkerrechtlicher Verträge, S. 47; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 19.32: Manche DBA-Vorschriften enthielten lediglich die Möglichkeit für einen Staat, eine bestimmte Regelung einzuführen, ohne vertragswidrig zu handeln (Ermächtigungsnormen). Solche Vorschriften haben keinen self-executing-Charakter. 145  Wünschmann, Geltung und gerichtliche Geltendmachung völkerrechtlicher Verträge, S. 48. 146  Hinreichend bestimmt und somit self-executing ist beispielsweise Art. 23B Abs. 1 OECD-MA. Im Gegensatz dazu enthält Art. 23A Abs. 3 OECD-MA einen Ermessensspielraum für den Staat, sodass noch ein nationaler Gesetzgebungsakt erforderlich ist und die Bestimmung nicht self-executing ist.

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Kapitel 1:  Grundlagen

angewendet werden können, sind sie self-executing und somit unmittelbar anwendbar.147 Ob dies der Fall ist, richtet sich nach dem Wortlaut der jeweiligen DBA-Bestimmung.148 Aus Sicht des deutschen Steuerrechts wirken die DBA damit wie sachliche Steuerbefreiungen bzw. Steuerermäßigungen, obwohl sie einen anderen Regelungsgegenstand als das einzelne innerstaatliche Steuergesetz haben.149 DBA legen somit nur fest, in welchem Umfang die nach innerstaatlichem Recht bestehende Steuerpflicht entfallen soll.150 Insbesondere die Begriffe im DBA können die nationalen Begriffe – sei es als lex specialis oder als vorrangige völkerrechtliche Vereinbarung im Sinne des § 2 Abs. 1 AO – jedoch nicht verdrängen.151 2.  Innerstaatlicher Rang der Doppelbesteuerungsabkommen in Deutschland

In Deutschland regeln die Vorschriften der Artt. 25, 59 Abs. 2 GG als Öffnungsklauseln das Verhältnis zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht.152 Zum grundsätzlichen Verhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht enthält Art. 25 GG keine klare Festlegung.153 Zwar bestimmt Art. 25 GG, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechtes sind (Satz 1) und den einfachen Gesetzen vorgehen (Satz 2). Zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts gehören aber nur diejenigen Normen, die unabhängig von vertraglicher Zustimmung für die Staaten gelten, namentlich das Völker-

147  Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 5; von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 506; Deba­ tin, BB 1989, Beilage 2 zu Heft 3, 1 (2); Stein/­von Buttlar/­Kotzur, Völkerrecht, Rn. 187: Voraussetzung sei, dass die Norm (1) keiner weiteren Umsetzung durch das nationale Recht bedarf, (2) inhaltlich klar und ausreichend bestimmt ist und (3) den Einzelnen entweder berechtigt oder verpflichtet. Diese Voraussetzungen müssen für jeden Einzelfall kumulativ vorliegen. 148  Beck, Qualifikationskonflikte, S. 69. 149  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­ Ditz, DBA, Systematik Rn. 24; Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 1 MA Rn. 9; Kluge, Das Internationale Steuerrecht, R 23; Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (845); Kollruss, IStR 2016, 419 (420). 150  BFH v. 20.7.2016 – I R 50/­15, BStBl. II 2017, S. 230 Rn. 15. 151  BFH v. 20.7.2016 – I R 50/­ 15, BStBl. II 2017, S. 230 Rn. 14 mwN; Debatin, BB 1989, Beilage 2 zu Heft 3, 1 (2). 152  BVerfG v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/­0 4, BVerfGE 111, 307 (315 ff.); v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/­12, BVerfGE 141, 1 (16). Teilweise wird auch vertreten, dass sich der Vorrang der DBA vor dem nationalen Recht lediglich aus dem Charakter der Normen des Völkerrechts als leges speciales bzw. aus dem Grundsatz völkerrechtsfreundlichen Verhaltens ergibt: Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung DBA Rn. 65. 153  Herdegen, in: Maunz/­D ürig, GG, Art. 25 Rn. 3.

§ 1  Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung

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gewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts.154 DBA gehören damit nicht dazu, da sie spezielles Völkerrecht darstellen. Einen grundsätzlichen Vorrang der DBA vor den einfachen Gesetzen statuiert das Grundgesetz somit nicht.155 Vielmehr ist Art. 59 Abs. 2 GG zu berücksichtigen. Danach bedürfen DBA der Zustimmung der zuständigen Körperschaften in Form eines Bundesgesetzes (Zustimmungsvorbehalt). Solange völkerrechtliche Verträge nicht durch Zustimmungsgesetz Bestandteile der innerstaatlichen Rechtsordnung geworden sind, stellen sie keine Rechtsnormen dar.156 Neben der Methodik, wie DBA in der nationalen Rechtsordnung wirksam werden, regelt Art. 59 Abs. 2 GG darüber hinaus vor allem deren Rang.157 Dieser bestimmt sich nach dem Rang des Zustimmungs- bzw. Vertragsgesetzes, sodass DBA auf einer Stufe mit den einfachen Bundesgesetzen stehen.158 An diesem Ergebnis ändert auch der im Grundgesetz enthaltene Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit nichts. Das Bundesverfassungsgericht hat insofern festgestellt, dass das Grundgesetz in seiner prinzipiellen Völkerrechtsfreundlichkeit nicht so weit gehe, die Einhaltung bestehender völkerrechtlicher Verträge durch eine Bindung des Gesetzgebers an das ihnen entsprechende 154  BVerfG v. 8.5.2007 – 2 BvM 1/­03 u. a., BVerfGE 118, 124 Rn. 31; v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/­12, BVerfGE 141, 1 (17 f.) mwN; Herdegen, in: Maunz/­Dürig, GG, Art. 25 Rn. 1; ders., Völkerrecht, § 22 Rn. 12; Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 11; Brähler, Internationales Steuerrecht, S. 106. Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen siehe: Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn.  31 ff.; Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 3. 155  BVerfG v. 26.3.1957 – 2 BvG 1/­55, BVerfGE 6, 309 (363): „Besondere vertragliche Vereinbarungen, auch wenn sie objektives Recht setzen, genießen diese Vorrangstellung nicht. Der Gesetzgeber hat also die Verfügungsmacht über den Rechtsbestand auch dort, wo eine vertragliche Bindung besteht, sofern sie nicht allgemeine Völkerrechtssätze zum Gegenstand hat.“ Vgl. auch: Schweitzer/­Weber, Handbuch der Völkerrechtspraxis, Rn. 76. 156  BVerfG v. 30.7.1952 – 1 BvF 1/­52, BVerfGE 1, 396 (410): „Das Vertrags-Gesetz hat einen doppelten Charakter. Es stellt sich zunächst als Beschluß der gesetzgebenden Körperschaften dar, der den Bundespräsidenten ermächtigt, den Vertrag für die Bundesrepublik endgültig abzuschließen. Es hat weiterhin aber auch die Bedeutung, dem Inhalt des völkerrechtlichen Vertrages die Geltung als innerstaatliches deutsches Recht zu verleihen (Transformation).“ 157  BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/­12, BVerfGE 141, 1 (19). 158  Vgl. BVerfG v. 26.3.1957 – 2 BvG 1/­55, BVerfGE 6, 309 (363); v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/­12, BVerfGE 141, 1 (19, 31); Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.24; Sachs, JuS 2016, 571 f.; Dahm, Völkerrecht, § 10, S. 121; Schweitzer/­Weber, Handbuch der Völkerrechtspraxis, Rn. 119: Dies gelte zumindest dann, wenn man Art. 59 Abs. 2 GG als eine Ausprägung der Transformationstheorie deute. Folge man allerdings der in der deutschen Praxis überwiegend vertretenen Vollzugslehre, könne der innerstaatliche Rang des DBA, da das Vertragsrecht nicht in innerstaatliches Recht umgewandelt werde, auch nicht unmittelbar rangmäßig eingeordnet werden.

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Kapitel 1:  Grundlagen

Recht zu sichern.159 Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit beinhalte keine verfassungsrechtliche Pflicht zur uneingeschränkten Befolgung aller völkerrechtlichen Verträge, sondern diene vor allem als Auslegungshilfe für die Grundrechte, die rechtsstaatlichen Grundsätze der Verfassung sowie das einfache Recht.160 Auch der völkerrechtlich anerkannte Grundsatz pacta sunt servanda kann hieran nichts ändern, da dieser Grundsatz nichts über die innerstaatliche Geltung oder den Rang völkerrechtlicher Verträge aussagt.161 An dem dargestellten Rangverhältnis ändert auch § 2 Abs. 1 AO nichts. Danach gehen zwar Verträge mit anderen Staaten im Sinne des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG über die Besteuerung, soweit sie unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind, den Steuergesetzen vor. Die Abgabenordnung ist jedoch nur ein einfaches Bundesgesetz, das seinerseits abgeändert werden und keinen Vorrang völkerrechtlicher Verträge begründen kann.162 Zur Statuierung eines allgemeinen Vorrangs völkerrechtlicher Vereinbarungen hätte es einer dem Art. 25 S. 2 GG entsprechenden Ergänzung des Grundgesetzes bedurft.163 Der in § 2 AO enthaltene Vorrangbefehl kann somit nicht bedeuten, dass das Völkervertragsrecht ein stets gegenüber innerstaatlichen Steuergesetzen höherrangiges Recht (lex superior) ist.164 Die Vorschrift des § 2 Abs. 1 AO ist in dieser Hinsicht also überflüssig.165

159  BVerfG v. 26.3.1957 – 2 BvG 1/­ 55, BVerfGE 6, 309 (362 f.); v. 9.6.1971 – 2 BvR 225/­69, BVerfGE 31, 145 (177 f.); v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/­12, BVerfGE 141, 1 (31). 160  Vgl. BVerfG v. 8.12.2014 – 2 BvR 450/­11, NVwZ 2015, 361; v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/­12, BVerfGE 141, 1 (27 ff.) mwN: Sind mehrere Auslegungen möglich, ist grundsätzlich eine völkerrechtsfreundliche zu wählen. 161  BVerfG, v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/­12, BVerfGE 141, 1 (20); Vogel/­Rust, in: Reimer/­ Rust, Klaus Vogel on Double Taxation Conventions, Introduction Rn. 160; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.24; Herdegen, in: Maunz/­Dürig, GG, Art. 25 Rn. 9. 162  Vgl. BFH v. 13.7.1994 – I R 120/­93, BStBl. II 1995, S. 130; BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/­12, BVerfGE 141, 1 Rn. 48; Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 22; Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 2 Rn. 49; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.24; Drüen, in: Tipke/­K ruse, § 2 AO Rn. 1a, 38; Wassermeyer/­ Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 18; Achsnich, in: Rosenke/­Wagner/­Pfirrmann, BeckOK AO, § 2 Rn. 1, 78; Mitschke, DStR 2011, 2221 (2226); Schwarz, in: Schwarz, AO, § 2 Rn. 7. Zu § 2 AO siehe ausführlich unter § 8 B. II. 163  Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 17; Schwarz, in: Schwarz, AO, § 2 Rn. 7; Wasser­ meyer, DStJG 19 (1996), 152 ff. 164  Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 17. 165  Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 2 Rn. 49; ders., IStR 2016, 561 (562); Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 11; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.24.

§ 2  Unionsrechtliches Primärrecht

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Das Verhältnis von DBA und den nationalen Gesetzen bestimmt sich somit nach den allgemeinen Regeln, die für alle Gesetze gelten.166 Danach können DBA-Bestimmungen also entsprechend dem lex-posterior-Grundsatz durch spätere, ihnen widersprechende Gesetze verdrängt werden. Aus diesem Grund wird ein Treaty Override überwiegend für zulässig erachtet.167 Von diesem abgesehen, gehen die DBA-Bestimmungen dem nationalen Recht gleichwohl stets vor.168 Dieser Vorrang ergibt sich aber nicht daraus, dass die DBA-Regelungen stets als leges speciales169 gegenüber dem innerstaatlichen Recht anzusehen sind,170 sondern durch die konstitutive Anordnung des § 2 Abs. 1 AO.171 Dadurch wird der lex-posterior-Grundsatz dahingehend eingeschränkt, dass die später erlassene nationale Vorschrift die frühere, speziellere DBA-Bestimmung nicht verdrängt (lex generalis posterior non derogat legi speciali priori).172

§ 2  Unionsrechtliches Primärrecht Nachdem die Grundlagen über DBA veranschaulicht worden sind, wird zur Untersuchung der Frage, wie das Unionsrecht auf DBA einwirken kann, zunächst das unionsrechtliche Primärrecht näher dargestellt. Denn dieses spielt 166 

Schmahl, JuS 2013, 961 (965); Siehe dazu § 8 B. v. 20.8.2014 – I R 86/­13, BStBl. II 2015, S. 18; v. 11.12.2013 – I R 4/­13, BStBl. II 2014, S. 791; v. 10.1.2012 – I R 66/­09, BFH/­N V 2012, 1056; BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/­12, BVerfGE 141, 1. Der Bundesfinanzhof hat dem Bundesverfassungsgericht die Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Treaty Overrides bereits mehrfach vorgelegt. Zurzeit ist vor dem Bundesverfassungsgericht ein Verfahren zur Frage anhängig, ob § 50d Abs. 9 S. 1 Nr. 2 S. 1 EStG aufgrund eines treaty overrides gegen die Verfassung verstößt: BVerfG – 2 BvL 15/­14; Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 61; Leh­ ner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 194 ff. Siehe dazu § 8 C. 168  Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 65. 169  A. A.: Musil, in: Hübschmann/­ Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 196: „leges aliud“; so auch: Jochimsen/­Gradl, IStR 2015, 236 (238). 170  So aber: Scheffler, Besteuerung von Unternehmen, Rn. 915; Seer, in: Tipke/­Lang, Steuerrecht, § 1 Rn. 92; Frotscher, Internationales Steuerrecht, Rn. 305; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, Rn. 573; ders., in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 65; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 200; Wassermeyer/­ Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 18; Gebhardt, Ubg 2012, 585 (588); Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (845): Als zusätzliches Tatbestandsmerkmal enthalte das DBA die Verengung des Grundtatbestands auf grenzüberschreitende Sachverhalte im Verhältnis zu lediglich einem anderen Staat. 171  Siehe dazu eingehend unter § 8 B. II. 172  BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/­ 12, BVerfGE 141, 1 (21); Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 16; Nettesheim, in: Maunz/­Dürig, GG, Art. 59 Rn. 186. 167  BFH

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Kapitel 1:  Grundlagen

eine entscheidende Rolle im Bereich der grenzüberschreitenden Besteuerung und wirkt auf vielfältige Art und Weise auf die Regelungen von DBA ein. Als primäres Unionsrecht wird das unmittelbar von den Mitgliedstaaten geschaffene Recht bezeichnet.173 Hierzu gehören der AEUV, der Vertrag über die Europäische Union (im Folgenden: EUV) sowie die sie ergänzenden Dokumente.174 Folgende, dem Primärrecht zuzuordnende Regelungsbereiche haben für das deutsche Steuerrecht Bedeutung: die Grundrechte (Art. 6 EUV), das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV)175, das allgemeine Freizügigkeitsrecht (Art. 21 AEUV)176 und die Grundfreiheiten (Art. 26 Abs. 2 AEUV).177 Dem Primärrecht kommt eine unmittelbare Geltung sowie ein Anwendungsvorrang im nationalen Recht zu (A). Zwar sind die Mitgliedstaaten bei ihrer Steuergesetzgebung souverän, das Primärrecht begrenzt jedoch diese Steuerhoheit (B). In der vorliegenden Arbeit werden aus dem Primärrecht nur die Grundfreiheiten untersucht und unter (C) dargestellt.

173  Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU, Rn. 82, 95 ff.: Neben den geschriebenen Rechtsquellen gebe es die allgemeinen Rechtsgrundsätze und das Gewohnheitsrecht als ungeschriebene Rechtsquellen sowie die Absprachen zwischen den Mitgliedstaaten der EU. 174  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 252; Seer, in: Tipke/­K ruse, AO/­ FGO, § 1 AO Rn. 21: Seit dem 1.12.2009 gehöre nach Art. 6 Abs. 1 EUV auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union dazu. 175  Das Diskriminierungsverbot erfasse Maßnahmen, die ausdrücklich an die Staatsangehörigkeit anknüpften (formelle oder offene Diskriminierungen) sowie darüber hinaus auch materielle oder versteckte Diskriminierungen; es stelle im Gegensatz zum Freizügigkeitsrecht kein allgemeines Beschränkungsverbot dar: Epiney, in: Calliess/­Ruffert, Art. 18 AEUV Rn. 12. Von erheblicher praktischer Bedeutung seien die möglichen Erweiterungen, die sich aus dem Zusammenwirken von Art. 18 Abs. 1 AEUV und Art. 21 AEUV in Bezug auf die Rahmenbedingungen und das Verhalten während des Aufenthalts ergeben könnten. Verboten seien danach alle Maßnahmen, durch die Unionsbürger im Zusammenhang mit der Ausübung des Aufenthaltsrechts schlechter gestellt würden als die Staatsbürger des jeweiligen Mitgliedstaates: Kluth, in: Calliess/­Ruffert, Art. 21 EUV Rn. 6. 176  Art. 21 AEUV enthält ein Beschränkungsverbot hinsichtlich der Bewegungsfreiheit. 177  Schaumburg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 4.25.

§ 2  Unionsrechtliches Primärrecht

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A.  Unmittelbare Anwendbarkeit und Anwendungsvorrang des Primärrechts I.  Unmittelbare Anwendbarkeit

Wie bereits für das Völkerrecht dargestellt, ist auch im Bereich des Unionsrechts die Frage zu klären, auf welche Art und Weise dieses auf nationaler Ebene seine Geltungskraft erlangt und in welchem Rangverhältnis es zum innerstaatlichen Recht steht. Die Grundsätze der unmittelbaren Anwendbarkeit178 sowie des Anwendungsvorrangs, welche sich gegenseitig ergänzen, charakterisieren das Unionsrecht.179 Den ersten entscheidenden Schritt zur unmittelbaren Anwendbarkeit unternahm der EuGH in seinem Urteil van Gend en Loos.180 Trotz einer Ansicht, das Unionsrecht sei dem Völkerrecht zuzuordnen,181 hat sich insbesondere aufgrund dieses Urteils die Auffassung durchgesetzt, nach der das Unionsrecht eine eigenständige Rechtsordnung sui generis darstellt, die zwar in ihren Ursprüngen völkerrechtlicher Natur ist, die sich aber von ihren völkerrechtlichen Grundlagen weitgehend gelöst hat.182 Denn im Gegensatz zu DBA als völkerrechtliche Verträge binden die unionsrechtlichen Vorschriften nicht nur die einzelnen Staaten, sondern auch deren Staatsangehörige183 bzw. es lassen sich aus ihnen 178  Haltern, Europarecht, § 8 Rn. 588: Die deutsche Dogmatik unterscheide zwischen unmittelbarer Geltung und unmittelbarer Anwendbarkeit, was jedoch insbesondere in der EuGH-Rechtsprechung keine Rolle spiele. 179  Haltern, Europarecht, § 10 Rn. 1043. 180  EuGH v. 5.2.1963, C-26/­62 – van Gend en Loos, Slg. 1963, 1. 181  Streinz, Europarecht, Rn. 122: Das Unionsrecht sei durch völkerrechtliche Verträge zwischen den Mitgliedstaaten als Völkerrechtssubjekte entstanden und entstehe weiterhin dadurch. 182  EuGH v. 5.2.1963, C-26/­62 – van Gend en Loos, Slg. 1963, 1; v. 15.7.1964, C-6/­6 4 – Costa/­ENEL, Slg. 1964, I-1141; Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 14; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU, Rn. 130; Weiß, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 5 Rn. 3, 92; Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 6: Dies dürfte auch die Auffassung des EuGH sein. Entscheidend sei die sich aus dem Gesamtzusammenhang der Verträge ergebende Struktur, die erhebliche Unterschiede zu anderen völkerrechtlichen Verträgen aufweise: Streinz, Europarecht, Rn. 123. Das Unionsrecht könne insofern als „supranational“ charakterisiert werden: von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 536. 183  EuGH v. 9.3.1978, C-106/­77 – Simmenthal, Slg. 1978, I-629 Rn. 21/­23. Dies hat der EuGH auch in seinem Urteil v. 5.2.1963, C-26/­62 – van Gend en Loos, Slg. 1963, 1 (Leitsatz 3) festgestellt: „Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft stellt eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts dar, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben; eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den

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Kapitel 1:  Grundlagen

unmittelbar Rechte auch für den Einzelnen herleiten.184 Dies folgt bereits aus Art. 288 AEUV.185 Ob die Normen unmittelbar anwendbar bzw. self-­executing sind oder nicht, hängt von ihrem Ursprung ab: Während Verordnungen gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV in jedem Mitgliedstaat unmittelbar gelten, müssen Richtlinien gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV erst von den Staaten umgesetzt werden.186 II.  Anwendungsvorrang

Obwohl im EUV und im AEUV keine ausdrückliche Regelung zum Verhältnis des Unionsrechts zum nationalen Recht besteht,187 kommt dem Unionsrecht (Primär- sowie Sekundärrecht) im Kollisionsfall ein Anwendungsvorrang188 zu, Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen.“ Diese Rechtsprechung hat der EuGH auf die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit ausgeweitet: EuGH v. 21.6.1974, C-2/­74 – Reyners, Slg. 1974, 631; v. 3.12.1974, C-33/­74 – van Binsber­ gen, Slg. 1974, 1299; v. 4.12.1974, C-41/­74 – van Duyn, Slg. 1974, 1337. Vgl. auch: Nettes­ heim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 16. 184  Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 768; Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 14; Streinz, Europarecht, Rn. 123; Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 88; Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 14; Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 3 Rn. 62; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU, Rn. 130. Der EuGH hat den Vorrang des Unionsrechts erstmals ausdrücklich in EuGH v. 15.7.1964, C-6/­64 – Costa/­ENEL, Slg. 1964, I-1141, S. 1269 festgestellt. Bereits in seinem Urteil van Gend en Loos (EuGH, v. 5.2.1963, C-26/­62  – van Gend en Loos, Slg. 1963, 1, S. 26) hatte sich der EuGH jedoch mit der Frage der unmittelbaren Wirkung des Primärrechts in den Mitgliedstaaten zu befassen. Daraus wird teilweise geschlossen, dass die Vorrangfrage bereits in diesem Urteil implizit entschieden worden sei: Kruis, Der Anwendungsvorrang, S. 45. 185  Die unmittelbare Geltung sei in Art. 288 Abs. 2 AEUV zwar nur für Verordnungen ausdrücklich geregelt, sie gelte aber für das gesamte Unionsrecht: Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 88. 186 Vgl. von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 538. Den Richtliniennormen komme jedoch bei fehlender oder fehlerhafter Umsetzung unter Umständen eine unmittelbare Wirkung zu. Siehe dazu § 7 C. 187  Art. 1 Abs. 1 Hs. 2 EUV bestimmt lediglich, dass die Mitgliedstaaten der EU Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen. Schlücke, Die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in das deutsche Steuerrecht, S. 51: Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts sei in den Verträgen nicht ausdrücklich vorgesehen, er lasse sich aber direkt aus dem in Art. 4 Abs. 3 AEUV verankerten Effektivitätsprinzip sowie dem Grundsatz der einheitlichen Rechtsanwendung herleiten. 188  Nettesheim, in: Grabitz/­ Hilf/­ Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 288 AEUV Rn. 53; Weiß, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 5 Rn. 94; Streinz, Europarecht, § 3 Rn. 221; Schlücke, Die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in das deutsche Steuerrecht, S. 72: „Die methodische Einordnung des Anwendungsvorrangs ist noch weitgehend ungeklärt. Festzuhalten ist aber, dass der Anwendungsvorrang keine echte Normverwerfungskompetenz der Judikative und Exekutive darstellen kann, und dass, im Hinblick auf

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jedoch nicht zugleich auch ein Geltungsvorrang.189 Das nationale Recht ist somit nicht nichtig, sondern nur im jeweiligen Kollisionsfall unanwendbar.190 Das entgegenstehende nationale Recht behält dennoch seine Geltung, insbesondere bei rein nationalen Sachverhalten oder Sachverhalten mit Drittstaatenbezug; das Unionsrecht verlangt nur, dass die streitige Norm bei grenzüberschreitenden Sachverhalten zu anderen Mitgliedstaaten der EU nicht angewandt wird.191 Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts erstreckt sich dabei auch auf das innerstaatliche Verfassungsrecht.192 In zeitlicher Hinsicht umfasst der Vorrang das gesamte nationale Recht, unabhängig davon, ob dieses früher oder später erlassen wurde, sodass der lex-posterior-Grundsatz diesbezüglich keine An-

den derzeitigen Integrationsfortschritt, die Einordnung als ‚einfache‘ Kollisionsregel vorzugswürdiger erscheint.“ Zu den fünf Dimensionen des Vorrangs siehe: Haltern, Europarecht, § 10 Rn. 1009 ff. 189  BVerfG v. 28.1.1992 – 1 BvR 1025/­ 82 u. a., BVerfGE 85, 191 (204); Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 14; Röhl/­Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 156; Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 89; Magiera, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 7 Rn. 97; Streinz, Europarecht, § 3 Rn. 221; Schlücke, Die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in das deutsche Steuerrecht, S. 53. Der Anwendungsvorrang ist in Art. 1 Abs. 6 des Europäischen Verfassungsentwurfs (Entwurf eines Vertrags für eine Verfassung für Europa, ABl. EU C 310 v. 16.12.2004, 1 ff.) geregelt. Ferner findet er Anklang in Art. 10 AEUV sowie in der Präambel des Grundgesetzes und er folgt aus der gemäß Art. 23 Abs. 1 GG erfolgten Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen an die Organe der EU durch den EGV. Der EuGH hat den Anwendungsvorrang bereits in seinem Urteil Costa/­ENEL (EuGH v. 15.7.1964, C-6/­64 – Costa/­ENEL, Slg. 1964, I1141, S. 1269 ff.) festgestellt. Neben dem Anwendungsvorrang ist der Grundsatz zu beachten, dass diesem durch die Mitgliedstaaten zur Funktionsfähigkeit der Union die größtmögliche und effektivste Geltung zu verschaffen ist (sog. effet utile): Haase, Internationales Steuerrecht, § 6 Rn. 772 f. 190  BVerfG v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/­ 13 u. a., BVerfGE 142, 123 Rn. 118 mwN (in dieser Entscheidung ging es um die Rechtmäßigkeit des Ankaufs von Staatsanleihen durch die EZB im OMT-Programm). Vgl. auch: Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 3 Rn. 62; Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 89. Im Gegensatz dazu enthielten die mitgliedstaatlichen Normenhierarchien regelmäßig Strukturen eines Geltungsvorrangs, nach dem die verdrängten Normen unwirksam würden: Rei­ mer, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 7.15. 191  Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 89; Frot­ scher, Internationales Steuerrecht, § 3 Rn. 62: Der Grund dafür liege insbesondere in ihrer Aufgabe, die nationalen Verfassungsordnungen zu schützen. 192 EuGH v. 17.12.1970, Rs. 11/­ 70 – Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125 Rn. 3; v. 17.12.1980, Rs. 149/­79 – Kommission/­Belgien, Slg. 1980, 3881 Rn. 19; v. 9.3.1978, Rs. 106/­77 – Simmenthal II, Slg. 1978, 629 Rn. 17 f.; Ruffert, in: Calliess/­ Ruffert, AEUV, Art. 1 Rn. 19.

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wendung findet.193 Aus dem Vorrang des Unionsrechts folgt zudem, dass das innerstaatliche Recht unionsrechtskonform auszulegen ist.194 Das Verhältnis zwischen Unionsrecht und dem innerstaatlichen Recht entspricht im Ergebnis dem Monismus mit Vorrang des Unionsrechts.195 Aus deutscher Sicht handelt es sich hierbei um einen Monismus auf dualistischer Grundlage, da das EU-Primärrecht in Form von völkerrechtlichen Abkommen mit der deutschen Rechtsordnung nach dualistischen Grundsätzen verbunden ist.196 Die obersten Gerichte der Mitgliedstaaten haben sich nicht überall dem unbedingten Vorranganspruch des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht unterworfen. Vielmehr geben die Verfassungsgerichte einiger Mitgliedstaaten der eigenen Verfassungsordnung Vorrang vor dem Unionsrecht.197 So ist es beispielsweise198 in Polen, Litauen, Griechenland, Frankreich und wegen des britischen Referendums vom 23.6.2016 über den Verbleib in der EU und dem nun anstehenden „Brexit“ wohl auch in Großbritannien199. Im Gegensatz dazu wird beispielsweise in Estland, Finnland, Irland, Luxemburg, Österreich, Zypern und in den Niederlanden der Vorrang vollständig und ohne Beschränkung anerkannt.200 Dazwischen gibt es die Mitgliedstaaten, die – wie Deutschland 201 – den Vorrang zwar anerkennen, aber Grenzen ziehen. Dies ist beispiels-

193  Vgl. EuGH v. 9.3.1978, Rs. 106/­77 – Simmenthal II, Slg. 1978, 629 Rn. 16, 21 ff.; v. 5.3.1998, C-347/­96 – Solred, Slg. 1998, I-937 Rn. 30; v. 9.9.2003, C-198/­01 – Fiammiferi, Slg. 2003, I-8055 Rn. 48; v. 12.1.2010, C341/­08 – Petersen, Slg. 2010, I-47 Rn. 81; v. 19.6.1990, C-213/­89 – Factortame, Slg. 1990, I2433 Rn. 19; v. 6.9.2012, C-18/­11 – Philips Electronics, EuZW 2013, 238 Rn. 38. Vgl. auch: Kruis, Der Anwendungsvorrang, S. 51 f. 194  Von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 540. 195  Von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 541. 196  Von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 541. 197  Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 10 Rn. 14. 198  Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 10 Rn. 31; Kruis, Der Anwendungsvorrang, S. 68 ff.; Wendel, Permeabilität im europäischen Verfassungsrecht, S. 503 ff.; Weiß, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 5 Rn. 213 f. 199  Das britische Unterhaus hat mit dem European Union (Withdrawal) Act 2018 (2018 c. 16) den Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht beendet. Kaiser, EuR 2016, 593 (595): Zuvor war der Anwendungsvorrang des Unionsrechts in Großbritannien anerkannt, vgl. das Factortame-Urteil (R v Secretary of State of Transport, ex parte Fac­ tortame (No 2), (1991]) 1 AC 603) des House of Lords. 200  Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 10 Rn. 29; ders., in: Grabitz/­Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 288 AEUV Rn. 54; Kruis, Der Anwendungsvorrang, S. 57 ff.; Weiß, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 5 Rn. 207 f. In Irland ist dies beispielsweise in Art. 29 Abs. 4 UAbs. 7 der irischen Verfassung geregelt, in den Niederlanden in Art. 94 der niederländischen Verfassung. 201  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.39.

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weise in Belgien202, Dänemark, Italien, Schweden, Spanien, Portugal, Slowenien, Ungarn und der Tschechischen Republik der Fall.203 In Lettland, Malta, Bulgarien, Rumänien und der Slowakei ist es noch weitgehend unklar, ob der Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen (Verfassungs-)Recht anerkannt wird.204 In Deutschland findet der Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen (Verfassungs-)Recht seine Schranken in den Grenzen der Öffnungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG in Verbindung mit der in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Verfassungsidentität des Grundgesetzes. Weitere Schranke ist das gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG im Zustimmungsgesetz zu den Verträgen niedergelegte Integrationsprogramm, das dem Unionsrecht für Deutschland erst die notwenige demokratische Legitimation verleiht.205 Daneben überwacht das Bundesverfassungsgericht zum einen mit der Ultra-­ vires-Kontrolle206 , dass sich die EU-Rechtsakte im Rahmen der übertragenen Hoheitsrechte bewegen und zum anderen mit der Identitätskontrolle, dass die Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG eingehalten wird.207 Im Rahmen der Identitätskontrolle prüft das Bundesverfassungsgericht, ob die Ewigkeitsgarantie nach Art. 79 Abs. 3 GG eingehalten wird, da die hiervon umfassten Grundsätze einer Übertragung auf die EU nicht zugänglich sind.208 Liegt ein Verstoß hiergegen vor, 202  Im Jahr 1971 übernahm der belgische Cour de Cassation (Cour de Cassation v. 27.5.1971 – S. A. Fromagerie franco-suisse „Le Ski“, RTDE 1971, 495) das Vorrangprinzip in der Form, wie es vom EuGH in Costa/­ENEL vorgegeben worden war: Haltern, Europarecht, § 10 Rn. 1260. 203  Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 10 Rn. 30; Kruis, Der Anwendungsvorrang, S. 61 ff.; Kleve/­Schneider, in: Schneider, Verwaltungsrecht in Europa, Band 1, S. 72, 217; Weiß, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 5 Rn. 209 ff. 204  Kruis, Der Anwendungsvorrang, S. 71 f. 205  BVerfG v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/­13 u. a., BVerfGE 142, 123 Rn. 115, 120; Schlü­ cke, Die Umsetzung von EuGH-Entscheidungen in das deutsche Steuerrecht, S. 53. 206  BVerfG v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/­92 u. a., BVerfGE 89, 155 (158) – Maastricht; v. 23.6.1981 – 2 BvR 1107/­77 u. a., BVerfGE 58, 1 (30 f.); v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/­08 u. a., BVerfGE 123, 267 (Ls. 4) – Lissabon; Weiß, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 5 Rn. 185: Das Bundesverfassungsgericht prüfe seit seiner Maastricht-Entscheidung, ob die Rechtsakte der EU sich unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips in den Grenzen des der EU eingeräumten Hoheitsrechts halten oder ob sie darüber hinausgehen und daher sog. ausbrechende Rechtsakte darstellen. 207  Weiß, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 5 Rn. 176; von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 541 ff.: Dabei ginge es dem BVerfG letztlich um eine Verteidigung der völkerrechtlichen Grundlagen der Union: Die Mitgliedstaaten bestimmten als „Herren der Verträge“ darüber, welche Hoheitsrechte sie auf die EU übertragen. Nur die in Übereinstimmung damit erlassenen Sekundärrechtsakte könnten über die Brücke des Zustimmungsgesetzes zu den völkerrechtlichen Gründungsverträgen in das innerstaatliche Recht gelangen. 208  Weiß, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 5 Rn. 190.

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Kapitel 1:  Grundlagen

kann die Identitätskontrolle dazu führen, dass das Unionsrecht in Deutschland für unanwendbar erklärt wird.209 Stellt sich eine Maßnahme als Ultra-­vires-Akt dar, erklärt das Bundesverfassungsgericht auch hierbei das EU-Recht für nicht in Deutschland anwendbar, sodass es insoweit auch nicht vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts umfasst wird.210 Der EuGH hat daher keine Kompetenz zur Entscheidung über die streitige Rechtsfrage. Die Grundsätze zur Kompetenzabgrenzung hat das Bundesverfassungsgericht in einer Reihe von Entscheidungen in den Urteilen Solange I 211, Solange II 212 , Maastricht 213, Lissabon 214 sowie Honeywell/­Mangold 215 angelegt; die Grundsätze zur Ultra-­vires-Kontrolle werden seit dem Maastricht-Urteil sowie der Lissabon-­Entscheidung weiterentwickelt und konkretisiert. Das Bundesverfassungsgericht hat dem EuGH erstmals im Jahr 2014 im Rahmen des OMT-­Beschlusses der EZB tatsächlich eine Rechtsfrage vorgelegt.216 In seinem anschließenden Urteil hat das Bundesverfassungsgericht „trotz gewichtiger Bedenken“ entschieden, dass dieser Grundsatzbeschluss keinen Ultra-vires-Akt darstellt und folgt damit der Auslegung des EuGH in dessen zugrundeliegendem Urteil.217 Somit hat das Bundesverfas209 BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/­ 08 u. a., BVerfGE 123, 267 (354 f.) – Lissabon; Weiß, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 5 Rn. 190. 210  BVerfG v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/­13 u. a., BVerfGE 142, 123 Rn. 162; Weiß, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 5 Rn. 186. 211  BVerfG v. 29.5.1974 – BvL 52/­71, BVerfGE 37, 271. 212  BVerfG v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/­83, BVerfGE 73, 339. 213  BVerfG v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/­92 u. a., BVerfGE 89, 155. 214  BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2/­08 u. a., BVerfGE 123, 267. 215  BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/­06, BVerfGE 126, 286. Dieser Beschluss hat die Hürden für die Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG ähnlich angehoben wie der Bananenmarkt-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG v. 7.6.2000 – 2 BvL 1/­ 97, BVerfGE 102, 147) für die Grundrechtskontrolle: Weiß, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 5 Rn. 187. In diesem Beschluss geht das Bundesverfassungsgericht näher auf die angespannte Kompetenzverteilung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH ein (Rn. 57): „Wenn jeder Mitgliedstaat ohne weiteres für sich in Anspruch nähme, durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten der Union zu entscheiden, könnte der Anwendungsvorrang praktisch unterlaufen werden, und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts wäre gefährdet. Würden aber andererseits die Mitgliedstaaten vollständig auf die Ultra-vires-Kontrolle verzichten, so wäre die Disposition über die vertragliche Grundlage allein auf die Unionsorgane verlagert, und zwar auch dann, wenn deren Rechtsverständnis im praktischen Ergebnis auf eine Vertragsänderung oder Kompetenzausweitung hinausliefe. […] Die nach dieser Konstruktion im Grundsatz unvermeidlichen Spannungslagen sind im Einklang mit der europäischen Integrationsidee kooperativ auszugleichen und durch wechselseitige Rücksichtnahme zu entschärfen.“ 216  BVerfG v. 14.1.2014 – 2 BvR 2728/­13 u. a., BVerfGE 134, 366; Schalast, BB 2016, 1667 (1669); ders., BB 9/­2014, Die Erste Seite. 217 EuGH v. 16.6.2015, C-62/­ 14 – Gauweiler u. a., EuZW 2015, 599; BVerfG v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/­13 u. a., BVerfGE 142, 123 Rn. 175, 181 ff.

§ 2  Unionsrechtliches Primärrecht

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sungsgericht auch in dieser Entscheidung die Frage der Kompetenzverteilung nicht endgültig entschieden, sondern folgt vielmehr seiner bisherigen Rechtsprechung.218 Es hat jedoch auch in diesem Urteil die Grundsätze der Ultra-­ vires-Lehre weiterentwickelt und detailliert.219 Nach dieser Entscheidung überlässt das Bundesverfassungsgericht die Überwachung der Kompetenzgrenzen somit nicht allein dem EuGH, dessen Zuständigkeit sich aus Art. 263 AEUV ergibt.220 Beide (eigenständigen) Kontrollvorbehalte sind jedoch zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben.221 Das Bundesverfassungsgericht schreibt insofern vor, dass insbesondere die Ultra-­ vires-Kontrolle nur bei hinreichend qualifizierten Kompetenzüberschreitungen in Betracht komme; eine solche müsse daher „offensichtlich und für die Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten von struktureller Bedeutung sein“.222 Voraussetzung ist zudem, dass dem EuGH vor der Annahme eines Ultra-vires-Aktes im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte zu geben ist.223 218  Schalast, BB 2016, 1667 (1670). Bereits der OMT-Vorlagebeschluss des Bundesverfassungsgerichts wurde als „Trojanisches Pferd“ für den EuGH bezeichnet, da seine Zuständigkeiten insbesondere mit der Androhung einer Ultra-vires-Entscheidung in Zweifel gezogen würden; zudem führe die Anwendung der Ultra-vires-Lehre im Ergebnis dazu, dass bei künftigen Entscheidungen europäischer Organe immer auf 28 Verfassungsgerichte geachtet werden müsse: Schalast, BB 9/­2014, Die Erste Seite. 219 BVerfG v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/­ 13 u. a., BVerfGE 142, 123 Rn. 121, 153 ff.; v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/­13 u. a., BVerfGE 142, 123; vgl. auch BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/­06 – Mangold, BVerfGE 126, 286 Rn. 66. 220  Von Arnauld, Völkerrecht, § 7 Rn. 543. 221  BVerfG v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/­13 u. a., BVerfGE 142, 123 Rn. 121, 153 ff.; vgl. auch BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/­06 – Mangold, BVerfGE 126, 286 Rn. 66. 222  BVerfG v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/­13 u. a., BVerfGE 142, 23 Rn. 147 ff.: Die Maßnahme liegt dann offensichtlich außerhalb der übertragenen Kompetenzen, wenn sich die Kompetenz unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt begründen lässt (Rn. 148 f.). Eine strukturell bedeutsame Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen kann nur vorliegen, wenn die Kompetenzüberschreitung ein für das Demokratieprinzip und die Volkssouveränität erhebliches Gewicht besitzt (Rn. 151). Vgl. auch BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/­06 – Mangold, BVerfGE 126, 286 Rn. 61. 223 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/­ 06 – Mangold, BVerfGE 126, 286 Rn. 60; v. 14.1.2014 – 2 BvR 2728/­13 u. a., BVerfGE 134, 366; Schalast, BB 2016, 1667 (1669); ders., BB 9/­2014, Die Erste Seite: Jedes innerstaatliche Gericht, das in letzter Instanz entscheidet, sei zur Vorlage verpflichtet. Eine Vorlagepflicht bestehe nur dann nicht, wenn die Antwort auf diese Frage keinerlei Einfluss auf die Entscheidung des Rechtsstreits haben könne, wenn bereits eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH vorliege oder wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig sei, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibe: EuGH v. 6.10.1982, Rs. 283/­81 – CILFIT, Slg. 1982, 3415 Rn. 10 ff.

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B.  Primärrecht als Begrenzung der Steuerhoheit der Mitgliedstaaten Grundsätzlich sind die einzelnen Staaten in ihrer Besteuerungshoheit souverän.224 Die Steuerhoheit als das Recht, Steuern zu erheben und über die Art und Weise ihrer Erhebung zu verfügen, gehört zu den elementaren Bestandteilen staatlicher Souveränität.225 Sie umfasst auch das Recht, sich am Auslandserfolg der eigenen Steuerpflichtigen und am Inlandserfolg ausländischer Steuerpflichtiger zu beteiligen.226 Die Besteuerungshoheit ist aber nicht grenzenlos. So begrenzt insbesondere das Primärrecht die nationale Steuersouveränität. Zwar enthält das Primärrecht kein einheitlich kodifiziertes Steuerrecht, sodass die direkten Steuern in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen,227 die nationalen Vorschriften müssen dabei jedoch die durch das Primärrecht aufgestellten Vorgaben zur Erreichung eines gemeinsamen Binnenmarktes im Sinne der Art. 3 Abs. 3 EUV, Art. 26 AEUV berücksichtigen.228 Darüber hinaus besteht ein grundsätzliches Verbot der steuerlichen Schlechterstellung grenzüberschreitender Sachverhalte im Vergleich zu rein innerstaatlichen Fällen,229 insbesondere muss das nationale

224  Scheffler, Besteuerung von Unternehmen, Rn. 882. Die Staaten haben ihre Abgabenhoheit immer betont, aber gleichzeitig intensiv kooperiert: Menck, in: FS Debatin, S. 305 (320). 225  Mössner, in: Mössner, Steuerrecht international tätiger Unternehmen, Rn. B 1. Die Errichtung eines Binnenmarkts, der sich die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zum Ziel gesetzt habe, respektiere bzw. setze die fiskalische Souveränität der Mitgliedstaaten voraus: Faust, in: Rupp/­ Knies/­Ott/­Faust, Internationales Steuerrecht, S. 17. 226  Mössner, in: Mössner, Steuerrecht international tätiger Unternehmen, Rn. B 1. Das nationale Steuersystem müsse seinen Eigenbestand gegenüber dem internationalen Raum sichern. Gleichzeitig müsse dem Steuersystem ein möglichst hohes Maß an Eigenbestimmung erhalten bleiben – Fremdbestimmungen aus dem internationalen Raum dürften sich nur innerhalb eines engen Rahmens halten: Menck, in: FS Debatin, S. 308. 227  So bestimmt beispielsweise Art. 114 Abs. 2 AEUV, dass die Bestimmungen der direkten Steuern nicht von dem Gebot der Rechtsangleichung erfasst werden. 228 EuGH v. 14.2.1995, C-279/­ 93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225; v. 11.8.1995, C-80/­94  – Wielockx, Slg. 1995, I-2493; v. 27.6.1996, C-107/­94 – Asscher, Slg. 1996, I-3089; v. 7.9.2004, C-319/­02 – Manninen, Slg. 2004, I-7477; v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837; v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273; v. 28.1.1992, C-204/­90 – Bachmann, Slg. 1992, I-249. Vgl. auch: Birk/­Desens/­Tappe, in: Birk/­ Desens/­ Tappe, Steuerrecht, Rn. 223; Nettesheim, in: Oppermann/­ Classen/­ Nettesheim, Europarecht, § 35 Rn. 57. 229  Englisch, in: Tipke/­Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 1.

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Steuer­recht mit den Grundfreiheiten vereinbar sein.230 Die vier Grundfreiheiten sind die Warenverkehrsfreiheit (Artt. 28 ff. AEUV), die Personenfreizügigkeit (die Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art. 45 AEUV und die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV), die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) und die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV).231 Diese Grundfreiheiten wirken insbesondere mittels der EuGH-Rechtsprechung auf die innerstaatlichen Rechtsvorschriften und damit auf die staatliche Souveränität ein.232 Der EuGH versucht dabei, einem diskriminierenden Verhalten der Mitgliedstaaten durch eine breite Anwendung der Grundfreiheiten entgegenzuwirken, wobei diese Rechtsprechung einen nicht unerheblichen Eingriff in die mitgliedstaatliche Besteuerungshoheit bedeutet.233

C.  Grundfreiheiten des Unionsrechts I.  Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote

Das Ziel der Grundfreiheiten ist die Sicherstellung des freien Verkehrs von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital über die Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten hinweg; die wirtschaftliche Freiheit im Inneren der einzelnen Mitgliedstaaten gehört nicht dazu.234 Sie schützen somit vor nationalen Maßnahmen, die den grenzüberschreitenden Verkehr behindern.235 Die Grundfrei230  Vgl. EuGH v. 14.2.1995, C-279/­93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 21 mit der üblichen Formulierung des EuGH: „[…] ist festzustellen, daß zwar der Bereich der direkten Steuern als solcher beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt, die Mitgliedstaaten die ihnen verbliebenden Befugnisse jedoch unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben müssen“. Dies folge zudem bereits aus der Unionstreue aus Art. 4 Abs. 3 EUV. Auch die Verwaltungspraxis und höchstrichterliche Rechtsprechung dürften nicht im Widerspruch zu grundfreiheitlichen Vorgaben stehen: Englisch, in: Tipke/­Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 24. 231  Die Grundfreiheiten ließen sich als punktuelle Verlängerungen des Binnenmarktprinzips für die verschiedenen Arten der wirtschaftlichen Betätigung begreifen und haben sich bisher als die wichtigste Waffe des Steuerpflichtigen bei den direkten Steuern erwiesen: Cordewener, DStR 2004, 6 f. 232  Haltern, Europarecht, § 8 Rn. 575 ff.: Der EuGH verfolge in seiner Rechtsprechung drei generelle Politikziele: die Sicherstellung der Effektivität des Unionsrechts (effet uti­ le), deren einheitliche Anwendung sowie den rechtlichen Schutz des Einzelnen. Die Urteile des EuGH wirken darüber hinaus zeitlich zurück. 233  Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 35 Rn. 57: Dieser Konflikt verschärfe sich noch einmal, wenn es um die steuerliche Behandlung von Einkünften aus Nicht-EU-Staaten gehe, die grundsätzlich ebenso vom Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit umfasst würden. 234  Classen, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 2. 235  Classen, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 2.

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heiten des AEUV sind dabei teils als Diskriminierungs-, teils als Beschränkungsverbote formuliert.236 Eine verbotene Diskriminierung liegt vor, wenn innerhalb einer Rechtsordnung auf gleiche Sachverhalte unterschiedliche Regelungen oder auf unterschiedliche Sachverhalte gleiche Regelungen angewandt werden und es aufgrund dessen zu einer Ungleichbehandlung der Sachverhalte kommt.237 So darf der Aufnahme- bzw. Quellenstaat die grenzüberschreitende wirtschaftliche Tätigkeit eines (beschränkt steuerpflichtigen) Ausländers im Verhältnis zu den Tätigkeiten eines Inländers nicht ungleich behandeln (sog. Inbound-Fall).238 Die Diskriminierungsverbote knüpfen grundsätzlich an die persönlichen Eigenschaften an, bei natürlichen Personen also an die Staatsangehörigkeit oder Ansässigkeit und bei Gesellschaften an deren Sitz (sog. offene Diskriminierungen).239 Im Steuerrecht haben solche offenen Diskriminierungen kaum Bedeutung, da die nationalen Vorschriften in der Regel nicht an die persönlichen Eigenschaften anknüpfen.240 Neben diesen offenen sind auch verdeckte Diskriminierungen denkbar, die zwar nicht an die persönlichen Eigenschaften, sondern an andere Unterscheidungsmerkmale anknüpfen, das Differenzierungskriterium aber regelmäßig nur bei Ausländern erfüllt ist und diese aufgrund dessen im Verhältnis zu Inlän-

236 

Reimer, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 7.34 f.: Darüber hinaus seien die Grundfreiheiten sowohl absolute Rechte, die ein Hoheitsträger einem Marktteilnehmer unabhängig davon zu gewähren habe, wie derselbe Hoheitsträger andere Marktteilnehmer behandele (freiheitsrechtliche Dimension) als auch relative Rechte, die es einem Hoheitsträger verbieten, bestimmte Marktteilnehmer oder Wirtschaftsvorgänge schlechter zu behandeln als andere (gleichheitsrechtliche Dimension). 237  Vgl. EuGH v. 13.11.1984, Rs. 283/­83 – Racke, Slg. 1984, 3791 Rn. 7; v. 14.2.1995, C-279/­93  – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 30; v. 11.8.1995, C-80/­94 – Wielockx, Slg. 1995, I-2493 Rn. 17; v. 12.12.2006, C-374/­04 – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation, Slg. 2006, I-11673 Rn. 46; v. 26.6.2008, C-284/­06 – Burda, Slg. 2008, I-4571 Rn. 82; v. 22.12.2008, C-282/­07 – Truck Center, Slg. 2008, I-10767 Rn. 37. Vgl. auch: Classen, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 3; Stewen, EuR 2008, 445 (450). 238  Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung, S. 170 f.; Weber-Grellet, DStR 2009, 1229 (1230). 239  Dabei werde eine Unterscheidung nach dem Wohnsitz der nach der Staatsangehörigkeit gleichgesetzt: Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 3 Rn. 64. Das Verbot einer Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit stelle ein spezifisches Diskriminierungsverbot dar, welches das allgemeine Diskriminierungsverbot gemäß Art. 18 AEUV konkretisiere: Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 27 Rn. 34. 240  Vgl. auch Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung, S. 179.

§ 2  Unionsrechtliches Primärrecht

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dern ungleich behandelt werden.241 Diese verdeckten Diskriminierungen spielen im Steuerrecht eine wichtige Rolle, insbesondere auch deshalb, weil der EuGH selbst bei nationalen Vorschriften, die einen Ansatzpunkt für eine offene Diskriminierung enthalten, teilweise den Prüfungsmaßstab einer verdeckten Diskriminierung zugrunde legt.242 Demgegenüber enthalten die Grundfreiheiten kein allgemeines Gleichbehandlungsgebot. Eine Regelung, die die steuerliche Belastung einer grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehung auf das gleiche Besteuerungsniveau wie bei einer inländischen Wirtschaftstätigkeit hebt, ist somit keine Diskriminierung.243 Die Grundfreiheiten verlangen unter dem Gesichtspunkt der Inländergleichbehandlung aber von den Mitgliedstaaten, dass jeder ausländische EU-Steuerpflichtige im Ergebnis wie ein inländischer Staatsangehöriger behandelt wird.244 Im Gegensatz zum Diskriminierungsverbot sind Beschränkungsverbote unspezifisch formuliert245 und knüpfen an die Eigenschaft einer Wirtschaftsbeziehung als grenzüberschreitend an, unabhängig von Staatsangehörigkeit, Ansässigkeit oder Sitz.246 Beschränkungsverbote kommen bei unterschiedslos anwendbaren nationalen Maßnahmen bereits dann zur Anwendung, wenn diese geeignet247 sind, die Ausübung der Grundfreiheiten zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen.248 Der EuGH ist hierbei großzügig und 241  Vgl. EuGH v. 12.2.1974, Rs. 152/­73 – Sotgiu, Slg. 1974, 153 Rn. 11; v. 12.4.1994, C1/­93  – Halliburton, Slg. 1994, I-1137 Rn. 15; v. 16.5.2000, C-87/­99 – Zurstrassen, Slg. 2000, I-3337 Rn. 18; v. 8.5.1990, C-175/­88 – Biehl, Slg. 1990, I-1779; Classen, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 3; Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2459; Knobbe-Keuk, DB 1990, 2573 (2576); Stewen, EuR 2008, 445 (450). Ein Differenzierungskriterium stelle beispielsweise der Wohnsitz oder die Unterscheidung zwischen beschränkter und unbeschränkter Steuerpflicht dar. 242  Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung, S. 181. Im Bereich der Niederlassungsfreiheit sei dies der Fall, wenn die nationale Vorschrift an den Sitz der Gesellschaft anknüpfe: vgl. hierzu EuGH v. 13.7.1993, C-330/­91 – Commerzbank, Slg. 1991, I-4017 Rn. 5; v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 19. 243 EuGH v. 23.2.2006, C-513/­ 03 – van Hilten-van der Heijden, Slg. 2006, I-1957 Rn. 44 ff.; v. 6.12.2007, C-298/­05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451 Rn.  55 ff.; Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 3 Rn. 64. 244 Vgl. EuGH v. 29.4.1999, C-311/­ 97 – Royal Bank of Scotland, Slg. 1999, I-2651 Rn. 21; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 4.14. 245  Reimer, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 7.34. 246  Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 3 Rn. 64. 247  Vgl. EuGH v. 18.7.2007, C-231/­ 05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 42. Ein Nachweis, dass die Maßnahme tatsächlich diese Wirkung habe, sei daher nicht erforderlich: Kokott/­Ost, EuZW 2011, 496 (498). 248 Diese Formulierung findet sich – soweit ersichtlich – erstmals im Urteil Kraus (EuGH v. 31.3.1993, C-19/­92 – Kraus, Slg. 1993, I-1663 Rn. 32), das jedoch nicht den Bereich der direkten Steuern betrifft. Für den Bereich der direkten Steuern vgl. EuGH

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Kapitel 1:  Grundlagen

lässt es genügen, wenn die Ausübung einer Grundfreiheit aufgrund der jeweiligen Maßnahme als weniger attraktiv erscheint oder wenn der Zugang zu einem anderen nationalen Markt erschwert wird.249 Auch geringfügige und unbedeutende Beschränkungen des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs sind untersagt.250 Der EuGH hat ein solches Beschränkungsverbot insbesondere dahingehend entwickelt, dass sich auch Inländer gegenüber ihrem Herkunfts- bzw. Ansässigkeitsstaat auf den Schutz der Grundfreiheiten berufen können, soweit sie grenzüberschreitend oder im EU-Ausland tätig sind (sog. Outbound-Fall).251 Das Beschränkungsverbot umfasst zum einen die Fälle, in denen die nationalen Vorschriften eine grenzüberschreitende Tätigkeit ungünstiger behandeln als eine rein innerstaatliche. Der EuGH bezieht sich in seiner Rechtsprechung im Bereich des Steuerrechts überwiegend auf diese Form des Beschränkungsverbots.252 v. 27.9.1988, Rs. 81/­87 – Daily Mail, Slg. 1988, 5483 Rn. 16 ff.; v. 30.11.1995, C-55/­94 – Gebhard, Slg. 1995, I-4165 Rn. 37; v. 15.5.1997, C-250/­ 95 – Futura Participations, Slg. 1997, I-2471 Rn. 31; v. 11.5.1999, C-255/­97 – Pfeiffer, Slg. 1999, I-2835; v. 1.2.2001, C-108/­96  – Mac Quen u. a., Slg. 2001, I-837; v. 11.7.2002, C294/­00 – Paracelsus Schu­ len, Slg. 2002, I-6515; v. 9.11.2006, C-433/­04 – Kommission/­Belgien, Slg. 2006, I-10653 Rn. 28 mwN; Tiedje, in: von der Groeben/­Schwarze/­Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 49 AEUV Rn. 98; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 825; Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung, S. 171. 249  Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 825. 250  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 43. 251 Zur Niederlassungsfreiheit: EuGH v. 13.4.2000, C251/­ 98 – Baars, Slg. 2000, I-2787 Rn. 28 f.; v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 42; v. 27.9.1988, Rs. 81/­87 – Daily Mail, Slg. 1988, 5483 Rn. 16; v. 16.7.1998, C-264/­96 – ICI, Slg. 1998, I4695 Rn. 21; v. 23.10.2008, C157/­07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 30 f.; zur Dienstleistungsverkehrsfreiheit: EuGH v. 10.5.1995, C-384/­ 93 – Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141 Rn. 30; zur Kapitalverkehrsfreiheit: EuGH v. 6.6.2000, C35/­98 – Verkooijen, Slg. 2000, I-4071 Rn. 64 ff.; v. 7.9.2004, C-319/­02 – Man­ ninen, Slg. 2004, I7477. Vgl. auch: EuGH v. 11.7.1974, Rs. 8/­74 – Benoit und Dassonvil­ le, Slg. 1974, 837; v. 3.12.1974, Rs- 33/­74 – van Binsbergen, Slg. 1974, 1299; v. 20.2.1979, C-120/­78  – Cassis de Dijon, Slg. 1979, I-649; v. 15.12.1995, C-415/­93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921; v. 8.5.1990, C175/­88 – Biehl, Slg. 1990, I-1779; v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Bel­ gium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 20: „Diese Erwägungen gelten auch dann, wenn eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft über eine Betriebsstätte in einem anderen Mitgliedstaat tätig ist.“ Vgl. auch: Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 4.14; Tiedje, in: von der Groeben/­Schwarze/­Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 49 AEUV Rn. 99; Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung, S. 171; Knobbe-Keuk, DB 1990, 2573 (2574); Weber-Grellet, DStR 2009, 1229 (1230). 252  Zusammenfassend siehe: Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung, S. 172. Erfasst werden hier insbesondere Fälle im Rahmen der Entstrickungsbesteuerung; Siehe dazu § 6 B. II.

§ 2  Unionsrechtliches Primärrecht

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II.  Schutzbereich der Grundfreiheiten

Die Grundfreiheiten sollen die Bildung und das Funktionieren eines einheitlichen Binnenmarktes sicherstellen,253 sodass ihr Schutzbereich im Wesentlichen die wirtschaftliche Tätigkeit von EU-Staatsangehörigen 254 sowie von wirksam errichteten juristischen Personen und nicht rechtsfähigen Gesellschaften erfasst.255 Diese wirtschaftliche Betrachtungsweise dürfte sich angesichts der allgemeinen Freizügigkeitsgarantie des Art. 21 AEUV allerdings nicht aufrechterhalten lassen.256 Angehörige von Drittstaaten werden in der Regel nicht in den Schutzbereich einbezogen. Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten innerhalb der EU müssen die Mitgliedstaaten die Grundfreiheiten aber auch bei der Besteuerung wirtschaftlicher Aktivitäten im Rahmen eines DBA mit einem Drittstaat beachten.257 Bei der Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit liegt eine Diskriminierung dann regelmäßig in der unterschiedlichen steuerlichen Erfassung von Drittstaateneinkünften in einem Mitgliedstaat im Rahmen der unbeschränkten und beschränkten Steuerpflicht.258 Die Warenverkehrsfreiheit (Artt. 28 ff. AEUV) sowie die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) sollen in der vorliegenden Arbeit indes keine Rolle spielen. 1.  Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Artt. 45 ff. AEUV

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Artt. 45 ff. AEUV soll den wirtschaftlich tätigen Marktbürgern die freie Standortwahl für die Ausübung ihrer Tätigkeit ermöglichen.259 In den persönlichen Schutzbereich fallen gemäß Art. 45 253 

Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 3 Rn. 64. EuGH v. 12.7.2005, C-403/­03 – Schempp, Slg. 2005, I-6421; Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, S. 975. Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (ABl. EG Nr. L 1 v. 3.1.1994): Anwendbar sind die Grundfreiheiten auch auf Angehörige der EWR-Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein. 255  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 4.16. 256  Wohl mehrheitlich wird vertreten, dass künftig auch nichtwirtschaftliche Betätigungen vom Schutzbereich der Grundfreiheiten erfasst werden. Siehe die Darstellung bei: Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 793. Ebenso: Schön, IStR 2004, 289 (295); Hahn, DStZ 2005, 433 (437). 257 EuGH v. 21.9.1999, C-307/­ 97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 59; v. 15.1.2002, C-55/­00 – Gottardo, Slg. 2002, I-413 Rn. 32 ff.; v. 5.11.2002, C-466/­98 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, Slg. 2002, I-9427 Rn. 44. Dies ergibt sich auch aus Art. 351 Abs. 2 S. 1 AEUV, dem entnommen werden kann, dass die Grundfreiheiten auch bei dem Abschluss völkerrechtlicher Verträge mit Drittstaaten anwendbar sein sollen: Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.158. 258  Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung, S. 128. 259  Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 27 Rn. 1. 254 

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Kapitel 1:  Grundlagen

Abs. 2 AEUV nur Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten, sodass solche aus Drittstaaten nicht erfasst werden.260 Zum sachlichen Anwendungsbereich, der weit ausgelegt wird, gehört die gesamte, vom Arbeitnehmer ausgeübte, wirtschaftliche Erwerbstätigkeit, wobei als entscheidendes Kriterium die weisungsgebundene, vergütete Tätigkeit anzusehen ist.261 Der EuGH prüft die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht nur in Fällen, in denen ein Arbeitnehmer zum Zwecke der Erwerbstätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat umzieht, sondern auch dann, wenn Arbeitnehmer unter Beibehaltung ihres Arbeitsverhältnisses im Wegzugsstaat in einen anderen Mitgliedstaat ziehen, oder unter Beibehaltung ihres Wohnsitzes im anderen Staat ein Arbeitsverhältnis begründen, und somit als Grenzgänger tätig sind.262 Vom Schutzbereich ausdrücklich ausgenommen ist die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung (Art. 45 Abs. 4 AEUV). Die Arbeitnehmerfreizügigkeit enthält in Art. 45 Abs. 2 AEUV sowohl ein Diskriminierungs- als auch ein Beschränkungsverbot. Neben den offenen bzw. direkten Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit sind auch versteckte bzw. indirekte Ungleichbehandlungen aufgrund beispielsweise des Wohnorts, der Sprachnachweise, der Anrechnung von Beschäftigungszeiten, der Berufsgruppen oder sonstiger für die Herkunft spezifischer Eigenschaften erfasst.263 Im Rahmen des Beschränkungsverbots dürfen Regelungen eines Mitgliedstaats den Staatsangehörigen eines anderen oder des eigenen Staats nicht daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von der Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch zu machen, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer Anwendung finden.264 260 Zumindest sekundärrechtlich wurde der Schutz der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch die FreizügigkeitsVO (EU) Nr. 492/­2011 auf die Familienangehörigen des Arbeitnehmers erstreckt, für die das Erfordernis der Staatsangehörigkeit nicht gilt. Somit können auch Familienangehörige aus Drittstaaten in den Genuss der mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit verbundenen Rechte kommen: Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 1404. 261  Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 27 Rn. 22; Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 1405. 262 EuGH v. 6.10.2015, C-298/­ 14 – Hartmann, Slg. 2007, I-6303; Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 27 Rn. 24. 263  Erstmals: EuGH v. 12.2.1974, Rs. 152/­73 – Sotgiu, Slg. 1974, 153 Rn. 11; vgl. auch EuGH v. 21.2.2006, C-152/­03 – Ritter-Coulais, Slg. 2006, I-1711; v. 25.1.2007, C-329/­05 – Meindl, Slg. 2007, I-1107; Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 27 Rn. 36; Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 1870, 1898 ff.; Forsthoff, in: Grabitz/­Hilf/­ Nettesheim, Art. 45 AEUV Rn. 264 ff. Mittlerweile wird auch die steuerliche Gleichbehandlung zu Art. 45 AEUV gezählt: Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 27 Rn. 39. 264 EuGH v. 31.3.1993, C-19/­ 92 – Kraus, Slg. 1993, I1663 Rn. 32; v. 15.12.1995, C-415/­93  – Bosman, Slg. 1995, I-4921; v. 9.11.2006, C520/­04 – Turpeinen, Slg. 2006, I-10685; v. 27.9.1988, Rs. 81/­87 – Daily Mail, Slg. 1988, 5483 Rn. 16; v. 12.12.2002,

§ 2  Unionsrechtliches Primärrecht

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2.  Niederlassungsfreiheit gemäß Artt. 49 ff. AEUV

Die Niederlassungsfreiheit gemäß Artt. 49 ff. AEUV gewährt das Recht auf freie unternehmerische Mobilität.265 In den persönlichen Schutzbereich fallen gemäß Art. 49 Abs. 1 S. 1 AEUV Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sowie gemäß Art. 54 Abs. 1 AEUV die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung innerhalb der EU haben. Angehörige von Drittstaaten sind somit grundsätzlich nicht erfasst; die Niederlassungsfreiheit gilt jedoch aufgrund besonderer, vertraglicher Vereinbarungen auch zugunsten der Staatsangehörigen des Europäischen Wirtschaftsraums (im Folgenden: EWR) sowie der Schweiz.266 Als Niederlassung gilt dabei eine feste Einrichtung, die der Teilnahme am Wirtschaftsleben auf unbestimmte Zeit dient.267 In sachlicher Hinsicht umfasst die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbstständiger268 Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen (Art. 49 Abs. 2 AEUV). Die Niederlassungsfreiheit gilt somit in erster Linie gegenüber dem Aufnahmestaat als Adressaten. In zwei Fallgruppen kann sich ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats (Wegzugsstaat) aber auch diesem gegenüber auf die Niederlassungsfreiheit berufen: in Wegzugs- und in Rückzugsfällen.269 Insofern verbietet die Niederlassungsfreiheit in Wegzugsfällen, dass der Herkunftsmitgliedstaat die Niederlassung sei-

C-385/­00  – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 78 mwN. Vgl. auch: Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 27 Rn. 40; Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 1407, 1905: komplementär dazu sind die Grenzen der Keck-Rechtsprechung analog anzuwenden. 265  Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 28 Rn. 1, 34. 266  Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2179, 2272. 267  EuGH v. 12.7.2012, C378/­10 – VALE, EuZW 2012, 621 Rn. 34. Die Belegenheit von Vermögen allein genügt daher nicht: EuGH v. 14.9.2006, C-386/­04 – Stauffer, Slg. 2006, I-8203 Rn. 18 f.; v. 11.10.2007, C-451/­05 – ELISA, Slg. 2007, I-8251 Rn. 63 ff. Vgl. Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 209. 268  EuGH v. 8.6.1999, C-337/­97 – Meeusen, Slg. 1999, I-3289 Rn. 15. In Abgrenzung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit: Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 27 Rn. 9; Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 1350. 269 EuGH v. 21.5.2015, C-657/­ 13 – Verder LabTec, GRUR Int. 2015, 839 Rn. 33; v. 16.4.2015, C-591/­ 13 – Kommission/­Deutschland, BB 2015, 1263 Rn. 56 mwN; v. 13.4.2000, C-251/­98 – Baars, Slg. 2000, I-2787 Rn. 8; v. 14.12.2000, C-141/­99 – AMID, Slg. 2000, I-11619 Rn. 21; v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 42; Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2255 ff.; Knobbe-Keuk, DB 1990, 2573 (2574); Forsthoff, in: Grabitz/­Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 288 AEUV Rn.  116 ff.; Blanke/­Böttner, in: Niedobitek, Europarecht Politiken, § 2 Rn. 403.

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Kapitel 1:  Grundlagen

ner Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat behindert.270 Die Rückzugsfälle betreffen hingegen Konstellationen, in denen ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats in einem anderen Staat ansässig war, dort beispielsweise eine Niederlassung gegründet hat, und nun im Heimatstaat eine Zweitniederlassung gründen möchte.271 In diesem Fall befindet sich der Staatsangehörige in einer vergleichbaren Lage wie Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, sodass der Herkunftsmitgliedstaat ihn aufgrund der Niederlassungsfreiheit nicht in seinen Tätigkeiten behindern darf.272 Der sachliche Schutzbereich umfasst im Ergebnis jede unternehmerische Tätigkeit, gleich in welcher Rechtsform.273 Diese Regelung stellt den Normalfall der Niederlassung dar, namentlich die Übersiedlung bzw. in den Fällen des Art. 54 AEUV die Verlegung des statuarischen Sitzes oder der Geschäftsleitung in einen anderen EU-Mitgliedstaat (sog. primäre Niederlassung). Hiervon umfasst ist darüber hinaus die Überführung von Wirtschaftsgütern einer im Inland ansässigen festen Niederlassung in einen anderen Mitgliedstaat.274 Im Falle der primären Niederlassung bzw. Hauptniederlassung ist es ohne Bedeutung, ob die EU-Staatsangehörigen ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt innerhalb oder außerhalb der EU haben.275 Gemäß Art. 49 Abs. 1 S. 2 AEUV gilt das Gleiche für Beschränkungen der Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines Mitgliedstaats (sog. sekundäre Niederlassung). In den sachlichen Schutzbereich fällt somit auch die Gründung einer Betriebstätte. Für den Fall der sekundären Niederlassung ist jedoch die Ansässigkeit in einem der Mitgliedstaaten erforderlich.

270 EuGH v. 27.9.1988, Rs. 81/­ 87 – Daily Mail, Slg. 1988, 5483; v. 11.3.2004, C-9/­ 02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 42; v. 13.4.2000, C-251/­98 – Baars, Slg. 2000, I-2787 Rn. 28 mwN; v. 12.7.2012, C-269/­09 – Kommission/­Spanien, EuZW 2013, 34 Rn. 52 f. mwN; v. 16.7.1998, C-264/­96 – ICI, Slg. 1998, I4695 Rn. 21; v. 6.12.2007, C-298/­05  – Columbus Container Services, Slg. 2007, I10451 Rn. 33; v. 23.10.2008, C157/­07  – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 29; v. 15.4.2010, C-96/­08 – CIBA, Slg. 2010, I2911 Rn. 18; v. 21.12.2016, C-503/­14 – Kommission/­Portugal, EuZW 2017, 180 Rn. 38; v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80 Rn. 24. 271  Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2260. 272  Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2260; EuGH v. 7.2.1979, Rs. 115/­78 – Knoors, Slg. 1979, 399. 273  Nettesheim, in: Oppermann/­ Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 28 Rn. 16. Es muss sich um eine selbstständig ausgeübte Tätigkeit handeln, die auf ein Entgelt abzielt, ohne dass es auf eine Gewinnerzielungsabsicht ankommt. 274 EuGH v. 21.5.2015, C-657/­ 13 – Verder LabTec, GRUR Int. 2015, 839 Rn. 35; v. 18.7.2013, C-261/­11 – Kommission/­Dänemark, BeckEURS 2013, 736235 Rn. 28 mwN. 275  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 4.28.

§ 2  Unionsrechtliches Primärrecht

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Die Niederlassungsfreiheit umfasst ein Diskriminierungs- und ein Beschränkungsverbot276 und stellt – wie die anderen Grundfreiheiten auch – eine spezielle Ausprägung des allgemeinen Diskriminierungsverbotes nach Art. 18 AEUV dar277. Ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot liegt insbesondere dann vor, wenn der Zuzug von Unternehmen direkt oder indirekt erschwert wird.278 Ein Verstoß gegen das Beschränkungsverbot ist gegeben, wenn die Ausübung der Freizügigkeit durch steuerliche Maßnahmen unterbunden, behindert oder weniger attraktiv gemacht wird 279 und eine Erschwerung des Marktzugangs die Folge ist.280 Art. 49 AEUV verbietet auch geringfügige oder unbedeutende Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit.281 3.  Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Artt. 63 ff. AEUV

Die Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Artt. 63 ff. AEUV dient der Herstellung und Aufrechterhaltung des EU-Binnenmarktes und der damit verbundenen positiven wirtschaftlichen Effekte.282 Die Kapitalverkehrsfreiheit ist die einzige Grundfreiheit, auf deren persönlichen Schutzbereich sich auch natürliche und juristische Personen aus Drittstaaten berufen können (sog. Erga-omnes-­

276  EuGH v. 12.7.1984, C-107/­ 83 – Klopp, Slg. 1984, 2971; v. 27.9.1988, Rs. 81/­87 – Daily Mail, Slg. 1988, 5483; v. 7.5.1991, C-340/­89 – Vlassopoulou, Slg. 1991, I-2357 Rn. 15; v. 31.3.1993, C-19/­92 – Kraus, Slg. 1993, I1663 Rn. 32; v. 30.11.1995, C-55/­94 – Gebhard, Slg. 1995, I-4165 Rn. 37; Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 201; Forsthoff, in: Grabitz/­Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 49 AEUV Rn.  88 ff.; Korte, in: Calliess/­Ruffert, Art. 49 AEUV Rn. 49. 277  Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2136. 278  Umfasst werden offene sowie versteckte Diskriminierungen: Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 4.28. Die Niederlassungsfreiheit ist damit eine Ausprägung des Diskriminierungsverbots im Sinne des Art. 18 AEUV: Nettesheim, in: Oppermann/­ Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 28 Rn. 33. 279  Vgl. EuGH v. 5.10.2004, C-442/­02 – CaixaBank France, Slg. 2004, I8961 Rn. 11; v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I12273 Rn. 36; v. 21.5.2015, C-657/­13  – Verder LabTec, GRUR Int. 2015, 839 Rn. 34; v. 16.4.2015, C-591/­ 13 – Kommission/­Deutschland, BB 2015, 1263 Rn. 56 mwN. 280  EuGH v. 13.3.2007, C-524/­ 04 – Test Claimant in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107 Rn. 61: Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit liegt bereits dann vor, wenn die fragliche Vorschrift abstrakt geeignet ist, die Niederlassung in einem anderen Staat zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Vgl. auch Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 4.29. 281  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­ 02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 43 mwN; v. 28.1.1986, C-270/­ 83 – Kommission/­Frankreich, Slg. 1986, 273 Rn. 21; v. 15.2.2000, C-34/­98 – Kommission/­Frankreich, Slg. 2000, I995 Rn. 49. 282  Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 30 Rn. 1.

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Kapitel 1:  Grundlagen

Wirkung).283 Der Grund dafür ist, dass die Kapitalverkehrsfreiheit auf den Wirtschaftsvorgang an sich abstellt. In sachlicher Hinsicht schützt Art. 63 AEUV die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Eine allgemeine Definition des Begriffs des Kapitalverkehrs besteht nicht.284 Teilweise wird angenommen, dass unter dem Kapitalverkehr die einseitige grenzüberschreitende Verbringung von Sach- oder Geldkapital jeglicher Art zu verstehen ist.285 Unter Verweis auf die Nomenklatur in Anhang I der Richtlinie 88/­361/­EWG und die dortigen Begriffsbestimmungen ist anzunehmen, dass jedenfalls Direktinvestitionen in Gestalt der Beteiligung an einem Unternehmen mittels Anteilserwerb sowie Wertpapierkäufe auf dem Kapitalmarkt zum Kapitalverkehr gehören.286 Dieser nicht abschließenden Aufzählung weist auch der EuGH einen Hinweischarakter für die Auslegung des Art. 63 Abs. 1 AEUV zu.287 Kennzeichen der Direktinvestition als Unterform des Kapitalverkehrs ist die Möglichkeit der tatsächlichen Beteiligung an der Verwaltung einer Gesellschaft und deren Kontrolle, wobei es im Gegensatz zur Niederlassungsfreiheit288 eines sicheren Einflusses nicht bedarf.289 Der Zahlungsverkehr ist die einseitige, grenzüberschreitende, bare oder unbare Vergütung von Dienstleistungen und Warenlieferungen.290 Es geht hierbei um die grenzüberschreitende Erfüllung von Zahlungsverbindlichkeiten.291 Der sachliche Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit gegenüber Drittstaatsangehörigen hat auch im Steuerrecht den gleichen Umfang wie gegenüber Staatsan-

283  Sedlaczek/­Züger, in: Streinz, Art. 63 AEUV Rn. 16; Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 94. Dies gilt auch, wenn beide Transaktionspartner Angehörige von Drittstaaten sind. Voraussetzung ist aber, dass sich der Vorgang innerhalb der EU abspielt. 284  Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 3584. 285  Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 808; Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 2 Rn. 101. 286  Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 3585: Neben den Direktinvestitionen gehörten auch Immobilieninvestitionen oder Kapitalverkehr mit persönlichem Charakter (Erbschaften, Stiftungen, Schenkungen) zum Begriff des Kapitalverkehrs. 287  Streinz, Europarecht, § 11 Rn. 956; EuGH v. 16.3.1999, C-222/­97 – Trummer und Mayer, Slg. 1999, I-1661 Rn 21. 288  Siehe zur Abgrenzung von der Niederlassungsfreiheit zur Kapitalverkehrsfreiheit sogleich im nachfolgenden Abschnitt. 289  Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 3585: Ein sicherer Einfluss schadet jedoch nicht. 290  Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 808. 291  Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 3594.

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gehörigen der EU.292 Dies erschwert eine steuerliche Abgrenzung der EU gegenüber Drittstaaten und macht sie teilweise unmöglich.293 Die Kapitalverkehrsfreiheit stellt nach dem Wortlaut ein Beschränkungsverbot dar, das allerdings ein Diskriminierungsverbot einschließt.294 Im Gegensatz zum Diskriminierungsverbot der Niederlassungsfreiheit umfasst der Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit nicht nur jede Diskriminierung des Kapitalverkehrs nach Maßgabe der Staatsangehörigkeit, sondern auch nach Maßgabe des Wohn- und Kapitalanlageortes.295 Je nach Art der Beteiligung kann sich ein Steuerpflichtiger demnach entweder gegenüber einem anderen Mitgliedstaat oder gegenüber seinem eigenen Wohnsitzstaat auf die Kapitalverkehrsfreiheit berufen.296 Da die Beschränkungs- und Diskriminierungsverbote – wie bereits bei den anderen Grundfreiheiten dargestellt – weit auszulegen sind, liegt eine Benachteiligung wiederum bereits dann vor, wenn ein Sachverhalt durch eine fragliche Regelung weniger attraktiv erscheint.297 Zu beachten ist aber, dass die Rechtsprechung zu Beschränkungen der Verkehrsfreiheiten innerhalb der EU nicht in vollem Umfang auf den Kapitalverkehr zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten übertragen werden kann, da sich dieser in einen anderen rechtlichen Rahmen einfügt.298 Insofern kann der Nachweis eines Mitgliedstaats nicht ausgeschlossen werden, dass eine Beschränkung des Kapitalverkehrs mit Drittstaaten aus einem bestimmten Grund gerechtfertigt ist, auch wenn dieser Grund keine stichhaltige Rechtfertigung für eine Beschränkung des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten darstellen würde.299 292 EuGH v. 18.12.2007, C-101/­ 05 – A, Slg. 2007, I-11531 Rn. 37; v. 15.12.1995, C-163/­ 94, C-165/­ 94 und C-250/­ 94 – Sanz de Lera, Slg. 1995, I-4821; v. 23.9.2003, C-452/­01  – Ospelt, Slg. 2003, I-9743. Vgl. auch: Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 3 Rn. 73. 293  Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 3 Rn. 73. 294  EuGH v. 7.9.2004 – C319/­02 – Manninen, Slg. 2004, I-7477 Rn. 20 ff. (zum Diskriminierungsverbot) und EuGH v. 26.9.2000, C-478/­98 – Kommission/­Belgien, Slg. 2000, I-7587 Rn. 27 (zum Beschränkungsverbot). Vgl. Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 212. 295  Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 212. 296  Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 212. 297  Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 215: Untersagt sei jegliche mittelbare oder unmittelbare, tatsächliche oder nur potenzielle Behinderung des Zu-, Aboder Durchflusses von Kapital beim Inhaber oder Empfänger des Kapitals. 298  EuGH v. 10.2.2011, C-437/­08 und 438/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­reichische Salinen, EuZW 2011, 728 Rn. 119; v. 28.10.2010, C-72/­09 – Établissements Rimbaud, EuZW 2011, 30 Rn. 40 mwN. 299  EuGH v. 10.2.2011, C-437/­08 und 438/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­reichische Salinen, EuZW 2011, 728 Rn. 120; v. 4.6.2009, C-439/­07 und C-499/­07 – KBC Bank, Slg. 2009, I-4409 Rn. 73.

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Kapitel 1:  Grundlagen

4.  Verhältnis zwischen den Grundfreiheiten

Die Grundfreiheiten sind gleichrangig, was sich insbesondere in Art. 26 Abs. 2 AEUV zeigt. Es gibt danach kein Vorrangverhältnis zwischen den einzelnen Grundfreiheiten, sodass sie grundsätzlich nebeneinander anwendbar sind.300 Dies gilt insbesondere für die Niederlassungs- und die Kapitalverkehrsfreiheit.301 Es können aber, je nach Lage des Falles, Grundfreiheiten zugleich betroffen sein.302 Im Grunde reicht hier bereits die Beschränkung einer der beiden Grundfreiheiten aus, um die betreffende nationale Regelung unionsrechtswidrig werden zu lassen, sodass eine genaue Abgrenzung zwischen den einzelnen Grundfreiheiten nicht erforderlich ist. Handelt es sich jedoch um einen Sachverhalt mit Drittstaatsbezug, sind insbesondere Abgrenzungsfragen zwischen der Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit aufgrund des unterschiedlichen persönlichen Anwendungsbereichs zu klären. Zwar kann auch bei reinen EU-Fällen ohne Drittstaatsbezug ein Konkurrenzverhältnis vorliegen,303 dieses muss jedoch aufgrund der Rechtsfolgenparallelität nicht zwingend aufgelöst werden.304 300  EuGH v. 12.5.1998, C-336/­ 96 – Gilly, Slg. 1998, I-2793; v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409; v. 1.6.1999, C-302/­97 – Konle, Slg. 1999, I-3099 Rn. 3 ff.; Schlussanträge des Generalanwalts Siegbert Alber v. 14.10.1999, C-251/­98 Rn. 14: „Dabei kann eine einzige Verhaltensweise unter verschiedenen Aspekten schützenswert sein und insoweit gleichzeitig mehreren Grundfreiheiten unterfallen.“ Ist keine der Grundfreiheiten anwendbar, kommen subsidiär das allgemeine Freizügigkeitsrecht nach Art. 21 AEUV sowie das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV zum Tragen. Diese stehen zu den Grundfreiheiten in einem Ausschließlichkeitsverhältnis und werden von den Grundfreiheiten als die speziellen Diskriminierungsverbote innerhalb ihres Schutzbereiches verdrängt: Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 3 Rn. 68. 301  Auch aus Art. 49 Abs. 2 AEUV lasse sich für die Abgrenzung keine Lösung herleiten. Teilweise werde dieser Vorbehalt als ein besonderer Hinweis verstanden, den Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit mit zu bedenken: Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2146, 2354; a. A.: Eckhoff, in: Bleckmann, Europarecht, § 21 Rn. 1726; teilweise wird er aufgrund der vollständigen Liberalisierung des Kapitalverkehrs als überflüssig erachtet: Sedlaczek/­Züger, in: Streinz, Art. 63 AEUV Rn. 32. Auch bedeute Art. 65 Abs. 2 AEUV nicht, dass der Anwendungsbereich der Kapitalverkehsfreiheit zugunsten der Niederlassungsfreiheit beschränkt werde: Sedlaczek/­Züger, in: Streinz, Art. 63 AEUV Rn. 32. 302  EuGH v. 10.2.2011, C-437/­08 und 438/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­reichische Salinen, EuZW 2011, 728 Rn. 33; v. 15.9.2011, C-310/­09 – Accor, Slg. 2011, I8115 Rn. 30; v. 13.11.2012, C-35/­11 – Test Claimants in the FII Group Litigation Rn. 89. Vor allem im Bereich der grenzüberschreitenden, wirtschaftlichen Tätigkeiten, in denen beispielsweise der Kapitaltransfer unabdingbare Voraussetzung für den Erwerb von Betriebstätten und Gesellschaftsanteilen sei, oder beim Eintritt in eine ausländische Gesellschaft, der mit Kapitaleinlagen verbunden sei: Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2355 f. 303  Vgl. EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273. 304  Gosch/­S chönfeld, IStR 2015, 755 (757); Ress/­U krow, in: Grabitz/­Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 63 AEUV Rn. 304; Köhler, DStR 2006, 1871 (1875).

§ 2  Unionsrechtliches Primärrecht

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Deshalb wird im Folgenden geklärt, wie die Niederlassungsfreiheit von der Kapitalverkehrsfreiheit abzugrenzen ist. Diese Abgrenzung ist auch deshalb virulent, da bei Fällen mit Drittstaatsbezug auch der EuGH immer mehr von einem Exklusivitätsverhältnis zwischen diesen beiden Grundfreiheiten ausgeht. Er räumt einer dieser Grundfreiheiten den Vorrang ein, wenn sich herausstellt, dass die andere völlig zweitrangig ist und der ersten zugeordnet werden kann.305 So solle beispielsweise die Kapitalverkehrsfreiheit dann hinter die Niederlassungsfreiheit zurücktreten, wenn ihre Beschränkung lediglich die „zwangsläufige Folge“ bzw. „unvermeidliche Konsequenz“ der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ist.306 Der mit der Niederlassung im Ausland verbundene Kapitalverkehr sei grundsätzlich nur Annex der Niederlassungsfreiheit.307 Der EuGH scheint somit in diesem Bereich grundsätzlich von einer Vorrangstellung der territorial weniger weitreichenden Niederlassungsfreiheit auszugehen, was dazu führt, dass in Drittstaatenfällen der Grundfreiheitenschutz versagt bleibt.308 Oftmals weist der EuGH auch darauf hin, dass seine Schlussfolgerungen aus der Prüfung der einen Grundfreiheit auch für die andere gelten.309 305 EuGH v. 3.10.2006, C-452/­ 04 – Fidium Finanz, Slg. 2006, I-9521 Rn. 34; v. 17.9.2009, C-182/­08 – Glaxo Wellcome, Slg. 2009, I-8591 Rn. 37; v. 6.6.2000, C-35/­98  – Verkooijen, Slg. 2000, I-4071 Rn. 30 ff.; v. 8.3.2001, C-397/­98 und C-410/­98 – Metallge­ sellschaft und Hoechst, Slg. 2001, I-1727 Rn. 39 ff. Zunächst ging der EuGH grundsätzlich davon aus, dass beide Grundfreiheiten kumulativ anwendbar sein können: EuGH v. 1.6.1999, C-302/­97 – Konle, Slg. 1999, I-3099; v. 13.7.2000, C-423/­98 – Albore, Slg. 2000, I-5965 Rn. 14. Vgl. auch: Sedlaczek/­Züger, in: Streinz, Art. 63 AEUV Rn. 33; Bröhmer, in: Calliess/­Ruffert, Art. 63 AEUV Rn. 32 f.; Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2147. 306 Vgl. EuGH v. 12.9.2006, C-196/­ 04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 Rn. 33; v. 3.10.2006, C-452/­04 – Fidium Finanz, Slg. 2006, I-9521 Rn. 48 f.; v. 13.3.2007, C524/­04  – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I2107 Rn. 34; v. 10.5.2007, C-492/­04 – Lasertec, Slg. 2007, I-3775 Rn. 19 ff.; v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 16; v. 11.11.2010, C-543/­08 – Kommission/­Portugal III, EuZW 2011, 17 Rn. 99; v. 6.11.2007, C-415/­06 – Stahlwerk Ergste Westig, Slg. 2007, I-151 Rn. 16; v. 18.6.2009, C303/­07 – Aberdeen, Slg. 2009, I-5145 Rn. 35. Vgl. auch: Gosch/­Schönfeld, IStR 2015, 755 (756); Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 3 Rn. 75. 307  Bröhmer, in: Calliess/­Ruffert, Art. 63 AEUV Rn. 34; Sedlaczek/­Züger, in: Streinz, Art. 63, Rn. 34. 308 Vgl. EuGH v. 10.5.2007, C-102/­ 05 – A und B, Slg. 2007, I-3871 Rn. 25 ff.; v. 26.6.2008, C-284/­06 – Burda, Slg. 2008, I-4571 Rn. 68 ff.; v. 6.12.2007, C-298/­05 – Co­ lumbus Container Services, Slg. 2007, I-10451 Rn. 56; v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Bel­ gium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 16; v. 13.3.2007, C-524/­04 – Test Claimant in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107 Rn. 26 ff.; v. 13.11.2012, C-35/­11 – Test Claimants in the FII Group Litigation, IStR 2012, 924 Rn. 88 ff.; v. 3.10.2006, C-452/­04 – Fidium Fi­ nanz AG, Slg. 2006, I-9521; v. 1.6.1999, C-302/­97 – Konle, Slg. 1999, I-3099. Vgl. auch: Englisch, in: Tipke/­Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 82; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 4.34; a. A.: Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 3647. 309  EuGH v. 13.11.2012, C-35/­ 11 – Test Claimants in the FII Group Litigation, IStR 2012, 924 Rn. 60; v. 6.12.2007, C-298/­05 – Columbus Container Services, Slg. 2007,

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Kapitel 1:  Grundlagen

Wie genau die Abgrenzung zwischen der Niederlassungs- und der Kapitalverkehrsfreiheit erfolgt, ist auch durch die Rechtsprechung des EuGH noch nicht abschließend geklärt.310 Zudem ist der Prüfungsgang des EuGH eher unklar aufgebaut. Diesbezüglich soll hier an dieser Stelle Klarheit geschaffen werden. a)  Betroffene Regelung hat Kontrollbeteiligung zum Gegenstand

Zur Beantwortung der Frage, an welcher Grundfreiheit die streitige nationale Regelung zu messen ist, ist es mittlerweile nach ständiger Rechtsprechung des EuGH erforderlich, auf den Gegenstand der betreffenden Regelung abzustellen.311 Steht hier bereits fest, welche Grundfreiheit zu prüfen ist, kommt es nicht mehr auf den konkreten Lebenssachverhalt an. Es steht zunächst fest, dass bei Kapitalbeteiligungen die Kapitalverkehrsfreiheit einen weiteren Anwendungsbereich als die Niederlassungsfreiheit hat, da sie auf jegliche Beteiligungen abstellt, also auch solche, die den Bereich der Niederlassung nicht betreffen. Gleichwohl muss bei der Abgrenzung beider Grundfreiheiten zuerst die Anwendbarkeit der Kapitalverkehrsfreiheit geprüft werden. Denn diese ist anwendbar bei Beteiligungen an einer Kapitalgesellschaft, die in der alleinigen Absicht der Geldanlage und ohne Einfluss erfolgen, insbesondere wenn es sich um eine reine Portfolioinvestition handelt, mit der keinerlei unternehmerische Einwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten verknüpft sind.312 I-10451 Rn. 60; v. 22.12.2008, C-282/­07 – Truck Center, Slg. 2008, I-10767 Rn. 51; Kokott/­ Ost, EuZW 2011, 496 (499). 310  Aus der Rechtsprechung des EuGH lasse sich jedoch ableiten, dass sich bei einer Konkurrenz von Grundfreiheiten die jeweils strengere Beschränkungsmöglichkeit durchsetze: Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 811. Insbesondere wurde nach der Annahme der Verletzung einer Grundfreiheit die Frage nach einer möglichen weiteren Verletzung ausdrücklich offengelassen: EuGH v. 8.3.2001, C-397/­98 und C410/­98  – Metallgesellschaft und Hoechst, Slg. 2001, I-1727 Rn. 75. 311 Vgl. EuGH v. 12.9.2006, C-196/­ 04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 Rn. 31 ff.; v. 12.12.2006, C-374/­04 – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litiga­ tion, Slg. 2006, I-11673 Rn. 37 f.; v. 13.3.2007, C-524/­04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107 Rn. 26 ff.; v. 24.5.2007, C-157/­05 – Holböck, Slg. 2007, I-4051 Rn. 22; v. 6.11.2007, C-415/­ 06 – Stahlwerk Ergste Westig, Slg. 2007, I-151 Rn. 13; v. 17.9.2009, C-182/­08 – Glaxo Wellcome, Slg. 2009, I-8591 Rn. 36; v. 23.1.2014, C-164/­12  – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 29; v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 30; v. 10.2.2011, C-437/­08 und 438/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­reichische Sa­ linen, EuZW 2011, 728 Rn. 34; v. 15.9.2011, C-310/­09 – Accor, Slg. 2011, I8115 Rn. 31; v. 13.11.2012, C-35/­11 – Test Claimants in the FII Litigation Rn. 90; v. 7.9.2017, C-6/­16 – Eqiom und Enka, EuZW 2017, 824 Rn. 39 mwN; v. 14.6.2018, C-440/­17 – GS Rn. 60; v. 3.10.2006, C-452/­04 – Fidium Finanz, Slg. 2006, I-9521 Rn. 34, 44 ff. Vgl. auch: Gosch/­ Schönfeld, IStR 2015, 755 (757). 312  Ress/­U krow, in: Grabitz/­ Hilf/­ Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 63 AEUV Rn. 317.

§ 2  Unionsrechtliches Primärrecht

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Dieses Merkmal ist negativ formuliert und erfordert wiederum eine positive Feststellung, wann der Anteilsinhaber überhaupt Einwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten in der Gesellschaft hat. Erst wenn diese positiv feststehen, ist eine Portfoliobeteiligung auszuschließen, sodass die Niederlassungsfreiheit als zwingende Folge übrigbleibt. Nach Ansicht des EuGH fällt eine nationale Regelung also dann ausschließlich in den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit, wenn sie auf Beteiligungen an einer ausländischen Gesellschaft anwendbar ist, die es dem Gesellschafter ermöglichen, einen sicheren (nicht zwingend beherrschbaren) Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen (sog. Kontrollbeteiligung).313 Die Regelung muss somit (mittelbar) die kontrollierende Stellung eines Anteilseigners im Blick haben.314 Um zu verhindern, dass die Mitgliedstaaten die nationalen Normen bewusst eng fassen, hat der EuGH diesen Grundsatz dahingehend erweitert, dass nicht allein auf den bloßen Gegenstand der nationalen Norm abzustellen ist, sondern auch auf deren Zielsetzung.315 Zielt die Norm beispielsweise inhaltlich auf den Kapitalverkehr ab, hat sie aber einen sicheren Einfluss zum Gegenstand, ist die Kapitalverkehrsfreiheit zu prüfen. aa)  Normen mit expliziter Zielrichtung

Zunächst ist die Norm danach zu untersuchen, ob sie eine der Grundfreiheiten explizit im Blick hat. Hat die Norm Direktinvestitionen zum Gegenstand, die 313  Vgl. EuGH v. 13.4.2000, C-251/­98 – Baars, Slg. 2000, I-2787 Rn. 22; v. 21.11.2002, C-436/­00  – X und Y, Slg. 2002, I-10829 Rn. 37, 66; v. 12.9.2006, C-196/­04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 Rn. 31; v. 13.3.2007, C-524/­04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107 Rn. 27; v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 20; v. 6.11.2007, C-415/­06 – Stahlwerk Ergste Westig, Slg. 2007, I-151 Rn. 14; v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 31; v. 13.11.2012, C35/­ 11 – Test Claimants in the FII Litigation, IStR 2012, 924 Rn. 91; v. 21.10.2010, C-81/­09 – Idryma Typou, EuZW 2011, 149 Rn. 47; v. 15.9.2011, C-310/­09 – Accor, Slg. 2011, I8115 Rn. 32; v. 19.7.2012, C-31/­11 – Scheunemann, EuZW 2012, 751 Rn. 23; v. 10.6.2015, C-686/­13  – X, DB 2015, 1642 Rn. 18; v. 5.2.2014, C-385/­12 – Hervis Sport-és Divatke­ reskedelmi, ZIP 2014, 11 Rn. 22; v. 14.9.2017, C-628/­15 – BT Pension Scheme, EuZW 2018, 344 Rn. 30; v. 7.9.2017, C-6/­16 – Eqiom und Enka, EuZW 2017, 824 Rn. 41 mwN; v. 14.6.2018, C440/­17 – GS Rn. 61; Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2149, 3653; Nettes­ heim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 30 Rn. 8; Streinz, Europarecht, § 11 Rn. 958; Gosch/­Schönfeld, IStR 2015, 755 (759): Vorschriften im Zusammenhang mit Betriebstätten dürften regelmäßig unter die Niederlassungsfreiheit fallen. 314  Blanke/­Böttner, in: Niedobitek, Europarecht Politiken, § 2 Rn. 407. 315  EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 29; Gosch/­S chönfeld, IStR 2015, 755 (757): Mit diesem Perspektivwechsel könnte verhindert werden, dass der nationale Gesetzgeber in bestimmten Sachverhaltskonstellationen eine Norm bewusst eng fasst, um dadurch die Ausweitung der Grundfreiheiten auf den Drittstaatensachverhalt zu steuern.

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Kapitel 1:  Grundlagen

ausschließlich zum Zwecke der selbstständigen, wirtschaftlichen Betätigung in einem anderen Mitgliedstaat erfolgen (Kontrollerwerb), ist die Niederlassungsfreiheit zu prüfen, da es in erster Linie nicht um eine Anlage- oder Investitionsentscheidung geht.316 Stellen die nationalen Bestimmungen über Beteiligungen ausschließlich auf die alleinige Absicht der Geldanlage ab, ohne dass auf die Verwaltung und Kontrolle des Unternehmens ein sicherer Einfluss genommen werden soll (Portfoliobeteiligung), ist sie ausschließlich anhand der Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 63 AEUV zu prüfen.317 Dies ist der Fall, wenn die Norm nur Investitionen jenseits eines sicheren Einflusses auf die Verwaltung und Kontrolle des Unternehmens im Blick hat,318 und damit typischerweise reine Finanzinvestitionen, wie beispielsweise die Vergabe von Darlehen, die Gewährung von Genusskapital, stille Einlagen oder Minderheitsbeteiligungen, die mit keiner Niederlassung verbunden sind.319 bb)  Normen, die auf die Beteiligungshöhe abstellen

Lässt die zu prüfende nationale Regelung eine Ausrichtung an eine der Grundfreiheiten nicht explizit erkennen, ist im zweiten Schritt zu schauen, ob sie einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen einer Gesellschaft zum Gegenstand hat. Wann dies der Fall ist, ist bisher nicht abschließend geklärt. Dieser Einfluss sei anhand qualitativer Merkmale zu bestimmen, wie etwa der Stimmrechtswahrnehmung, Einspruchs- und Vetorechten, der Haltedauer einer Beteiligung oder einer spezifischen Gruppenbeziehung.320

316 EuGH v. 22.12.2008, C-282/­ 07 – Truck Center, Slg. 2008, I-10767 Rn. 25; v. 12.9.2006, C-196/­04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 Rn. 31; v. 13.3.2007, C524/­04  – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107 Rn. 27; v. 6.12.2007, C-298/­05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451 Rn. 29; Bröhmer, in: Calliess/­Ruffert, Art. 63 AEUV Rn. 34; Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 3660. 317  Vgl. EuGH v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 32; v. 10.2.2011, C-437/­08 und 438/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­reichische Salinen, EuZW 2011, 728 Rn. 35; v. 15.9.2011, C-310/­09 – Accor, Slg. 2011, I8115 Rn. 32; v. 19.7.2012, C-31/­11 – Scheune­ mann, EuZW 2012, 751 Rn. 23; v. 13.11.2012, C-35/­11 – Test Claimants in the FII Group Litigation, IStR 2012, 924 Rn. 92; Gosch/­Schönfeld, IStR 2015, 755 (759): Vorschriften aus den folgenden Bereichen dürften regelmäßig unter die Kapitalverkehrsfreiheit fallen: Finanztransaktionssteuer, Unternehmensgruppen, steuerliche Entlastungen, Hinzurechnungsbesteuerung. 318  Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 3653: Anknüpfungspunkt für die Direktinvestitionen ist nur, dass dauerhafte und direkte Beziehungen zwischen dem Investor und der Gesellschaft geschaffen oder aufrechterhalten werden. 319  Streinz, Europarecht, § 11 Rn. 958; Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2149; Bröh­ mer, in: Calliess/­Ruffert, Art. 63 AEUV Rn. 34. 320  Gosch/­S chönfeld, IStR 2015, 755 (758) mwN.

§ 2  Unionsrechtliches Primärrecht

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(1)  Einfluss

Dabei ist die Bestimmung des Merkmals des sicheren Einflusses keine unlösbare Aufgabe. Einfluss meint in der Regel einen solchen auf die Entscheidungen des Rechtsträgers. Ein Einfluss liegt nicht erst dann vor, wenn der Anteilsinhaber die Leitungsmacht oder die Stimmenmehrheit in der Gesellschafterversammlung hat, sondern schon dann, wenn er bedeutende Entscheidungen in der Gesellschaft verhindern kann. Als Einstieg in die Prüfung ist in einem ersten Schritt zu ermitteln, ob die zu prüfende Norm eine Beteiligungshöhe zum Gegenstand hat, die typischer­ weise einen sicheren Einfluss vermittelt. Ab einer Beteiligung von mehr als 50 % ist in der Regel von einem solchen Einfluss auszugehen,321 ebenso je nach Gesellschaftsstatut bei einer Beteiligung in Höhe von 20 %322 , von 25 %323, von 26,5 %324 oder von einem Drittel325. Bei Beteiligungen unter 10 %326 oder 15 %327 dürfte ein sicherer Einfluss hingegen nicht ohne Weiteres gegeben sein. Eine einflussvermittelnde Beteiligung liegt beispielsweise – aber nur als ein Indiz328 – bei einer Sperrminorität vor, also einer Minderheitsbeteiligung, durch 321 Vgl. EuGH v. 13.4.2000, C-251/­ 98 – Baars, Slg. 2000, I-2787 Rn. 21 (100 %); v. 18.7.2007, C-231/­ 05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 21 ff. (90 %); v. 13.3.2007, C-524/­04  – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107 Rn. 32 f. (75 %); v. 10.5.2007, C-492/­ 04 – Lasertec, Slg. 2007, I-3775 Rn. 23  f. (66,66 %); v. 12.9.2006, C-196/­04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 Rn. 32 (mehr als 50 %); v. 26.6.2008, C-284/­06 – Burda, Slg. 2008, I4571 Rn. 70 (genau 50 %). So auch: Gosch/­ Schönfeld, IStR 2015, 755 (758): Wünsche, IStR 2012, 785 (786 f.) mit einer Übersicht über die vom EuGH entschiedenen Beteiligungshöhen. 322  EuGH v. 8.11.2012, C-244/­11 – Kommission/­Griechenland, EuZW 2013, 29 Rn. 19 ff. 323  EuGH v. 10.5.2007, C-492/­0 4 – Lasertec, Slg. 2007, I-3775 Rn. 20 ff.; v. 12.9.2006, C-196/­04  – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 Rn. 6; v. 10.5.2007, C-492/­04 – Laser­ tec, Slg. 2007, I-3775 Rn. 21; Bröhmer, in: Calliess/­Ruffert, Art. 63 AEUV Rn. 31; Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2149; Sedlaczek/­Züger, in: Streinz, Art. 63 AEUV Rn. 34. 324  EuGH v. 20.7.2017, C-504/­16 und C-613/­16 – Deister Holding und Juhler Holding, EuZW 2018, 96 Rn. 82. 325  EuGH v. 13.4.2000, C-251/­98 – Baars, Slg. 2000, I-2787 Rn. 20. 326 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litiga­ tion, Slg. 2006, I-11753 Rn. 74; v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 32 Rn. 35; v. 10.2.2011, C-437/­ 08 und 438/­ 08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salin­ en, EuZW 2011, 728 Rn. 36; v. 14.6.2018, C-440/­17 – GS Rn. 63; vgl. in diesem Sinne auch: EuGH v. 3.10.2013, C-282/­12 – Itelcar, DB 2013, 1273 Rn. 22; Schlussanträge des Generalanwalts Paolo Mengozzi v. 29.3.2007, C-298/­05 Rn. 52; Bröhmer, in: Calliess/­ Ruffert, Art. 63 AEUV Rn. 31; Patzner/­Nagler, GmbHR 2014, 1221 (1230); a. A.: BFH v. 29.8.2012 – I R 7/­12, BFHE 239, 45. 327  EuGH v. 20.7.2017, C-504/­16 und C-613/­16 – Deister Holding und Juhler Holding Rn. 80; v. 7.9.2017, C- 6/­16 – Eqiom und Enka, EuZW 2017, 824 Rn. 43 mwN. 328  Gosch/­S chönfeld, IStR 2015, 755 (760).

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Kapitel 1:  Grundlagen

die Satzungsänderungen (und damit in der Regel auch Sitzverlegungen) oder andere bedeutende Entscheidungen verhindert werden können. Hierbei ist auf das jeweils nationale Gesellschaftsrecht zu achten.329 Die Höhe dieser Sperrminorität hängt in diesem Rahmen dabei auch von der jeweiligen Rechtsform ab. In einem zweiten Schritt ist zu kontrollieren, ob die Norm trotz der in ihr vorgesehenen Beteiligungshöhe auch tatsächlich einen Einfluss zum Gegenstand hat. Allein aus der Tatsache, dass eine Beteiligungsquote eine bestimmte Schwelle überschreitet, kann nicht per se geschlossen werden, dass der Beteiligte einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft ausübt.330 Sieht das nationale Gesellschaftsrecht entsprechende Einflussmöglichkeiten vor oder stellt es auf die konkrete Gesellschafterstruktur ab, kann trotz einer festgestellten Beteiligungshöhe ein Einfluss auszuschließen oder zu bejahen sein.331 Stimmrechtslose Anteile beispielsweise vermitteln unabhängig von der Beteiligungshöhe allein eine kapitalmäßige, jedoch keine unternehmerische Beteiligung. Bei Vetorechten oder Goldenen Aktien (bzw. Golden Shares)332 liegt hingegen unabhängig von der Beteiligungshöhe stets ein Einfluss vor.

329 Ebenso:

Gosch/­Schönfeld, IStR 2015, 755 (758). v. 11.9.2014, C-47/­ 12 – Kronos, EuZW 2015, 32 Rn. 35; v. 3.10.2013, C282/­12  – Itelcar, DB 2013, 1273 Rn. 22; Rainer, IStR 2008, 63 (65): „ob tatsächlich jeder Gesellschafter in der Lage ist, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen dieser Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeit zu bestimmen, dürfte nicht nur vom jeweiligen Gesellschaftsvertrag, sondern auch von den Vereinbarungen auf Gesellschafterebene abhängen“. 331  Gosch/­S chönfeld, IStR 2015, 755 (758). 332 Darunter verstehe man mit Sonderrechten ausgestattete Aktien, durch die der Staat oftmals zuvor privatisierte Unternehmen weiterhin kontrolliere: Streinz, Europarecht, § 11 Rn. 958. Obwohl es in diesen Fällen um die Erlangung unternehmerischen Einflusses ging, prüfte der EuGH in zwei Vertragsverletzungsverfahren zu Goldenen Aktien nur die Kapitalverkehrsfreiheit mit dem Verweis, dass sich mit der Feststellung einer Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit die Prüfung eines Verstoßes gegen die Niederlassungsfreiheit erübrige: Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2147, 3649. Vgl. auch: EuGH v. 4.6.2002, C-367/­98 – Goldene Aktien I (Kommission/­Portugal), Slg. 2002, I-4731 Rn 56; v. 4.6.2002, C-483/­99 – Goldene Aktien II (Kommission/­Frankreich), Slg. 2002, I4781 Rn. 56; v. 11.7.2006, C-205/­03 – Kommission/­Spanien, Slg. 2006, I-6295 Rn. 86; v. 11.11.2010, C-543/­08 – Kommission/­Portugal III, EuZW 2011, 17 Rn. 99. Zuvor sah der EuGH beide Grundfreiheiten als beeinträchtigt an (EuGH v. 8.7.2010, C-171/­08 – Kommission/­Portugal II, Slg. 2010, I-6813 Rn. 80). Denn „soweit die fragliche Regelung Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit enthält, sind diese die unmittelbare Folge der vorstehend geprüften Hindernisse für den freien Kapitalverkehr, mit denen sie untrennbar verbunden sind.“ 330 EuGH

§ 2  Unionsrechtliches Primärrecht

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(2)  „Gesicherter“ Einfluss

Jedoch ist anzumerken, dass der Begriff „sicher“ zur Bestimmung des Einflusses vom EuGH schlecht gewählt ist. Der Begriff könnte implizieren, dass es stets einer gewissen Beteiligungshöhe bedarf. Dem ist jedoch nicht so, da bereits der Begriff „Einfluss“ die Einwirkungsmöglichkeiten auf die Entscheidungen des Rechtsträgers umfasst. Liegt beispielsweise keine Sperrminorität vor, besteht auch kein Einfluss, sodass es egal ist, ob dieser sicher ist oder nicht. Besser wäre es, hier von „gesichertem“ Einfluss zu sprechen. Es kommt maßgebend darauf an, ob der Anteilsinhaber ohne weiteres Zutun anderer die bedeutenden Entscheidungen der Gesellschaft verhindern kann. Er hat beispielsweise auch dann Einfluss, wenn er zusammen mit anderen Gesellschaftern die Sperrminorität ausübt; dieser Einfluss ist aber nicht gesichert, da er von dem Mitwirken der anderen abhängig ist. Anders ist es beispielsweise, wenn er mit anderen Gesellschaftern Stimmrechtsbindungen vereinbart hat. In diesem Falle ist sein Einfluss gesichert, und zwar auch dann, wenn seine eigene Beteiligung unterhalb des eigentlich notwendigen Stimmquorums liegt, er also nur zusammen mit den anderen Gesellschaftern Einfluss hat. cc)  Rechtsfolgen der Prüfung

Steht nach der Prüfung der Norm fest, dass sie reine Portfoliobeteiligungen zum Gegenstand hat, weil sie nicht auf einen gesicherten Einfluss abstellt, ist der Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit eröffnet. In diesem Fall ist es unerheblich, ob der Steuerpflichtige an einer Gesellschaft mit Sitz in einem EU- oder EWR-Staat beteiligt ist oder an einer mit Sitz in einem Drittstaat. In diesem Fall ist in einem weiteren Schritt zu klären, ob die betroffene nationale Regelung unter die Stand-still-Klausel gemäß Art. 64 AEUV fällt.333 Hat die zu prüfende Norm jedoch einen gesicherten Einfluss zum Gegenstand, liegt keine reine Portfoliobeteiligung vor, sodass die Kapitalverkehrsfreiheit keine Anwendung findet. Hält der Steuerpflichtige hier Beteiligungen in einem EU- oder EWR-Staat, ist die Norm anhand des Maßstabs der Niederlassungsfreiheit zu prüfen. Hält er dagegen Beteiligungen in einem Drittstaat, ist weder die Niederlassungs- noch die Kapitalverkehrsfreiheit einschlägig.334 Denn

333  Vgl. EuGH v. 13.3.2007, C524/­0 4 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litiga­ tion, Slg. 2007, I-2107; Ribbrock, BB 2014, 2592 (2600). Dazu näher: Gosch/­Schönfeld, IStR 2015, 755 (759). 334  EuGH v. 13.11.2012, C-35/­ 11 – Test Claimants in the FII Group Litigation, IStR 2012, 924 Rn. 98; v. 13.3.2007, C-524/­04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litiga­ tion, Slg. 2007, I-2107 Rn. 33 f., 101 f.; v. 10.5.2007, C-492/­04 – Lasertec, Slg. 2007, I-3775 Rn. 22, 27; v. 10.5.2007, C-102/­05 – A und B, Slg. 2007, I-3871 Rn. 4, 25 ff.

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Kapitel 1:  Grundlagen

eine im Drittstaat ansässige Gesellschaft kann sich nicht auf Art. 49 AEUV berufen,335 und die Kapitalverkehrsfreiheit ist nicht einschlägig. b)  Betroffene Regelung lässt Kontrollbeteiligung nicht eindeutig erkennen

Ist die nationale Regelung sowohl auf Beteiligungen anwendbar, die einen gesicherten Einfluss ermöglichen, als auch auf solche, die keinen solchen Einfluss gewähren, ist sie also indifferent ausgestaltet336, kann die anzuwendende Grundfreiheit nicht anhand des Gegenstands der Regelung bestimmt werden. Hier ist nicht von vornherein auszuschließen, dass der Rechtsstreit auch Beteiligungen von Steuerpflichtigen betrifft, die keinen gesicherten Einfluss auf die ausschüttende Gesellschaft ermöglichen. In diesem Fall prüft der EuGH die Kapitalverkehrsfreiheit neben der Niederlassungsfreiheit.337 Bei nationalen Vorschriften, die also weder eine Grundfreiheit explizit im Blick haben noch auf die Höhe der gehaltenen Beteiligung abstellen, können beide Grundfreiheiten nebeneinander anwendbar sein.338 Hier ist jedenfalls für den Bereich der Dividendenbesteuerung danach zu differenzieren, ob die Tochtergesellschaft ihren Sitz in einem Drittstaat oder einem anderen EU- oder EWR-Staat hat. aa)  Tochtergesellschaft hat ihren Sitz in einem EU- oder EWR-Staat

Sitzt die ausschüttende Tochtergesellschaft in einem anderen EU- oder EWRStaat, sind die tatsächlichen Gegebenheiten des konkreten Falles heranzuziehen.339 Es ist also zu prüfen, ob im konkret zu entscheidenden Sachverhalt eine 335 

EuGH v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 41. bei „Geschäftszwecken dienenden Anteilen“ (EuGH v. 10.6.2015, C686/­13  – X, DB 2015, 1642 Rn. 30  f.) oder schlichtweg bei „Anteilen“ (EuGH v. 13.11.2012, C-35/­11 – Test Claimants in the FII Group Litigation, IStR 2012, 924 Rn. 93 ff.). 337 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litigati­ on, Slg. 2006, I-11753 Rn. 38; a. A.: Gosch/­Schönfeld, IStR 2015, 755 (759); ähnlich: Sedlaczek/­Züger, in: Streinz, Art. 63 AEUV Rn. 35 mwN, die annehmen, dass sich der Grundsatz des effet utile mit der Folge durchsetzen sollte, dass der Kapialverkehrsfreiheit stets Vorrang einzuräumen ist. 338 Vgl. EuGH v. 11.11.2010, C-543/­ 08 – Kommission/­Portugal, Slg. 2010, I-11241 Rn. 43 mwN; EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 31; Korte, in: Calliess/­Ruffert, Art. 49 AEUV Rn. 35; Patzner/­Nagler, IStR 2014, 724 (733). 339  Bröhmer, in: Calliess/­ Ruffert, Art. 63 AEUV Rn. 28; EuGH v. 10.6.2015, C-686/­13  – X, DB 2015, 1642 Rn. 23; v. 13.11.2012, C-35/­11 – Test Claimants in the FII Group Litigation, IStR 2012, 924 Rn. 93 ff. mwN; v. 6.12.2007, C-298/­05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451 Rn. 30; v. 17.7.2008, C-207/­07 – Kommission/­ Spanien, Slg. 2008, I-111 Rn. 36 ff.; v. 26.6.2008, C-284/­06 – Burda, Slg. 2008, I4571 336  Beispielsweise

§ 2  Unionsrechtliches Primärrecht

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Kontrollbeteiligung tatsächlich vorliegt, sodass die anzuwendende Grundfreiheit anhand einer Einzelfallprüfung zu bestimmen ist.340 Hier kommt es maßgebend auf die Beteiligung unter Beachtung der Stimmenkraft an. Sieht der Gesellschaftsvertrag beispielsweise stets einstimmige Beschlüsse vor, liegt immer eine Beteiligung mit Einfluss vor. Auch bei vertraglich eingeräumten Vetorechten, Goldenen Aktien oder Zustimmungsrechten, wie sie bei Venture Capital Beteiligungen üblich sind, ist von einem Einfluss auszugehen. Steht anhand dieser Prüfung fest, dass der Anteilsinhaber eine kontrollierende Stellung innerhalb der Gesellschaft hat, liegt keine reine Portfolioinvestition vor, sodass nicht die Kapitalverkehrsfreiheit, sondern ausschließlich die Niederlassungsfreiheit Anwendung findet.341 bb)  Tochtergesellschaft hat ihren Sitz in einem Drittstaat

In Fällen, in denen es um Dividenden aus Quellen in einem Drittstaat geht, prüft der EuGH den konkreten Sachverhalt nicht. Da Beteiligungen in einem Drittland von vornherein nicht unter die Niederlassungsfreiheit fallen können,342 sei die Feststellung der konkreten Beteiligungshöhe hier überflüssig. Die konkrete Höhe der Beteiligung der Muttergesellschaft an der ausschüttenden Tochtergesellschaft kann nach Ansicht des EuGH also nur dann eine Rolle spielen, wenn es sich um reine EU- bzw. EWR-Fälle handelt,343 wenn also überhaupt beide Grundfreiheiten anwendbar sein können. Hier wird virulent, dass von der Kapitalverkehrsfreiheit her zu prüfen ist: Da im Rahmen der Kapitalverkehrsfreiheit zu ermitteln ist, ob die nationale RegeRn. 71 f.; v. 21.1.2010, C-311/­08 – SGI, Slg. 2010, I487 Rn. 33 ff.; v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 37 mwN; v.7.9.2017, C-6/­16 – Eqiom und Enka, EuZW 2017, 824 Rn. 44; v. 20.12.2017, C-504/­16 und C-613/­16 – Deister Holding und Juhler Holding Rn. 81; v. 14.6.2018, C-440/­17 – GS Rn. 64; v. 28.2.2013, C-168/­11 – Beker, EuZW 2013, 631 Rn. 27 f.; v. 13.3.2014, C-375/­12 – Bouanich, BB 2014, 981 Rn. 30. 340  EuGH v. 13.11.2012, C-35/­11 – Test Claimants in the FII Litigation, IStR 2012, 924 Rn. 94. Ein Teil der Literatur stellt zur Abgrenzung hingegen auf das Merkmal des Investitionszwecks ab: Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 3658. 341  EuGH v. 26.6.2008, C-284/­ 06 – Burda, Slg. 2008, I4571 Rn. 72 ff.; v. 18.6.2009, C303/­07  – Aberdeen, Slg. 2009, I-5145 Rn. 22; Sedlaczek/­Züger, in: Streinz, Art. 63 AEUV Rn. 35: Eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit ist in diesem Fall nur eine unvermeidliche Konsequenz einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit. Dieser Grundsatz gilt selbst dann, wenn sich die Beteiligung auf den grenzüberschreitenden Kapitalfluss auswirkt: Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 30 Rn. 8; EuGH v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61; v. 26.3.2009, C-326/­07 – Kommission/­Italien, Slg. 2009, I-2291. 342  EuGH v. 13.11.2012, C-35/­ 11 – Test Claimants in the FII Group Litigation, IStR 2012, 924 Rn. 96 f.; v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 37 f. mwN. 343  EuGH v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 40.

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Kapitel 1:  Grundlagen

lung nicht ausschließlich einen gesicherten Einfluss vermittelt (also eine reine Portfoliobeteiligung vorliegt), ist die Kapitalverkehrsfreiheit nicht nur dann anwendbar, wenn ein solcher, gesicherter Einfluss ausscheidet, sondern auch dann, wenn sich der Inhalt der Norm nicht ermitteln lässt (in dubio pro liberta­ te344). Da sich die Kapitalverkehrsfreiheit auch auf Beteiligungen in Drittstaaten erstreckt, sollte diese wegen ihres Ausnahmecharakters zwar nicht leichtfertig bejaht werden. In Zweifelsfällen lässt sich aber auch die Niederlassungsfreiheit nicht einfach annehmen. Hier kann die Ermittlung der anwendbaren Grundfreiheit nicht schlichtweg mit dem Argument offenbleiben, es bestehe eine Beteiligung in einem Drittstaat. Da die Kapitalverkehrsfreiheit ausdrücklich auch Drittstaatenfälle betrifft, kann dem Steuerpflichtigen nicht ohne Grund das Freiheitsrecht entzogen werden. Eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft kann sich in dieser Konstellation daher unabhängig vom Umfang ihrer Beteiligung an der in einem Drittstaat niedergelassenen Tochtergesellschaft auf die Kapitalverkehrsfreiheit berufen.345 Hier kommt es also vor, dass Beteiligungen in gleicher Höhe unterschiedlichen Grundfreiheiten zugeordnet werden, abhängig davon, ob es sich um Gesellschaften in EU- bzw. EWR- oder Drittstaaten handelt.346 Diese Grundsätze gelten nach Ansicht des EuGH auch dann, wenn in Anbetracht der Grenzen des persönlichen Anwendungsbereichs der Niederlassungsfreiheit allein der freie Kapitalverkehr geltend gemacht werden kann, was bei Gesellschaften, die nicht nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründet worden sind, der Fall ist.347 Demnach kann sich eine nach dem Recht eines Drittstaats gegründete Muttergesellschaft mit Sitz in einem Mitgliedstaat unabhängig vom Umfang ihrer Beteiligung an ihrer ausländischen Tochtergesellschaft auf die Kapitalverkehrsfreiheit berufen.348 Auch hier muss es sich jedoch um

344 

So erwogen von: Gosch/­Schönfeld, IStR 2015, 755 (758). v. 13.11.2012, C-35/­11 – Test Claimants in the FII Group Litigation, IStR 2012, 924 Rn. 88 ff., 99, 104; v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 41; Linn, IStR 2012, 924 (934). Vgl. auch: Unger, EuZW 2015, 61 (68), nach dem das Ziel des EuGH ein möglichst lückenloser Grundfreiheitsschutz sei. 346  EuGH v. 10.5.2007, C-492/­0 4 – Lasertec, Slg. 2007, I-3775; v. 19.7.2012, C-31/­11 – Scheunemann, EuZW 2012, 751; kritisch: Ribbrock, BB 2014, 2592 (2600); Unger, EuZW 2015, 61 (68), der kritisiert, dass beispielsweise eine Beteiligung in Höhe von 50 % an einer Gesellschaft mit Sitz in Frankreich ein „Niederlassungsvorgang“, eine entsprechende Beteiligung an einer Gesellschaft mit Sitz in Kanada hingegen ein „Kapitalverkehrsvorgang“ ist, wodurch unterschiedliche Niederlassungs- und Kapitalverkehrsbegriffe für Unions- und Drittstaatensachverhalte zustande kommen; vgl auch: Patzner/­Nagler, IStR 2014, 724 (732 f.). 347  EuGH v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 42. 348  EuGH v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 52. 345  EuGH

§ 3  Unionsrechtliches Sekundärrecht

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eine nationale Regelung handeln, die nicht ausschließlich auf Situationen anwendbar ist, in denen ein sicherer Einfluss ermöglicht wird. c)  Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich damit festhalten: Der Steuerpflichtige kann sich auf die Kapitalverkehrsfreiheit berufen, wenn die zu prüfende Norm explizit auf Kapitalvorgänge abstellt oder wenn sie keine Kontrollbeteiligung zum Gegenstand hat, sei es, weil sie explizit auf Beteiligungen unter 10 % abstellt oder weil sie trotz einer höheren Beteiligungsquote eine kontrollierende Beteiligung ausschließt. Lässt sich aus der Norm nicht entnehmen, ob sie eine Kontrollbeteiligung im Blick hat, gilt die Kapitalverkehrsfreiheit stets bei Drittstaatsbezug, und zwar unabhängig vom tatsächlichen Vorliegen einer Kontrollmöglichkeit. Andernfalls, also in reinen EU- und EWR-Fällen, ist zu ermitteln, ob der Anteilseigner tatsächlich eine kontrollierende Stellung innehat. Ist dies nicht der Fall, findet die Kapitalverkehrsfreit Anwendung. In allen übrigen Fällen findet die Niederlassungsfreiheit Anwendung.

§ 3  Unionsrechtliches Sekundärrecht A.  Grundsätze des Sekundärrechts Neben dem Primärrecht existiert das Sekundärrecht, das auch als „aus dem Primärrecht abgeleitetes Recht“ bezeichnet wird,349 da es das von den Organen der EU aufgrund der Verträge geschaffene Recht umfasst.350 Art. 288 AEUV enthält eine nicht abschließende Aufzählung der hierfür möglichen Rechtsakte.351 Wie beim Primärrecht handelt es sich beim Sekundärrecht weder um Völkerrecht noch um nationales Recht, sondern als Teil des Unionsrechts um eine Rechtsordnung sui generis.

349 

Schaumburg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 3.6. wird darüber hinaus eine Unterteilung in Tertiärrecht vorgenommen: So beispielsweise: Schaumburg, in: Schaumburg/­ Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 3.15; Nettesheim, in: Grabitz/­Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 288 AEUV Rn. 31: Tertiärrecht liege vor, wenn EU-Organe Recht erlassen, dessen Rechtsgrundlage sich im Sekundärrecht finde. 351  Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU, Rn. 86: Dazu zählen Rechtsakte mit Gesetzescharakter, Rechtsakte ohne Gesetzescharakter (einfache Rechtsakte, delegierte Rechtsakte gemäß Art. 290 AEUV, Durchführungsrechtsakte gemäß Art. 291 Abs. 2 AEUV), unverbindliche Rechtsakte (Empfehlungen und Stellungnahmen) sowie sonstige Rechtshandlungen, die keine Rechtsakte sind. 350 Teilweise

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Kapitel 1:  Grundlagen

B.  Arten des Sekundärrechts I.  Verordnungen, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen

Gemäß Art. 288 Abs. 1 AEUV haben die Organe für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen anzunehmen. Die Verordnung hat gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Sie muss somit nicht in nationales Recht umgesetzt werden, um unmittelbare Wirkung zu erlangen, sondern kann bei hinreichender Bestimmtheit mit ihrem Inkrafttreten Rechte verleihen und Pflichten auferlegen.352 Es besteht in diesem Zusammenhang sogar ein Umsetzungs- und Normwiederholungsverbot.353 Aus der ausdrücklich genannten unmittelbaren Wirkung ergibt sich zugleich ihr uneingeschränkter Vorrang vor nationalem Recht.354 Die Verordnung ist auf Rechtsvereinheitlichung ausgerichtet.355 Beschlüsse sind gemäß Art. 288 Abs. 4 AEUV in allen ihren Teilen verbindlich. Sind sie an bestimmte Adressaten gerichtet, so sind sie nur für diese verbindlich. Der Beschluss ist der Rechtsakt des Unionsrechts für Einzelfälle.356 Empfehlungen und Stellungnahmen sind gemäß Art. 288 Abs. 5 AEUV nicht verbindlich. Während Empfehlungen dem Adressaten ein bestimmtes Verhalten nahelegen, enthalten Stellungnahmen häufig eine sachverständige Meinungsäußerung.357 Beschlüsse sowie Empfehlungen und Stellungnahmen sind im Steuerrecht bislang nicht zur Anwendung gekommen. Verordnungen finden insbesondere im Bereich der Umsatzsteuer und des Zollrechts Anwendung. Da im Bereich der 352  Ruffert, in: Calliess/­Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 16, 20: Verordnungen seien somit abstrakt-generelle Rechtssätze des Sekundärrechts. 353  Schroeder, in: Streinz, Art. 288 AEUV Rn. 58: Ein entsprechendes Normwiederholungsverbot ergebe sich insbesondere daraus, dass andernfalls die Adressaten über den Unionsrechtscharakter der einschlägigen Regelung getäuscht werden und das Auslegungsmonopol des EuGH unterminiert werde; Schaumburg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 3.7: Eine Besonderheit bestehe für unvollständige Verordnungen, soweit sie im Rahmen der geteilten Zuständigkeit (Art. 4 Abs. 2 EUV) erlassen wurden. Diese dürften durch das nationale Recht der Mitgliedstaaten ergänzt werden; Nettesheim, in: Grabitz/­Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 288 AEUV Rn. 101; vgl. EuGH v. 10.10.1973, Rs. 34/­73 – Variola, Slg. 1973, 981 Rn. 9 ff.; v. 3.7.1974, Rs. 9/­74 – Casagrande, Slg. 1974, 773. 354  Schroeder, in: Streinz, Art. 288 AEUV Rn. 59. 355  Schroeder, in: Streinz, Art. 288 AEUV Rn. 53. 356  Ruffert, in: Calliess/­Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 86. 357  Ruffert, in: Calliess/­Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 95.

§ 3  Unionsrechtliches Sekundärrecht

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direkten Steuern und insbesondere hinsichtlich der Einwirkungen von Sekundärrecht auf DBA lediglich Richtlinien eine Rolle spielen, werden nur diese in der vorliegenden Arbeit näher untersucht. II.  Richtlinien

Die Richtlinie ist gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Unter dem zu erreichenden Ziel sind nicht die allgemeingehaltenen Vertragsziele der Präambel und der Eingangsbestimmungen der Verträge (Art. 3 EUV, Artt. 2 ff. AEUV) zu verstehen, sondern das konkrete Ziel, das nach dem Inhalt der Richtlinie erreicht werden soll.358 Dieses Ziel ergibt sich aus der Richtlinie selbst sowie aus deren Begründung im Sinne des Art. 296 AEUV. Die Mitgliedstaaten als Adressaten der Richtlinien trifft eine Pflicht zur frist- und ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinienbestimmungen in das nationale Recht. Diese Verpflichtung ergibt sich neben Art. 288 Abs. 3 AEUV insbesondere aus dem Grundsatz der Unionstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV).359 Erst mittels der nationalen Umsetzungsmaßnahmen ist die Richtlinie in den jeweiligen Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar, sodass die Bestimmungen der Richtlinie ihre Rechtswirkungen für die Steuerpflichtigen entfalten.360 Wird die Richtlinie nicht oder nur unzureichend umgesetzt, kommt ihr eine unmittelbare Wirkung zu.361 Die Umsetzungsverpflichtung ermöglicht den Mitgliedstaaten, bei der Verwirklichung der unionsrechtlichen Zielvorgaben nationalen Besonderheiten Rechnung zu tragen.362 Denn der Erlass einer Richtlinie beschränkt in seinem Regelungsumfang grundsätzlich die Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten.363 Die Richtlinie ist somit ein Kompromiss zwischen den Erfordernissen einheitlichen Rechts innerhalb der Union und möglichst weitgehender Bewahrung nationaler Eigentümlichkeiten.364 Hinsichtlich der Form und Mittel können die Mitgliedstaaten frei entscheiden, ob sie beispielsweise Gesetze, Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften erlassen. Die Richtlinien geben insofern lediglich Rahmenbedingungen vor. Sie wollen staatliches Recht 358 

Magiera, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 7 Rn. 25. Schaumburg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 3.9. 360  Ruffert, in: Calliess/­Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 23; ausführlich zur unmittelbaren Anwendbarkeit des Sekundärrechts: Haltern, Europarecht, § 8 Rn. 674 ff. 361  Siehe dazu näher § 7 C. 362  Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU, Rn. 512. 363  Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 116. 364  Streinz, Europarecht, Rn. 478. 359 

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Kapitel 1:  Grundlagen

schrittweise an die Erfordernisse des Binnenmarkts anpassen und somit eine Rechtsangleichung herbeiführen.365 Im Unterschied zu Verordnungen sind sie also nur auf eine Mindestharmonisierung des betroffenen Rechts gerichtet.366 Im Bereich des Steuerrechts gelten die in Art. 288 Abs. 3 AEUV geregelten Grundsätze allerdings nur eingeschränkt. Zum einen besteht für den Mitgliedstaat von vornherein keine Wahl der Form und Mittel. Wegen des steuerrechtlichen Legalitätsprinzips kommt für das Steuerrecht nur eine Umsetzung durch Parlamentsgesetze in Betracht.367 Dies gilt auch für den Fall bereits bestehender nationaler Vorschriften, denn hierbei muss eine eventuelle Anpassung in einem Rechtsakt erfolgen, der dieselbe Qualität hat, wie die bisherige Regelung.368 Zum anderen enthalten insbesondere die zum Steuerrecht ergangenen Richtlinien zumeist Detailregelungen, sodass aufgrund der hiermit verbundenen Regelungsdichte den Mitgliedstaaten kaum Spielräume verbleiben.369 Das zu erreichende Angleichungsergebnis kann unter Umständen bis in alle Einzelheiten durch den Unionsrechtsgeber festgesetzt werden, sodass sich daraus zwangsläufig gleichförmiges Recht in den Mitgliedstaaten ergibt.370 Es gibt keine Grenzen hinsichtlich der Regelungsdichte von Richtlinien. Auch der für den Erlass von Richtlinien relevante Art. 115 AEUV schreibt nicht vor, wie detailreich eine Richtlinie ausgestaltet werden darf. Das bedeutet, dass Richtlinien insoweit genauso wie Verordnungen wirken können.371 Die Formulierung des Art. 288 Abs. 3 AEUV ist jedenfalls für den Bereich der direkten Steuern damit unerheblich.

C.  Rangverhältnis innerhalb des Unionsrechts Eine ausdrücklich geregelte Rangordnung innerhalb des Unionsrechts ist in Art. 288 AEUV zwar nicht enthalten, dennoch kommt dem Primärrecht ein Anwendungsvorrang vor dem Sekundärrecht zu.372 Dieser Vorrang ergibt sich 365  Haag, in: Bieber/­Epiney/­Haag, Die EU, § 6 Rn. 29; Schaumburg, in: Schaumburg/­ Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 4.53. 366  Schaumburg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 4.57. 367  Schaumburg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 3.10. 368  Haag, in: Bieber/­Epiney/­Haag, Die EU, § 6 Rn. 31. 369  Schaumburg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 3.10, 4.57. 370  Haag, in: Bieber/­Epiney/­Haag, Die EU, § 6 Rn. 30, § 9 Rn. 85. 371  Verordnungen sind im Gegensatz zu Richtlinien allerdings auf Rechtsvereinheitlichung gerichtet. 372  Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO/­FGO, § 1 AO Rn. 27; Lüdicke/­Hummel, IStR 2006, 694 (695); Vgl. EuGH v. 15.7.1964, C-6/­64 – Costa/­ENEL, Slg. 1964, I-1141, S. 1269 ff.; v. 9.3.1978, C-106/­77 – Simmenthal, Slg. 1978, I-629 Rn. 13 ff.; BVerfG v. 22. 10. 1986 – 2 BvR 197/­83, BVerfGE 73, 339 (374 f.). Dies gelte sowohl für das primärrechtliche Vertragsrecht als auch für allgemeine Rechtsgrundsätze, die dem Primärrecht ange-

§ 3  Unionsrechtliches Sekundärrecht

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daraus, dass die Unionsorgane verpflichtet sind, nach Maßgabe der ihnen im Vertragsrecht zugewiesenen Befugnisse zu handeln (Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Artt. 5 Abs. 1, 13 Abs. 2 EUV) und für die Ausübung ihrer Zuständigkeiten die förmlichen Rechtsakte anzunehmen (Art. 288 Abs. 1 AEUV).373 Es dürfen somit keine Rechtsakte erlassen werden, die im Widerspruch zum Primärrecht stehen.374 Das Primärrecht ist insofern der Maßstab für die Rechtmäßigkeit des Sekundärrechts,375 sodass ergangenes Sekundärrecht primärrechtskonform auszulegen ist.376 Kommen mehrere Auslegungsmöglichkeiten in Betracht, ist stets diejenige zu wählen, die mit dem Primärrecht vereinbar ist.377 Dieser innerunionsrechtliche Vorrang ist sowohl von dem Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten378 als auch der Vermutung der Rechtmäßigkeit des Sekundärrechts379 zu unterscheiden. So führt der Vorrang des Unionsrechts vor dem jeweils nationalen Recht dazu, dass auch das Sekundärrecht im Falle eines Widerspruchs mit dem in das nationale Recht transformierten Abkommensrecht diesem sowie dem allenfalls in Umsetzung des Unionsrechts ergangenen nationalen Recht vorgeht.380 Soweit darüber hinaus etwa EU-Richtlinien zutreffend in innerstaatliches Steuerrecht umgesetzt worden sind, spricht eine Vermutung dafür, dass diese mit Primärrecht, vor alhörten: Ruffert, in: Calliess/­Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 8; Nettesheim, in: Grabitz/­Hilf/­ Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 288 AEUV Rn. 226. Der Vorrang des Primärrechts gilt auch gegenüber dem Tertiärrecht. 373  Magiera, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 7 Rn. 97; Lüdicke/­Hummel, IStR 2006, 694 (695); vgl. EuGH v. 5.10.1978, Rs. 26/­78 – Viola, Slg. 1978, 1771 Rn. 9/­14, wonach die primärrechtlichen Verträge „Grundlage, Rahmen und Grenze“ des Sekundärrechts sind. 374  Kadelbach, in: von der Groeben/­ Schwarze/­ Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 5 EUV Rn. 5. 375  Ruffert, in: Calliess/­Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 8; EuGH v. 9.3.1978, C-106/­77 – Simmenthal, Slg. 1978, I-629. Das Primärrecht ist für das sekundäre EU-Recht nach einer klassischen Formel des Gerichtshofs „Grundlage, Rahmen und Grenze“ (vgl. EuGH v. 5.10.1978, Rs. 26/­78 – Viola, Slg. 1978, 1771 Rn. 9/­14). 376  Nettesheim, in: Oppermann/­ Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 10 Rn. 39; Ruf­ fert, in: Calliess/­Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 9; Bievert, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 288 AEUV Rn. 11; Schroeder, in: Streinz, Art. 288 AEUV Rn. 20; Schiff, EuZW 2015, 899 (901 f.). 377  Vgl. EuGH v. 27.1.1994, C-98/­ 91 – Herbrink, Slg. 1994, I-223; Nettesheim, EuR 2006, 737 (746 f.) mwN; Schiff, EuZW 2015, 899 (901 f.). 378  Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 21. 379  Vgl. EuGH v. 5.10.2004, C-475/­01 – Kommission/­Griechenland, Slg. 2004, I-8923 Rn. 18 mwN; Lüdicke/­Hummel, IStR 2006, 694 (695). 380  Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 826.

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Kapitel 1:  Grundlagen

lem mit den Grundfreiheiten, vereinbar sind.381 Das ändert aber nichts an dem Umstand, dass Sekundärrechtsakte am Primärrecht zu messen sind. Auch richtlinienkonformes nationales Steuerrecht ist somit Gegenstand der Überprüfung durch den EuGH wegen möglicher Verstöße gegen die Grundfreiheiten. Hieraus folgt weiter, dass richtlinienkonform umgesetztes, innerstaatliches Steuerrecht stets in Orientierung an die Grundfreiheiten auszulegen ist.382 Soweit das innerstaatliche Steuerrecht jedoch harmonisiert ist, darf nicht mehr auf die Grundfreiheiten zurückgegriffen werden (sog. Primat sekundärrechtlicher Harmonisierung).383 So ist eine Grundfreiheitenbeschränkung unter anderem nur dann gerechtfertigt, wenn es an einer entsprechenden Harmonisierung auf europäischer Ebene fehlt.384 Die Rechtsakte des Sekundärrechts stehen dagegen untereinander in keinem gegenseitigen Vorrangverhältnis.385 Eine solche Differenzierung hinsichtlich des Rangs sekundärrechtlicher Rechtsakte, beispielsweise nach erlassendem Organ oder Verfahren, wäre auch nicht möglich.386 Im Ergebnis gelten somit der Grundsatz lex posterior derogat legi priori mit der Maßgabe, dass die Rechtsakte vom gleichen Organ im gleichen Verfahren erlassen wurden, sowie der Grundsatz lex specialis derogat legi generali.387

§ 4  Verhältnis der Doppelbesteuerungsabkommen zum Primär- und Sekundärrecht A.  Verhältnis bei Anwendung des dualistischen Systems Das Verhältnis der DBA zum Unionsrecht ist jedenfalls aus deutscher Sicht unproblematisch: Das Unionsrecht und somit auch die Grundfreiheiten gehen den Vorschriften der DBA, welche nach ihrer Transformation den Rang eines einfachen Gesetzes haben, vor.388 Die Mitgliedstaaten müssen daher beim 381  Vgl.

EuGH v. 5.10.2004, C-475/­01 – Kommission/­Griechenland, Slg. 2004, I-8923 Rn. 18 mwN. 382  Schaumburg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 4.24. 383  Classen, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 6. 384  Classen, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn. 6. 385  Nettesheim, in: Grabitz/­ Hilf/­ Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 288 AEUV Rn. 19. 386  Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 10 Rn. 46. 387  Ruffert, in: Calliess/­Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 13. 388  Haase, in: Haase, AStG/­ DBA, Einleitung MA Rn. 76; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 260a: Unionsrechtswidrige Vereinbarungen sind völkerrechtlich wirksam. Bei solchen zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat kann diese Ver-

§ 4  Verhältnis der Doppelbesteuerungsabkommen 

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Abschluss und der Umsetzung von DBA die Grundfreiheiten beachten.389 Lediglich die Reichweite des Unionsrechts selbst begrenzt diesen Anwendungsvorrang. Darüber hinaus können die DBA eine Diskriminierung der grenzüberschreitenden Tätigkeit nicht rechtfertigen.390 Diese Grundsätze gelten für die Staaten, in denen DBA aufgrund des dualistischen Systems in nationales Recht transformiert werden und die den Vorrang des Unionsrechts anerkennen. Die Entwicklung geht mittlerweile dahin, dass insbesondere das primäre Unionsrecht das Abkommensrecht nicht nur überlagert, sondern es zunehmend verdrängt.391 Welche Konsequenzen dies hat, ist bislang kaum abzusehen, denn strukturell weisen Unions- und Abkommensrecht kaum Gemeinsamkeiten auf, insbesondere aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzung.392 Im Gegensatz zu den DBA schützt das Unionsrecht die Steuerpflichtigen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten vor steuerlichen Nachteilen, gewährt aber zugleich keine Vorteile, die Steuerpflichtige bei rein nationalen Sachverhalten nicht auch hätten.393 DBA sind hingegen darauf gerichtet, Doppelbesteuerungen zu vermeiden. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts im Verhältnis zu DBA gilt auch für das Sekundärrecht.394 Hier besteht jedoch bereits keine Konfliktlage zum Nachteil des Steuerpflichtigen, da sich dieser in der Regel auf die für ihn günstigere Regelung berufen kann, soweit eine Richtlinie einen entsprechenden Mindeststandard enthält, der durch ein DBA nicht eingeschränkt werden kann.395

einbarung von dem Drittstaat rechtmäßig angewendet werden, weil dieser nicht an das Unionsrecht gebunden ist. 389  EuGH v. 12.5.1998, C-336/­96 – Gilly, Slg. 1998, I-2793 Rn. 24, 30, 54 ff.; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 812; ders., in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 76 mwN; Takacs, Das Steuerrecht der EU, S. 498. 390  EuGH v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273; Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 6 Rn. 201. 391  Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 813; ders., in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 77; Lehner/­Reimer, IStR 2005, 542 (547). 392  Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 77; Hahn, DStZ 2005, 433 (441). 393  Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 813; ders., in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 77. 394  Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 79. 395  Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 79: Umgekehrt resultiert aus einer Richtlinie keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ihre DBA zwingend an der Richtlinie auszurichten.

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Kapitel 1:  Grundlagen

B.  Doppelbesteuerungsabkommen mit Drittstaaten sowie Altabkommen Hinsichtlich der Anwendbarkeit der Grundfreiheiten auf DBA ist einerseits zu unterscheiden zwischen Verträgen, die zwischen Mitgliedstaaten der EU und zwischen einem EU-Mitgliedstaat und einem Drittstaat abgeschlossen worden sind und andererseits danach, ob die DBA vor oder nach dem Inkrafttreten des EWG-Vertrags am 1.1.1958 datieren.396 Für DBA, die zwei Mitgliedstaaten der EU nach dem 1.1.1958 abgeschlossen haben, besteht ein Vorrang des Unionsrechts. Die Grundfreiheiten zwingen den Mitgliedstaat gegebenenfalls zum Bruch des Völkervertragsrechts, wenn dieser entgegen seinen unionsrechtlichen Bindungen eine den Grundfreiheiten widersprechende Bestimmung im DBA vereinbart haben sollte.397 Dies gilt aufgrund des Grundsatzes des Vorrangs des neueren vor dem älteren Abkommen auch bei DBA zwischen zwei Mitgliedstaaten, die vor dem 1.1.1958 oder vor dem Beitritt des Mitgliedstaats abgeschlossen worden sind. Bei DBA mit Drittstaaten, die nach dem 1.1.1958 oder nach dem Beitritt des Mitgliedstaats abgeschlossen worden sind, hat der Mitgliedstaat gemäß Art. 4 UAbs. 3 Alt. 2 EUV Verstöße gegen das Unionsrecht durch das Abkommensrecht zu vermeiden.398 Schließt der Mitgliedstaat entgegen dieser Verpflichtung mit einem Drittstaat DBA ab, wird zwar die völkerrechtliche Verbindlichkeit des DBA nicht berührt.399 Der mitgliedstaatliche Gesetzgeber ist aber gehindert, den Vertrag in nationales Recht zu transformieren; verstößt er hiergegen, ist es ihm untersagt, den nationalen Transformationsakt anzuwenden.400 Für DBA, die vor dem 1.1.1958 oder vor dem Beitritt des Mitgliedstaats abgeschlossen wurden, bestimmt Art. 351 Abs. 1 AEUV, dass die Rechte und Pflichten durch die Verträge nicht berührt werden. Danach gehen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus vorunionsrechtlichen Abkommen mit Drittstaaten zum Schutz der Drittstaaten den unionsrechtlichen Verpflichtungen des Mitgliedstaats vor, es sei denn, es wird primäres Unionsrecht verletzt.401 Diese Vorschrift gilt allerdings nur bei Abkommen zwischen der EU und einem

396 

Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.154. Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.155 f.: Den Mitgliedstaaten ist es untersagt, durch den Abschluss völkerrechtlicher Verträge gegen den Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten zu verstoßen. 398  Der AEUV enthält hierzu keine besonderen Bestimmungen. 399  Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.160. 400  Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.160. 401  Takacs, Das Steuerrecht der EU, S. 496. 397 

§ 4  Verhältnis der Doppelbesteuerungsabkommen 

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Drittstaat, nicht aber einem nunmehrigen Mitgliedstaat.402 Der Vorrang besteht zudem nur übergangsweise, da Art. 351 Abs. 2 S. 1 AEUV die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, alle geeigneten Mittel anzuwenden, um die festgestellten Unvereinbarkeiten zu beheben und somit das DBA anzupassen.403 Im Ergebnis sind sowohl Abkommen zwischen zwei Mitgliedstaaten als auch mit Drittstaaten am Maßstab des Unionsrechts zu messen; widersprechen sie diesem, geht das Unionsrecht den DBA vor.404

402 

Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.158. Takacs, Das Steuerrecht der EU, S. 496. Das bedeutet, dass das primäre Unionsrecht entweder einseitig durch nationales Recht auf die Altabkommen für anwendbar erklärt wird oder gegebenenfalls das DBA zu kündigen ist. 404  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 92. 403 

Kapitel 2

Einwirkungen der Grundfreiheiten auf Doppelbesteuerungsabkommen Grundsätzlich sind Konflikte zwischen DBA und innerstaatlichem Steuerrecht eine logische und zwingende Folge.1 Denn im Unterschied zu sonstigen Normenkonflikten, bei denen zum Zwecke der Konfliktlösung ausschließlich eine der betroffenen Normen zur Anwendung kommt, ist eine isolierte Anwendung der abkommensrechtlichen Vorschriften nicht möglich, da DBA keine Steuerpflicht begründen und somit nur bei den Sachverhalten zur Anwendung kommen, die bereits von innerstaatlichen Normen erfasst werden.2 Die innerstaatlichen und die abkommensrechtlichen Normen kommen somit parallel zur Anwendung. Auf die umstrittene Frage, welche der Normen zuerst zu prüfen sind,3 kommt es vorliegend nicht an, da diese Frage für die parallele Anwendung keine Rolle spielt.

§ 5  Verstoß gegen Grundfreiheiten und dessen Rechtfertigung A.  Diskriminierung bzw. Beschränkung Wie bereits dargestellt, sind die Grundfreiheiten als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote ausgestaltet,4 sodass je nach Ausgestaltung der nationalen Maßnahme unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe anzulegen sind. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH besteht eine Diskriminierung in der Anwendung unterschiedlicher Vorschriften auf vergleichbare Sachverhalte oder in der Anwendung derselben Vorschrift auf unterschiedliche Sachverhalte.5 Ob ein grenzüberschreitender Sachverhalt mit einem rein innerstaatlichen Sachverhalt vergleichbar ist, ist unter Berücksichtigung des mit den fraglichen 1 Vgl.

Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (844). Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (844). 3 Zusammenfassend: Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 87. 4  Siehe dazu § 2 C. I. 5  Vgl. EuGH v. 13.11.1984, Rs. 283/­ 83 – Racke, Slg. 1984, 3791 Rn. 7; v. 14.2.1995, C-279/­93  – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 30; v. 11.8.1995, C-80/­94 – Wielockx, Slg. 1995, I-2493 Rn. 17; v. 12.12.2006, C-374/­04 – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation, Slg. 2006, I-11673 Rn. 46; v. 26.6.2008, C-284/­06 – Burda, Slg. 2008, I-4571 Rn. 82; v. 22.12.2008, C-282/­07 – Truck Center, Slg. 2008, I-10767 Rn. 37. 2 

§ 5  Verstoß gegen Grundfreiheiten und dessen Rechtfertigung

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nationalen Bestimmungen verfolgten Ziels zu prüfen.6 Auch die Frage der Abkommensanwendung kann zu einer Diskriminierung von Angehörigen anderer EU-Mitgliedstaaten führen.7 Hierbei geht es im Wesentlichen um die abkommensrechtliche Ungleichbehandlung von beschränkt Steuerpflichtigen im Vergleich zu unbeschränkt Steuerpflichtigen.8 Sowohl die offenen als auch die verdeckten Diskriminierungen sind anhand von Gleichheitsrechten zu prüfen, wobei der zentrale Punkt darin liegt, festzustellen, ob die erfassten Personengruppen vergleichbar sind.9 Behandelt ein Mitgliedstaat In- und Ausländer grundsätzlich gleich, verwehrt er aber nur letzteren eine Steuervergünstigung, erkennt er damit zwar grundsätzlich die Vergleichbarkeit an (sog. Anerkennungsgrundsatz), dennoch liegt eine Diskriminierung vor.10 Dieser Anerkennungsgrundsatz ist auch auf die abkommensrechtliche Ebene zu erweitern, sodass die Vergleichbarkeit von In- und Ausländern auch mittels DBA erreicht werden kann.11 Erst wenn die Personengruppen vergleichbar sind, ist in einem weiteren Schritt festzustellen, ob diese aufgrund eines Differenzierungskriteriums ungleich behandelt werden. Erst anschließend ist zu prüfen, ob angesichts der Ungleichbehandlung Rechtfertigungsgründe greifen und ob die in Frage stehende nationale Maßnahme verhältnismäßig ist. Die Beschränkungsverbote sind im Gegensatz zu den Diskriminierungsverboten nicht anhand eines Vergleichs innerhalb einer Personengruppe zu bestimmen, da sie einen freiheitsrechtlichen Charakter aufweisen und somit einem anderen Prüfungsmaßstab unterliegen als die Gleichheitsrechte. Beschränkungen der Grundfreiheiten werden danach überprüft, ob ein Eingriff in den jeweiligen Schutzbereich der betreffenden Grundfreiheit vorliegt. Anschließend sind auch hier die Rechtfertigung sowie Verhältnismäßigkeit der nationalen Maßnahme zu prüfen. Trotz der Unterschiede zwischen Diskriminierungen und Beschränkungen prüft der EuGH beide Begriffe nicht immer einheitlich. Selbst in den Fällen, in denen er von einer Beschränkung spricht, geht es letztlich immer um eine Un­ 6 EuGH

v. 6.9.2012, C-18/­ 11 – Philips Electronics, EuZW 2013, 238 Rn. 17; v. 25.2.2010, C-337/­08 – X Holding, Slg. 2010, I-1215 Rn. 22. 7  Lehner, in: Vogel/­Lehner, Grundlagen Rn. 259: Der AEUV hat grundsätzlich keine Bedeutung für die Frage, ob ein Mitgliedstaat gegen seine abkommensrechtlichen Verpflichtungen zur Beseitigung der Doppelbesteuerung verstoßen hat. 8  Siehe dazu § 6 B. I. 9 Vgl. Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung, S. 177 ff., der zugleich eine detaillierte Übersicht über die Vergleichbarkeit darstellt. 10  EuGH v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 20; Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung, S. 183 f.; Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, S. 452 f. Siehe dazu § 6 A. II. 11  Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung, S. 185 f. mwN.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

gleichbehandlung von grenzüberschreitenden und rein innerstaatlichen Sachverhalten und nicht um die Prüfung, ob die nationale Maßnahme die Ausübung der Grundfreiheiten unterbindet, behindert oder weniger attraktiv macht.12

B.  Rechtfertigung Liegt eine Diskriminierung oder eine Beschränkung vor, ist im zweiten Schritt zu ermitteln, ob diese gerechtfertigt ist. Hierbei ist zu prüfen, ob abschließendes Sekundärrecht der Anwendung der Grundfreiheiten entgegensteht (I.), ob die streitige nationale Maßnahme Situationen betrifft, die objektiv miteinander vergleichbar sind (II.), ob ein – geschriebener oder ungeschriebener – Rechtfertigungsgrund greift (III.) und ob die nationalen Maßnahmen verhältnismäßig sind (IV.). I.  Abschließendes Sekundärrecht

Eine Rechtfertigung einer Diskriminierung oder Beschränkung ist nur dann möglich, solange kein abschließendes Sekundärrecht besteht.13 Liegt eine abschließende Regelung – beispielsweise in Form von Richtlinien14  – vor, entfaltet diese Regelung eine Sperrwirkung,15 sodass die Grundfreiheiten dort nicht mehr zur Anwendung kommen können.16 Ob eine Regelung abschließend ist, hängt vom Umfang deren jeweiligen Regelungsanspruchs ab.17 II.  Objektiv vergleichbare Situation

Die streitige nationale Maßnahme ist zunächst nur dann mit den Grundfreiheiten vereinbar, wenn die unterschiedliche Behandlung Situationen betrifft, die 12  Kokott/­O st, EuZW 2011, 496 (498): Den reinen Beschränkungstest im Bereich der direkten Steuern habe der EuGH, soweit ersichtlich, noch nicht angewandt. 13  EuGH v. 30.9.2003, C-167/­ 01 – Inspire Art, Slg. 2003, I-10155 Rn. 66 ff., 106; zu dieser Voraussetzung im Rahmen der Cassis-Rechtsprechung des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit: EuGH v. 20.2.1979, C-120/­78 – Cassis de Dijon, Slg. 1979, I-649 Rn. 8; v. 10.11.1982, C-261/­81 – Rau, Slg. 1982, 3961 Rn. 12; v. 14.7.1988, C-298/­87 – Sma­ nor, Slg. 1988, 4489 Rn. 15; Müller-Graff, in: von der Groeben/­Schwarze/­Hatje, AEUV, Art. 34 Rn. 198 ff.; Müller-Graff, in: Streinz, Art. 49 Rn. 83. 14  Korte, in: Calliess/­Ruffert, Art. 49 AEUV Rn. 59. 15  Statt vieler: Müller-Graff, in: Streinz, Art. 49 Rn. 83. 16  Korte, in: Calliess/­Ruffert, Art. 26 AEUV Rn. 11. 17  EuGH v. 30.9.2003, C-167/­01 – Inspire Art, Slg. 2003, I-10155 Rn. 69; Müller-Graff, in: von der Groeben/­Schwarze/­Hatje, AEUV, Art. 34 Rn. 198 ff.

§ 5  Verstoß gegen Grundfreiheiten und dessen Rechtfertigung

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nicht objektiv miteinander vergleichbar sind.18 Liegt keine solche objektiv vergleichbare Situation der Steuerpflichtigen vor, ist der Verstoß gegen die Grundfreiheiten gerechtfertigt, ohne dass es eines Rechtfertigungsgrundes bedarf. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die Vergleichbarkeit eines grenzüberschreitenden Sachverhalts mit einem innerstaatlichen Sachverhalt unter Berücksichtigung des mit den fraglichen nationalen Bestimmungen verfolgten Ziels zu prüfen.19 Die Prüfung der vergleichbaren Situation durch den EuGH ist nicht ganz einheitlich: So nimmt er im Rahmen der Kapitalverkehrsfreiheit eine verbotene Beschränkung bereits dann an, wenn sie grenzüberschreitende Sachverhalte gegenüber Inlandssachverhalten schlechter stellt.20 Bei der Niederlassungsfreiheit sieht er eine verbotene Beschränkung oder Diskriminierung hingegen erst dann als gegeben an, wenn er die Vergleichbarkeit der Sachverhalte bejaht hat.21 Auf die Besonderheiten bei der objektiv vergleichbaren Situation wird jeweils bei den entsprechenden Einzelfällen unter § 6 näher eingegangen. III.  Rechtfertigungsgründe

Befinden sich die Steuerpflichtigen in einer objektiv vergleichbaren Situation, ist anschließend zu prüfen, ob die nationale Maßnahme gerechtfertigt ist, ob es also unionsrechtliche Schranken gibt, die eine Diskriminierung oder Beschränkung rechtfertigen. Zunächst existieren geschriebene Rechtfertigungsgründe in Art. 45 Abs. 322 , Art. 52 Abs. 123 sowie Art. 6524 AEUV. Diese haben im Steuerrecht jedoch kaum eine Bedeutung. 18  Vgl. in diesem Sinne: EuGH v. 14.9.2006, C-386/­ 04 – Stauffer, Slg. 2006, I-8203 Rn. 32; v. 6.6.2000, C-35/­98 – Verkooijen, Slg. 2000, I-4071 Rn. 43; v. 7.9.2004, C319/­02 – Manninen, Slg. 2004, I-7477 Rn. 29; v. 12.12.2006, C-374/­04 – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation, Slg. 2006, I-11673 Rn. 46; v. 22.12.2008, C-282/­07 – Truck Center, Slg. 2008, I-10767 Rn. 36. 19  EuGH v. 18.7.2007, C-231/­ 05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 36 ff.; v. 21.2.2013, C123/­11  – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 33. 20  Kokott/­O st, EuZW 2011, 496 (500). 21  Kokott/­O st, EuZW 2011, 496 (500). 22  Der Vorbehalt beziehe sich nur auf die in Art. 45 Abs. 3 AEUV aufgezählten Rechte, nicht jedoch auf Art. 45 Abs. 2 AEUV. Wie bei der Niederlassungsfreiheit, seien auch diese Begriffe eng auszulegen: Brechmann, in: Calliess/­Ruffert, Art. 45 AEUV Rn. 100. 23  Die Begriffe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit sind eng auszulegen, wobei die Schranken durch die Richtlinie 2004/­38/­EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.4.2004 (ABl. Nr. L 158 v. 30.4.2004, S. 77) näher konkretisiert werden: Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 28 Rn. 35. Vgl. auch: Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2188. 24 Verstöße gegen die Kapitalverkehrsfreiheit gegenüber Drittstaaten können nach Art. 64, 66 AEUV gerechtfertigt sein.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Bedeutsamer sind hingegen die immanenten Schranken, die eine Maßnahme immer dann rechtfertigen, wenn dafür ein zwingender Grund des Allgemeininteresses (sog. rule of reason) vorliegt (ungeschriebene Rechtfertigungsgründe).25 In diesem Rahmen differenziert der EuGH nicht zwischen den Grundfreiheiten, sondern prüft den zwingenden Grund des Allgemeininteresses für jeden Einzelfall und für alle Grundfreiheiten einheitlich.26 Diese Prüfung gilt also für die formal unterschiedslosen Beschränkungen der Grundfreiheiten.27 Nach der Cassis-Rechtsprechung28 gelten die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe hingegen ausdrücklich nicht für offene Diskriminierungen, welche nur aufgrund der geschriebenen Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt sein können,29 sondern nur für verdeckte Diskriminierungen.30 25  Vgl. EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 35; v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I3601 Rn. 27 mwN; v. 23.10.2008, C-157/­07  – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I8061 Rn. 40; v. 17.7.2014, C-48/­13 – Nor­ dea Bank, EuZW 2014, 787 Rn. 23; v. 6.9.2012, C18/­11 – Philips Electronics, EuZW 2013, 238 Rn. 17; v. 12.12.2006, C-446/­04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 167; v. 14.9.2006, C-386/­04 – Stauffer, Slg. 2006, I-8203 Rn. 32; v. 6.6.2000, C-35/­98 – Verkooijen, Slg. 2000, I-4071 Rn. 43; v. 7.9.2004, C319/­02 – Man­ ninen, Slg. 2004, I-7477 Rn. 29; v. 9.10.2014, C-326/­12 – van Caster, EuZW 2014, 938 Rn. 39 mwN; v. 11.12.2014, C-678/­11 – Kommission/­Spanien, VerS 2016, 593 Rn. 42; v. 9.11.2006, C-433/­04 – Kommission/­Belgien, Slg. 2006, I-10653 Rn. 33 mwN. Gemäß der Cassis-Rechtsprechung des EuGH (EuGH v. 20.2.1979, C-120/­78 – Cassis de Di­ jon, Slg. 1979, I-649) kann eine Beschränkung nur dann durch ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel gerechtfertigt sein, wenn sie nicht diskriminierend ist; dies wurde im Keck-Urteil (EuGH v. 24.11.1993, C-267/­91 und C-268/­91 – Keck, Slg. 1993, I06097) nicht mehr vertreten. Vgl. auch: Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 218; Mül­ ler-Graff, in: Streinz, Art. 49 Rn 82. 26 EuGH v. 30.11.1995, C-55/­ 94 – Gebhard, Slg. 1995, I-4165 Rn. 37; v. 15.5.1997, C250/­95  – Futura Participations, Slg. 1997, I-2471 Rn. 26, 31; Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 219; Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 28 Rn. 36. 27  Reimer, in: Schaumburg/­ Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 7.48; Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2188. 28  EuGH v. 20.2.1979, C-120/­78 – Cassis de Dijon, Slg. 1979, I-649 Rn. 8, 14. 29  Reimer, in: Schaumburg/­ Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 7.48; Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2188; Stewen, EuR 2008, 445 (455); Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 834; Kokott/­Ost, EuZW 2011, 496 (497). 30 Vgl. EuGH v. 27.6.1996, C-107/­ 94 – Asscher, Slg. 1996, I-3089 Rn. 49  ff.; v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 17 ff.; v. 14.2.1995, C-279/­93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 40; EuGH v. 15.5.1997, C-250/­95 – Futura Participa­ tions, Slg. 1997, I-2471 Rn. 10; v. 13.3.2001, C-379/­98 – Preussenelektra, Slg. 2001, I-2099 Rn. 72 ff. So prüft der EuGH die zwingenden Gründe des Allgemeinwohls auch bei den im Steuerrecht in erster Linie vorkommenden verdeckten Diskriminierungen (beispielsweise aufgrund der Ansässigkeit des Steuerpflichtigen): Reimer, in: Schaumburg/­ Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 7.48. Vgl. auch: Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 2188; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 834; Kokott/­Ost,

§ 5  Verstoß gegen Grundfreiheiten und dessen Rechtfertigung

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Zur näheren Bestimmung und Ausgestaltung dieser zwingenden Gründe des Allgemeininteresses hat sich in Anlehnung an die Cassis-Rechtsprechung31 bzw. an die Gebhard-Formel32 im Bereich der direkten Steuern ein richterrechtliches, eigenständiges und nicht abschließendes Rechtfertigungskonzept entwickelt, das sich in einen Negativ- und in einen Positiv-Katalog aufteilen lässt.33 Zum Negativ-Katalog gehören die vom EuGH nicht anerkannten Rechtfertigungsgründe: fehlende sekundärrechtliche Harmonisierung der direkten Steuern 34, Ausfall von Steuereinnahmen 35 (hierzu zählt der EuGH auch die Aushöhlung der Besteuerungsgrundlage36), Argument der lediglich minimalen

EuZW 2011, 496 (497); Nowak/­Schnitzler, EuZW 2000, 627 (629); Hahn, DStZ 2005, 507 (508); Stewen, EuR 2008, 445 (455) mwN: Dies erfolge „aus Respekt vor der Steuerhoheit der Mitgliedstaaten“. 31  Im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit: EuGH v. 20.2.1979, C-120/­ 78 – Cassis de Dijon, Slg. 1979, I-649 Rn. 8: „Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen über die Vermarktung dieser Erzeugnisse ergeben, müssen hingenommen werden, soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes.“ 32  Im Rahmen der anderen Grundfreiheiten: EuGH v. 30.11.1995, C-55/­94 – Gebhard, Slg. 1995, I-4165 Rn. 37: „[Die nationalen Maßnahmen] müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.“ 33  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 4.19; Strunk, in: Grotherr/­ Herfort/­ Strunk, Internationales Steuerrecht, S. 757. 34 Vgl. EuGH v. 28.1.1986, C-270/­ 83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 24; v. 12.5.1998, C-336/­96 – Gilly, Slg. 1998, I-2793; Schlussanträge des Generalanwalts Sieg­ bert Alber v. 30.1.2003, C-167/­01 Rn. 109. Die fehlende Harmonisierung ist gerade Anlass für die Diskriminierung und kann diese daher nicht rechtfertigen. 35 Vgl. EuGH v. 21.9.1999, C-307/­ 97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 49 f.; v. 6.6.2000, C-35/­98 – Verkooijen, Slg. 2000, I-4071 Rn. 59; v. 7.9.2004, C-319/­02 – Man­ ninen, Slg. 2004, I-7477 Rn. 49; v. 12.9.2006, C-196/­04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 Rn. 49; v. 16.7.1998, C-264/­96 – ICI, Slg. 1998, I4695 Rn. 28; v. 8.3.2001, C-397/­98 und C-410/­98 – Metallgesellschaft und Hoechst, Slg. 2001, I-1727 Rn. 59; v. 13.12.2005, C-446/­03  – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 44; v. 14.9.2006, C-386/­04 – Stauf­ fer, Slg. 2006, I-8203 Rn. 59; v. 20.5.2008, Rs. C-194/­06 – Orange Fund, Slg. 2008, I-3747 Rn. 84. Als Rechtfertigungsgrund wird lediglich die abstrakte Sicherung der Besteuerung anerkannt. Darüber hinaus könne die Gefahr von Steuermindereinnahmen allenfalls und nur ausnahmsweise die zeitlichen Wirkungen einer EuGH-Entscheidung begrenzen: Ste­ wen, EuR 2008, 445 (456) mwN. 36  EuGH v. 18.9.2003, C-168/­01 – Bosal, Slg. 2003, I-9409 Rn. 42.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Nachteile für den Steuerpflichtigen 37, Vorteilsausgleich 38 , Billigkeitsmaßnahmen 39, Niedrigbesteuerung im Ausland 40, mangelnde Sachaufklärung41 bzw. verwaltungstechnische Schwierigkeiten42 , Notwendigkeit, eine effektive Einziehung der Steuerschuld zu gewährleisten43, Wirtschaftsförderung44 sowie DBA-­Verpflichtungen45. Für das Steuerrecht bedeutsame Rechtfertigungsgründe des Positiv-Katalogs sind insbesondere die Abwehr von Steuerumgehungen und Vermeidung von Steuerflucht (1.), die Wirksamkeit der Steueraufsicht bzw. Steuerkontrolle (2.), die Kohärenz des Steuersystems (3.) sowie die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten (4.).46 1.  Abwehr von Steuerumgehungen und Vermeidung von Steuerflucht

Ein anerkannter Rechtfertigungsgrund liegt zunächst in der Abwehr von Steuerumgehungen sowie der Vermeidung von Steuerflucht.47 In diesem Zu37  EuGH v. 28.1.1986, C-270/­ 83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 21; v. 31.3.1993, C-19/­92  – Kraus, Slg. 1993, I-1663 Rn. 32. 38 Vgl. EuGH v. 26.10.1999, C-294/­ 97 – Eurowings, Slg. 1999, I-7447 Rn. 43 f.; v. 29.3.2007, C-347/­04 – Rewe Zentralfinanz, Slg. 2007, I-2647 Rn. 60 f.; v. 27.6.1996, C-107/­94  – Asscher, Slg. 1996, I-3089 Rn. 53 ff.; v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 21; v. 21.9.1999, C-307/­97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 51 f.; v. 6.6.2000, C-35/­98 – Verkooijen, Slg. 2000, I-4071 Rn. 61; v. 15.7.2004, C-315/­02 – Lenz, Slg. 2004, I-7063 Rn. 43; v. 12.9.2006, C-196/­04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I7995 Rn. 49. Der Diskriminierungsvorwurf gegenüber dem Quellenstaat entfällt jedoch, wenn mit dem Ansässigkeitsstaat ein vollständiger Nachteilsausgleich bilateral vereinbart ist. 39  EuGH v. 14.2.1995, C-279/­ 93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 56; v. 8.5.1990, C175/­88  – Biehl, Slg. 1990, I-1779 Rn. 17 f. 40 Vgl. EuGH v. 26.10.1999, C-294/­ 97 – Eurowings, Slg. 1999, I-7447 Rn. 43 ff.; v. 3.10.2002, C-136/­00 – Danner, Slg. 2002, I-8147 Rn. 56. 41  Vgl. EuGH v. 28.1.1992, C-204/­90 – Bachmann, Slg. 1992, I-249. 42  Vgl. EuGH v. 15.7.2004, C-315/­02 – Lenz, Slg. 2004, I-7063 Rn. 48; v. 12.12.2006, C-446/­04  – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 70, 155 ff.; vgl. in diesem Sinne: EuGH v. 4.3.2004, C-334/­02 – Kommission/­Frankreich, Slg. 2004, I-2229 Rn. 29; v. 7.9.2004, C-319/­02 – Manninen, Slg. 2004, I-7477 Rn. 54. 43 EuGH v. 12.7.2012, C-269/­ 09 – Kommission/­Spanien, EuZW 2013, 34 Rn. 68; v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 78. 44  EuGH v. 6.6.2000, C-35/­98 – Verkooijen, Slg. 2000, I-4071 Rn. 47 f.; v. 12.6.2003, C-234/­01  – Gerritse, Slg. 2003, I-5933. 45  EuGH v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 23 f.; v. 21.9.1999, C-307/­97  – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161. 46  Zusammenfassung bei: Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 835. 47 Vgl. EuGH v. 11.3.2004, C-9/­ 02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 50 ff.; v. 21.11.2002, C-436/­00 – X und Y, Slg. 2002, I-10829 Rn. 60 ff.; v. 14.10.1999,

§ 5  Verstoß gegen Grundfreiheiten und dessen Rechtfertigung

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sammenhang sind die Mitgliedstaaten befugt, Regelungen zu schaffen, um missbräuchliche Gestaltungen zu bekämpfen.48 Einen allgemein anerkannten Begriff der Steuerumgehung gibt es nicht. Der EuGH versteht darunter in einer sehr weiten Auffassung „künstlich geschaffene, der Umgehung des Steuerrechts dienende Sachverhalte“ und misst hieran den zu beurteilenden Einzelfall.49 Zu den künstlichen Konstruktionen zählte der EuGH früher nur solche, die jeglicher wirtschaftlicher Grundlage entbehrten; mittlerweile stellt er darauf ab, ob der gewählte Vertragsinhalt dem entspricht, was unabhängige, nicht verbundene Parteien miteinander vereinbart hätten.50 Dabei können sich nationale Missbrauchsnormen auch gegen eine Verlagerung von Steuersubstrat durch wirtschaftlich nicht sinnvolle Gestaltungen richten, weil und soweit ein Zusammenhang mit dem Grundsatz der Aufteilung der Besteuerungshoheit besteht.51 Der EuGH lässt den Rechtfertigungsgrund jedoch in vielen Fällen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung scheitern, wenn dem jeweiligen Steuerpflichtigen nämlich keine Möglichkeit eingeräumt wird, den Vorwurf der Steuerumgehung zu entkräften.52 Auch allgemeine, typisierende Missbrauchsvermeidungsvorschriften, die nicht auf den konkreten Einzelfall abstellen und nicht den Missbrauch im konkreten Fall erfassen, können nach Ansicht des EuGH nicht gerechtfertigt werden.53 C-439/­97  – Sandoz, Slg. 1999, I-7041 Rn. 33 ff.; v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spen­ cer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 49 f.; v. 12.9.2006, C-196/­04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I7995 Rn. 34 ff., 55; v. 16.7.1998, C-264/­96 – ICI, Slg. 1998, I4695 Rn. 26; v. 14.9.2006, C-386/­04  – Stauffer, Slg. 2006, I-8203 Rn. 60 f.; v. 9.11.2006, C-433/­04 – Kommission/­ Belgien, Slg. 2006, I-10653 Rn. 35 mwN; v. 28.10.2010, C-72/­ 09 – Établissements Rimbaud, EuZW 2011, 30 Rn. 33 ff.; v. 21.1.2010, C-311/­08 – SGI, Slg. 2010, I487 Rn. 65. Im Urteil Avoir fiscal (EuGH v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273) hat der EuGH den Rechtfertigungsgrund der Gefahr der Steuerflucht jedoch noch abgelehnt (Rn. 25). 48  Zu den nationalen Missbrauchsbekämpfungsvorschriften siehe näher unter § 6 F. I. 3. 49  Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 837; Vgl. EuGH v. 21.11.2002, C-436/­00 – X und Y, Slg. 2002, I-10829 Rn. 61; v. 19.11.2009, C-540/­07 – Kommission/­Italien, Slg. 2009, I-10983 Rn. 58. 50  Musil/­Fähling, DStR 2010, 1501 (1503); EuGH v. 13.3.2007, C-524/­0 4 – Test Claim­ ants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107 Rn. 71 ff.; v. 17.1.2008, C105/­07 – Lammers & Van Cleeff, Slg. 2008, I-173 Rn. 29. 51  Musil/­Fähling, DStR 2010, 1501 (1504). 52  EuGH v. 17.7.1997, C-28/­ 95 – Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161 Rn. 44; v. 11.3.2004, C-9/­02  – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 54. 53  Vgl. EuGH v. 9.11.2006, C-433/­0 4 – Kommission/­Belgien, Slg. 2006, I-10653 Rn. 35 mwN; v. 16.7.1998, C-264/­96 – ICI, Slg. 1998, I-4695 Rn. 26; v. 12.12.2002, C-324/­00 –

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Unter einer Steuerflucht versteht man die pflichtwidrige Vorgehensweise, welche einer Minderung der Steuerlast dient.54 Im Gegensatz zur Steuerumgehung zielt die Steuerflucht somit nicht auf die Nutzung und Verknüpfung legaler Möglichkeiten hin zu einer künstlichen Konstruktion ab, die ein Dritter ohne das Ziel der Steuerumgehung in der konkreten Art und Weise nicht geschaffen hätte, sondern auf eine illegale Vorgehensweise.55 Zur Vermeidung einer solchen Steuerflucht dürfen die von den Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen verhindern, dass sich ihre Staatsangehörigen der Anwendung des nationalen Rechts unter Missbrauch der durch den AEUV geschaffenen Möglichkeiten entziehen.56 2.  Wirksamkeit der Steueraufsicht bzw. Steuerkontrolle

Ein weiterer vom EuGH anerkannter Rechtfertigungsgrund ist die Wirksamkeit der Steueraufsicht bzw. Steuerkontrolle sowie die Notwendigkeit, eine effektive Einziehung der Steuerschuld zu gewährleisten.57 Unter die Steueraufsicht bzw. Steuerkontrolle fallen alle Maßnahmen, die im Zuständigkeitsbereich der Finanzbehörden liegen und die dazu dienen, den durch das materielle Steuerrecht begründeten Besteuerungsanspruch sicherzustellen.58 Nach Ansicht des EuGH können die Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Steuerhoheit selbst bestimmen, welche Angaben gemacht und welche materiellen und formellen VorausLankhorst-Hohorst, Slg. 2002, I-11779 Rn. 38; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 837; Hahn, DStZ 2005, 507 (511). 54  Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, S. 952. 55  Cordewener, Europäische Grundfreiheiten und nationales Steuerrecht, S. 954. 56  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­ 03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 49 f.; v. 23.2.2006, C513/­03 – van Hilten-van der Heijden, Slg. 2006, I-1957 Rn. 48, wobei der EuGH im letzteren Urteil die Vermeidung der Steuerflucht auf der Ebene des Schutzbereichs der Kapitalverkehrsfreiheit und nicht auf der Rechtfertigungsebene prüft. Vgl. auch: Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 221. 57 Vgl. EuGH v. 20.2.1979, C-120/­ 78 – Cassis de Dijon, Slg. 1979, I-649 Rn. 8; v. 15.5.1997, C-250/­95 – Futura Participations, Slg. 1997, I-2471 Rn. 31; v. 8.7.1999, C-254/­97  – Baxter, Slg. 1999, I-4809 Rn. 18; v. 14.9.2006, C-386/­04 – Stauffer, Slg. 2006, I-8203 Rn. 47; v. 30.9.2003, C-167/­ 01 – Inspire Art, Slg. 2003, I-10155 Rn. 132; v. 18.12.2007, C-101/­05 – A, Slg. 2007, I-11531 Rn. 55; v. 3.10.2006, C-290/­04 – FKP Scor­ pio Konzertproduktionen, Slg. 2006, I-9461 Rn. 35; v. 12.7.2012, C-269/­09 – Kommission/­ Spanien, EuZW 2013, 34 Rn. 64; v. 19.6.2014, C-53/­13 und C-80/­13 – Strojírny Prostě­ jov u. a., EuZW 2014, 832 Rn. 46 mwN; v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80 Rn. 39; v. 11.6.2009, C-155/­08 und C-157/­08 – X und Passenheim-van Schoot, Slg. 2009, I-5093 Rn. 55; v. 30.6.2011, C-262/­09 – Meilicke II, EuZW 2011, 642 Rn. 41; v. 5.7.2012, C-318/­10  – SIAT, EuZW 2012, 823 Rn. 36; v. 19.6.2014, C-53/­13 und C-80/­13 – Strojírny Prostějov u. a., EuZW 2014, 832 Rn. 46; v. 9.10.2014, C-326/­12 – van Caster, EuZW 2014, 938 Rn. 46; v. 9.11.2006, C-433/­04 – Kommission/­Belgien, Slg. 2006, I-10653 Rn. 35; v. 1.7.2010, C-233/­09 – Dijkman und Dijkman-Lavaleije, Slg. 2010, I-6645 Rn. 58. 58  Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 838.

§ 5  Verstoß gegen Grundfreiheiten und dessen Rechtfertigung

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setzungen erfüllt werden müssen, um es der Steuerverwaltung zu ermöglichen, die geschuldete Steuer richtig festzusetzen.59 Aber auch hier muss die Maßnahme verhältnismäßig sein, woran die Rechtfertigungsprüfung häufig scheitert. In diesem Zusammenhang werden die erweiterten Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen als geeignet angesehen, das Ziel der wirksamen Steueraufsicht bzw. Steuerkontrolle zu erreichen.60 Im Rahmen der Erforderlichkeit der nationalen Maßnahme verwies der EuGH in früheren Urteilen oftmals auf die Amtshilfe-Richtlinie, da diese ein milderes Mittel darstelle.61 Teilweise nimmt der EuGH einen solchen Verweis jedoch nicht mehr vor.62

59 Vgl. EuGH v. 30.6.2011, C-262/­ 09 – Meilicke II, EuZW 2011, 642 Rn. 43; v. 9.10.2014, C-326/­12 – van Caster, EuZW 2014, 938 Rn. 46. 60  Möllenbeck, Das Verhältnis der EG-Amtshilfe, S. 246: Nach der erweiterten Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen habe dieser den Sachverhalt aufzuklären, Beweise beizubringen und im Vorfeld entsprechende Vorsorge zu treffen, wodurch es der Finanzverwaltung ermöglicht werde, einen grenzüberschreitenden Sachverhalt vom Steuerpflichtigen „aufklären zu lassen“. 61  Vgl. EuGH v. 3.10.2002, C-136/­0 0 – Danner, Slg. 2002, I-8147 Rn. 49; v. 26.6.2003, C-422/­01  – Ramstedt, Slg. 2003, I-6817 Rn. 38; v. 15.5.1997, C-250/­95 – Futura Partici­ pations, Slg. 1997, I-2471 Rn. 41; v. 28.10.1999, C-55/­98 – Vestergaard, Slg. 1999, I-7641 Rn. 26; v. 14.9.2006, C-386/­04 – Stauffer, Slg. 2006, I-8203 Rn. 48 ff.; v. 11.12.2014, C-678/­11  – Kommission/­Spanien, VerS 2016, 593 Rn. 49 f.: Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 77/­799/­EWG des Rates v. 19.12.1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern, ABl. Nr. L 336 v. 27.12.1977, S. 15, aufgehoben durch Richtlinie 2011/­16/­EU des Rates v. 15.2.2011, ABl. Nr. L 64 v. 11.3.2011, S. 1; Richtlinie 2008/­55/­EG des Rates v. 26.5.2008, ABl. Nr. L 150 v. 10.6.2008, S. 28, aufgehoben durch Richtlinie 2010/­24/­EU des Rates v. 16.3.2010, ABl. Nr. L 84 v. 31.3.2010, S. 1. Vgl. auch: EuGH v. 5.7.2007, C-522/­04 – Kommission/­ Belgien, Slg. 2007, I5701 Rn. 52; v. 12.7.2012, C-269/­09 – Kommission/­Spanien, EuZW 2013, 34 Rn. 68 mwN. Vgl. auch: Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 839; Möllenbeck, Das Verhältnis der EG-Amtshilfe, S. 246 ff. mwN., insbesondere mit einer Übersicht über die Gegenansicht, nach der die Amtshilfe kein milderes Mittel sein (S. 248 f.). 62  Vgl. EuGH v. 18.12.2007, C-101/­05 – A, Slg. 2007, I-11531 Rn. 54 ff.; v. 13.12.2005, C-446/­03  – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837; Musil/­Fähling, DStR 2010, 1501 (1503), nach denen dieser Verweis schon seit jeher lebensfremd war und wenig überzeugte. Vgl. auch: Englisch, IStR 2006, 19 (23), der unter Verweis auf das Urteil Marks & Spencer (EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837) meint, dass der fehlende Verweis „angesichts der ausdrücklichen Erörterung in den Schlussanträgen des Generalanwaltes wohl als beredtes Schweigen gewertet werden muss“; Möllenbeck, Das Verhältnis der EG-Amtshilfe, S. 247, der unter Verweis auf das Urteil Persche (EuGH v. 27.1.2009, C-318/­07 – Persche, Slg. 2009, I-359) darauf hinweist, dass der EuGH noch keine Stellng dazu genommen habe, ob die Amtshilfe gegenüber einer erweiterten Mitwirkungspflicht ein milderes Mittel darstellt.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Bei der Notwendigkeit, eine effektive Einziehung der Steuerschuld zu gewährleisten, geht es nicht allein um einen effektiven Steuervollzug, sondern weiterreichend um mitgliedstaatliche Möglichkeiten, das Steueraufkommen durch gezielt auf Auslandssachverhalte gerichtete Maßnahmen zu sichern und effizienter zu gestalten.63 3.  Kohärenz des Steuersystems

Ein weiterer anerkannter Rechtfertigungsgrund stellt die Kohärenz des Steuersystems dar.64 Dieser Rechtfertigungsgrund ist deshalb so bedeutsam, weil sich die Mitgliedstaaten seit seiner ersten Anerkennung65 in nahezu jedem Verfahren im Bereich des Steuerrechts darauf berufen.66 Die Annahme dieses Rechtfertigungsgrundes ist jedoch nur unter sehr engen Voraussetzungen zulässig.67 Unter der Kohärenz versteht man einen Zustand, in dem mehrere Vorschriften aus systematischen Gründen aufeinander bezogen sind und gemeinsam eine angemessene und systemgerechte Regelung darstellen.68 Sie beruht dabei auf dem Prinzip der steuerrechtlichen Korrespondenz, zivilrechtlich vergleichbar mit einer synallagmatischen Verknüpfung.69 Die Mitgliedstaaten wahren die Kohärenz einer steuerrechtlichen Regelung, wenn die beschränkende nationa63  Musil/­Fähling, DStR 2010, 1501 (1503); EuGH v. 3.10.2006, C-290/­ 04 – FKP Scorpio Konzertproduktionen, Slg. 2006, I-9461 Rn. 35 f.; v. 12.7.2012, C-269/­ 09 – Kommission/­Spanien, EuZW 2013, 34 Rn. 64; v. 19.6.2014, C-53/­13 und C-80/­13 – Strojír­ ny Prostějov u. a., EuZW 2014, 832 Rn. 46 mwN; v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80 Rn. 39. 64 Vgl. EuGH v. 28.1.1992, C-204/­ 90 – Bachmann, Slg. 1992, I-249 Rn. 17 ff.; v. 28.1.1992, C300/­ 90 – Kommission/­Belgien, Slg. 1992, I-305 Rn. 10 ff.; v. 6.6.2000, C-35/­98  – Verkooijen, Slg. 2000, I-4071 Rn. 56; v. 18.9.2003, C-168/­01 – Bosal, Slg. 2003, I-9409 Rn. 29; v. 7.9.2004, C-319/­02 – Manninen, Slg. 2004, I-7477 Rn. 29; v. 23.10.2008, C157/­07  – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061; v. 27.11.2008, C-418/­07 – Papillon, Slg. 2008, I-8947; Schlussanträge des Generalanwalts Luís Miguel Poiares Maduro v. 7.4.2005, C-446/­03 Rn. 66: „Es muss nämlich vermieden werden, dass die Anwendung der Verkehrsfreiheiten zu ungerechtfertigten Beeinträchtigungen der inneren Systematik der nationalen Steuersysteme führt.“ 65  EuGH v. 28.1.1992, C-204/­ 90 – Bachmann, Slg. 1992, I-249 Rn. 28; v. 28.1.1992, C300/­90  – Kommission/­Belgien, Slg. 1992, I-305 Rn. 21. 66  Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 840. 67  Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 222; Schlussanträge des Generalanwalts Luís Miguel Poiares Maduro v. 7.4.2005, C-446/­03 Rn. 71. 68  Rupp, in: Rupp/­ K nies/­Ott/­Faust, Internationales Steuerrecht, S. 770; Musil, StuW 2005, 278 (286), nach dem für die Annahme einer Kohärenz eine steuerliche Regelung „notwendig ist, um ein bestimmtes Besteuerungssystem in sich schlüssig zu halten“. 69  Weber-Grellet, DStR 2009, 1229 (1231).

§ 5  Verstoß gegen Grundfreiheiten und dessen Rechtfertigung

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le Steuernorm in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einer steuerlichen Vergünstigung steht.70 Dabei muss die Unmittelbarkeit dieses Zusammenhangs im Hinblick auf das mit der fraglichen Regelung verfolgte Ziel beurteilt werden.71 Zudem muss der unmittelbare Zusammenhang von Beschränkung und Vergünstigung in einer gegenseitigen Bedingung bestehen, die sich ohne weiteres Zutun auswirkt. Daneben hatte der EuGH diesen Rechtfertigungsgrund ursprünglich nur dann gelten lassen, wenn eine inkohärente Regelung bei demselben Steuerpflichtigen (sog. Steuersubjektidentität) im Rahmen derselben Steuerart drohte.72 In späteren Urteilen hat er das Erfordernis der Identität des Steuerpflichtigen gelockert.73 Die Feststellung, ob eine Beschränkung sowie eine Vergünstigung vorliegen, ist auf das territoriale Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats beschränkt, sodass ein grenzüberschreitender Ausgleich eines Nachteils nicht möglich ist.74 So erkennt der EuGH den Rechtfertigungsgrund der Kohärenz des Steuersystems auch dann nicht an, wenn die steuerliche Kohärenz auf DBA-Ebene hergestellt wird (sog. Internationale Kohärenz).75 Denn bei Bestehen eines DBA wird die Kohärenz nicht auf der Ebene der Einzelperson, sondern auf der Ebene der Vertragsstaaten geprüft.76 Die Internationale Kohärenz ist vielmehr Ausdruck der sachgerechten Aufteilung der Besteuerungshoheiten zwischen den Mitglied-

70  Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 842; Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.164. 71  Vgl. EuGH v. 12.7.2012, C269/­09 – Kommission/­S panien, EuZW 2013, 34 Rn. 85; v. 7.9.2004, C-319/­02 – Manninen, Slg. 2004, I-7477 Rn. 42 f.; v. 13.3.2007, C-524/­04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107 Rn. 68; v. 23.2.2006, C-471/­04  – Keller Holding, Slg. 2006, I-2107 Rn. 40; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 842; Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.164. 72  EuGH v. 6.6.2000, C-35/­98 – Verkooijen, Slg. 2000, I-4071 Rn. 57 f.; v. 18.9.2003, C168/­01  – Bosal, Slg. 2003, I-9409 Rn. 29; v. 8.3.2001, C397/­98 und C-410/­98 – Metallge­ sellschaft und Hoechst, Slg. 2001, I-1727 Rn. 69; v. 15.7.2004, C-315/­02 – Lenz, Slg. 2004, I-7063 Rn. 36; Kokott/­Ost, EuZW 2011, 496 (501). 73  EuGH v. 7.9.2004, C-319/­02 – Manninen, Slg. 2004, I-7477 Rn. 42 ff.; v. 13.3.2007, C-524/­04  – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107; Schlussanträge des Generalanwalts Leendert Adrie Geelhoed v. 29.6.2006, C-524/­04 Rn. 88. 74  Stewen, EuR 2008, 445 (457). 75  EuGH v. 11.8.1995, C-80/­ 94 – Wielockx, Slg. 1995, I-2493 Rn. 25 f.; v. 15.7.2004, C242/­03  – Weidert und Paulus, Slg. 2004, I-7379 Rn. 25; v. 21.11.2002, C-436/­00 – X und Y, Slg. 2002, I-10829 Rn. 64; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 842; Stewen, EuR 2008, 445 (457). 76  EuGH v. 11.8.1995, C-80/­94 – Wielockx, Slg. 1995, I-2493 Rn. 24.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

staaten.77 DBA beeinträchtigen somit die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, sich auf den Rechtfertigungsgrund der Kohärenz zu berufen.78 4.  Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten

Ein anerkannter Rechtfertigungsgrund liegt auch vor, wenn die Aufteilung der Besteuerungsrechte zwischen den Mitgliedstaaten gewahrt werden soll. Diese Aufteilung gewährleistet, dass die Besteuerungszuständigkeiten der Mitgliedstaaten sachgerecht bestimmt bzw. abgegrenzt werden.79 Dieser Rechtfertigungsgrund wurde erstmals im Urteil Marks & Spencer80 anerkannt, wobei der EuGH hierbei noch eine ausgewogene Aufteilung für erforderlich hielt.81 In diesem Urteil vertrat er zudem noch die Auffassung, dass ein Verstoß der nationalen Vorschrift gegen die Grundfreiheiten nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn drei Rechtfertigungsgründe zugleich eingreifen: die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten, die Verhinderung der doppelten Verlustnutzung (sog. double-dip) sowie die Verhinderung der Steuerflucht. Während der EuGH in den Urteilen Oy AA82 und Lidl Belgium83 davon ausging, dass bereits zwei der genannten Rechtfertigungsgrün77 

Stewen, EuR 2008, 445 (461). Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.164. 79  Vgl. EuGH v. 12.5.1998, C-336/­96 – Gilly, Slg. 1998, I-2793 Rn. 47, 53; v. 13.12.2005, C446/­03  – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 45; v. 14.11.2006, C-513/­04 – Kerck­ haert und Morres, Slg. 2006, I-10967 Rn. 22 ff.; v. 12.12.2006, C374/­04 – Test Claim­ ants in Class IV of the ACT Group Litigation, Slg. 2006, I-11673 Rn. 50; v. 29.3.2007, C-347/­04  – Rewe Zentralfinanz, Slg. 2007, I-2647 Rn. 69; v. 7.9.2006, C470/­04 – N, Slg. 2006, I7409 Rn. 41; v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 46; v. 12.7.2012, C-269/­09 – Kommission/­Spanien, EuZW 2013, 34; v. 23.1.2014, C164/­12  – DMC, EuZW 2014, 273; v. 15.5.2008, C414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I3601; v. 21.1.2010, C-311/­08 – SGI, Slg. 2010, I487; v. 25.2.2010, C-337/­08 – X Holding, Slg. 2010, I-1215 Rn. 22; v. 10.2.2011, verb. C-436/­08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 121; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 266b. 80  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 51. 81 EuGH v. 13.12.2005, C-446/­ 03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 46; vgl. auch: EuGH v. 8.11.2007, C-379/­05 – Amurta, Slg. 2007, I-9569 Rn. 58; v. 4.7.2013, C350/­11  – Argenta Spaarbank, EuZW 2013, 796 Rn. 53. 82  EuGH v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 60: Der EuGH führt hier die „Notwendigkeit der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zusammen mit der Verhinderung einer Steuerumgehung“ an. 83  EuGH v. 15.5.2008, C-414/­ 06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 40, 42: Nach Ansicht des EuGH sei die Steuerregelung „durch die Notwendigkeit der Wahrung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten und durch die Notwendigkeit, eine doppelte Verlustberücksichtigung zu verhindern“ gerechtfertigt. 78 

§ 5  Verstoß gegen Grundfreiheiten und dessen Rechtfertigung

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de ausreichend sind, ließ er im Urteil X Holding84 allein die Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse genügen. Letztere scheint nach Ansicht des EuGH daher der wichtigste der drei genannten Rechtfertigungsgründe zu sein. Dies zeigt sich auch daran, dass er darauf hinweist, dass sich die Anliegen der ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse und der steuerlichen Kohärenz decken,85 sowie dass die Ziele der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten und der Vermeidung von Steuerumgehung miteinander verknüpft sind86. Die Frage, ob die Verhinderung der doppelten Verlustberücksichtigung als eigenständiger Rechtfertigungsgrund eine Rolle spielen kann, hat der EuGH bisher offengelassen, er scheint ihn jedoch nicht als selbstständigen Rechtfertigungsgrund zuzulassen.87 Beim Rechtfertigungsgrund der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsrechte zwischen den Mitgliedstaaten ist bereits nach dem Wortlaut zwischen der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis selbst und der Wahrung dieser Aufteilung zu unterscheiden.88 Der EuGH betont in ständiger Rechtsprechung, dass die Mitgliedstaaten aufgrund fehlender unionsrechtlicher Harmonisierungsmaßnahmen befugt sind, die Kriterien für die Aufteilung ihrer Steuerhoheit vertraglich mittels DBA, aber auch einseitig festzulegen.89 Eine nationale Steuerregelung führt dann zu einer angemessenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, wenn sie die Symmetrie zwischen dem Recht zur Besteuerung der Gewinne und der Möglichkeit, Verluste in Abzug zu bringen, wahrt.90 Entsteht aufgrund der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis im Vergleich zu einem 84 

EuGH v. 25.2.2010, C-337/­08 – X Holding, Slg. 2010, I-1215. v. 29.11.2011. C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I12273 Rn. 80; v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 47. 86  EuGH v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 62 mwN; v. 17.12.2015, C-388/­14  – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 47. 87 EuGH v. 13.12.2005, C-446/­ 03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 45; v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 51; v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 34; EuGH v. 6.9.2012, C-18/­11 – Philips Electro­ nics, EuZW 2013, 238 Rn. 28: „selbst wenn ein solcher Grund selbständig geltend gemacht werden könnte“; vgl. auch: Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 19.4.2012, C-18/­11 Rn. 68; Schiefer, IStR 2012, 847 (850). 88  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.3.2014, C-48/­13 Rn. 35. 89  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.3.2014, C-48/­ 13 Rn. 35; vgl. EuGH v. 18.6.2009, C-303/­07 – Aberdeen, Slg. 2009, I-5145 Rn. 25; v. 29.11.2011. C-371/­10  – National Grid Indus, Slg. 2011, I12273 Rn. 45; v. 4.7.2013, C-350/­11 – Argen­ ta Spaarbank, EuZW 2013, 796 Rn. 50; v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 47. 90 EuGH v. 12.9.2006, C-196/­ 04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 Rn. 56; v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 31 ff.; Weber-Grellet, DStR 2009, 1229 (1231). 85 EuGH

102

Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Steuer­pflichtigen mit nur inländischem Sachverhalt eine höhere Steuerbelastung, ist die entsprechende nationale Regelung gerechtfertigt.91 Die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse gewährt den Mitgliedstaaten dabei das Recht, diese von ihnen selbst festgelegte Besteuerungsbefugnis wahrzunehmen und zu schützen.92 Hierzu hat der EuGH bisher zwei Fallgruppen anerkannt: zum einen, dass die Verschiebung von Einkünften von einem in den anderen Mitgliedstaat durch fiktive oder betrügerische Gestaltungen verhindert wird,93 und zum anderen die fehlende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Verluste zu berücksichtigen, die nicht sie, sondern ein anderer Mitgliedstaat besteuert.94 Der Rechtfertigungsgrund der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsrechte greift jedoch nicht, wenn diese bereits mittels der Fusionsrichtlinie sichergestellt wird.95 Der EuGH spricht das – im internationalen Steuerrecht geltende und vom Unionsrecht anerkannte – Territorialitätsprinzip im Zusammenhang mit der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse an.96 So könne das Territorialitätsprinzip als maßgeblicher Grundsatz gelten, an dem sich die Mitgliedstaaten bei der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse orientieren.97 Eine exakte Definition des Territorialitätsprinzips besteht nicht; eine praktische Ausprägung dieses Grundsatzes sei aber, dass die Staaten im Allgemeinen nur die dort ansässigen Personen unbeschränkt besteuern, die ausländischen Steuerpflichtigen hinge91 

Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 3 Rn. 80. Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.3.2014, C-48/­13 Rn. 38. 93  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.3.2014, C-48/­13 Rn. 39 ff.; vgl. EuGH v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 56; v. 17.9.2009, C182/­08  – Glaxo Wellcome, Slg. 2009, I-8591 Rn. 87; v. 4.7.2013, C-350/­11 – Argen­ ta Spaarbank, EuZW 2013, 796 Rn. 55; v. 21.1.2010, C-311/­08 – SGI, Slg. 2010, I487 Rn. 60 ff.; v. 5.7.2012, C-318/­10 – SIAT, EuZW 2012, 823 Rn. 45 ff. 94  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.3.2014, C-48/­ 13 Rn. 39 ff.; vgl. EuGH v. 6.9.2012, C-18/­11 – Philips Electronics, EuZW 2013, 238 Rn. 24; v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 55; v. 25.2.2010, C-337/­08 – X Hol­ ding, Slg. 2010, I-1215 Rn. 29; v. 21.2.2013, C-123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 43. Der Binnenmarkt gibt den Steuerpflichtigen daher nicht die Wahl, in welchem Mitgliedstaat ihre Verluste berücksichtigt werden. 95  EuGH v. 8.3.2017, C-14/­16 – Euro Park Service, EuZW 2017, 429 Rn. 66 ff. 96 EuGH v. 13.12.2005, C-446/­ 03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 39; v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 43 ff.; Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 30.3.2006, C-470/­04 Rn. 92. 97  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 43 ff.; v. 15.5.1997, C-250/­95 – Futura Participations, Slg. 1997, I-2471 Rn. 22; Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 30.3.2006, C-470/­04 Rn. 92; v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 39. Zuvor hatte der EuGH diesen Rechtfertigungsgrund oftmals zurückgewiesen: vgl. EuGH v. 18.9.2003, C-168/­ 01 – Bosal, Slg. 2003, I-9409 Rn. 37 ff.; v. 7.9.2004, C-319/­02 – Manninen, Slg. 2004, I-7477 Rn. 38 f. 92 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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gen nur der beschränkten Steuerpflicht unterliegen.98 Das Territorialitätsprinzip findet sich auch in den DBA, so beispielsweise in Art. 13 Abs. 5 OECD-MA.99 IV.  Verhältnismäßigkeit

Sowohl bei den geschriebenen als auch bei den ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen ist neben der Prüfung der Rechtfertigungsebene auch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen (sog. Schranken-Schranke). Steht also fest, dass die Diskriminierung oder Beschränkung mittels Rechtfertigungsgründen gerechtfertigt und außerdem geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, ist anschließend zu prüfen, ob sie nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die verfolgten Ziele zu erreichen.100 Auf dieser Verhältnismäßigkeitsebene werden die widerstreitenden Interessen des Binnenmarkts sowie der Mitgliedstaaten gewichtet (sog. balancing of interests).101 Hinsichtlich der Besonderheiten bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung wird bei den nachfolgenden Untersuchungen gesondert auf jeden Einzelfall eingegangen.

§ 6  Konkrete Einwirkungen der Grundfreiheiten auf Doppelbesteuerungsabkommen Der Bereich der direkten Steuern fällt zwar nicht in die Zuständigkeit der EU. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Befugnisse jedoch die Vorgaben des Unionsrechts, insbesondere die Grundfreiheiten beachten.102 Die Grundfreiheiten sollen vorrangig 98 

Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 30.3.2006, C-470/­04 Rn. 93. Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 30.3.2006, C-470/­04 Rn. 94; EuGH v. 23.2.2006, C513/­03 – van Hilten-van der Heijden, Slg. 2006, I-1957 Rn. 48. 100  Vgl. EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 53; v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 27 mwN; v. 23.10.2008, C-157/­07  – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 40; v. 17.7.2014, C-48/­13 – Nor­ dea Bank, EuZW 2014, 787 Rn. 23; v. 6.9.2012, C-18/­11 – Philips Electronics, EuZW 2013, 238 Rn. 17; v. 12.12.2006, C-446/­04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 167. Vgl. auch: Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 6 Rn. 831. In diesem Rahmen ist die aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannte Verhältnismäßigkeitsprüfung auf das Unionsrecht übertragbar: Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 3 Rn. 84. 101  Sutter, EuZW 2006, 85 (87). 102  Diesen Grundsatz hat der EuGH im Bereich der direkten Steuern erstmals im Urteil Schumacker (EuGH v. 14.2.1995, C-279/­93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 21) formuliert: Kokott/­Ost, EuZW 2011, 496 (497). Vgl. auch: EuGH v. 21.9.1999, C-307/­97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 56 ff.; v. 12.12.2002, C-385/­00 – de Groot, Slg. 2002, 99 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

sicherstellen, dass grenzüberschreitende Sachverhalte nicht ungünstiger behandelt werden als rein innerstaatliche. Hier kann es Berührungspunkte mit DBA-Bestimmungen geben, welche entweder allein oder im Zusammenspiel mit nationalen Vorschriften Relevanz für die Grundfreiheiten erlangen. Im Folgenden sollen daher die einzelnen, konkreten Einwirkungen der Grundfreiheiten auf DBA anhand der Rechtsprechung des EuGH dargestellt und untersucht werden. Diese Einwirkungen lassen sich dabei in verschiedene Gruppen aufteilen und zusammenfassen: Die Regelungen zur Abkommensberechtigung (A.), die Regelungen zur Aufteilung der Besteuerungszuständigkeit (B.), die Methode zur Beseitigung der Doppelbesteuerung (C.), die Missbrauchsabwehr (D.) und der Grundsatz der Meistbegünstigung (E.).

A.  Abkommensberechtigung (Artt. 1 bis 5 OECD-MA) Zunächst ist zu untersuchen, wer die Rechte aus dem Abkommen geltend machen und somit den Schutz des Abkommens in Anspruch nehmen kann (sog. Abkommensberechtigung)103, denn die Grundfreiheiten wirken in vielfältiger Art und Weise auf die Abkommensberechtigung ein. Die Abkommensberechtigung ist in Art. 1 OECD-MA geregelt. Danach gilt das jeweilige DBA für Personen, die in einem Vertragsstaat oder in beiden Vertragsstaaten ansässig sind. Nach Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA bedeutet der Ausdruck „eine in einem Vertragsstaat ansässige Person“ eine Person, die nach dem Recht dieses Staats dort auf Grund ihres Wohnsitzes, ihres ständigen Aufenthalts, des Ortes ihrer Geschäftsleitung oder eines anderen ähnlichen Merkmals steuerpflichtig ist. Voraussetzung ist also zunächst, dass überhaupt eine Person im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Satz 1 lit. a) OECD-MA vorliegt, was insbesondere bei Betriebstätten eine Rolle spielt. Weiterhin muss diese Person ein Ansässigkeitsmerkmal erfüllen, um überhaupt einen genuine link zu begründen, der die Anwendbarkeit des entsprechenden DBA erst möglich macht. Dieses Merkmal ist insbesondere bei beschränkt Steuerpflichtigen und Grenzpendlern relevant. Zuletzt muss die Person gerade wegen ihres Ansässigkeitsmerkmals („auf Grund“) im betreffenden Staat steuerpflichtig sein. Dieses Merkmal ist insbesondere bei Personengesellschaften relevant, die von einigen Staaten – so

I-11819 Rn. 93 f.; v. 28.2.2013, C-168/­11 – Beker, EuZW 2013, 631; Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 266; Brähler/­Mayer, IStR 2010, 678 (680) mwN. 103  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­ Ditz, DBA, Systematik Rn. 115; Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 137; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 269; Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 1 MA Rn. 18; Brähler/­Mayer, IStR 2010, 678 (688).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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auch Deutschland – als steuerrechtlich transparent angesehen werden, und damit nicht steuerpflichtig sind. Um die konkreten Einwirkungen der Grundfreiheiten auch auf die Abkommensberechtigung näher zu untersuchen, sollen im Folgenden diese zuvor erwähnten drei Fallgruppen unter Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung dargestellt und besprochen werden. I.  Beschränkt Steuerpflichtige

Die erste wichtige Fallgruppe betrifft die beschränkt Steuerpflichtigen. Das deutsche Steuerrecht unterscheidet – genau wie viele Steuersysteme anderer Staaten auch – grundlegend zwischen der unbeschränkten und der beschränkten Steuerpflicht. Während unbeschränkt Steuerpflichtige mit ihrem Welteinkommen besteuert werden104 und im Gegenzug dazu ihre persönliche und familiäre Situation durch die Gewährung von Freibeträgen, Abzügen für Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen, dem Ehegattensplitting etc. berücksichtigt wird, werden beschränkt Steuerpflichtige hingegen nur hinsichtlich bestimmter inländischer Einkünfte besteuert105, dies in der Regel jedoch ohne eine umfassende Berücksichtigung ihrer persönlichen und familiären Situation. Aus Art. 1 OECD-MA folgt, dass grundsätzlich nur diejenigen Personen ansässig und damit abkommensberechtigt sind, die in dem jeweiligen Vertragsstaat unbeschränkt steuerpflichtig sind.106 Wie eingangs erwähnt, muss sich die unbeschränkte Steuerpflicht gerade aus den jeweiligen örtlichen Anknüpfungsmerkmalen „Wohnsitz“, „ständiger Aufenthalt“, „Ort der Geschäftsleitung“ oder „anderes ähnliches Merkmal“ ergeben. Da bei der beschränkten Steuerpflicht diese Merkmale nicht vorliegen, fehlt es an der Ansässigkeit in diesem Vertragsstaat. Redundanterweise stellt dies Art. 4 Abs. 1 S. 2 OECD-MA klar, wonach eine Person, die in diesem Staat nur mit Einkünften aus Quellen in diesem Staat oder mit in diesem Staat gelegenem Vermögen steuerpflichtig ist (also beschränkt steuerpflichtig), nicht ansässig ist. Insofern sind eine beschränkte Steuerpflicht nach § 1 Abs. 4 EStG sowie eine erweiterte beschränkte Steuerpflicht nach § 2 AStG nicht ausreichend, um eine Abkommensberechtigung für

104 

Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 4 Rn. 77. Vgl. §§ 1 Abs. 4, 49 EStG. 106  Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Art. 4 Rn. 76; Wassermeyer/­Kaeser, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 4 MA Rn. 2; a. A.: Pohl, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Art. 4 Rn. 28, nach dem sämtliche Formen der persönlichen Steuerpflicht umfasst werden. 105 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

den Steuerpflichtigen zu begründen.107 Beschränkt Steuerpflichtige sind also im Ergebnis nach den Regelungen des OECD-MA nicht abkommensberechtigt, sodass es grundsätzlich zu einer Ungleichbehandlung im Vergleich zu unbeschränkt Steuerpflichtigen kommt, denen die Abkommensberechtigung gewährt wird. Diese Ungleichbehandlung ist insbesondere dann problematisch, wenn dem beschränkt Steuerpflichtigen aus diesem Grunde Steuervergünstigungen, die ein DBA gewährt, versagt werden. Die vom EuGH entschiedenen Fälle beziehen sich auf innerstaatliche Steuervergünstigungen. Da diese Steuervergünstigungen den beschränkt Steuerpflichtigen nicht vorrangig wegen der fehlenden Abkommensberechtigung, sondern wegen der Aufteilung der Besteuerungszuständigkeit im jeweiligen DBA versagt werden, ist es dogmatisch richtig, das vorliegende Problem erst im Rahmen der Aufteilung der Besteuerungszuständigkeit (dazu unter § 6 B. I. zu erörtern.108 II.  Betriebstätten 1.  Überblick und Problemaufriss

Ein Problem hinsichtlich der Abkommensberechtigung besteht auch bei Betriebstätten.109 Die Betriebstätte ist in Art. 5 OECD-MA definiert. Danach ist eine Betriebstätte eine feste Geschäftseinrichtung, durch die die Geschäftstätigkeit eines Unternehmens ganz oder teilweise ausgeübt wird. In Art. 5 Abs. 2 OECD-MA findet sich eine nicht abschließende Aufzählung von Beispielen. Der Betriebstättenbegriff in den DBA hat Vorrang vor dem – grundsätzlich weiteren – Begriff des § 12 AO.110 Die Betriebstätte ist ein rechtlich unselbstständiger Teil eines Unternehmens und somit kein eigenes Rechtssubjekt.111 Betriebstätten im Sinne des Art. 5 OECD-MA sind damit keine „Personen“ im Sinne des 107  Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Art. 4 Rn. 77a: Unabhängig von der Reichweite der Steuerpflicht würde es in diesen Fällen auch an einem ansässigkeitsbegründenden Merkmal fehlen, auf dem die Steuerpflicht beruhe. 108 So richtig eingeordnet durch: Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 266d. 109  Der Begriff der Betriebstätte dient in erster Linie dem Zweck, festzulegen, wann ein Vertragsstaat berechtigt ist, die Gewinne eines Unternehmens des anderen Vertragsstaates zu besteuern (Art. 7 Nr. 1 OECD-MK). Vgl. Wassermeyer/­Kaeser, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 5 Rn. 9. 110  Gersch, in: Klein, AO, § 12 Rn. 1; Görl, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 5 Rn. 8. 111  Die Betriebstätte hat dennoch Registrierungs- und Steuererklärungspflichten im Betriebstättenstaat zu beachten. Zudem ist bei der Gewinnabgrenzung zwischen Stammhaus und Betriebstätte sowie bei den Verrechnungspreisen der Fremdvergleichsgrundsatz zu beachten. Vgl. auch BMF, Schreiben v. 22.12.2016 – IV B 5 – S 1341/­12/­10001-03.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Art. 3 Abs. 1 lit. a) OECD-MA und somit nicht abkommensberechtigt. Lediglich der hinter der Betriebstätte stehende Rechtsträger kann eine abkommensberechtigte Person sein.112 Das Problem bei den Betriebstätten stellt sich wie folgt dar: Besteht ein DBA, liegt das Besteuerungsrecht hinsichtlich der Betriebstätte in der Regel beim Betriebstättenstaat (sog. Betriebstättenprinzip). So können gemäß Art. 7 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 OECD-MA Gewinne eines Unternehmens zwar nur im Ansässigkeitsstaat – unter zwingender Freistellung der Einkünfte im anderen Staat – besteuert werden (sog. Verteilungsnorm mit abschließender Rechtsfolge).113 Übt das Unternehmen seine Geschäftstätigkeit jedoch im anderen Staat durch eine dort belegene Betriebstätte aus, können die Gewinne, die der Betriebstätte nach Absatz 2 zuzurechnen sind, gemäß Art. 7 Abs. 1 S. 1 Hs. 2, S. 2 OECD-MA im anderen Staat (Betriebstättenstaat) besteuert werden (sog. Verteilungsnorm mit offener Rechtsfolge).114 Wegen der fehlenden rechtlichen Selbstständigkeit der Betriebstätte ist die ausländische Gesellschaft Steuersubjekt. Sie ist mit ihren inländischen Betriebstätteneinkünften beschränkt steuerpflichtig. Knüpfen nun DBA-Regelungen oder nationale Regelungen steuerliche Vorteile an die Ansässigkeit einer Person an, wie es beispielsweise beim Internationalen Schachtelprivileg der Fall ist, gelten diese Vorteile vor allem beim Einsatz einer Tochtergesellschaft, denn diese ist „Person“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. a) OECDMA und damit „Unternehmer eines Vertragsstaats“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. d) OECD-MA sowie des Art. 7 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 OECD-MA. Wird eine Betriebstätte eingesetzt, gilt jedoch zwingend Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 OECD-MA und somit eine Besteuerung des ausländischen Stammhauses. Erfasst die nationale Steuervergünstigung das ausländische Stammhaus nicht, was die Regel ist, führt die fehlende Abkommensberechtigung der Betriebstätte zu einer höheren Besteuerung als bei einer Tochtergesellschaft. So kann die Regelung der Abkommensberechtigung in den DBA eine Ungleichbehandlung der Steuersubjekte auslösen, was mit Blick auf die Grundfreiheiten, insbesondere auf die Niederlassungsfreiheit, erörterungsbedürftig ist. Denn eine verbotene Beschränkung der Niederlassungsfreiheit liegt bereits dann vor, wenn die nationale Maßnahme geeignet ist, die Ausübung der Grundfreiheiten zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu

112  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 5 Rn. 1; Dürrschmidt, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 3 Rn. 11a. 113  Hemmelrath, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 7 Rn. 16: Dies gelte selbst dann, wenn die Gewinne durch eine Tätikeit im anderen Vertragsstaat erwirtschaftet wurden. 114  Dürrschmidt, in: Vogel/­Lehner, DBA, Vor Art. 6 bis 22 Rn. 6.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

machen.115 Bei nationalen Steuervergünstigungen folgt die Ungleichbehandlung indes nicht allein aus dem Ansässigkeitsbegriff an sich, sondern dieser eröffnet nur die Möglichkeit, dass diese Ungleichbehandlung überhaupt erst zum Tragen kommt. Im Folgenden werden zur Lösung dieses Problems zunächst ausgewählte Urteile des EuGH dargestellt (2.). Im Anschluss daran wird zu der Problematik im Einzelnen Stellung genommen und die vom EuGH entwickelte Lösung betrachtet (3.). 2.  Die Rechtsprechung des EuGH a)  Avoir fiscal

Das erste wichtige Urteil des EuGH bezüglich der steuerlichen Behandlung von Betriebstätten ist das Urteil in der Rechtssache Avoir fiscal.116 In diesem Fall ging es um eine Diskriminierung von Betriebstätten im Aufnahmestaat. Zwar besteht im Urteil Avoir fiscal keine unmittelbare Anknüpfung an DBA-­ Bestimmungen,117 es stellt jedoch ein entscheidendes Grundsatzurteil dar, auf dem spätere Entscheidungen aufbauen. In dem dem Urteil Avoir fiscal zugrundeliegenden Sachverhalt sahen die streitigen französischen Vorschriften vor, dass eine Körperschaftsteuer in Höhe von 50 % erhoben wurde auf sämtliche von steuerpflichtigen Gesellschaften und anderen steuerpflichtigen juristischen Personen im Inland erzielten Gewinne sowie auf solche, deren Besteuerung Frankreich durch ein DBA zugewiesen war.118 Wurden diese Gewinne ausgeschüttet, wurde auch diese Ausschüttung besteuert, 115 Vgl. EuGH v. 27.9.1988, Rs. 81/­ 87 – Daily Mail, Slg. 1988, 5483 Rn. 16 ff.; v. 30.11.1995, C-55/­94 – Gebhard, Slg. 1995, I-4165 Rn. 37; v. 15.5.1997, C-250/­95 – Fu­ tura Participations, Slg. 1997, I-2471 Rn. 31; v. 11.5.1999, C-255/­97 – Pfeiffer, Slg. 1999, I-2835; v. 1.2.2001, C-108/­96 – Mac Quen u. a., Slg. 2001, I-837; v. 11.7.2002, C294/­00 – Paracelsus Schulen, Slg. 2002, I-6515; v. 9.11.2006, C-433/­04 – Kommission/­Belgien, Slg. 2006, I-10653 Rn. 28 mwN. 116  EuGH v. 28.1.1986, C-270/­ 83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273. Im konkreten Fall ging es um Art. 209, 158a, 158b Abs. 2, 242c des französischen Code général des impôts. Im zugrundeliegenden Sachverhalt geht es zwar um den Versicherungsbereich, „es sei aber Sache aller Mitgliedstaaten und insbesondere Frankreichs, aus einem Urteil des Gerichtshofes alle notwendigen Konsequenzen zu ziehen, auch auf anderen Gebieten“: EuGH v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 7. 117  Zwar sieht Art. 242c des französischen Code général des impôts Folgendes vor: „Das Steuerguthaben kann Personen mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Staaten gewährt werden, die mit Frankreich Doppelbesteuerungsabkommen geschlossen haben.“ Diese Anknüpfung an DBA betrifft aufgrund ihrer Formulierung jedoch nur natürliche Personen, die im vorliegenden Sachverhalt keine Rolle spielen. 118  EuGH v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 2.

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sodass es zu einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung kam, nämlich zum einen auf der Ebene der Gesellschaft und zum anderen auf der Ebene des Dividendenempfängers. Zur Vermeidung dieser doppelten Besteuerung sah die streitige französische Vorschrift eine sog. avoir fiscal vor. Hierbei handelte es sich um ein Steuerguthaben zugunsten der Empfänger von Dividenden, die von französischen Gesellschaften ausgeschüttet wurden. Dieses Steuerguthaben wurde auf die vom Empfänger geschuldete Steuer angerechnet und so die Doppelbesteuerung vermieden.119 Das Steuerguthaben wurde jedoch nur Personen gewährt, „die ihren tatsächlichen Wohnsitz oder ihren Gesellschaftssitz in Frankreich“ hatten oder aber in Staaten, die mit Frankreich DBA geschlossen hatten. Dementsprechend sah ein Großteil der mit Frankreich abgeschlossenen DBA die Gewährung der avoir fiscal gegenüber den im anderen Staat ansässigen Personen vor.120 Wurden die Dividenden jedoch an in Frankreich belegene Betriebstätten von Gesellschaften mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat ausgeschüttet, wurde dieser Steuervorteil weder nach den französischen Vorschriften noch nach den betroffenen DBA gewährt, da die Betriebstätten keine ansässigen Personen waren.121 Hierin sah der EuGH einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit, da die streitige französische Regelung Gesellschaften und Betriebstätten hinsichtlich des Steuerguthabens ungleich behandele.122 Nach Ansicht des EuGH ist zwar nicht völlig auszuschließen, „daß eine Unterscheidung je nach dem Sitz einer Gesellschaft oder […] nach dem Wohnsitz einer natürlichen Person unter bestimmten Voraussetzungen […] gerechtfertigt sein kann“.123 So könne bei Gesellschaften der Sitz, ebenso wie die Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen, dazu dienen, ihre Zugehörigkeit zur Rechtsordnung eines Staates zu bestimmen.124 Die französischen Vorschriften unterscheiden bei der Festlegung der Besteuerungsgrundlage für die Festsetzung der Körperschaftsteuer jedoch nicht zwischen Gesellschaften mit Sitz in Frankreich und in Frankreich belegenen Betriebstätten von ausländischen Gesellschaften. Behandelt ein Mitgliedstaat Betriebstätten und Gesellschaften steuerlich grundsätzlich gleich, erkenne er damit an, dass die steuerliche Situation beider Niederlassungsformen objek-

119 

EuGH v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 3. ein Zusatzabkommen zum DBA zwischen Deutschland und Frankreich wurde die Übertragung des avoir fiscal ersatzlos gestrichen: Schultze, IStR 2004, 639. 121  EuGH v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 4 ff. 122  EuGH v. 28.1.1986, C-270/­ 83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 15. Der EuGH prüft hier sowohl eine Diskriminierung von Betriebstätten ausländischer Gesellschaften als auch eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit zusammen. 123  EuGH v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 19. 124 EuGH v. 28.1.1986, C-270/­ 83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 18; vgl. auch: EuGH v. 21.9.1999, C-307/­97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 36. 120 Durch

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

tiv vergleichbar sei (sog. Anerkennungsgrundsatz).125 Daraus folge, dass er auch bei der Gewährung von Steuervergünstigungen keinen Unterschied zwischen ihnen machen dürfe. Nach Ansicht des EuGH greifen auch keine Rechtfertigungsgründe. So könne die unterschiedliche Behandlung nicht durch mögliche Vorteile ausgeglichen werden, die die Betriebstätten im Verhältnis zu den Gesellschaften genießen (sog. Kompensationsverbot).126 Zudem könne sich Frankreich insbesondere nicht darauf berufen, dass zumindest im Ausland ansässige Gesellschaften die bestehenden Nachteile dadurch verhindern könnten, indem sie statt einer Betriebstätte eine Tochtergesellschaft im Inland gründeten. Denn die bestehende Wahlfreiheit der Rechtsform dürfe nach Ansicht des EuGH nicht durch diskriminierende Steuerbestimmungen beeinträchtigt werden.127 b)  Saint-Gobain

Um die Gleichbehandlung von Betriebstätten und (Tochter-)Gesellschaften ging es auch im EuGH-Urteil Saint-Gobain.128 Im Sachverhalt unterhielt eine französische Gesellschaft mit Sitz und Geschäftsleitung in Frankreich eine Betriebstätte in Deutschland. Die französische Gesellschaft war demnach nach den innerstaatlichen Steuervorschriften in Deutschland beschränkt steuerpflichtig; diese beschränkte Steuerpflicht umfasste auch die inländischen Einkünfte der Betriebstätte sowie das Vermögen, das über diese gehalten wurde. Die französische Gesellschaft hielt über die deutsche Betriebstätte weitere Beteiligungen an in anderen Staaten ansässigen Gesellschaften und bezog über die Betriebstätte Dividenden dieser Gesellschaften. Vorliegend hatte der EuGH drei nationale Steuervergünstigungen zu prüfen. Erstens handelte es sich um Dividenden aus den Vereinigten Staaten von Amerika sowie der Schweiz, die an die in Deutschland belegene Betriebstätte ausgeschüttet wurden. Zwar sahen sowohl das DBA-USA als auch das DBA-Schweiz eine Befreiung von der deutschen Körperschaftsteuer vor. Diese Steuerbefreiun125  EuGH v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 20; siehe hierzu auch: Kessler/­Obser, in: Kessler/­K röner/­Köhler, Konzernsteuerrecht, § 1 Rn. 127. 126 EuGH v. 28.1.1986, C-270/­ 83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 21; vgl. auch: EuGH v. 27.6.1996, C-107/­94 – Asscher, Slg. 1996, I-3089 Rn. 53; v. 26.10.1999, C-294/­97  – Eurowings, Slg. 1999, I-7447 Rn. 43 f. 127  EuGH v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 22. 128  EuGH v. 21.9.1999, C-307/­97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161. Im konkreten Fall ging es um Art. XV Abs. 1 lit. b) aa), II Abs. 1 lit. f) des damaligen DBA zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika, Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 lit. b) des damaligen DBA zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft, § 26 Abs. 2 KStG sowie § 102 Abs. 2 BewG.

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gen galten jedoch nur für Dividenden, die an eine „deutsche Gesellschaft“ ausgeschüttet wurden – worunter eine juristische Person zu verstehen war, die ihre Geschäftsleitung oder ihren Sitz in Deutschland hatte129 – bzw. an eine „in der Bundesrepublik Deutschland unbeschränkt steuerpflichtige Kapi­talgesellschaft“130 (internationales körperschaftsteuerliches Schachtelprivileg).131 Betriebstätten waren wegen ihrer fehlenden Ansässigkeit hiervon nicht erfasst. Zweitens ging es darum, dass die Muttergesellschaft die in den Quellenstaaten der ausschüttenden Gesellschaften gezahlte Körperschaftsteuer auf die deutsche Körperschaftsteuer anrechnen konnte.132 Diese Anrechnung wurde der Muttergesellschaft im Streitfall jedoch versagt, da diese nur für in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtige Gesellschaften galt. Die dritte streitige Vorschrift sah vor, dass das internationale vermögensteuerliche Schachtelprivileg nur für inländische Kapitalgesellschaften, nicht aber für Betriebstätten galt.133 Nach diesem Schachtelprivileg wurden Beteiligungen an ausländischen Tochtergesellschaften auf Antrag nicht dem vermögensteuerpflichtigen Inlandsvermögen der Muttergesellschaft zugerechnet, wodurch diese einen Steuervorteil erhielt. In allen diesen nationalen Regelungen sah der EuGH einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit, da die Betriebstätten ausländischer Gesellschaften von der Steuervergünstigung ausgeschlossen würden, wodurch eine Ungleichbehandlung dieser Betriebstätten im Vergleich zu rein deutschen Gesellschaften sowie deutschen Tochtergesellschaften ausländischer Gesellschaften begründet werde. Diese Verstöße sind nach Ansicht des EuGH nicht gerechtfertigt. Zunächst befänden sich ausländische Gesellschaften mit einer inländischen Betriebstätte und die inländischen Gesellschaften insbesondere in einer vergleichbaren Lage, „weil die unterschiedliche Behandlung in Wirklichkeit erst auf der 129  EuGH v. 21.9.1999, C-307/­ 97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 18; Art. XV Abs. 1 lit. b) aa), II Abs. 1 lit. f) des damaligen DBA zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika. 130 EuGH v. 21.9.1999, C-307/­ 97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 19; Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 lit. b) des damaligen DBA zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 131  EuGH v. 21.9.1999, C-307/­97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 16 ff., 33. 132  EuGH v. 21.9.1999, C-307/­97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 20 f., 33. Hierbei ging es um die indirekte Anrechnung gemäß § 26 Abs. 2 KStG. 133  EuGH v. 21.9.1999, C-307/­97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 22 f., 33. Hierbei ging es um § 102 Abs. 2 BewG. Im Rahmen dieser Vorschrift hat der EuGH entschieden, dass es Sache des vorlegenden Gerichts sei, festzustellen, ob die Versagung des vermögensteuerlichen Schachtelprivilegs die Betriebstätten französicher Gesellschaften benachteiligt.

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Stufe der streitigen Steuervergünstigungen auftritt“.134 Die Verweigerung dieser Steuervergünstigungen habe im Falle ausländischer Gesellschaften, die in Deutschland eine Betriebstätte unterhalten, zur Folge, dass „ihre theoretisch auf die ‚inländischen‘ Einkünfte und das ‚inländische‘ Vermögen beschränkte Steuerpflicht sich in Wirklichkeit auf die aus dem Ausland stammenden Dividenden und Beteiligungen an ausländischen Kapitalgesellschaften“ erstrecke.135 Die Versagung der Steuervergünstigungen könne weder durch den Vorteil, den die Betriebstätten gegenüber den inländischen Tochtergesellschaften bei der Abführung von Gewinnen an die ausländische Muttergesellschaft hätten, noch durch andere Vorteile ausgeglichen werden (sog. Kompensationsverbot).136 Zuletzt könne sich Deutschland nicht darauf berufen, dass der Abschluss von DBA mangels unionsrechtlicher Harmonisierung nicht in den Zuständigkeitsbereich der EU falle.137 Die in diesem Zusammenhang wichtigste Feststellung trifft der EuGH wie folgt: „In dem vorliegenden Fall eines DBA zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittland verpflichtet der Grundsatz der Inländergleichbehandlung den an diesem Abkommen beteiligten Mitgliedstaat, die in diesem Abkommen vorgesehenen Vorteile den Betriebstätten ausländischer Gesellschaften unter den gleichen Voraussetzungen wie den inländischen Gesellschaften zu gewähren.“138 Die unionsrechtlichen Verpflichtungen stellen somit keineswegs die Verpflichtungen aus den DBA in Frage.139 Im Ergebnis sind die Steuervergünstigungen den ausländischen Gesellschaften, die in Deutschland eine Betriebstätte unterhalten, genauso zu gewähren wie den unbeschränkt steuerpflichtigen Gesellschaften. Der EuGH schreibt – wie bereits im Urteil Avoir fiscal – eine Gleichbehandlung von Betriebstätten 134 

EuGH v. 21.9.1999, C-307/­97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 48 f. EuGH v. 21.9.1999, C-307/­97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 49. 136 EuGH v. 21.9.1999, C-307/­ 97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 52; vgl. auch: EuGH v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 21; v. 27.6.1996, C107/­94  – Asscher, Slg. 1996, I-3089 Rn. 53; v. 26.10.1999, C-294/­ 97 – Eurowings, Slg. 1999, I-7447 Rn. 43 f. 137  Saß (DB 1999, 2381 (2383)) setzt sich darüber hinaus mit den Rechtfertigungsgründen der kohärenten Anwendung des Steuersystems sowie der fehlenden Inlandsbesteuerung auseinander und lehnt für das vorliegende Urteil beide ab. Der erstgenannte Rechtfertigungsgrund greife aufgrund des fehlenden unmittelbaren Zusammenhangs zwischen steuerlichem Vor- und Nachteil nicht, da die nachteiligen Steuerfolgen bei verschiedenen Steuerpflichtigen eintreten. Hinsichtlich des zweiten Rechtfertigungsgrundes verweist er auf die Erwägungen des EuGH. 138  EuGH v. 21.9.1999, C-307/­97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 58. 139  EuGH v. 21.9.1999, C-307/­97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 59; vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Jean Mischo v. 2.3.1999, C-307/­97 Rn. 81 f. 135 

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und Gesellschaften vor. In der vorliegenden Entscheidung hat der EuGH das Gebot der Gleichbehandlung von Betriebstätten und (Tochter-)Gesellschaften ausdrücklich auf die abkommensrechtlichen Steuervergünstigungen – auch aus DBA mit Drittstaaten – ausgeweitet.140 c)  CLT-UFA

Um den Ansatz eines höheren Steuertarifs für Betriebstätten im Vergleich zu Tochtergesellschaften ging es im Urteil des EuGH in der Rechtssache CLT-UFA.141 Im Sachverhalt handelte es sich um eine Gesellschaft mit Sitz und Geschäftsleitung in Luxemburg, die in Deutschland eine Betriebstätte unterhielt. Diese Gesellschaft war in Deutschland beschränkt steuerpflichtig und wurde auf der Grundlage des DBA-Luxemburg mit ihrem durch die Betriebstätte erzielten Einkommen mit einem Körperschaftsteuersatz in Höhe von 42 % (Betriebstättensteuersatz) besteuert. Hätte die Gesellschaft ihre Erwerbstätigkeit hingegen durch eine in Deutschland ansässige Tochtergesellschaft ausgeübt, hätte der Steuersatz zwar 45 % betragen; im Fall einer Gewinnausschüttung an die Luxemburger Muttergesellschaft hätte der Steuersatz aber auf 33,5 % bis zu 30 % gemindert werden können.142 Diese Möglichkeit war für Betriebstätten nicht vorgesehen. Das in Art. 7 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 OECD-MA geregelte Betriebstättenprinzip, das inhaltlich der Bestimmung des Art. 5 Abs. 1 DBA-Luxemburg143 entsprach, war somit wegen der fehlenden Abkommensberechtigung einer Betriebstätte zwingend anzuwenden und führte mittelbar zu einer höheren Besteuerung. Hätte die luxemburgische Gesellschaft in Deutschland eine Tochtergesellschaft gehalten, hätte Deutschland die Besteuerungsbefugnis hinsichtlich der Gewinne

140  EuGH v. 21.9.1999, C-307/­97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 42; Schwenke/­ Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 112. 141 EuGH v. 23.2.2006, C-253/­ 03 – CLT-UFA, Slg. 2006, I-1831. Im konkreten Fall ging es um Art. 5 Abs. 1 des DBA zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Luxemburg sowie § 23 Abs. 2, 3 KStG. 142  EuGH v. 23.2.2006, C-253/­03 – CLT-UFA, Slg. 2006, I-1831 Rn. 8: Je nachdem, ob die Ausschütung an die ausländische Muttergesellschaft vor dem 30.6.1996 (dann 33,5 %) oder danach (dann 30 %) erfolgte. 143 Art. 5 DBA-Luxemburg hatte zwar noch „Einkünfte aus Gewerbebetrieb“ zum Gegenstand, wohingegen sich Art. 7 OECD-MA auf „Unternehmensgewinne“ bezieht; in beiden Regelungen findet sich jedoch das Betriebstättenprinzip.

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unter zwingender144 Freistellung145 in Luxemburg zugestanden,146 und die Tochtergesellschaft hätte damit einem niedrigeren Steuertarif unterlegen. Hierdurch werde nach Ansicht des EuGH die Freiheit eingeschränkt, die geeignete Rechtsform zu wählen. Hierin sah der EuGH einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit, da diese Ungleichbehandlung dazu führte, dass ausländische Gesellschaften faktisch darin beeinträchtigt wurden, ihre Tätigkeit im Ausland durch eine Betriebstätte auszuüben. Dieser Verstoß ist nach Ansicht des EuGH nicht gerechtfertigt. Insbesondere befänden sich sowohl Betriebstätten als auch Tochtergesellschaften einer ausländischen Gesellschaft in einer objektiv vergleichbaren Situation, denn die streitige deutsche Vorschrift enthalte keine Unterscheidung danach, ob die ausländische Gesellschaft ihre Tätigkeiten durch eine Betriebstätte oder eine Tochtergesellschaft ausübt, die geeignet wäre, eine unterschiedliche Behandlung zu rechtfertigen.147 Im Ergebnis sei auf die Gewinne einer Betriebstätte derselbe Steuersatz anzuwenden, der unter den gleichen Umständen im Falle einer Ausschüttung einer Tochtergesellschaft angewendet werde.148 d)  Philips Electronics

Die steuerliche Behandlung von Betriebstätten war ebenfalls Gegenstand des EuGH-Urteils Philips Electronics.149 Im Sachverhalt ging es um eine im Vereinigten Königreich ansässige Gesellschaft, welche zum Philips-Konzern gehörte, dessen Muttergesellschaft ihren Sitz in den Niederlanden hatte. Diese Muttergesellschaft hielt mittelbar eine Tochtergesellschaft ebenfalls mit Sitz in den Niederlanden. Diese niederländische Tochtergesellschaft verfügte wiederum über eine Betriebstätte im Vereinigten Königreich. Die im Vereinigten König-

144  Dürrschmidt, in: Vogel/­Lehner, DBA, Vor Art. 6 bis 22 Rn. 4 mit einer Aufzählung von Ausnahmen hierzu, in denen also die vorrangige Besteuerungszuständigkeit dem Nichtansässigkeitsstaat als Quellenstaat zugewiesen wird. 145  Dürrschmidt, in: Vogel/­Lehner, DBA, Vor Art. 6 bis 22 Rn. 4. 146  Wegen der Ansässigkeit in Deutschland gilt diese Verteilung selbst dann, wenn die Gewinne durch eine Tätigkeit im anderen Vertragsstaat erwirtschaftet worden wären: Hemmelrath, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 7 Rn. 16. 147  EuGH v. 23.2.2006, C-253/­03 – CLT-UFA, Slg. 2006, I-1831 Rn. 29. 148  EuGH v. 23.2.2006, C-253/­03 – CLT-UFA, Slg. 2006, I-1831 Rn. 33. Die Ermittlung des konkreten Steuersatzes sei jedoch Sache des vorlegenden nationalen Gerichts. 149  EuGH v. 6.9.2012, C-18/­11 – Philips Electronics, EuZW 2013, 238. Im konkreten Fall ging es um Art. 402, 403D, 406 des britischen Income and Corporation Taxes Act (ICTA).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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reich ansässige Gesellschaft beabsichtigte, ihre eigenen Gewinne mit Verlusten der Betriebstätte im Wege des Konzernabzugs zu verrechnen. Um zu verhindern, dass die Verluste sowohl im Vereinigten Königreich (Betriebstätte – Gesellschaft) als auch grenzüberschreitend (Betriebstätte – Stammhaus) doppelt abgezogen werden konnten, erlaubten die streitigen britischen Vorschriften einen Konzernabzug nur, wenn das verlusterleidende Steuersubjekt selbst im Vereinigten Königreich ansässig war. Dies traf auf Betriebstätten mangels Rechtssubjektsqualität nicht zu, sondern nur auf Tochtergesellschaften. Einen grenzüberschreitenden Verlustabzug (Niederlande – Vereinigtes Königreich) erlaubten die streitigen Vorschriften bei Betriebstätten nur dann, wenn diese ihre Verluste zuvor mit Gewinnen des Stammhauses in den Niederlanden verrechneten. Erst danach etwaig übrigbleibende Restverluste konnten auf die im Vereinigten Königreich ansässige Gesellschaft übertragen werden. Diese Konstellation lag im Streitfall jedoch nicht vor. Im Ergebnis wurden damit Betriebstätten und Tochtergesellschaften ungleich behandelt. Nach Ansicht des EuGH stellten diese Vorschriften einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit dar, da hierdurch ausländische Gesellschaften davon abgehalten werden könnten, Betriebstätten im Vereinigten Königreich zu gründen. Wäre eine Betriebstätte ansässig im Sinne des Art. 4 Abs. 1 OECD-MA, und damit abkommensberechtigt, lägen ihre Verluste wegen Art. 7 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 OECD-MA im Vereinigten Königreich und könnten dort verrechnet werden. Hierin ist der Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit zu sehen. Dieser Verstoß ist nach Ansicht des EuGH nicht gerechtfertigt. Insbesondere befänden sich ausländische Gesellschaften, die nur über eine Betriebstätte im Inland verfügten, und inländische Gesellschaften hinsichtlich der Möglichkeit, erlittene Verluste mittels Konzernabzugs zu übertragen, in einer objektiv vergleichbaren Situation. Das Vereinigte Königreich könne sich auch nicht erfolgreich auf die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten berufen. Denn durch die innerstaatliche Übertragung von Verlusten von einer inländischen Betriebstätte auf eine ebenfalls inländische Gesellschaft werde die Besteuerungsbefugnis des Vereinigten Königreichs nicht berührt.150 Zudem könne sich der Mitgliedstaat nicht auf die Verhinderung der doppelten Berücksichtigung von Verlusten berufen. Auch in diesem Zusammenhang habe die Gefahr, dass die Verluste sowohl im In- als auch im Ausland berücksichtigt werden, keinen Einfluss auf die Besteuerungsbefugnis des Vereinigten Königreichs.151 150 

EuGH v. 6.9.2012, C-18/­11 – Philips Electronics, EuZW 2013, 238 Rn. 26. v. 6.9.2012, C-18/­11 – Philips Electronics, EuZW 2013, 238 Rn. 31: Auch eine Kombination aus beiden Rechtfertigungsgründen führe nach Ansicht des EuGH nicht zur Rechtfertigung der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit. 151  EuGH

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Im Ergebnis können im Rahmen des Konzernabzugs damit Verluste von inländischen Betriebstätten verrechnet werden. Diese Verrechnung darf von keinen zusätzlichen Voraussetzungen abhängig gemacht werden. 3.  Stellungnahme

Der EuGH-Rechtsprechung hinsichtlich der Besteuerung ausländischer Einkünfte über Betriebstätten ist vollumfänglich zuzustimmen. a)  Verstoß

Gewährt ein Staat den inländischen Gesellschaften aufgrund von DBA Steuervergünstigungen bei der Besteuerung von Beteiligungen und Dividenden, werden diese Steuervergünstigungen aber den im Inland belegenen Betriebstätten ausländischer Gesellschaften allein aus dem Umstand versagt, dass sie nicht abkommensberechtigt sind, liegt hierin ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit.152 Denn aufgrund einer solchen Maßnahme ist es für ausländische Unternehmen weniger attraktiv, eine Betriebstätte einzusetzen, wodurch sie faktisch daran gehindert werden, diese im Inland anzusiedeln.153 Sie werden stattdessen in der Regel eine nach Art. 3 Abs. 1 lit. b) OECD-MA abkommensberechtigte Tochtergesellschaft gründen. Hierdurch wird die Freiheit eingeschränkt, die für die Ausübung einer Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat geeignete Rechtsform zu wählen.154 Dabei können – wie die Urteile des EuGH deutlich zeigen – verschiedenste Konstellationen maßgeblich sein, sei es beispielsweise für das Schachtelprivileg, Steueranrechnungen oder die Anwendung unterschiedlicher Steuersätze.155 152 EuGH v. 6.9.2012, C-18/­ 11 – Philips Electronics, EuZW 2013, 238 Rn. 13; v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 22; Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 112. 153  Nach Ansicht von Axer (EWiR 2013, 171 [172]) habe dies der EuGH in seiner Entscheidung Philips Electronics noch deutlicher herausgestellt. 154 Vgl. EuGH v. 6.9.2012, C-18/­ 11 – Philips Electronics, EuZW 2013, 238 Rn. 14; v. 23.2.2006, C-253/­03 – CLT-UFA, Slg. 2006, I-1831 Rn. 15. 155  Vgl. auch: EuGH v. 15.5.1997, C-250/­95 – Futura Participations, Slg. 1997, I-2471; v. 29.4.1999, C-311/­97 – Royal Bank of Scotland, Slg. 1999, I-2651; v. 8.3.2001, C397/­98 und C-410/­98 – Metallgesellschaft und Hoechst, Slg. 2001, I-1727. Im Urteil Futura Parti­ cipations ging es um eine luxemburgische Vorschrift, nach der eine ausländische Gesellschaft die Verluste ihrer in Luxemburg belegenen Betriebstätte nur dann vortragen konnte, wenn sie neben ihren eigenen Büchern getrennte Bücher über die Tätigkeiten ihrer Betriebstätte nach dem Steuerrecht des Staates führte, in dem die letztere sich befand; die Bücher mussten zudem am Ort der Betriebstätte und nicht am Sitz der Gesellschaft aufbewahrt werden (Rn. 25). Dies verstößt gegen die Niederlassungsfreiheit. Im Urteil Royal Bank of Scotland ging es – wie im Urteil CLT-UFA (EuGH v. 23.2.2006, C-253/­03 – CLT-

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Die Einzelfälle sind jedoch nur eine Momentaufnahme eines grundsätzlichen Problems. Denn losgelöst von den jeweiligen Konstellationen, die zum Teil auch Probleme außerhalb von DBA betreffen, wird die Kollision des Ansässigkeitsbegriffs nach dem OECD-MA und den Grundfreiheiten vorliegend typisierend bei Art. 10 Abs. 2 S. 1 lit. a) OECD-MA zu finden sein: Wegen der fehlenden Ansässigkeit von Betriebstätten kommt das durch Art. 10 Abs. 2 S. 1 lit a) OECD-MA eingeräumte Schachtelprivileg nicht zum Tragen. Vielmehr gilt in diesem Fall der Betriebstättenvorbehalt des Art. 10 Abs. 4 OECD-MA156, nach dem Art. 7 OECD-MA anzuwenden ist, wenn die dort aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sind. Der Quellenstaat darf folglich auf die Gewinne keinen höheren Steuersatz anwenden als bei seinen inländischen Unternehmen, soweit diese Gewinne der Betriebstätte zuzurechnen sind.157 Unabhängig vom Betriebstättenvorbehalt erscheint es jedoch keinesfalls gerechtfertigt, den Betriebstätten das abkommensrechtliche Schachtelprivileg zu versagen, wenn sich Betriebstätten in einer in allen Punkten vergleichbaren Lage mit ansässigen Rechtssubjekten im Sinne des OECD-MA befinden. Die Annahme einer vergleichbaren Situation hat jedoch nicht nur Auswirkungen auf das abkommensrechtliche Schachtelprivileg, sondern auch auf andere Steuervergünstigungen, die den Betriebstätten versagt werden. Damit wird die Feststellung der Vergleichbarkeit der Situationen bei Betriebstätten und Tochtergesellschaften zum zentralen Element der Prüfung: Die Vergleichbarkeit der Situationen ist das entscheidende Kriterium.

UFA, Slg. 2006, I-1831) – um das Verbot, eine Betriebstätte einem höheren Steuersatz als inländische Gesellschaften zu unterwerfen (Rn. 4 ff.). Die streitige griechische Vorschrift verstößt damit gegen die Niederlassungsfreiheit. Dem Urteil Metallgesellschaft und Hoechst lag insbesondere die folgende britische Vorschrift bezüglich Tochtergesellschaften zugrunde (Rn. 11 ff., 76): Den inländischen Gesellschaften wurde die Möglichkeit gegeben, für eine Besteuerungsregelung zu optieren, kraft deren sie auf Dividenden, die sie ihrer Muttergesellschaft zahlten, keine Körperschaftsteuer-Vorauszahlung entrichten mussten, wenn die Muttergesellschaft ebenfalls im Inland ansässig war. Die inländische Empfängergesellschaft erhielt in diesem Fall eine Steuergutschrift (tax credit). Auch dies verstößt nach Ansicht des EuGH gegen die Niederlassungsfreiheit. 156  Weitere Betriebstättenvorbehalte finden sich in Art. 11 Abs. 4 OECD-MA (Zinsen), Art. 12 Abs. 3 OECD-MA (Lizenzgebühren), Art. 13 Abs. 2 OECD-MA (Gewinne aus der Veräußerung von Vermögen) sowie in Art. 21 Abs. 2 OECD-MA (andere Einkünfte). 157  Zur Zurechnung von Einkünften zu einer Betriebstätte siehe: BMF, Schreiben v. 22.12.2016 – IV B 5 – S 1341/­12/­10001-03. Für die Zugehörigkeit zum Betriebstättengewinn kommt es nach dem OECD-MA auf das Stammrecht an, für das die Dividenden, Zinsen oder Lizenzgebühren gezahlt werden.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

b)  Vergleichbare Situation von Betriebstätten und Tochtergesellschaften

Diese Vergleichbarkeit ist auf der ersten Stufe der Prüfung zu beurteilen, bevor die Ungleichbehandlung untersucht wird. Die vergleichbare Situation betrifft dabei die Frage, ob der Betriebstättenstaat im Rahmen der Besteuerung der erzielten Gewinne eine Unterscheidung zwischen den inländischen Gesellschaften und den Betriebstätten vornimmt oder nicht. Besteuert der Betriebstättenstaat beide unterschiedlich, liegt schon auf der ersten Stufe keine vergleichbare Situation zwischen ihnen vor. Wird die Bemessungsgrundlage bei den inländischen Gesellschaften und den Betriebstätten hingegen auf gleiche Art und Weise ermittelt, erkenne der Betriebstättenstaat damit an, dass sich die Betriebstätte und die inländischen Gesellschaften in Bezug auf die Besteuerung objektiv in einer vergleichbaren Lage befänden (Anerkennungsgrundsatz).158 Die Beantwortung der Frage, ob sich die Betriebstätte und die inländische Gesellschaft in einer vergleichbaren Situation befinden, beurteilt sich somit allein nach der Gleichartigkeit sämtlicher Faktoren in Bezug auf das Verfahren zur Ermittlung der Besteuerungsgrundlage.159 Einer vergleichbaren Lage steht auch die grundlegende Unterscheidung zwischen beschränkter und unbeschränkter Steuerpflicht, die dem Territorialitätsprinzip entspricht, nicht entgegen.160 Erstens wird das Territorialitätsprinzip für die beteiligten Staaten in gleicher Weise angewendet: Die Steuerpflicht entsteht bei ausländischen Gesellschaften für ihre Tätigkeit im Inland ebenso wie bei inländischen Gesellschaften mit ihren Tätigkeiten im Ausland.161 Zweitens zeigt der Fall Saint-Gobain, dass bei dem Empfang von Dividenden aus dem Aus158  EuGH v. 28.1.1986, C-270/­ 83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 20: „Der französische Gesetzgeber hat nämlich dadurch, daß er die beiden Niederlassungsformen im Rahmen der Besteuerung der von ihnen erzielten Gewinne gleichbehandelt, anerkannt, daß zwischen beiden Formen in bezug auf die Modalitäten und Voraussetzungen dieser Besteuerung kein Unterschied in der objektiven Situation besteht, der eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen könnte.“ Vgl. auch: Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 19.4.2012, C-18/­11 Rn. 35; EuGH v. 25.2.2010, C-337/­08 – X Holding, Slg. 2010, I-1215 Rn. 38. 159  EuGH v. 29.4.1999, C-311/­97 – Royal Bank of Scotland, Slg. 1999, I-2651 Rn. 29; vgl. auch: Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger v. 14.4.2005, C-253/­ 03 Rn. 78. 160  EuGH v. 15.5.1997, C-250/­ 95 – Futura Participations, Slg. 1997, I-2471 Rn. 22; v. 25.2.2010, C-337/­08 – X Holding, Slg. 2010, I-1215 Rn. 38; vgl. auch: Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 19.4.2012, C-18/­11 Rn. 35; Schlussanträge des Generalanwalts G. Federico Mancini v. 16.10.1985, C-270/­83, S. 282: „Die Nationalität des Unternehmens, sein Sitz, die Art der Gewinne sowie das Land ihrer Verwendung sind deshalb ohne Einfluß.“ Zustimmend auch: Kahlert/­Steinhäuser, EWiR 2006, 235 (236). 161  Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts G. Federico Mancini v. 16.10.1985, C270/­83, S. 282.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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land durch eine Betriebstätte die Einkünfteerzielung gerade nicht räumlich auf den Besteuerungsstaat (Betriebstättenstaat) beschränkt ist.162 Wird im Besteuerungsstaat ein Rechtssubjekt eingesetzt, dessen Geschäftsbetrieb ausschließlich darin besteht, Dividenden von ausländischen Gesellschaften zu empfangen, macht es keinen Unterschied, ob dieses Rechtssubjekt eine Betriebstätte oder eine Gesellschaft ist. Eine Unterscheidung zwischen beschränkter Steuerpflicht (Einkommen im Quellenstaat) und unbeschränkter Steuerplicht (Welteinkommen) besteht hier nicht. Drittens wäre ein solcher Unterschied allein im Rahmen der Rechtfertigungsgründe zu prüfen, nicht hingegen bei der objektiven Vergleichbarkeit der Situationen.163 Flankierend dazu spielt folglich auch der Sitz der Gesellschaft keine Rolle. Nach Ansicht des EuGH sei zwar nicht völlig auszuschließen, dass eine Unterscheidung nach dem Sitz einer Gesellschaft oder nach dem Wohnsitz einer natürlichen Person gerechtfertigt sein könne.164 Dies könne jedoch nicht bedeuten, dass der Betriebstättenstaat nach seinem Belieben eine ungleiche Behandlung allein deshalb vornehmen kann, weil sich der Sitz der Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat befindet, denn dadurch würde die Niederlassungsfreiheit freilich ausgehöhlt werden.165 Diesem Ergebnis wird mit Verweis auf die Schumacker-Rechtsprechung166 entgegengehalten,167 dass sich beschränkt Steuerpflichtige und unbeschränkt Steuerpflichtige grundsätzlich nicht in einer vergleichbaren Situation befänden. Dieses Argument kann jedoch keinesfalls überzeugen. Zwar entspricht es der ständigen Rechtsprechung des EuGH, dass sich Gebietsansässige und Gebietsfremde hinsichtlich der direkten Steuern grundsätzlich nicht in einer vergleichbaren Situation befinden.168 Diese Rechtsprechung betraf jedoch Sachverhalte, bei denen ausschließlich natürliche Personen Steuersubjekte waren. Es ging allein darum, dass die unbeschränkt steuerpflichtigen natürlichen Personen im 162 

EuGH v. 21.9.1999, C-307/­97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 49. Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 19.4.2012, C-18/­11 Rn. 35; EuGH v. 25.2.2010, C-337/­08 – X Holding, Slg. 2010, I-1215 Rn. 38. 164 EuGH v. 28.1.1986, C-270/­ 83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 18; vgl. auch: EuGH v. 8.3.2001, C-397/­98 und C-410/­98 – Metallgesellschaft und Hoechst, Slg. 2001, I-1727 Rn. 42. 165  EuGH v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 19. 166  EuGH v. 14.2.1995, C-279/­93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225. Siehe dazu ausführlich § 6 B. I. 2. 167 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Jean Mischo v. 2.3.1999, C-307/­ 97 Rn. 38; Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger v. 14.4.2005, C-253/­03 Rn. 66; Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 19.4.2012, C-18/­11 Rn. 33; Kahlert/­ Steinhäuser, EWiR 2006, 235 (236). 168 Vgl. EuGH v. 14.2.1995, C-279/­ 93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 31 ff.; v. 11.8.1995, C-80/­94 – Wielockx, Slg. 1995, I-2493 Rn. 18; v. 27.6.1996, C-107/­94 – ­Asscher, Slg. 1996, I-3089 Rn. 41. 163  Ebenso:

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Gegensatz zu den beschränkt Steuerpflichtigen ihren Großteil der Einkünfte im Inland erzielten. Die Einordnung ist bei natürlichen Personen, die in ihrer Gesamtzahl ganz überwiegend nichtselbstständige Einkünfte in ihrem Ansässigkeitsstaat erzielen, ganz typisch. Bei Betriebstätten und Gesellschaften fehlt jedoch diese Typisierung, da sie ihre Einkünfte unabhängig von ihrer Belegenheit in der Regel in verschiedenen Staaten erzielen bzw. erzielen können. Des Weiteren hat der EuGH trotz seines eigenen Grundsatzes im Schumacker-­ Urteil das Vorliegen einer vergleichbaren Situation gerade bejaht.169 Er hat zudem nach eingehender Prüfung erkannt, dass in jedem Einzelfall zu prüfen sei, ob unabhängig von dem ersten Anschein eine vergleichbare Situation vorliegt oder nicht.170 Eine solche Einzelfallprüfung muss folgerichtig auch für die Beurteilung einer vergleichbaren Situation von Betriebstätten und Gesellschaften gelten.171 Wird die Besteuerungsgrundlage im konkreten Einzelfall bei beiden gleichermaßen ermittelt, reicht diese Feststellung allein für die Einzelfallprüfung aus. In diesem Zusammenhang greift auch das Argument nicht, dass zwischen der Ausschüttung der Gewinne einer Tochtergesellschaft an ihre (ausländische) Muttergesellschaft und einer Ausschüttung innerhalb einer Gesellschaft (zwischen inländischer Betriebstätte und ausländischer Gesellschaft) ein grundlegender Unterschied bestehe. Worin der grundlegende Unterschied unter Beachtung des Steuerrechts bestehen soll, der die Lage der Steuersubjekte als so verschieden erscheinen lässt, dass eine unterschiedliche Besteuerung gerechtfertigt wäre, ist schlichtweg nicht ersichtlich. Zwar ist einzuräumen, dass gerade bei juristischen Personen wegen der eigenständigen Rechtspersönlichkeit eine von den Gesellschaftern streng zu trennende Vermögenszuweisung geschehen und insbesondere die Kapitalerhaltungsvorschriften zu beachten sind. Zum einen aber ist die Kapitalerhaltung – zumindest bei der GmbH – bei entstandenen Gewinnen ohnehin nicht relevant, da Gewinne stets nur dann entstehen können, wenn keine kapitalerhaltungsrelevante Unterbilanz besteht. Zum anderen besteht der Unterschied nur darin, dass die Ausschüttung der Gewinne einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft eine entsprechende förmliche Entscheidung voraussetzt, während die Gewinne einer Betriebstätte auch ohne eine förmliche Entscheidung 169  EuGH v. 14.2.1995, C-279/­ 93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 36; vgl. auch: Schlussanträge des Generalanwalts Jean Mischo v. 2.3.1999, C-307/­97 Rn. 53; Wagner, NZG 1999, 1044 (1048). 170  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 38. 171  Teilweise wird sogar vertreten, dass sich die Annahme, dass sich Gebietsansässige und Gebietsfremde hinsichtlich der direkten Steuern grundsätzlich nicht in einer vergleichbaren Situation befinden, nicht auf den Bereich der direkten Besteuerung von Gesellschaften übertragen lässt: Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger v. 14.4.2005, C253/­03 Rn. 67.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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zum Vermögen der ausländischen Gesellschaft gehören.172 Diese Entscheidung ist aber nur Ausprägung der Sphärentrennung von Gesellschaft und Gesellschaftern, welche gerade Wesensmerkmal einer Gesellschaft mit Haftungsbeschränkung ist. Würde man dieses Kriterium als taugliches Unterscheidungsmerkmal heranziehen, würde dies einen Zirkelschluss bedeuten: Die durch die Haftungsbegründung bedingte Sphärentrennung zwischen Gesellschaft und Gesellschaftern macht eine Besteuerung der Gesellschaft als eigenständiges Rechtssubjekt gerade möglich, und damit auch die Gewährung von Vergünstigungen, wie beispielsweise ein Schachtelprivileg. Werden diese Vergünstigungen für Betriebstätten nun mit dem Argument verneint, es bestehe keine Sphärentrennung, wird eine von der Niederlassungsfreiheit gerade mitumfasste Vielfalt der Rechtssubjekte als Argument für eine Rechtfertigung genommen. Für eine solche Rechtfertigung kann es keine taugliche Begründung geben. Im Übrigen ist die Gewinnausschüttung gerade in Konzernen nur noch ein formaler Akt, der sich häufig nur in einer mündlichen Anweisung des Organs der Muttergesellschaft und einer entsprechenden Notiz zu Beweiszwecken erschöpft (insbesondere bei Einmanngesellschaften). Die Gewinnausschüttungen bei Gesellschaften und die Gewinnzuweisung bei Betriebstätten sind damit im Ergebnis so ähnlich, dass sie eine vergleichbare Situation begründen.173 c)  Ungleichbehandlung und Rechtfertigungsgründe

Konsequenterweise müsste dies bedeuten, dass auf einer zweiten Stufe sowohl den Gesellschaften als auch den Betriebstätten die nach dem Abkommen sowie nach dem nationalen Recht vorgesehenen Steuervergünstigungen gewährt werden. Dies war ausweislich der streitigen Vorschriften jedoch gerade nicht der Fall. Wie der EuGH diesbezüglich zu Recht erkennt, tritt die unterschiedliche Behandlung und damit der Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit, „in Wirklichkeit erst auf der Stufe der streitigen Steuervergünstigungen“ auf.174

172 

EuGH v. 23.2.2006, C-253/­03 – CLT-UFA, Slg. 2006, I-1831 Rn. 23 f.: Darüber hinaus könnten die von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne, auch wenn sie das Vermögen der Tochtergesellschaft verlassen, dieser von der Muttergesellschaft als Eigenkapital oder Gesellschafterdarlehen wieder zur Verfügung gestellt werden. 173  Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger v. 14.4.2005, C-253/­03 Rn. 87. 174  Vgl. EuGH v. 21.9.1999, C-307/­97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 48 f.; vgl. auch: Schlussanträge des Generalanwalts G. Federico Mancini v. 16.10.1985, C-270/­83, S. 282: Art. 158b CGI sah vor, dass das Steuerguthaben nur Gesellschaften zugebilligt wurde, die „leur siège social en France“ haben, während die gebietsfremden Steuerpflichtigen davon ausgeschlossen sind.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Im Kern rührt die Verletzung des Unionsrechts somit daher, dass der Betriebstättenstaat die ausländische Gesellschaft im Rahmen ein und derselben Steuerregelung für die Feststellung der Bemessungsgrundlage wie eine inländische Gesellschaft behandelt, sie dann jedoch im Rahmen der Steuerfestsetzung von den Vergünstigungen ausschließt, die mit dieser Steuer verbunden sind.175 Zur Ungleichbehandlung bzw. zur zweiten Stufe an sich ist nicht viel hinzuzufügen, da die Kernprüfung auf der ersten Stufe, also der vergleichbaren Lage, erfolgt. Liegt eine Ungleichbehandlung im Rahmen der Abkommensberechtigung vor, greifen grundsätzlich176 keine Rechtfertigungsgründe.177 d)  Art. 24 OECD-MA

Neben dem Betriebstättenprinzip in Art. 7 Abs. 1 OECD-MA ist zusätzlich das Diskriminierungsverbot in Art. 24 Abs. 3 S. 1 OECD-MA zu beachten.178 Nach dieser Regelung darf die Besteuerung einer Betriebstätte, die ein Unternehmen eines Vertragsstaats im anderen Vertragsstaat hat, in dem anderen Staat nicht ungünstiger sein als die Besteuerung von Unternehmen des anderen Staates, die die gleiche Tätigkeit ausüben.179 Zwar enthält Art. 24 Abs. 3 S. 1 OECD-MA die Formulierung „Besteuerung einer Betriebstätte“. Da die Betriebstätte aber kein eigenständiges Steuersubjekt ist,180 ist damit nur das die Betriebstätte unterhaltende ausländische Unter175 So zutreffend: Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger v. 14.4.2005, C253/­03 Rn. 68. 176  Schiefer (IStR 2012, 847 [850]) hält aufgrund der vom EuGH getätigten Ausführungen zum Rechtfertigungsgrund der Verhinderung einer doppelten Verlustberücksichtigung eine Weiterentwicklung der Rechtfertigungsdogmatik für möglich. 177  EuGH v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273 Rn. 23 ff.; v. 21.9.1999, C-307/­97  – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 50 ff.; v. 23.2.2006, C-253/­03 – CLT-UFA, Slg. 2006, I-1831 Rn. 22 ff.; v. 6.9.2012, C-18/­11 – Philips Electronics, EuZW 2013, 238 Rn.  18 ff.; Kimpel/­Weppner, GWR 2012, 449; Saß, DB 1999, 2381 (2383). 178  Siehe dazu § 6 D. 179  Hemmelrath, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 7 Rn. 17: Wenn beispielsweise der Betriebstättenstaat zusätzlich zur Besteuerung des Betriebstättengewinns eine Quellensteuer auf Gewinnüberweisungen der Betriebstätte an das Stammhaus erhebt, so hält er sich damit zwar im Rahmen des Art. 7 Abs. 1 OECD-MA, da auch insoweit Gewinne des Unternehmens besteuert werden; die Höhe der insgesamt der Betriebstätte auferlegten Steuer ist aber höher als die Steuer der inländischen Unternehmungen und daher nach Art. 24 Abs. 3 OECD-MA unzulässig, sofern das betreffende Abkommen sie nicht ausdrücklich zulässt. Ein Beispiel hierfür ist die sog. „branch profits tax“, beispielsweise nach sec. 884 IRC in den USA; ähnlich in Brasilien, Indonesien und Kanada. 180  Rust, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 24 Rn. 95; Wassermeyer/­S chwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 24 Rn. 46.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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nehmen gemeint.181 Im Rahmen des Diskriminierungsverbots muss somit die Besteuerung des ausländischen Unternehmens hinsichtlich seiner inländischen Betriebstätte mit einem inländischen Unternehmen verglichen werden.182 Die Diskriminierungsverbote in Art. 24 OECD-MA sind neben den Diskriminierungsverboten des AEUV anwendbar.183 Art. 24 OECD-MA erfasst jedoch nur offene, direkte Diskriminierungen, also solche, bei denen die steuerliche Diskriminierung ausdrücklich und unmittelbar an ein in Art. 24 Abs. 1 bis 5 OECD-MA genanntes Tatbestandsmerkmal anknüpft.184 Verdeckte, mittelbare Diskriminierungen, bei denen die Ungleichbehandlung auf neutral formulierten Normen beruht, werden hingegen nicht erfasst.185 Die streitigen Vorschriften in den dargestellten Urteilen knüpfen nicht ausdrücklich an das Tatbestandsmerkmal der Betriebstätte in Art. 24 Abs. 3 OECD-MA an, sondern sind so formuliert, dass sie die Betriebstätten nur indirekt und somit verdeckt benachteiligen. Bereits aus diesem Grunde hat dieses Diskriminierungsverbot keine Auswirkungen auf die Ausführungen zur EuGH-Rechtsprechung. e)  Ergebnis und Rechtsfolge

Ausländische Gesellschaften dürfen somit im Ergebnis hinsichtlich ihrer Betriebstätten nicht ungünstiger besteuert werden als ansässige Gesellschaften. Dies gilt sowohl für Steuerbefreiungen im innerstaatlichen Recht des Betriebstättenstaates als auch in den entsprechenden DBA.186 Die Rechtsfolge besteht darin, dass die im Abkommen vorgesehenen Vorteile auch den Betriebstätten ausländischer Gesellschaften unter den gleichen Voraussetzungen wie den inländischen Gesellschaften zu gewähren sind.187 Soweit die Urteile des EuGH bestätigen, dass Betriebstätten von ausländischen Gesellschaften gegenüber inländischen Gesellschaften nicht ungünstiger behandelt werden dürfen, geht es in der Kehrseite einer ungünstigeren Behandlung allein um die Wiederherstellung einer gleichen Behandlung.188 Durch die Verpflichtung zur Gleichbehandlung wird jedoch weder eine abkommensrechtliche Ansässigkeit im Sinne des Art. 4 Abs. 1 OECD-MA noch eine Abkommensbe181 

Rust, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 24 Rn. 95. Rust, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 24 Rn. 95; Wassermeyer/­Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 24 Rn. 46. 183  Wassermeyer/­S chwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 24 Rn. 13a. 184  Wassermeyer/­S chwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 24 Rn. 2e. 185  Wassermeyer/­S chwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 24 Rn. 2e; Rust, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 24 Rn. 5. 186  Rust, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 24 Rn. 119. 187  EuGH v. 21.9.1999, C-307/­97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 59. 188  So auch: Saß, DB 1999, 2381 (2382). 182 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

rechtigung der Betriebstätten begründet, da die Betriebstätten weiterhin nicht als Person im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. a) OECD-MA zu qualifizieren sind.189 Die Feststellungen des EuGH im Urteil Lidl Belgium, dass „eine Betriebstätte nach dem Steuerrecht des Abkommens eine selbständige Einheit“ darstelle und zu den Personen, auf die das Abkommen anwendbar ist, „neben natürlichen und juristischen Personen alle Arten von Betriebstätten“ gehören, ist insofern nicht korrekt und missverständlich.190 Es geht bei der Beurteilung der Ansässigkeit einer Betriebstätte keinesfalls um deren Änderung ihres Rechtscharakters als unselbstständiges Rechtssubjekt. Nicht die fehlende Ansässigkeit einer Betriebstätte ist mit einem Makel behaftet, sondern allein die unterschiedliche Behandlung aufgrund der fehelenden Ansässigkeit. Die Angleichung wirkt sich maßgebend auf Staaten mit einer Gruppenbesteuerung aus, und auch auf Deutschland mit seiner eher restriktiven Organschaftsregelung.191 Die gleiche Behandlung gilt nicht nur für innerstaatliche Vorteile, sondern ist auch auf abkommensrechtliche Vergünstigungen auszudehnen.192 Dadurch wird im Ergebnis und in Einzelfällen faktisch eine freie Rechtsformwahl geschaffen. Die Gewährung der DBA-Vorteile für die Betriebstätte kann dabei nur durch das nationale Recht erfolgen, da der EuGH keine Vorgaben macht, wie die Gewährung zu erfolgen hat.193

189  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 269, nach dem die gegenteiligen Aussagen des EuGH in seinem Urteil Lidl Belgium wohl als Fehlinterpretation der Regelungen des Art. 2 DBA Luxemburg 1958/­73/­2009 angesehen werden müssen. 190  EuGH v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 21. Vgl. auch: Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 269, nach dem die Aussagen des EuGH wohl als „Fehlinterpretation“ der Regelungen des Art. 2 DBA Luxemburg angesehen werden müssen. 191  Wegen des klaren Wortlautes von § 17 Abs. 1 S. 1 KStG können sich auch ausländische Gesellschaften mit Sitz im EU- und EWR-Ausland wirksam verpflichten, ihren ganzen Gewinn abzuführen. Zivilrechtlich ist dies insbesondere bei den Staaten Kroatien, Österreich, Portugal und Slowenien möglich: Koehler, Der Konzern 2018, 325 (327 f.). 192 Folgerichtig: EuGH v. 21.9.1999, C-307/­ 97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161 Rn. 59. 193  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 4 Rn. 75. Der EuGH nimmt darüber hinaus keinen Anstoß daran, wenn die Ansässigkeit als Anknüpfungspunkt herangezogen wird, um die betreffende Person mit ihrem Welteinkommen der inländischen Besteuerung zu unterwerfen: Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 115; vgl. auch: EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I10837 Rn. 39.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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III.  Personengesellschaften 1.  Überblick

Neben den beschränkt Steuerpflichtigen sowie den Betriebstätten kann auch den Personengesellschaften in bestimmten Konstellationen keine Abkommensberechtigung zukommen. Hierzu wurde bereits festgestellt, dass eine Personengesellschaft nur dann in einem Vertragsstaat ansässig, und damit abkommensberechtigt, ist, wenn sie nach dem Recht dieses Staates dort aufgrund des Ortes ihrer Geschäftsleitung oder eines anderen ähnlichen Merkmals steuerpflichtig ist (Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA). Personengesellschaften sind nach Art. 3 Abs. 1 lit. a) Var. 3 OECD-MA grundsätzlich als „Personen“ anzusehen, da sie zu den „anderen Personenvereinigungen“ zählen.194 Auch das Ansässigkeitsmerkmal wird – im Gegensatz zu Betriebstätten – in der Regel kein Problem darstellen, da Personengesellschaften im betreffenden Staat entweder einen Sitz haben oder aber zumindest einen Ort ihrer Geschäftsleitung. Sie werden allerdings in einigen Mitgliedstaaten, so auch in Deutschland, für steuerliche Zwecke als transparent behandelt. Das bedeutet, dass nicht die Personengesellschaft selbst, sondern die Gesellschafter bzw. die Mitunternehmer mit ihrem jeweiligen Anteil am Unternehmensgewinn unmittelbar besteuert werden.195 Eine transparente Personengesellschaft kann also selbst Rechts­ subjektsfähigkeit besitzen, aber keine Steuersubjektsfähigkeit.196 Im deutschen Steuerrecht ist dieses Transparenzprinzip in § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG geregelt.197 Auf Ebene der Gesellschaft erfolgt daher nur die Gewinnermittlung, die Einkünfte werden indes den Gesellschaftern unmittelbar zugerechnet, sodass sie die Einkünfte erzielen.

194  BMF, Schreiben v. 26.9.2014 – IV B 5 – S 1300/­09/­10003, BStBl. I 2014, S. 1258 Tz. 2.1.1.; Art. 3 Nr. 2 OECD-MK; Dürrschmidt, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 3 Rn. 17. 195  Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Art. 4 Rn. 74, 83: Gelegentlich regeln DBA die Ansässigkeit von Personengesellschaften auch ausdrücklich, obwohl diese nicht Steuersubjekte sind. Vgl. auch: Brähler/­Mayer, IStR 2010, 678 (679): Findet hingegen das Kapitalgesellschaftskonzept Anwendung, wird die Personengesellschaft selbst besteuert. Die spätere Gewinnverwendung unterliegt auf Ebene des Gesellschafters als Dividende einer zweiten Besteuerungsstufe. 196  Die Personengesellschaft kann jedoch in Deutschland als Unternehmer im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG umsatzsteuerpflichtig und gemäß § 5 Abs. 1 S. 3 GewStG gewerbesteuerpflichtig sein. Vgl. auch: Selder, in: Glanegger/­Güroff, GewStG, § 5 Rn. 6; Gosch, in: Blümich, GewStG, § 5 Rn. 39; Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 1 Rn. 27d: Dies begründet jedoch wegen Art. 4 Abs. 1 S. 2 OECD-MA noch nicht ihre Abkommensberechtigung. 197  Dazu auch: Hennrichs, in: Tipke/­Lang, Steuerrecht, § 10 Rn. 10.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Die durch das Transparenzprinzip fehlende Steuerpflicht der Personengesellschaft führt dazu, dass diese keine „in einem Vertragsstaat ansässige Person“ im Sinne des Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA und damit nicht nach Art. 1 OECD-MA berechtigt ist, Abkommensvorteile in Anspruch zu nehmen. Aus Sicht des Sitzstaates der Personengesellschaft ist diese Folge zunächst logisch, da Personengesellschaften, die ohnehin nicht selbst steuerpflichtig sind, auch keiner Doppelbesteuerung unterliegen können. 2.  Problemaufriss und Fallgruppen

Zu Problemen kann es aber dann kommen, wenn die beteiligten DBA-Staaten – also der Ansässigkeitsstaat der Personengesellschaft, der Quellenstaat und/­oder der Ansässigkeitsstaat der Gesellschafter – ein und dieselbe Personengesellschaft durch einen Typenvergleich unterschiedlich als steuerrechtlich transparent oder intransparent qualifizieren. So sind Personengesellschaften in einigen Mitgliedstaaten selbst steuerpflichtig198 oder können zumindest für eine Besteuerung nach Körperschaftsteuerrecht optieren (intransparente Personengesellschaften), wodurch sie zu einer „ansässigen Person“ im Sinne des Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA werden.199 Hierdurch entstehen sog. subjektive Qualifikationskonflikte bzw. Zurechnungskonflikte, bei denen die betroffenen DBA-Staaten die Einkünfte der Gesellschaft unterschiedlichen Personen zurechnen, entweder der Personengesellschaft selbst (intransparente Personengesellschaft) oder deren Gesellschaftern (transparente Personengesellschaft).200 Solche Qualifikationskonflikte können sowohl zu einer (wirtschaftlichen) Doppelbesteuerung (sog. positiver Qualifikationskonflikt) als auch zu einer Nichtbesteuerung (sog. negativer Qualifikationskonflikt) führen.201 Zur besseren Darstellung der Problematik der fehlenden Abkommensberechtigung von Personengesellschaften und deren Auswirkungen auf die Gesellschafter sowie die Relevanz für die Grundfreiheiten werden im Folgenden 198  Dies ist beispielsweise in Ungarn, Belgien, Spanien, Portugal, Bulgarien, Kroatien, Rumänien, Slowakische Republik, Slowenien, Tschechische Republik, Frankreich oder Italien der Fall. 199  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 31: Eine Behandlung von Personengesellschaften als steuerlich intransparente Einheiten komme häufig vor, so sind z. B. in den romanischen Staaten Personengesellschaften oft steuerlich intransparent (auch in afrikanischen Staaten, die das französische Steuerrecht übernommen haben, sowie in den meisten osteuropäischen und lateinamerikanischen Ländern); vgl. zum Überblick: Hey/­ Bauersfeld, IStR 2005, 649 (656 f.). 200  Brähler/­Mayer, IStR 2010, 678 (679); Wassermeyer, in: Wassermeyer/­ R ichter/­ Schnittker, Personengesellschaften im Internationalen Steuerrecht, Rn. 2.20; Geberth, in: Festgabe Wassermeyer, Beitrag Nr. 9 Rn. 8. 201  Geberth, in: Festgabe Wassermeyer, Beitrag Nr. 9 Rn. 2.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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vier ausgewählte Beispiele erläutert und erörtert, die sich zum Teil an die von der OECD in ihrem Partnership-Report202 dargestellten Fälle anlehnen. Dabei sollen die objektiven Qualifikationskonflikte, bei denen in den beiden DBA-­ Staaten unterschiedliche Begriffe bei den Verteilungsnormen angewendet werden,203 vorliegend nicht eingegangen werden, da dies kein eigentliches Problem der Abkommensberechtigung ist. Die ersten beiden Beispielsfälle veranschaulichen die Problematik anhand der unterschiedlichen Einordnung im Ansässigkeits- und Quellenstaat. Die Beispielsfälle 3 und 4 behandeln die Problematik, wenn die Gesellschafter in einem anderen Staat ansässig sind als die Personengesellschaft. a)  Beispielsfall 1

Der erste Beispielsfall entspricht dem Fall Nr. 4 des OECD-Partnership-­ Reports: Eine Personengesellschaft hat den Ort ihrer Geschäftsleitung in Deutschland. Dort sind auch deren Gesellschafter ansässig. Die Gesellschaft erzielt aus dem Staat X 204 (Quellenstaat) stammende Einkünfte aus Lizenzgebühren.205 Deutschland behandelt die Gesellschaft als transparent; Staat X behandelt sie hingegen als intransparent. Nach dem jeweils nationalen Steuerrecht – ohne Berücksichtigung eines DBA – würde Deutschland nicht die Gesellschaft besteuern, sondern die unbeschränkt steuerpflichtigen Gesellschafter, da nur diese als Mitunternehmer die Einkünfte aus den Lizenzgebühren originär erzielen (§ 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG).206 Staat X würde hingegen die Personengesellschaft besteuern, da diese aus seiner Sicht ein (beschränkt steuerpflichtiges) Rechtssubjekt wäre. Es läge also aufgrund der unterschiedlichen Qualifikation der Gesellschaft im Ansässigkeits- und im Quellenstaat eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung der Lizenzeinkünfte vor.

202  OECD, The application of the OECD Model Tax Convention to Partnerships, in: OECD, Issues in International Taxation No. 6 (1999). 203  Lang, IStR 2010, 114 (117); Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 96e: Auslegungskonflikte, die ganz allgemein zu einer Doppelbesteuerung oder Doppelnichtbesteuerung führen, werden danach als „positive bzw. negative Qualifikationskonflikte im weiteren Sinne“ bezeichnet. 204 Im Folgenden sollen die Vertragsstaaten mit Deutschland anonymisiert werden, um ungeachtet der in der Praxis bestehenden DBA das Problem besser anhand des OECD-MA zu erörtern. 205  In Portugal gelten Personengesellschaften als juristische Personen, sodass sie dort körperschaftsteuerpflichtig sind: Hey/­Bauersfeld, IStR 2005, 649 (650). 206 Dazu näher: Hottmann, in: Zimmermann/­Hottmann/­K iebele/­Schaeberle/­Scheel, Die Personengesellschaft, S. 104.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Unter Berücksichtigung des OECD-MA würde dieses auf die Personengesellschaft vorliegend keine Anwendung finden. Zwar hat die Gesellschaft ihren Sitz in einem der beiden Vertragsstaaten (Deutschland), dort ist sie aber nicht ansässig im Sinne des Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA, und damit nicht abkommensberechtigt, da sie aus deutscher Sicht steuerrechtlich transparent behandelt wird. Die Gesellschafter könnten sich auf das OECD-MA berufen, da sie aus deutscher Sicht Abkommens- und Nutzungsberechtigte207 sind und ihnen die Einkünfte aus den Lizenzgebühren zugerechnet werden.208 Da Staat X diese Ansicht jedoch nicht teilt – er behandelt die Gesellschaft als Steuersubjekt, nicht die Gesellschafter – werden die Gesellschafter von ihm nicht besteuert; da Deutschland das Besteuerungsrecht zusteht, kann es die Gesellschafter ungehindert besteuern. Es bleibt also bei der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung. Diese kann zu einem Verstoß gegen die Niederlassungs- oder die Kapitalverkehrsfreiheit führen, da die Gesellschafter in grenzüberschreitenden Fällen anders behandelt werden als in reinen Inlandsfällen, bei denen stets eine einheitliche Qualifikation vorliegt. b)  Beispielsfall 2

Im Beispielsfall 2, der sich an dem Fall Nr. 5 des OECD-Partnership-­Reports orientiert, hat die Personengesellschaft den Ort ihrer Geschäftsleitung in Staat X, wo auch deren Gesellschafter ansässig sind. Die Gesellschaft bezieht Lizenzgebühren aus Deutschland als Quellenstaat. Die Behandlung der Gesellschaft als transparent bzw. intransparent erfolgt wie im Beispielsfall 1. Nach dem jeweils nationalen Steuerrecht würde Staat X die Gesellschaft besteuern, während Deutschland die (beschränkt steuerpflichtigen) Gesellschafter als Mitunternehmer besteuert. Unter Anwendung des OECD-MA wäre die Gesellschaft zwar abkommensberechtigt, da sie nach dem Recht von Staat X dort aufgrund des Ortes ihrer Geschäftsleitung steuerpflichtig und damit ansässig ist. Da Deutschland jedoch die Gesellschaft nicht besteuert – Deutschland sieht die Gesellschaft nicht als Steuersubjekt an –, wirkt sich die Abkommensberechtigung der Gesellschaft nicht aus. Aus deutscher Sicht sind die Gesellschafter zwar Nutzungsberechtigte der Lizenzgebühren und damit dem Grunde nach abkommensberechtigt, es ist aber

207 Vgl. Pöllath/­Lohbeck, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Art. 12 Rn. 23; Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 12 Rn. 33. 208 Vgl. dazu: Wolff, in: Wassermeyer, DBA-USA, Art. 10 Rn. 61 f.; kritisch: Tisch­ birek, in: Vogel/­Lehner, DBA, Vor Art. 10 bis 12 Rn. 15; Jacob/­Klein, IStR 2014, 121 (124); BFH v. 20.8.2008 – I R 39/­07, BStBl. II 2009, S. 236 (für das DBA-USA 1989); v. 26.6.2013 – I R 48/­12, BStBl. II 2014, S. 367 Rn. 23 (für das DBA-USA 1989/­2006).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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fraglich, ob sie überhaupt Rechte aus dem DBA herleiten können, da Staat X sie gerade nicht als die steuerpflichtigen (nutzungberechtigten) Personen ansieht. Auch hier kommt es aufgrund der unterschiedlichen Qualifizierung zu einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung, die im Rahmen der Grundfreiheiten relevant werden kann. c)  Beispielsfall 3

Im dritten Beispielsfall, der sich an dem Fall Nr. 17 des OECD-Partnership-Reports orientiert,209 liegt eine sog. hybride Personengesellschaft210 vor, die in ihrem Sitzstaat als steuerlich intransparent, im Quellen- bzw. Sitzstaat der Gesellschafter hingegen als steuerlich transparent behandelt wird 211: Die Personengesellschaft hat den Ort ihrer Geschäftsleitung in Staat X; die Gesellschafter sind in Deutschland ansässig. Die Gesellschaft bezieht Lizenzeinkünfte aus Staat X (Sitzstaat = Quellenstaat). Deutschland behandelt die Gesellschaft als transparent, Staat X als intransparent. Staat X würde nach seinem nationalen Steuerrecht die Gesellschaft besteuern, Deutschland würde die Einkünfte den Gesellschaftern zurechnen und diese mit ihrem Welteinkommen besteuern. Diese wirtschaftliche Doppelbesteuerung besteht auch unter Geltung des OECD-MA fort und ist damit für die Grundfreiheiten relevant. Die Gesellschaft ist zwar abkommensberechtigt, da sie in ihrem Sitzstaat (Staat X) ein Steuersubjekt ist, es kommt aber aus ihrer Sicht zu keinem grenzüberschreitenden Sachverhalt, da deren Einkünfte aus ihrem Staat stammen. Während die Gesellschafter aus Sicht von Staat X keine Einkünfte erzielen, sind sie nach deutschem Verständnis steuerpflichtig und daher „Nutzungsberechtigte“ der Lizenzgebühren im Sinne des Art. 12 Abs. 1 OECD-MA. Zwar sind die Gesellschafter dem Grunde nach abkommensberechtigt, es ist aber auch in diesem Fall fraglich, ob sie überhaupt Rechte aus dem DBA herleiten können, wenn Staat X sie nicht als Bezieher der Einkünfte ansieht. 209 

Vgl. auch die Entscheidung des Bundesfinanzhofes: BFH v. 25.5.2011 – I R 95/­10, DStR 2011, 1553; siehe auch: Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 34 ff. 210  Dazu auch: Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­ Ditz, DBA, Systematik Rn. 117; ausführlich: Prokisch, in: Vogel/­Lehner DBA, Art. 1 Rn. 25 ff. 211 Sofern Brähler/­Mayer (IStR 2010, 678 [679]) am Beispiel Deutschlands einen hybriden Betrieb als ein Unternehmensteil definieren, „der nach deutschem Steurrecht als transparent angesehen wird, im Ausland aber als ein selbstständiges Steuersubjekt behandelt wird“, ist diese Definition, so wie sie gefasst ist, zu weit. Dann nach dieser Definition wäre die Gesellschaft aus Sicht des anderen Vertragsstaats umgekehrt hybrid. Richtig ist indes, auf das Auseinanderfallen von Sitzstaat der Gesellschaft und Quellenstaat bzw. Sitzstaat der Gesellschafter bei jeweils unterschiedlicher Qualifikation abzustellen.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

d)  Beispielsfall 4

Im Beispielsfall 4 liegt eine sog. umgekehrt hybride Personengesellschaft vor, bei der die Gesellschaft in ihrem Sitzstaat als steuerlich transparent behandelt wird, während der Quellen- bzw. Sitzstaat der Gesellschafter sie als intransparent behandelt.212 Er orientiert sich an dem Fall Nr. 6 des OECD-Partnership-­ Reports: Die Gesellschaft hat den Ort ihrer Geschäftsleitung in Deutschland und bezieht auch aus Deutschland Lizenzgebühren; die Gesellschafter haben ihren Sitz in Staat X; Deutschland behandelt die Gesellschaft als transparent, Staat X als intransparent. Abwandlung: Die Personengesellschaft hat den Ort ihrer Geschäftsleitung in Staat Y und bezieht auch aus Staat Y Lizenzgebühren; die Gesellschafter haben ihren Sitz in Deutschland; Deutschland behandelt die Personengesellschaft als intransparent (z. B. eine LLC213 oder eine EPE214, die im Gründungsstaat jeweils transparent besteuert werden), Staat Y behandelt sie als transparent. Im Ausgangsfall würde Deutschland die Einkünfte aus den Lizenzgebühren wie im Beispielsfall 2 bei den Gesellschaftern besteuern. Staat X hingegen würde weder die Gesellschaft noch die Gesellschafter besteuern, da die insoweit als intransparent qualifizierte Personengesellschaft nicht in Staat X ansässig ist, sie damit keinen Anknüpfungspunkt für die Besteuerung bietet, und die Gesellschafter wegen eben dieser Intransparenz in Staat X nicht Steuersubjekt sind. Hier kommt es zwar zu keiner Doppelbesteuerung, jedoch stellt sich für die Gesellschafter die Frage, ob sie (1) als Ansässige in Staat X in Ansehung des dort geltenden Steuerrechts der deutschen Steuer unterliegen müssen (oder von dieser befreit sind),215 und falls ja, (2) ob sie bei einer späteren Gewinnentnahme einer erneuten Besteuerung durch Staat X(der die Entnahme ggf. als Dividende behandeln wird) ausgesetzt sind. In der Abwandlung verhält es sich umgekehrt: Deutschland würde keinen der Beteiligten besteuern, Staat Y würde nur die Gesellschafter der Quellensteuer unterwerfen.

212  Der Hinweis in Fußnote 211 zu der von Brähler/­Mayer (IStR 2010, 678 [679]) gewählten Definition gilt an dieser Stelle entsprechend. 213 Limited Liability Company, eine GmbH oder Personengesellschaft nach US-­ amerikanischem Recht (je nach dem Staatenrecht und der konkreten Ausgestaltung). 214  Eteria periorismenis efthinis, eine GmbH griechischen Rechts. 215  Diese Frage wurde auch von Wassermeyer aufgeworfen (in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 1 Rn. 27 – Beispiel Nr. 7).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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3.  Problemeinordnung und Prüfungsgang a)  Problemeinordnung

Zunächst soll an dieser Stelle das Problem eingeordnet werden. Die Frage, welche der Rechtssubjekte als abkommensberechtigt gelten, wurde von den verschiedenen Ansichten in Literatur, Finanzverwaltung und Rechtsprechung (dazu sogleich unter Ziffer 4) noch anhand des Personenbegriffs in Art.  3 Abs. 1 lit. a) OECD-MA geklärt. Die verschiedenen Ansichten beantworten hier die Frage, ob eine Personengesellschaft eine Gesellschaft im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. b) OECD-MA ist und werfen die Frage auf, nach welchem Recht (also aus wessen Sicht) dieser Begriff zu bestimmen ist: nach dem Recht des Sitzstaats der Gesellschaft oder dem des Quellen- bzw. Sitzstaats der Gesellschafter. Diese Fragestellung ist nicht verwunderlich, denn die Abkommensberechtigung nach Art. 1 OECD-MA verlangt zwei Voraussetzungen: eine „Person“ (bestimmt in Art. 3 Abs. 1 lit. a) OECD-MA) und deren Ansässigkeit in mindestens einem der Vertragsstaaten (bestimmt in Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA). Fehlt es bereits an der Personeneigenschaft, ist die Frage der Ansässigkeit, und damit der Abkommensberechtigung, bedeutungslos. Dabei mag an dieser Stelle der Umstand verwundern, dass überhaupt über die Eigenschaft der Personengesellschaft als Gesellschaft und damit als „Person“ diskutiert wurde, da sie doch jedenfalls eine „andere Personenvereinigung“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. a) OECD-MA ist.216 Diese Diskussion ist nur verständlich, wenn man sich die alten Fassungen des OECD-MA ansieht, in denen der Begriff der „anderen Personenvereinigungen“ noch nicht enthalten war. Damals galt als Person nur, wer eine natürliche oder juristische Person war oder ein Rechtsträger, die für die Besteuerung wie eine juristische Person behandelt wurde. Da sich die meisten DBA mit Deutschland noch an der alten Fassung des OECD-MA orientieren, fehlt auch heute noch der Begriff der „anderen Personenvereinigungen“ in den meisten DBA,217 sodass die Frage, ob eine Personengesellschaft eine „Gesellschaft“ ist, und aus wessen Sicht dies zu gelten hat, weiterhin praxisrelevant ist. Aus diesem Grund ist es auch verständlich, warum sich der Streit zwischen Vogel218 und Wassermeyer 219 maßgeblich an der Frage der Personeneigenschaft entzündete, und weshalb auch in

216  Dürrschmidt, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 3 Rn. 17; so wohl auch: BMF, Schreiben v. 26.9.2014 – IV B 5 – S 1300/­09/­10003, BStBl. I 2014, S. 1258 Tz. 2.1.1. 217  Dürrschmidt, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 3 Rn. 25; Vogel, IStR 1999, 5 (6). 218  Vogel, IStR 1999, 5 (6). 219  Wassermeyer, IStR 1995, 49; ders., IStR 1998, 489; ders., IStR 1999, 8.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

der nachfolgenden Zeit vereinzelt 220 versucht wurde, die Abkommensberechtigung über den Begriff der „Gesellschaft“ nach Art. 3 Abs. 1 lit. b) OECDMA herzuleiten, die Gesellschaftseigenschaft teilweise dann aber falsch über Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA anstatt über Art. 3 Abs. 2 OECD-MA begründet wurde.221 Zwar wird im Ergebnis eine nach ihrem Sitzstaat als intransparent besteuerte Personengesellschaft zugleich auch das Ansässigkeitsmerkmal nach Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA erfüllen. Es kommt vorliegend jedoch darauf an, beide Prüfungsschritte sauber zu trennen, denn der Begriff der „Gesellschaft“ nach Art. 3 Abs. 1 lit. b) OECD-MA bedeutet nicht zugleich deren Abkommensberechtigung. Dies zeigt sich schon daran, dass auch juristische Personen nicht immer steuerpflichtig sind (beispielsweise dann, wenn sie Organgesellschaften sind). Umgekehrt verneint der Begriff „andere Personenvereinigung“ die Abkommensberechtigung nicht per se.222 Diese wichtige Unterscheidung wird auch von einer Alternativbetrachtung gestützt: Enthält das betreffende DBA den Begriff „andere Personenvereinigung“, ist es völlig egal, ob die Personengesellschaft eine „Gesellschaft“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. b) OECD-MA ist. Sie ist dann „Person“ und die Frage ihrer Ansässigkeit muss dann allein im Sinne des Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA beurteilt werden. Eine Unterscheidung zwischen „Person“ und „Ansässigkeit“ ist auch deshalb relevant, da die nichtansässigen Personen Berührungspunkte mit den DBA haben können, was sich insbesondere beim Diskriminierungsverbot (Art. 24 OECD-MA) und der Arbeitgeberstellung (Art. 15 OECD-MA) zeigt.223 Für die Frage der Abkommensberechtigung zeigt sich damit zugleich, dass es auf die Beantwortung der Frage, ob eine Personengesellschaft eine „Gesellschaft“ ist, nicht vorrangig ankommt. Vor diesem Hintergrund ist es an der Zeit, die Frage, ob eine Personengesellschaft eine „Gesellschaft“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. b) OECD-MA ist, zumindest für die Problemerörterung an dieser Stelle beiseite zu lassen und sich auf das Merkmal der Ansässigkeit nach Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA zu konzentrieren,224 da es vornehmlich auf die persönliche Bindung der Person 220  Wicke, Personengesellschaften im Recht der deutschen DBA, S. 88 ff.; Brähler/­ Mayer, IStR 2010, 678 (680). 221  So nämlich: Brähler/­Mayer, IStR 2010, 678 (680); richtigerweise dagegen: Dürr­ schmidt, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 3 Rn. 15. 222 So treffend: Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 1 MA Rn. 27c. 223  Debatin, BB 1989, Beilage 2 zu Heft 3, 1 (3). 224  So wohl auch: Gschwandtner, Unternehmensgewinne von Personengsellschaften, S. 105.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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zum besteuernden Vertragsstaat ankommt.225 Der Meinungsstreit ist damit nicht überholt, sondern allein die Begründungen haben sich auf einen anderen Prüfungspunkt verlagert, wie sich noch zeigen wird. b)  Prüfungsgang

Die in der Literatur dargestellten Erörterungen sind teilweise so verworren (allgemein wird nur von „Abkommensberechtigung“ gesprochen, teilweise von „Gewährung von Abkommensvorteilen“), dass ohne eine gedankliche Ordnung nur sehr schwer verständlich sein wird, an welcher Stelle die betreffende Ansicht ansetzt, wenn sie dies überhaupt tut. So wird vereinzelt auch bei Zusammenfassungen der Ansichten nur davon gesprochen, dass der eine Staat der Ansicht des anderen zu folgen habe.226 Es wird aber nicht gesagt, bei welchem Merkmal das zu prüfen ist: Der Abkommensberechtigung nach Art. 1 Abs. 1 S. 1 OECD-MA, des Personenbegriffs nach Art. 3 Abs. 1 lit. b) OECD-MA, der Ansässigkeit nach Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA oder der Frage, wer die Einkünfte nach den Verteilungsnormen „erzielt“ (z. B. im Sinne des Art. 12 Abs. 1 OECD-MA). Um dem Kern des Problems bzw. der Problemerörterung näher zu kommen, wird zunächst ein Prüfungsgang vorgezeichnet, der so in der Literatur noch nicht dargestellt wurde. Im ersten Schritt ist die Abkommensberechtigung aller Beteiligten zu prüfen. In diesem Zusammenhang ist inzident zu prüfen, wer von den Beteiligten eine Person im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. a) OECD-MA ist – nachfolgend wird davon ausgegangen, dass Personengesellschaften „andere Personenvereinigungen“ sind – und ob diese Personen nach dem Recht ihres Sitzstaats dort auf Grund eines Ansässigkeitsmerkmals steuerpflichtig sind (Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA). In diesem Prüfungsschritt kommt es nicht darauf an, wem Einkünfte konkret zugerechnet werden.227 Da die Abkommensberechtigung die rechtliche Möglichkeit darstellt, die Normen des betreffenden DBA in Anspruch nehmen zu können,228 ist zunächst nur abstrakt zu bestimmen, wer überhaupt als „in einem Vertragsstaat ansässige Person“ gilt. Denn Art. 1 OECDMA bestimmt nicht die Berechtigung im Einzelfall, bestimmte Vorteile des Abkommens in Anspruch nehmen zu können, sondern ganz allgemein, dass das betreffende DBA für Personen gilt, die in einem Vertragsstaat oder in beiden Vertragsstaaten ansässig sind. Damit ist zunächst nur gewährleistet, dass die Normen des betreffenden DBA überhaupt zur Geltung kommen können, unab225 

Debatin, BB 1989, Beilage 2 zu Heft 3, 1 (2). bei: Weggemann, Personengesellschaften im Lichte der Doppelbesteuerungsabkommen, S. 178 ff. 227  Ebenso wohl: Lüdicke, IStR 2011, 91 (93). 228  Nachweise in Fußnote 103. 226  Beispielsweise

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

hängig davon, ob sie im konkreten Fall auch ihre Geltung entfalten. Diese Frage wird erst im zweiten Schritt geklärt. Der abkommensrechtliche Ansässigkeitsbegriff stellt demgemäß auch nur auf die abstrakte Steuerpflicht ab,229 nicht aber auf die Steuerbarkeit bestimmter Einkünfte.230 Grundlegend ist also zwischen der Abkommensberechtigung und der konkreten Normenanwendung zu unterscheiden. Denn auch wenn jemand abstrakt berechtigt ist, die Vorteile des Abkommens in Anspruch zu nehmen, bedeutet dies nicht, dass er es im konkreten Einzelfall auch kann. Wie eingangs bereits aufgezeigt, hängt nach Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA die Ansässigkeit von der Einordung im Sitzstaat ab. Sind die Gesellschafter einer Personengesellschaft natürliche Personen, sind sie also stets abkommensberechtigt, da sie Personen sind, die nach dem Recht ihres Wohnsitzstaats dort gerade aufgrund ihres Ansässigkeitsmerkmals (unbeschränkt) steuerpflichtig sind. Das bedeutet jedoch weder, dass sie im konkreten Fall die Abkommensvorteile geltend machen können, noch, dass es überhaupt einen DBA-relevanten Fall, also eine juristische Doppelbesteuerung gibt. Ebenso verhält es sich mit Personengesellschaften, die in ihrem Ansässigkeitsstaat selbst steuerpflichtig sind. Stammen die Einkünfte nicht aus einem anderen Staat, existiert kein Merkmal, um die Besteuerungszuständigkeit der beteiligten Staaten zuzuweisen, trotzdem sind sie abstrakt abkommensberechtigt. Art. 1 OECD-MA stellt demnach nur eine Eintrittsprüfung dar und filtert diejenigen Rechtssubjekte heraus, die grundsätzlich keiner Besteuerung unterliegen können. Erst im zweiten Schritt ist die konkrete Möglichkeit zur Inanspruchnahme der Abkommensvorteile bei bestimmten Einkünften zu prüfen (konkrete Normenanwendung). Bei ihr wird der Tatbestand der betreffenden Verteilungsnorm dahingehend geprüft, ob sich aus der Abkommensberechtigung im Einzelfall ein Recht auf Abkommensvorteile ergeben kann. Hierbei sind wiederum zwei Prüfungsschritte einzuhalten: Zum einen muss grundsätzlich eine vom DBA gesehene Konstellation vorliegen. Dies erfordert die Ermittlung der Steuerpflicht der Beteiligten nach dem jeweils nationalen Steuerrecht.231 Denn erst wenn danach die betreffende Person Einkünfte im Sinne der Verteilungsnorm „erzielt“, besteht überhaupt erst eine Notwendigkeit, Abkommensvorteile in Anspruch zu nehmen. Zum anderen ist zu ermitteln, aus wessen Sicht zu beurteilen ist, wer eigentlich die Einkünfte im Sinne des betreffenden DBA „erzielt“. Denn die 229  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 4 MA Rn. 25: Es genügt, dass die Person persönlich steuerpflichtig ist, ohne dass sie sachlich steuerpflichtige Einkünfte erzielt haben oder sachlich steuerpflichtiges Vermögen halten muss; vgl auch: Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 4 Rn. 82. 230  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 35 f. 231  Die Verteilungsnormen im betreffenden DBA setzen die jeweils nationale Besteuerung voraus, nehmen darauf also keinen Einfluss: Lüdicke, IStR 2011, 91 (93).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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DBA verweisen zwar auf das jeweils nationale Steuerrecht, sehen sich aber wegen der unterschiedlich qualifizierten Personengesellschaft (teils transparent, teils intransparent) einem Auseinanderfallen von Sichtweisen ausgesetzt: für den einen Staat erzielt die Personengesellschaft die Einkünfte, für den anderen Staat sind es die Gesellschafter. In diesem Prüfungsschritt werden die sogleich unter Ziffer 4 dargestellten Auffassungen relevant. Es geht also nicht mehr um die Frage, aus wessen Sicht zu beurteilen ist, ob eine Personengesellschaft eine „Gesellschaft“ ist (Prüfung im Rahmen des Art. 1 OECD-MA), sondern aus wessen Sicht zu beurteilen ist, wer eigentlich die Einkünfte erzielt (Prüfung im Rahmen der jeweiligen Verteilungsnorm). Erst im dritten und letzten Schritt ist zu ermitteln, wie das DBA im konkreten Fall der jeweils steuerpflichtigen Person Abkommensvorteile zur Seite stellt und ob diese grundsätzlich bestehenden Abkommensvorteile von dem jeweiligen Steuerpflichtigen (Gesellschafter oder Gesellschaft) in Anspruch genommen werden können. Wegen der Verwerfungen aufgrund des subjektiven Qualifikations- bzw. Zurechnungskonflikts können Fälle bestehen, in denen der einen Person Abkommensvorteile nicht gewährt werden, obwohl das DBA diese Gewährung grundsätzlich im Blick hat. Wassermeyer hat diesen Punkt mit dem „Geist des Abkommens“ beschrieben.232 Gemeint ist die Frage, wie die eigentlich abkommensberechtigten Personen die Vorteile des Abkommens gegenüber den beteiligten Vertragsstaaten durchsetzen können. 4.  Meinungsstand

Aus dem vorgenannten Prüfungsgang lässt sich entnehmen, dass es eine ganz zentrale Frage ist, aus wessen Sicht die Einkünfteerzielung zu beurteilen ist233 und ob sich ein Staat an die Einordnung des anderen Staats zu halten hat (zweiter Prüfungsschritt). Da diese Frage nicht ausdrücklich im OECD-MA geregelt ist,234 bestehen unterschiedliche Auffassungen sowie Begründungsansätze dazu, wer die Einkünfte im Sinne der jeweiligen Verteilungsnorm „erzielt“. Der Tatbestand des „Erzielens“ wird in den Verteilungsnormen unterschiedlich bestimmt,235 meint aber jeweils dasselbe, nämlich die Frage, wer für die im DBA 232  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 1 MA Rn. 27 – Lösung zu Beispiel Nr. 5 und Rn. 28 f.; kritisierend: Vogel, IStR 1999, 5 (7) – Fn. 14. 233 Vgl. Sonnleitner/­Winkelhog, BB 2014, 473 (474); Eimermann, in: Festgabe Wassermeyer, Beitrag Nr. 10 Rn. 2. 234  Brähler/­Mayer, IStR 2010, 678 (680). 235 „Beziehen“: Art. 6 Abs. 1, 13 Abs. 1, 15 bis 17 OECD-MA; „erzielen“: Art. 9 Abs. 1 OECD-MA; „Gewinne aus/­eines…“: Art. 7 Abs. 1, 8 Abs. 1 OECD-MA; „zahlen“: Art. 10 Abs. 1, 11 Abs. 1, 19 und 20 OECD-MA; „nutzungsberechtigt“: Art. 12 Abs. 1 OECD-MA.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

geregelten Einkunftsarten konkret steuerpflichtig ist. Diese Ansichten werden im Folgenden dargestellt und erläutert. a)  Literatur aa)  Einordnung nach dem Sitzstaat der Gesellschaft

Die wohl h. M. in der Literatur236 vertritt eine abkommensorientierte Auslegung der DBA 237. Es sei ausschließlich die steuerrechtliche Behandlung der Personengesellschaft in ihrem Sitzstaat entscheidend.238 Ist die Personengesellschaft nach Art. 1 OECD-MA abkommensberechtigt, erziele sie auch die Einkünfte, sodass die Abkommensberechtigung der Personengesellschaft auch für die Zurechnung der Einkünfte gelten müsse (als „Schluss von der Abkommensberechtigung auf die Bestimmung der Einkunftsart“).239 Die h. M. nimmt dabei eine sog. Qualifikationsverkettung 240 an: Der Quellen- bzw. der Sitzstaat der Gesellschafter dürfe das Merkmal der Einkünfteerzielung nicht selbst auslegen, sondern sei für Zwecke der Abkommensanwendung an die Behandlung der Personengesellschaft in ihrem Ansässigkeitsstaat gebunden 241; auf die Abkommensberechtigung der Gesellschafter komme es also nicht an,242 und zwar auch dann nicht, wenn diese in einem Drittstaat ansässig sind.243 Ist die Personengesellschaft nach Art. 1 OECD-MA abkommensberechtigt, bestehe überhaupt kein Anlass, das DBA mit dem Staat der Gesellschafter anzuwenden.244

236  Prokisch, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 33a ff.; Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 491 f.; Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 8 Rn. 14; Lüdicke, IStR 2011, 91 (93 f.); Brähler/­Mayer, IStR 2010, 678 (681); Möbus, GmbHR 2004, 1202 (1205); Menck, IStR 1999, 147 (148); Müller/­Wangler, IStR 2003, 145 (147 f.); Schmidt, WPg 2002, 1134 (1139); ders., IStR 2010, 413 (426); Debatin, BB 1978, 669 (671); ders., BB 1978, 1608 (1609 f.); ders., BB 1989, Beilage 2 zu Heft 3, 1 (8 ff.); Knob­ be-Keuk, RIW 1991, 306 (314); Djanani/­Brähler/­Hartmann, IStR 2004, 481 (484); Piltz, Die Personengesellschaften im internationalen Steuerrecht, S. 133 ff.; Wicke, Personengesellschaften im Recht der deutschen DBA, S. 95 ff.; Vogel, IStR 1999, 5 ff. 237 Dazu: Lüdicke, IStR 2011, 91 (92). 238  Prokisch, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 33a ff.; Vogel, IStR 1999, 5 (6); Brähler/­Mayer, IStR 2010, 678 (681). 239  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 34g mwN. 240  Weggenmann, in: Festgabe Wassermeyer, Beitrag Nr. 12 Rn. 8. 241  Nachweise in Fußnote 236. 242  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 33a; a. A.: Wassermeyer, IStR 2011, 85 (86). 243  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 33a, 33c. 244  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 34g mwN.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Teilweise wird diese Auffassung unter Verweis auf Ziffer 3 zu Art. 3 OECDMK begründet,245 und darüber hinaus auch damit, dass die Gesellschafter unabhängig von ihren persönlichen Wohnsitzen stellvertretend für die Gesellschaft mittelbar in den Genuss der Abkommenserleichterungen kommen.246 Die h. M. wird unter anderem dahingehend kritisiert, dass die Abkommensberechtigung nicht immer auf der persönlichen Steuerpflicht des Abkommensberechtigten aufbaue.247 Es müsse somit zwischen der Abkommensberechtigung und der persönlichen Steuerpflicht in einem der Vertragsstaaten begrifflich unterschieden werden.248 Nach der h. M. sind im Beispielsfall 1 nur die Gesellschafter abkommensberechtigt, sodass nur diese die Lizenzeinkünfte erzielen. Staat X besteuert die Gesellschaft ungehindert; Deutschland besteuert zwar die Gesellschafter, muss aber eine Anrechnung der in Staat X gezahlten Quellensteuer zulassen. Im Bei­ spielsfall 2 ist nur die Personengesellschaft (aus Sicht von Staat X) abkommensberechtigt, sodass nur sie die Lizenzeinkünfte erzielt. Da Staat X das Besteuerungsrecht zusteht, wird die Personengesellschaft von diesem besteuert. Die Gesellschafter seien wegen der Qualifikationsverkettung nicht abkommensberechtigt und erzielen die Lizenzeinkünfte demnach auch nicht. Um eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung, die durch die Besteuerung der Gesellschafter durch Deutschland entsteht, dennoch zu verhindern, soll der Sitzstaat der Gesellschaft (Staat X) das betreffende DBA anwenden, die Abkommensvorteile sollen aber von den Gesellschaftern geltend gemacht werden können. Der von der Gesellschaft gestellte Antrag könne dann in einen Antrag der Gesellschafter umgedeutet werden.249 In Beispielsfall 3 sei wiederum nur die Personengesellschaft abkommensberechtigt, wegen der Qualifikationsverkettung hingegen nicht die Gesellschafter. Dadurch „erzielen“ nicht die Gesellschafter die Lizenzeinkünfte, sondern nur die Personengesellschaft. Trotz dem das DBA damit für die Gesellschafter keine Anwendung finde, dürfe Deutschland die Gesellschafter als Mitunternehmer gleichwohl nicht besteuern, sondern erst dann, wenn die Gesellschaft die Gewinne an die Gesellschafter ausschütte.250 Die durch die spätere Ausschüttung nachgelagerte Doppelbesteuerung sei nicht ver245 

Brähler/­Mayer, IStR 2010, 678 (681). Wicke, Personengesellschaften im Recht der deutschen DBA, S. 96. 247  Wassermeyer, IStR 2010, 683 mit beispielhaften Konstellationen. 248  Wassermeyer, IStR 2010, 683; vgl. auch: Weggenmann, in: Festgabe Wassermeyer, Beitrag Nr. 12 Rn. 6; Wassermeyer/­Kaeser, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 4 MA Rn. 2, 8. 249 Stellvertretend: Prokisch, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 33a; a. A.: Wasser­ meyer, IStR 2011, 85 (87). 250  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 34g; vgl. auch Lüdicke, IStR 2011, 91 (94). 246 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

meidbar. In Beispielsfall 4 seien nur die Gesellschafter (aus Sicht von Deutschland) abkommensberechtigt, sodass diese die Lizenzeinkünfte erzielen. Da die Gesellschafter jedoch im anderen Staat (Staat X) sitzen, hat Staat X das Besteuerungsrecht – Deutschland besteuert nicht –, sodass bis zur Ausschüttung der auf die Lizenzeinkünfte entfallenden Gewinne an die Gesellschafter eine Nichtbesteuerung vorliegt.251 In der Abwandlung liegt dasselbe Ergebnis vor, nur mit umgekehrter Staatenbeteiligung. bb)  Einordnung nach dem nationalen Recht der beteiligten Staaten

Ein Teil der Literatur, und hier vornehmlich Wassermeyer, vertritt hingegen die anwenderstaatsorientierte Ansicht. Jeder Staat habe die Abkommensberechtigung und die Frage der Einkünfteerzielung nach seinem eigenen Steuerrecht autonom zu klären,252 sodass weder der Quellen- noch der Ansässigkeitsstaat der Gesellschaft an die Behandlung im jeweils anderen Staat gebunden sei. Begründet wird diese Ansicht mit dem Grundsatz der Subjektidentität sowie Art. 3 Abs. 2 OECD-MA. Im Gegensatz zur Lösung im Wege der Qualifikationsverkettung führt diese Ansicht zu der Notwendigkeit, zu prüfen, ob die Gesellschafter die Einkünfte nach dem für sie geltenden Steuerrecht im Rahmen der jeweiligen Verteilungsnorm erzielen, was wiederum eine Prüfung deren Abkommensberechtigung voraussetzt. Hiergegen wird von der h. M. im Wesentlichen vorgetragen, dass bei dieser Auffassung die Abkommensberechtigung der Gesellschaft rechtlich bedeutungslos bleibe, sodass die jeweiligen Staaten den DBA-Schutz dadurch unterlaufen könnten, indem das jeweils nationale Steuerrecht nicht der Gesellschaft, sondern den Gesellschaftern die Steuerpflicht auferlegt, was mit Gegenstand und Zweck der DBA nicht zu vereinbaren sei.253 Im Beispielsfall 1 kommen h. M. und diese Meinung zum selben Ergebnis. Im Beispielsfall 2 sind hingegen sowohl die Personengesellschaft (aus Sicht von Staat X) als auch die Gesellschafter (aus Sicht von Deutschland) abkommensberechtigt, sodass beide die Einkünfte erzielen. Da Staat X nach dem DBA das Besteuerungsrecht zusteht, wird die Personengesellschaft von diesem besteuert. Da aber auch die Gesellschafter aus Sicht von Deutschland die Einkünfte erzielen, findet das DBA auch auf sie Anwendung. Die wirtschaftliche Doppelbesteuerung 251 

Siehe auch: Lang, IStR 2000, 129 (131). Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 1 MA Rn. 27a; ders., IStR 1995, 49 (49 f.); ders., IStR 1998, 489 (490 ff.); ders., IStR 1999, 8; Kluge, DStR 1976, 365 (367); Diehl, FR 1978, 517 (521); Krabbe, IStR 2004, 351 (354); Gschwandtner, Unternehmensgewinne von Personengesellschaften, S. 104 ff. und 111 f. a. A.: Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 32b. 253  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 32b. 252 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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werde dadurch vermieden, dass Deutschland auf das Recht zur Quellenbesteuerung verzichten müsse. Im Beispielsfall 3 sind sowohl die Gesellschafter als auch die Personengesellschaft ansässig und damit abkommensberechtigt und erzielen damit jeweils die Lizenzeinkünfte. Die Gesellschaft kann keine Abkommensvorteile geltend machen, da die Lizenzeinkünfte aus ihrem Sitzstaat stammen; Staat X besteuert sie daher ungehindert. Da auch die Gesellschafter abkommensberechtigt sind, können sie sich zwar abstrakt auf die Abkommensvorteile des DBA berufen, das Besteuerungsrecht hat aber dennoch Deutschland, sodass es zu einer Doppelbesteuerung kommt. Es ist aber Art. 12 Abs. 3 OECD-MA zu beachten. Im Beispielsfall 4 liegt wiederum dasselbe Ergebnis vor wie unter der h. M. cc)  Einordnung auch nach dem Quellenstaat

Nach einer weiteren Ansicht in der Literatur komme es hinsichtlich der Abkommensberechtigung, und damit der Frage, wer die Einkünfte „erzielt“, auch auf das Recht desjenigen Vertragsstaates an, in dem die Personengesellschaft nicht ansässig ist, also des Quellen- oder Sitzstaats der Gesellschafter.254 Voraussetzung sei nur, dass die Personengesellschaft überhaupt ein Ansässigkeitsmerkmal in einem der Vertragsstaaten aufweise255 und eine steuerliche Individualität, gleich welcher Art, genieße.256 Ist dies der Fall, sei auch die innerstaatliche Einordnung des anderen Staats (Quellen- bzw. Sitzstaat der Gesellschafter) für die Abkommensberechtigung relevant. Die Ansicht versucht damit, den Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA zu überwinden und im Ergebnis stets die Abkommensberechtigung der Personengesellschaft zu erzeugen. Begründet wird diese Ansicht damit, dass es dem Ziel eines umfassenden Abkommensschutzes widerspräche, wenn der Personengesellschaft die Abkommensberechtigung versagt werde, sodass das Merkmal „Ansässigkeit“ weit auszulegen sei.257 Zudem könne sich der Quellenstaat schon aus dem Gebot der völkerrechtlichen Vertragstreue nicht auf die Transparenz der aus seiner Sicht ausländischen Personengesellschaft berufen, wenn er diese nach eigenem Recht als intransparent behandele.258

254  Lang, IStR 2011, 1 (2) mwN; Debatin, BB 1989, Beilage 2 zu Heft 3, 1 (7); Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 491 f. 255  Lang, IStR 2011, 1 (2). 256  Debatin, BB 1989, Beilage 2 zu Heft 3, 1 (7). 257  Debatin, BB 1989, Beilage 2 zu Heft 3, 1 (7). 258  Debatin, BB 1989, Beilage 2 zu Heft 3, 1 (7); Lang, IStR 2011, 1 (2); dagegen: Was­ sermeyer, IStR 1998, 489 (491).

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

b)  OECD

Nach Ansicht der OECD, und auch nunmehr nach Art. 1 Abs. 2 OECD-MA 2017, komme es in Konstellationen mit zwei Staaten stets auf die Behandlung durch den Sitzstaat der Gesellschaft an. In Drei-Staaten-Konstellationen komme es auf das jeweils anwendbare DBA zwischen dem Quellenstaat und dem Sitzstaat der Personengesellschaft bzw. dem Sitzstaat der Gesellschafter an.259 Wird eine Personengesellschaft in ihrem Sitzstaat als steuerlich intransparent behandelt, ist sie nach Ansicht der OECD eine in diesem Vertragsstaat ansässige Person und hat damit Anspruch auf die Abkommensvorteile.260 Dies soll aber den Sitzstaat der Gesellschafter nicht daran hindern, die Gesellschafter besteuern zu dürfen.261 Hierin liegen gleich zwei Unterschiede zur h. M.: Sitzen die Gesellschafter in einem Drittstaat, seien zwei DBA anwendbar, nämlich das DBA zwischen Quellenstaat und Sitzstaat der Gesellschaft einerseits und dem Quellenstaat und dem Sitzstaat der Gesellschafter andererseits. Das jeweils günstigere DBA sei dann anzuwenden.262 In Zwei-Staaten-Verhältnissen schlage zwar die Abkommensberechtigung der Gesellschaft auf die Gesellschafter durch, wie es auch von der h. M. vertreten wird,263 der Staat der Gesellschafter ist aber in Abweichung zur h. M. nicht an die Einordnung des Staates der Gesellschaft gebunden.264 Wird die Personengesellschaft in ihrem Sitzstaat hingegen als transparent behandelt, so ist sie dort nicht ansässig im Sinne des Art. 4 Abs. 1 OECD-MA und damit nicht abkommensberechtigt. Für die konkrete Abkommensberechtigung der Gesellschafter komme es darauf an, ob der Sitzstaat der Gesellschafter ihnen die Einkünfte nach nationalem Steuerrecht zurechnet.265 Ist dem so, etwa weil er wie im Beispielsfall 1 die Personengesellschaft ebenfalls als transparent behandelt, sei das Einkommen der Gesellschaft als an die Gesellschafter „gezahlt“ anzusehen,266 sodass diese Anspruch auf die Vorteile des Abkommens haben.267 Ist dem nicht so, etwa weil er wie im Beispielsfall 4 die Personen259 

Ziffer 6.5 zu Art. 1 OECD-MK. Ziffer 5 zu Art. 1 OECD-MK. 261 Ziffer 6.1 zu Art. 1 OECD-MK; ebenso: OECD, The application of the OECD Model Tax Convention to Partnerships, in: OECD, Issues in International Taxation No. 6 (1999), Rn. 130. 262  Ziffer 6.5 zu Art. 1 OECD-MK. 263  Siehe dazu auch: Piltz, Die Personengesellschaften im internationalen Steuerrecht, S. 134. 264 Darstellend: Lüdicke, IStR 2011, 91 (92); Engel/­Hilbert, FR 2012, 394 (396); Gün­ disch, IStR 2005, 829 (831). 265  Ziffer 6.3 zu Art. 1 OECD-MK. 266  Ziffer 6.4 zu Art. 1 OECD-MK. 267  Ziffer 5 zu Art. 1 OECD-MK. 260 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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gesellschaft als intransparent behandelt, könnten weder die Gesellschaft (weil transparent) noch die Gesellschafter (weil in ihrem Staat nicht für die Einkünfte steuerpflichtig) Abkommensvorteile geltend machen.268 Begründet wird diese Unterscheidung damit, dass die Einkünfte der Gesellschaft nicht auf Ebene der Gesellschafter besteuert werden und letzteren somit auch keine Ansprüche aus dem DBA zustünden. Hierin liegt der Unterschied zur h. M., die fordert, dass der Sitzstaat der Gesellschafter aufgrund der Qualifikationsverkettung die Einordnung des Sitzstaates der Gesellschaft übernehmen müsse.269 Nach der OECD sollen diese Grundsätze auch dann gelten, wenn der Quellenstaat die Personengesellschaft als intransparent behandelt und die Personengesellschaft nicht im Quellenstaat ansässig ist (Dreiecksfälle),270 denn der Quellenstaat müsse als Teil des tatsächlichen Zusammenhanges, in dem das DBA anzuwenden ist, berücksichtigen, wie der Sitzstaat die Gesellschaft behandelt.271 In diesem Fall soll der Quellenstaat an die Behandlung der Einkünfte in dem Staat gebunden sein, in dem sich die ansässige und damit abkommensberechtigte Person – Gesellschaft oder Gesellschafter – befindet. Für die Beispielsfälle bedeutet die Auffassung der OECD Folgendes: Im Beispielsfall 1 gilt dasselbe, wie bisher für die anderen Auffassungen dargestellt. Im Beispielsfall 2 ist die Gesellschaft abkommensberechtigt. Gleichwohl darf Deutschland die Gesellschafter besteuern (Quellensteuer). Staat X muss zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung zulassen, dass die Gesellschaft die von den Gesellschaftern gezahlte (deutsche) Quellensteuer auf ihre Körperschaftsteuer anrechnet. Im Beispielsfall 3 findet das DBA schon keine Anwendung, da die Einkünfte aus Staat X stammen, sodass Staat X die Personengesellschaft ungehindert besteuern kann. Die Gesellschafter sind nach Ansicht der OECD nicht abkommensberechtigt, da die Einordnung des Sitzstaates der Gesellschaft (Staat X) maßgebend ist. Da Deutschland aber nicht gehindert ist, die Gesellschafter zu besteuern,272 liegt nach Lösung der OECD in diesem Fall eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung vor.273 Im Beispielsfall 4 seien weder die Gesellschaft noch die Gesellschafter abkommensberechtigt. Die OECD ist der Ansicht, dass Deutschland als Quellenstaat in dieser Konstellation nicht zur

268  Ziffer 6.5 zu Art. 1 OECD-MK; vgl. dazu auch: Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 35e; Ziffer 6.4 zu Art. 1 OECD-MK. 269  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 35b und 35f; Lang, IStR 2011, 1 (2); am Beispiel von Art. 7 OECD-MA auch: Brähler/­Mayer, IStR 2010, 678 (682). 270  Ziffer 6.3 zu Art. 1 und Ziffer 8.8 zu Art. 4 OECD-MK. 271  Ziffer 6.3 zu Art. 1 OECD-MK. 272  Ziffer 6.1 zu Art. 1 OECD-MK. 273  Gündisch, IStR 2005, 829 (831).

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Gewährung der Abkommensvorteile verpflichtet sein könne,274 was im Ergebnis eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung bedeutet. c)  Finanzverwaltung und Bundesfinanzhof

Die Finanzverwaltung,275 die Rechtsprechung276 sowie ein Teil der Literatur277 lehnen eine Qualifikationsverkettung ab und sind im Ergebnis der Ansicht, dass eine Personengesellschaft nicht abkommensberechtigt sei, solange sie aus deutscher Sicht in einem der beiden Vertragsstaaten als steuerlich transparent behandelt wird. In diesem Fall seien nur die hinter der Personengesellschaft stehenden Gesellschafter als ansässige und damit abkommensberechtigte Personen anzusehen.278 Zur Beurteilung der Gesellschaft als steuerrechtlich transparent oder intransparent sei nur die Qualifikation nach dem deutschen Steuerrecht in Form des Rechtstypenvergleichs279 entscheidend,280 unabhängig von der Qualifikation der Personengesellschaft im anderen Staat,281 sodass es keine Rolle spiele, ob die Personengesellschaft ihren Sitz im In- oder Ausland habe. Für den Rechtstypenvergleich komme es auf eine rein steuerrechtliche 274  The Application of the OECD Model Tax Convention to Partnerships, in: OECD, Issues in International Taxation No. 6 (1999), Rn. 64. 275  BMF, Schreiben v. 26.9.2014 – IV B 5 – S 1300/­09/­10003, BStBl. I 2014, S. 1258 Tz. 2.1.1. 276  BFH v. 20.8.2008 – I R 34/­08, BStBl. 2009 II S. 263; v. 25.5.2011 – I R 94/­10, BStBl. II 2014, S. 760; v. 26.6.2013 – I R 48/­12, BStBl. II 2014, S. 367; v. 13.11.2013 – I R 67/­ 12, BStBl. II 2014, S. 172; vgl. auch: Kofler/­Lüdicke/­Simonek, IStR 2014, 349 (350). 277  Rupp, in: Rupp/­K nies/­O tt/­Faust, Internationales Steuerrecht, S. 342. 278  BMF, Schreiben v. 26.9.2014 – IV B 5 – S 1300/­09/­10003, BStBl. I 2014, S. 1258 Tz. 2.1.1 unter Verweis auf Ziffer 6.4 zu Art. 1 OECD-MK. 279 Der Rechtstypenvergleich wurde in Deutschland vom RFH in der Venezuela-Entscheidung (RFH v. 12.2.1930 – VI A 899/­27, RStBl. 1930, S. 444) entwickelt: Pro­ kisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 19a. Ein ausländisches Gebilde sei nach diesem Rechtstypenvergleich als Körperschaft einzuordnen, wenn (1) die Gesellschaft eine zentralisierte Geschäftsführung und Vertretung besitzt, (2) die Haftung beschränkt ist, (3) die Anteile frei übertragen werden können, (4) ein Mindestkapital eingezahlt werden muss und (5) die Gesellschaft rechtsfähig ist: Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 19b. Das Das BMF hat diesbezüglich Hinweise für die Einordnung ausgewählter ausländischer Gesellschaftsformen veröffentlicht: BMF, Schreiben v. 24.12.1999 – IV B 4 – S 1300 – 111/­99, BStBl. I 1999, S. 1076, Anhang I, Tabellen 1 und 2. 280  RFH v. 12.2.1930 – VI A 899/­27, RStBl. 1930, S. 444 (Leitsatz); BFH v. 23.6.1992 – IX R 182/­87, BStBl. II 1992, S. 972; v. 4.4.2007 – I R 110/­05, BStBl. II 2007, S. 521; v. 20.8.2008 – I R 34/­08, BStBl. II 2009, S. 263; v. 25.5.2011 – I R 95/­10, BStBl. 2014 II S. 760; BMF, Schreiben v. 26.9.2014 – IV B 5 – S 1300/­09/­10003, BStBl. I 2014, S. 1258 Tz. 1.2.; siehe auch: Hruschka, IStR 2014, 785 f. 281  BMF, Schreiben v. 26.9.2014 – IV B 5 – S 1300/­09/­10003, BStBl. I 2014, S. 1258 Tz. 2.1.1.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Betrachtungsweise an,282 sodass die zivilrechtliche Anerkennung nach der Sitztheorie auch unter dem Einfluss der EuGH-Rechtsprechung283 irrelevant sei.284 Hat die Personengesellschaft ihren Sitz im anderen Staat, der das Transparenzprinzip anwendet, sei sie wegen Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA bereits nicht abkommensberechtigt,285 unabhängig davon, ob Deutschland die Gesellschaft als intransparent qualifiziert oder nicht. In dieser Konstellation folgen der Bundesfinanzhof und die Finanzverwaltung dem Vorschlag der OECD, also der Einordnung nach dem Sitzstaat.286 Behandelt in dieser Konstellation der Sitzstaat der Gesellschafter die Personengesellschaft als intransparent (umgekehrt hybrid), seien die Gesellschafter aus Sicht dieses Staats bereits nicht steuerpflichtig, sodass es zu keiner Abkommensberechtigung (weder Personengesellschaft noch Gesellschafter) kommen kann. Hat die Personengesellschaft ihren Sitz im anderen Staat und wird sie dort hingegen als intransparent behandelt, in Deutschland wegen des Typenvergleichs aber als transparent, sei sie ebenfalls nicht abkommensberechtigt; hier sei die Einordnung in Deutschland maßgebend.287 Früher hatte das Bundesministerium für Finanzen in seinem Schreiben vom 16.4.2010288 noch vertreten, dass für die Abkommensberechtigung entscheidend sei, ob der Rechtsträger im Ausland selbst steuerpflichtig sei oder nicht.289 Mit Schreiben vom 26.9.2014 hat es diese Ansicht angepasst,290 schließt sich dem 282 

Debatin, BB 1989, Beilage 2 zu Heft 3, 1 (3). v. 9.3.1999, C-212/­ 97 – Centros, Slg. 1999, I-1459. Siehe auch: EuGH v. 5.11.2002, C-208/­00 – Überseering, Slg. 2002, I-9919; v. 30.9.2003, C-167/­01 – ­Inspire Art, Slg. 2003, I-10155; EuGH v. 12.7.2012, C-378/­10 – VALE, EuZW 2012, 621 Rn. 34; zusammenfassend siehe auch: Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 20a. 284 Vgl. EuGH v. 6.12.2007, C-298/­ 05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451 Rn. 27. 285  BFH v. 20.8.2008 – I R 34/­08, BStBl. 2009 II S. 263; BMF, Schreiben v. 26.9.2014 – IV B 5 – S 1300/­09/­10003, BStBl. I 2014, S. 1258 Tz. 4.1.4.2. Vgl. auch: Brähler/­Mayer, IStR 2010, 678 (682). 286  OECD-Partnership-Report Rn. 60; Ziffer 5 zu Art. 1 OECD-MK. 287  BFH v. 25.5.2011 – I R 95/­10, BStBl. II 2014, S. 760; v. 13.11.2013 – I R 67/­12, BStBl. II 2014, S. 172; BMF, Schreiben v. 26.9.2014 – IV B 5 – S 1300/­09/­10003, BStBl. I 2014, S. 1258 Tz. 4.1.4.1.; vgl. auch: BFH v. 26.6.2013 – I R 48/­12, BStBl. II 2014, 367 (für den umgekehrten Fall); Lüdicke, IStR 2011, 91 (92); Kofler/­Lüdicke/­Simonek, IStR 2014, 349 (350); Weggenmann, in: Festgabe Wassermeyer, Beitrag Nr. 12 Rn. 9; Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 1 Rn. 27c. Eine abkommensrechtliche Erstattungsgrundlage findet sich in § 50d Abs. 1 S. 11 EStG. 288  BMF, Schreiben v. 16.4.2010 – IV B 2 – S 1300/­09/­10003, BStBl. I 2010, S. 354. 289  BMF, Schreiben v. 16.4.2010 – IV B 2 – S 1300/­ 09/­10003, BStBl. I 2010, S. 354 Tz. 2.1.2. 290  BMF, Schreiben v. 26.9.2014 – IV B 5 – S 1300/­09/­10003, BStBl. I 2014, S. 1258 Tz. 2.1.2.: „Unbeschadet des Grundsatzes, dass Personengesellschaften selbst nicht abkommensberechtigt sind, ist nur der Personengesellschaft und nicht deren Gesellschaf283 EuGH

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Grunde nach aber weiterhin der Auffassung der OECD in Ziffer 5 zu Art. 1 OECD-MK an. Ausnahmen macht die Finanzverwaltung nur bei abweichenden Regelungen einzelner DBA 291 sowie bei der Entlastung von deutschen Abzugsteuern (§ 50d Abs. 1 S. 11 EStG)292. Die von der Finanzverwaltung und dem Bundesfinanzhof vertretene Auffassung wird in der Literatur für widersprüchlich gehalten und daher stark kritisiert.293 Im Beispielsfall 1 gilt auch für diese Ansicht das bereits für die anderen Auffassungen Gesagte. Im Beispielsfall 2 seien nur die Gesellschafter (aus Sicht von Deutschland) abkommensberechtigt. Staat X besteuert die Personengesellschaft; Deutschland stellt die Gesellschafter von der Quellensteuer frei. Im Bei­ spielsfall 3 seien nur die Gesellschafter abkommensberechtigt, deren Abkommensberechtigung führt für sie jedoch zu keinem Vorteil, da Deutschland für sie das Besteuerungsrecht hat. Es kommt somit zunächst zu einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung. Schüttet die Gesellschaft die Gewinne später an die Gesellschafter aus, stellt dies für die Gesellschafter zwar eine steuerfreie Entnahme dar, Staat X erhebt aber eine Quellensteuer, die wegen der Steuerfreiheit der Entnahme in Deutschland nicht anrechenbar ist.294 Da es also später noch zu einer nachgelagerten juristischen Doppelbesteuerung kommen kann, muss die Lösung über § 50d Abs. 1 S. 11 EStG gesucht werden. Im Beispielsfall 4 sind nur die Gesellschafter (aus Sicht von Deutschland) abkommensberechtigt, da sie aus Sicht von Deutschland die Lizenzeinkünfte erzielen. Da die Gesellschafter im anderen Staat (Staat X) sitzen, hat Staat X das Besteuerungsrecht – Deutschland besteuert nicht –, sodass bis zur Ausschüttung der auf die Lizenzeinkünfte entfallenden Gewinne an die Gesellschafter eine Nichtbesteuerung vorliegt.295 In der Abwandlung zum Beispielsfall 4 sind die Gesellschafter (aus Sicht von Deutschland) nicht abkommensberechtigt, da sie aus Sicht von Deutschland die Lizenzeinkünfte nicht „erzielen“. Aus Sicht von Staat Y sitzen die Gesellschaftern die Entlastung von Abzugsteuern (§ 50d Abs. 1 bis 6 EStG) zu gewähren, wenn die Einkünfte nach dem Recht des betreffenden Vertragsstaates der Personengesellschaft als Einkünfte einer ansässigen Person zugerechnet werden (§ 50d Abs. 1 S. 11 EStG).“ 291  BMF, Schreiben v. 26.9.2014 – IV B 5 – S 1300/­09/­10003, BStBl. I 2014, S. 1258 Tz. 2.1.1.; vgl. auch: Möller, SteuK 2015, 155. 292  BMF, Schreiben v. 26.9.2014 – IV B 5 – S 1300/­09/­10003, BStBl. I 2014, S. 1258 Tz. 2.1.2.; vgl. auch: Möller, SteuK 2015, 155 (155 f.). 293  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 35b; Brähler/­Mayer, IStR 2010, 678 (683); Möbus, GmbHR 2004, 1202 (1204). 294  FG Hamburg, EFG 2007, 96 (Anm. Suchanek, IStR 2007, 654); BMF, Schreiben v. 26.9.2014 – IV B 5 – S 1300/­09/­10003, BStBl. I 2014, S. 1258 Tz. 4.1.4.1.; vgl. auch: Schmidt, IStR 2010, 413 (425). 295  Siehe auch: Lang, IStR 2000, 129 (131).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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ter „in einem anderen Vertragsstaat“ (Deutschland), sodass Deutschland das Besteuerungsrecht hat, Staat Y besteuert nicht. Es liegt ebenfalls eine Nichtbesteuerung vor; werden die Gewinne später ausgeschüttet, stellen sie „andere Einkünfte“ im Sinne des Art. 21 Abs. 1 OECD-MA dar.296 d)  Art. 3 des multilateralen Abkommens

Der Vollständigkeit halber soll auch das MLI betrachtet werden. Es enthält in Art. 3 eine eigene Regelung zu transparenten Rechtsträgern. In Art. 3 Abs. 1 MLI heißt es wie folgt: „Im Sinne eines unter das Übereinkommen fallenden Steuerabkommens gelten Einkünfte, die durch oder über Rechtsträger oder Gebilde bezogen werden, die nach dem Steuerrecht eines der Vertragsstaaten als vollständig oder teilweise steuerlich transparent behandelt werden, als Einkünfte einer in einem Vertragsstaat ansässigen Person, jedoch nur, soweit die Einkünfte für Zwecke der Besteuerung durch diesen Vertragsstaat als Einkünfte einer in diesem Vertragsstaat ansässigen Person behandelt werden.“

Die Einkünfte von Personengesellschaften werden also so behandelt, als wären sie von einer ansässigen Person bezogen worden. Im Prinzip entspricht diese Formulierung der Ansicht der OECD. 5.  Stellungnahme

Die vielen verschiedenen Ansichten in der Rechtswissenschaft über die Behandlung des Problems der transparenten Personengesellschaften führen nicht dazu, eine verlässliche Lösung herbeizuführen. Vielmehr stiften sie Verwirrung und verschleiern den Blick auf den Ursprung des Problems und die Handhabung im konkreten Konfliktfall. a)  „Personen“ nach Art. 3 Abs. 1 lit. a) OECD-MA

Auch wenn die Erörterung des Personenbegriffs für die Erörterung der Abkommensberechtigung kein vorrangiges Problem darstellt, soll der Vollständigkeit halber dennoch ein kurzer Blick auf den Personenbegriff geworfen werden. Hier (und nur hier) ist der h. M. in Teilen zuzustimmen: Der Begriff der „Gesellschaft“ ist nach dem Recht des Staates zu beurteilen, in dem die Personengesellschaft den Ort ihrer Geschäftsleitung hat. 296  BFH v. 20.8.2008 – I R 34/­ 08, BStBl. II 2009, 263. Es liegt keine Dividendenausschüttung vor, da Art. 10 Abs. 1 OECD-MA eine „in einem Vertragsstaat ansässige Gesellschaft“ verlangt, die wegen der Transparenz der Personengesellschaft hier nicht vorliegt; kritisch: Möbus, GmbHR 2004, 1202 (1203); Djanani/­Brähler/­Hartmann, IStR 2004, 481 (484), die jeweils Art. 7 Abs. 1 OECD-MA für einschlägig halten; zu den Folgeproblemen siehe auch: Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 35a.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Allerdings kann diese Auslegung nicht damit begründet werden, dass die Rechtsfähigkeit von Gesellschaften nach dem für sie maßgebenden Zivilrecht im Sitzstaat zu beurteilen sei.297 Vogel argumentiert hier, dass Art. 3 Abs. 2 OECD-MA zwar auf die Steuergesetze verweise, es im deutschen Steuerrecht aber keine eigenständige Definition der juristischen Person gäbe. Daher komme es auf eine zivilrechtliche Betrachtungsweise an.298 Diese Argumentation ist jedoch nicht nachvollziehbar. Denn nur, weil das deutsche Steuerrecht sich der zivilrechtlichen Einordnung bedient, bedeutet es bei der Auslegung von Art. 3 Abs. 2 OECD-MA nicht zugleich, dass stets das Zivilrecht maßgebend sei, ungeachtet des Umstands, dass diese Argumentation bereits nicht für solche Staaten gelten kann, in denen der Begriff der juristischen Person im Steuerrecht eigenständig definiert ist. Vogel weist aber zu Recht darauf hin, dass in Art. 3 Abs. 1 OECD-MA die Begriffe „juristische Person“ und „Rechtsträger, die für die Besteuerung wie juristische Personen behandelt werden“ nebeneinanderstehen.299 Würde es nur auf die die Frage ankommen, ob juristische Personen als solche besteuert werden, wäre der Begriff „juristische Person“ überflüssig; das zweite Merkmal hätte dann zur Bestimmung einer Person ausgereicht. Der Ausdruck „juristische Person“ verweist also auf einen Sprachgebrauch, der über den Bereich des Steuerrechts hinausgeht,300 sodass eine in Deutschland abweichende steuerrechtliche Beurteilung einer ausländischen juristischen Person nichts an dem Merkmal „Gesellschaft“ ändert. Die Frage der Steuerpflicht ist eine Frage des Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA. Hat eine juristische Person ihren Sitz in einem Staat, der sie als intransparent qualifiziert, und wird sie damit direkt besteuert, ist sie in diesem Staat ansässig nach Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA. Hier ist das von der h. M. vorgebrachte Argument richtig, dass ihr diese Ansässigkeit, und die damit zusammenhängende Abkommensberechtigung, versagt bliebe, wenn der andere Staat sie als transparent einstuft und damit das Merkmal der „Gesellschaft“ verneint. Obwohl Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA also eine klare Anordnung trifft, würde es stets einen Zirkelschluss bedeuten, wenn diese klare Anordnung durch eine geteilte Auslegung des Begriffs „Gesellschaft“ ausgehebelt würde. Der Streit über den Personenbegriff hat sich durch die Änderung der Ziffer 3 zu Art. 3 des OECD-MK mit Wirkung ab dem 15.7.2014 etwas abgeschwächt. Nach der nunmehr geltenden Fassung umfasst der Ausdruck „Gesellschaft“ auch andere Rechtsträger, die von den Steuergesetzen des Vertragsstaats, in dem sie ansässig sind, wie juristische Personen behandelt werden („for the pur297 

So aber die Autoren in Fußnote 236. Vogel, IStR 1999, 5 (6). 299  Vogel, IStR 1999, 5 (6). 300  Vogel, IStR 1999, 5 (6). 298 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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poses of the tax law of the Contracting State of which it is a resident“). Entscheidend sind nach dem OECD-MK somit nunmehr die Steuergesetze des Ansässigkeitsstaates der Gesellschaft bei der Bestimmung deren Eigenschaft als „Gesellschaft“, nicht des Gründungsstaates. Die Ansässigkeit meint dabei jene im Sinne des Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA, was sich deutlich aus der englischen Fassung des Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA ergibt, nach der der Begriff „resident of a Contracting State“ eine Person bedeutet, „who, under the laws of that State, is liable to tax therein by reason of his domicile, residence, place of management or any other criterion of a similar nature“. Der Begriff „resident“ wird somit gleichbedeutend mit dem Begriff „ansässig“ verwendet. b)  Abkommensberechtigung und Ansässigkeit der Personengesellschaft

Damit kommt es für die Abkommensberechtigung der Personengesellschaft zunächst auf die Frage an, ob diese zumindest in einem Vertragsstaat ansässig ist. Im Rahmen der Ansässigkeit, und damit der abstrakten Abkommensberechtigung, ist zunächst auf den Inhalt des jeweiligen DBA zu schauen. So erfasst beispielweise das DBA-Belgien 301 nicht nur bei dem Begriff der Gesellschaft ausdrücklich auch die oHG, die KG und die Partenreedereien des in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Rechts (Art. 3 Abs. 1 Nr. 4),302 sondern enthält auch eine explizite Bestimmung für deren Ansässigkeit, sofern deren tatsächliche Geschäftsleitung sich in Deutschland befindet (Art. 4 Abs. 1 S. 1 Hs. 2). Damit kommt es zumindest an dieser Stelle auf die innerstaatliche Einordnung des Personenbegriffs nicht mehr an.303 Im DBA-Spanien ist in Art. 4 Abs. 4 eine Regelung enthalten, die die Ansässigkeit der Gesellschafter in dem Staat fingiert, in dem die Gesellschaft den Ort ihrer Geschäftsleitung hat. Im Protokoll zum DBA-Liberia304 ist in Ziffer 5 geregelt, dass eine nach deutschem Recht errichtete Personengesellschaft für die Zwecke der Artikel 6 bis 22 des Abkommens als eine in der Bundesrepublik Deutschland ansässige Person gilt. Nach Art. 7 Abs. 7 DBA-Japan ist für die Unternehmensgewinne bestimmt, dass eine deutsche OHG oder KG mit Sitz in Deutschland wie eine dort ansässige juristische Person behandelt wird.

301  Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und zur Regelung verschiedener anderer Fragen auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen einschließlich der Gewerbesteuer und der Grundsteuern v. 11.4.1967, BGBl. II 1969, S. 18. 302 Vgl. Debatin, BB 1989, Beilage 2 zu Heft 3, 1 (5). 303  So auch: Wassermeyer, IStR 2010, 683; ders., IStR 2011, 85 (85 f.). 304  Protokoll des DBA Liberia i. d. F. 25.11.1970.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Erst anschließend kann auf die allgemeine Regel nach Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA zurückgegriffen werden,305 die sich die Bestimmung der Ansässigkeit mittels Heranziehung von Kriterien aus dem jeweils nationalen Recht entleiht.306 An dieser Stelle beantwortet Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA keinesfalls die Frage der konkreten Normenanwendung oder schafft eine Lösung für die transparenten Personengesellschaften, sondern filtert allein diejenigen Gesellschaften heraus, die in ihrem Sitzstaat nicht steuerpflichtig und damit nicht ansässig sind. Hier ist die Ansicht verfehlt, die eine Einordnung der Personengesellschaft auch nach dem Recht des Quellenstaats zulassen will.307 Dieser Ansicht ist zwar zuzugeben, dass eine Verteilungsnorm mit abschließender Rechtsfolge (wie Art. 12 Abs. 1 OECD-MA) grundsätzlich die Besteuerung im Staat des Zuflusses gewährleisten soll. Die Einkünfte, die im Quellenstaat entstehen und in einen anderen Staat fließen, sollen nach Ansicht des Quellenstaats dann auch nur bei dem jeweils Berechtigten besteuert werden. Dabei ist es nachvollziehbar, auch die Sicht des Quellenstaats als maßgebend anzusehen, da dadurch zufällige Einkünfteverlagerungen durch die Ansässigkeit in einen Staat mit oder ohne Transparenzprinzip vermieden werden können. Anders ausgedrückt: Wenn der Quellenstaat auf das Besteuerungsrecht verzichten muss, ist es auch verständlich, dass er seine Sichtweise für die Einordnung als steuerlich transparent oder intransparent durchsetzen möchte. Allerdings ist diese Ansicht mit dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECDMA nicht zu vereinbaren. Dort heißt es ausdrücklich, dass eine Person dann in einem Vertragsstaat ansässig ist, wenn sie nach dem Recht dieses Staates dort aufgrund eines Ansässigkeitsmerkmals steuerpflichtig ist. Es kommt also nur darauf an, ob der Sitzstaat der Gesellschaft diese als steuerpflichtiges Rechtssubjekt behandelt. Zwar widerstrebt eine fehlende Abkommensberechtigung aufgrund der Transparenz in Einzelfällen „dem Ziel eines umfassenden Abkommensschutzes“308, dies ist aber hinzunehmen und an anderer Stelle zu korrigieren. Des Weiteren suchen sich die Gesellschafter der Personengesellschaft den Ansässigkeitsstaat ihrer Gesellschaft aus, wobei die Wahl des betreffenden Statuts nebst steuerrechtlicher Einordnung ein maßgebendes Kriterium sein dürfte. Wäre auch die Ansicht des Quellenstaats maßgebend, würde dieser Umstand für die Besteuerung der Gesellschafter dann zu einem unbilligen Ergebnis führen, wenn diese sich in einem Niedrigsteuerland (z. B. Luxemburg) 305 Eine Übersicht, welches DBA die allgemeine Regelung des OECD-MA enthält, findet sich bei Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 4 Rn. 140. 306  Debatin, BB 1989, Beilage 2 zu Heft 3, 1 (2). 307  Nachweise in Fußnote 254. 308  Debatin, BB 1989, Beilage 2 zu Heft 3, 1 (2).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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aufhalten. Der Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA kann auch nicht mit dem Gebot der völkerrechtlichen Vertragstreue überwunden werden, da dieser Grundsatz voraussetzen würde, dass sich die Vertragsstaaten bei der Berufung auf die Transparenztheorie vertragswidrig verhalten würden. Dies ist angesichts des Verweises von Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA auf das jeweils nationale Steuerrecht keineswegs der Fall. Das bedeutet, dass es für die Ansässigkeit einer Personengesellschaft nur auf die Einordnung desjenigen Staates ankommt, in welchem die Personengesellschaft ihren Sitz oder den Ort ihrer Geschäftsleitung hat. In den Beispielsfällen 1 und 4 ist die Personengesellschaft damit nicht ansässig und auch nicht abkommensberechtigt. c)  Konkrete Normenanwendung

Nach Klärung der Abkommensberechtigung, also der Frage, ob grundsätzlich noch auf die Personengesellschaft abgestellt werden kann oder ob es wegen deren fehlender Ansässigkeit nun nur noch auf die Abkommensberechtigung der Gesellschafter ankommt, ist zu beurteilen, ob und wer die jeweiligen Einkünfte im Sinne des Abkommens „erzielt“. Hier liegt der Schwerpunkt des vorliegend zu erörternden Problems, denn – wie eingangs dargestellt – ist die Abkommensberechtigung einer Person irrelevant, wenn der Tatbestand der jeweiligen Verteilungsnorm nicht erfüllt ist.309 Auch hier ist wieder auf das jeweils konkrete DBA zu achten. So findet sich beispielsweise beim DBA-Niederlande310 im Protokoll311 eine Regelung, nach der der Quellenstaat im Grundsatz an die Qualifikation der Gesellschaft im Herkunftsstaat gebunden sein soll. So regelt Nr. I. Abs. 2 S. 1 des Protokolls Folgendes: „Werden Einkünfte oder Gewinne über eine Person erzielt, die nach dem Recht eines der Vertragsstaaten steuerlich transparent ist, gelten diese als von einer in einem Staat ansässigen Person erzielt, soweit sie im Sinne der Steuergesetze dieses Staates wie Einkünfte oder Gewinne einer ansässigen Person behandelt werden.“ 309 

So treffend: Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 1 MA Rn. 27a. zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen v. 12.4.2012, BGBl. II 2012, S. 1414; Jochum, IStR 2014, 1. 311  Protokoll zur Änderung des Abkommens vom 12.4.2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen v. 11.1.2016, BGBl. II 2016, S. 866 i. V. m Bek. v. 1.12.2016, BGBl. II 2012, S. 1352. 310  Abkommen

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Die Ansässigkeit der Personengesellschaft wird durch die Regelung allerdings nicht fingiert,312 sondern vorausgesetzt.313 Vielmehr wird auf die erzielten Einkünfte abgestellt und für diese eine einheitliche Betrachtungsweise vorgegeben.314 Finden sich keine entsprechenden Regelungen im DBA bzw. dessen Protokoll, muss der Streit über die Einkünftezurechnung entschieden werden. aa)  Kritik an der h. M.

Hier ist die h. M., die die Einordnung des Sitzstaates der Personengesellschaft als maßgebend für den Quellenstaat und für die Gesellschafter ansieht, abzulehnen. Sie führt nämlich nicht nur zu dogmatischen Bedenken, sondern auch in Einzelfällen zu unbefriedigenden Ergebnissen. Diese Ansicht verkennt, dass die Frage des „Erzielens“ keine Interpretation nur eines Staates ist. Eine Qualifikationsverkettung, also eine Bindung des Quellen- bzw. Sitzstaates der Gesellschafter an den Sitzstaat der Personengesellschaft, ergibt sich weder aus dem OECD-MA noch aus dem nationalen Steuerrecht. Es ist damit fraglich, aus welcher Rechtsgrundlage die h. M. ihre Ansicht herleitet. Die Qualifikationsverkettung wird von der h. M. schlichtweg behauptet, ohne sie dogmatisch zu begründen. Teilweise wird die Qualifikationsverkettung mit Art. 4 Abs. 1 OECD-MA begründet,315 was jedoch falsch ist. Die Frage der abstrakten Abkommensberechtigung und die Frage, wer die Einkünfte im Sinne der DBA „erzielt“, sind – wie bereits mehrfach dargestellt – zu trennen. Auch die in den Verteilungsnormen vereinzelt geregelte Eingrenzung, dass die Einkünfte „an eine im anderen Vertragsstaat ansässige Person“ fließen, trägt diese Auffassung deshalb nicht. Die h. M. ignoriert dabei die Tatsache, dass der jeweils besteuernde Staat seine eigene Sichtweise zugrunde legen und sich um die Einordnung des anderen Vertragsstaats nicht kümmern wird. So ist es auch im Fall von Art. 1 Abs. 2 OECD-MA 2017, der nunmehr vorschreibt, dass die Einordnung des Sitzstaates maßgebend sein soll und der jeweils transparent qualifizierende Staat die Steuervergünstigungen des betreffenden DBA zu gewähren hat. Ist dieser Staat der Quellenstaat, ist es in diesem Fall völlig unerheblich, ob er die Personengesellschaft als abkommensberechtigt anzuerkennen hat, denn er besteuert nur deren Gesellschafter, nicht der Personengesellschaft selbst. Es ist schlichtweg nicht 312  Jochum, IStR 2014, 1 (2); Wassermeyer/­Kaeser, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 4 Rn. 120. 313  Jochum, IStR 2014, 1 (2). 314  Wassermeyer/­Kaeser, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 4 Rn. 120. 315  Möbus, GmbHR 2004, 1202 (1205).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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praxistauglich, anzunehmen, dass sämtliche DBA-Staaten ihr eigenes Steuerrecht ausblenden und dabei das Steuerrecht des anderen Vertragsstaats als maßgebend anerkennen. Erst wenn die h. M. zu untragbaren Ergebnissen führt, wird hilfsweise die Ansicht des Quellenstaats bzw. des Staats der Gesellschafter bemüht. So ist im Beispielsfall 2 die Gesellschaft zwar in Staat X ansässig und deshalb abkommensberechtigt, sie kann die Vorteile des Abkommens jedoch nicht in Anspruch nehmen, da Deutschland nicht die Gesellschaft, sondern die Gesellschafter besteuert. Die Gesellschafter seien ebenfalls nicht abkommensberechtigt, da sie wegen der Intransparenz der Personengesellschaft die Einkünfte nicht „erzielen“; die Ansicht des Quellenstaats sei nicht relevant. Nach Ansicht der h. M. soll die grundsätzliche Abkommensberechtigung der Gesellschaft in diesem Fall auf die Gesellschafter „durchschlagen“, um so eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung zu vermeiden. Diese Hilfskonstruktion ist rechtlich nicht haltbar. Zunächst ist nicht erkennbar, aus welcher Rechtsgrundlage diese Inanspruchnahme der Abkommensvorteile trotz (angeblich) fehlender Abkommensberechtigung folgen soll;316 dies erklärt auch die h. M. nicht. Es wird nur vorgetragen, dass aus dem Sinn und Zweck des DBA der Abkommensschutz denen vermittelt wird, die „in dem durch die Personengesellschaft gebildeten Erfassungskreis materiell steuerpflichtig sind“.317 Damit wird im Ergebnis nur das konstruiert, was für die Mindermeinung selbstverständlich ist318: Das „Durchschlagen“ der Abkommensberechtigung auf die Gesellschafter wird mit der Transparenz der Personengesellschaft gerechtfertigt. Diese Transparenz ist aber die Qualifikation durch den Quellenstaat, die nun für die Inanspruchnahme der Abkommensvorteile durch die Gesellschafter herangezogen wird. Die h. M. ignoriert hier offenbar, dass nach ihrer Ansicht die Gesellschafter nicht abkommensberechtigt sind. Vielmehr überspringt die h. M. die Frage der Abkommensberechtigung und die Tatbestandserfüllung von Art. 12 Abs. 1 OECD-MA und rettet das Ergebnis mit der Inanspruchnahme der Abkommensvorteile. Eben diese Vorgehensweise ist dogmatisch höchst bedenklich, da für die Inanspruchnahme der Abkommensvorteile (also die Rechtsfolge von Art. 12 Abs. 1 OECD-MA) die Abkommensberechtigung nach Art. 1 OECD-MA gerade Voraussetzung ist. Wenn das jeweils nationale Steuerrecht eine Person besteuert, die die Vorteile des Abkommens trotz ihrer Ansässigkeit (!) (a. A. aber die h. M.) nicht in Anspruch nehmen kann, kann diese grundsätzliche Wertung nicht wieder für den Fall durchbrochen werden, dass sich diese Besteuerung im Einzelfall als unbil316 Ebenso:

Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 1 Rn. 27b. Wicke, Personengesellschaften im Recht der deutschen DBA, S. 96; Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 33a. Siehe auch die Ansichten in Fußnote 241. 318 Ebenso: Wassermeyer, IStR 1998, 489 (492). 317 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

lig erweist. Die Frage der Inanspruchnahme der Abkommensvorteile ist also anderweitig, nämlich im dritten Schritt, zu erörtern: Die Korrektur hat richtigerweise auf Ebene der Rechtsfolge stattzufinden, nicht bereits bei der Frage der Abkommensberechtigung. Ähnliches gilt für Beispielsfall 3. Auch hier seien die Gesellschafter nicht abkommensberechtigt bzw. nach dem (für die h. M. maßgebenden) Recht des Sitzstaats der Gesellschaft nicht diejenigen, die die Einkünfte im Sinne des DBA „erzielen“; das betreffende DBA finde also keine Anwendung. Nach der h. M. dürfe der Sitzstaat der Gesellschafter diese gleichwohl nicht besteuern. Nicht nur, dass auch hier die DBA-Norm, aus der die Versagung des Besteuerungsrecht folgen soll, völlig unklar bleibt – was insoweit nicht überrascht, da keine existiert –, die h. M. ignoriert auch an dieser Stelle das Steuerrecht des Sitzstaats der Gesellschafter. Viel weiter geht hier die OECD. Nach deren Lösung sei der Sitzstaat der Gesellschafter nicht an die Einordnung des Staates der Gesellschaft gebunden.319 Hier wird die wirtschaftliche Doppelbesteuerung definitiv, wenn der Sitzstaat der Gesellschafter an seiner Einordnung festhält320 und die Einkünfte der Personengesellschaft bei den Gesellschaftern weder freistellt noch die ausländische Steuer anrechnet,321 was er ganz sicher tun wird. bb)  Kritik an der Ansicht der OECD

Auch die Ansicht der OECD, die weitestgehend der h. M. in der Literatur entspricht,322 ist abzulehnen. Die durch die OECD vorgenommene Auslegung der DBA ist bei den aufgestellten Ergebnissen nicht immer konsequent. Die OECD löst die aufgeworfenen Fragen offenbar von Fall zu Fall anders, was nicht in allen denkbaren Fällen zum richtigen Ergebnis führt.323 So sei für bestimmte Fallgestaltungen eine Bindung des Ansässigkeitsstaates der Gesellschaft an die Auffassung des Quellenstaates und für andere Fälle eine Bindung des Quellenstaates an die Auffassung des Ansässigkeitsstaates vorgesehen, ohne dass dieses Ergebnis aus dem OECD-MA abgeleitet werden kann.324 319 Ziffer 6.1 zu Art. 1 OECD-MK; siehe auch: Prokisch, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 34b; weitere Nachweise in Fußnote 264. 320  Gündisch, IStR 2005, 829 (831). 321  Vgl. auch: Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 34b. 322  Dies kritisierend: Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 1 MA Rn. 27b. 323  Die Arbeitsgruppe für den OECD-Bericht vom 21.1.1999 (Partnership Report) war sich seinerzeit bewusst, dass sie nur Fälle in typisierter Form untersuchte und nahm selbst nicht in Anspruch, alle denkbaren Probleme im Bereich der Besteuerung gelöst zu heben: Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 1 MA Rn. 28. 324  Wassermeyer, IStR 2011, 85 (90).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Dies zeigt sich am Beispielsfall 4. Nach Auffassung der h. M. und der Mindermeinung sind die Gesellschafter abkommensberechtigt, was im Ergebnis auf eine Nichtbesteuerung hinausläuft.325 Da die OECD aber inkonsequenterweise davon ausgeht, dass die Gesellschafter nicht abkommensberechtigt seien,326 würden diese durch den Quellenstaat (Deutschland) besteuert. Dies führt zu Wertungsproblemen: Würden die Gesellschafter die Einkünfte nicht über eine Personengesellschaft, sondern direkt erzielen, müsste der Quellenstaat die Abkommensvorteile gewähren. Obwohl dies aus seiner Sicht auch mit der Personengesellschaft selbstverständlich ist – denn er qualifiziert diese als transparent – wird er von der Gewährung der Abkommensvorteile aufgrund des Rechts des anderen (!) Staats befreit. Die OECD sieht hier das Ziel der DBA darin, auch Nichtbesteuerungen zu vermeiden.327 Dieses Argument kann jedoch nicht durchgreifen. Zunächst ist es nicht zwingendes Ziel der DBA, Nichtbesteuerungen zu vermeiden, sondern allein Doppelbesteuerungen zu verhindern. Zum anderen greife die Argumentation der OECD zu kurz: Entnehmen die Gesellschafter den bereits durch den Quellenstaat bei ihnen versteuerten Gewinn später aus der Personengesellschaft, stellt dies nach Ansicht ihres Sitzstaats keine steuerfreie Entnahme, sondern Einkünfte nach Art. 21 OECD-MA dar328, die besteuert werden. Es kommt somit zu einer nachgelagerten Doppelbesteuerung. Sieht das Recht ihres Sitzstaates auch noch eine Wegzugsbesteuerung vor, können sie sich dieser Doppelbesteuerung auch nicht durch Wegzug in einen Staat mit Transparenzprinzip entziehen. Hier hat Lüdicke329 zu Recht darauf hingewiesen, dass die „Zweistufigkeit“ der Gewinnbesteuerung nach dem intransparenten Besteuerungskonzept bei Anwendung der abkommensorientierten Auslegung versagt, also auf der Besteuerungsebene der Gesellschaft „stehenbleibt“, weil sich diese Zweistufigkeit im Falle eines späteren Gewinntransfers nicht durchhalten lässt.330

325  Prokisch, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 35f; Lang, IStR 2000, 129 (131); ders., IStR 2011, 1 (2); Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 1 MA Rn. 27 – Beispiel Nr. 7. 326  Ziffer 6.4 zu Art. 1 OECD-MK; The Application of the OECD Model Tax Convention to Partnerships, in: OECD, Issues in International Taxation No. 6 (1999), Rn. 64. 327  OECD, The application of the OECD Model Tax Convention to Partnerships, in: OECD, Issues in International Taxation No. 6 (1999), Rn. 52. 328  Nachweise in Fußnote 296. 329  Lüdicke, IStR 2011, 91 (96). 330  Ebenso: BFH v. 25.5.2011 – I R 95/­10, BStBl. 2014 II S. 760 – Rn. 20.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

cc)  Eigene Ansicht

Richtig ist, die Frage, wer die Einkünfte im Sinne des DBA „erzielt“, nach dem jeweils nationalen Recht der Vertragsstaaten zu beurteilen. Insofern ist der Auffassung Wassermeyers zuzustimmen. Die bisher geschilderten dogmatischen Bedenken ergeben sich hier nicht, da die Rechtsgrundlage im jeweils nationalen Recht zu finden ist; Anknüpfungspunkt ist Art. 3 Abs. 2 OECD-MA. Es ist keinesfalls einsichtig, weshalb die Personengesellschaft bei der Abkommensanwendung eine Art Sperrwirkung für die Gesellschafter oder den Quellenstaat entfalten soll, wenn das DBA auch auf der Ebene der Gesellschafter angewendet werden kann. In diesem Zusammenhang erfordert auch der Zusammenhang nichts Anderes im Sinne des Art. 3 Abs. 2 OECD-MA. Dieser Begriff ist auslegungsbedürftig,331 wobei auf die jeweils konkrete Situation zu achten ist. An dieser Stelle wird die Ansicht der h. M. relevant, dass die abstrakte Abkommensberechtigung der Personengesellschaft zugleich auch die Frage beantworte, wem die Einkünfte zugerechnet werden.332 Der Zusammenhang würde nur etwas anderes ergeben, wenn die Abkommensberechtigung der Personengesellschaft die der Gesellschafter verhindern würde. Eben dieser Umstand träte nur bei der Qualifikationsverkettung ein, welche abzulehnen ist. Art. 3 Abs. 2 OECD-MA ist im Lichte des jeweils zu definierenden Begriffs zu sehen. Sofern die Vertragsstaaten eine voneinander abweichende Sichtweise über die Frage haben, wer die Einkünfte erzielt, erfordert der Zusammenhang schlichtweg nichts Anderes. Vielmehr deutet der Zusammenhang gerade darauf hin, dass jeder Vertragsstaat seine eigene Sichtweise zu Grunde legen will. Art. 3 Abs. 2 OECD-MA bestätigt diesen „Normalfall“ dann lediglich. Die Abkommensberechtigung beantwortet also keineswegs die Frage, wer die Einkünfte erzielt. Auch die Auslegung der Begriffe für den Tatbestand des „Erzielens“ führen nicht zum richtigen Ergebnis. Es könnte zwar argumentiert werden, dass es auf das tatsächliche Beziehen, Zahlen oder Empfangen ankommt, also eine wortlautgetreue Auslegung der Verteilungsnormen vorgenommen wird. Es ist aber zum einen auch unter Annahme der h. M. unstreitig, dass diese Begriffe sich auf das Erzielen von Einkünften im steuerrechtlichen Sinn beziehen.333 Zum anderen würde eine solche Einordnung versagen, wenn beide Staaten das Transparenzprinzip anwenden. Vor diesem Hintergrund ist auch die von der Literatur vorgebrachte Kritik gegenüber der Auffassung der Rechtsprechung und der Finanzverwaltung nicht nachvollziehbar. Da die Finanzverwaltung und die Rechtsprechung im 331 

Dürrschmidt, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 3 Rn. 116b. Nachweis in Fußnote 239. 333  Ziffer 6.4 zu Art. 1 OECD-MK; vgl. auch: Wassermeyer, IStR 1999, 8; Wassermeyer­/­ Düren, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 6 MA Rn. 15. 332 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Fall der hybriden Personengesellschaft (Beispielsfall 3) allein die deutsche Auffassung zu Grunde legen, ignorieren sie im Ergebnis – so die h. M. – die Existenz von Art. 4 Abs. 1 OECD-MA. Denn ist eine Personengesellschaft in einem Staat ansässig, der sie als intransparent behandelt, ist sie nach Art. 4 Abs. 1 OECD-MA abkommensberechtigt. Diese Schlussfolgerung ist keineswegs nachvollziehbar und zeigt einmal mehr, dass die h. M. weder die Bedeutung der Abkommensberechtigung verstanden – nämlich lediglich als eine Art Eintrittsprüfung für die Verteilungsnormen – noch die Verhältnisse in der Praxis zur Kenntnis genommen hat. Denn es steht keineswegs fest, dass die Finanzverwaltung und die Rechtsprechung den Tatbestand von Art. 4 Abs. 1 OECD-MA ignorieren. Letztlich prüfen sie nur die weiter oben dargestellte Prüfungsreihenfolge durch: Ist der Tatbestand von Art. 4 Abs. 1 OECD-MA nicht erfüllt, weil die Personengesellschaft in ihrem Sitzstaat als transparent qualifiziert wird, bedarf es keiner weiteren Prüfung der Verteilungsnormen oder des Personenbegriffs. Deshalb muss auch kein Typenvergleich durchgeführt werden. Ist der Tatbestand von Art. 4 Abs. 1 OECD-MA erfüllt, weil die Personengesellschaft in ihrem Sitzstaat als intransparent qualifiziert, treten Finanzverwaltung und Bundesfinanzhof in die Prüfung der konkreten Abkommensberechtigung ein. Hier tun sie nur das, was die hier vertretene Auffassung stets vorgetragen hat: sie legen bei der Bestimmung des Merkmals „Erzielen“ in den Verteilungsnormen die deutsche Sichtweise zu Grunde, nur, dass dieser Prüfungsschritt so nicht offen benannt wird. Dass sich diese Sichtweise sehr gut vertreten lässt, haben die bisherigen Ausführungen gezeigt, sodass es keineswegs verwundert, dass die Finanzverwaltung das Steueraufkommen unter Vertretung dieser Ansicht sichern will. Vielmehr ist sie hierzu sogar angehalten, anstatt eine Qualifizierung nach ausländischem Steuerrecht vorzunehmen. An dieser Stelle ist einzuräumen, dass es im Ergebnis unerheblich ist, ob der Tatbestand des Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA erfüllt ist, wenn doch auf der nächsten Stufe die jeweils nationale Sichtweise zu Grunde gelegt und die konkrete Abkommensberechtigung beim Merkmal „Erzielen“ aus deutscher Sicht verneint wird. Es sei jedoch erneut in Erinnerung gerufen, dass Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA lediglich eine Ausschlussfunktion hat. Bei der Anwendung des OECD-MA korreliert die Ansässigkeit einer Person in der Regel mit dem Erzielen von Einkünften. Dieser „Normalfall“ kann jedoch bei dem Problem der transparenten Personengesellschaften nicht gelten. Denn bei den hier erörterten Konstellationen fällt die Ansässigkeit einer Person (im OECD-MA definiert) und das Merkmal des „Erzielens“ (im OECD-MA nicht definiert) gerade auseinander. Das übersieht die h. M., wenn sie die Mindermeinung und die Auffassung der Finanzverwaltung bzw. der Rechtsprechung kritisiert. Sie ignoriert schlichtweg die Tatsache, dass Art. 3 Abs. 2 OECD-MA den Prüfungsgang für

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

die Auslegung der nicht definierten Begriffe vorschreibt und dass in der Praxis in der Regel von dieser Vorgabe dadurch Gebrauch gemacht wird, dass die Staaten das Merkmal „Erzielen“ nach dem jeweils nationalen Steuerrecht auslegen werden. Anstatt also eine praktikable Lösung zu finden und die Disharmonie zwischen den einzelnen Auslegungen auf Ebene der Gewährung von Abkommensvorteilen zu lösen (dazu sogleich), hält die h. M. krampfhaft an Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA fest und versucht, das Problem noch vor den jeweiligen Verteilungsnormen auf der Tatbestandsebene anstatt bei den Rechtsfolgen, also der Gewährung von Abkommensvorteilen, zu lösen. Nach der hier vertretenen Auffassung, und auch nach allen anderen Ansichten, führt dies im Beispielsfall 3 dazu, dass eine Doppelbesteuerung nicht zu vermeiden wäre. Obwohl sowohl die Personengesellschaft als auch die Gesellschafter abkommensberechtigt sind, liegt – wie bereits erörtert – in der Regel334 keine vom OECD-MA gesehene Doppelbesteuerungssituation vor. Diese Lösung ist zwar unbefriedigend, trägt aber den Regelungen im OECD-MA Rechnung. Hilfestellung bietet hier der Betriebstättenvorbehalt.335 Die Gesellschafter üben ihre Tätigkeit durch eine im Quellenstaat ansässige Betriebstätte, nämlich die Personengesellschaft, aus. Hier gelten – je nach Einkunftsart – die jeweiligen Regelungen.336 d)  Gewährung der Abkommensvorteile

Sofern beide Beteiligten (Personengesellschaft und Gesellschafter) abkommensberechtigt sind und nach dem jeweils nationalen Recht der beteiligten Vertragsstaaten die Einkünfte erzielen, ist allein die Frage der Gewährung von Abkommensvorteilen entscheidend. Hier vermischt die h. M. den Tatbestand mit den Rechtsfolgen und geht von Vornherein davon aus, dass die konkrete Normenanwendung (wer erzielt die Einkünfte) zugleich auch die konkreten Rechtsfolgen (bei wem und wie wird die Doppelbesteuerung vermieden) auslöst. Diese Vermischung sorgt für Irritationen und Verwerfungen bei der Lösung des Problems, denn sie führt von dem Ergebnis (Abkommensvorteile) zurück zum Tatbestand „Erzielen“. Dabei muss eine Trennung zwischen der Normenanwendung (Anspruch auf die Ab-

334  Eine Ausnahme bilden z. B. Einkünfte aus unbeweglichem Vermögen nach Art. 6 Abs. 1 OECD-MA, die im Belegenheitstsaat besteuert werden können. 335 Ebenso: Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 1 MA Rn. 27 – Beispiel Nr. 18. 336  Dividenden: Art. 10 Abs. 4 S. 1 OECD-MA; Zinsen: Art. 11 Abs. 4 S. 1 OECDMA; Lizenzgebühren: Art. 12 Abs. 3 S. 1 OECD-MA; Andere Einkünfte: Art. 21 Abs. 2 S. 1 OECD-MA.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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kommensvorteile) und Inanspruchnahme der Abkommensvorteile (die Frage der „Anspruchserfüllung“) vorgenommen werden. Die Inanspruchnahme der Abkommensvorteile ist zunächst nichts anderes als die Rechtsfolge, die sich aus der Antwort auf die Frage, wer die Einkünfte „erzielt“, herleitet. Bei den transparenten Personengesellschaften muss diese Rechtsfolge aber auf zwei unterschiedliche Beurteilungen (Quellenstaat und Sitzstaat) und zudem auf zwei Rechtssubjekte (Gesellschaft und Gesellschafter) Anwendung finden. Dies führt, wie Wassermeyer zu Recht erkannt hat,337 zu unbilligen Ergebnissen. Dabei wird ihm nachgesagt, er habe seine Ansicht hinsichtlich des Personenbegriffs geändert.338 Dies ist in dieser Absolutheit nicht richtig, vielmehr hat er lediglich auf der Ebene der Rechtsfolgen, nicht aber auf der Ebene des Tatbestands eine Korrektur vorgenommen, die wertungsmäßig geboten ist: Die beteiligten Staaten müssen denjenigen Sachverhalt unterstellen, der bestünde, wenn der jeweils andere Staat von einer gleichgelagerten Qualifikation ausgegangen wäre.339 Es ist den Vertragsstaaten also untersagt, sich doch auf die Sichtweise des jeweils anderen Staats zu berufen. Diese Harmonisierung ist zwingend, möchte man eine umfassende Lösung erreichen. Betrachtet man hierbei den Methodenartikel, setzt dieser voraus, dass eine in einem Vertragsstaat ansässige Person Einkünfte erzielt und dass diese Einkünfte nach dem DBA im anderen Vertragsstaat besteuert werden können. Das erste Merkmal führt zur konkreten Abkommensberechtigung zurück. Das zweite Merkmal „können nach dem DBA im anderen Vertragsstaat besteuert werden“ setzt zweierlei voraus: zum einen eine Verteilungsnorm mit offener Rechtsfolge und zum anderen die grundsätzliche Besteuerungsmöglichkeit durch den Quellenstaat. Aus Sicht des Ansässigkeitsstaats stellt sich hier die Frage, ob die Merkmale des Methodenartikels erfüllt sind, sodass er auf die Besteuerung (teilweise) verzichten muss. Damit wird wiederum die Frage relevant, aus wessen Sicht zu beurteilen ist, ob der Quellenstaat die Einkünfte grundsätzlich besteuern kann. Richtigerweise muss es auf sein eigenes, nationales Steuerrecht ankommen.340 Das bedeutet nicht, dass der Ansässigkeitsstaat an diese Behandlung im Quellenstaat gebunden ist, jedoch muss er zumindest prüfen, ob das nationale Steuerrecht des Quellenstaats eine Besteuerung der konkreten Einkünfte überhaupt vorsieht, also ob der Quellen337 

Wassermeyer, IStR 2011, 85 (87). Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 32b und Lüdicke, IStR 2011, 91 (92 – Fn 14), jeweils unter Verweis auf Wassermeyer, IStR 2011, 85 (87). 339  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 1 MA Rn. 28 f.; ders., IStR 2010, 683 (684). 340  Wassermeyer, IStR 2010, 683 (683); ders., IStR 2011, 85 (90). 338 So

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

staat zum Ergebnis kommen konnte, dass die Einkünfte nach dem DBA von ihm besteuert werden können.341 6.  Zusammenfassung

Die vorstehende Erörterung fördert das eigentliche Problem bei den transparenten Personengesellschaften zu Tage: Es kommt nur darauf an, wie im Einzelfall bestehende, in der Regel wirtschaftliche Doppelbesteuerungen, vermieden werden können. Dieses Problem wird nur auf der letzten Stufe der konkreten Inanspruchnahme der Abkommensvorteile wirklich beantwortet. Alle anderen Prüfungsschritte schaffen keine Lösung, sie sondern vielmehr nur diejenigen Fälle aus, für die es keine Inanspruchnahme von Abkommensvorteilen geben kann. Dies beginnt mit der abstrakten Abkommensberechtigung nach Art. 1 OECDMA. Der Begriff „Personen“ erfasst nach der letzten Fassung des OECD-MA auch „Personenvereinigungen“ und ist damit bei der Prüfung zumindest aus akademischer Sicht nicht weiter bedeutsam. Die Frage der Ansässigkeit nach Art. 4 Abs. 1 Satz 1 OECD-MA beurteilt sich nach dem jeweils nationalen Recht des Sitzstaates der Person und abstrakt nach der Frage, ob auch im konkreten Steuerfall eine „Normenberechtigung“ gegeben ist. Bei Personengesellschaften kommt es darauf an, ob sie ihren Sitz in einem Staat haben, der sie als Steuersubjekt ansieht (intransparente Besteuerung). Der Tatbestand des Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA, und damit der des Art. 1 OECD-MA, wirkt damit wie ein Sieb, das nicht steuerpflichtige Personengesellschaften aussortiert. Die Gesellschafter, so sie denn natürliche Personen sind, sind stets abkommensberechtigt. Bei der Frage der Normenanwendung ist dann zweistufig zu prüfen: Erstens, ob im konkreten Fall eine Besteuerung der betreffenden Personen vorliegt, die zu einer vom DBA gesehen Doppelbesteuerung führen kann. Zweitens, wenn die erste Frage bejaht wird, aus wessen Sicht zu beurteilen ist, wer die Einkünfte im Sinne der jeweiligen Verteilungsnormen des DBA eigentlich „erzielt“. Hier beurteilt sich die Frage der Einkünfteerzielung nach dem Steuerrecht beider Vertragsstaaten, sodass es Fälle geben mag, in denen beide Personen (Gesellschaft und Gesellschafter) die Einkünfte erzielen. Im Ergebnis müssen die beteiligten Staaten dann denjenigen Sachverhalt unterstellen, der bestünde, wenn der jeweils andere Staat von einer gleichgelagerten Qualifikation ausgegangen wäre. Dadurch kommen die Abkommensvorteile denjenigen Personen zu Gute, die auch ohne die Transparenz der Personengesellschaft Anspruch darauf hätten.

341 

Wassermeyer, IStR 2011, 85 (90).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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B.  Aufteilung der Besteuerungszuständigkeit (Artt. 6 bis 21 OECD-MA) Neben der Abkommensberechtigung kann auch die in den Artt. 6 bis 21 OECD-MA vorgesehene Aufteilung der Besteuerungszuständigkeit zwischen dem Ansässigkeits- und dem Quellenstaat in Einzelfällen Berührungspunkte mit den Grundfreiheiten haben. Grundsätzlich schreiben die Grundfreiheiten den Vertragsstaaten eines DBA nicht vor, wie die Besteuerungszuständigkeit zwischen den Vertragsstaaten aufzuteilen ist.342 Vielmehr ist es Sache der beteiligten Vertragsstaaten, in den einzelnen DBA die jeweiligen Besteuerungsbefugnisse untereinander auszuhandeln und festzulegen. Vereinbaren die Vertragsstaaten im Rahmen der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse bestimmte Anknüpfungsmerkmale nur deshalb, um die Besteuerungszuständigkeit bestimmter Einkünfte zu regeln (beispielsweise Wohnsitz der Person, Ort der Tätigkeit, Belegenheit des Vermögens), sind diese gegenüber den Grundfreiheiten als „neutral“ einzustufen.343 Trotz dieser Neutralität entspricht es ständiger Rechtsprechung des EuGH, dass auch die Aufteilung sowie die damit zusammenhängende Ausübung der Besteuerungszuständigkeit den Anforderungen des Unionsrechts entsprechen müssen: Zwar ist der EuGH grundsätzlich nicht dafür zuständig, in die Gestaltung der Steuersysteme der Mitgliedstaaten einzugreifen und die Besteuerungsbefugnis zwischen den Vertragsstaaten aufzuteilen.344 Er hat jedoch bereits in mehreren Urteilen aus unterschiedlichen Bereichen der Neutralität der Verteilungsnormen mittels seiner umfangreichen Rechtsprechung Grenzen gesetzt und somit in Teilen die originär zwischen den Vertragsstaaten vorzunehmende Aufteilung der Besteuerungszuständigkeit selbst festgelegt. Diese Fragen werden im Folgenden anhand zwei ausgewählter Problemfelder erörtert, der Gewährung von Steuervergünstigungen an beschränkt Steuerpflichtige (I.) und der Entstrickungsbesteuerung (II.).

342 

Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 266; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 104 mit der dort aufgeführten Rechtsprechung des EuGH; Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 106 mwN: Der Grund dafür sei, dass die Grundfreiheiten nicht auf die Lösung bilateral verursachter Diskriminierungen zugeschnitten seien. Wenn bei der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse in den DBA auf bestimmte Kriterien abgestellt werde, seien derartige Anknüpfungsmerkmale, die nur dazu dienen, die Befugnis zur Besteuerung bestimmter Einkünfte zu erteilen, gegenüber den Grundfreiheiten als neutral einzustufen. 343  Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 106 mwN. 344  EuGH v. 28.1.1992, C-204/­90 – Bachmann, Slg. 1992, I-249 Rn. 23.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

I.  Steuervergünstigungen für beschränkt Steuerpflichtige

Der erste betroffene Bereich, der in diesem Zusammenhang dargestellt wird, betrifft die Steuervergünstigungen für beschränkt Steuerpflichtige. Hier entsteht ein Problem bei der Aufteilung der Besteuerungszuständigkeit dann, wenn die nationalen Regelungen an die unbeschränkte und die beschränkte Steuerpflicht für die Gewährung von Steuervergünstigungen jeweils unterschiedliche Rechtsfolgen knüpfen. Grundsätzlich liegt das Besteuerungsrecht für Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen aus unselbstständiger Tätigkeit gemäß Art. 15 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 OECD-MA beim Ansässigkeitsstaat des Steuerpflichtigen. Übt dieser die Arbeit jedoch in einem anderen Staat aus, kann der Tätigkeitsstaat die Einkünfte besteuern (Art. 15 Abs. 1 S. 1 Hs. 2, S. 2 OECD-MA). Die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Vertragsstaaten führt somit dazu, dass der Ansässigkeitsstaat dem unbeschränkt Steuerpflichtigen die Steuervergünstigungen praktisch nicht gewähren kann, weil ihm das Besteuerungsrecht hinsichtlich der Einkünfte aus im Ausland ausgeübter Tätigkeit nicht zusteht. Der Tätigkeitsstaat kann aufgrund der Besteuerungsbefugnis zwar die Steuervergünstigungen gewähren, er muss dies aber nicht, weil der Steuerpflichtige dort beschränkt steuerpflichtig ist. 1.  Überblick

Nach den Regelungen des OECD-MA werden ausländische Einkünfte in der Regel in dem Mitgliedstaat besteuert, in dem sie erzielt werden (Quellenstaat). Ist der Steuerpflichtige in diesem Staat nicht ansässig, wird er dort als beschränkt steuerpflichtig behandelt. Beschränkt Steuerpflichtige werden nur hinsichtlich bestimmter inländischer Einkünfte besteuert, ohne dass ihnen Steuervergünstigungen hinsichtlich ihrer persönlichen und familiären Situation gewährt werden, sodass Steuerpflichtige nur in ihrem Wohnsitzstaat Steuervergünstigungen in Anspruch nehmen können, nicht jedoch in dem jeweiligen ausländischen Staat.345 Das liegt daran, dass die Gewährung der Steuervergünstigungen in der Regel an die Besteuerungsbefugnis nach den jeweiligen nationalen Regelungen anknüpft und mit dieser in einem engen Zusammenhang steht. Da nun nicht mehr das Merkmal der unbeschränkten Steuerpflicht die Besteuerungszuständigkeit zuweist, sondern die Regelungen des jeweiligen DBA, werden die Befugnis zur Besteuerung und die Pflicht zur Gewährung von Vergünstigungen voneinander abgekoppelt. Die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis führt somit mittelbar dazu, dass beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtige ungleich behandelt werden, was insbesondere bei der Gewährung von Steuervergünstigungen zu Verwerfungen führen kann. 345 

Rauch, in: Blümich, EStG, § 1 Rn. 275, 284.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Sofern einige dieses Problem im Rahmen der Abkommensberechtigung einordnen 346 , sei angemerkt, dass diese Diskussion allenfalls Vergünstigungen aus dem jeweiligen DBA betreffen kann, die jedoch nur eine Teilmenge der Vergünstigungen insgesamt darstellen.347 Die Frage der Abkommensberechtigung ist in diesem Zusammenhang nur eine nachgelagerte zur Aufteilung der Besteuerungszuständigkeit, da letztere erst das Problem schafft, dass die Vergünstigungen für Ansässige im Sinne des OECD-MA bei beschränkt Steuerpflichtigen nicht zur Anwendung gelangen können. Wie bereits erwähnt,348 ist es dogmatisch daher richtig, das vorliegende Problem im Rahmen der Aufteilung der Besteuerungszuständigkeit zu erörtern. Eine Differenzierung zwischen beschränkter und unbeschränkter Steuerpflicht an sich wird vom EuGH noch nicht als verbotene verdeckte Diskriminierung angesehen.349 Der Grund dafür ist, dass sich beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtige im Hinblick auf die direkten Steuern in der Regel nicht in einer vergleichbaren Situation befinden, sodass bereits aus diesem Grund keine Beschränkung der Grundfreiheiten vorliegt.350 So stellen die Einkünfte eines Inländers im Ausland meist nur einen Teil seines Gesamteinkommens dar, dessen Schwerpunkt regelmäßig in seinem Wohnsitzstaat und somit im Inland liegt. Beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtige haben somit eine unterschiedlich starke Anbindung an das Inland.351

346 

Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 137. vom EuGH entschiedenen Fälle behandelten jedoch sämtlich nationale Vergünstigungen. 348  Siehe dazu § 6 A. I. 349 Vgl. EuGH v. 11.8.1995, C-80/­ 94 – Wielockx, Slg. 1995, I-2493 Rn. 19; v. 14.12.2006, C170/­ 05 – Denkavit France, Slg. 2006, I-11949 Rn. 24; v. 22.12.2008, C-282/­07  – Truck Center, Slg. 2008, I-10767 Rn. 39; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 115; Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 137; Rauch, in: Blümich, EStG, § 1 Rn. 286 mwN. 350 EuGH v. 11.8.1995, C-80/­ 94 – Wielockx, Slg. 1995, I-2493 Rn. 18; v. 14.2.1995, C279/­93  – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 31 ff.; v. 14.9.1999, C-391/­97 – Gschwind, Slg. 1999, I-5451 Rn. 22; v. 16.5.2000, C-87/­99 – Zurstrassen, Slg. 2000, I-3337 Rn. 21; v. 1.7.2004, C-169/­03 – Wallentin, Slg. 2004, I-6443 Rn. 15; v. 12.12.2002, C-324/­00 – Lankhorst-Hohorst, Slg. 2002, I-11779 Rn. 28; v. 22.12.2008, C-282/­07 – Truck Center, Slg. 2008, I-10767 Rn. 38; v. 5.7.2005, C-376/­03 – D, Slg. 2005, I-5821 Rn. 61: Es verstößt nicht gegen die Grundfreiheiten, wenn eine Vorschrift eines DBA in einer vergleichbaren Situation nicht auf den Staatsangehörigen eines nicht an diesem Abkommen beteiligten Mitgliedstaats erstreckt wird. Insofern liegt keine vergleichbare Situation vor, wenn ein Steuerpflichtiger auf Grund des für ihn geltenden DBA ungünstiger behandelt wird als ein anderer Steuerpflichtiger auf Grund eines anderen DBA, da DBA nur zweiseitig gelten. Vgl. auch: Rödder/­Schönfeld, IStR 2005, 523 (525). 351  Tiede, in: Herrmann/­Heuer/­R aupach, EStG/­KStG, § 1 EStG, Rn. 7. 347 Die

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Grundfreiheitlich relevant wird die aus der Differenzierung folgende Ungleichbehandlung erst dann, wenn sich beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtige in einer vergleichbaren Situation befinden.352 Dies ist dann der Fall, wenn der Steuerpflichtige in seinem Wohnsitzmitgliedstaat keine nennenswerten Einkünfte hat und sein zu versteuerndes Einkommen im Wesentlichen im Beschäftigungsmitgliedstaat erzielt, sodass der Wohnsitzmitgliedstaat nicht in der Lage ist, ihm die Steuervergünstigungen zu gewähren, die ihm aufgrund seiner persönlichen Situation zustünden.353 Der typische Fall sind hier Grenzpendler, die zwar ihre Einkünfte im anderen Staat erzielen, dort aber nicht ansässig sind. Das Besteuerungsrecht liegt in diesem Fall beim Tätigkeitsstaat (Art. 15 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 OECD-MA). In diesem Fall können dem Steuerpflichtigen wegen fehlender Einkünfte in seinem Wohnsitzstaat keine Vergünstigungen gewährt werden. Wegen seiner beschränkten Steuerpflicht erhält er aber auch im Ausland (Tätigkeitsstaat) keine Steuervergünstigungen. 2.  Die Rechtsprechung des EuGH a)  Schumacker

Erstmals hatte sich der EuGH mit dieser Konstellation im Urteil Schumacker grundlegend zu beschäftigen.354 In dem dem Urteil zugrundeliegenden Sach352 EuGH v. 14.2.1995, C-279/­ 93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 30, 37 f.; v. 27.6.1996, C-107/­94 – Asscher, Slg. 1996, I-3089 Rn. 43; Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 137. 353  EuGH v. 14.2.1995, C-279/­93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 36 f.; v. 14.9.1999, C-391/­97  – Gschwind, Slg. 1999, I-5451 Rn. 27 ff.; v. 12.12.2002, C-385/­00 – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 89; v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 33. Zwar erging das Urteil zu nichtselbstständig tätigen, beschränkt steuerpflichtigen Grenzpendlern, die Grundsätze müssten jedoch auch für selbstständige, beschränkt steuerpflichtige Grenzpendler gelten: Waterkamp-Faupel, FR 1995, 224 (228). 354  EuGH v. 14.2.1995, C-279/­ 93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225. Im konkreten Fall ging es um §§ 1 Abs. 4, 49 Abs. 1 Nr. 4, 38b EStG. Der EuGH hatte sich bereits u. a. in den Urteilen Biehl und Werner mit der ungleichen Behandlung von in- und ausländischen Steuerpflichtigen zu befassen. Die diesen Urteilen zugrundeliegenden Sachverhalte unterscheiden sich jedoch vom Sachverhalt im Urteil Schumacker. Im Urteil Biehl (EuGH v. 8.5.1990, C-175/­88 – Biehl, Slg. 1990, I-1779) ging es um die Anwendung einer luxemburgischen Vorschrift auf einen deutschen Staatsangehörigen, der teilweise in Luxemburg tätig war. Nach dieser Vorschrift konnten die einbehaltenen Steuern auf die Löhne und Gehälter zu Lasten eines Arbeitnehmers, der nur während eines Teils des Jahres gebietsansässiger Steuerpflichtiger war, nicht erstattet werden. Die Erstattung wurde somit insbesondere den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten versagt. Für den Fall, dass dieser Steuerpflichtige in Luxemburg keine Einkünfte erzielte, nahm der EuGH eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes an. Im Urteil Werner (EuGH v. 26.1.1993, C-112/­91  – Werner, Slg. 1993, I-429) ging es um einen deutschen Staatsangehörigen, der ausschließlich in Deutschland tätig war und in den Niederlanden wohnte. Der EuGH ent-

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verhalt ging es um einen in Belgien ansässigen, verheirateten Steuerpflichtigen mit belgischer Staatsangehörigkeit, der für einige Monate eine nichtselbstständige Tätigkeit in Deutschland ausübte und damit während dieser Zeit sein gesamtes zu versteuerndes Einkommen ausschließlich in Deutschland (Ausland) erzielte. Sowohl er als auch seine Ehefrau blieben währenddessen in Belgien wohnen. Der belgische Steuerpflichtige war damit in Deutschland beschränkt steuerpflichtig. Gemäß Art. 15 Abs. 1 des DBA zwischen Deutschland und Belgien lag das Besteuerungsrecht des Gehalts beim Beschäftigungsstaat, also bei Deutschland. Aus diesem Grunde wurde der Steuerpflichtige nach dem deutschen Steuerrecht gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 4 lit. a) EStG mit seinen Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit besteuert. Wegen der beschränkten Steuerpflicht wurde der Steuerpflichtige jedoch gemäß § 38b Abs. 1 S. 2 Nr. 1 lit. b) EStG zwingend in die Steuerklasse I eingestuft und konnte somit nicht den Splittingtarif gemäß § 26b EStG für sich und seine Ehefrau in Anspruch nehmen.355 Zudem konnte er nicht von allen steuerlichen Vergünstigungen wie beispielsweise dem Lohnsteuer-Jahresausgleich gemäß §§ 42b, 46 EStG oder der Berücksichtigung seiner persönlichen Lage sowie seines Familienstands (Familienlasten, Ausgaben für Vorsorgeleistungen und andere Faktoren, die allgemein einen Anspruch auf Steuerabzüge und Freibeträge begründen) profitieren.356 Er wurde somit insgesamt einer höheren Steuerbelastung unterworfen als ein unbeschränkt Steuerpflichtiger mit vergleichbaren Einkünften in Deutschland. In Belgien erzielte er keine Einkünfte, sodass die dortigen Entlastungen keine Auswirkungen hatten. Hierin sah der EuGH einen Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Er erkannte eine verdeckte Diskriminierung des Steuerpflichtigen konkret darin, dass dessen persönliche Verhältnisse (z. B. Familienstand, Kinder, Freibeträge etc.) weder im Wohnsitzstaat noch im Quellenstaat berücksichtigt wurden, obwohl sich der beschränkt Steuerpflichtige in einer vergleichbaren Situation wie ein unbeschränkt Steuerpflichtiger mit vergleichbaren Einkünften befunden habe.357 Die Situation des gebietsfremden (beschränkt) Steuerpflichtigen sei schied, dass Deutschland den eigenen Staatsangehörigen, die ihren Wohnsitz im Ausland haben, eine höhere Steuerbelastung auferlegen kann, als einem in Deutschland wohnenden Staatsangehörigen. Mit dem Urteil Schumacker lag dem EuGH nunmehr der „richtige“ Fall vor: Waterkamp-Faupel, FR 1995, 224 (227). 355  EuGH v. 14.2.1995, C-279/­93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 8 ff. 356  EuGH v. 14.2.1995, C-279/­93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 7. 357  EuGH v. 14.2.1995, C-279/­ 93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 38. Vgl. Auch: Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 1953 ff.: Eine Diskriminierung liegt auch dann vor, wenn ein Mitgliedstaat die Rückerstattung zu viel gezahlter Lohn- und Einkommensteuer denjenigen Arbeitnehmern verweigert, die nicht das ganze Jahr im Mitgliedstaat ansässig waren (EuGH v. 8.5.1990, C-175/­88 – Biehl, Slg. 1990, I-1779 Rn. 12 ff.). Auch das

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mit der eines gebietsansässigen (unbeschränkt) Steuerpflichtigen vergleichbar, wenn „der Gebietsfremde […] in seinem Wohnsitzstaat keine nennenswerten Einkünfte hat und sein zu versteuerndes Einkommen im wesentlichen aus einer Tätigkeit bezieht, die er im Beschäftigungsstaat ausübt, sodass der Wohnsitzstaat nicht in der Lage ist, ihm die Vergünstigungen zu gewähren, die sich aus der Berücksichtigung seiner persönlichen Lage und seines Familienstands ergeben“.358 In diesem Fall gehe die Verpflichtung zur Gewährung der Vergünstigungen auf den ausländischen Beschäftigungsstaat über.359 In der Folge bedeute dies, dass der Besteuerungsstaat dem beschränkt Steuerpflichtigen dieselben Steuervergünstigungen gewähren müsse wie einem unbeschränkt Steuerpflichtigen, was jedoch nichts an der Regel ändere, dass es grundsätzlich Sache des Wohnsitzstaates sei, die persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen.360 Diese Schlussfolgerung beziehe sich auf alle steuerlichen Vergünstigungen im Zusammenhang mit der Steuerkraft des Gebietsfremden, die weder im Wohn- noch im Beschäftigungsmitgliedstaat gewährt werden, wobei die Steuerkraft im Übrigen Teil der persönlichen Lage des Gebietsfremden sei.361 Laut EuGH sei eine solche Diskriminierung nicht durch die Kohärenz des Steuersystems gerechtfertigt, da kein Zusammenhang zwischen der Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse und dem Recht, das Welteinkommen Erfordernis eines inländischen Wohnsitzes beider Ehegatten als Voraussetzung des Ehegattensplittings verstößt gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung (EuGH v. 16.5.2000, C-87/­99  – Zurstrassen, Slg. 2000, I-3337 Rn. 20). Eine Ungleichbehandlung liegt auch vor, wenn Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten ihre Beiträge zu Sozialversicherungen nicht steuerlich geltend machen können, falls der Versicherungsträger seinen Sitz im Ausland hat und von dem Mitgliedstaat nicht als gleichwertig anerkannt wird (EuGH v. 28.1.1992, C-204/­90 – Bachmann, Slg. 1992, I-249 Rn. 8 ff.). 358  EuGH v. 14.2.1995, C-279/­ 93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 36; vgl. auch: EuGH v. 14.9.1999, C-391/­97 – Gschwind, Slg. 1999, I-5451 Rn. 27. 359 Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet v. 7.9.2016, C-283/­ 15 Rn. 33 f.; Menhorn, IStR 2002, 15 (17); Henze, ISR 2017, 127 (129): Den zweiten Aspekt, dass ein Tätigkeitsstaat, in dem die wesentlichen Einkünfte erzielt werden, am besten in der Lage sei, die persönliche Steuerkraft eines Steuerpflichtigen zu beurteilen, unterschlagen sowohl der Generalanwalt als auch der Gerichtshof in der Rechtssache X. 360 EuGH v. 14.2.1995, C-279/­ 93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 41: Kann der Herkunftsstaat des Steuerpflichtigen die persönlichen Verhältnisse wegen fehlender Einkünfte nicht berücksichtigen, verlange der Unionsgrundsatz der Gleichbehandlung, dass die persönliche Lage und der Familienstand des gebietsfremden Ausländers zumindest im Quellenstaat gleichwohl in derselben Weise berücksichtigt würden wie bei gebietsansässigen Inländern. 361  EuGH v. 18.7.2007, C-182/­06 – Lakebrink und Peters-Lakebrink, Slg. 2007, I-6705 Rn. 34; v. 18.6.2015, C-9/­14 – Kieback, IStR 2015, 554 Rn. 27; v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 35.

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zu besteuern, bestehe. Deutschland könne sich insofern auch nicht auf verwaltungstechnische Schwierigkeiten berufen, da hier die Amtshilferichtlinie362 greife.363 Letztendlich schreibe die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Ansicht des EuGH die verfahrensrechtliche Gleichbehandlung von gebietsfremden Steuerpflichtigen mit gebietsansässigen Inländern vor.364 Das bedeute, dass auch dem ausländischen Steuerpflichtigen die bestehenden Jahresausgleichsverfahren zu gewähren seien, sodass er vom Lohnsteuer-Jahresausgleich sowie von der Geltendmachung der Werbungskosten, Sonderausgaben sowie außergewöhnlichen Belastungen profitieren können müsse. b)  De Groot

In dem Sachverhalt, der dem Urteil de Groot zugrunde lag, ging es um einen niederländischen Staatsangehörigen, der als Arbeitnehmer bei in den Niederlanden, in Deutschland, in Frankreich und im Vereinigten Königreich ansässigen Gesellschaften tätig war.365 Seine Einkünfte erzielte der Steuerpflichtige somit insgesamt in vier verschiedenen Mitgliedstaaten; seinen Wohnsitz hatte er in den Niederlanden, wo er nennenswerte Einkünfte erzielte. Aufgrund seiner geschiedenen Ehe war der Steuerpflichtige in den Niederlanden zur Leistung von Unterhaltszahlungen verpflichtet. Die betroffenen DBA sahen vor, dass die Einkünfte aus der nichtselbstständigen Tätigkeit im jeweiligen Beschäftigungsstaat besteuert wurden. Die geleisteten Unterhaltszahlungen des Steuerpflichtigen wurden im Ausland wegen der beschränkten Steuerpflicht nicht berücksichtigt. Sie wurden aber auch in den Niederlanden nicht vollständig in Abzug gebracht, da die niederländischen Vorschriften vorsahen, dass zwar die Unterhaltszahlungen sowie der Steuerfreibetrag dem Grunde nach berücksichtigt werden, jedoch nur in Höhe des Verhältnisses, in dem die Einkünfte auch tatsächlich in den Niederlanden erzielt wurden, also nur anteilsmäßig. Im Ergebnis wurde der Steuerpflichtige mit seinen Einkünften sowohl in den Niederlanden als auch im Ausland ungünsti-

362 Richtlinie 77/­ 799/­EWG des Rates v. 19.12.1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern, ABl. Nr. L 336 v. 27.12.1977, S. 15, aufgehoben durch Richtlinie 2011/­16/­EU des Rates v. 15.2.2011, ABl. Nr. L 64 v. 11.3.2011 S. 1. 363  EuGH v. 14.2.1995, C-279/­93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 43 ff.; vgl. auch: EuGH v. 12.4.1994, C-1/­93 – Halliburton, Slg. 1994, I-1137 Rn. 22. 364  EuGH v. 14.2.1995, C-279/­93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 48 ff. 365  EuGH, v. 12.12.2002, C-385/­0 0 – de Groot, Slg. 2002, I-11819. Im konkreten Fall ging es um Art. 3 der niederländischen Besluit voorkoming dubbele belasting 1989.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

ger behandelt als ein Steuerpflichtiger, der ausschließlich inländische Einkünfte erzielte. Hierin sah der EuGH einen Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit, da ein Steuerpflichtiger auf diese Weise abgehalten werde, seine Einkünfte im Ausland zu erzielen.366 Dem Wohnsitzstaat ist es damit verwehrt, die Vergünstigungen nur anteilsmäßig zu gewähren, wodurch eine lediglich proportionale Berücksichtigung nicht zulässig ist. Wie bereits in früheren Urteil wies der EuGH – wenn auch mit leicht abweichender Formulierung – zudem darauf hin, dass der ausländische Beschäftigungsstaat nur dann zur Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation verpflichtet sei, wenn „der Steuerpflichtige sein gesamtes oder nahezu gesamtes zu versteuerndes Einkommen aus einer Tätigkeit bezieht, die er in diesem Staat ausübt, und in seinem Wohnsitzstaat keine nennenswerten Einkünfte hat […].“367 Der dargestellte Verstoß ist nach Ansicht des EuGH nicht gerechtfertigt. Insbesondere könnten sich die Niederlande nicht darauf berufen, dass sie als Wohnsitzstaat die persönliche und familiäre Situation des gebietsanässigen Steuerpflichtigen immerhin proportional berücksichtigten, da auch der Beschäftigungsstaat die Vergünstigungen für den in seinem Hoheitsgebiet zu versteuernden Teil des Einkommens vollständig gewähren müsse.368 Zwar könne der Wohnsitzstaat mittels DBA von seiner Verpflichtung zur vollständigen Berücksichtigung der Vergünstigungen entbunden werden oder von der Erfüllung dieser Verpflichtung absehen, soweit ein oder mehrere Beschäftigungsstaaten (auch ohne ein DBA) in Bezug auf die von ihnen besteuerten Einkünfte Vorteile gewähren, die mit der Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation des Steuerpflichtigen im Zusammenhang stehen.369 Es müsse hierbei jedoch gewährleistet sein, dass die „gesamte persönliche und familiäre Situation [des Steuerpflichtigen] im Ganzen gebührend berücksichtigt wird, unabhängig davon, wie die betreffenden Mitgliedstaaten diese Verpflichtung untereinan366 

EuGH, v. 12.12.2002, C-385/­00 – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 84. v. 12.12.2002, C-385/­00 – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 89; vgl. EuGH v. 14.2.1995, C-279/­93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 36; v. 14.9.1999, C-391/­97 – Gschwind, Slg. 1999, I-5451 Rn. 27; v. 28.2.2013, C-168/­11 – Beker, EuZW 2013, 631 Rn. 56. Im Urteil Beker (EuGH v. 28.2.2013, C-168/­11 – Beker, EuZW 2013, 631) konnte der Steuerpflichtige von den personenbezogenen Abzügen nur dann voll profitieren, wenn seine gesamten Einkünte im Inland erzielt wurden; wurde dagegen ein Teil dieser Einkünfte im Ausland erzielt, wirkten sich die personenbezogenen Abzüge faktisch nur auf den inländischen Teil der Einkünfte aus (Schlussanträge des Generalanwalts Paolo Mengozzi v. 12.7.2012, C-168/­11 Rn. 34). 368  EuGH, v. 12.12.2002, C-385/­ 00 – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 98; EuGH v. 28.2.2013, C-168/­11 – Beker, EuZW 2013, 631 Rn. 56. 369  EuGH, v. 12.12.2002, C-385/­0 0 – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 99 f. 367  EuGH,

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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der aufgeteilt haben“.370 Der Steuerpflichtige muss somit die Vergünstigungen in voller Höhe geltend machen können, auch wenn er sein Einkommen im EU-Ausland erzielt. c)  Kommission/­Estland

In dem dem Urteil Kommission/­Estland zugrundeliegenden Sachverhalt ging es um eine in Finnland ansässige, estnische Rentnerin, die in Finnland und Estland jeweils eine Rente erhielt und zwar zu einem annähernd gleichen Betrag.371 Der Gesamtbetrag der beiden Renten überschritt nur leicht die im estnischen Einkommensteuergesetz vorgesehene Grundfreibetragsgrenze. Die in Estland bezogene Rente unterlag insofern der estnischen Einkommensteuer; in Finnland war die Steuerpflichtige aufgrund des geringen Gesamteinkommens nicht steuerpflichtig. Die estnischen Vorschriften sahen zwar vor, dass auch beschränkt Steuerpflichtige von den vorgesehenen Freibeträgen profitieren können, allerdings nur dann, wenn sie mindestens 75 % ihrer steuerpflichtigen Einkünfte während eines Veranlagungszeitraums in Estland erzielt haben. Da die Steuerpflichtige in Finnland ansässig, und somit beschränkt steuerpflichtig, war und ihre Renteneinkünfte nicht zu mindestens 75 % in Estland erzielte, wurde ihr die Gewährung des Freibetrags versagt, sodass die in Estland bezogene Rente vollständig der Einkommensteuer unterlag, obwohl das Einkommen insgesamt nur leicht höher war als der Grundfreibetrag. Nach Ansicht des EuGH verstößt die estnische Vorschrift gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Unter Verweis auf das Urteil Wallentin372 stellte der EuGH fest, dass die persönlichen Verhältnisse und der Familienstand der Steuerpflichtigen auch im vorliegenden Fall weder im Wohnsitzstaat noch in den Quellenstaaten berücksichtigt wurden.373 In einer solchen Situation verlange der Gemeinschaftsgrundsatz der Gleichbehandlung, dass der Quellenstaat diese Verhältnisse in derselben Weise berücksichtige wie bei den ansässigen Inländern.374 Dies gelte auch in einer Situation wie der vorliegenden, in der es nach dem Steuerrecht des Wohnsitzstaates (Finnland) wegen der Gewährung des Grundfreibetrags keine steuerpflichtigen Einkünfte gibt.375 Der Umstand,

370 

EuGH, v. 12.12.2002, C-385/­00 – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 101. EuGH, v. 10.5.2012, C-39/­10 – Kommission/­Estland, IStR 2012, 466. Im konkreten Fall ging es um § 28 des estnischen Einkommensteuergesetzes. 372  EuGH, v. 1.7.2004, C-169/­03 – Wallentin, Slg. 2004, I-6443 Rn. 17 f. 373  EuGH, v. 10.5.2012, C-39/­10 – Kommission/­Estland, IStR 2012, 466 Rn. 53. 374  EuGH, v. 1.7.2004, C-169/­03 – Wallentin, Slg. 2004, I-6443 Rn. 21. 375  EuGH, v. 10.5.2012, C-39/­10 – Kommission/­Estland, IStR 2012, 466 Rn. 53 ff. 371 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

dass ein Steuerpflichtiger fast 50 % seiner Gesamteinkünfte im Wohnsitzstaat erzielt, ändere nach Ansicht des EuGH nichts an diesem Ergebnis.376 Damit widerspricht der EuGH seinem bisherigen Grundsatz, nach dem der Wohnsitzstaat den Grundfreibetrag nur seinen inländischen Steuerpflichtigen vorbehalten darf, weil der Grundfreibetrag den Steuerpflichtigen ein unbesteuertes Existenzminimum sichert.377 Der Verstoß ist nach Ansicht des EuGH nicht gerechtfertigt. Estland könne sich nicht darauf berufen, dass es sich bei der Schaffung der streitigen Rechtsvorschrift an die Empfehlungen der Europäischen Kommission gehalten habe, denn gemäß Art. 288 UAbs. 5 AEUV sind Empfehlungen nicht verbindlich,378 sodass die vorliegende Empfehlung der Feststellung eines Verstoßes gegen die Verpflichtungen aus Art. 45 AEUV nicht entgegensteht. d)  X

In dem Urteil X hat der EuGH seine Rechtsprechung in Sachen Schumacker weiterentwickelt und ergänzt.379 Die zuvor zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ergangenen Urteile ließen sich ebenfalls auf die im Urteil betroffene Niederlassungsfreiheit übertragen.380 In dem zugrundeliegenden Sachverhalt wohnte der betroffene Steuerpflichtige im Zeitpunkt der Besteuerung in seiner Eigentumswohnung in Spanien, wo er über keine Einkünfte verfügte. Seine Einkünfte erzielte er vielmehr zu 60 % in den Niederlanden und zu 40 % in der Schweiz, jeweils aus einer Mehrheitsbeteiligung an einer Gesellschaft. Nach den jeweiligen DBA wurden die erzielten Einkommen im jeweiligen Beschäftigungsstaat besteuert. Die streitigen niederländischen Vorschriften sahen vor, dass unter anderem „steuerpflichtige Einkünfte aus Arbeit und Wohnung“ der Einkommensteuer unterliegen. Handelte es sich bei der Wohnung um Eigentum, wurde diese – insbesondere aufgrund ersparter Miete – als „Vor-

376 

EuGH, v. 10.5.2012, C-39/­10 – Kommission/­Estland, IStR 2012, 466 Rn. 54 f. v. 12.6.2003, C-234/­01 – Gerritse, Slg. 2003, I-5933 Rn. 48; v. 1.7.2004, C169/­03  – Wallentin, Slg. 2004, I-6443 Rn. 19. 378  EuGH v. 10.5.2012, C-39/­10 – Kommission/­Estland, IStR 2012, 466 Rn. 63 ff. Siehe dazu § 3 B. I. 379  EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307. Im konkreten Fall ging es um Art. 2.3 lit. a), 2.4, 3.120 Abs. 1 des niederländischen Wet Inkomstenbelasting 2001. 380  EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 36; v. 11.8.1995, C-80/­94 – Wielockx, Slg. 1995, I-2493 Rn. 18; v. 27.6.1996, C-107/­94 – Asscher, Slg. 1996, I-3089 Rn. 41 ff.; v. 28.2.2013, C-425/­11 – Ettwein, BStBl. II 2013, S. 896 Rn. 46 f.; vgl. auch: Kaefer/­Saß, DB 1995, 642 (644); Rädler, DB 1995, 793 (796); Müller, DStR 1995, 585 (588). 377 EuGH

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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teil“ behandelt.381 Von diesem „Vorteil“ konnten bestimmte Kosten, wie beispielsweise Darlehenszinsen, abgezogen werden, sodass hierdurch negative Einkünfte entstehen konnten. Diese Abzüge konnten allerdings nur Einwohner der Niederlande geltend machen, sodass beschränkt Steuerpflichtige von dieser Vergünstigung ausgeschlossen waren.382 Da der Steuerpflichtige seinen Wohnsitz in Spanien hatte, war er in den Niederlanden lediglich beschränkt steuerpflichtig, sodass er die ihm entstandenen Kosten seiner in Spanien belegenen Eigentumswohnung steuerlich nicht abziehen konnte. Auch in dieser Konstellation wurde die persönliche und familiäre Situation des Steuerpflichtigen weder vom Wohnsitzstaat (aufgrund fehlender Einkünfte dort) noch von den beiden Tätigkeitsstaaten (aufgrund der beschränkten Steuerpflicht) berücksichtigt. Nach Ansicht des EuGH verstoßen die niederländischen Vorschriften damit gegen die Niederlassungsfreiheit.383 Der in diesem Zusammenhang entscheidende Unterschied zum Sachverhalt aus dem Urteil Schumacker ist, dass der Steuerpflichtige sein gesamtes Einkommen nicht in einem einzigen, sondern in zwei ausländischen Quellenstaaten erzielte. Dieser Umstand habe jedoch keine Auswirkungen auf die Anwendung der Grundsätze, die bereits aus dem Urteil Schumacker hervorgehen.384 Denn das entscheidende Kriterium sei, dass es einem Staat wegen nicht ausreichender steuerpflichtiger Einkünfte nicht möglich sei, die persönliche und familiäre Situation des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen, während eine solche Berücksichtigung anderswo aufgrund ausreichender Einkünfte grundsätzlich möglich sei.385 Auf mögliche Rechtfertigungsgründe ging der EuGH nicht ein, sodass es bei der Feststellung einer Diskriminierung und damit einem Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit blieb. Hinsichtlich des Umfangs der zu gewährenden Vergünstigungen hat der EuGH klargestellt, dass sich die im Urteil Schumacker entwickelte Rechtsprechung auf alle steuerlichen Vergünstigungen im Zusammenhang mit der Steuerkraft des Gebietsfremden bezieht.386 Die Steuerkraft des Gebietsfremden erge381 

EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 9. EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 6. 383  EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 33; v. 14.2.1995, C-279/­93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 36. 384  EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 42. 385  EuGH v. 9.2.2017, C-283/­ 15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 39 ff.; v. 12.12.2002 – de Groot, C-385/­00, Slg. 2002, I-11819 Rn. 93; Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet v. 7.9.2016, C-283/­15 Rn. 47 ff. 386 EuGH v. 9.2.2017, C-283/­ 15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 35; vgl. auch: EuGH v. 18.6.2015, C-9/­14 – Kieback, IStR 2015, 554 Rn. 27; v. 18.7.2007, C-182/­06 – Lake­ 382 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

be sich hierbei aus der Berücksichtigung seiner Gesamteinkünfte sowie seiner persönlichen Lage und seines Familienstands.387 Im Gegensatz zu den persönlichen Abzügen gelte das verfahrensrechtliche Diskriminierungsverbot unabhängig vom Verhältnis der inländischen Einkünfte zu den Gesamteinkünften.388 Zudem dürfte der jeweilige Staat nur die Vergünstigungen gewähren müssen, die in seinem Steuersystem vorgesehen sind. Ein Tätigkeitsstaat ist also nicht verpflichtet, eine Vergünstigung zu gewähren, die er selbst nicht auch seinen Inländern gewährt.389 Für die Aufteilung der sich aus der Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation des Steuerpflichtigen ergebenden Lasten unter den Quellenstaaten bezieht sich der EuGH insbesondere auf seine Feststellungen im Urteil de Groot. Im vorliegenden Fall müsse dem Steuerpflichtigen somit erlaubt werden, sein Recht auf Abzug negativer Einkünfte bei jedem Tätigkeitsmitgliedstaat (hier: Niederlande) geltend zu machen, der diese Art der steuerlichen Vergünstigung gewährt, und zwar im Verhältnis zu den in den einzelnen Mitgliedstaaten jeweils erzielten Anteilen seiner Einkünfte390. Dabei obliege es dem Steuerpflichtigen, den zuständigen nationalen Verwaltungen alle Informationen zu seinen Welteinkünften zukommen zu lassen, die es ihnen erlauben, dieses Verhältnis zu bestimmen.391 An dem dargestellten Ergebnis ändere sich auch nichts, wenn der Steuerpflichtige – wie im vorliegenden Sachverhalt – einen Teil seiner Einkünfte in einem Drittstaat erzielt.392 brink und Peters-Lakebrink, Slg. 2007, I-6705 Rn. 34; v. 16.10.2008, C-527/­06 – Renne­ berg, Slg. 2008, I-7735 Rn. 63: Die Steuerkraft sei im Übrigen Teil der persönlichen Lage des Gebietsfremden; a. A.: Lehner/­Reimer, IStR 2005, 542 (544); Schmidt-Heß, IStR 2017, 549 (550): Beschränkt Steuerpflichtige seien im Quellenstaat jedenfalls hinsichtlich objektiver Besteuerungsmerkmale (Steuertatbestand, Ermittlung der steuerlichen Bemessungsgrundlage, Steuertarif), die im Zusammenhang mit den im Quellenstaat erzielten Einkünften stehen, mit unbeschränkt Steuerpflichtigen gleichzustellen, sodass sich die Unvergleichbarkeit daher auf solche Besteuerungsmerkmale beschränke, die den persönlichen Lebensumständen zuzurechnen sind. Für beschränkt Steuerpflichtige, die nicht in der Schumacker-Situation sind, sei es somit von entscheidender Bedeutung, ob eine steuerliche Regelung des Quellenstaates zu den objektiven Besteuerungsmerkmalen zählt, oder ob sie der Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse, des Familienstands oder der Gesamtsteuerkraft diene. 387  EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 30. 388  Rädler, DB 1995, 793 (794). 389  So auch: Henze, ISR 2017, 127 (130 f.). 390  EuGH v. 9.2.2017, C-283/­ 15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 48 f.: „Tätigkeitsmitgliedstaat“ ist insoweit jeder Mitgliedstaat, der zur Besteuerung derjenigen Einkünfte aus der Tätigkeit eines Gebietsfremden befugt ist, die in seinem Gebiet erzielt worden sind, unabhängig davon, an welchem Ort die Tätigkeit konkret ausgeübt wird. 391  EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 48. 392  EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 50 ff.

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3.  Meinungen der Literatur

Auch die Literatur hat sich mit dem Thema der erforderlichen Gleichbehandlung von beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtigen befasst. Die grundsätzliche Unterscheidung von beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtigen wird dabei nicht in Frage gestellt.393 Der Auffassung des EuGH, dass sich beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtige in der Regel nicht in einer objektiv vergleichbaren Situation befänden, widerspricht die Literatur zwar nicht394, die vom EuGH aufgestellten Voraussetzungen für eine vergleichbare Lage sind aber großer Kritik ausgesetzt. So kenne die Rechtsprechung erstens keine Abstufungen. Entweder die Voraussetzungen zur vollen Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse lägen im Quellenstaat vor oder eben nicht.395 Zweitens sei fraglich, welche Rechtsfolge sich ergebe, wenn die Einkünfte des Steuerpflichtigen in seinem Wohnsitzstaat nicht nennenswert sind, sein Einkommen aber auch im Ausland die jeweilige Schwelle der Wesentlichkeit im Quellenstaat nicht überschreitet, weil er es in mehreren Staaten erzielt.396 Der EuGH habe hier lange Zeit den Eindruck erweckt, diese Konstellation nicht in die Schumacker-Rechtsprechung einbeziehen zu wollen, freilich ohne dies ausdrücklich festzustellen.397 Teilweise wird sogar vertreten, dass der Steuerpflichtige in diesem Fall seine persönlichen Verhältnisse in keinem Staat berücksichtigen könne.398 Drittens seien die Schwellenwerte der „nicht nennenswerten“ Einkünfte und des „wesentlichen“ bzw. des „gesamten oder nahezu gesamten“ zu versteuernden Einkommens im Quellenstaat nicht eindeutig bestimmbar.399 Noch vor der Entscheidung in Rechtssachen X wurde teilweise von einem festen Schwellenwert von 90 % für das Vorliegen des „wesentlichen“ Einkommens im Quellenstaat ausgegangen.400 Dieser Wert findet sich auch in § 1 Abs. 3 S. 2 EStG wieder. Danach wird für die Behandlung als unbeschränkt Steuerpflichti393 Vgl.

Saß, DB 1992, 857 (860). Kaefer/­Saß, DB 1995, 642 (643). 395  Schmidt-Heß, IStR 2017, 549 (550); Schnitger, IStR 2002, 478 (479); Menhorn, IStR 2002, 15 (17); Prechtl, IStR 2003, 586. 396  Kaefer/­S aß, DB 1995, 642 (644 f.). 397  Schmidt-Heß, IStR 2017, 549 (551). 398  Menhorn, IStR 2002, 15 (17). 399  Schmidt-Heß, IStR 2017, 549 (550); Schnitger, IStR 2002, 478 (479). 400  Menhorn, IStR 2002, 15 (17); a. A.: Kippenberg, IStR 2017, 190 (194); Wienbracke, EuZW 2017, 307 (312); Lehner/­Reimer, IStR 2005, 542 (544). Für das Steueraufkommen dürfte es belanglos sein, für welchen Grenzwert der Gesetzgeber sich entscheidet; der niedrigere Schwellenwert würde jedoch ein Signal setzen und zeigen, dass die Freizügig394 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

ger vorausgesetzt, dass die Einkünfte im Kalenderjahr mindestens 90 % der deutschen Einkommensteuer unterliegen (sog. relative Wesentlichkeitsgrenze) oder die nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte den Grundfreibetrag nach § 32a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EStG nicht übersteigen (sog. absolute Wesentlichkeitsgrenze).401 Diese Vorschrift wurde damals als Reaktion auf die Rechtsprechung des EuGH im Urteil Schumacker neu gefasst.402 Die Literatur schloss aus dieser Regelung zum Teil, dass die Grenze für „nennenswerte“ Einkünfte über 10 % liege.403 Teilweise werden konkrete Schwellenwerte auch ganz abgelehnt. Aufgrund der fehlenden Vorgaben des EuGH zu möglichen Schwellenwerten hat die Literatur in diesem Zusammenhang zum Teil bereits vor einigen Jahren eine fraktionierte Besteuerung und damit verbunden eine anteilige Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse als Lösung vorgeschlagen404. Danach solle jeder Quellenstaat verpflichtet sein, die persönlichen Verhältnisse des beschränkt Steuerpflichtigen entsprechend dem Verhältnis der im jeweiligen Quellenstaat erzielten Einkünfte zu den Gesamteinkünften anteilig zu berücksichtigen.405 Hier sei es unerheblich, zu welchem Anteil der Steuerpflichtige sein Gesamteinkommen im Quellenstaat erzielt.406 Es bestehe insoweit eine Verknüpfung mit der vorgenommenen Aufteilung der Steuerhoheit.407 Jedoch solle jeder Quellenstaat nur die seinem Steuersystem immanenten Vergünstigungen gewähren

keit in Europa auch bei der Einkommenbesteuerung mehr sei als eine Worthülse: Kaefer/­ Saß, DB 1995, 642 (650). 401  Rauch, in: Blümich, EStG, § 1 Rn. 243; Heinicke, in: Schmidt, EStG, § 1 Rn. 54; Gosch, in: Kirchhof, EStG, § 1 Rn. 22; Tiede, in: Herrmann/­Heuer/­Raupach, EStG/­ KStG, § 1a EStG Rn. 5; zu § 1a Abs. 1 Nr. 1 EStG siehe: EuGH v. 12.7.2005, C-403/­03 – Schempp, Slg. 2005, I-6421 Rn. 36. 402  Jahressteuergesetz 1996 v. 11.10.1995, BGBl. I 1995, S. 1250; Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses, BT-Drs. 13/­1558, S. 148; Rauch, in: Blümich, EStG, § 1 Rn. 18. 403  Kippenberg, IStR 2017, 190 (194). 404 Vgl. Prechtl, IStR 2003, 586 (588): In Irland findet das System der fraktionierten Besteuerung schon seit einiger Zeit Anwendung. Beschränkt Steuerpflichtigen wird dort entsprechend dem Einkommensteuersystem bis zum Erreichen der 75 %-Grenze ein anteiliger Abzug von personenbezogenen Ausgaben gewährt, darüber hinaus steht ihnen der volle Abzug zu. 405  Schnitger, IStR 2002, 478 (479); Saß, DB 1992, 857 (860); Schmidt-Heß, IStR 2017, 549 (550); dieser in der Entscheidung X anklingende Ansatz sei vom EuGH neu entwickelt worden: Schmidt-Heß, IStR 2017, 549 (553); a. A.: Menhorn, IStR 2002, 15 (17 f.). 406  Prechtl, IStR 2003, 586 (588); Kaefer/­S aß, DStR 1995, 326 (329); dies., DB 1995, 407 (410). 407  Henze, ISR 2017, 127 (130).

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müssen, da nicht erwartet werden könne, dass ein Quellenstaat die persönlichen Abzüge des Wohnsitzstaates quasi ersatzweise gewährt.408 Der Lösungsvorschlag einer fraktionierten Besteuerung wird jedoch von einem anderen Teil der Literatur abgelehnt.409 So sei der Nachteil der fraktionierten Besteuerung insbesondere der erhebliche Verwaltungsaufwand. Der Steuerpflichtige müsse in jedem Quellenstaat sowohl Angaben zu seinen Gesamteinkünften machen, um nachzuweisen, dass er in seinem Wohnsitzstaat keine nennenswerten Einkünfte hat, als auch Angaben zur Verteilung seines Gesamteinkommens auf die Quellenstaaten.410 4.  Stellungnahme

Grundproblem der vom EuGH entschiedenen und von der Literatur besprochenen Fälle ist, dass das betreffende DBA durch die Zuweisung des Besteuerungsrechts mittelbar dafür sorgt, dass die persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen in bestimmten Fällen nach dem jeweils nationalen Steuerrecht nicht berücksichtigt werden. Denn die innerstaatlichen Vorschriften knüpfen die Gewährung von Steuervergünstigungen regelmäßig an das Vorliegen von inländischen Einkünften und damit an die Befugnis, diese Einkünfte zu besteuern. Dem Steuerpflichtigen entsteht aus Sicht des Rechts zunächst keine Benachteiligung, da er seiner Rechte auf Inanspruchnahme der Steuervergünstigungen in seinem Wohnsitzstaat nicht beraubt wird. Dies stellt auch der EuGH fest, indem er statuiert, dass es grundsätzlich Sache des Wohnsitzstaates sei, die Steuervergünstigungen zu gewähren, da dieser die persönliche Lage des Steuerpflichtigen am besten beurteilen kann; zwischen dem Steuerpflichtigen und dem betreffenden Staat besteht eine persönliche Verbindung.411 Der Beschäftigungsstaat besteuert den Steuerpflichtigen hingegen objektiv allein hinsichtlich der Einkünfte, deren Quelle sich in seinem Hoheitsgebiet befindet. Da der Steuerpflichtige zu diesem Staat keine andere Beziehung hat, als die dort ausgeübte wirtschaftliche Tätigkeit, berücksichtigt dieser die persönlichen Verhältnisse daher regelmäßig nicht.412 Werden im Wohnsitzstaat aber gerade keine Einkünf408 

Schnitger, IStR 2002, 478 (479); Henze, ISR 2017, 127 (130). Ismer, IStR 2013, 297 (302); Menhorn, IStR 2002, 15 (17 f.). 410  Henze, ISR 2017, 127 (130). 411  EuGH v. 14.2.1995, C-279/­93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 32; v. 12.12.2002, C-385/­00  – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 90; v. 27.6.1996, C-107/­ 94 – Asscher, Slg. 1996, I-3089 Rn. 44; v. 14.9.1999, C-391/­97 – Gschwind, Slg. 1999, I-5451 Rn. 22, 24; v. 16.5.2000, C-87/­99 – Zurstrassen, Slg. 2000, I-3337 Rn. 21; Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger v. 22.11.1994, C-279/­93 Rn. 36; Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger v. 20.6.2002, C-385/­00 Rn. 37 f. 412  Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger v. 22.11.1994, C-279/­93 Rn. 37. 409 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

te erzielt, können sich die persönlichen Verhältnisse auch dort nicht steuermindernd auswirken, sodass der Steuerpflichtige regelmäßig finanzielle Nachteile erleiden wird. In diesem Zusammenhang entsteht oftmals ein negativer Kompetenzkonflikt zwischen dem Wohnsitzstaat und dem Beschäftigungsstaat:413 Keiner der beteiligten Staaten fühlt sich hierbei verantwortlich für die Gewährung der Steuervergünstigungen. Entscheidend für den Ursprung des Problems ist, dass der Steuerpflichtige in seinem Sitzstaat keine oder „keine nennenswerten“ Einkünfte hat. Dadurch wird ihm faktisch verwehrt, die ihm unbenommenen Rechte auf Steuervergünstigungen tatsächlich zur Wirkung gelangen zu lassen. Diese Konstellation kann freilich zu einer Diskriminierung und damit zu einer Verletzung von Grundfreiheiten führen, was umso gravierender ist, als diese Konstellation eigentlich eine ganz typische im Rahmen der Niederlassungs- oder Arbeitnehmerfreizügigkeit darstellt. Soweit der EuGH in den besprochenen Urteilen insgesamt klargestellt hat, dass eine Gleichbehandlung von beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtigen grundsätzlich erforderlich ist, ist dieses Ergebnis selbstverständlich und somit kaum erwähnenswert. Sowohl die Arbeitnehmerfreizügigkeit als auch die Niederlassungsfreiheit schreiben gerade vor, dass Steuerpflichtige nicht davon abgehalten werden dürfen, ihre Tätigkeiten auch im Ausland auszuüben und damit zusammenhängend dort auch ihre Einkünfte zu erzielen. Dass das Wegfallen von Steuervergünstigungen eine Erwerbstätigkeit im Ausland faktisch unterbindet, behindert oder weniger attraktiv machen kann, liegt – vor dem Hintergrund der bereits aufgezeigten Typenhaftigkeit der Konstellation – auf der Hand. a)  Vorliegen einer vergleichbaren Situation: Die Voraussetzungen

Über die grundsätzliche Statuierung der Voraussetzungen durch den EuGH hinaus ist deren genaue Ausgestaltung noch nicht hinreichend geklärt. Vor allem ist nicht geklärt, welche Schwellenwerte unter- bzw. überschritten werden müssen, damit der Steuerpflichtige „keine nennenswerten Einkünfte“ im Wohnsitzstaat sowie sein zu versteuerndes Einkommen „im Wesentlichen“ in Quellenstaaten erzielt. Festzuhalten ist jedoch, dass es für die konkreten Schwellenwerte allein auf die Höhe des Einkommens bzw. der Einkünfte im betreffenden Veranlagungszeitraum414 ankommt und diese insbesondere nicht 413 

Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger v. 22.11.1994, C-279/­93 Rn. 67. EuGH v. 18.6.2015, C-9/­14 – Kieback, IStR 2015, 554 Rn. 30 f.: Damit die Beurteilung, dass der Steuerpflichtige im jeweiligen Steuerjahr in seinem Wohnsitzstaat den wesentlichen Teil seiner Einkünfte erzielt, hinreichend relevant ist, muss sich die zu berücksichtigende Lage auf das gesamte betreffende Steuerjahr beziehen, da dieser Zeitraum im 414 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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danach zu bemessen sind, zu welchen Zeiten oder wie lange der Steuerpflichtige sein Einkommen im Wohnsitz- bzw. Tätigkeitsstaat erzielt.415 Zur Lösung des dargestellten Problems müssen somit folgende Fragen geklärt werden: Wann sind die Einkünfte im Wohnsitzstaat „nicht nennenswert“ (b))? Denn nur dann, wenn es an einem Anknüpfungspunkt im Wohnsitzstaat fehlt, kann das dargestellte Problem überhaupt erst entstehen. Wann hat der Steuerpflichtige „wesentliches“ Einkommen im Ausland (c))? Welche Rechtsfolgen ergeben sich hieraus (d)) und welches Verfahren ist einzuhalten (e))? Zuvor sind jedoch die vom EuGH aufgestellten Voraussetzungen ihrer systematischen Ausprägung nach zu untersuchen. aa)  Keine „nennenswerten“ Einkünfte im Wohnsitzstaat

Die entscheidende Bedingung für eine vergleichbare Situation ist das Fehlen von „nennenswerten Einkünften“ des Steuerpflichtigen in seinem Wohnsitzstaat.416 Im Urteil X konkretisiert der EuGH das Merkmal „Wohnsitzstaat“, indem er vorschreibt, dass ein gebietsfremder Steuerpflichtiger in seinem Wohnmitgliedstaat keine nennenswerten Einkünfte hat.417 Er schließt damit Fälle aus, in denen ein Steuerpflichtiger in einem Drittstaat ansässig ist. Sofern sich die ältere Literatur teilweise noch auf das Merkmal des „wesentlichen zu versteuernden Einkommens im Ausland“ konzentriert hatte418, war dies schon damals vor dem Hintergrund der aufgeworfenen Problematik verfehlt. Denn das Problem einer nicht gewährten Vergünstigung ergibt sich naturgemäß daraus, dass es rechtstechnisch keinen Anknüpfungspunkt für eine solche Vergünstigung gibt, wenn also im Inland – und damit in dem Staat, der grundsätz-

Allgemeinen als der Zeitraum anerkannt ist, der in den meisten Mitgliedstaaten zur Festsetzung der Einkommensteuer dient. 415  EuGH v. 18.6.2015, C-9/­14 – Kieback, IStR 2015, 554 Rn. 16: Selbst wenn im Falle eines unterjährigen Wegzugs der Steuerpflichtige seine gesamten oder nahezu seine gesamten Einkünfte im fraglichen Zeitraum im Tätigkeitsstaat erzielen würde, läge keine vergleichbare Situation vor, wenn diese Einkünfte nicht den wesentlichen Teil seiner in diesem Jahr insgesamt zu versteuernden Einkünfte darstellen. Wohl a. A.: Kippenberg, IStR 2017, 190 (194), der davon ausgeht, dass es nicht darauf ankomme, ob der Steuerpflichtige mindestens 90 % seiner Einkünfte im Quellenstaat hatte, sondern für wie viele Monate der Quellenstaat den Nutzungswert seiner im Wohnsitzstaat belegenen Wohnung besteuerte. 416  Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet v. 7.9.2016, C-283/­ 15 Rn. 41; so auch: Schmidt-Heß, IStR 2017, 549 (552). 417  Vgl. auch: EuGH v. 16.10.2008, C-527/­ 06 – Renneberg, Slg. 2008, I-7735 Rn. 61; v. 18.6.2015, C-9/­14 – Kieback, IStR 2015, 554 Rn. 25. 418  Kaefer/­S aß, DB 1995, 642 (644).

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

lich zur Gewährung von Vergünstigungen verpflichtet ist 419 – keine bzw. keine nennenswerten Einkünfte erzielt werden.420 Denn wie sich noch zeigen wird, ist das Merkmal des wesentlichen Einkommens im Ausland nicht zugleich die Kehrseite der nicht nennenswerten Einkünfte im Wohnsitzstaat. Nur weil der Steuerpflichtige im Ausland wesentliches Einkommen hat, bedeutet dies nicht zugleich, dass er auch nicht nennenswerte Einkünfte im Inland hat.421 Die Betrachtungsweise des konkreten Falles erfolgt also nicht aus Sicht des ausländischen Quellenstaates, sondern zuerst stets aus Sicht des Wohnsitzstaates. Interessant ist, dass der EuGH zudem feststellt, dass „der Wohnsitzstaat nicht in der Lage [sein darf], [dem Steuerpflichtigen] die Vergünstigungen zu gewähren, die sich aus der Berücksichtigung seiner persönlichen Lage und seines Familienstands ergeben.“422 Dieses Merkmal steht am Ende der formulierten Voraussetzungen und umklammert eigentlich gleichermaßen beide. Die Einleitung mit „sodass“ lässt zudem darauf schließen, dass das Merkmal eine Rechtsfolge ist. Dies würde bedeuten, dass beide Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit diese Rechtsfolge eintreten kann. Dies ist jedoch nicht zutreffend. Da sich die Möglichkeit der Gewährung von Vergünstigungen im Wohnsitzstaat ausschließlich nach der Höhe der Inlandseinkünfte richtet, ist die vermeintliche Rechtsfolge eigentlich Teil der ersten Voraussetzung, also dem Fehlen von nennenswerten Inlandseinkünften.423 Die Konjunktion „sodass“ stellt lediglich eine nähere Bestimmung der ersten Voraussetzung dar, indem die Schwelle der nicht nennenswerten Einkünfte durch diese Konkretisierung an eine tatsächliche Bedingung geknüpft wird, namentlich an die Unfähigkeit des Wohnsitzstaates, Steuervergünstigungen zu gewähren. Sie dient damit der Bestimmung von absoluten Grenzwerten als normativer Korrektur. Anders gewendet: Unab419  So schon: EuGH v. 14.2.1995, C-279/­ 93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 32; deutlicher: EuGH v. 12.12.2002, C-385/­00 – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 90. Vgl. auch: EuGH v. 27.6.1996, C-107/­94 – Asscher, Slg. 1996, I-3089 Rn. 44; v. 14.9.1999, C391/­97  – Gschwind, Slg. 1999, I-5451 Rn. 22, 24; v. 16.5.2000, C-87/­99 – Zurstrassen, Slg. 2000, I-3337 Rn. 21; Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger v. 22.11.1994, C-279/­ 93 Rn. 36; Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger v. 20.6.2002, C-385/­00 Rn. 37 f. 420  So nun auch deutlicher: EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 42. 421  So deutlich: EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 39. 422 Vgl. EuGH v. 14.2.1995, C-279/­ 93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 36; v. 14.9.1999, C-391/­97 – Gschwind, Slg. 1999, I-5451 Rn. 27; v. 12.12.2002, C-385/­00 – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 89; v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 33. 423  Vgl. EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 37 f.; v. 18.6.2015, C9/­ 14 – Kieback, IStR 2015, 554 Rn. 28: Der bloße Umstand, dass ein Gebietsfremder in dem Tätigkeitsstaat unter mehr oder weniger ähnlichen Bedingungen Einkünfte erzielt hat wie in diesem Staat Ansässige, führe nach Ansicht des EuGH gerade nicht zu einer objektiv vergleichbaren Situation.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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hängig davon, wie hoch die Einkünfte im Wohnsitzstaat sind, sind sie in jedem Falle nicht nennenswert, wenn der Wohnsitzstaat tatsächlich nicht in der Lage ist, die Steuervergünstigungen zu gewähren. Eine zusätzliche Prüfung, ob die Einkünfte nicht nennenswert sind, erübrigt sich in diesem Fall.424 bb)  „Wesentliches“ Einkommen im Quellenstaat

Auch wenn es maßgeblich auf die Einkünfte im Wohnsitzstaat ankommt, hat der EuGH herausgestellt, dass der Steuerpflichtige sein Einkommen „im Wesentlichen“ aus einer Tätigkeit bezieht, die er in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, sodass auch das Einkommen im Ausland zu berücksichtigen ist. Dabei kommt es seit dem Urteil X darauf an, dass der Steuerpflichtige sein wesentliches Einkommen im EU-Raum erzielt, sodass er dieses in mehreren ausländischen Mitgliedstaaten erzielen kann. Das bedeutet, dass die Grenze der Wesentlichkeit nicht allein auf einen Staat zu beziehen ist. Dies galt grundsätzlich auch schon im Urteil Schumacker, wurde jedoch von der Literatur als solches damals nicht erkannt. Es ist zwar einzuräumen, dass die Tatbestandsmerkmale „keine nennenswerten Einkünfte“ und „wesentliches Einkommen“ auf den ersten Blick in einem unmittelbaren Zusammenhang zu stehen scheinen. Schaut man jedoch genauer auf die aufgestellten Voraussetzungen, hätte schon damals erkannt werden müssen, dass sich das Merkmal „im Wesentlichen“ nur auf das Einkommen im EU-Ausland als Ganzes bezieht und nicht nur auf das Einkommen in einem Mitgliedstaat. Nur weil der EuGH beim Schuma­ cker-Urteil den Fall eines korrespondierenden ausländischen Mitgliedstaates zu entscheiden hatte, und die Frage von mehreren Staaten somit nicht zur Entscheidung stand, sagt dies noch nichts darüber aus, dass es nur einen Quellenstaat geben darf. Aus diesem Grund ist auch die vorgeschlagene Haupteinkunftsregelung abzulehnen. Das Merkmal der Wesentlichkeit des Einkommens im Quellenstaat ist jedoch nur dann relevant, wenn der Steuerpflichtige auch Einkommen in Drittstaaten hat. Dies zeigt sich ganz deutlich bei reinen EU-Fällen: Liegen sämtliche Einkunftsquellen im EU-Raum, kommt es auf die Feststellung der Wesentlichkeit des Einkommens im Ausland nicht mehr an. Es genügt die Feststellung, dass die Inlandseinkünfte des Steuerpflichtigen nicht nennenswert sind.425 Ist dies der Fall, so ist sein Einkommen in den ausländischen Mitgliedstaaten denk­ logisch wesentlich, denn es steht in diesem Fall fest, dass das restliche Einkom424 So

466.

entschieden: EuGH v. 10.5.2012, C-39/­10 – Kommission/­Estland, IStR 2012,

425  A. A. wohl: Kaefer/­S aß, DB 1995, 642 (644), die das Merkmal der „nicht nennenswerten“ Einkünfte lediglich als einen der Klarstellung zu verstehenden Hinweis zu den wesentlichen Einkünften im Ausland sehen.

178

Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

men, welches ausschließlich in ausländischen Mitgliedstaaten erzielt wird, den wesentlichen Hauptteil seines Einkommens ausmacht. Fälle, in denen die Inlandseinkünfte nicht nennenswert sind, das (ausschließlich in Mitgliedstaaten erzielte) Auslandseinkommen aber auch nicht wesentlich ist, sind nicht denkbar. Dazu hat auch der EuGH im Urteil X ausgeführt, dass der Steuerpflichtige sein zu versteuerndes Einkommen im Wesentlichen aus einer Tätigkeit beziehen müsse, „die er in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, […]“.426 Er bezieht bei der Bestimmung der Wesentlichkeit somit ausdrücklich nur Mitgliedstaaten ein, sodass es nicht auf die Wesentlichkeit des Auslandseinkommens insgesamt (EU und Drittstaaten) ankomme. Anders gewendet: Während in reinen EU-Fällen die Frage der Wesentlichkeit des Auslandseinkommens keiner Erörterung bedarf, kommt es bei Berührungspunkten mit Drittstaaten gerade darauf an. Die Prüfung des wesentlichen Auslandseinkommens dient also nicht der Abgrenzung des Auslandseinkommens von den Inlandseinkünften, sondern zur Bestimmung, wieviel von dem Auslandseinkommen auf Quellen aus Mitgliedstaaten entfällt und ob dieser Anteil wesentlich ist, und zwar unabhängig davon, in wie vielen Staaten der Steuerpflichtige tätig ist. Im Gegensatz zur Schumacker-Rechtsprechung hat der EuGH im Urteil X zudem festgestellt, dass eine vergleichbare Lage „insbesondere“ dann anzunehmen ist, wenn die genannten Voraussetzungen vorliegen.427 Hierdurch erweitert er den Anwendungsbereich seiner Rechtsprechung, indem er eine nicht abschließende Aufzählung einfügt. Er hat damit eine Art Regelbeispiel geschaffen und kann somit auch bei anderen, nicht aufgezählten Konstellationen eine vergleichbare Situation annehmen. Beschränkt Steuerpflichtige dürften davon insgesamt profitieren und sich der Gleichbehandlung mit unbeschränkt Steuerpflichtigen weiter annähern, sobald der EuGH eine weitere Konstellation einer vergleichbaren Situation geschaffen hat. b)  Wann sind Inlandseinkünfte „nicht nennenswert“?

Bevor die Frage der Schwellenwerte für die Wesentlichkeit des Auslandseinkommens zu beantworten ist, muss zuvor geklärt werden, ob nicht bereits die Inlandseinkünfte „nicht nennenswert“ sind. Keiner Erörterung bedarf, dass die zweite Voraussetzung stets erfüllt ist, wenn der Steuerpflichtige keinerlei Einkünfte im Inland erzielt.

426 EuGH v. 9.2.2017, C-283/­ 15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 33; vgl. auch: EuGH v. 18.6.2015, C-9/­14 – Kieback, IStR 2015, 554 Rn. 25. 427  EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 33.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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aa)  Relative Grenze

Zunächst ist festzustellen, dass die Beurteilung, wann die Einkünfte im Inland nicht nennenswert sind, stets in Relation zum Gesamteinkommen des Steuerpflichtigen zu erfolgen hat, sodass zunächst ein prozentualer Anteil der Inlandseinkünfte zu bestimmen ist. Diese Feststellung ist keineswegs selbstverständlich, da sich allein aus der begrifflichen Formulierung des Merkmals „nicht nennenswerte Einkünfte“ nicht entnehmen lässt, ob sich deren Bemessung nach absoluten oder relativen Werten richtet. Auch ein Inlandseinkommen von nur einem Eurocent ist im allgemeinen Sprachgebrauch nicht nennenswert. Die Heranziehung des Wortlauts hilft somit allein nicht weiter. Vielmehr erwächst die Feststellung daraus, dass sich die Grenze keinesfalls durchgehend mit absoluten Werten bestimmen lässt. Denn wann Einkünfte für den einzelnen Steuerpflichtigen nennenswert sind oder nicht, richtet sich vor allem nach dessen persönlicher Lage sowie dessen persönlichem Lebensstandard, die sich wiederum – in der Regel – an dem Gesamteinkommen orientieren. Die Bemessung erhielte andernfalls eine subjektive Komponente und wäre damit nicht mehr geeignet, gleiche und vor allem objektive Bedingungen für eine Vielzahl verschiedener Fälle zu schaffen. Diese Feststellung deckt sich auch mit dem Sinn und Zweck der vom EuGH aufgestellten Voraussetzungen: Die Lage zwischen Inländern, die in der Regel wenig Einkommen im Ausland erzielen,428 soll mit der Lage der Ausländer, die viel Einkommen in ihrem Ansässigkeitsstaat erzielen, vergleichbar sein. Diese Lage ist jedoch stets relativ am jeweiligen Gesamteinkommen zu beurteilen. Erst jetzt kann der Begriff „nennenswert“ hinzugezogen werden. Ohne einen Bezugswert ist es nicht möglich, die Einkünfte als nennenswert oder nicht nennenswert einzustufen. Eben dieser Bezugswert ist veränderlich und ergibt sich aus dem Gesamteinkommen des Steuerpflichtigen. Entscheidend ist, dass bei dieser Berechnung nicht nur das Einkommen aus dem EU-Ausland einbezogen wird, sondern auch dasjenige aus Drittstaaten. Denn wie bereits dargestellt, dient die erste Voraussetzung insbesondere dazu, die Inlandseinkünfte vom (gesamten) Auslandseinkommen abzugrenzen. Die Frage nach der Höhe der relativen Grenze ist nicht leicht zu beantworten. Wie bereits dargestellt, orientierte sich die ältere Literatur hinsichtlich der relativen Grenze noch an den Werten des § 1 Abs. 3 S. 2 EStG als mögliche Anhaltspunkte (10 %).429 Hierzu ist festzuhalten, dass diese Grenze bereits deshalb 428  EuGH v. 14.2.1995, C-279/­93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 34; v. 12.12.2002, C-385/­00  – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 98; v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 30. 429  Nachweise in Fußnote 403.

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nicht aus dem Gesetz herzuleiten ist, da die Merkmale „wesentliches Einkommen“ und „nicht nennenswerte Einkünfte“ nicht zwingend miteinander korrelieren. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind die Inlandseinkünfte jedenfalls bei einer relativen Grenze von 42 %430 oder gar 50 %431 des Welteinkommens nennenswert. Die Europäische Kommission geht in ihrer Empfehlung hingegen von einer Grenze von 25 % aus,432 begründet diesen Wert jedoch nicht.433 Ohne eine fundierte Grundlage pauschal aufgestellte Grenzwerte haben erhebliche Nachteile. Sind sie zu hoch, wird der Steuerpflichtige begünstigt, während der Quellenstaat belastet wird; sind sie zu niedrig, wird der Steuerpflichtige belastet, weil es für ihn schwieriger wird, die Voraussetzungen des EuGH zu erfüllen. Eine pauschale Festlegung von Grenzwerten – womöglich noch nach dem subjektiven Gefühl – verbietet sich daher. Eine Lösung bietet sich durch die Zuhilfenahme von Statistiken, die das Verhältnis zwischen Inlandseinkünften und Auslandseinkommen des Wohnsitzstaates feststellen. Entscheidend bei der Bestimmung der nicht nennenswerten Einkünfte ist, dass die jeweilige Einkünftesituation der Inländer mit denen der Grenzgänger, und damit die Lage zwischen Wohnsitz- und Quellenstaat, vergleichbar ist. Sofern also die Inländer eines Mitgliedstaates ihre Einkünfte zu einem bestimmten Prozentsatz im Ausland erzielen, ist dies der Wert, der im umgekehrten Verhältnis für die Grenzgänger zu gelten hat. Dass es dabei auf die Statistik des Wohnsitzstaates, nicht des Quellestaates ankommen muss, begründet sich darauf, dass andernfalls das Ziel des EuGH, eine vergleichbare Situation zwischen beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtigen zu schaffen, nicht erreicht würde. Denn wenn die Inländer im Wohnsitzstaat zu einem bestimmten Prozentsatz ihre Einkünfte im Ausland erzielen, muss sich eben auch der Wohnsitzstaat an diesen Wert für die Schwelle der „nicht nennenswerten Einkünfte“ halten. Nur so werden die Inländer des Wohnsitzstaates mit denen des Quellenstaates gleichgestellt, sodass die Statistik des Quellenstaates bereits 430  EuGH v. 14.9.1999, C-391/­97 – Gschwind, Slg. 1999, I-5451 Rn. 29; Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet v. 7.9.2016, C-283/­15 Rn. 42. 431 EuGH v. 10.5.2012, C-39/­ 10 – Kommission/­Estland, IStR 2012, 466 Rn. 54; Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet v. 7.9.2016, C-283/­15 Rn. 43. 432  Art. 2 Abs. 2 der Empfehlung der Kommission v. 21.12.1993 betreffend die Besteuerung bestimmter Einkünfte, die von Nichtansässigen in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres Wohnsitzes erzielt werden (94/­79/­EG), ABl. L 39 v. 10.2.1994, S. 22. 433  In der Begründung zu Art. 2 Abs. 2 der Empfehlung der Kommission v. 21.12.1993, ABl. L 39 v. 10.2.1994, S. 27 Rn. 15 erläutert die Europäische Kommission den Grenzwert lediglich wie folgt: Erzielt der Steuerpflichtige mindestens 75 % seiner Einkünfte im Tätigkeitsstaat, „würde die Höhe seiner steuerpflichtigen Einkünfte in seinem Wohnsitzland nämlich möglicherweise nicht ausreichen, um für die […] Abzüge und sonstigen Steuervorteile in Frage zu kommen.“ Siehe auch: Schlussanträge des Generalanwalts Phi­ lippe Léger v. 22.11.1994, C-279/­93 Rn. 74.

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deshalb keine Rolle spielen kann. Zudem kann es Konstellationen geben, in denen der Steuerpflichtige sein Gesamteinkommen in mehreren Quellenstaaten erzielt. Hier wäre bereits problematisch, welche Statistik welchen Quellenstaates zugrunde zu legen wäre. Zuletzt kann der Quellenstaat die Grenze der „nennenswerten Einkünfte“ für den jeweiligen Wohnsitzstaat schon deshalb nicht festlegen, da es nur Letzterem obliegt, die persönlichen und familiären Umstände des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen.434 bb)  Absolute Grenzen

Es ist allerdings zu bemerken, dass die alleinige Anwendung einer relativen Grenze nicht stets zu befriedigenden Ergebnissen führt. Wie bereits dargestellt, müssen die sich aus der relativen Grenze ergebenden Einkünfte gerade so gering sein, dass „[…] der Wohnsitzstaat nicht in der Lage ist, [dem Steuerpflichtigen] die Vergünstigungen zu gewähren, die sich aus der Berücksichtigung seiner persönlichen Lage und seines Familienstands ergeben“.435 Die Wertgrenze muss sich in solchen Fällen als absolut darstellen, in denen sämtliche Vergünstigungen ab einem konkreten Wert Berücksichtigung finden. Erzielt ein Unternehmer beispielsweise ein Gesamteinkommen in Höhe von 10 Mio. EUR und erzielt er davon nur 0,5 % im Inland (50.000 EUR), dürften die Inlandseinkünfte aufgrund der prozentualen Grenze nicht nennenswert sein. In absoluten Werten sind die Einkünfte jedoch so hoch, dass in der Regel sämtliche Vergünstigungen im Inland Berücksichtigung finden dürften. Diese Obergrenze ist also stets so hoch wie die Gesamtheit aller Vergünstigungen des Steuerpflichtigen in seinem Wohnsitzstaat. Ab dieser Grenze ist der Steuerpflichtige nicht mehr schutzbedürftig, da er keinen Anspruch auf mehr als die vollständige Gewährung der Vergünstigungen hat. Die Anwendung einer solchen Grenze wird jedoch erst dann relevant, wenn die Einkünfte des Steuerpflichtigen unter der relativen Grenze liegen. Fraglich ist, ob diese Obergrenze zugleich die absolute Grenze für alle Fälle der nicht nennenswerten Einkünfte darstellt. Nach der näheren Betrachtung der vom EuGH gewählten Formulierung könnte man zu der Schlussfolgerung gelangen, dass das Merkmal „die Vergünstigungen zu gewähren“ so verstanden werden könnte, dass der Wohnsitzstaat die Vergünstigungen, also alle dem Steuerpflichtigen dem Grunde nach zustehenden Vergünstigungen in ihrer Gesamtheit, zu gewähren in der Lage sein muss. Immerhin würde der Steuerpflichtige andernfalls ungünstiger behandelt als ein Steuerpflichtiger mit aus434 

Tiede, in: Herrmann/­Heuer/­Raupach, EStG/­KStG, § 1 EStG Rn. 8, 265. EuGH v. 14.2.1995, C-279/­ 93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 36; v. 14.9.1999, C-391/­97 – Gschwind, Slg. 1999, I-5451 Rn. 27; v. 12.12.2002, C-385/­00 – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 89; v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 33. 435 Vgl.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

schließlich Inlandseinkünften. In diesem Falle wäre die Obergrenze zugleich die Grenze der nennenswerten Einkünfte. Eine solche Auffassung wäre jedoch nicht richtig. Zum ersten würde der vom EuGH ins Auge gefasste Fall der vergleichbaren Situation missachtet werden. Die Rechtsprechung des EuGH bildet eine absolute Ausnahme zu der Regel, dass der Wohnsitzstaat grundsätzlich zur Gewährung der Vergünstigungen verpflichtet ist, das Einschreiten des Quellenstaats also nur subsidiär erforderlich ist. Zum zweiten würden die Bezugnahmen des EuGH auf die relativen Grenzen in den jeweiligen Urteilen436 keinen Sinn ergeben, da bei Anwendung einer absoluten Grenze für sie keine Daseinsberechtigung mehr bestünde: Entweder der Steuerpflichtige hat so viele Einkünfte, dass der Wohnsitzstaat in der Lage ist, alle Vergünstigungen zu berücksichtigen oder eben nicht. Er betrachtet die relative Grenze somit als nicht obsolet. Zum dritten wäre das vom EuGH aufgestellte Merkmal der „nicht nennenswerten Einkünfte im Wohnsitzstaat“ überflüssig, da bereits die Bestimmung der absoluten Grenze ausreichen würde. Wie aus den Urteilen Kommission/­Estland 437 sowie Wallentin438 hervorgeht, muss sich die Wertgrenze ebenfalls dann als absolut darstellen, wenn der Steuerpflichtige in seinem Wohnsitzstaat nicht über steuerpflichtige Einkünfte verfügt, insbesondere wenn die Einkünfte des Steuerpflichtigen im jeweiligen Staat unter dem Grundfreibetrag liegen. In diesem Fall ist der Wohnsitzstaat nicht in der Lage, die persönliche Situation und den Familienstand des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen, da dieser aufgrund des niedrigen Betrags seiner Gesamteinkünfte in diesem Staat nicht steuerpflichtig ist.439 Diese „Untergrenze“ ist freilich nur dann relevant, wenn die Einkünfte über der relativen Grenze liegen, der Steuerpflichtige also insgesamt (Inland und Ausland) geringe Einkünfte hat. Eine solche Untergrenze hat auch die in § 1 Abs. 3 S. 2 EStG festgelegte sog. absolute Wesentlichkeitsgrenze im Blick, die auf den Grundfreibetrag nach § 32a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EStG Bezug nimmt.

436  Der EuGH betont in der Entscheidung Kommission/­Estland ausdrücklich, dass der Wohnsitzstaat „grundsätzlich in der Lage sein [dürfte], die Steuerkraft des Betreffenden sowie seine persönliche Situation und seinen Familienstand […] zu berücksichtigen“, wenn dieser 50 % seiner Gesamteinkünfte in dem Wohnsitzmitgliedstaat erzielt: EuGH v. 10.5.2012, C-39/­10 – Kommission/­Estland, IStR 2012, 466 Rn. 54 mit Verweis auf EuGH v. 14.9.1999, C-391/­97 – Gschwind, Slg. 1999, I-5451 Rn. 29. 437  EuGH v. 10.5.2012, C-39/­10 – Kommission/­Estland, IStR 2012, 466. 438  EuGH v. 1.7.2004, C-169/­03 – Wallentin, Slg. 2004, I-6443. 439 EuGH v. 10.5.2012, C-39/­ 10 – Kommission/­Estland, IStR 2012, 466 Rn. 53 ff.; Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet v. 7.9.2016, C-283/­ 15 Rn. 43; vgl. auch: EuGH v. 1.7.2004, C-169/­03 – Wallentin, Slg. 2004, I-6443 Rn. 18; Gosch, in: Kirchhof, EStG, § 1 Rn. 3.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Es muss nach der Rechtsprechung des EuGH zwischen diesen beiden Grenzen eine Art „Grauzone“ existieren, die in jedem Einzelfall zu bewerten ist. Hat der Steuerpflichtige beispielsweise relativ zu seinem Welteinkommen nennenswerte Einkünfte im Inland, hat er aber gerade absolut so wenige Einkünfte, dass ihm sämtliche Vergünstigungen nicht in Gänze, sondern nur fast vollständig gewährt werden können, kann die Pflicht des Quellenstaates zur Gewährung der restlichen Vergünstigungen zu verneinen sein. Die absoluten Grenzen sind im Ergebnis also lediglich eine normative Korrektur, wenn die relative Grenze zu untragbaren Ergebnissen führt. c)  Wann ist das Auslandseinkommen „wesentlich“?

Neben der fehlenden Bestimmung von nennenswerten Inlandseinkünften ist auch nicht geklärt, wann das Auslandseinkommen des Steuerpflichtigen „wesentlich“ im Sinne der EuGH-Rechtsprechung ist. Aus dem Wortlaut der EuGH-Rechtsprechung lässt sich keine eindeutige Wertgrenze ermitteln. Es steht nur fest, dass sich die Grenze der Wesentlichkeit am Welteinkommen zu bemessen hat.440 Während der EuGH regelmäßig die Formulierung des „wesentlichen“ Auslandseinkommens verwendet, setzte er in seinen Urteilen de Groot 441 und Imfeld und Garcet 442 voraus, dass der Steuerpflichtige „sein gesamtes oder nahezu gesamtes zu versteuerndes Einkommen“ bzw. „sein gesamtes oder fast sein gesamtes zu versteuerndes Einkommen“ aus einer Tätigkeit im Beschäftigungsstaat bezieht. Diese Formulierung korrigierte er jedoch im Urteil X, in dem er wieder das Merkmal „im Wesentlichen“ verwendete. Diese Formulierung bedarf somit der Auslegung. Wie bereits dargestellt, wird aufgrund § 1 Abs. 3 S. 2 EStG überwiegend ab einer Grenze in Höhe von 90 % des Gesamteinkommens von wesentlichem Auslandseinkommen ausgegangen.443 440 

So zuletzt: EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 39. EuGH v. 12.12.2002, C-385/­00 – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 89. 442  EuGH v. 12.12.2013, C-303/­ 12 – Imfeld und Garcet, HFR 2014, 183 Rn. 44; vgl. auch: Schmidt-Heß, IStR 2017, 549 (551). 443  So ging es bereits im Urteil Schumacker (EuGH v. 14.2.1995, C-279/­93 – Schuma­ cker, Slg. 1995, I-225) um § 2 des Ausführungsgesetzes Grenzgänger Niederlande (Ausführungsgesetz zum Zusatzprotokoll v. 13.3.1980 zum Abkommen v. 16.6.1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete, BGBl. I 1980, S. 321, zuletzt geändert durch Art. 13 v. 11.10.1995, BGBl. I 1995, S. 1250), nach dem den niederländischen Grenzgängern die Steuervergünstigungen nur dann gewährt wurden, wenn deren Einkünfte zu mindestens 90 % in Deutschland er441 

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Diese Herleitung ist jedoch aus gleich mehreren Gründen falsch. Erstens ist diese Grenze, wie sich nunmehr unter anderem am entschiedenen Fall X zeigt, keineswegs geeignet, die vom EuGH aufgestellten Voraussetzungen zu erfüllen. Denn insbesondere in Fällen, in denen der Steuerpflichtige sein Gesamteinkommen in mehreren ausländischen Staaten erzielt, versagt ein derartig hoher Schwellenwert, da dieser gezwungenermaßen nur in einem einzigen Staat erfüllt sein kann. Zweitens kann nicht der nationale Gesetzgeber die Schwellenwerte festlegen, da er sich selbst an die Vorgaben des Unionsrechts zu halten hat. Nach der Entscheidung des EuGH in Sachen Asscher ist geklärt, dass die relative Wertgrenze unter 90 % liegen muss444 und aus dem Urteil X lässt sich zudem ableiten, dass sogar ein Auslandseinkommen in Höhe von 60 %445 ausreichend ist, um das Merkmal der Wesentlichkeit anzunehmen.446 Eine Obergrenze von 90 % ist demnach zu hoch angesetzt und damit im konkreten Fall unionsrechtswidrig. Drittens regelt § 1 Abs. 3 S. 2 EStG keineswegs den vom EuGH ins Auge gefassten Fall der wesentlichen Einkünfte. Er trifft nämlich keinerlei Aussage darüber, wann wesentliches Auslandseinkommen im Sinne der EuGH-Rechtsprechung vorliegt, sondern regelt nur die Schwellenwerte für den Antrag des beschränkt Steuerpflichtigen auf Behandlung als unbeschränkt steuerpflichtig. Die Vergünstigungen, von denen der EuGH spricht, sind jedoch lediglich Reflexwirkungen der unbeschränkten Steuerpflicht. Die Vorschrift des § 1 Abs. 3 S. 2 EStG ist dennoch nicht vollständig unanwendbar geworden, denn sie bietet nach wie vor für die beschränkt Steuerpflichtigen die verfahrensrechtliche Möglichkeit, in Deutschland als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt zu werden. Allerdings kann diese Möglichkeit nun nicht mehr als Argument herangezogen werden, der Steuerpflichtige könne einen entsprechenden Antrag stellen, sodass ihm für die Geltendmachung von zielt wurden. Diese Vorschrift war jedoch nicht Streitgegenstand des Urteils, sodass der EuGH hierauf nicht weiter einging. 444  EuGH v. 27.6.1996, C-107/­94 – Asscher, Slg. 1996, I-3089. Konkret ging es um den im Jahr 1996 geltenden Art. 20a des niederländischen Wet op de loonbelasting (Lohnsteuergesetz), der – wie die deutschen Vorschriften – eine Einkunftsgrenze in Höhe von 90 % vorsah. Zur Zulässigkeit der konkreten Höhe nahm der EuGH zwar keine Stellung, allerdings stellte er fest, dass nationale Rechtsvorschriften wie die, um die es im Ausgangsverfahren ging, um so mehr geeignet sind, vor allem Staatsangehörige anderer Staaten zu betreffen, wenn zusätzlich zum Wohnortkriterium das Kriterium angewandt wird, dass das Welteinkommen zu mindestens 90 % in den Niederlanden erzielt wurde (Rn. 38). 445  Wie bereits dargestellt, ist das in Höhe von 40 % in der Schweiz erzielte Einkommen nicht zu berücksichtigen. 446 Vgl. auch: Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet v. 7.9.2016, C283/­15 Fn. 16: „Umso mehr müsse es, wenn jemand 60 % seiner Einkünfte in einem Staat erzielt, diesem Staat grundsätzlich erlaubt sein, die persönliche und familiäre Situation des betreffenden Steuerpflichtigen zu berücksichtigen.“

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Vergünstigungen nach der EuGH-Rechtsprechung das Rechtsschutzbedürfnis fehle. Unabhängig davon wäre eine solche Argumentation rechtsfehlerhaft, da der Steuerpflichtige aus rein verfahrenstechnischen Gründen nicht gezwungen werden kann, in zwei Staaten unbeschränkt steuerpflichtig zu sein. Da beschränkt Steuerpflichtige aufgrund der EuGH-Rechtsprechung ohnehin steuerliche Vergünstigungen im Quellenstaat beanspruchen können, verliert der Antrag nach § 1 Abs. 3 S. 2 EStG überwiegend an Bedeutung und praktischer Relevanz. Im Gegensatz zur reinen Statuierung des Verfahrens für den Antrag auf unbeschränkte Steuerpflicht kollidiert § 1 Abs. 3 EStG dann mit der Rechtsprechung des EuGH, wenn der beschränkt Steuerpflichtige das Ehegattensplitting nach § 26 Abs. 1 S. 1 EStG in Anspruch nehmen möchte, denn diese Regelung setzt unter anderem die unbeschränkte Steuerpflicht nach § 1a EStG voraus, die wiederum auf § 1 Abs. 3 EStG verweist und damit ausdrücklich an die 90 %-Grenze anknüpft. Dies bedeutet, dass eine von der EuGH-Rechtsprechung umfasste Vergünstigung an einen Schwellenwert anknüpft, der für europarechtswidrig erklärt worden ist. Die Regelung des § 1a Abs. 1 EStG ist damit insoweit europarechtswidrig, als sie auf § 1 Abs. 3 EStG verweist. Gleiches gilt ebenso beim Abzug von Aufwendungen im Sinne des § 10 Abs. 1a EStG als Sonderausgaben. Während die Europäische Kommission den Mitgliedstaaten eine Grenze in Höhe von 75 % des steuerpflichtigen Gesamteinkommens empfohlen hat,447 obliege es nach Ansicht des Generalanwalts Léger allein dem jeweiligen nationalen Gericht, die Schwelle zu bestimmen, von der an die Einkünfte im Wohnsitzstaat ausreichend sind, damit die persönliche Lage des Betroffenen von den Steuerbehörden dieses Staates berücksichtigt wird.448 Richtig ist, dass das Gesamteinkommen bereits ab einer Grenze von mehr als 50 % des Welteinkommens wesentlich ist, denn ab diesem Schwellenwert kann davon ausgegangen werden, dass der Steuerpflichtige mehr als die Hälfte, und damit die Mehrheit seines Einkommens, im Ausland erzielt. Hierfür spricht nicht nur der vom EuGH verwendete Begriff der Wesentlichkeit, der den maßgebenden Schwerpunkt bzw. den Hauptteil des Einkommens beschreibt. Dieses Ergebnis bestätigt sich auch, wenn man andere Sprachfassungen der EuGH-Rechtsprechung zur Auslegung heranzieht. So heißt es im 447  Art. 2 Abs. 2 der Empfehlung der Kommission v. 21.12.1993, S. 22, 27: Ab dieser Grenze nimmt die Kommission an, dass der Nichtansässige den Großteil seiner Einkünfte im Tätigkeitsstaat erzielt und bejaht damit eine vergleichbare Lage von beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtigen. Vgl. auch: Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger v. 22.11.1994, C-279/­93 Rn. 74. 448  Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger v. 22.11.1994, C-279/­93 Rn. 76.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Rahmen des wesentlichen Einkommens in der englischen Fassung „where the non-resident […] obtains the major part of his taxable income from an activity performed in the State of employment […]“ oder in der französischen Fassung „où le non-­résident […] tire l’essentiel de ses ressources imposables d’une activité exercée dans l’État d’emploi […]“.449 Der EuGH bezieht sich hiermit ausdrücklich auf den Haupt- bzw. Großteil des Auslandseinkommens und damit auf dessen Mehrheit. Für diese Auslegung spricht zudem der Sinn und Zweck hinter der EuGH-Rechtsprechung, nämlich in Einzelfällen eine vergleichbare Situation zwischen beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtigen innerhalb der EU herzustellen und somit das Einkommen aus Drittstaaten von dem Einkommen im EU-Raum abzugrenzen. Eine geringere Schwelle lässt sich – vorbehaltlich normativer Korrekturen – auch deshalb nicht rechtfertigen, weil die Inanspruchnahme des Quellenstaates nach der Rechtsprechung des EuGH eine Ausnahme darstellen soll. Bei der Feststellung des wesentlichen Einkommens ist – wie bereits bei der Grenze der nicht nennenswerten Einkünfte – eine normative Korrektur erforderlich, denn wenn trotz nennenswerter Einkünfte im Inland der Wohnsitzstaat in bestimmten Fällen nicht in der Lage ist, die Vergünstigungen vollständig zu gewähren, erscheint es mit Blick auf die Niederlassungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit zwingend, dass der Quellenstaat auch dann zur Gewährung der Steuervergünstigungen zu verpflichten ist, wenn der Steuerpflichtige 50 % oder weniger seines Einkommens in diesem Staat erzielt. Analog zu den entschiedenen Fällen des EuGH450 dürfte dieser Fall stets dann vorliegen, wenn der Steuerpflichtige insgesamt unter dem Grundfreibetrag des Wohnsitzstaates liegt. Da der Grundfreibetrag nach der Konzeption des jeweiligen nationalen Steuerrechts dazu dient, dem Steuerpf lichtigen das Existenzminimum unbesteuert zu erhalten, ist dieser Wert die absolute Mindestgrenze. In solchen Fällen unterbindet oder behindert eine Besteuerung der Quelleneinkünfte im Ausland die Ausübung einer Beschäftigung in diesem Staat oder macht diese zumindest weniger attraktiv.451 Soweit der Steuerpflichtige einen Teil seiner Einkünfte zu besteuern hat, der zwingend für die Erhaltung seines lebensnotwendigen Existenzminimums erforderlich ist, ist ein Verweis auf die grundsätzliche Gewährungspflicht des Wohnsitzstaates nicht mehr zu rechtfertigen. Der Quellenstaat hat dann den für ihn geltenden Grundfreibetrag so weit auf das 449  Vgl. beispielsweise EuGH v. 14.2.1995, C-279/­ 93 – Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 36 in der englischen und französischen Sprachfassung. 450  EuGH v. 10.5.2012, C-39/­ 10 – Kommission/­Estland, IStR 2012, 466; v. 1.7.2004, C169/­03  – Wallentin, Slg. 2004, I-6443. 451  Vgl. EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 36 mwN.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Einkommen anzurechnen, wie der jeweils höhere der beiden Grundfreibeträge insgesamt erreicht ist. d)  Aufteilung der Vergünstigungsgewährung

Steht vor diesem Hintergrund dem Grunde nach fest, dass mehrere Staaten zur Gewährung der Steuervergünstigungen verpflichtet sind, stellt sich die Frage, in welcher Höhe dies geschehen muss. Die jeweils volle Gewährung von Steuervergünstigungen durch jeden beteiligten Quellenstaat ist abzulehnen, da dies zu doppelten Begünstigungen führen würde und der Steuerpflichtige dadurch gegenüber den inländischen Steuerpflichtigen, die ihre Einkünfte ausschließlich im Inland erzielen, bessergestellt wäre.452 Nach Ansicht des Generalanwalts Wathelet könnten die Freiheit der Mitgliedstaaten zur souveränen Aufteilung der Besteuerung einerseits und das Erfordernis der umfassenden Berücksichtigung der gesamten persönlichen und familiären Verhältnisse des Steuerpflichtigen andererseits nur miteinander in Einklang gebracht werden, wenn die in Rede stehende Steuervergünstigung in jedem betroffenen Beschäftigungsstaat im Verhältnis zu den versteuerten Einkünften gewährt wird.453 Diese Ansicht vertritt auch der EuGH in seinem Urteil X.454 Danach ist eine Aufteilung der Verpflichtung auf der Grundlage einer fraktionierten Besteuerung vorzunehmen, und zwar „im Verhältnis zu den in den einzelnen Mitgliedstaaten jeweils erzielten Anteilen seiner Einkünfte“. Nur auf diese Art und Weise wird sichergestellt, dass jeder beteiligte Staat die Vergünstigungen zu dem Anteil gewähren muss, zu dem er das Einkommen des Steuerpflichtigen auch besteuern darf. Hierdurch wird eine gleichmäßige Verteilung der Verpflichtung gewährleistet und der engen Beziehung zwischen dem Besteuerungsrecht und der Gewährung von Vergünstigungen am besten entsprochen.455 Vor diesem Hintergrund ist die vorgeschlagene „Haupteinkunfts“-­Regelung als nicht zielführend abzulehnen, denn sobald der Steuerpflichtige in mehreren Beschäftigungsstaaten gleich hohe Einkünfte erzielt, gibt es keinen „Haupteinkunfts“-Staat. Aber selbst, wenn die Einkünfte in den Beschäftigungsstaaten

67.

452 

Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger v. 22.11.1994, C-279/­93 Rn. 62,

453 Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet v. 7.9.2016, C-283/­ 15 Rn. 60 ff. mwN. 454  EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 48. 455  Dies ist folgerichtig, da ein Mitgliedstaat selbstverständlich kein Interesse daran hat, dem Steuerpflichtigen Vergünstigungen hinsichtlich der Einkünfte zu gewähren, für die den anderen beteiligten Staaten das Besteuerungsrecht zusteht. Hierzu kann er auch nicht gezwungen werden.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

nicht im gleichen Verhältnis zueinanderstehen, müsste der „Haupt­einkunfts“Staat die steuerlichen Vergünstigungen vollständig gewähren, obwohl ihm nur für einen Teil des Welteinkommens das Besteuerungsrecht zusteht. Insofern würde eine Unverhältnismäßigkeit zwischen dem Besteuerungsrecht und der Gewährung von Vergünstigungen entstehen, die nicht hingenommen werden kann. Es ist somit eine Aufteilung erforderlich, die dazu führt, dass sämtliche beteiligte Staaten die steuerlichen Vergünstigungen im Verhältnis zu ihrem jeweiligen Besteuerungsrecht gewähren müssen. Bei der Gewährung der Steuervergünstigungen ist jedoch unbedingt zu gewährleisten, dass der Steuerpflichtige im Ergebnis sämtliche Vergünstigungen in Anspruch nehmen kann, denn nur in diesem Fall erleidet er gegenüber den inländischen Steuerpflichtigen keinen Nachteil. Fraglich ist nur noch, in welchem Verhältnis die Quellenstaaten die Gewährung der Vergünstigungen aufteilen müssen. Da sich die „Wesentlichkeit“ der Einkünfte in den ausländischen Mitgliedstaaten aus dem relativen Verhältnis zum Welteinkommen ergibt, ist dieses Verhältnis für die Verpflichtung dieser Mitgliedstaaten zugrunde zu legen. Im ersten Schritt muss der Wohnsitzstaat so weit sämtliche Vergünstigungen gewähren, wie es ihm möglich ist; wie bereits dargestellt, verbietet sich eine nur proportionale Berücksichtigung,456 sodass der Wohnsitzstaat die gesamte persönliche und familiäre Situation berücksichtigen muss.457 Damit haben die ausländischen Mitgliedstaaten lediglich den übrig bleibenden Anteil der Vergünstigungen zu gewähren. Im zweiten Schritt ist das in den ausländischen Mitgliedstaaten erzielte Einkommen zueinander ins Verhältnis zu setzen, denn es kommt nicht darauf an, dass der Quellenstaat Vergünstigungen prozentual nur in der Höhe gewährt, wie er den auf ihn entfallenden Teil des Welteinkommens besteuert.458 Es kommt darauf an, in welchem Verhältnis die ausländischen Mitgliedstaaten zueinander den Rest der zu gewährenden Vergünstigungen aufteilen müssen.459 456  EuGH v. 12.12.2002, C-385/­0 0 – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 101: Zwar kann er sich mittels DBA von seiner Verpflichtung zur vollständigen Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation der Steuerpflichtigen entbinden oder davon absehen. Dies gilt jedoch nur dann, wenn gewährleistet ist, dass die gesamte persönliche und familiäre Situation des Steuerpflichtigen gleichwohl gebührend berücksichtigt wird. 457 Ebenso Prechtl, IStR 2003, 586; vgl. auch: Hahn, IStR 2003, 58 (65); Menhorn, IStR 2002, 15 (17); Wienbracke, EuZW 2017, 307 (311). 458 Insoweit etwas missverständlich, wenn Generalanwalt Wathelet fordert, dass die Vergünstigungen im Verhältnis zu den versteuerten Einkünften zu gewähren sind: Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet v. 7.9.2016, C-283/­15 Rn. 60 ff. mwN. 459  So richtig vom EuGH formuliert, der die fraktionierte Besteuerung „im Verhältnis zu den in den einzelnen Mitgliedstaaten jeweils erzielten Anteilen seiner Einkünfte“ fordert: EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 48.

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Sofern der Steuerpflichtige sein Einkommen auch in Drittstaaten erzielt, sind die übrigen Vergünstigungen durch die EU-Quellenstaaten ausschließlich in deren Verhältnis zueinander zu gewähren. Das bedeutet, dass das in den Drittstaaten erzielte Einkommen prozentual nicht abzuziehen ist. Zwar führt dies zu einer Verzerrung von Besteuerungsrecht und der Pflicht zur Gewährung von Vergünstigungen, jedoch ist angesichts der klaren, vom EuGH aufgestellten Voraussetzungen keine andere Beurteilung rechtlich haltbar. Zur Verdeutlichung dieser Aufteilung soll ein Beispiel gewählt werden: Ein Steuerpflichtiger erzielt 50.000,00 EUR als Welteinkommen. 4.000,00 EUR (8 %) erzielt er in seinem Wohnsitzstaat (Deutschland). In Frankreich erzielt er 16.000,00 EUR (32 %) und in Belgien 20.000,00 EUR (40 %). In den USA erzielt er Einkommen in Höhe von 10.000,00 EUR (20 %). Da die 4.000,00 EUR in Deutschland vollständig von dem Grundfreibetrag erfasst werden, kann Deutschland diese Einkünfte nicht besteuern, sodass der Steuerpflichtige keine nennenswerten Einkünfte in seinem Wohnsitzstaat hat. Das im EU-Ausland erzielte Einkommen in Höhe von 72 % seines Welteinkommens ist wesentlich. Von sämtlichen dem Steuerpflichtigen zu gewährenden Vergünstigungen sind zunächst die in Deutschland bereits gewährten 4.000,00 EUR aus der Inanspruchnahme des Grundfreibetrags abzuziehen (erster Schritt). Sodann ist das in den EU-Quellenstaaten erzielte Einkommen zueinander ins Verhältnis zu setzen (32 % zu 40 %), sodass Frankreich 44,4 % und Belgien 55,6 % der restlichen Vergünstigungen gewähren müssen; das Einkommen in den USA bleibt außer Betracht. Zuletzt ist zu erwähnen, dass die persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen gänzlich unberücksichtigt bleiben, wenn er (fast) ausschließlich Einkünfte in Drittstaaten erzielt. 460 e)  Verfahren zur Gewährung der Vergünstigungen

Zwingend erforderlich für eine gleichmäßige Verteilung der Verpflichtung ist, dass die beteiligten Staaten untereinander kooperieren, um sicherzustellen, dass der Steuerpflichtige sämtliche ihm zustehende Steuervergünstigungen in Anspruch nehmen kann.461 Zwar kann der Wohnsitzstaat nach Ansicht des EuGH mittels DBA von seiner Verpflichtung zur vollständigen Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation der ansässigen Steuerpflichti460  So auch: Gosch, in: Kirchhof, EStG, § 1 Rn. 3: Darin könnte eine Diskriminierung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 OECD-MA zu sehen sein. 461  Vgl. auch: Sutter, EuZW 2003, 114 (120 f.): Die Rechtsordnungen von Quellen- und Ansässigkeitsstaat seien quasi als kommunizierende Gefäße charakterisiert, bei denen nur das Gesamtergebnis stimmen müsse.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

gen entbunden werden oder von der Erfüllung dieser Verpflichtung absehen.462 Dies ist jedoch nur insoweit möglich, wie der jeweils andere Staat die Steuervergünstigungen gewährt,463 sodass es zu einer Ausfallhaftung des Wohnsitzstaates kommt.464 Während der EuGH in der Avoir fiscal-Entscheidung465 zwar noch erklärte, dass die Erfüllung von gemeinschaftsrechtlichen Pflichten nicht davon abhängig gemacht werden könne, ob der andere Partner dies tue, hatte er bereits im AMID-Urteil466 Erwägungen vorgebracht, die auf eine Betrachtung des Zusammenspiels der DBA hinausliefen.467 Die Art und Weise, wie der Wohnsitzstaat die persönliche und familiäre Situation des Steuerpflichtigen berücksichtigen muss, schreibe das Unionsrecht den Mitgliedstaaten aber gerade nicht vor.468 Der von der Literatur vorgebrachte Einwand, dass ein solches Ergebnis ein unverhältnismäßig hoher Aufwand sei und insbesondere der Steuerpflichtige sowohl sein Welteinkommen als auch das Verhältnis, wie sich dieses Einkommen auf die beteiligten Staaten verteilt, den Finanzbehörden gegenüber erklären müsse, kann nicht überzeugen. Erstens erhält der Steuerpflichtige Vergünstigungen in der Regel ohnehin nur dann, wenn er Nachweise über seine Einkünfte erbringt und eine entsprechende Steuererklärung beim Finanzamt einreicht. Dieser Verwaltungsaufwand trifft den Tätigkeitsstaat ebenso, da auch dessen Inländer in der Regel eine solche Erklärung abzugeben haben. Eine Mehrbelastung ist hier nicht zu erwarten. Zweitens ist eine etwaige Mehrbelastung kein vom EuGH anerkannter Rechtfertigungsgrund. Ein Tätigkeitsstaat kann sich nicht seiner Verpflichtung zur Gewährung von Vergünstigungen schlichtweg dadurch entziehen, indem er sich auf einen erhöhten Verwaltungsaufwand beruft. Dies würden die Grundfreiheiten unzulässigerweise unterlaufen. Drittens wäre bereits fraglich, wo die Grenze für die Unzumutbarkeit des Verwaltungsaufwandes liegen würde. Eine diesbezügliche Festlegung entzöge sich jedweder objektiven Betrachtungsweise. Fraglich allein ist, wie der Steuerpflichtige Nachweise über sein gesamtes Einkommen in den verschiedenen Mitgliedstaaten erbringen kann. Für den erforderlichen Nachweis käme beispielsweise ein Steuerbescheid der jeweiligen Staaten in Betracht, mit dem der Steuerpflichtige den anderen Staaten gegen462 

EuGH v. 12.12.2002, C-385/­00 – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 99 f. v. 12.12.2002, C-385/­00 – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 101; vgl. auch: Sutter, EuZW 2003, 114 (121). 464  Sutter, EuZW 2003, 114 (121). 465  EuGH v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273. 466  EuGH v. 14.12.2000, C-141/­99 – AMID, Slg. 2000, I-11619. 467  Hahn, IStR 2003, 58 (66). 468  EuGH v. 12.12.2002, C-385/­0 0 – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 115. 463  EuGH

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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über seine Einkünfte nachweisen könnte. Zu denken wäre auch an eine entsprechende Bescheinigung der zuständigen ausländischen Steuerbehörde, wie sie bereits zum jetzigen Zeitpunkt in § 1 Abs. 3 S. 5 EStG vorgeschrieben wird. Mittels dieser Bescheinigung wird die Höhe der Einkünfte des Steuerpflichtigen nachgewiesen, wobei neben den inländischen amtlichen Vordrucken auch andere Schreiben oder Bestätigungen einer ausländischen Finanzbehörde ausreichen können, wenn sich aus diesen die Höhe der Einkünfte ergibt.469 Bis der Steuerbescheid jedoch bestandskräftig ist oder eine Bescheinigung erteilt wird, kann eine längere Zeit vergehen, insbesondere, wenn der Steuerpflichtige Rechtsbehelfe bzw. Rechtsmittel gegen den Steuerbescheid eingereicht hat. Der Nachweis, in welchem Verhältnis die Staaten am Welteinkommen des Steuerpflichtigen beteiligt sind, könnte sich somit unter Umständen über Jahre hinziehen, sodass diese Lösung nicht zweckmäßig erscheint. Hierzu ist zunächst festzuhalten, dass der Steuerpflichtige Vergünstigungen nur dann nicht in Anspruch nehmen kann, wenn die Nichtbeibringung von erforderlichen Nachweisen in seiner Sphäre begründet ist. Er muss den beteiligten Staaten also stets alle Informationen zu seinen Welteinkünften zukommen zu lassen, die es ihnen erlauben, dieses Verhältnis zu bestimmen.470 Aber eine gegebenenfalls weigernde oder restriktive Haltung eines anderen Mitgliedstaates, dem Steuerpflichtigen Nachweise zu erteilen oder Bescheinigungen auszustellen, einen Steuerbescheid zu erlassen, zu ändern oder über ein Rechtsbehelf zu bescheiden, kann in keinem Fall dazu führen, dass der Steuerpflichtige mit seinen Vergünstigungen in den anderen Quellenstaaten ausfällt. Die Festlegung des Gesamteinkommens unter Vorbehalt oder im Wege der Schätzung wäre in diesem Fall ein probates Mittel, um dem Steuerpflichtigen zumindest vorübergehend die Vergünstigungen zu gewähren. Zur Lösung des Problems könnten entsprechende Formulare eingeführt werden, in die der Steuerpflichtige sein Welteinkommen und die entsprechende Aufteilung zwischen den beteiligten Staaten eintragen und bei den Finanzbehörden einreichen kann. Die beteiligten Staaten könnten auch im Wege der bereits bestehenden Amtshilfe die entsprechenden Daten untereinander austauschen. Grundlegend ist unbedingt erforderlich, ein EU-weites Verfahren einzuführen, sodass die Steuerpflichtigen die Nachweise auf einheitliche Art und Weise erbringen können, ohne auf nationale Besonderheiten achten zu müssen. 469  Rauch, in: Blümich, EStG, § 1 Rn. 255 f., 258: Innerhalb der EU bzw. des EWR sind die (in der jeweiligen Landessprache erteilten) Bescheinigungen zwingend von den dortigen Finanzbehörden abzustempeln, in Drittstaaten kann dies die deutsche Botschaft oder ein deutsches Konsulat übernehmen, vorausgesetzt, die Finanzbehörden des jeweiligen Staates verweigern zuvor das Abstempeln. 470  EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 48.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

5.  Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtige grundsätzlich nicht in einer vergleichbaren Situation befinden, sodass von vornherein keine Beschränkung der Grundfreiheiten besteht. Denn es ist grundsätzlich Sache des Wohnsitzstaates, die persönliche und familiäre Situation des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen. Die Verpflichtung zur Gewährung der Steuervergünstigungen geht jedoch dann auf den Quellenstaat über, wenn ein gebietsfremder Steuerpflichtiger in seinem Wohnsitzmitgliedstaat keine nennenswerten Einkünfte hat und sein zu versteuerndes Einkommen im Wesentlichen aus einer Tätigkeit bezieht, die er in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, sodass der Wohnsitzmitgliedstaat nicht in der Lage ist, ihm die Vergünstigungen zu gewähren, die sich aus der Berücksichtigung seiner persönlichen Lage und seines Familienstands ergeben.471 Das Merkmal der nicht nennenswerten Einkünfte im Inland ist der maßgebende Punkt für die Gewährung der Vergünstigungen im Ausland. Bei reinen EU-Fällen ist es die einzige zu prüfende Voraussetzung. Keine nennenswerten Einkünfte liegen ab einer prozentual zum Gesamteinkommen des Steuerpflichtigen (Relation von den Inlandseinkünften zum gesamten Auslandseinkommen) zu bestimmenden Grenze vor, die sich an der statistischen Erhebung der Einkünfte der Steuerpflichtigen des Wohnsitzstaates orientiert. Dieses Merkmal wird dadurch konkretisiert, dass der Wohnmitgliedstaat nicht in der Lage sein darf, dem Steuerpflichtigen die Vergünstigungen zu gewähren, die sich aus der Berücksichtigung seiner persönlichen Lage und seines Familienstands ergeben. In dieser Hinsicht ist die relative Grenze normativ durch zwei absolute Werte zu beschränken: Als oberen Wert (wenn die Inlandseinkünfte relativ zum Gesamteinkommen nicht nennenswert sind) sämtliche Vergünstigungen, die dem Steuerpflichtigen in seiner konkreten Lage dem Grunde nach von seinem Wohnsitzstaat gewährt werden können; als unteren Wert (wenn die Inlandseinkünfte relativ zum Gesamteinkommen nennenswert sind) jene Einkünfte, die im Wohnsitzstaat nicht besteuert werden können, also in jedem Fall der Grundfreibetrag. Die dazwischenliegenden Werte bedürfen einer Betrachtung im Einzelfall, sodass es auch Fälle geben mag, in denen der Steuerpflichtige nicht sämtliche Vergünstigungen erhält. Wesentliches Einkommen liegt ab einer Grenze von mehr als 50 % des Welteinkommens des Steuerpflichtigen vor, und zwar bezogen auf alle Mitgliedstaaten, in denen der Steuerpflichtige Einkünfte aus seiner Tätigkeit erzielt, sodass 471  Vgl. auch: EuGH v. 6.12.2018, C-480/­17 – Montag, DStR 2018, 2622 Rn. 30, wonach sich Gebietsansässige und Gebietsfremde auch in Bezug auf Aufwendungen, die unmittelbar mit einer Tätigkeit zusammenhängen, aus der die in einem Mitgliedstaat zu versteuernden Einkünfte erzielt wurden, in einer vergleichbaren Lage befinden.

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es nicht auf die Überschreitung der Wertgrenze in jedem einzelnen Mitgliedstaat ankommt. Das Merkmal grenzt das EU-Einkommen von dem des Drittstaateneinkommens ab. Wie der EuGH zu Recht festgestellt hat, sind die Steuervergünstigungen auf Grundlage einer fraktionierten Besteuerung zu gewähren. Ein solches System findet im Übrigen schon seit einiger Zeit in Irland Anwendung: Im irischen Steuersystem wird den beschränkt Steuerpflichtigen bis zum Erreichen der 75 %-Grenze ein anteiliger und darüber hinaus der volle personenbezogene Abzug gewährt.472 Zudem ist von der EuGH-Rechtsprechung jeder Tätigkeitsstaat betroffen, der auch zur Besteuerung der gesamten oder eines Teils der Einkünfte eines Steuerpflichtigen aus einer Tätigkeit befugt ist.473 Erzielt dieser sein Gesamteinkommen in mehreren Staaten, sind die Steuervergünstigungen im Verhältnis zu den jeweils erzielten Anteilen der Einkünfte zu gewähren. Dieses Verhältnis bestimmt sich nach der Relation der Einkommen im EU-Ausland zueinander. Bei der somit stattfindenden Aufteilung der Steuervergünstigungen ist insbesondere zu gewährleisten, dass die persönliche und familiäre Situation des Steuerpflichtigen vollständig berücksichtigt wird.474 Diese Anforderung macht es zwingend erforderlich, dass die beteiligten Staaten untereinander kooperieren und entsprechende Absprachen treffen. Entscheidende Voraussetzung ist, dass der Steuerpflichtige Nachweise über sein Welteinkommen beibringt. Ob dies mittels eines Steuerbescheids, einer Bescheinigung der zuständigen ausländischen Steuerbehörde oder eines Formulars erfolgt, ist noch nicht hinreichend geklärt. Empfehlenswert wäre ein EU-weites einheitliches Verfahren. Die Grundfreiheiten nehmen somit im Ergebnis einen Einfluss auf die DBA, deren Aufteilung der Besteuerungsbefugnis mittelbar dazu führt, dass beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtige ungleich behandelt werden, da die Gewährung von Steuervergünstigungen in der Regel an die Besteuerungsbefugnis nach den jeweiligen nationalen Regelungen anknüpft und somit nur unbeschränkt Steuerpflichtigen zusteht. Die Auswirkungen der Grundfreiheiten betreffen jedoch nur die verschiedenen steuerlichen Vorschriften, nicht aber die generelle unterschiedliche Behandlung von unbeschränkt und beschränkt Steuerpflichtigen. Wie die Literatur zu Recht erkennt, bedeuten das Urteil Schuma­ cker sowie die daran anknüpfende Rechtsprechung somit nicht die Abschaffung der systematischen Unterscheidung zwischen beschränkter und unbeschränkter Steuerpflicht,475 insbesondere wird ein beschränkt Steuerpflichtiger nicht an472 

Siehe dazu: Schnitger, IStR 2002, 478 (480). EuGH v. 9.2.2017, C-283/­15 – X, EuZW 2017, 307 Rn. 49. 474  EuGH v. 12.12.2002, C-385/­0 0 – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 101. 475  Kaefer/­S aß, DB 1995, 642 (647); Saß, DB 1992, 857 (860). 473 

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sässig im Sinne des Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA.476 Die klare Trennung zwischen unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht weiche jedoch einer abgestuften Betrachtung, wodurch es zu einer teilunbeschränkten Steuerpflicht komme.477 Dem ist zuzustimmen. II.  Entstrickungsbesteuerung 1.  Überblick

Der zweite Bereich, der von der Aufteilung der Besteuerungszuständigkeit zwischen den Mitgliedstaaten betroffen ist, ist die Entstrickungsbesteuerung. a)  Anwendungsbereich und Auswirkungen der Entstrickungsbesteuerung

Der Begriff Entstrickung bedeutet dabei, dass ein bestehendes Besteuerungsrecht bzw. eine bestehende Möglichkeit zur Besteuerung zukünftiger Einkünfte sowie stiller Reserven zumindest teilweise ausgeschlossen werden.478 Der Grund für diesen Ausschluss kann das Ausscheiden entweder des Steuersubjekts (subjektbezogene Entstrickung) oder des Steuerobjekts (objektbezogene Entstrickung) aus der Steuerpflicht sein.479 Unter einer Entstrickungs- bzw. „Exit“-Besteuerung versteht man jede Besteuerung eines bislang im Inland nicht versteuerten Vermögenszuwachses, in der Regel, aber nicht ausschließlich in Form stiller Reserven.480 Die Besteuerung erfolgt hierbei aufgrund eines Wegzugs einer natürlichen Person481 bzw. einer Sitzverlegung einer Gesellschaft 482 in einen anderen Mitgliedstaat, der Entstrickung einzelner Wirtschaftsgüter durch grenzüberschreitende Verlage476 

Vgl. BT Drs. 13/­1558 S. 148 ff. Henze, ISR 2017, 127 (130). 478  Schnitger, Die Entstrickung im Steuerrecht, S. 11: Spiegelbildlich dazu versteht man unter dem Begriff Verstrickung den Eintritt eines Steuersubjekts oder -objekts in die deutsche Besteuerungshoheit. 479  Schnitger, Die Entstrickung im Steuerrecht, S. 12. 480  Dobratz, ISR 2014, 198 (198  f.). Im Urteil Kommission/­Spanien (EuGH v. 12.7.2012, C-269/­09 – Kommission/­Spanien, EuZW 2013, 34) ging es insofern hingegen um bereits festgestellte Einkünfte. 481  EuGH v. 12.7.2012, C-269/­09 – Kommission/­S panien, EuZW 2013, 34; v. 11.3.2004, C-9/­02  – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409; v. 7.9.2006, C470/­04 – N, Slg. 2006, I7409; v. 21.12.2016, C-503/­14 – Kommission/­Portugal, EuZW 2017, 180. 482 EuGH v. 29.11.2011, C-371/­ 10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273; v. 6.9.2012, C-38/­10 – Kommission/­Portugal, EuZW 2012, 947; v. 31.1.2013, C-301/­11 – Kommission/­Niederlande, ABl. EU 2013, C 86, S. 4; v. 25.4.2013, C-64/­11 – Kommission/­ Spanien, BeckRS 2013, 80877. 477 

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rung483 sowie bei jedem anderen Vorgang484, bei dem das Besteuerungsrecht des betroffenen Mitgliedstaats ausgeschlossen oder eingeschränkt wird.485 Die Entstrickungsbesteuerung beruht dabei nicht auf einer tatsächlichen Realisierung der stillen Reserven – wie dies beispielsweise bei einer Veräußerung der Fall ist –, sondern auf sog. Ersatzrealisationstatbeständen. Durch diese Vorgänge entfällt der für den inländischen Steuerzugriff erforderliche genuine link, sodass die Wertzuwächse zukünftig nicht mehr der inländischen Besteuerung unterworfen werden können.486 Dies gilt jedenfalls für die Fälle, in denen der Steuerpflichtige jeglichen Anknüpfungspunkt zum Herkunftsstaat verliert. In diesem Fall ist nicht auf Art. 13 Abs. 5 OECD-MA zurückzugreifen, da das Besteuerungsrecht ohnehin ausschließlich beim Zuzugsstaat liegt und somit keine Verteilungsnorm erforderlich ist. Behält der Steuerpflichtige hingegen einen Anknüpfungspunkt im Herkunftsstaat, weil er beispielsweise Anteile an einer in diesem Staat ansässigen Kapitalgesellschaft bei seinem Wegzug mitnimmt, ist Art. 13 Abs. 5 OECD-MA heranzuziehen. Dieser bestimmt, dass dem Ansässigkeitsstaat, also in der Regel dem Zuzugsstaat, das Besteuerungsrecht zusteht. Um diese Effekte zu verhindern, hat der Wegzugs- bzw. Herkunftsstaat regelmäßig ein großes Interesse daran, sich zumindest die Besteuerung der vor dem Wegzug bzw. vor der Entstrickung in seinem Gebiet entstandenen stillen Reserven zu sichern. Hierfür kommen grundsätzlich zwei Regelungsmodelle in Betracht:487 Zum einen ist die soeben bereits angedeutete veräußerungsunabhängige Festsetzung der auf die nicht realisierten stillen Reserven entfallenden Steuer durch den Wegzugsstaat in der logischen Sekunde vor dem Wegzug möglich (sog. Wegzugs- bzw. Entstrickungsbesteuerung), in der Regel verknüpft mit einem Zahlungsaufschub bis zur tatsächlichen Realisierung der stillen Reserven.488 Dieses Modell entspricht den Vorgaben des Art. 13 Abs. 5 OECD-MA, sodass sich aus dieser Verteilungsnorm die Zulässigkeit der Wegzugsbesteue-

483 

EuGH v. 6.9.2012, C-38/­10 – Kommission/­Portugal, EuZW 2012, 947; v. 31.1.2013, C-301/­11  – Kommission/­Niederlande, ABl. EU 2013, C 86, S. 4; v. 25.4.2013, C-64/­11 – Kommission/­Spanien, BeckRS 2013, 80877; v. 18.7.2013, C-261/­ 11 – Kommission/­ Dänemark, BeckEURS 2013, 736235; v. 21.5.2015, C-657/­13 – Verder LabTec, GRUR Int. 2015, 839; v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80. 484  EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273. 485  Dobratz, ISR 2014, 198 (198 f.). 486  Lampert, in: Gosch, KStG, § 12 Rn. 1. 487  Reimer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 13 OECD-MA Rn. 201. Eine Übersicht über diese beiden Regelungsmodelle in den deutschen DBA findet sich in: Reimer, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Art. 13 OECD-MA Rn. 304 ff. 488  Reimer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 13 OECD-MA Rn. 202 ff.

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rung ergibt.489 Zum anderen ist eine bedingte oder befristete Fortdauer der Befugnis des Wegzugsstaats zur anteiligen Besteuerung der stillen Reserven im Zeitpunkt der tatsächlichen Veräußerung denkbar. Da diese Möglichkeit nicht den Vorgaben des Art. 13 Abs. 5 OECD-MA entspricht, sind zusätzliche Bestimmungen in den DBA erforderlich, um das Besteuerungsrecht hinsichtlich der erst später erzielten Veräußerungsgewinne zu sichern.490 Im Folgenden soll nur ein Überblick über die Wegzugs- bzw. Entstrickungsbesteuerung gegeben werden. Zudem soll davon ausgegangen werden, dass der Steuerpflichtige einen genuine link im Herkunftsstaat behält, um die Fragestellungen im Zusammenhang mit der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse darstellen zu können. b)  Entstrickungsbesteuerung aufgrund Wegzugs natürlicher Personen

Im Falle eines Wegzugs einer natürlichen Person erfolgt eine persönliche Entstrickung und dementsprechend eine Wegzugsbesteuerung, wenn sich bei dem Steuerpflichtigen im Inland Wertzuwächse bzw. stille Reserven491 bei Anteilen an Kapitalgesellschaften gebildet haben und der Steuerpflichtige unter Aufgabe der unbeschränkten Steuerpflicht im Inland in einen anderen Mitgliedstaat zieht, ohne die Anteile vor dem Wegzug zu verwerten. Im deutschen Steuerrecht ist die Wegzugsbesteuerung in § 6 AStG geregelt.492 § 6 Abs. 1 S. 1 AStG setzt dabei voraus, dass die natürliche Person mindestens zehn Jahre unbeschränkt steuerpflichtig war, deren unbeschränkte Steuerpflicht durch Aufgabe des Wohnsitzes (§ 8 AO) oder gewöhnlichen Aufenthalts (§ 9 AO) endet und sie Anteile im Sinne des § 17 Abs. 1 S. 1 EStG hält, also Anteile an Kapitalgesellschaften, mit denen sie innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der betreffenden Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar 489  Reimer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 13 OECD-MA Rn. 204: Dies gilt zumindestens für die traditionelle Auffassung, nach der der Begriff der Veräußerung im Sinne des Art. 13 Abs. 5 OECD-MA weit zu verstehen ist, sodass ein Veräußerungsgewinn auch im Falle einer rechtsgeschäftslosen, nicht an einen Eigentümer- bzw. Gesellschafterwechsel geknüpften Aufdeckung der stillen Reserven auf den Wegzug vorliegt. 490  Reimer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 13 OECD-MA Rn. 205. 491 Unter dem Begriff stille (nicht aufgedeckte) Reserven verstehe man dabei Gewinne, typischerweise Wertzuwächse, die nicht in der Besteuerungsgrundlage für die Einkommensteuer eines Steuerpflichtigen enthalten sind und somit nicht als Einkünfte des Jahres ihrer Entstehung besteuert werden: Schlussanträge des Generalanwalts Niilo Jääskinen v. 26.2.2015, C-657/­13 Rn. 19 f.: „Stille Reserven können sich aus der Wertsteigerung eines Vermögensgegenstands, aus steuerlichen Regelungen, die höhere Abschreibungen als die tatsächliche abnutzungsbedingte Wertminderung des Vermögensgegenstands zulassen, und/­oder aus sonstigen Abzügen aufgrund von Aufwendungen, die noch nicht entstanden sind, ergeben.“ 492  Die Wegzugsbesteuerung wurde 1972 als „lex Horten“ eingeführt.

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zu mindestens einem Prozent beteiligt war.493 Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist § 17 EStG (Veräußerungsgewinn) im Zeitpunkt des Wegzugs auch ohne tatsächliche Veräußerung der Anteile anzuwenden (fingierte Anteilsveräußerung).494 Der Herkunftsstaat besteuert die stillen Reserven somit, obwohl eine Realisierung (noch) nicht stattgefunden hat. Der fiktive Veräußerungsgewinn wird dabei mit dem gemeinen Wert der Anteile angesetzt (§ 6 Abs. 1 S. 4 A ­ StG);495 im Falle einer späteren tatsächlichen Veräußerung wird dieser Wert auf den tatsächlichen Veräußerungsgewinn angerechnet (§ 6 Abs. 1 S. 5 ­AStG).496 Neben § 6 AStG sieht § 4 Abs. 1 S. 3 EStG vor, dass der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts von Deutschland einer Entnahme für betriebsfremde Zwecke gleichsteht,497 welche gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 4 S. 1 Hs. 2 EStG mit dem gemeinen Wert (§ 9 Abs. 2 BewG) anzusetzen ist.498 In den Fällen des Wegzugs eines Steuerpflichtigen geht jedoch § 6 AStG als lex speci­ alis dem § 4 Abs. 1 S. 3 EStG vor.499 § 6 Abs. 1 S. 2 AStG enthält verschiedene Ersatzrealisationstatbestände, welche der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht gleichstehen. Gemäß § 6 Abs. 3 S. 1 AStG entfällt der Steueranspruch jedoch, wenn der Steuerpflichtige innerhalb von fünf Jahren seit Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht wieder unbeschränkt steuerpflichtig wird, soweit die Anteile nicht veräußert wurden. Darüber hinaus ist die geschuldete Steuer auf Antrag für höchstens fünf Jahre gegen Sicherheitsleistung zu stunden, wenn ihre alsbaldige Einziehung mit erheblichen Härten für den Steuerpflichtigen verbunden wäre (§ 6 Abs. 4 S. 1 AStG). Ist der wegziehende Steuerpflichtige Staatsangehöriger eines EU- oder EWR-Staates und unterliegt er nach der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht in einem dieser Staaten (Zuzugsstaat) einer der deut493  Neben der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht lösen auch die Wegzugssurrogate gemäß § 6 Abs. 1 S. 2 AStG die Wegzugsbesteuerung aus. 494 Gemäß § 6 Abs. 1 S. 4 AStG tritt an die Stelle des Veräußerungspreises (§ 17 Abs. 2 EStG) der gemeine Wert der Anteile in dem nach Satz 1 oder 2 maßgebenden Zeitpunkt. 495 Auch § 17 Abs. 5 S. 1 EStG sieht für im Privatvermögen gehaltene Anteile an einer Kapitalgesellschaft im Fall der Beschränkung oder des Ausschlusses des deutschen Besteuerungsrechts eine fiktive Veräußerung der Anteile zum gemeinen Wert vor. 496  Für den umgekehrten Fall der Steuerverstrickung, also dem Wechsel von der beschränkten zur unbeschränkten Steuerpflicht, sieht § 17 Abs. 2 S. 3 EStG vor, dass der Wert anzusetzen ist, den der Wegzugsstaat bei der Berechnung der Steuer angesetzt hat. Darüber hinaus sieht § 4 Abs. 1 S. 8 Hs. 2 EStG eine Einlagefiktion für Wirtschaftsgüter vor. 497 Vor der Schaffung der Entstrickungsregelungen in § 4 Abs. 1 EStG fehlte eine Rechtsgrundlage für die Besteuerung stiller Reserven: Musil, FR 2011, 545 (551). 498  Kahle/­Beinert, FR 2015, 585. 499  Schnitger, Die Entstrickung im Steuerrecht, S. 26.

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schen unbeschränkten Einkommensteuerpflicht vergleichbaren Steuerpflicht, ist die Steuer gemäß § 6 Abs. 5 AStG zinslos und ohne Sicherheitsleistung zu stunden (sog. qualifizierter Wegzug).500 Im Gegensatz zu § 4g EStG501 wird die Besteuerung nicht auf einen Zeitraum von fünf Jahren verteilt, sondern dauerhaft aufgeschoben.502 Lediglich in den Fällen des § 6 Abs. 5 S. 4 AStG ist die Stundung zu widerrufen, im Fall des § 6 Abs. 7 S. 5 AStG kann sie widerrufen werden, wenn der Steuerpflichtige seine Mitwirkungspflicht nicht erfüllt. Zudem sieht § 6 Abs. 6 AStG vor, spätere (also nach dem Wegzug eintretende) Wertminderungen geltend machen zu können. c)  Entstrickungsbesteuerung aufgrund Sitzverlegung von Körperschaften

Im Falle einer grenzüberschreitenden Sitzverlegung von Gesellschaften gelten hinsichtlich der persönlichen Entstrickung die Darstellungen zu den natürlichen Personen entsprechend. Bei Körperschaften ist die Entstrickungsbesteuerung in § 12 KStG geregelt. Verlegt eine Körperschaft ihre Geschäftsleitung (§ 10 AO) oder ihren Satzungssitz (§ 11 AO) in einen anderen Staat, gilt sie dort als ansässig i. S. d. Art. 4 Abs. 1, 3 OECD-MA. Durch die Sitzverlegung einer Körperschaft entfällt somit deren abkommensrechtliche Ansässigkeit (Art. 4 Abs. 3 OECD-MA), nicht jedoch auch deren unbeschränkte Steuerpflicht (§ 1 Abs. 1 KStG).503 Die stillen Reserven unterliegen fortan der Besteuerung im Zuzugsstaat, was sich auch bei Körperschaften nach Art. 13 Abs. 5 OECD-MA richtet. Deutschland wird damit vom Besteuerungsrecht ausgeschlossen, sodass Art 12 Abs. 1 S. 1 KStG greift: Die stillen Reserven gelten im Zeitpunkt der Sitzverlegung als zum gemeinen Wert veräußert, sodass die dadurch fiktiv entstandenen Gewinne der Wegzugsbesteuerung unterliegen. 500  § 6 Abs. 3, 4 und 5 AStG wurden durch das SEStEG vom 7.12.2006 (BGBl. I 2006, S. 2781) eingefügt. Zuvor hatte die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet, welches aufgrund des beim EuGH damals anhängigen Vorabentscheidungsverfahrens de Lasteyrie du Saillant (EuGH v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lastey­ rie du Saillant, Slg. 2004, I-2409) zunächst zurückgestellt, nach Erlass des Urteils aber wieder fortgesetzt wurde (OFD Berlin, Schreiben v. 30.7.2004 – St 127 – S 1348 – 1/­04). Zu den Auswirkungen des Urteils de Lasteyrie du Saillant auf den deutschen Rechtskreis siehe: Schnitger, BB 2004 Heft 15, 804. Vgl. auch: Wacker, IStR 2017, 926. 501  Auf Antrag kann ein unbeschränkt Steuerpflichtiger für Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens gemäß § 4g Abs. 1 S. 1 EStG einen Ausgleichsposten bilden, welcher insgesamt über fünf Jahre zu jeweils einem Fünftel gewinnerhöhend aufzulösen ist (§ 4g Abs. 2 S. 1 EStG). Problematisch ist jedoch die Beschränkung der Anwendbarkeit von § 4g EStG auf unbeschränkt Steuerpflichtige sowie auf Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens: Faller/­Schröder, DStZ 2015, 890 (893). 502  Schnitger, Die Entstrickung im Steuerrecht, S. 42. 503  Lampert, in: Gosch, KStG, § 12 Rn. 3.

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Nur wenn eine Körperschaft ihren Satzungssitz und ihre Geschäftsleitung in einen Drittstaat verlegt,504 gilt § 12 Abs. 3 S. 1 KStG, wonach die Körperschaft als aufgelöst gilt; insofern liegt also keine „echte“ Wegzugsbesteuerung vor, sondern eine Besteuerung der Liquidationsgewinne.505 Verlegt eine Körperschaft ihren Sitz oder ihre Geschäftsleitung in einen anderen Staat, unterhält sie im Inland aber weiterhin eine Betriebstätte, bleibt das deutsche Besteuerungsrecht bestehen, soweit das Betriebsvermögen inlandsverhaftet bleibt.506 Für Einzelunternehmen und Personengesellschaften gibt es keine dem § 12 KStG vergleichbare Entstrickungsbesteuerung, vielmehr wird aufgrund der Sitzverlegung in der Regel eine Betriebstätte im Zuzugsstaat begründet, wodurch es zur Realisierung von stillen Reserven durch die Verlagerung einzelner Wirtschaftsgüter dorthin kommen kann.507 d)  Entstrickungsbesteuerung aufgrund Verlagerung von Wirtschaftsgütern in einen anderen Mitgliedstaat

Im Falle einer Verlagerung von Wirtschaftsgütern in einen anderen Mitgliedstaat bleiben die Steuerpflichtigen im Herkunftsstaat ansässig, sie verbringen lediglich ihre Wirtschaftsgüter oder Betriebe in einen anderen Staat, sodass eine gegenständliche bzw. objektive Entstrickung erfolgt.508 Genau wie beim Wegzug und bei der Sitzverlegung geht auch bei einer solchen grenzüberschreitenden Verlagerung die Besteuerungsbefugnis grundsätzlich vom Herkunftsauf den Aufnahmestaat über. Im deutschen Steuerrecht finden sich die entsprechenden Vorschriften in §§ 6 Abs. 5, 16 Abs. 3a EStG, §§ 3, 11 bis 13, 20 bis 25 UmwStG. Ein Ausschluss bzw. eine Beschränkung des Besteuerungsrechts Deutschlands im Falle der Überführung von Wirtschaftsgütern einer inländischen in eine ausländische Betriebstätte liegt dann vor, wenn (aufgrund eines DBA) die Gewinne der ausländischen Betriebstätte im Inland freizustellen sind bzw. die ausländische Steuer im Inland anzurechnen ist;509 Entsprechendes gilt, 504 

Insoweit ist die Darstellung bei Franz (EuZW 2004, 270 [271 f.]) zumindest unklar formuliert. 505  Zum Verhältnis von § 12 Abs. 1 und Abs. 3 KStG zueinander siehe: Lampert, in: Gosch, KStG, § 12 Rn. 26. 506  Lampert, in: Gosch, KStG, § 12 Rn. 2. 507  Bergemann/­S chönherr/­Stäblein, BB 2005, 1706 (1717). 508  Der EuGH unterscheidet hierbei nicht zwischen einer teilweisen und einer vollständigen Überführung von Wirtschaftsgütern. 509  Dies gilt gemäß dem Regelbeispiel für eine Entstrickung in § 4 Abs. 1 S. 4 EStG: BT-Drs. 16/­2710, S. 28. Eine entsprechende Regelung findet sich auch in § 12 Abs. 1 S. 2 KStG sowie in § 16 Abs. 3a EStG mit Verweis auf § 4 Abs. 1 S. 4 EStG, wodurch auch Fälle einer Betriebsaufgabe erfasst sind.

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sofern mit dem Betriebstättenstaat kein DBA abgeschlossen wurde.510 Um eine solche Überführung von Wirtschaftsgütern einer inländischen in eine ausländische Betriebstätte ging es auch im Urteil Verder LabTec.511 Daneben ging es im Urteil Kommission/­Dänemark um die Übertragung von Vermögensgegenständen einer Gesellschaft auf eine ihrer Betriebstätten in anderen Mitgliedstaaten und die darauf beruhende sofortige Besteuerung der stillen Reserven.512 Bei den sonstigen Vorgängen – wie beispielsweise bei der Sacheinlage (§ 20 UmwStG), der Einbringung einer ausländischen Betriebstätte in eine ausländische Gesellschaft, der Übertragung von Rechten oder der Einbringung von Vermögenswerten bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung513 – ist der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts des Herkunftsstaats der Grundtatbestand der Entstrickungsbesteuerung. Im Folgenden soll die Entstrickungsbesteuerung in erster Linie vor dem Hintergrund eines Wegzugs bzw. einer Sitzverlegung dargestellt werden. Die Ausführungen gelten aber entsprechend für die grenzüberschreitende Verlagerung von Wirtschaftsgütern sowie für anderen Vorgänge. e)  Problemaufriss

Der Hintergrund der Entstrickungsbesteuerung im Falle eines Wegzugs oder einer Sitzverlegung ist, dass die Besteuerungsbefugnis des Herkunftsstaa510 

Faller/­Schröder, DStZ 2015, 890 (891). EuGH v. 21.5.2015, C-657/­13 – Verder LabTec, GRUR Int. 2015, 839. Im konkreten Fall ging es um § 4 Abs. 1 S. 3, 4 EStG. Hintergrund des Rechtsstreits war die langjährige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, wonach die Überführung von Einzelwirtschaftsgütern aus einem inländischen Stammhaus in eine ausländische Freistellungs-Betriebstätte zu einer gewinnverwirklichenden Entnahme führte (sog. Theorie der finalen Entnahme), welche er mit Urteil vom 17.7.2008 – I R 77/­06, BFHE 222, 402 aufgab: Mitschke, IStR 2014, 37 (43). Nach Ansicht des Generalanwalts liege sogar ohne den vom EuGH angenommenen Liquiditätsnachteil eine ungünstigere Behandlung vor, da die Festsetzung der Wegzugssteuern für den Steuerpflichtigen zum Verlust des Rechts führe, bei der Berechnung der Steuerschuld eine spätere Minderung des Marktwerts der Wirtschaftsgüter geltend zu machen: Schlussanträge des Generalanwalts Niilo Jääskinen v. 26.2.2015, C-657/­13 Rn. 46. 512  EuGH v. 18.7.2013, C-261/­11 – Kommission/­Dänemark, BeckEURS 2013, 736235. Im konkreten Fall ging es um Art. 7 A, 8 Abs. 4 des dänischen Körperschaftsteuergesetztes. Das Urteil ist nur in dänischer und französischer Sprache verfügbar. Vgl. auch: Schlussanträge des Generalanwalts Niilo Jääskinen v. 26.2.2015, C-657/­13 Rn. 32. Unklar bleibt, ob die Feststellungen im Urteil auch für den umgekehrten Fall der Überführung einer ausländischen Betriebstätte in eine inländische Betriebstätte gelten. 513  EuGH v. 8.3.2017, C-14/­16 – Euro Park Service, EuZW 2017, 429. In diesem Urteil ging es um Steuervorteile, die in der Fusionsrichtlinie geregelt waren und unter anderem den Aufschub der Besteuerung des Wertzuwachses der bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung eingebrachten Vermögenswerte umfassten (Rn. 29). 511 

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tes aufgrund der steuerlichen (persönlichen) Entstrickung regelmäßig entfällt. Denn in der Regel begründet der Steuerpflichtige mit dem Wegzug zugleich eine neue Ansässigkeit im Ausland.514 Auf DBA-Ebene greift dann die Bestimmung des Art. 13 Abs. 5 OECD-MA. Danach können Veräußerungsgewinne von Vermögen, das in den Absätzen 1 bis 4 nicht genannt ist, nur in dem Vertragsstaat besteuert werden, in dem der Veräußerer ansässig ist. Zu den Veräußerungsgewinnen zählen unter anderem sowohl Gewinne aus der Veräußerung von Gesellschaftsanteilen 515 als auch aus Umwandlungsvorgängen.516 In diesen Fällen steht die Besteuerungsbefugnis dem Zuzugsstaat zu. Wegen der einheitlichen Behandlung des Veräußerungsgewinns auf internationaler Ebene517 hat der Wegzugsstaat keinen Zugriff mehr auf die bei ihm damit entstandenen Gewinne.518 Ähnliches gilt auch für die Realisierung von Unternehmensgewinnen,519 denn auch diese werden gemäß Art. 7 Abs. 1 OECD-MA in dem Vertragsstaat besteuert, in dem das Unternehmen ansässig ist.520 Um zumindest die Besteuerung der vor der Ersatzrealisation entstandenen stillen Reserven zu wahren, nimmt der Herkunftsstaat eine Entstrickungsbesteuerung vor. Dass die innerstaatlichen Vorschriften damit auch Fragen zur Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten aufwerfen, liegt auf der Hand. Denn bereits auf den ersten Blick ist erkennbar, dass ein Steuerpflichtiger, der seine Ansässigkeit in das Ausland verlegt, ungünstiger behandelt wird als ein Steuerpflichtiger, der im Inland bleibt. Zudem widerspricht dies der abkommensrechtlichen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Vertragsstaaten. Hierbei ist zu beachten, dass die Regelungen der jeweiligen DBA jedoch erst die Grundlage dafür schaffen, dass eine Besteuerung von Gewinnen in Form von stillen Reserven beim Wegzugsstaat nicht mehr uneingeschränkt möglich ist, also eine Reaktion auf nationaler Ebene durch Regelungen über die Wegzugsbesteuerung erfolgt. An dieser Stelle treffen also die abkommensrechtliche Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten sowie die unbeschränkte Steuerpflicht nach deutschem Steuerrecht aufeinander. So kann trotz bestehender unbeschränkter Steuerpflicht die Besteuerungsbefugnis von Deutschland 514  Unter Umständen kann der Steuerpflichtige auch in mehreren Staaten über eine Ansässigkeit verfügen. 515  Reimer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 13 OECD-MA Rn. 190. 516  Reimer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 13 OECD-MA Rn. 193. 517  Reimer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 13 OECD-MA Rn. 201. 518  Reimer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 13 OECD-MA Rn. 190. 519  Dazu gehören beispielsweise auch Wertzuwächse, die durch Kurswechselschwankungen zwischen Britischem Pfund Sterling und Niederländischen Gulden entstehen. 520  Hemmelrath, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 7 OECD-MA Rn. 16.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

ausgeschlossen sein, wenn das DBA dem jeweils anderen Vertragsstaat das Besteuerungsrecht zuweist. Die Erhebung der Wegzugssteuern kann zudem zu einer Doppelbesteuerung oder einer Nichtbesteuerung der stillen Reserven führen.521 Eine Doppelbesteuerung kann dann entstehen, wenn der Wegzugsstaat eine Wegzugssteuer auf der Grundlage der Differenz zwischen Buchwert und tatsächlichem Wert der Wirtschaftsgüter erhebt und der Aufnahmestaat denselben Buchwert als Besteuerungsgrundlage bei einer Veräußerung des Wirtschaftsguts zugrunde legt, ohne einen Abzug für die im Wegzugsstaat erhobene Wegzugssteuer zuzulassen.522 Erhebt der Wegzugsstaat hingegen keine Wegzugssteuer, während der Zuzugsstaat den tatsächlichen Wert des Wirtschaftsguts mit seinen Eingangswert ansetzt (sog. Step-up) und wird das Wirtschaftsgut zu diesem Wert veräußert, kann eine Nichtbesteuerung der stillen Reserven eintreten.523 2.  Die Rechtsprechung des EuGH

Mit den verschiedenen Problemen im Bereich der Entstrickungsbesteuerung hatte sich der EuGH bereits in mehreren Urteilen zu befassen. Im Folgenden werden die Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung zu dieser Problematik chronologisch dargestellt und anschließend die daraus folgenden Grundsätze untersucht und erörtert. a)  De Lasteyrie du Saillant und N

Die ersten beiden Urteile des EuGH zur Wegzugsbesteuerung von natürlichen Personen betrafen die Fälle de Lasteyrie du Saillant 524 und N 525. In beiden Sachverhalten ging es um die Besteuerung von latenten Wertsteigerungen (stillen Reserven) von Gesellschafterrechten im Falle des Wegzugs. Die betroffenen Steuerpflichtigen hielten jeweils wesentliche Anteile an inländischen Gesellschaften, deren Wert über ihrem Anschaffungspreis lag. Es lagen somit stille Reserven vor, die der EuGH stets als latente Wertsteigerungen bezeichnet.526 Als die betroffenen Steuerpflichtigen ihren Wohnsitz vom Inland in einen ande521 

Schlussanträge des Generalanwalts Niilo Jääskinen v. 26.2.2015, C-657/­13 Rn. 24. Schlussanträge des Generalanwalts Niilo Jääskinen v. 26.2.2015, C-657/­13 Rn. 24. 523  Schlussanträge des Generalanwalts Niilo Jääskinen v. 26.2.2015, C-657/­13 Rn. 24. 524  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409. Im konkreten Fall ging es um Art. 167bis des französischen Code général des impôts (CGI). 525  EuGH v. 7.9.2006, C-470/­0 4 – N, Slg. 2006, I-7409. Im konkreten Fall ging es um ein mit der niederländischen Wet op de inkomstenbelasting (WIB), Invorderingswet (IW) und Uitvoeringsregeling invorderingswet (URIW) errichtetes System von diversen Vorschriften. 526  Schnitger, BB 2004, 804 (805). 522 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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ren Mitgliedstaat verlegten, wurden sie hinsichtlich der Wertsteigerungen ihrer Anteile besteuert.527 Der Grund dafür war, dass die streitigen innerstaatlichen Vorschriften vorsahen, dass Steuerpflichtige im Falle eines Wegzugs hinsichtlich des Wertzuwachses ihrer Gesellschaftsanteile besteuert werden, auch wenn diese tatsächlich noch nicht realisiert waren.528 Blieben die Steuerpflichtigen hingegen im Inland, wurden die entstandenen Wertsteigerungen erst dann besteuert, wenn sie tatsächlich realisiert wurden. Darüber hinaus sahen die nationalen Vorschriften in beiden Urteilen zwar einen Zahlungsaufschub der auf die Wertsteigerung zu entrichtenden Steuer für die Dauer von fünf529 bzw. zehn530 Jahren bzw. bis zur tatsächlichen Realisierung der stillen Reserven vor, der jedoch an relativ strenge Voraussetzungen, insbesondere an die Leistung von Sicherheiten, geknüpft war.531 Im Fall N sahen die innerstaatlichen Vorschriften zusätzlich vor, dass mögliche nach dem Wegzug eintretende Wertminderungen nicht steuermindernd berücksichtigt werden konnten und dass der Steuerpflichtige beim Wegzug zudem eine Steuererklärung abzugeben hatte.532 Beide innerstaatlichen Vorschriften führten nach Ansicht des EuGH zu einem Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit, da nur ein wegziehender Steuerpflichtiger allein wegen des Wegzugs mit den Einkünften steuerpflichtig wurde, die noch nicht realisiert waren.533 Die Besteuerung der stillen Reserven im Zeitpunkt des Wegzugs führe im Ergebnis zu einer Ungleichbehandlung der Steuerpflichtigen.534 Für diese sei es aufgrund der nationalen Vorschriften weniger 527  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 12, 20; v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 11. 528  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­ 02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 3; v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 3 ff. 529  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 3. 530  EuGH v. 7.9.2006, C-470/­0 4 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 8. 531  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­ 02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 3: „Der Zahlungsaufschub setzt voraus, dass der Steuerpflichtige den Betrag der festgestellten Wertsteigerung erklärt, einen Antrag auf Zahlungsaufschub stellt, einen in Frankreich ansässigen Bevollmächtigten benennt, der zum Empfang von Mitteilungen in Bezug auf Besteuerungsgrundlage, Steuererhebung sowie steuerrechtliche Rechtsstreitigkeiten ermächtigt ist, und vor seinem Wegzug dem für die Steuererhebung zuständigen Finanzbeamten Sicherheiten leistet, die geeignet sind, die Einziehung der Steuerforderung der Finanzverwaltung zu gewährleisten.“ Vgl. EuGH v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 8 f. 532  EuGH v. 7.9.2006, C-470/­0 4 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 37 f. 533  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 34 f.; v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 35. 534  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 46 ff.; v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 37 f.: Diese Ungleichbehandlung und da-

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

attraktiv, ihren Wohnsitz in das Ausland zu verlegen, sodass Steuerpflichtige von einem Wegzug faktisch abgehalten wurden.535 Trotz der vergleichbaren Sachverhalte bestehen auf der Rechtfertigungsebene erhebliche Unterschiede zwischen den beiden Urteilen. So ist die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit im Fall de Lasteyrie du Saillant nach Ansicht des EuGH nicht gerechtfertigt. Frankreich könne sich nicht darauf berufen, mittels der streitigen innerstaatlichen Vorschrift der Steuerflucht vorzubeugen, denn allein der Wegzug einer natürlichen Person lasse keine allgemeine Vermutung der Steuerflucht zu.536 Die französische Vorschrift sei zudem unverhältnismäßig, weil sie allgemein alle Fälle erfasse, in denen ein Steuerpflichtiger seinen Wohnsitz, aus welchem Grund auch immer, ins Ausland verlegt, und damit eine Steuerflucht schlichtweg unterstelle.537 Als milderes Mittel käme in Betracht, dass eine Besteuerung nur dann erfolge, wenn der Steuerpflichtige sich nur für eine verhältnismäßig kurze Zeit im Ausland aufhalte, dort die Wertsteigerungen realisiere und anschließend wieder nach Frankreich zurückkehre.538 Nur ein solcher Vorgang würde die Vermutung der Steuerflucht nahelegen.539 Darüber hinaus greife auch der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz des Steuersystems nicht, da kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Aufschub der jährlichen Besteuerung der Wertsteigerung und der tatsächlichen Erhebung der Steuer bei Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland bestehe.540 Zu beachten ist, dass der EuGH im Urteil de Lasteyrie du Saillant die vorgebrachte Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten noch nicht anerkennt, da es seiner Ansicht nach weder hierum noch um das Recht der fran-

mit der Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit umfassten auch den Umstand, dass nach der Verlegung des Wohnsitzes eintretende Wertminderungen nicht steuermindernd berücksichtigt wurden sowie das zusätzliche Erfordernis, eine Steuererklärung abzugeben. 535  Ein Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit liegt nach Ansicht des EuGH hingegen nicht vor, da die bloße Verlegung des Wohnsitzes von einem Staat in den anderen nicht in den Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit falle, da sie für sich genommen keine Transaktionen oder die Übertragung von Eigentum umfasse und auch keine anderen Merkmale einer Bewegung von Kapital aufweise: EuGH v. 23.2.2006, C-513/­03 – van Hilten-van der Heijden, Slg. 2006, I-1957 Rn. 49. Vgl. auch: Schlussanträge des Generalanwalts Philippe Léger v. 30.6.2005, C-513/­03 Rn. 58; a. A.: Bron, IStR 2006, 296 (298 ff.). 536  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 51 f. 537  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 50. 538 Schlussanträge des Generalanwalts Jean Mischo v. 13.3.2003, C-9/­ 02 Rn. 64; EuGH v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 54. 539  So implizit: Schlussanträge des Generalanwalts Jean Mischo v. 13.3.2003, C-9/­02 Rn. 64. 540  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 61 ff.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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zösischen Behörden gehe, latente Wertsteigerungen zu besteuern, um auf künstliche Wohnsitzverlegungen zu reagieren.541 Im Urteil N war der EuGH hingegen der Ansicht, dass der Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit durch die Wahrung der ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz des Territorialitätsprinzips gerechtfertigt sei.542 Denn die niederländischen Vorschriften sahen im Falle einer Veräußerung nur die Beitreibung der beim Wegzug festgesetzten und gestundeten Steuer auf die im Inland angefallenen Wertsteigerungen vor und knüpften damit an ein territoriales Element verbunden mit einer zeitlichen Komponente (den Aufenthalt des Steuerpflichtigen im Inland während des jeweiligen Zeitraums) an.543 Dies entspreche dem in Art. 13 Abs. 5 OECD-MA544 geregelten Territorialitätsprinzip. Abweichend davon sah Art. 13 Abs. 5 des betroffenen DBA vor, dass die Niederlande als Wegzugsstaat die Veräußerungsgewinne einer Person besteuern könne, die im Ausland ansässig ist, aber während fünf der Veräußerung vorangegangenen Jahre in den Niederlanden gewohnt hatte.545 Zwar verfolgten die streitigen niederländischen Vorschriften ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel, sie sind jedoch nach Ansicht des EuGH zumindest in Teilen unverhältnismäßig. Verhältnismäßig sei zumindest die Verpflichtung des Steuerpflichtigen zur Abgabe einer Steuererklärung im Zeitpunkt des Wegzugs, da der Steuerpflichtige bei der Veräußerung der Gesellschaftsanteile ohnehin verpflichtet sei, eine Steuererklärung abzugeben, in die die Ermittlung des Verkaufswerts zum Zeitpunkt des Wegzugs mit einzubeziehen sei.546 Die für die Gewährung der Stundung erforderliche Leistung von Sicherheiten ist nach Ansicht des EuGH hingegen unverhältnismäßig. Denn in diesem Zusammenhang habe die EU bereits mehrere Richtlinien erlassen, die es dem betroffenen Mitgliedstaat gerade auch bei grenzüberschreitenden Konstellationen ermöglichten, die ihm zustehenden Steuern beizutreiben.547 Es gebe somit ein milderes Mittel zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit und Wirksamkeit des nationalen Besteuerungssystems. Auch die fehlende Möglichkeit zur Be541 

EuGH v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 68. v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 46 f.; Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 30.3.2006, C-470/­04 Rn. 91 ff. 543 Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 30.3.2006, C-470/­ 04 Rn. 96 f.; EuGH v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 46 f. 544  Dies sah auch Art. 13 Abs. 4 des betroffenen DBA zwischen den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich vor. 545 Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 30.3.2006, C-470/­ 04 Rn. 94 ff.; EuGH v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 46. 546  EuGH v. 7.9.2006, C-470/­0 4 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 49 f. 547  EuGH v. 7.9.2006, C-470/­0 4 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 52 f. 542  EuGH

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

rücksichtigung der nach dem Wegzug eintretenden Wertminderungen sei nicht verhältnismäßig.548 b)  National Grid Indus und Kommission/­Portugal

Um die Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften und die Besteuerung von Gewinnen aus den Unternehmen ging es in den EuGH-Urteilen National Grid Indus 549 sowie Kommission/­Portugal 550. Deren Grundsätze übertrug der EuGH später im zweiten Urteil Kommission/­Portugal 551, in dem es um den Tausch von Gesellschaftsanteilen ging, ausdrücklich und uneingeschränkt auch auf natürliche Personen. Ähnlich wie bei der Besteuerung natürlicher Personen sahen die streitigen innerstaatlichen Vorschriften auch hier vor, dass die nicht realisierten Wertzuwächse der betroffenen Vermögenswerte im Fall der Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes oder der tatsächlichen Leitung einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat sofort besteuert wurden.552 Ein Aufschub der Besteuerung bis zu dem Zeitpunkt der tatsächlichen Realisierung der Wertzuwächse sowie die Berücksichtigung von nach dem Wegzug eintretenden Wertminderungen waren in den innerstaatlichen Vorschriften nicht geregelt. Die Vorschriften führten somit dazu, dass die sitzverlegenden Gesellschaften der sofortigen Besteuerung der nicht realisierten Wertzuwächse beim verlegten Vermögen unterlagen. Die Gesellschaften, die ihren Verwaltungssitz hingegen im Inland beließen, waren 548 

EuGH v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 54. EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 86. Im konkreten Fall ging es um Art. 16 der niederländischen Wet op de inkomstenbelasting 1964 (Einkommensteuergesetz). 550  EuGH v. 6.9.2012, C-38/­10 – Kommission/­Portugal, EuZW 2012, 947. Im konkreten Fall ging es um Art. 76 A, 76 B und 76 C des portugiesischen Código português do Imposto sobre o Rendimento das Pessoas Colectivas (CIRC). Die Rüge der Kommission bezüglich der sofortigen Besteuerung der nicht realisierten Wertzuwächse bei den Anteilseignern gemäß Art. 76 C CIRC wurde für unzulässig erklärt und die Klage insofern abgewiesen. 551  EuGH v. 21.12.2016, C-503/­14 – Kommission/­Portugal, EuZW 2017, 180 Rn. 53 ff. Im konkreten Fall ging es um Art. 10 Abs. 9 lit. a), 38 Abs. 1 lit. a) des portugiesischen Código do Imposto sobre o Rendimento das Pessoas Singulares (CIRS); vgl. auch: Hen­ ze, ISR 2017, 47 (49). Bereits in den Urteilen Kommission/­Spanien (EuGH v. 12.7.2012, C-269/­09  – Kommission/­Spanien, EuZW 2013, 34 Rn. 75  ff.) sowie Kommission/­ Deutschland (EuGH v. 16.4.2015, C-591/­13 – Kommission/­Deutschland, BB 2015, 1263 Rn. 65 ff.) hatte der EuGH die Grundsätze im Zusammenhang mit der Besteuerung von Wertzuwächsen bei Unternehmen auf die Besteuerung von stillen Reserven bei natürlichen Personen übertragen, ohne dies jedoch ausdrücklich klar zu stellen. 552 EuGH v. 6.9.2012, C-38/­ 10 – Kommission/­Portugal, EuZW 2012, 947 Rn. 3; v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 7. 549 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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von dieser Regelung nicht betroffen; vielmehr wurden bei ihnen die Wertzuwächse erst dann besteuert, wenn und soweit sie sich tatsächlich realisiert hatten. Beide innerstaatlichen Vorschriften verstießen nach Ansicht des EuGH gegen die Niederlassungsfreiheit, da sie eine Ungleichbehandlung von Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz oder ihre tatsächliche Leitung aus dem Inland in einen anderen Mitgliedstaat verlegten, im Verhältnis zu Gesellschaften, die ihren Sitz im Inland beibehielten, begründeten.553 Denn bei letzteren wurden nur die tatsächlich realisierten Wertzuwächse besteuert, was zu einem Liquiditätsvorteil gegenüber den wegziehenden Gesellschaften führte.554 Die festgestellten Verstöße sind nach Ansicht des EuGH in beiden Urteilen aufgrund der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten gerechtfertigt.555 Denn ein Mitgliedstaat habe nach dem Grundsatz der steuerlichen Territorialität, verbunden mit einem zeitlichen Element – nämlich der Steueransässigkeit des Steuerpflichtigen im Inland während der Entstehung der nicht realisierten Wertzuwächse – das Recht, diese Wertzuwächse zum Zeitpunkt des Wegzugs des Steuerpflichtigen zu besteuern.556 Aufgrund der innerstaatlichen Regelungen würden somit lediglich die Wertzuwächse, die unter der Steuerhoheit des Herkunftsmitgliedstaats vor der Sitzverlegung erzielt wurden, besteuert. Im Gegensatz dazu würden die Wertzuwächse bzw. Gewinne, die erst nach dem Wegzug erzielt wurden, ausschließlich im Zuzugsstaat besteuert.557 Dadurch werde eine Doppelbesteuerung vermieden und eine ausgewogene und gerechte Aufteilung der Besteuerung hergestellt, abhängig davon, in welchem Staat die Wertzuwächse erzielt wurden. 553 EuGH v. 6.9.2012, C-38/­ 10 – Kommission/­Portugal, EuZW 2012, 947 Rn. 28; v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 37. 554  Gleiches galt nach Ansicht des EuGH für den Fall vor dem Wegzug entstandener Kursgewinne (EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 40) sowie von Vermögen, das einer inländischen Betriebstätte einer ausländischen Gesellschaft zugeordnet war und dieses Vermögen in einen anderen Mitgliedstaat verlagert wurde (EuGH v. 6.9.2012, C-38/­10 – Kommission/­Portugal, EuZW 2012, 947 Rn. 34). Hinsichtlich der Frage eines Wegzugs bzw. einer Verbringung von Wirtschaftsgütern in einen anderen EWR-Staat wurde die Klage als unzulässig abgewiesen. 555  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 43 ff. In seinem Urteil Kommission/­Portugal (EuGH v. 6.9.2012, C-38/­ 10 – Kommission/­ Portugal, EuZW 2012, 947) geht der EuGH nicht näher auf eine Rechtfertigung ein. 556  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­ 10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 46; vgl. EuGH v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 46. 557  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­ 10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 48; vgl. EuGH v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 46; v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 46; v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 54; v. 21.1.2010, C-311/­08 – SGI, Slg. 2010, I487 Rn. 60.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Die innerstaatlichen Vorschriften sind nach Ansicht des EuGH jedoch nur teilweise verhältnismäßig. Hierbei unterscheidet der EuGH zwischen der Verhältnismäßigkeit der sofortigen Festsetzung des Steuerbetrags einerseits und der sofortigen Einziehung dieses Betrags andererseits.558 Verhältnismäßig ist nach seiner Ansicht die endgültige Festsetzung der Steuer im Zeitpunkt des Wegzugs, da der Wegzugsstaat zur Wahrung seiner Steuerhoheit die Steuer bestimme, die für die in seinem Hoheitsgebiet erzielten, aber nicht realisierten Wertzuwächse zu dem Zeitpunkt geschuldet werde, zu dem seine Besteuerungsbefugnis der betreffenden Gesellschaft gegenüber ende.559 Im Urteil N war der EuGH noch der Auffassung, dass der Wegzugsstaat auch spätere, nach dem Wegzug eingetretene Wertminderungen berücksichtigen müsse.560 Trotz dem dies im Urteil National Grid Indus nicht der Fall war, hält der EuGH die niederländische Vorschrift für verhältnismäßig, da die Vermögenswerte einer Gesellschaft unmittelbar wirtschaftlichen Tätigkeiten zugewiesen seien, die auf Gewinn ausgerichtet seien.561 Der EuGH nimmt entgegen seiner früheren Rechtsprechung an, dass möglicherweise später auftretende Wertminderungen (beispielsweise durch Währungsverluste) nur vom Zuzugsstaat zu berücksichtigen seien, da das Besteuerungsrecht ab dem Zeitpunkt der Sitzverlegung bei diesem Staat liege und andernfalls die Gefahr einer doppelten Besteuerung oder einem doppelten Verlustabzug bestünde.562 Unverhältnismäßig sei nach Ansicht des EuGH jedoch die sofortige Einziehung der Steuer auf die nicht realisierten Wertzuwächse im Zeitpunkt des Wegzugs, da sie nicht das mildeste Mittel darstelle.563 So würde eine nationale Vorschrift, die einer sitzverlegenden Gesellschaft die Wahlmöglichkeit zwischen der sofortigen Entrichtung der Steuer und einer Aufschiebung der Steuerentrichtung eröffne, die Niederlassungsfreiheit weniger stark beeinträchtigen als die streitigen innerstaatlichen Vorschriften. Dies gelte auch, wenn Vermögenswerte überführt werden.564

558 

EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 51 ff. EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 52. 560  EuGH v. 7.9.2006, C-470/­0 4 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 54. 561  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 57. 562  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 58 f. 563  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 73 ff.; v. 6.9.2012, C-38/­10 – Kommission/­Portugal, EuZW 2012, 947 Rn. 32. 564  EuGH v. 6.9.2012, C-38/­10 – Kommission/­Portugal, EuZW 2012, 947 Rn. 34. 559 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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c)  Kommission/­Spanien

Im Urteil Kommission/­S panien sah die streitige spanische Vorschrift vor, dass im Falle einer Verlegung des Wohnsitzes sämtliche noch nicht zugeordneten Einkünfte des Steuerpflichtigen dem letzten Veranlagungszeitraum, für den für die betreffende Steuer eine Erklärung abzugeben war, zugeordnet wurden.565 Bei den Steuerpflichtigen, die ihren Wohnsitz in das Ausland verlegten, wurden somit die noch nicht verrechneten Einkünfte in die Besteuerungsgrundlage ihres letzten Veranlagungszeitraums als gebietsansässige Steuerpflichtige einbezogen.566 Entsprechend der Urteile de Lasteyrie du Saillant 567 und N 568 wurden auch im vorliegenden Urteil die Einkünfte dem letzten Veranlagungszeitraum zugerechnet, in dem der Steuerpflichtige seine Ansässigkeit im Herkunftsstaat hatte. Die Besteuerung der Einkünfte wurde damit zeitlich vorverlegt. Dies stellte nach Ansicht des EuGH einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit dar.569 Dieser Verstoß ist nach Ansicht des EuGH nicht gerechtfertigt. Zum einen sei der Rechtfertigungsgrund der Notwendigkeit, eine effektive Einziehung der Steuerschuld zu gewährleisten, nicht einschlägig. Denn auf Unionsebene bestünden hinreichende Verfahren zur gegenseitigen Unterstützung, die den Wegzugsstaat in die Lage versetzten, eine Steuerschuld auch in einem anderen Mitgliedstaat einzuziehen.570 Zum anderen könne sich Spanien auch nicht erfolgreich auf den Rechtfertigungsgrund der Wahrung der ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten berufen, obwohl sich dieser grundsätzlich auch auf bereits erzielte Einkünfte bezieht, denn anders als in den anderen Urteilen ging es in der vorliegenden Rechtssache nicht um die Festsetzung der Steuer im Zeitpunkt des Wegzugs, sondern um ihre

565  EuGH v. 12.7.2012, C-269/­09 – Kommission/­S panien, EuZW 2013, 34 Rn. 105. Im konkreten Fall ging es um Art. 14 Abs. 3 der spanische Ley 35/­2006 del Impuesto sobre la Renta de las Personas Físicas y de modificación parcial de las leyes de los Impuestos sobre Sociedades, sobre la Renta de no Residentes y sobre el Patrimonio. 566  EuGH v. 12.7.2012, C-269/­09 – Kommission/­S panien, EuZW 2013, 34 Rn. 57. 567  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 46. 568  EuGH v. 7.9.2006, C-470/­0 4 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 35. 569  EuGH v. 12.7.2012, C-269/­09 – Kommission/­S panien, EuZW 2013, 34 Rn. 59. Daneben verstößt die spanische Vorschrift auch gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie das allgemeine Freizügigkeitsrecht. Der Unterschied zu den bisher dargestellten Sachverhalten war zum einen, dass die nationalen Vorschriften sämtliche noch nicht zugeordneten Einkünfte des Steuerpflichtigen umfassten, und zum anderen, dass die Besteuerung von bereits erzielten und steuerlich erfassten Einkünften betroffen war. 570 EuGH v. 12.7.2012, C-269/­ 09 – Kommission/­Spanien, EuZW 2013, 34 Rn. 68; v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 78.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

sofortige Einziehung.571 Es sei somit nicht nachgewiesen, dass tatsächlich ein Konflikt zwischen der Steuerhoheit des Wegzugsstaats und der des Aufnahmestaats bestehe, da kein anderer Mitgliedstaat beanspruche, die in Spanien erzielten Einkünfte zu besteuern. Das Besteuerungsrecht ist damit in Übereinstimmung mit Art. 13 Abs. 5 OECD-MA eindeutig aufgeteilt, sodass sich bereits keine Doppelbesteuerung der erzielten Einkünfte ergibt.572 d)  DMC

Im Urteil DMC 573 hatte sich der EuGH mit dem Ausschluss des Besteuerungsrechts des betroffenen Mitgliedstaates aufgrund eines Umwandlungsvorgangs zu befassen. Im Sachverhalt ging es um eine deutsche GmbH & Co. KG mit Sitz in Hamburg, an der als Kommanditisten zwei österreichische GmbHs zu je 50 % beteiligt waren. Die mit 0 % beteiligte Komplementärin war eine deutsche GmbH, an der beide Kommanditisten wiederum jeweils 50 % hielten. Beide Kommanditisten brachten ihre Kommanditanteile in die Komplementär-­ GmbH gegen Gewährung neuer Anteile an der GmbH ein, wodurch die Kommanditgesellschaft ipso iure aufgelöst wurde. Die übernehmende GmbH setzte das übernommene Vermögen steuerneutral mit dem Buchwert an. Da die Kommanditisten aber weder in Deutschland ansässig waren noch eine Betriebstätte dort betrieben, war die Besteuerungsbefugnis von Deutschland ausgeschlossen.574 Das Finanzamt lehnte einen solchen Buchwertansatz ab. Stattdessen setzte es gemäß § 20 Abs. 3 UmwStG 1995575 die eingebrachten Anteile mit ihrem Teilwert an, sodass die stillen Reserven aufgedeckt und besteuert wurden. Aufgrund dieser Vorschrift wurden die bis dahin gebildeten stillen Reserven zudem bereits vor ihrer tatsächlichen Realisierung aufgedeckt und besteuert. 571  EuGH v. 12.7.2012, C-269/­ 09 – Kommission/­Spanien, EuZW 2013, 34 Rn. 79 ff.; Vgl. EuGH v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 46; v. 29.11.2011, C371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 46. 572  EuGH v. 12.7.2012, C-269/­09 – Kommission/­S panien, EuZW 2013, 34 Rn. 86. 573  EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273. Im konkreten Fall ging es um § 20 Abs. 3, 4 UmwStG 1995. Dem Urteil lag erstmals eine deutsche Vorschrift zur Exit-Besteuerung zugrunde. 574 Vgl. Musil, FR 2014, 466 (471); a. A.: Linn, IStR 2014, 136 (137 f.), der annimmt, dass das deutsche Besteuerungsrecht hinsichtlich des eingebrachten Betriebsvermögens durch die Einbringung nicht eingeschränkt worden sei; der EuGH sei hierbei einem gravierenden systematischen Fehlverständnis aufgesessen und habe möglicherweise bereits den Sachverhalt missverstanden. 575  § 20 Abs. 3 UmwStG 1995 sah vor, dass die Kapitalgesellschaft das eingebrachte Betriebsvermögen mit seinem Teilwert anzusetzen hatte, wenn das Besteuerungsrecht der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Gewinns aus einer Veräußerung der dem Einbringenden gewährten Gesellschaftsanteile im Zeitpunkt der Sacheinlage ausgeschlossen war.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Da Österreich nach dem DBA das Besteuerungsrecht für die stillen Reserven sowie die neu ausgegebenen Anteile hatte,576 und in Deutschland auch keine Betriebstätte mehr zurück blieb, war das Besteuerungsrecht von Deutschland ausgeschlossen, sodass es auf die entstandenen stillen Reserven nicht mehr zugreifen konnte.577 Entsprechend der deutschen Vorschriften erfolgte somit eine Besteuerung der stillen Reserven bereits zum Zeitpunkt der Einbringung. Die Entrichtung der Steuer konnte dabei nach § 20 Abs. 6 i. V. m. § 21 Abs. 2 S. 4 UmwStG 1995 auf fünf Jahre aufgeteilt werden, wenn die Entrichtung der Teilbeträge sichergestellt war; Zinsen für diese Stundung wurden nicht erhoben. Blieb die einbringende Gesellschaft hingegen in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig, durfte die aufnehmende Gesellschaft das eingebrachte Betriebsvermögen auch mit seinem Buchwert ansetzen (§ 20 Abs. 2 Nr. 3 U ­ mwStG 1995), sodass eine Besteuerung der stillen Reserven erst im Zeitpunkt deren tatsächlicher Realisierung erfolgte. Die sofortige Besteuerung der stillen Reserven und die damit einhergehende Ungleichbehandlung ist nach Ansicht des EuGH geeignet, Investoren ohne steuerlichen Sitz in Deutschland davon abzuhalten, Kapital in eine Kommanditgesellschaft deutschen Rechts einzubringen.578 Hierin liegt nach Ansicht des EuGH eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit (nicht aber der Niederlassungsfreiheit). Dieser Verstoß kann jedoch nach Ansicht des EuGH aufgrund der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten nach dem Territorialitätsprinzip gerechtfertigt werden, wenn der Mitgliedstaat seine Besteuerungsbefugnis hinsichtlich der stillen Reserven bei ihrer tatsächlichen Realisierung nicht ausüben könne.579 Dies gelte auch für Umwandlungsvorgänge.580 Die streitigen deutschen Vorschriften sind nach Ansicht des EuGH auch verhältnismäßig.581 Denn dem Steuerpflichtigen werde vorliegend die Wahl gelassen zwischen der sofortigen Zahlung der Steuer auf die nicht realisierten Wertzuwächse und einer Stundung des Steuerbetrags.582 Eine mögliche Stellung 576 EuGH v. 23.1.2014, C-164/­ 12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 8; Art. 7 Abs. 4 DBA-Österreich 1954; vgl. Art. 13 Abs. 5 OECD-MA. 577  EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 50. 578  EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 40. 579  EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 44 ff., 58. 580  EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 48. 581  EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 59 ff. 582 Vgl. in diesem Sinne: EuGH v. 29.11.2011, C-371/­ 10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 73; v. 6.9.2012, C-38/­10 – Kommission/­Portugal, EuZW 2012, 947 Rn.  31 f.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

einer Banksicherheit macht der EuGH aufgrund der beschränkenden Wirkung einer solchen Sicherheit davon abhängig, dass eine vorherige Bewertung des Nichteinbringungsrisikos aufgestellt werde.583 e)  A Oy

Um die Einbringung von Unternehmensteilen ging es im Urteil des EuGH im Fall A Oy 584. Anders als der Sachverhalt DMC war im vorliegenden Urteil nicht die Besteuerung im Betriebstättenstaat, sondern im Ansässigkeitsstaat der Gesellschaft zu klären. Im Sachverhalt ging es um eine finnische Gesellschaft, die im Wege der Einbringung von Unternehmensteilen eine in Österreich belegene Betriebstätte auf eine österreichische Gesellschaft übertrug und im Gegenzug Anteile an dieser Gesellschaft erhielt.585 Solche grenzüberschreitenden Umstrukturierungen sollen durch die Fusionsrichtlinie gerade erleichtert werden.586 Die finnischen Vorschriften sahen somit unter Umsetzung von Art. 10 Abs. 2 der Fusionsrichtlinie vor, dass der wahrscheinlich zu erzielende Veräußerungspreis für diese Vermögenswerte und die von den Einkünften der Betriebstätte bei der Besteuerung abgezogenen Rückstellungen oder Rücklagen zu den steuerpflichtigen Einkünften der einbringenden Gesellschaft gehörten. Der hierdurch entstandene Veräußerungsgewinn sowie die stillen Reserven wurden dementsprechend dem Steuerjahr der Einbringung zugerechnet und bei der finnischen Gesellschaft im Zeitpunkt der Übertragung sofort besteuert. Ein Zahlungsaufschub war nicht vorgesehen, jedoch enthielten die finnischen Vorschriften eine Anrechnung einer fiktiven ausländischen Steuer. Wäre die Einbringung hingegen innerhalb Finnlands erfolgt, wäre der Veräußerungsgewinn erst in dem Zeitpunkt besteuert worden, in dem der Gewinn durch die aufnehmende Gesellschaft realisiert worden war.587 Steuerpflichtiger wäre in diesem Fall die aufnehmende Gesellschaft gewesen. Nach Ansicht des EuGH liegt hierin ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit, da eine solche Ungleichbehandlung geeignet sei, in Finnland ansässige Gesellschaften davon abzuhalten, in einem anderen Mitgliedstaat eine Betriebstätte zu betreiben.588

583 

EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 67. v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80. Im konkreten Fall ging es um § 52e Abs. 3 des finnischen Elinkeinotulon verottamisesta annettu laki (Gesetz über die Besteuerung von Einkünften aus wirtschaftlicher Tätigkeit). 585  EuGH v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80 Rn. 9. 586  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.7.2017, C-292/­16 Rn. 40. 587  EuGH v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80 Rn. 13. 588  EuGH v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80 Rn. 27. 584  EuGH

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Dieser Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit könne nach Ansicht des EuGH aufgrund der Notwendigkeit der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten gerechtfertigt werden.589 Denn ein Mitgliedstaat habe auch im Fall der Übertragung einer gebietsfremden Betriebstätte bei einer Einbringung von Unternehmensteilen an eine gebietsfremde Gesellschaft das Recht, die vor der Einbringung entstandenen Veräußerungsgewinne zum Zeitpunkt ihrer Einbringung zu besteuern.590 Aufgrund der fehlenden Wahlmöglichkeit zwischen der sofortigen Entrichtung der Steuer und deren Zahlungsaufschub sei die Vorschrift jedoch unverhältnismäßig.591 An dieser Beurteilung ändere auch eine Anrechnung einer fiktiven ausländischen Steuer nichts, da sich die Unverhältnismäßigkeit der Regelung nicht aus der Höhe der geschuldeten Steuer ergebe, sondern aus dem Umstand, dass sie dem Steuerpflichtigen keine Möglichkeit biete, den Zeitpunkt ihrer Einziehung hinauszuschieben.592 3.  Stellungnahme und Meinungen der Literatur a)  Unwirksamkeit der Entstrickungsbesteuerung nach nationalem Recht

Es stellt sich die grundsätzliche Frage, warum der Staat im Falle einer Entstrickung die stillen Reserven trotz fehlender Realisation überhaupt besteuern darf, obwohl er dies im rein inländischen Fall nicht dürfte. Denn nur im grenz­ überschreitenden Fall wird eine Realisation fingiert. Es mutet unter Beachtung der Besteuerungsgrundsätze befremdlich an, dass ein Steuerpflichtiger auf etwas Steuern zahlen soll, obwohl er keinen entsprechenden monetären oder wertmäßigen Zuwachs erhält. Hierbei stellt sich also die Frage, ob die Besteuerung immer eine Realisation voraussetzt.593 Wäre dies der Fall, würde die Steuer auf die stillen Reserven im Falle einer Entstrickung nicht entstehen können, da insofern keine Grundlage bestünde (Gesetzmäßigkeit der Besteuerung). Ob die Steuer trotz fehlender Realisation überhaupt wirksam entstehen kann, ist eine Frage des Leistungsfähigkeits- sowie des Realisations- bzw. Zuflussprinzips. Aus Art. 3 Abs. 1 GG wird der Grundsatz der Steuergerechtigkeit abgeleitet, welcher das Leistungsfähigkeitsprinzip sowie das Prinzip der Folgerichtigkeit

589 

EuGH v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80 Rn. 30 ff. v. 23.11.2017, C-292/­ 16 – A Oy, EuZW 2018, 80 Rn. 31; v. 21.5.2015, C657/­13  – Verder LabTec, GRUR Int. 2015, 839 Rn. 43 f. mwN. 591 EuGH v. 23.11.2017, C-292/­ 16 – A Oy, EuZW 2018, 80 Rn. 34 ff.; vgl. EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 73. 592  EuGH v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80 Rn. 38. 593  Kaeser, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 7 OECD-MA Rn. 694. 590 EuGH

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

umfasst.594 Das Leistungsfähigkeitsprinzip fordert insbesondere, dass eine Steuer nur einer Person auferlegt wird, die diese Steuer aus ihrem disponiblen Einkommen erbringen kann und dass die Steuerlast gemäß der steuerlichen Leistungsfähigkeit gerecht auf die Steuerpflichtigen verteilt wird.595 Art. 3 Abs. 1 GG gewährt dem Steuerpflichtigen also einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit den anderen Steuerpflichtigen im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit und begrenzt somit seine Steuerlast.596 Das Prinzip der Folgerichtigkeit erfordert, dass die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umgesetzt wird.597 Die Besteuerung der stillen Reserven im Rahmen der Entstrickung verstößt aus rein innerstaatlicher Sicht gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip, da eine offensichtliche Ungleichbehandlung von in Deutschland verbleibenden Steuerpflichtigen und solchen, die ihren Wohnsitz bzw. ihren Gesellschaftssitz in das Ausland verlegen, vorliegt. Das Leistungsfähigkeitsprinzip kann daher als äußerste Grenze des Besteuerungsrechts dienen.598 Als Rechtfertigung kommt hier insbesondere der Ausschluss oder zumindest die Beschränkung des Besteuerungsrechts des Herkunftsstaats in Betracht. Zwar entspricht es Art. 13 Abs. 5 OECD-MA, dass Veräußerungsgewinne nur in dem Vertragsstaat besteuert werden können, in dem der Veräußerer ansässig ist, was in Folge des Wegzugs bzw. Sitzverlegung der Zuzugsstaat ist. In Fällen, in denen es kein DBA gibt oder in denen trotz DBA das Besteuerungsrecht beim Herkunftsstaat verbleibt, würde das Argument jedoch nicht greifen. Eine allgemeine Rechtfertigung ist hiermit also nicht möglich. Die Entstrickungsbesteuerung verstößt – ebenfalls aus einer rein innerstaatlichen Sichtweise – zudem gegen das Prinzip der Folgerichtigkeit, da keine Belastungsgleichheit erreicht wird.599 So umfasst die Wegzugsbesteuerung gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 AStG nur Anteile im Sinne des § 17 Abs. 1 S. 1 EStG. Andere 594  Schnitger, Die Entstrickung im Steuerrecht, S. 103; vgl. Bundesverfassungsgericht v. 28.11.1984 – 1 BvR 1157/­82, BStBl. II 1985, S. 181; v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/­02, BStBl. II 2001, S. 192. 595  BVerfG v. 3.11.1982 – 1 BvR 620/­78, BVerfGE 61, 319; v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/­ 84, 1 BvL 26/­84, 1 BvL 4/­86, BVerfGE 82, 60; v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/­91, BStBl. II 1995, S. 655; Gersch, in: Klein, AO, § 3 Rn. 14; Schnitger, Die Entstrickung im Steuerrecht, S. 103. 596  Kirchhof, BB 2017, 662 (663 ff.). 597  Gersch, in: Klein, AO, § 3 Rn. 17; Vgl. Bundesverfassungsgericht v. 4.12.2002 – 2 BvR 400/­98, 2 BvR 1735/­00, BStBl. II 2003, 534; v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/­12, BStB. II 2015, 50. 598  Kaeser, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 7 Rn. 694. 599 Vgl. Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 2.6; Kraft, in: Kraft, AStG, § 6 Rn. 36.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Wirtschaftsgüter im Privatvermögen (solche gemäß §§ 20 Abs. 2, 23 EStG) werden hingegen von der Wegzugsbesteuerung nicht berührt. Aus diesem Grund wurde die Wegzugsbesteuerung lange Zeit dadurch umgangen, dass die Anteile in eine Personengesellschaft eingebracht wurden, wodurch § 6 AStG nicht mehr anwendbar war. Das Besteuerungsrecht von Deutschland war damit nicht ausgeschlossen, da die Holdinggesellschaften der Gewerblichkeitsfiktion des § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG unterfielen und Deutschland den Gewinn aus einer späteren Veräußerung als Unternehmensgewinn im Sinne des Art. 7 OECD-MA besteuern konnte. Schließlich versagte der Bundesfinanzhof die Übertragung der Gewerblichkeitsfiktion auf die DBA-Ebene, sodass die Gewinne nicht mehr den Unternehmensgewinnen im Sinne des Art. 7 OECD-MA, sondern nunmehr Art. 13 OECD-MA zuzuordnen waren.600 Das Besteuerungsrecht lag nun beim Zuzugsstaat als Ansässigkeitsstaat. Um den vollständigen Ausschluss des deutschen Besteuerungsrechts zu vermeiden, wurde § 50i EStG eingeführt. Dies ändert jedoch nichts an der dargestellten Ungleichbehandlung. Eine Rechtfertigung für diesen Verstoß ist nicht ersichtlich. Das gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 EStG – zumindest für Vorgänge im Betriebs­ vermögen – auch für das Steuerrecht geltende Realisationsprinzip gemäß § 252 Abs. 1 Nr. 4 Hs. 2 HGB sieht vor, dass Gewinne nur zu berücksichtigen sind, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind. Das Realisationsprinzip stellt sicher, dass Steuerpflichtige nur im Rahmen ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit zur Steuerzahlung herangezogen werden, nämlich erst dann, wenn sich der in einem Wirtschaftsgut enthaltene Wert realisiert hat.601 Der Gewinn bzw. Ertrag darf somit erst dann ausgewiesen werden, wenn er durch einen entgeltlichen Umsatz am Markt verwirklicht (disponibel) ist.602 Dies ist bei der Ent­ strickungsbesteuerung ausdrücklich nicht der Fall, da sie an einen Ersatzrealisationstatbestand anknüpft, der keinen Liquiditätszufluss begründet, sondern lediglich eine Veräußerung der Anteile fingiert. Es liegt somit ein Verstoß gegen das Realisationsprinzip vor. Gleiches gilt für das Zuflussprinzip, welches für Vorgänge im Privatvermögen maßgebend ist. b)  Vorrang des Unionsrechts

Im Ergebnis wäre die Entstrickungsregelung somit aus der Sicht des rein innerstaatlichen Rechts nicht zulässig, sodass die Steuer theoretisch nicht entstehen könnte. Wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts auch gegenüber dem deutschen Verfassungsrecht werden die Vorgaben des Unionsrechts für 600 

BFH v. 28.4.2010 – I R 81/­09, BStBl. II 2014, 754. Hennrichs, in: Tipke/­Lang, § 9 Rn. 410 ff.; Musil, FR 2011, 545 (546). 602  Merkt, in: Baumbach/­Hopt, HGB, § 252 Rn. 18; Ballwieser, in: MüKo HGB, § 252 Rn. 56. 601 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

die Entstrickungsbesteuerung virulent. Damit gewinnen die Erörterungen des EuGH eine besondere Bedeutung bei der Problemlösung. Der EuGH hält die Entstrickungsbesteuerung hinsichtlich der stillen Reserven unter bestimmten Voraussetzungen für unionsrechtskonform.603 Dabei bezieht er nicht nur den Wegzug von natürlichen Personen und Gesellschaften als solchen in die Wegzugsbesteuerung ein, sondern auch die grenzüberschreitende Sacheinlage (Urteil DMC) 604, die grenzüberschreitende Einbringung einer ausländischen Betriebstätte in eine ausländische Gesellschaft (Urteil A Oy) 605 sowie die grenzüberschreitende Übertragung von Rechten auf eine ausländische Betriebstätte (Urteil Verder LabTec) 606. An die konkrete Ausgestaltung der nationalen Vorschriften stellt er mittels der Verhältnismäßigkeitsprüfung jedoch klare Anforderungen, wann sie den Vorgaben der Grundfreiheiten entsprechen. Allgemein stehe jedenfalls fest, dass der EuGH im Bereich der Entstrickungsbesteuerung absolute Grenzen – die Vermeidung der Doppelbesteuerung – setze, in deren Rahmen den Mitgliedstaaten nur ein gewisser Spielraum bleibe.607 Aufgrund dieser Vorgaben wirken die Grundfreiheiten mittelbar auf die DBA, genauer gesagt auf die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten gemäß Art. 13 Abs. 5 OECD-MA, ein. Der EuGH habe damit erstmalig selbst die Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten aufgeteilt („EU-Doppelbesteuerungsrecht“).608 Diese Feststellungen könnten damit in bestimmten Punkten von allgemeiner Bedeutung für das gesamte EU-Steuerrecht sein.609 Im Folgenden soll die EuGH-Rechtsprechung zur Entstrickungsbesteuerung unter Berücksichtigung der Literatur bewertet werden. c)  Beschränkung der Grundfreiheiten aa)  Eröffnung des Schutzbereichs

Zunächst ist der Schutzbereich zu bestimmen, der vorliegend eröffnet ist. Der EuGH ist der Ansicht, dass die nationalen Vorschriften aus den dargestellten 603 Vgl. Schnitger, BB 2004, 804 (807); Jahn, PIStB 2006, 296; Hruschka, DStR 2011, 2334 (2344); Kessler/­Philipp, DStR 2012, 267 (270); Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 30.3.2006, C-470/­04 Rn. 12. 604  EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273. 605  EuGH v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80. 606  EuGH v. 21.5.2015, C-657/­13 – Verder LabTec, GRUR Int. 2015, 839. 607  Dobratz, ISR 2014, 198 (204); Bergemann/­S chönherr/­Stäblein, BB 2005, 1706 (1721). 608  Dobratz, ISR 2014, 198 (201). 609  Dobratz, ISR 2014, 198 (199).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Urteilen – mit Ausnahme des Urteils DMC – in den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit fallen. Beim Urteil DMC sieht der EuGH hingegen den Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit als eröffnet an. Er begründet dies damit, dass die streitige Vorschrift „weniger den Vorgang der Niederlassung als den Vorgang der Übertragung von Vermögen zwischen einer Kommanditgesellschaft und einer Kapitalgesellschaft“ beeinflussen würde.610 Ein Teil der Literatur ist der Ansicht, dass die Entstrickungsbesteuerung stets am Tatbestand der Niederlassungsfreiheit zu messen sei,611 ein anderer Teil meint, dass sie grundsätzlich auch in den Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit falle.612 Abgesehen davon, dass die Begründung des EuGH im Urteil DMC inhaltsleer ist, kann seiner Auffassung nicht gefolgt werden. Zutreffend stellt der EuGH im Urteil DMC zunächst noch fest, dass die Anwendung der streitigen deutschen Vorschrift nicht von der Höhe der Beteiligung eines Investors an der KG abhänge, deren Anteile im Austausch gegen Gesellschaftsanteile in eine Kapitalgesellschaft eingebracht wurden.613 Denn bei der im Urteil DMC betroffenen deutschen Vorschrift (§ 20 Abs. 3 UmwStG 1995) handelt es sich um eine Regelung, die unabhängig von der Höhe der gehaltenen Anteile gilt. Wirtschaftlich gesehen wurde zwar Vermögen von einer KG auf eine GmbH übertragen, allerdings wurden rechtlich Anteile der Gesellschafter an der KG grenzüberschreitend in eine Kapitalgesellschaft eingebracht.614 Dies zu erkennen ist entscheidend. Da für die Einbringung von KG-Anteilen in die GmbH vorliegend neue Anteile an der GmbH auszugegeben waren, musste die Gesellschafterversammlung der GmbH eine Kapitalerhöhung mit mindestens 75 % der Stimmen beschließen (§ 53 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GmbHG i. V. m. § 55 Abs. 1 GmbHG). Da beide Gesellschafter jeweils 50 % der Anteile an der GmbH hielten, hatte jeder von ihnen auch eine solche Stimmrechtskraft, um eine Kapitalerhöhung zu verhindern. Jeder Gesellschafter hatte damit eine Beteiligung mit gesichertem Einfluss. Auf diesen Einfluss stellte auch § 20 Abs. 1 S. 1 UmwStG 1995 zumindest mittelbar ab, indem er für die Einbringung zum Buchwert (§ 20 Abs. 2 S. 1 UmwStG 1995) die Gewährung neuer Anteile an der Kapitalge610 

EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 37. Gosch, IWB 2014, 183 (187); Musil, FR 2014, 466 (471). 612  Bron, IStR 2006, 296 (299 ff.); einschränkend: Mitschke, IStR 2014, 214 (216); ders., IStR 2014, 106 (111), der zumindest im Fall DMC die Prüfung der Kapitalverkehrsfreiheit für nachvollziehbar hält; es sei aber hier ebenso vertretbar, die Niederlassungsfreiheit zu prüfen, da es sich nach damaligem deutschen Steuerrecht bei der Einbringung von Mitunternehmeranteilen in eine Kapitalgesellschaft um einen Umwandlungsvorgang ausschließlich im betrieblichen (unternehmerischen) Bereich handelte. 613  EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 34. 614  Musil, FR 2014, 466 (471). 611 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

sellschaft forderte und damit eine Kapitalerhöhung voraussetzte. Zudem stellte § 20 Abs. 1 S. 1 UmwStG 1995 auch auf die Einbringung von Mitunternehmeranteilen ab, welche durch Mitunternehmerinitiative und Mitunternehmerrisiko geprägt sind und bereits deshalb eine reine Portfolioinvestition auszuschließen ist.615 Es hätte daher die Niederlassungsfreiheit geprüft und bejaht werden müssen. In der gebotenen Kürze sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass mittlerweile endgültig geklärt ist, dass die Niederlassungsfreiheit sowohl gegenüber dem Herkunftsstaat- als auch dem Zuzugsstaat gilt.616 Aus den Urteilen Daily Mail 617, Centros 618, Überseering 619 und Inspire Art 620 ergibt sich, dass sich eine in einem Mitgliedstaat wirksam gegründete Gesellschaft, die ihre gesamte Geschäftstätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat verlegen möchte, gegenüber dem jeweiligen Zuzugsstaat auf die Niederlassungsfreiheit berufen kann.621 Auch der Herkunftsstaat muss einen Wegzug einer Gesellschaft aus seinem Staatsgebiet zulassen, er ist lediglich frei in seiner Entscheidung, ob er auch die Mitnahme der Eigenschaft als Gesellschaft innerhalb des innerstaatlichen Rechts zu-

615 

Musil, FR 2014, 466 (471). Vgl. EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 33; v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 31; v. 16.7.1998, C-264/­96  – ICI, Slg. 1998, I4695 Rn. 21; v. 8.3.2017, C-14/­16 – Euro Park Service, EuZW 2017, 429 Rn. 58 mwN; v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80 Rn. 24; Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 8.9.2011, C-371/­10 Rn. 36; Brinkmann/­ Reiter, DB 2012, 16 (17); Kessler/­Philipp, DStR 2012, 267 (269); ausführlich: Körner, IStR 2004, 424 (430); kritisch: Mitschke, IStR 2012, 6 (8). Dies gilt sowohl für die kontinuitätswahrende als auch die statutswahrende Emigration, es besteht somit kein Unterschied, ob der Sitz- oder der Gründungstheorie gefolgt wird. Kritisch: Körner, IStR 2012, 1 (2); Mitschke, IStR 2012, 6 (7), nach denen zu befürchten sei, dass für Wegzugsfälle von Gesellschaften aus Mitgliedstaaten, die der Sitztheorie folgen, immer noch die steuerrechtliche Würdigung wie in Daily Mail (EuGH v. 27.9.1988, Rs. 81/­87 – Daily Mail, Slg. 1988, 5483) erfolgen würde. 617  EuGH v. 27.9.1988, Rs. 81/­87 – Daily Mail, Slg. 1988, 5483 Rn. 19 ff., wonach Gesellschaften nationalen Rechts kein Recht haben, den Sitz ihrer Geschäftsleitung unter Bewahrung ihrer Eigenschaft als Gesellschaften des Mitgliedstaats ihrer Gründung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen (Rn. 24). Denn „jenseits der jeweiligen nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regelt, haben sie keine Realität.“ (Rn. 19). 618  EuGH v. 9.3.1999, C-212/­97 – Centros, Slg. 1999, I-1459 Rn. 17 f. 619  EuGH v. 5.11.2002, C-208/­ 00 – Überseering, Slg. 2002, I-9919 Rn. 52 ff., wobei dieses Urteil eigentlich einen Zuzugsfall betraf. 620  EuGH v. 30.9.2003, C-167/­01 – Inspire Art, Slg. 2003, I-10155 Rn. 95 ff. 621  EuGH v. 16.12.2008, C-210/­06 – Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 111 ff.; Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 8.9.2011, C-371/­10 Rn. 31. 616 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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lässt.622 Diese Rechtsprechung wurde im Urteil Cartesio623 auch auf den Wegzugsstaat erweitert, sodass sich eine Gesellschaft, die ihren Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegen möchte, auch gegenüber diesem Gründungsstaat auf die Niederlassungsfreiheit berufen kann. Das Urteil de Lasteyrie du Saillant für den Wegzug natürlicher Personen sowie das Urteil National Grid Indus für die Sitzverlegung einer Gesellschaft fügen sich hier genau spiegelverkehrt in den Gesamtkontext zu den bisherigen Urteilen ein, indem sie zum einen einen Wegzugsfall und zum anderen den Bereich des Steuerrechts betrafen.624 Bis dahin waren die Urteile des EuGH hinsichtlich des Wegzugs von Gesellschaft nur aus gesellschaftsrechtlicher Sicht gelöst worden. bb)  Ungleichbehandlung als Beschränkung der Grundfreiheiten

Bei der Prüfung der Beschränkung ist es erforderlich, den jeweiligen Ersatzrealisationstatbestand genau zu bestimmen und zu prüfen. Die Besteuerung aufgrund solcher Ersatzrealisationstatbestände wird allgemein für zulässig erachtet.625 Es sei jedoch nicht geklärt, welche Ereignisse hierzu gehören.626 Jedenfalls im Urteil DMC hat der EuGH hier eher für Verwirrung gesorgt,627 indem er annimmt, dass KG-Anteile eingebracht oder veräußert wurden628 , eine KG Betriebsvermögen eingebracht629 oder KG-Anteile in GmbH-Anteile umgewandelt630 werden.631 Letztlich führte aber auch die Prüfung des EuGH im Fall DMC

622 

Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 8.9.2011, C-371/­10 Rn. 35. v. 16.12.2008, C-210/­06 – Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 109 f., wonach es Sache des Mitgliedstaates sei, die Anknüpfung sowohl für die Geltung als in seinem innerstaatlichen Recht gegründete Gesellschaft als auch für den Erhalt dieser Eigenschaft zu bestimmen (Rn. 109). Diese Befugnis umfasse auch „die Möglichkeit für diesen Mitgliedstaat, es einer Gesellschaft seines nationalen Rechts nicht zu gestatten, diese Eigenschaft zu behalten, wenn sie sich durch die Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat dort neu organisieren möchte und damit die Anknüpfung löst, die das nationale Recht des Gründungsmitgliedstaats vorsieht“ (Rn. 110). 624  Kleinert, DB 2004, 673 (675). 625  Kudert/­Kahlenberg, DB 2015, 1377 (1378); Linn, IStR 2014, 136 (137); Schluss­ anträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.7.2017, C-292/­16 Rn. 46, nach der dies aus dem Territorialitätsprinzip in Verbindung mit dem im Steuerrecht herrschenden Stichtagsprinzip folge. 626  Linn, IStR 2014, 136 (137). 627  Linn, IStR 2014, 136 (138). 628  EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 12. 629  EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 27. 630  EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 48. 631  Linn, IStR 2014, 136 (138). 623  EuGH

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

zum vertretbaren Ergebnis, dass eine Beschränkung vorliegt, sodass zumindest die Kritik an der unsauberen Formulierung des EuGH nicht weiterführt.632 Die Beschränkung der Grundfreiheiten (Beschränkung der Niederlassungsbzw. im Fall DMC der Kapitalverkehrsfreiheit) liegt im Bereich der Entstrickungsbesteuerung stets darin, dass die nationalen Vorschriften aufgrund des Entstrickungszugriffs den grenzüberschreitenden Sachverhalt gegenüber dem rein inländischen benachteiligen.633 So unterliegen stille Reserven bei einem Exit der sofortigen Aufdeckung und Besteuerung im Zeitpunkt der Vermögensverlagerung auch ohne Realisierung, bei rein inländischen Sachverhalten hingegen nur, wenn und soweit sie tatsächlich realisiert werden.634 Hierbei ist zu Recht zwischen zwei Aspekten unterschieden worden: Erstens wird beim Exit früher besteuert als bei einer rein inländischen Situation, und zweitens erfolgt eine Besteuerung in bestimmten Fällen ausschließlich beim Exit, wenn nämlich die stillen Reserven nie realisiert werden.635 Aufgrund dieser Ungleichbehandlung kommt es regelmäßig zu einem Liquiditätsnachteil für Steuerpflichtige mit Auslandsbezug, sodass sie geeignet ist, Steuerpflichtige von einer Vermögensverlagerung abzuhalten. Zu Recht wird daher angenommen, dass die Ungleichbehandlung bereits in der Steuerfestsetzung zu sehen sei und nicht erst bei Fälligkeit des Steueranspruchs, da bereits im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung ein Liquiditätsnachteil beim Steuerpflichtigen entstehe.636 Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass es sich bei der Entstrickungsbesteuerung um zwei Beschränkungen der Grundfreiheiten handelt: Zum einen liegt eine Beschränkung in der sofortigen Festsetzung der Entstrickungssteuer, also in dem Umstand, dass trotz fehlender Realisation überhaupt eine Besteuerung erfolgt. Zum anderen liegt eine Beschränkung in der sofortigen Einziehung der festgesetzten Steuer, also in dem Umstand, dass die stillen Reserven früher besteuert werden. (1)  A nknüpfungspunkt der Entstrickungsbesteuerung

Fraglich ist jedoch, was der Anknüpfungspunkt der Entstrickungsbesteuerung ist. Während die sofortige Besteuerung bei einem Wegzug an die Ver632 Ebenso:

Mitschke, IStR 2014, 214 (214 f.). Dobratz, ISR 2014, 198 (199); Gosch, IWB 2014, 183 (186). 634  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­ 02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 46; v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 35; v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 37; So auch zutreffend: Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 30.3.2006, C-470/­04 Rn. 116. 635  Dobratz, ISR 2014, 198 (199 f.). 636  Richter/­Escher, FR 2007, 674 (680); Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.7.2017, C-292/­16 Rn. 31. 633 Vgl.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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legung des Wohnsitzes bzw. des Sitzes der Gesellschaft anknüpft, ist der Anknüpfungspunkt bei den anderen Tatbeständen der Ausschluss des Besteuerungsrechts des Herkunftsstaats im Zeitpunkt der Sacheinlage, die Übertragung einer ausländischen Betriebstätte an eine ebenfalls ausländische Gesellschaft oder die Überführung von Wirtschaftsgütern einer inländischen Gesellschaft in eine ausländische Betriebstätte. Als Anknüpfungskriterium könnte man auch den aus Sicht des Herkunftsmitgliedstaates stattfindenden Step-up ansehen.637 Da durch den Wegzug bzw. die Sitzverlegung das Besteuerungsrecht des Herkunftsstaats aber gleichwohl beschränkt oder ausgeschlossen wird, ist somit der Anknüpfungspunkt für die sofortige Entstrickungsbesteuerung stets der Ausschluss oder zumindest die Beschränkung des Besteuerungsrechts des Herkunftsstaats, nicht aber der bloße Wegzug selbst.638 Der Herkunftsstaat muss tatsächlich an der Ausübung seiner Steuerhoheit gehindert sein.639 (2)  Welches Besteuerungsrecht wird beschränkt bzw. ausgeschlossen?

Die Beschränkung bzw. der Ausschluss bezieht sich auf das Besteuerungsrecht hinsichtlich der stillen Reserven. Es ist bei einer Sacheinlage (Einbringung eines Unternehmens bzw. Mitunternehmeranteils) aber streitig, welches Besteuerungsrecht verloren geht. Ein Teil der Literatur stellt auf das Besteuerungsrecht hinsichtlich der stillen Reserven im eingebrachten Betriebsvermögen ab,640 während ein anderer Teil das Besteuerungsrecht hinsichtlich der stillen Reserven in den einbringungsgeborenen Anteilen an der übernehmenden GmbH für maßgebend hält 641. Der zweiten Ansicht ist zuzustimmen. Es kann sich bereits deshalb nicht um das Besteuerungsrecht im eingebrachten Betriebsvermögen handeln, da dieses nach wie vor beim Herkunftsstaat verbleibt. Vielmehr ruhen die stillen Reserven in der Beteiligung an der Gesellschaft (in den Kapitalanteilen).642 Das Besteue637 

Linn, IStR 2014, 136 (137). Vgl. hierzu: Gosch, IStR 2015, 709 (715). 639  EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 42, 56 f.: In diesem Urteil war der EuGH von der tatsächlichen Verhindung nicht zweifelsfrei überzeugt. Kritisch hierzu: Dobratz, ISR 2014, 198 (203), nach dem die Frage, ob Deutschland im Urteil DMC das Besteuerungsrecht tatsächlich verloren habe oder nicht, für die Erkenntnisse, die der EuGH in dem Urteil zu den Vorgaben des Unionsrechts für die Exit-Besteuerung der Mitgliedstaaten gewonnen habe, schlicht irrelevant sei. 640 Vgl. Lüdicke, IStR 2014, 537 (538); Gosch IWB 2014, 183 (186); Müller ISR 2014, 136 (137); Linn, IStR 2014, 136 (138); Patzner/­Nagler GmbHR 2014, 210 (216); Ribbrock BB 2014, 484. 641 Vgl. Mitschke, IStR 2014, 106 (111 f.); ders., IStR 2014, 214; Sydow, DB 2014, 265 (268); Zwirner, ISR 2014, 96 (100). 642  Mitschke, IStR 2014, 106 (112). 638 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

rungsrecht wird also bei den neu auszugebenden Anteilen ausgeschlossen. Die Anwachsung (wie im Fall des Urteils DMC) ist ein rein nationaler Vorgang. Der übergegangene Wert des eingebrachten Mitunternehmeranteils verkörpert sich nicht in der Gesellschaft, sondern in den Gesellschaftsanteilen des übernehmenden Rechtsträgers, welche eine Gesamtheit von Rechten an einer Gesellschaft, und damit auch ein Recht am Wertzuwachs, darstellen, die der Besteuerung ausgesetzt sind. Sofern hier vorgetragen wird, dass das Besteuerungsrecht hinsichtlich der neu erhaltenen Anteile deshalb nicht verloren gehen kann, weil diese Anteile vor der Einbringung in dieser Form nicht existierten,643 so trifft dies nicht uneingeschränkt zu. Die neu auszugebenden Anteile entstehen (am Beispiel der GmbH) mit Eintragung der Kapitalerhöhung der Gesellschaft im Handelsregister (§ 54 Abs. 3 GmbHG), die regelmäßig die vorige Leistung der Einlagen und auch des Agios (also die Sacheinlage selbst) voraussetzt. Allerdings ist eine Einbringung zum Buchwert auch dadurch möglich, dass eine Barkapitalerhöhung mit Sachagio erfolgt, die Sacheinlage also als andere Zuzahlung in die freie Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB gebucht wird.644 Das bedeutet, dass die Anteile mit Bareinlage und Eintragung im Handelsregister schon entstanden sind, bevor später die Mitunternehmeranteile (steuerneutral) eingebracht werden. (3)  Zeitpunkt der Beschränkung bzw. des Ausschlusses des Besteuerungsrechts des Herkunftsstaats

Etwas schwieriger zu beurteilen ist die Frage, wann genau dieses Besteuerungsrecht ausgeschlossen oder beschränkt ist. Teilweise wird angenommen, dass der Gesetzgeber im deutschen Steuerrecht im Rahmen des § 4 Abs. 1 S. 4 EStG erkennbar davon ausgehe, dass es sich bei dieser Norm um einen Gefährdungstatbestand handele.645 Für eine solche Gefährdung des Besteuerungsrechts wären zwar fehlende Ermittlungsmöglichkeiten allein nicht ausreichend, in Verbindung mit der realistischen Gefahr, dass der Abkommensstaat eine andere Auffassung zur Besteuerung stiller Reserven vertritt als Deutschland, hingegen schon.646 Eine andere Ansicht meint, dass mit § 4 Abs. 1 S. 4 EStG (nur) ein Regelbeispiel und keine echte Fiktion formuliert werde.647 643 

Vgl. hierzu: Linn, IStR 2014, 136 (138 f.). BFH, Urteil 7.4.2010 – I R 55/­09, BB 2010, 2296. 645  Musil, FR 2011, 545 (549): Der Gesetzgeber ist ausweislich der Gesetzesbegründung der Auffassung, der Tatbestand könne mit der Überführung eines Wirtschaftsguts in eine ausländische Betriebstätte erfüllt sein, wenn deren Gewinn aufgrund eines DBA nicht oder nur eingeschränkt von Deutschland besteuert werden dürfe. 646  Musil, FR 2011, 545 (549). 647  Mitschke, IStR 2015, 118 (127). 644 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Feststeht jedenfalls, dass weder eine Beschränkung noch ein Ausschluss des Besteuerungsrechts vorliegen kann, wenn dem Herkunftsstaat das Besteuerungsrecht noch zusteht. Der Umstand, dass ihm der Zugriff auf die erst zukünftig entstehenden stillen Reserven verlorengehe, ist hingegen nicht maßgebend, weil er bei vereinbarter Freistellungsmethode daran ohnehin zu keinem Zeitpunkt ein Besteuerungsrecht innehatte (vgl. Art. 13 Abs. 1, 2 und 5 OECDMA).648 Der Herkunftsstaat darf und kann die aufgelaufenen stillen Reserven weiterhin besteuern, und das jederzeit, auch nachträglich, wenn der Steuerpflichtige längst in dem Zuzugsstaat wohnt und im Wegzugsstaat keine Betriebstätte mehr vorhanden ist.649 Hierzu wird vorgeschlagen, im Rahmen der Revision der bestehenden DBA eine entsprechende Bestimmung aufzunehmen.650 Im Falle einer Sitzverlegung von Gesellschaften endet die Besteuerungsbefugnis des Herkunftsstaats im Zeitpunkt der Begründung einer neuen Ansässigkeit im Zuzugsstaat. Im Falle des Wegzugs natürlicher Personen reicht der bloße Wegzug aus, da damit nicht automatisch die Begründung einer neuen Ansässigkeit verbunden sein muss. Die Besteuerungsbefugnis endet jedoch nicht nur bei einem Wegzug aus einem Territorium, sondern auch, wenn eine im Ausland gelegene Betriebstätte einer ebenfalls ausländischen Gesellschaft im Rahmen einer Einbringung gegen Gewährung von Anteilen zugeordnet wird.651 Zwar unterliegen nun die Anteile an der aufnehmenden Gesellschaft der Besteuerungshoheit des Zuzugsstaats.652 Die Besteuerungshoheit in Bezug auf Anteile an einer im Ausland gelegenen ausländischen Gesellschaft ist jedoch ein aliud im Vergleich zur Besteuerungshoheit über die Wirtschaftsgüter einer ausländischen Betriebstätte, sodass es dabei bleibt, dass der Zugriff auf die in der Betriebstätte entstandenen stillen Reserven endgültig verloren geht.653 Darüber hinaus endet die Besteuerungsbefugnis auch dann, wenn es zu einer teilweisen oder vollständigen Überführung von Vermögensgegenständen in ei648 

Gosch, IStR 2015, 709 (715). auch: Gosch, IStR 2015, 709 (715); EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273; v. 16.4.2015, C-591/­13 – Kommission/­Deutschland, BB 2015, 1263. 650  Ruiner, IStR 2012, 49 (50), der die Erweiterung der DBA-Bestimmungen um einen Absatz vorschlägt, der wie folgt lauten sollte: „Verlegt eine Gesellschaft den Ort ihrer tatsächlichen Geschäftsleitung von einem in den anderen Vertragsstaat, so hat der erstgenannte Vertragsstaat das Recht, die bei dem in den vorstehenden Absätzen nicht genannten Vermögen bis zu dem Zeitpunkt der Verlegung des Orts der tatsächlichen Geschäftsleitung entstandenen Wertsteigerungen zum Zeitpunkt der Veräußerung zu besteuern.“ 651  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.7.2017, C-292/­16 Rn. 34. 652  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.7.2017, C-292/­16 Rn. 35: Es findet lediglich eine Art Tausch von Wirtschaftsgütern (bilanziell betrachtet auf der Aktivseite) statt. 653  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.7.2017, C-292/­16 Rn. 36. 649  So

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

nen anderen Mitgliedstaat kommt,654 hierbei genügt es bereits, wenn das Wirtschaftsgut den Zuständigkeitsbereich des Herkunftsstaat verlassen hat. d)  Rechtfertigung

Da der EuGH in den oben dargestellten Urteilen zu Recht durchweg von einer objektiv vergleichbaren Situation der wegziehenden und der im Inland verbleibenden Steuerpflichtigen ausgeht,655 liegt der Schwerpunkt der Urteile im Bereich der Entstrickungsbesteuerung auf der Ebene der Rechtfertigung der Beschränkung der Grundfreiheiten sowie insbesondere der Verhältnismäßigkeit der innerstaatlichen Vorschriften. Eine Ansicht in der Literatur ist der Auffassung, dass das Recht der Mitgliedstaaten zur Besteuerung der auf ihrem Hoheitsgebiet entstandenen stillen Reserven überhaupt keiner Rechtfertigung bedürfe, da ein absolutes Verbot der Besteuerung stiller Reserven über den europarechtlich gebotenen Grundsatz der steuerlichen Gleichbehandlung innerstaatlicher und grenzüberschreitender Sachverhalte hinausschießen würde.656 Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden. Die Ansicht übersieht, dass die nationalen Vorschriften, die gegen die Grundfreiheiten verstoßen, einer Rechtfertigung bedürfen, da sie andernfalls aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht anwendbar wären. Wie bereits dargestellt, setzt die Beschränkung der Grundfreiheiten voraus, dass der Herkunftsstaat sein Besteuerungsrecht verliert oder tatsächlich an der Ausübung seiner Steuerhoheit gehindert ist. Daraus folgt denklogisch, dass eine Prüfung der Rechtfertigungsebene erst dann vorzunehmen ist, wenn zuvor eine Beschränkung der Grundfreiheiten bejaht wurde.657 Beide Beschränkungen der Grundfreiheiten – die sofortige Festsetzung der Entstrickungssteuer sowie die sofortige Einziehung der festgesetzten Steuer – müssen gerechtfertigt sein.

654 

Schlussanträge des Generalanwalts Niilo Jääskinen v. 26.2.2015, C-657/­13 Rn. 41. v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 38; v. 6.9.2012, C-38/­ 10 – Kommission/­Portugal, EuZW 2012, 947 Rn. 3; v. 12.7.2012, C269/­09  – Kommission/­Spanien, EuZW 2013, 34 Rn. 60; v. 21.12.2016, C-503/­ 14 – Kommission/­Portugal, EuZW 2017, 180 Rn. 46; v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 42; v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80 Rn. 29; v. 21.5.2015, C-657/­13  – Verder LabTec, GRUR Int. 2015, 839 Rn. 38. 656  Schnitger, BB 2004, 804 (807). 657  Vgl. auch: Linn, IStR 2014, 136 (138 f.). 655  EuGH

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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aa)  Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten

Der EuGH prüft diese beiden Beschränkungen gemeinsam anhand der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten und verknüpft diesen Rechtfertigungsgrund dabei mit dem Territorialitätsprinzip und dieses wiederum mit einer zeitlichen Komponente.658 Die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten ist im Übrigen der einzige Rechtfertigungsgrund, der nach Ansicht des EuGH bei den dargestellten Urteilen überhaupt greift. Die einzige Ausnahme hiervon stellt das Urteil de Lasteyrie du Saillant dar, in dem der EuGH diesen Rechtfertigungsgrund noch nicht anerkennt.659 Aufgrund der Entstehungsgeschichte des Rechtfertigungsgrundes (er wurde erstmals im Urteil Marks & Spencer 660 im Jahre 2005 ausdrücklich formuliert und anerkannt) ist zu vermuten, dass der EuGH anders entschieden hätte, hätte dieser zu diesem Zeitpunkt bereits ausdrücklich bestanden.661 Insbesondere ging es bei den französischen Vorschriften tatsächlich um die Aufteilung der Besteuerungsrechte (also um die Zuweisung der Besteuerungsbefugnis hinsichtlich der stillen Reserven zum Zwecke der Abgrenzung und Vermeidung der Doppelbesteuerung) und nicht um deren Ausübung.662 Jedenfalls kann das Urteil de Las­ teyrie du Saillant nicht als Argument herangezogen werden, um diesen Rechtfertigungsgrund im Falle der Wegzugsbesteuerung auszuschließen.663 Im Rahmen der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten stellt der EuGH nun klar, dass „die Verlegung des tatsächlichen 658 Vgl. EuGH v. 29.11.2011, C-371/­ 10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn.  43 ff. 659  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­ 02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 68: Als Begründung führte er an, dass es in diesem Fall „weder um die Aufteilung der Besteuerungsrechte zwischen den Mitgliedstaaten noch um das Recht der französischen Behörden geht, latente Wertsteigerungen zu besteuern, um auf künstliche Wohnsitzverlegngen zu reagieren, sondern um die Frage, ob die hierzu erlassenen Maßnahmen im Einklang mit der Niederlassungsfreiheit stehen.“ Vgl. auch: Schlussanträge des Generalanwalts Jean Mischo v. 13.3.2003, C-9/­02 Rn. 82 f. 660  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 45 f. 661  Vgl. auch: Mitschke, IStR 2010, 95 (96). 662  So aber: EuGH v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 68; Schlussanträge des Generalanwalts Jean Mischo v. 13.3.2003, C-9/­02 Rn. 82 f.; Körner, IStR 2004, 424 (426). Als Begründung wurde auch das Urteil Gilly (EuGH v. 12.5.1998, C-336/­96 – Gilly, Slg. 1998, I-2793 Rn. 30, 53) herangezogen, in dem es – anders als im Urteil de Lasteyrie du Saillant – um das Kriterium der Staatsangehörigkeit für die Aufteilung der Steuerhoheit ging. 663  So zutreffend: Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet v. 12.5.2016, C-503/­14 Rn. 75.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Verwaltungssitzes einer Gesellschaft eines Mitgliedstaats in einen anderen Mitgliedstaat […] nicht bedeuten [kann], dass der Herkunftsmitgliedstaat auf sein Recht zur Besteuerung eines Wertzuwachses, der im Rahmen seiner Steuerhoheit vor dieser Verlegung erzielt wurde, verzichten muss.“664 Daraus folge, dass „ein Mitgliedstaat nach dem Grundsatz der steuerlichen Territorialität, verbunden mit einem zeitlichen Element, nämlich der Steueransässigkeit des Steuerpflichtigen im Inland während der Entstehung der nicht realisierten Wertzuwächse, das Recht hat, diese Wertzuwächse zum Zeitpunkt des Wegzugs des Steuerpflichtigen zu besteuern.“665 Die Folge hieraus ist eindeutig: Die stillen Reserven, die vor dem Wegzug im Gebiet des Wegzugsstaats entstanden sind, werden von diesem besteuert. Für die nach dem Wegzug gebildeten stillen Reserven hat der Zuzugsstaat die ausschließliche Besteuerungsbefugnis bzw. der Herkunftsstaat nur noch eingeschränkt unter Anrechnung ausländischer Steuern.666 Wie der EuGH bereits im Urteil Marks & Spencer feststellt, kann es zur Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten „erforderlich sein, auf die wirtschaftliche Tätigkeit der in einem dieser Staaten niedergelassenen Gesellschaften sowohl in Bezug auf Gewinne als auch auf Verluste nur dessen Steuerrecht anzuwenden.“667 Hätten die Gesellschaften hingegen die Möglichkeit, zu wählen, in welchem der beteiligten Mitgliedstaaten ihre Verluste berücksichtigt werden sollen, wäre „die Ausgewogenheit der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigt.“668 Übertragen auf die Wegzugsbesteuerung bedeutet dies, dass die stillen Reserven nur in einem der beteiligten Mitgliedstaaten besteuert werden können. Das Territorialitätsprinzip ist nicht eindeutig definiert. Eine praktische Ausprägung dieses Grundsatzes ist zum einen, dass die Staaten in der Regel nur im Inland ansässige Personen der unbeschränkten Steuerpflicht unterwerfen und Einkünfte ortsfremder Personen, die aus inländischen Quellen stammen, im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht besteuern.669 Zum anderen findet sich das Territorialitätsprinzip auch in der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis in den DBA sowie in Art. 13 Abs. 5 OECD-MA.670 664 Vgl. EuGH v. 29.11.2011, C-371/­ 10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 46. 665 Vgl. EuGH v. 29.11.2011, C-371/­ 10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 46; v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 46. 666  Kessler/­Philipp, DStR 2012, 267 (270). 667  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 45. 668  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 46. 669  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 30.3.2006, C-470/­0 4 Rn. 93. 670  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 30.3.2006, C-470/­0 4 Rn. 94.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Der EuGH legt damit im Ergebnis fest, wie genau die Mitgliedstaaten die Besteuerungsbefugnis hinsichtlich der stillen Reserven zwischeneinander aufzuteilen haben.671 Damit wirkt er in die eigentlich zwischen den Mitgliedstaaten vereinbarte Aufteilung der Besteuerungsrechte unmittelbar ein. Ziel ist es dabei, die ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zu wahren. Trotz der Einwirkung auf die abkommensrechtliche Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse ist der Ansicht des EuGH zuzustimmen.672 Es entspricht dem unionsrechtlichen Territorialitätsprinzip, dass die Mitgliedstaaten die Besteuerungsbefugnis lediglich für die Einkünfte haben, die in ihrem Gebiet entstehen. Hieran knüpft auch das zeitliche Element an, indem nur die vor der Entstrickung entstandenen stillen Reserven vom Herkunftsstaat besteuert werden können. Hinsichtlich der nach der Entstrickung entstandenen stillen Reserven hat allein der Zuzugsstaat das Besteuerungsrecht.673 Hierdurch wird eine Doppelbesteuerung vermieden und eine ausgewogene und gerechte Aufteilung der Besteuerung hergestellt.674 Dem entspricht auch, dass regelmäßig davon ausgegangen werden dürfte, dass die Gewinne in dem jeweiligen Staat aufgrund der dort vorhandenen Infrastruktur (Verkehrsanbindung, Internetzugang, Subventionen, Energieversorgung etc.) erwirtschaftet werden und dem Wegzugsstaat auch aus diesem Grunde das Recht der Besteuerung zu gewähren ist.675 Darüber hinaus sind neben den territorialen und zeitlichen Anknüpfungspunkten auch keine anderen Kriterien ersichtlich, mit denen die Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten besser aufgeteilt werden können. Fraglich ist aber, ob der Zuzugsstaat die stillen Reserven zu besteuern hat, insbesondere, ob er sich an der Besteuerung im Herkunftsstaat orientieren muss.676 Dies ist zu bejahen. Denn könnte der Zuzugsstaat die stillen Reserven 671 

So auch: Kessler/­Philipp, DStR 2012, 267 (270). auch: Kessler/­Philipp, DStR 2012, 267 (270); Mitschke, IStR 2010, 95 (96); Dobratz, ISR 2014, 198 (202); a. A.: Gosch, IWB 2014, 183 (185 f.). 673 Vgl. EuGH v. 29.11.2011, C-371/­ 10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 48; v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 46; v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 46; v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 54; v. 21.1.2010, C-311/­08 – SGI, Slg. 2010, I487 Rn. 60. 674  So auch: Dobratz, ISR 2014, 198 (202), nach dem im Erfordernis einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis ein eigenständiger Kern dieses Rechtfertigungsgrundes verbleiben könnte und er somit auch noch in anderen Bereichen als der Entstrickungsbesteuerung Anwendung finden könnte. 675  So auch: Mitschke, IStR 2010, 95 (96), nach dem der Rechtfertigungsgrund seine Ursache keineswegs in einem nationalstaatlichen Egoismus habe, sondern berücksichtige, dass der jeweilige Belegenheitsstaat einer steuerpflichtigen Aktivität seine politische, administrative, rechtliche, soziale sowie technische Infrastruktur für die Einkünfterezielung zur Verfügung stelle, wofür er auf verlässliche Steuereinnahmen angewiesen sei. 676  Rödder, IStR 2005, 297 (298). 672 So

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

im Fall einer späteren tatsächlichen Veräußerung der Anteile noch einmal besteuern, würde eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung entstehen. Diese wird jedenfalls dann vermieden, wenn im Aufnahmemitgliedstaat ein Step-up (eine Verstrickung) zum Verkehrswert erfolgt.677 Der Zuzugsstaat muss daher zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung als Anschaffungskosten der Wirtschaftsgüter mindestens den Betrag zugrunde legen, den der Wegzugsstaat den überführten Wirtschaftsgütern zum Zeitpunkt des Wegzugs zugewiesen hat.678 Den Zuzugsstaat trifft damit eine unionsrechtliche Verpflichtung zur Bewertung der Wirtschaftsgüter zum Zeitpunkt der Entstrickung.679 bb)  Gefahr der Steuerflucht

Darüber hinaus hätte möglicherweise auch der Rechtfertigungsgrund der Steuerflucht greifen können. Dieser liegt nahe, wenn der Steuerpflichtige tatsächlich nur eine kurze Zeit im Ausland ansässig ist, während dieser Zeit seine Anteile veräußert und anschließend seinen Wohnsitz wieder in den Herkunftsstaat verlegt.680 In diesem Fall wäre der Rechtfertigungsgrund der Steuerflucht gegebenenfalls anzuerkennen. Der EuGH scheint die Hürden hierfür jedoch hoch zu legen.681 Eine allgemeine, unwiderlegliche Vermutung, dass ein wegziehender Steuerpflichtiger Steuerflucht oder Steuerhinterziehung begeht, führt jedenfalls zur Unverhältnismäßigkeit der nationalen Vorschrift, da sie generell für alle Fälle eine betrügerische Absicht unterstellt.682 Die schlichte Veräußerung der Anteile kurz nach dem Wegzug reicht nicht aus, um ein betrügerisches Vorhaben nachzuweisen, da andernfalls in die Eigentumsgarantie eingegrif-

677 

Kessler/­Philipp, DStR 2012, 267 (270). Ruiner, IStR 2012, 49 (51). 679  Dobratz, ISR 2014, 198 (201 ff.); Brinkmann/­Reiter, DB 2012, 16 (18 f.). 680  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 50 ff. 681  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­ 02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 65. So konnten die französischen Vorschriften nicht aufgrund der Steuerflucht gerechtfertigt werden, obwohl sie allein der Verhinderung der Steuerflucht dienten und offenbar nicht das Ziel verfolgten, „allgemein in dem Fall, dass ein Steuerpflichtiger seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt, die Besteuerung der Wertsteigerungen sicherzustellen, die während seines Aufenthalts in Frankreich entstanden sind.“ Im Gegensatz dazu sollten die niederländischen Vorschriften aus dem Urteil N (EuGH v. 7.9.2006, C-470/­04 – N, Slg. 2006, I-7409) nicht nur die Verhinderung der Steuerflucht verhindern, sondern sie dienten auch dazu, die Erhebung der niederländischen Steuern nach Maßgabe der Aufteilung der Steuerbefugnisse tatsächlich zu ermöglichen: Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 30.3.2006, C-470/­04 Rn. 101. 682  Vgl. EuGH v. 8.3.2017, C-14/­ 16 – Euro Park Service, EuZW 2017, 429; Schluss­ anträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 30.3.2006, C-470/­04 Rn. 117 ff.; Schluss­ anträge des Generalanwalts Jean Mischo v. 13.3.2003, C-9/­02 Rn. 58 ff. 678 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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fen wird.683 Eine innerstaatliche Vorschrift wäre jedoch dann verhältnismäßig, wenn sie vorsieht, „dass die von einem Steuerpflichtigen realisierten Wertsteigerungen zu versteuern sind, der nach verhältnismäßig kurzem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat und nach Veräußerung seiner Wertpapiere wieder [in den Herkunftsstaat] zurückkehrt.“684 Denn hierdurch würden nur diejenigen Steuerpflichtigen besteuert werden, bei denen die Annahme naheliegt, dass der Wegzug nur aus Gründen der Steuervermeidung erfolgte; dies stellt eine die Niederlassungsfreiheit weniger beeinträchtigende Maßnahme dar. e)  Verhältnismäßigkeit

Der Schwerpunkt der Prüfung des EuGH im Bereich der Wegzugsbesteuerung liegt neben der Rechtfertigungsprüfung insbesondere bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Der EuGH stellt an dieser Stelle genaue Anforderungen auf, die die Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer nationalen Vorschriften zur Entstrickungsbesteuerung zu beachten haben, damit diese unionsrechtskonform sind. aa)  Sofortige und endgültige Festsetzung

Das erste Problem im Bereich der Verhältnismäßigkeit ist die sofortige und endgültige Festsetzung der Steuer im Zeitpunkt der Entstrickung. Der EuGH hält diese für verhältnismäßig.685 Dieser Ansicht des EuGH ist zuzustimmen. Zwar kommt als milderes Mittel zunächst die Möglichkeit in Betracht, die Steuer nicht bereits im Zeitpunkt der Entstrickung festzusetzen, sondern erst in einem späteren Zeitpunkt (beispielsweise im Zeitpunkt der Realisation der stillen Reserven, wie es bei rein innerstaatlichen Sachverhalten der Fall ist). Für den Herkunftsstaat würde dies aber die Gefahr bedeuten, dass er die Steuern auf die stillen Reserven zu diesem späteren Zeitpunkt nicht mehr exakt festsetzen kann, wodurch er an der Ausübung der ihm zustehenden Besteuerungsbefugnis hinsichtlich der in seinem Hoheitsgebiet entstandenen stillen Reserven gehindert wäre.686 Denn um die Besteuerungsbefugnis ausüben zu können, muss der Herkunftsstaat den Betrag feststellen können, mit dem die stillen Reserven im Zeitpunkt der Entstrickung zu 683 So auch: Schlussanträge des Generalanwalts Jean Mischo v. 13.3.2003, C-9/­ 02 Rn. 62. 684 Treffend: Schlussanträge des Generalanwalts Jean Mischo v. 13.3.2003, C-9/­ 02 Rn. 64. 685 Vgl. EuGH v. 29.11.2011, C-371/­ 10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 52; Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 8.9.2011, C-371/­10 Rn. 55 f. 686  Vgl. EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 42 Rn. 56.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

den steuerpflichtigen Gewinnen beitragen.687 Ohne eine sofortige Festsetzung sind die stillen Reserven nicht von Wertzuwächsen sowie -verlusten abgrenzbar, die nach der Überführung bzw. dem Wegzug eingetreten sind.688 Korrespondierend dazu wäre es bei überführten Wirtschaftsgütern für den Herkunftsstaat nahezu unmöglich, diese – und damit die stillen Reserven – im Ausland nachzuverfolgen, sodass bei realistischer Betrachtung regelmäßig ein Vollzugsdefizit droht und es zu einer Nichtbesteuerung der stillen Reserven kommt.689 Deshalb kann auch der Hinweis auf die Amtshilferichtlinie nicht ausreichen, um die vom EuGH zugestandene Möglichkeit einer effektiven Besteuerung sicherzustellen.690 Fraglich ist jedoch, ob neben der sofortigen auch die endgültige Festsetzung der Entstrickungssteuer verhältnismäßig ist. Nach deutschem Steuerrecht ergeht hierfür ein Steuerbescheid im Sinne des § 155 Abs. 1 S. 1, 2 AO. Hiergegen müsste der Steuerpflichtige ein Rechtsbehelfsverfahren anstrengen. Zudem könnte der Steuerbescheid, sobald er bestandskräftig geworden ist, nur noch eingeschränkt nach den §§ 172 ff. AO geändert werden. Als milderes Mittel kommt daher die Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gemäß §§ 164 Abs. 1, 165 AO in Betracht, solange der Steuerfall nicht abschließend geprüft ist, wodurch der Steuerbescheid bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung nicht materiell bestandskräftig wird. Für den Steuerpflichtigen hätte dies zum Vorteil, dass die Steuerfestsetzung aufgehoben oder geändert werden kann, solange der Vorbehalt wirksam ist (§ 164 Abs. 2 S. 1 AO); dies kann der Steuerpflichtige jederzeit beantragen (§ 164 Abs. 2 S. 2 AO). Im Gegensatz zum Steuerbescheid ohne Vorbehaltsvermerk ist der gesamte Steuerbescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung zudem für Korrekturen offen, ohne dass es eines Einspruchs bedarf. Dies gilt auch nach Eintritt der materiellen Bestandskraft. Der Steuerpflichtige kann sich zudem gemäß § 47 Var. 4 AO gegebenenfalls auf das Erlöschen des Steueranspruchs wegen Verjährung gemäß §§ 169 ff. AO berufen. Zu beachten ist jedoch auch, dass der Vorbehalt der Nachprüfung jederzeit aufgehoben werden kann (§ 164 Abs. 3 S. 1 AO) und automatisch entfällt, wenn die Festsetzungsfrist abläuft (§ 164 Abs. 4 S. 1 AO), wobei im Rahmen des § 165 AO auch die Ablaufhemmung gemäß § 171 Abs. 3 AO zu beachten 687 Vgl. EuGH v. 29.11.2011, C-371/­ 10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 52; v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 42, 56; Schlussanträge des Generalanwalts Niilo Jääskinen v. 26.2.2015, C-657/­13 Rn. 58; Dobratz, ISR 2014, 198 (201). 688  Schlussanträge des Generalanwalts Niilo Jääskinen v. 26.2.2015, C-657/­13 Rn. 58; Schnitger, BB 2004, 804 (813). 689  Mitschke, IStR 2010, 95 (97); Lampert, in: Gosch, KStG, § 12 Rn. 3, nach dem diese in den meisten Fällen „im Nebel des Auslands verschwinden“ würden. 690  Mitschke, IStR 2010, 95 (97).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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ist. Wird der Vorbehalt aufgehoben, ist die Steuer endgültig festgesetzt (§ 164 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 AO). Trotz allem stellt eine Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ein milderes Mittel dar. Denn erfolgt beispielsweise nach dem Wegzug des Steuerpflichtigen eine Veräußerung der Anteile, könnte der Herkunftsstaat den Vorbehalt der Nachprüfung aufheben, sodass die Steuer erst dann endgültig festgesetzt wäre. Verlegt der Steuerpflichtige seinen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat, ohne die Anteile zu veräußern, und zieht er wenig später wieder in seinen Herkunftsstaat zurück, könnte die unter Vorbehalt der Nachprüfung stehende Steuerfestsetzung mittels Antrag des Steuerpflichtigen aufgehoben werden. Veräußert der weggezogene Steuerpflichtige seine Anteile nie und bleibt er im Ausland wohnen, könnte die Steuer spätestens nach Ablauf der Festsetzungsfrist immer noch (durch Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung) endgültig festgesetzt werden. Als mögliche weitere mildere Mittel kommen zudem eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen gemäß § 162 AO sowie eine abweichende Festsetzung der Steuern aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 AO in Betracht. Ob diese Regelungen einschlägig sind, ist für den konkreten Einzelfall gesondert zu beurteilen. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch die Regelung des § 6 Abs. 3 S. 1 AStG. Danach entfällt der Anspruch auf die Wegzugssteuer, wenn die Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht auf vorübergehender Abwesenheit und der Steuerpflichtige innerhalb von fünf (bzw. gemäß § 6 Abs. 3 S. 2 AStG zehn) Jahren seit Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht wieder unbeschränkt steuerpflichtig wird, soweit die Anteile in der Zwischenzeit nicht veräußert worden sind. Bleibt der Steuerpflichtige somit für mindestens fünf Jahre im Ausland und veräußert er während dieser Zeit seine Anteile nicht, muss er trotz des zwischenzeitlichen Wegzugs hinsichtlich der stillen Reserven keine Steuern entrichten.691 Eine gegebenenfalls bereits entrichtete Steuer ist zu erstatten.692 Eine Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen, sich in jährlichen Abständen (formlos) über die betroffenen Anteile zu erklären bzw. Auskunft zu erteilen,693 erscheint dabei jedoch nicht verhältnismäßig.694 Der Grund für den Entfall des Steueranspruchs ist, dass die Anteile durch den erneuten Zuzug in den Herkunftsstaat wieder steuerverstrickt sind (Step-up). Verfahrens691  Auch hieraus ergebe sich die Unverhältnismäßigkeit der nationalen Regelung, da ein Steuerpflichtiger, der nach seinem Wegzug länger als fünf Jahre im Ausland bleibt und seine Wertpapiere vor Ablauf der fünf Jahre verkauft, die stillen Reserven besteuern müsse: Schlussanträge des Generalanwalts Jean Mischo v. 13.3.2003, C-9/­02 Rn. 61. 692  Pohl, in: Blümich, AStG, § 6 Rn. 71. 693 So Schindler, IStR 2004, 300 (309). 694  Schnitger, BB 2004, 804 (813).

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

technisch wird das Entfallen des Steueranspruchs durch die Aufhebung eines endgültig ergangenen Steuerbescheides nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO oder durch die Änderung eines vorläufigen Bescheides gem. § 165 Abs. 2 AO berücksichtigt (Tz. 6.4.2. AEAStG).695 Hat der Steuerpflichtige während seiner vorübergehenden Abwesenheit Anteile veräußert, kann der Steueranspruch in diesem Umfang nicht entfallen. Vorläufige Bescheide sind demnach für endgültig zu erklären (§ 165 Abs. 2 S. 2 AO).696 Es ist dabei aber nicht sachgerecht, die beim Wegzug festgesetzte Steuer nicht entfallen zu lassen, also die Steuer auf den zum Wegzugszeitpunkt erfassten Wertzuwachs bis zur tatsächlichen Anteilsveräußerung weiter zu stunden.697 Eine Abwägung der Interessen des Herkunftsstaats an der sofortigen und endgültigen Steuerfestsetzung sowie der Interessen des Steuerpflichtigen, eine möglichst späte und keine endgültige Steuerfestsetzung zu erreichen, ergibt, dass letztere überwiegen.698 Der Herkunftsstaat hat ausreichende Möglichkeiten, die Steuern endgültig festzusetzen, sobald eine tatsächliche Veräußerung der Anteile erfolgt oder droht. Dies entspricht insbesondere auch dem bereits dargestellten Leistungsfähigkeits- sowie dem Realisations- bzw. Zuflussprinzip. Daran ändert auch § 6 Abs. 1 AStG nichts. Zwar regelt dieser, dass § 17 EStG im Zeitpunkt der Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht anzuwenden ist. Diese Formulierung betrifft jedoch die sofortige Festsetzung – welche verhältnismäßig ist –, nicht aber auch die endgültige Steuerfestsetzung. bb)  Sofortige Einziehung

Im Gegensatz zur sofortigen Festsetzung der Steuer ist die sofortige Einziehung der festgesetzten Steuer nach Ansicht des EuGH nicht verhältnismäßig.699 Dies gelte umso mehr für Fälle, in denen gemäß Art. 8 Abs. 2 der Fusionsrichtlinie eine mittelbare Besteuerungsbefugnis an zukünftigen Wertsteigerungen 695 

Kraft, in: Kraft, AStG, § 6 Rn. 450. Kraft, in: Kraft, AStG, § 6 Rn. 450. 697  So aber: Richter/­Escher, FR 2007, 674 (683). 698  Musil, FR 2012, 25 (32 f.): So könne man dem Urteil National Grid Indus (EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 ) aber insgesamt das Bestreben entnehmen, bei der Verhältnismäßigkeitsbestimmung zu einem gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des Steuerpflichtigen an einer nicht übermäßigen Belastung anslässlich des Grenzübertritts und den Interessen der Finanzverwaltung an einer möglichst effizienten und administrierbaren Sicherstellung des Besteuerungsrechts zu gelangen. 699  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 73 ff.; v. 6.9.2012, C-38/­10 – Kommission/­Portugal, EuZW 2012, 947 Rn. 32; v. 21.12.2016, C-503/­14  – Kommission/­Portugal, EuZW 2017, 180 Rn. 60; v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80 Rn. 34 ff. 696 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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der Betriebstätte bestehen bleibe.700 Denn in diesem Fall erscheine eine sofortige Besteuerung noch weniger verhältnismäßig als bei einem Wegzug, bei dem sämtliche Verbindungen zum Steuersubstrat verloren gingen.701 Um die Verhältnismäßigkeit zu bewahren, ist dem Steuerpflichtigen nach der Lösung des EuGH die Wahl zu lassen zwischen der sofortigen Zahlung der Steuer und deren Aufschub.702 Dieses Wahlrecht umfasst sowohl Wirtschaftsgüter des Anlage- als auch des Umlaufvermögens.703 Zu beachten ist, dass eine solche Wahlfreiheit des Steuerpflichtigen nur eine Möglichkeit ist, um die Verhältnismäßigkeit der nationalen Vorschriften zu wahren. Feststeht nur, dass die sofortige Einziehung der Steuer als einzige Möglichkeit nicht verhältnismäßig ist. Den Mitgliedstaaten steht es somit frei, andere geeignete Regelungen zu schaffen. (1)  Sofortige Zahlung der Steuer

In bestimmten Konstellationen kann es für den Steuerpflichtigen jedoch günstiger sein, die festgesetzte Steuer sofort zu entrichten. Zwar hätte die sofortige Entrichtung der Steuer einen Liquiditätsnachteil zur Folge; demgegenüber würde sich der Steuerpflichtige jedoch den späteren Verwaltungsaufwand ersparen, jeden Vermögensgegenstand mit stillen Reserven zu erfassen.704 Insbesondere für Gesellschaften, die über zahlreiche solcher Vermögensgegenstände verfügen, kann die sofortige Entrichtung damit vorteilhaft sein. Teilweise wurde vorgeschlagen, danach zu differenzieren, ob die Nachverfolgung der Vermögensgegenstände unmöglich bzw. schwierig oder stattdessen unproblematisch möglich sei.705 Ist die Vermögenssituation eines Unternehmens derart komplex, dass eine Nachverfolgung „unmöglich oder jedenfalls mit einem Aufwand verbunden ist, der den Steuerverwaltungen nicht zuzumuten ist und auch für die Unternehmen eine erhebliche Belastung bedeuten würde“, 700 

Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.7.2017, C-292/­16 Rn. 52. Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.7.2017, C-292/­16 Rn. 52. 702  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­ 10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 73; v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 61; Schlussanträge des Generalanwalts Paolo Mengozzi v. 28.6.2012, C-38/­10 Rn. 65 f.: Der Fall National Grid Indus (EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273) war dennoch insofern ungewöhnlich, als die betreffende Gesellschaft nur einen finanziellen Vermögenswert besaß. 703  Brinkmann/­Reiter, DB 2012, 16 (19), nach dem auch das Erfordernis einer einheitlichen Ausübung für alle Wirtschaftsgüter unverhältnismäßig sei. Vgl. auch: Mitschke, DStR 2012, 629 (632); ders., IStR 2015, 206 (215). 704  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­ 10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 73; Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 8.9.2011, C-371/­10 Rn. 69 ff. 705  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 8.9.2011, C-371/­10 Rn. 69 ff. 701 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

wäre die sofortige Einziehung der Steuer „als verhältnismäßig und somit als im Licht der Niederlassungsfreiheit zulässig anzusehen“.706 Stellt sich die Vermögenssituation eines Unternehmens hingegen vergleichsweise einfach dar, sei die sofortige Einziehung der Steuer unverhältnismäßig.707 Eine solche Unterscheidung ist jedoch nur schwer vorzunehmen.708 Auch der EuGH folgt dieser Differenzierung nicht.709 Denn wenn schon eine Gesellschaft meine, dass die Nachverfolgung der Vermögensgegenstände für sie kein übermäßiger Verwaltungsaufwand sei, könne „der Aufwand, der auf der Steuerverwaltung des Herkunftsmitgliedstaats lastet und der mit der Kontrolle der Erklärungen hinsichtlich einer solchen Nachverfolgung verbunden ist, auch nicht als übermäßig eingestuft werden.“710 Die Frage des tatsächlichen Aufwands ist also zu Recht ein Aspekt, den allein die Unternehmen zu beurteilen haben.711 (2)  Zahlungsaufschub

Eine Gleichbehandlung mit den im Inland bleibenden Steuerpflichtigen ist nur zu gewährleisten, wenn dem wegziehenden Steuerpflichtigen die Möglichkeit eines Zahlungsaufschubs der festgesetzten Steuer (Stundung oder zeitlich gestreckte Erhebung der ggf. ermäßigten Steuer) gewährt wird.712 Denn die im Inland verbleibenden Steuerpflichtigen werden erst besteuert, wenn die stillen Reserven tatsächlich realisiert werden, sodass eine weitestgehende Angleichung erfolgen muss. Erforderlich ist somit eine Stundung der Zahlung. Die Mitgliedstaaten seien jedoch nicht gezwungen, dem Steuerpflichtigen nur die Möglichkeit einzuräumen, sich für die aufgeschobene Zahlung der Steuer zu entscheiden; dem Steuerpflichtigen könnte auch die Wahl gelassen wer-

706 

Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 8.9.2011, C-371/­10 Rn. 69 ff. der Generalanwältin Juliane Kokott v. 8.9.2011, C-371/­10 Rn. 72; Linn, IStR 2011, 817 (820) meint, dass eine Regelung nur dann verhältnismäßig sei, die für die leicht nachverfolgbaren Vermögensgegenstände (Beteiligungen, Forderungen, zumindest teilweise auch IP) eine Stundung bis zur tatsächlichen Realisation und für die schwierig bis unmöglich nachverfolgbaren Vermögensgegenstände eine Stundung bis zur pauschalisierten Realisation vorsehe. Europarechtlich geboten wäre mithin eine Kombination aus Stundung einerseits und ratierlich aufgelöstem Ausgleichsposten andererseits. 708 Ebenso: Kessler/­Philipp, DStR 2012, 267 (271); Linn, IStR 2011, 817 (819). 709  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 76 ff. 710  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 77. 711  Mitschke, IStR 2012, 6 (7); Thömmes, IWB 2011, 733 (741); Linn, IStR 2011, 817 (820). 712 Schlussanträge des Generalanwalts Jean Mischo v. 13.3.2003, C-9/­ 02 Rn. 35; Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.7.2017, C-292/­16 Rn. 51. 707  Schlussanträge

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

235

den, die Steuern in Raten zu begleichen, beispielsweise in jährlich fällig werdenden Beträgen oder entsprechend der Realisierung der Wertzuwächse.713 Fraglich ist, bis wann dem Steuerpflichtigen ein Zahlungsaufschub zu gewähren ist. In Betracht kommt hierfür der Zeitpunkt der tatsächlichen Realisation der stillen Reserven. Dies lehnt der EuGH ab.714 Eine solche spätere Realisation im Zuzugsstaat kann zudem vom Herkunftsstaat nur schlecht kontrolliert werden. Zudem ist diese nicht zwingend, so beispielsweise bei späteren Wertverlusten, einem Untergang der Wirtschaftsgüter oder wenn sich die stille Reserven im Zuzugsstaat ohne Realisation durch Nutzung verbrauchen.715 Auch sind solche Fälle nicht erfasst, in denen der Steuerpflichtige die Anteile zu keinem Zeitpunkt veräußert, wobei sich hierbei die Frage stellt, ob und gegebenenfalls wie der Steuerpflichtige die Nichtveräußerung der Anteile den Steuerbehörden nachweisen muss. In all diesen Fällen wäre ein genereller Zahlungsaufschub bis zur tatsächlichen Realisation nicht zielführend. Zudem widerspricht dies dem Grundsatz der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten, da auch spätere Wertverluste außerhalb der eigenen Besteuerungshoheit berücksichtigt werden müssen.716 Gegen einen Zahlungsaufschub bis zur Realisation spricht auch der Umstand, dass der Zuzugsstaat das Tatbestandsmerkmal dieser Realisation gegebenenfalls anders beurteilt als der Wegzugsstaat. So könnten solche Qualifikationskonflikte dazu führen, dass der Zuzugsstaat nicht von einer Realisation ausgeht, während der Herkunftsstaat beim jeweiligen Vorgang davon ausgegangen wäre. Es müsste somit sichergestellt werden, dass der Zuzugsstaat die Realisationsvorgänge genauso wie der Herkunftsstaat behandelt, was praktisch nicht möglich sein wird.717 (a)  Zeitraum des Zahlungsaufschubs

Fraglich ist also, für welchen Zeitraum der Zahlungsaufschub nun zu gewähren ist. Der EuGH ist der Ansicht, dass ein Zahlungsaufschub für die Dauer von

713 

Schlussanträge des Generalanwalts Paolo Mengozzi v. 28.6.2012, C-38/­10 Rn. 68. v. 18.7.2013, C-261/­11 – Kommission/­Dänemark, BeckEURS 2013, 736235 Rn. 36 ff.; v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 53. 715  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.7.2017, C-292/­16 Rn. 46; Rödder, IStR 2005, 297 (298); Schnitger, BB 2004, 804 (813). 716  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.7.2017, C-292/­16 Rn. 46. 717  Rödder, IStR 2005, 297 (298). 714  EuGH

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

fünf718 bzw. zehn719 Jahren bzw. bis zur tatsächlichen Realisierung der stillen Reserven zulässig sei und stellt damit zwischen den Zeiträumen und der tatsächlichen Realisierung keinen Bezug her.720 Die Literatur äußert sich zu dieser Frage relativ vage und folgt größtenteils der Ansicht des EuGH. Der Zeitraum muss jedenfalls lang genug sein, da die sofortige Erhebung von Wegzugssteuern immer mit Liquiditätsnachteilen für den Steuerpflichtigen einhergehe.721 Es müsse daher ein für Steuerpflichtige und Finanzverwaltung gleichermaßen handhabbarer, moderat bemessener Zeitraum bestimmt werden, der in absehbarer Zeit für alle Beteiligten zu rechtssicheren Zuständen führe.722 Sofern teilweise die Gewährung einer zeitlich völlig unbeschränkten Stundung gefordert wird,723 geht dies zu weit, da jedenfalls im Falle einer unverzinsten Stundung der Steueranspruch des Staates schrittweise entwertet würde. Ein Zahlungsaufschub über fünf Jahre724 erscheint daher durchaus vertretbar.725 Der Zeitraum sollte dabei nicht für jeden überführten Vermögensgegenstand einzeln bemessen, sondern anhand einer generellen Regelung vorgegeben werden.726 Im Ergebnis ist eine Abwägung der Interessen des Herkunftsstaats sowie des Steuerpflichtigen vorzunehmen. Die Gewährung eines Zahlungsaufschubs darf jedenfalls nicht an zu hohe Voraussetzungen geknüpft werden. (b)  A nforderungen an den Zahlungsaufschub

Es stellt sich zudem die Frage, ob für den Zahlungsaufschub eine Sicherheitsleistung sowie Zinsen verlangt werden können.

718  EuGH v. 11.3.2004, C-9/­ 02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 3; v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 5. 719  EuGH v. 7.9.2006, C-470/­0 4 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 8; v. 21.5.2015, C-657/­13 – Verder LabTec, GRUR Int. 2015, 839 Rn. 52. 720  Musil, FR 2014, 466 (471). 721  Schlussanträge des Generalanwalts Niilo Jääskinen v. 26.2.2015, C-657/­13 Rn. 72. 722  Musil, FR 2011, 545 (548 f.); Mitschke, DStR 2012, 629 (631). 723  Brinkmann/­Reiter, DB 2012, 16; Isselmann, BB 2014, 492 (496). 724  Linn (IStR 2014, 136 [137]) hält maximal 15 Jahre für möglich. 725  Mitschke, IStR 2014, 214 (216); ders., DStR 2012, 629 (631); ders.; IStR 2015, 440 (444); vgl. auch Thömmes, IWB 2012, 723 (726), der annimmt, dass jegliche sofortige Steuererhebung im Zeitpunkt des Wegzugs gegen die Niederlassungsfreiheit verstoße. 726 Schlussanträge des Generalanwalts Niilo Jääskinen v. 26.2.2015, C-657/­ 13 Rn.  71 f.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Bereits in den Urteilen Centros727 und X und Y 728 hatte der EuGH die Stellung von Sicherheiten noch selbst als Lösungsansatz genannt.729 Durch die Leistung von Sicherheiten wird die Möglichkeit des Zahlungsaufschubs an hohe Voraussetzungen geknüpft, wodurch es dem wegziehenden Steuerpflichtigen erschwert wird, einen Zahlungsaufschub zu erhalten. Aus diesem Grund wird das Erfordernis in der Literatur zu Recht kritisiert.730 Die Leistung von Sicherheiten ist grundsätzlich abzulehnen, da sie eine beschränkende Ungleichbehandlung für den wegziehenden Steuerpflichtigen darstellt.731 Lediglich in Konstellationen, in denen es sich beispielsweise um im Einzelfall festgestellte Missbrauchsfälle handelt, ist eine Sicherheitsleistung als verhältnismäßig anzusehen.732 Dem EuGH ist jedenfalls darin zuzustimmen, dass eine Sicherheit ohne vorherige Bewertung des tatsächlichen Risikos des Zahlungsausfalls bzw. der Nichteinbringung der Steuer nicht verlangt werden kann.733 Der entscheidende Punkt ist aber, dass die Anforderung von Sicherheiten nicht nach strikteren Grundsätzen erfolgen darf als in vergleichbaren Inlandsfällen.734 Als Sicherheiten kommen Bankgarantien735 bzw. Bankbürgschaften, Anteilsverpfändungen736 , Hinterlegung von Zahlungsmitteln, Verpfändung von Wertpapieren oder Forderungen sowie die Benennung eines Steuerbürgen in Betracht.737 Bei einer Verlagerung von Vermögen, das einer inländischen Betriebstätte einer gebietsfremden Gesellschaft zugeordnet ist, vom Inland in einen anderen Staat ist auch die Anwe727  EuGH v. 9.3.1999, C-212/­ 97 – Centros, Slg. I-1459 Rn. 37: „erforderliche Sicherheiten“. 728  EuGH v. 12.11.2002, C-436/­0 0 – X und Y, Slg. 10829 Rn. 59: „Kaution oder sonstige Garantien“. 729  Schnitger, BB 2004 Heft 15, 804 (806 f.), der der Ansicht ist, dass der EuGH eine „Änderung seiner Rechtsprechung eingeläutet hat, ohne diese jedoch ausdrücklich zu kennzeichnen“. 730 Vgl. Schindler, IStR 2004, 300 (302, 309); Kofler, ÖStZ 2003, 262 (266); Schnit­ ger, BB 2004, 804 (806 f.). 731 Vgl. Körner, IStR 2012, 1 (4) unter Verweis auf das Urteil N (EuGH v. 7.9.2006, C-470/­04  – N, Slg. 2006, I-7409), in dem der EuGH für den Fall des Wegzugs einer natürlichen Person entschieden hat, dass keine Sicherheitsleistung verlangt werden dürfe. 732  Schindler, IStR 2004, 300 (309). 733  EuGH v. 23.1.2014, C-164/­12 – DMC, EuZW 2014, 273 Rn. 59 ff., 67. 734  Körner, IStR 2012, 1 (4); a. A.: Mitschke, IStR 2012, 6 (11); ders., DStR 2012, 629 (635). 735  Die Höhe der erforderlichen Bankgarantie darf nicht der gestundeten Steuerforderung entsprechen, da dies gerade bei hohen Steuerbeträgen wirtschaftlich gesehen einer sofortigen Bezahlung der Steuer entspricht: Schlussanträge des Generalanwalts Pao­ lo Mengozzi v. 28.6.2012, C-38/­10 Rn. 82; zustimmend: Thömmes, IWB 2012, 273 (277); Mitschke, IStR 2012, 6 (10). 736  Wacker, IStR 2017, 926 (928). 737  Wacker, IStR 2017, 926 (928); Mitschke, IStR 2014, 106 (113).

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

senheit der Betriebstätte im Hoheitsgebiet des Herkunftsstaats Sicherheit genug.738 Während die Stellung von Sicherheiten teilweise noch unter Umständen verhältnismäßig ist, trifft dies bei der Erhebung von Zinsen nicht zu.739 Auch hier ist die entscheidende Frage, ob die nationale Regelung eine Verzinsung auch für innerstaatliche Fälle vorsieht. Nach dem Äquivalenzgrundsatz ist auch hier der grenzüberschreitende mit dem rein innerstaatlichen Fall zu vergleichen.740 Da es aber im deutschen Recht bei einer rein innerstaatlichen Sitzverlegung zu keiner Entstrickung kommt und damit auch keine Steuern festgesetzt werden, die gegen Zinsen gestundet werden könnten, wäre auch im Fall der grenzüberschreitenden Sitzverlegung eine Stundung gegen Zinsen unzulässig.741 cc)  Berücksichtigung nach der Entstrickung eintretender Wertminderungen

Aufgrund der Symmetrie zwischen dem Recht zur Besteuerung der Gewinne und dem Verlustabzug hat der Zuzugsstaat die Verluste zu berücksichtigen, die ab dem Zeitpunkt aufgetreten sind, in dem der Herkunftsmitgliedstaat die steuerliche Anknüpfung zu dieser Gesellschaft verloren hat.742 Der Wegzugsstaat muss die nach dem Wegzug entstandenen Verluste somit nicht berücksichtigen, wodurch die Gefahr einer doppelten Besteuerung oder eines doppelten Verlustabzugs vermieden werden kann.743 Dies setzt jedoch eine der Entstrickung im Wegzugsstaat folgende Verstrickung der Wirtschaftsgüter im Zuzugsstaat, hier also einen Step-up zum Verkehrswert, voraus; andernfalls droht eine Doppelbesteuerung von Gewinnen und eine Nichtberücksichtigung

738 Schlussanträge des Generalanwalts Paolo Mengozzi v. 28.6.2012, C-38/­ 10 Rn.  120 f. 739  Kessler/­Philipp, DStR 2012, 267 (272); a. A.: EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – Na­ tional Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 73 f. 740 EuGH v. 6.9.2012, C-38/­ 10 – Kommission/­Portugal, EuZW 2012, 947 Rn. 32; v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 73; Schlussanträge des Generalanwalts Paolo Mengozzi v. 28.6.2012, C-38/­10 Rn. 77; Thömmes, IWB 2012, 723 (727). 741  Kahle/­Beinert, FR 2015, 585 (590). 742  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­ 10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 58. Vgl. hierzu auch: EuGH v. 22.3.2018, C-327/­16 und C-421/­16 – Jacob/­Lassus, IStR 2018, 316. In diesem Fall ging es um die aus einem Austausch von Anteilen entstandenen stillen Reserven, deren Besteuerung bis zu dem Jahr aufgeschoben wurde, in dem das den Aufschub der Besteuerung beendende Ereignis – im vorliegenden Fall die Veräußerung der erworbenen Anteile – eintrat. Wird in diesem Fall eine spätere Wertminderung nicht berücksichtigt, verstößt dies gegen die Niederlassungsfreiheit. 743  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 59.

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von Verlusten.744 Die Verluste müssen vom Wegzugsstaat somit auch dann nicht berücksichtigt werden, wenn sie im Zuzugsstaat keine Berücksichtigung finden. Hier wird teilweise die Frage aufgeworfen, ob aus dem Urteil eine aus Primärrecht folgende Pflicht des Zuzugsstaats zur Verkehrswert-Verstrickung von Wirtschaftsgütern abgeleitet werden könne.745 Dem EuGH ist dahingehend zuzustimmen, dass es Sache des Zuzugsstaats ist, die nach der Entstrickung entstandenen Verluste zu berücksichtigen. So sei insbesondere zu vermuten, dass sich spätere Wertminderungen im Zuzugsstaat steuerlich auswirkten und es somit diesem Staat überlassen sei, Doppelbesteuerungen bzw. Nichtbesteuerungen zu vermeiden.746 Zudem ist es für den Herkunftsstaat schwer, von einer nach der Entstrickung eintretenden Wertminderung überhaupt zu erfahren. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass nur auf diese Art und Weise die Symmetriethese gewahrt wird. Danach ist der Herkunftsstaat sowohl für die Besteuerung als auch für den Verlustabzug der vor der Entstrickung entstandenen stillen Reserven zuständig. Im Zeitpunkt der Entstrickung geht diese Zuständigkeit auf den Zuzugsstaat über. Diese Vorgehensweise entspricht zudem dem Territorialitätsprinzip.747 Für eine Berücksichtigung der späteren Verluste im Zuzugsstaat spricht auch, dass dieser als Anschaffungskosten der Wirtschaftsgüter mindestens den Betrag zugrunde legen muss, den der Wegzugsstaat den überführten Wirtschaftsgütern zum Zeitpunkt des Wegzugs zugewiesen hat.748 In diesem Fall sei davon auszugehen, dass auch künftige Wertverluste dort berücksichtigt werden.749 Berücksichtigt der Zuzugsstaat einen späteren Wertverlust nicht, könne dies jedoch nicht zur Folge

744  Kessler/­Philipp, DStR 2012, 267 (271); Brinkmann/­Reiter, DB 2012, 16 (18); a. A.: Mitschke, DStR 2012, 629 (634). 745  Kessler/­Philipp, DStR 2012, 267 (271); kritisch: Mitschke, DStR 2012, 629 (634), der meint, dass sich diese Situation – wenn überhaupt – lediglich als „Rechtsreflex“ der vom EuGH konkret vorgeschlagenen Lösung darstelle und deshalb nicht ihrerseits europarechtswidrig sein könne. 746  Mitschke, DStR 2012, 629 (634); Brinkmann/­Reiter, DB 2012, 16 (16). 747 Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 8.9.2011, C-371/­ 10 Rn. 78: Ob die Nichtberücksichtigung späterer Wertverluste durch den Wegzugsstaat die Wegzugsbesteuerung unverhältnismäßig macht, lasse sich daher nicht pauschal beantworten. 748  Ruiner, IStR 2012, 49 (51). 749  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 8.9.2011, C-371/­ 10 Rn. 77: Der Wegzugsstaat könnte dann die bei Wegzug festgesetzten Steuerbeträge bei Eintreten eines Realisierungstatbestands wie etwa der Veräußerung in voller Höhe einziehen. Vgl. auch: Brinkmann/­Reiter, DB 2012, 16 (18).

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

haben, dass der Wegzugsstaat ihn berücksichtigen müsse.750 Denn dies könnte zur doppelten steuerlichen Berücksichtigung der Wertverluste führen.751 Anders zu beurteilen sei dies im Fall von späteren Währungsverlusten. Zwar liege auch hier die Besteuerungsbefugnis nach dem Wegzug grundsätzlich allein beim Zuzugsstaat.752 Da der Währungsgewinn im Zuzugsstaat aber steuerlich nicht mehr in Erscheinung tritt, könnten die späteren Währungsverluste nur vom Wegzugsstaat berücksichtigt werden.753 4.  Zusammenfassung

Obwohl die Entstrickungsbesteuerung aus rein innerstaatlicher Sicht unzulässig ist, wird sie auf EU-Ebene anerkannt. Hier stellt der EuGH in seinen Urteilen klare Anforderungen an die Entstrickungsbesteuerung auf. Diese betreffen jedoch nur das „Wie“, das „Ob“ der Entstrickungsbesteuerung wird vom EuGH nicht in Frage gestellt. Zu Recht wird daher angenommen, dass der EuGH mittels seiner Rechtsprechung den betreffenden Mitgliedstaaten ihre Besteuerungsrechte zuweist.754 Die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH scheint somit darauf hinaus zu laufen, dass es in den DBA keine gegen die Grundfreiheiten immunen Bereiche mehr gibt. Der Anknüpfungspunkt ist jeweils der Ausschluss oder die Beschränkung des Besteuerungsrechts des Herkunftsstaats. Nach Auffassung des EuGH verstößt die Wegzugsbesteuerung jedenfalls im Verhältnis zu Mitgliedstaaten755 zwar gegen die Niederlassungsfreiheit, da sie die Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat weniger attraktiv mache.756 Dieser Verstoß ist jedoch regelmäßig gerechtfertigt, um insbesondere die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den betreffenden Mitgliedstaaten zu gewährleisten. 750 

Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 8.9.2011, C-371/­10 Rn. 78. Rödder, IStR 2005, 297 (298). 752  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 8.9.2011, C-371/­10 Rn. 87. 753  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 8.9.2011, C-371/­10 Rn. 86. 754 Vgl. Dobratz, ISR 2014, 198 (201 f.); Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 109. 755 Zu Drittstaaten vgl. EuGH v. 15.3.2018, C-355/­ 16 – Picart, DStRE 2018, 1244; EuGH v. 26.2.2019, C-581/­17 – Wächtler, IStR 2019, 260 (mit Anm. Schlücke); EuGH-Vorlage durch Beschluss des FG Baden-Württemberg v. 14.6.2017 – 2 K 2413/­15; ausführlich zu den verschiedenen Fragen und steuerlichen Folgen im Zusammenhang mit der Verlegung der Geschäftsleitung einer Körperschaft in einen Drittstaat siehe: Becker/­Schwarz/­ Mühlhausen, IStR 2017, 45. 756  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 35 ff.; v. 6.9.2012, C-38/­10 – Kommission/­Portugal, EuZW 2012, 947; v. 11.3.2004, C-9/­02 – de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 69. 751 

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Denn durch sie übt der Wegzugsstaat seine Besteuerungsbefugnis nur hinsichtlich derjenigen Wertzuwächse aus, die in seinem Hoheitsgebiet entstanden sind und damit in dem Zeitraum erzielt wurden, in dem die Gesellschaft dort noch ansässig gewesen ist.757 Der EuGH nennt den Rechtfertigungsgrund der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse hierbei gemeinsam mit dem Grundsatz der steuerlichen Territorialität, verbunden mit einem zeitlichen Element.758 Die Regelung zur Wegzugsbesteuerung muss allerdings verhältnismäßig sein. Sofern die sofortige Festsetzung der Steuer – ggf. unter einem Vorbehalt – unbedenklich ist, ist dies bei der sofortigen Einziehung der Steuer nicht der Fall.759 Dem Steuerpflichtigen ist die Wahl zu lassen, ob er die Steuer sofort entrichtet oder sich für einen Zahlungsaufschub entscheidet. Die Gewährung eines Zahlungsaufschubs über einen Zeitraum von fünf oder zehn Jahren dürfte dabei die Verhältnismäßigkeit der Wegzugsbesteuerung wahren. Ein solcher Zahlungsaufschub darf nur ausnahmsweise mit einer Sicherheitsleistung verbunden werden. Zinsen sind hingegen nicht zulässig, da sie bei rein innerstaatlichen Fällen nicht vorgesehen sind. Darüber hinaus erfordert die Verhältnismäßigkeit, dass der Zuzugsstaat die nach der Entstrickung entstandenen Wertminderungen berücksichtigt.

C.  Methode zur Beseitigung der Doppelbesteuerung (Artt. 23 A und 23 B OECD-MA) Ähnlich wie bei den Verteilungsnormen stellt sich die Frage, ob und inwiefern die Methodenartikel (Artt. 23A, 23B OECD-MA) in Einzelfällen mit den Grundfreiheiten kollidieren können. Sofern keine Verteilungsnormen mit abschließender Rechtsfolge bestehen, vermeiden DBA die Doppelbesteuerung entweder nach der Freistellungs- oder der Anrechnungsmethode oder einer Kombination aus beiden.760 So finden sich auch in den DBA, die Deutschland mit anderen Staaten abgeschlossen hat, sowohl die Freistellungs- als auch 757  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­ 10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 43; Kessler/­Philipp, DStR 2012, 267 (270). 758  EuGH v. 7.9.2006, C-470/­0 4 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 46; v. 29.11.2011, C-371/­10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 46. 759  EuGH v. 29.11.2011, C-371/­ 10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 85; v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 45; v. 7.9.2006, C470/­04  – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 42; v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I6373; v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601; ebenso: Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 266a. 760  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 23A Rn. 1; Ismer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 23A, 23B Rn. 9; Art. 23A Nr. 31 OECD-MK.

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die Anrechnungsmethode, welche sich nicht ausschließen, sondern einander ergänzen.761 Das Unionsrecht enthält keine Vorgaben, welche Methode zu wählen ist.762 Beide Methoden regeln grundsätzlich nur die Besteuerung im Quellenstaat und sind auf die Vermeidung der juristischen, nicht aber der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung gerichtet.763 I.  Gleichwertigkeit der Methoden 1.  Überblick

Der erste Bereich betrifft die Methodenartikel selbst. Im Folgenden soll dabei untersucht werden, ob die Grundfreiheiten auch auf diese Methoden zur Beseitigung der Doppelbesteuerung einwirken. Hierzu soll zunächst ein Überblick über beide Methoden dargestellt werden. a)  Freistellungsmethode

Die Freistellungsmethode ist in Art. 23A Abs. 1 OECD-MA geregelt. Danach werden ausländische Einkünfte im Sinne der Artt. 6 bis 21 OECD-MA insofern von der Besteuerung ausgenommen, als diese Einkünfte im Ansässigkeitsstaat des Steuerpflichtigen vollständig von der Besteuerung freigestellt werden, sodass sie demnach aus der Besteuerungsgrundlage ausscheiden.764 Darüber hinaus findet sich die Freistellungsmethode auch in Verteilungsnormen mit abschließender Rechtsfolge des betreffenden DBA.765 In den Fällen, in denen kein DBA besteht, vermeidet Deutschland die juristische Doppelbesteuerung durch

761 Die Freistellungsmethode wird in der Regel auf Einkünfte aus unbeweglichem Vermögen, Unternehmensgewinne, Veräußerungsgewinne im Sinne des Art. 13 OECDMA sowie auf Einkünfte aus selbständiger und aus unselbständiger Arbeit angewendet. Für alle übrigen Einkünfte gilt in der Regel die Anrechnungsmethode: Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 23B Rn. 3. Vgl. auch: Ismer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 23A, 23B Rn. 9; Art. 23A Nr. 31 OECD-MK. 762  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 267a. 763  Art. 23A Nr. 1 OECD-MK; Ismer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 23A, 23B Rn. 33, 122; Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.170; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 1 Rn. 33. 764  Oellerich, in: Schaumburg/­ Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.170; Ismer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 23 Rn. 42. 765  Die sog. Verteilungsnormen mit abschließender Rechtsfolge sind lex specialis gegenüber Art. 23A und 23B OECD-MA: Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 23A Rn. 5.

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unilaterale Maßnahmen, die jedoch nicht die Freistellungsmethode vorsehen, sondern die Anrechnungsmethode.766 Die Einkünfte unterliegen nach der Freistellungsmethode nur der Besteuerung – und damit dem Steuerniveau – im ausländischen Staat, wodurch eine Kapitalimportneutralität erreicht wird, das heißt, alle ausländischen Steuerpflichtigen werden im Quellenstaat vergleichbaren Bedingungen ausgesetzt, denen auch ein dort ansässiger bzw. ein aus einem Drittstaat stammender Steuerpflichtiger ausgesetzt ist.767 Sie führt zu einer Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen und ist damit grundsätzlich mit den Grundfreiheiten vereinbar, da sie insofern auf der Linie der unionsrechtlichen Beschränkungsverbote liegt.768 Dies spricht zumindest aus steuerpolitischer Sicht für eine Bevorzugung der Freistellungsmethode.769 Die Ermittlung der freizustellenden Einkünfte erfolgt nach dem jeweiligen nationalen Steuerrecht, sodass die Einkünfte hierbei in der Regel in den Progressionsvorbehalt einbezogen werden (sog. Befreiung mit Progression770 gemäß Artt. 23A Abs. 3, 23B Abs. 2 OECD-MA). Im deutschen Steuerrecht ist dies in § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 EStG geregelt. Im Rahmen der Freistellungsmethode ist es unerheblich, ob die Einkünfte im Ausland tatsächlich besteuert werden oder nicht, sodass diese Methode neben der juristischen auch die virtuelle Doppelbesteuerung vermeiden soll.771 Erfolgt im ausländischen Quellenstaat keine Besteuerung der Einkünfte, kann es zu einer Nichtbesteuerung kommen, die keine Nachbesteuerung im Inland auslöst.772 Deshalb steht die Freistellungsmethode teilweise unter einem Aktivitätsvorbehalt.773 Darüber hinaus werden in den DBA häufig sog. Switch-over-Klauseln774

766  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 23A Rn. 1: Art. 23A OECD-MA ist in ihrer Rechtsfolgenwirkung mit §§ 3, 34c EStG vergleichbar. 767  Cloer, PIStB 2007, 260; Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 23A Rn. 4; Ismer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 23A, 23B Rn. 6. 768  Ismer, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Art. 23A, 23B Rn. 6; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 267a. 769  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 267a mit einer Übersicht über die Gegenansichten. 770  Art. 23A Nr. 14 lit. b), Nr. 29 OECD-MK. Neben der Befreiung mit Progression gibt es die uneingeschränkte Befreiung, bei der die ausländischen Einkünfte im Ansässigkeitsstaat völlig außer Betracht bleiben: Art. 23A Nr. 14 lit. a) OECD-MK. 771  Cloer, PIStB 2007, 260; Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 23A Rn. 5 f. 772  Cloer, PIStB 2007, 260. 773  Siehe dazu § 6 F. III. 774  Siehe dazu § 6 F. II.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

oder sog. Subject-to-tax-Klauseln775 vereinbart. Entsprechende Regelungen finden sich auch im deutschen Steuerrecht, welches beispielsweise im Rahmen der Hinzurechnungsbesteuerung (§§ 7 ff. AStG)776 von passiven Einkünften einen Aktivitätsvorbehalt vorsieht oder ebenfalls Switch-over-Klauseln (beispielsweise § 20 Abs. 2 AStG) oder Subject-to-tax-Klauseln (beispielsweise § 50d Abs. 9 EStG) enthält. Ausländische Verluste bleiben bei der Freistellungsmethode im Ansässigkeitsstaat unberücksichtigt (sog. Symmetriethese), denn auch sie werden insofern als negative Einkünfte „freigestellt“.777 Dies ergibt sich jedoch nicht aus dem DBA selbst, sondern muss im innerstaatlichen Recht gesondert vorgesehen sein.778 Auf die hieraus resultierenden Probleme im Falle von (finalen) Verlusten wurde bereits unter § 6 C. II. näher eingegangen. b)  Anrechnungsmethode

Die Anrechnungsmethode779 ist zunächst in den Artt. 23A Abs. 2, 23B Abs. 1 OECD-MA geregelt. Danach wird die Steuer im Quellenstaat auf die Steuer im Ansässigkeitsstaat angerechnet, und zwar bis zum Höchstbetrag im Ansässigkeitsstaat.780 Im Gegensatz zur Freistellungsmethode haben beide Vertragsstaaten bei Anwendung der Anrechnungsmethode ein Besteuerungsrecht. Die Anrechnungsmethode vermeidet daher nur die effektive (juristische), nicht aber auch die virtuelle Doppelbesteuerung.781 Liegt der Steuersatz im Ansässigkeitsstaat über dem Steuersatz im Quellenstaat, wird die Steuerbelastung auf das im Verhältnis zwischen den beiden Vertragsstaaten höhere Niveau – in diesem Fall des Ansässigkeitsstaats – heraufgeschleust.782 Mögliche steuerliche Vorteile aufgrund eines niedrigen Steuersatzes im ausländischen Staat fallen dadurch 775 

Siehe dazu § 6 F. IV. Beteiligungen an ausländischen Personengesellschaften oder Betriebstätten nach § 20 Abs. 2 AStG. 777  Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 268b. Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 123; Ismer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 23A, 23B Rn. 6: In manchen Staaten mindern die Verluste hingegen trotz Freistellung der Gewinne die Bemessungsgrundlage, wobei teilweise eine Nachversteuerung vorgesehen wird. Vgl. auch: BFH v. 17.7.2008 – I R 84/­04, BStBl. II 2009, S. 630. 778  Ismer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 23A, 23B Rn. 14 f., 52 ff. 779 Gemeint ist hier die Methode der gewöhnlichen Anrechnung: Art. 23A Nr. 29 OECD-MK. 780  Oellerich, in: Schaumburg/­ Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.172; Ismer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 23A, 23B Rn. 136 f. 781  Ismer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 23A, 23B Rn. 7. 782  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 23A Rn. 4; Ismer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 23A, 23B Rn. 7. 776 Für

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weg. Die Anrechnungsmethode hat somit protektionistische Effekte.783 Sieht hingegen der Quellenstaat einen höheren Steuersatz vor, hat die Anrechnung der ausländischen auf die inländischen Steuern keine direkte Auswirkung. Eine Erstattung der insofern „zu viel“ entrichteten ausländischen Steuer durch den Ansässigkeitsstaat erfolgt nicht. Neben dem Methodenartikel bzw. in den Fällen, in denen kein DBA besteht, greifen im deutschen Steuerrecht unilaterale Normen, namentlich die §§ 34c, 34d, 32d Abs. 5 und 6 EStG, § 26 KStG sowie § 21 ErbStG. Durch die Anrechnungsmethode wird also eine Kapitalexportneutralität erreicht, indem alle Investitionen, egal ob im In- oder Ausland und somit unabhängig von der Herkunft der Einkünfte, durch den Ansässigkeitsstaat gleichbehandelt werden.784 Dadurch, dass beiden Vertragsstaaten bei Anwendung der Anrechnungsmethode ein Besteuerungsrecht zusteht, entspricht sie aus Sicht des Ansässigkeitsstaats dem Welteinkommensprinzip.785 Anders als bei der Freistellungsmethode werden bei der Anrechnungsmethode im Ansässigkeitsstaat entstandene Verluste berücksichtigt, da sie – wie die Einkünfte auch – der Besteuerung nach dem Welteinkommensprinzip unterliegen (§ 10d EStG).786 Ausländische Verluste wirken sich insofern bereits auf die Bemessungsgrundlage der inländischen Steuer aus.787 Bei Verlusten aus Drittstaaten ist jedoch § 2a EStG zu beachten. c)  Problemaufriss

Trotz der Tendenz zur Freistellungsmethode erkennt auch der EuGH die Anrechnungsmethode an.788 Den Vertragsstaaten kann somit aus unionsrechtlicher Sicht grundsätzlich nicht vorgeschrieben werden, welche Methode sie zur Vermeidung der Doppelbesteuerung zu vereinbaren und anzuwenden haben.789 Dies entspricht auch Art. 4 Abs. 1 der Mutter-Tochter-Richtlinie, in dem sowohl die Freistellungsmethode (Art. 4 Abs. 1 lit. a) der Mutter-Tochter-Richtlinie) als

783 

Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 267a. Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 222. 785  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 17.29. 786  Schlenker, in: Blümich, EStG, § 10d Rn. 43. 787  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 268a. 788  Vgl. EuGH v. 12.5.1998, C-336/­96 – Gilly, Slg. 1998, I-2793. 789  EuGH v. 14.11.2006, C-513/­0 4 – Kerckhaert und Morres, Slg. 2006, I-10967 Rn. 22; Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 267a; Oellerich, in: Schaumburg/­ Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.169; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 120; Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 107. 784 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

auch die Anrechnungsmethode (Art. 4 Abs. 1 lit. b) der Mutter-Tochter-Richtlinie) vorgesehen sind.790 Für welche Methode sich der jeweilige Mitgliedstaat entscheidet, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Ausschlaggebende Punkte für die Entscheidung können insbesondere die Besteuerung im Quellenstaat sowie der Bezug zur Einkunftsquelle sein. So wird teilweise vorgeschlagen, die Anrechnungsmethode gegenüber Steueroasen und die Freistellungsmethode gegenüber Entwicklungsländern sowie etwa gleich stark entwickelten Staaten anzuwenden.791 Auf Unternehmensgewinne, vor allem bei Dividendeneinkünften aus ausländischen Tochtergesellschaften wird häufig die Freistellungsmethode angewandt.792 Zudem sei bei enger Verknüpfung zum Quellenstaat (beispielsweise bei unbeweglichem Vermögen) die Freistellungsmethode und bei schwachem Anknüpfungspunkt die Anrechnungsmethode zu bevorzugen.793 Die Freistellungsmethode findet zudem oft bei aktiven Einkünften Anwendung, während bei passiven Einkünften die Anrechnungsmethode gilt.794 Auf Ebene des Steuerpflichtigen kann nicht absolut festgestellt werden, welche Methode für ihn vorteilhafter ist. Feststeht aber jedenfalls, dass der Steuerpflichtige keinen Anspruch auf Anwendung der ein oder anderen Methode hat. Die Freistellungsmethode nimmt die ausländischen Einkünfte bereits aus der Bemessungsgrundlage heraus, sodass die Einkünfte (mit Ausnahme des Progressionsvorbehalts) nicht in das zu versteuernde Einkommen im Sinne des § 2 Abs. 5 S. 1 EStG einfließen.795 Der Verwaltungsaufwand dürfte damit in der Regel geringer sein als bei der Anrechnungsmethode, bei der die Einkünfte aus zwei Staaten berücksichtigt werden müssen.796 Für den Steuerpflichtigen ist die Freistellungsmethode insbesondere bei einem niedrigen Steuersatz im Quellenstaat und einem höheren Steuersatz im Ansässigkeitsstaat vorteilhaft.797 Im Fall von ausländischen Verlusten ist die Freistellungsmethode für ihn jedoch 790 Danach hat zumindest der Ansässigkeitsstaat von Muttergesellschaften, die zu mindestens 25 % an ihrer Tochtergesellschaft beteiligt sind, die Wahl, für welche Methode er sich entscheidet, solange die Anforderungen der Grundfreiheiten berücksichtigen werden. 791  Lichtblau, Anrechnung ausländischer Steuern, S. 28. 792  Ismer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 23A, 23B Rn. 14. 793  Lichtblau, Anrechnung ausländischer Steuern, S. 28 mwN. 794  Lichtblau, Anrechnung ausländischer Steuern, S. 44; Ismer, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Art. 23A, 23B Rn. 14, 14e. 795 Vgl. in diesem Sinne auch Art. 23 Nr. 17 OECD-MK: „Der wesentliche Unterschied zwischen den Methoden besteht darin, daß die Befreiungsmethoden auf das Einkommen, die Anrechnungsmethoden aber auf die Steuer abstellen.“ 796  Ismer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 23A, 23B Rn. 14b. 797 Vgl. Lichtblau, Anrechnung ausländischer Steuern, S. 39.

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ungünstiger, da die Verluste nicht berücksichtigt werden können. Auch können Ausgaben nicht als Betriebsausgaben oder Werbungskosten abgezogen werden (§ 3c Abs. 1 EStG). Hat der Steuerpflichtige ausländische Verluste erlitten, ist in der Regel die Anrechnungsmethode für ihn umso günstiger, je höher die Verluste sind. Darüber hinaus ist § 3c Abs. 1 EStG nicht anwendbar, da die Einkünfte gerade nicht steuerbefreit sind. Nachteilhaft für den Steuerpflichtigen ist die Anrechnungsmethode aufgrund der „Heraufschleusung“ insbesondere bei einem niedrigen Steuersatz im Quellenstaat und einem höheren Steuersatz im Ansässigkeitsstaat. Auch kann der höhere Verwaltungsaufwand ungünstiger sein, da die ausländischen Einkünfte für jeden Staat einzeln ermittelt werden müssen (sog. per-country-limitation gemäß § 34c Abs. 7 EStG i. V. m. § 68a EStDV). 2.  Die Rechtsprechung des EuGH

Soweit ersichtlich, existiert keine Rechtsprechung über die Einwirkungen der Grundfreiheiten auf die Methodenartikel in den jeweiligen DBA. Aus diesem Grunde soll die Rechtsprechung herangezogen werden, die die Einwirkungen der Grundfreiheiten auf inländische Freistellungs- bzw. Anrechnungsnormen beleuchtet. Erst danach kann untersucht werden, ob diese Grundsätze auch auf die DBA-Normen angewendet werden können. a)  Test Claimants in the FII Group Litigation 2006 und 2012

Im Urteil Test Claimants in the FII Group Litigation aus dem Jahre 2006 ging es um im Vereinigten Königreich ansässige Gesellschaften, die zu einem Konzern gehörten.798 An dessen Spitze stand eine Muttergesellschaft, die 100 % an zwischengeschalteten Muttergesellschaften hielt, die wiederum jeweils zu 100 % zahlreiche Tochtergesellschaften unter anderem in anderen Mitgliedstaaten hielten.799 Die zu klärenden Fragen betrafen Dividendenausschüttungen der ausländischen Tochter- an ihre inländischen Muttergesellschaften. Nach dem britischen Recht zahlten die im Vereinigten Königreich ansässigen Tochtergesellschaften auf ihre erzielten Gewinne Körperschaftsteuer. Schüttete die Tochtergesellschaft Dividenden an ihre Muttergesellschaft aus, wurden diese Dividendeneinkünfte bei der Muttergesellschaft von der Körperschaftsteuer befreit. War die Tochtergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat an798 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753. Im konkreten Fall ging es um Section 208, 231 Abs. 1 ICTA (Income and Corporation Taxes Act 1988) des Vereinigten Königreichs. 799 Schlussanträge des Generalanwalts Leendert Adrie Geelhoed v. 6.4.2006, C-446/­04 Rn. 26.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

sässig und schüttete sie Dividenden an ihre inländische Muttergesellschaft aus, waren diese Dividenden bei der Muttergesellschaft hingegen körperschaftsteuerpflichtig. Der Muttergesellschaft wurde jedoch eine Entlastung in Form der Anrechnung gewährt: Hielt die Muttergesellschaft (unmittelbar oder mittelbar) mindestens 10 % der Anteile an der ausländischen Tochtergesellschaft, konnte sie die von der Tochtergesellschaft in deren Sitzstaat gezahlte Körperschaft­ steuer, die auf die Gewinne entrichtet wurde, aus denen die Dividenden gezahlt wurden, auf ihre inländische Steuer bis zu deren Höhe anrechnen.800 Hielt die Muttergesellschaft weniger als 10 % der Anteile an der ausländischen Tochtergesellschaft, konnte hingegen die ggf. auf die Dividenden im Sitzstaat der Tochtergesellschaft erhobene Quellensteuer auf die inländische Körperschaftsteuer angerechnet werden. Die DBA enthielten ähnliche Regelungen.801 Bei inländischen Dividenden fand somit eine Befreiung und bei ausländischen Dividenden eine Anrechnung statt. Diese Ungleichbehandlung verstößt nach Ansicht des EuGH jedoch nicht gegen die Niederlassungsfreiheit.802 Grundsätzlich habe weder die Anrechnungs- noch die Freistellungsmethode Vorrang vor der jeweils anderen, beide Methoden seien gleichermaßen anerkannt. Voraussetzung sei jedoch, dass die ausländischen Dividenden nicht höher besteuert würden als inländische Dividenden und die ausländische Quellensteuer auf die inländische Steuer bis zu ihrer Höhe angerechnet werde, gegebenenfalls mittels einer Steuergutschrift.803 Dies gelte entsprechend für die Kapitalverkehrsfreiheit, aber nur insoweit es um inländische Muttergesellschaften geht, die Dividenden von Gesellschaften erhalten, an denen sie zu mehr als 10 % beteiligt sind.804 800 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 17. 801 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 18. 802 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 46 ff. Der Generalanwalt ist hingegen der Ansicht, dass ein Anrechnungssystem in bestimmten Fällen ungünstigere Wirkungen haben könne als das reine Befreiungssystem, das auf Dividenden aus inländischen Quellen Anwendung finde, sodass zumindest die Vorschriften für die Besteuerung von ausländischen Dividenden, die keine Portfoliodividenden sind, gegen die Niederlassungsfreiheit verstießen: Schlussanträge des Generalanwalts Leendert Adrie Geelhoed v. 6.4.2006, C-446/­04 Rn. 50 ff. Vgl. auch: EuGH v. 15.7.2004, C-315/­02 – Lenz, Slg. 2004, I-7063 Rn. 20 ff.; v. 7.9.2004, C-319/­02  – Manninen, Slg. 2004, I-7477 Rn. 20 ff. 803 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 49 ff. An diesem Ergebnis ändere auch der mit der Anrechnungsmethode verbundene zusätzliche Verwaltungsaufwand nichts. Ob die Steuersätze wirklich gleich sind, sei Sache des nationalen Gerichts (Rn. 56). 804 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 60.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Die streitige Vorschrift verstößt nach Ansicht des EuGH jedoch insofern gegen die Kapitalverkehrsfreiheit, als sie auch inländische Muttergesellschaften betrifft, die Dividenden von Gesellschaften erhalten, an denen sie zu weniger als 10 % beteiligt sind.805 Die Anrechnung der ausländischen Quellen­ steuer führt zwar zur Vermeidung einer juristischen Doppelbesteuerung bei der Empfängergesellschaft, jedoch nicht zur Vermeidung einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung, da sie nicht verhindert, dass die ausgeschütteten Gewinne zunächst bei der ausschüttenden Tochtergesellschaft der Körperschaftsteuer unterliegen und anschließend ebenfalls bei der Muttergesellschaft.806 Eine grenzüberschreitende Beteiligung von weniger als 10 % ist damit weniger attraktiv als rein innerstaatliche Konstellationen oder solche mit einer Mindestbeteiligung von 10 %.807 Dieser Verstoß ist nach Ansicht des EuGH nicht durch eventuelle Schwierigkeiten bei der Ermittlung der tatsächlich in einem anderen Mitgliedstaat entrichteten Steuer gerechtfertigt.808 Im Urteil Test Claimants in the FII Group Litigation aus dem Jahre 2012 hat der EuGH seine Rechtsprechung klargestellt.809 Liegt im Ansässigkeitsstaat das effektive Besteuerungsniveau für die Gewinne von Tochtergesellschaften generell unter dem nominalen Steuersatz,810 stellt dies nach Ansicht des EuGH einen nicht gerechtfertigten Verstoß gegen die Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit dar.811 b)  Metallgesellschaft/­Hoechst, Manninen, Meilicke I und II

Im Sachverhalt des Urteils Metallgesellschaft/­Hoechst aus dem Jahr 2001 schüttete eine britische Tochtergesellschaft ihre Dividenden an deutsche Mut-

805 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 61. Linn (IStR 2012, 924 [933]) kritisiert, dass im Ergebnis kaum noch ersichtlich sei, wie ein Steuersystem ausgestaltet sein müsse, in dem Anrechnungsund Freistellungsmethode zu gleichwertigen Ergebnissen führen könnten. 806 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 63. 807 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 64. 808 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 70. 809  EuGH v. 13.11.2012, C-35/­ 11 – Test Claimants in the FII Group Litigation, IStR 2012, 924. Vgl. hierzu: Brill, GWR 2012, 572 (572). 810  So die dem EuGH vorgelegte Frage: EuGH v. 13.11.2012, C-35/­11 – Test Claimants in the FII Group Litigation, IStR 2012, 924 Rn. 36. 811  EuGH v. 13.11.2012, C-35/­ 11 – Test Claimants in the FII Group Litigation, IStR 2012, 924 Rn. 65.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

tergesellschaften aus.812 Schütteten im Vereinigten Königreich ansässige Tochtergesellschaften Dividenden an Muttergesellschaften aus, mussten sie hierfür eine Körperschaftsteuervorauszahlung entrichten (advance corporation tax (ACT)), welche einbehalten wurde813. Nur in reinen Inlandsfällen konnten die Tochtergesellschaften diese ACT jedoch auf die von ihnen abschließend geschuldete (eigene) Körperschaftsteuer anrechnen.814 Nach dem DBA erhielt die deutsche Muttergesellschaft keine entsprechende Steuergutschrift, wurde dafür aber von der Quellenbesteuerung im Vereinten Königreich befreit. War eine im Vereinigten Königreich ansässige Muttergesellschaft zu mindestens 51 % an ihrer ebenfalls im Vereinten Königreich ansässigen Tochtergesellschaft beteiligt, konnte eine von beiden für eine Besteuerung des Gruppeneinkommens optieren.815 Dies hatte zur Folge, dass die Tochtergesellschaft keine ACT entrichten musste, die Muttergesellschaft aber auch keine Steuergutschrift erhielt. Da diese Option nur für innerstaatliche Dividendenausschüttungen vorgesehen war, hatte die Tochtergesellschaft einer inländischen Muttergesellschaft einen Liquiditätsvorteil gegenüber einer Tochtergesellschaft einer ausländischen Muttergesellschaft. Diese Ungleichbehandlung stellt nach Ansicht des EuGH einen nicht gerechtfertigten Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit dar.816 Ähnliche nationale Regelungen finden sich in den Urteilen Manninen817, Meilicke I 818 sowie Meilicke II 819, in denen der EuGH ebenfalls einen nicht gerechtfertigten Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit annahm.820

812 EuGH v. 8.3.2001, C-397/­ 98 und C-410/­ 98 – Metallgesellschaft und Hoechst, Slg. 2001, I-1727. 813  So auch dann: EuGH v. 12.12.2006, C-446/­0 4 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 8; Schlussanträge des Generalanwalts Leendert Adrie Geelhoed v. 6.4.2006, C-446/­04 Rn. 2. Die ACT richtete sich nach der Höhe oder dem Wert der Ausschüttung. Diese Art der Körperschaftsteuervorauszahlung wurde mit Wirkung zum 6.4.1999 abgeschafft. 814 EuGH v. 8.3.2001, C-397/­ 98 und C-410/­ 98 – Metallgesellschaft und Hoechst, Slg. 2001, I-1727 Rn. 26, 28. 815 EuGH v. 8.3.2001, C-397/­ 98 und C-410/­ 98 – Metallgesellschaft und Hoechst, Slg. 2001, I-1727 Rn. 22 ff. 816 EuGH v. 8.3.2001, C-397/­ 98 und C-410/­ 98 – Metallgesellschaft und Hoechst, Slg. 2001, I-1727 Rn. 43 f., 76. 817  EuGH v. 7.9.2004, C-319/­02 – Manninen, Slg. 2004, I-7477 Rn. 24, 55. Vgl. hierzu auch: Schnitger, IStR 2004, 313. 818  EuGH v. 6.3.2007, C-292/­0 4 – Meilicke I, Slg. 2007, I-1835 Rn. 31. 819  EuGH v. 30.6.2011, C-262/­09 – Meilicke II, EuZW 2011, 642 Rn. 34. 820  Vgl. hierzu: Ribbrock, BB 2014, 2592 (2600).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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c)  Columbus Container Services

In dem vom EuGH zu entscheidenden Fall Columbus Container Services ging es um eine deutsche Personengesellschaft, die an einer belgischen KG beteiligt war.821 Die belgische KG erzielte unter anderem Einkünfte aus Gewerbebetrieb, die in Belgien besteuert wurden, und zwar mit einem Steuersatz von weniger als 30 %, was nach damaliger Rechtslage in Deutschland als niedrigbesteuert galt. Da das deutsche Steuerrecht die KG als Betriebstätte qualifizierte, wurden die Einkünfte aus Gewerbebetrieb den Gesellschaftern unter Anrechnung der in Belgien erhobenen Steuer zugerechnet.822 Nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 des DBA stand Belgien das Besteuerungsrecht zu, Art. 23 Abs. 1 Nr. 1 des DBA stellte die Gesellschafter von der deutschen Steuer frei. § 20 Abs. 2 und 3 AStG a. F. schrieben jedoch entgegen des Art. 23 Abs. 1 Nr. 1 des DBA die Anrechnungsmethode vor, wenn die Betriebstätteneinkünfte als Zwischeneinkünfte i. S. d. § 10 Abs. 6 S. 2 AStG a. F. steuerpflichtig gewesen wären und falls diese Betriebstätte eine ausländische Gesellschaft gewesen wäre (Hinzurechnungsbesteuerung).823 Die Anrechnungsmethode war somit für Fälle vorgesehen, in denen die Gesellschafter sog. passive Einkünfte erzielten, die im Quellenstaat niedrig besteuert wurden (§ 8 Abs. 1, 3 AStG).824 Dies war im vorliegenden Sachverhalt der Fall, sodass statt der Freistellungs- die Anrechnungsmethode angewandt wurde, was im vorliegenden Sachverhalt zu einer um 53 % höheren Steuerlast der Gesellschafter führte. Nach Ansicht des EuGH verstößt dies jedoch weder gegen die Niederlassungs- noch gegen die Kapitalverkehrsfreiheit.825 Denn die betreffenden Regelungen unterscheiden nicht zwischen der Besteuerung der Einkünfte aus Gewinnen von inländischen Personengesellschaften einerseits und von ausländischen Personengesellschaften andererseits.826 Es fehle bereits an einer Ungleichbehandlung. Durch die Anwendung der Anrechnungsmethode auf die ausländi821  EuGH v. 6.12.2007, C-298/­05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451. Im konkreten Fall ging es um § 20 Abs. 2, 3 AStG. 822  EuGH v. 6.12.2007, C-298/­05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451 Rn.  18 f. 823  EuGH v. 6.12.2007, C-298/­05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451 Rn. 9. 824  Schlussanträge des Generalanwalts Paolo Mengozzi v. 29.3.2007, C-298/­05 Rn. 59. 825  EuGH v. 6.12.2007, C-298/­05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451 Rn. 57; zustimmend: Dörfler/­Ribbrock, BB 2008, 201 (206); ablehnend: Schlussanträge des Generalanwalts Paolo Mengozzi v. 29.3.2007, C-298/­05 Rn. 150 ff. 826  EuGH v. 6.12.2007, C-298/­05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451 Rn. 39; ablehnend: Schlussanträge des Generalanwalts Paolo Mengozzi v. 29.3.2007, C-298/­05 Rn. 129; zusammenfassend: Wassermeyer, IStR 2007, 299; Rainer, IStR 2007, 299 (300).

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

schen Gesellschaften unterwerfe die Regelung deren Gewinne lediglich demselben Steuersatz wie die Gewinne von inländischen Personengesellschaften.827 d)  Haribo Lakritzen und Öster­reichische Salinen

In den verbundenen Rechtssachen Haribo Lakritzen und Öster­reichische Salinen828 waren eine österreichische GmbH und AG an einem Investmentfonds beteiligt, der Einnahmen aus Dividenden von Kapitalgesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten sowie in Drittstaaten bezog.829 Die AG wies zudem einen Verlust aus Einkünften aus Gewerbebetrieb aus. Zur Vermeidung einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung von inländischen Dividenden sah das österreichische Steuerrecht vor, dass diese Dividenden auf der Ebene der empfangenden Gesellschaft von der Körperschaftsteuer befreit waren. Bei ausländischen Dividenden hing es dagegen vom Beteiligungsumfang, von der steuerlichen Vorbelastung sowie deren Herkunft ab, ob eine Befreiung gewährt wurde, die ausländische Körperschaftsteuer lediglich angerechnet wurde („Wechsel“ von der Freistellungs- zur Anrechnungsmethode) oder nichts dergleichen.830 Bei Portfolio-Dividenden bzw. Beteiligungen unter 10 % aus anderen Mitgliedstaaten wurde die Freistellung nur gewährt, wenn die Muttergesellschaft bestimmte Angaben zur ausländischen Körperschaftsteuervorbelastung machte.831 Bei Portfolio-Dividenden aus EWR-Drittstaaten wurde zudem eine umfassende Amts- und Vollstreckungshilfe vorausgesetzt, bei Portfolio-Dividenden aus Drittstaaten wurde die Doppelbesteuerung gar nicht verhindert.832 Ein Wechsel von der Freistellungs- zur Anrechnungsmethode verstoße nach Ansicht des EuGH zwar gegen die Kapitalverkehrsfreiheit, dieser Verstoß sei jedoch gerechtfertigt. Denn die Kapitalverkehrsfreiheit verpflichte die Mitglied827  EuGH v. 6.12.2007, C-298/­05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451 Rn. 39. 828  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305. Im konkreten Fall ging es um § 10 des österreichischen KStG. 829  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 9. 830  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 3; Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 11.11.2010, verb. C- 436/­08 und C-437/­08 Rn. 1. 831  Angaben zur vergleichbaren Besteuerung, zur Höhe des ausländischen Steuersatzes und zum Nichtvorliegen persönlicher oder sachlicher Befreiungen der ausländischen Körperschaft. 832  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 11.11.2010, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 Rn. 2.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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staaten nur dazu, für Dividenden aus inländischen als auch ausländischen Quellen eine gleichwertige Behandlung vorzusehen. Sie verbiete den Mitgliedstaaten nicht, auf Dividenden aus inländischen Quellen die Freistellungsmethode und auf Dividenden aus ausländischen Quellen die Anrechnungsmethode anzuwenden, wenn der Steuersatz für die ausländischen Dividenden nicht höher ist als der für inländische Dividenden und die Steuergutschrift zumindest so hoch ist wie der im ausländischen Staat gezahlte Betrag.833 Dies gelte auch, wenn die Freistellungsmethode stets ab einer Beteiligung in Höhe von 10 % vorliege, da es grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten sei, Schwellenwerte nach Maßgabe der Beteiligung festzulegen, die die Steuerpflichtigen an den betreffenden ausschüttenden Gesellschaften halten müssen.834 Etwas anderes gelte dann, wenn Dividenden aus ausländischen Quellen im Rahmen der Anrechnungsmethode in die Steuerbemessungsgrundlage der Empfängergesellschaft einbezogen werden und somit einen Verlust sowie den Verlustvortrag verringern.835 Die Dividenden würden auf diese Weise unterschiedlich behandelt. Auch soweit die Freistellungsmethode für Dividenden aus EWR-Drittstaaten von dem Bestehen eines Abkommens über umfassende Amts- und Vollstreckungshilfe zwischen den beteiligten Staaten abhängig gemacht wird, liegt nach Ansicht des EuGH ein Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit vor,836 der jedoch durch die Wirksamkeit der steuerlichen Kontrollen sowie die Bekämpfung der Steuerhinterziehung gerechtfertigt sei. Die Vorschrift ist aber insofern unverhältnismäßig, als zusätzlich das Bestehen eines Vollstreckungshilfeabkommens gefordert wird.837

833  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 86; v. 12.12.2006, C-446/­04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 48, 57; v. 15.9.2011, C-310/­09 – Accor, Slg. 2011, I8115 Rn. 88; v. 23.4.2008, C-201/­05 – Test Claimants in the CFC and Dividend Group Litigation, Slg. 2008, I-2875 Rn. 39. 834  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 142; v. 12.12.2006, C-446/­04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 67. 835  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 174. Der EuGH fordert, dass die gesetzliche Anrechnungsregelung einen Vortrag der von der ausschüttenden Gesellschaft entrichteten Steuer vorsehen müsste. Geurts (IStR 2011, 299 [300]) kritisiert in diesem Zusammenhang, dass der EuGH offenlasse, wie ein solcher Verlustvortrag ausgestaltet sein soll. 836  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 52 f. 837  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 73; Ebenso: Fox/­Prokopf, GWR 2011, 99 (99).

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

e)  Kronos

Im Urteil Kronos des EuGH ging es um eine US-amerikanische Holdinggesellschaft, deren satzungsmäßiger Sitz sich in den Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Geschäftsleitung in Deutschland befand.838 Die Holdinggesellschaft wies Verlustvorträge auf. Sie hielt sowohl ausländische Beteiligungen in EU- und Drittstaaten als auch Anteile an einer deutschen GmbH, jeweils zu mehr als 90 %. Die Tochtergesellschaften schütteten Dividenden an die Muttergesellschaft aus. Die deutschen Vorschriften sahen für Dividenden in reinen Inlandsfällen das sog. Vollanrechnungsverfahren839 vor, bei dem die von der Tochtergesellschaft gezahlte Körperschaftsteuer auf die Körperschaftsteuer der Muttergesellschaft angerechnet wurde.840 Auf Dividenden, die von einer ausländischen Gesellschaft an die Muttergesellschaft ausgeschüttet wurden, wurde die Freistellungsmethode angewendet, wenn die Beteiligung mindestens 10 % betrug.841 Ein Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit liegt nach Ansicht des EuGH nicht vor. Es stehe den Mitgliedstaaten aufgrund der Gleichwertigkeit der Methoden frei, auf Dividenden aus inländischen Quellen die Anrechnungsmethode und auf Dividenden aus ausländischen Quellen die Freistellungsmethode anzuwenden. Diese müssen allerdings eine gleichwertige Behandlung der Dividenden vorsehen.842 Dies sei hier der Fall843: Hinsichtlich der zu zahlenden Steuer in Deutschland bestehe kein Unterschied zur Anrechnungsmethode, da in beiden Fällen dasselbe Ergebnis entstehe. Aufgrund der Befreiungsmethode könne die Muttergesellschaft den Vorteil einer ggf. niedrigeren Besteuerung im ausländischen Staat nutzen844, zudem sei die Muttergesellschaft von dem gesamten mit der Anrechnungsmethode verbundenen Verwaltungsaufwand befreit,845 sodass letztlich keine wirtschaftliche Doppelbesteuerung bewirkt werde.846 838  EuGH v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61. Im konkreten Fall ging es um §§ 49 Abs. 1, 36 Abs. 2 Nr. 3 EStG, §§ 26 Abs. 7, 8b Abs. 5 KStG in der von 1994 bis 2000 geltenden Fassung. 839  Dieses Verfahren wurde seit 2001 durch das Halb- und nunmehr durch das Teileinkünfteverfahren ersetzt. 840  EuGH v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 4. 841  EuGH v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 7. 842 EuGH v. 11.9.2014, C-47/­ 12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 65 ff.; vgl. EuGH v. 12.12.2006, C-446/­04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 72; v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­ 08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 156; v. 13.11.2012, C-35/­11 – Test Claimants in the FII Group Litigation, IStR 2012, 924 Rn. 38. 843  EuGH v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 78. 844  EuGH v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 74. 845  EuGH v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 75. 846  EuGH v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 76 f.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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3.  Zusammenfassung und Stellungnahme

Nach der EuGH-Rechtsprechung steht zunächst fest, dass die Mitgliedstaaten zulässigerweise bei Inlandssachverhalten die Freistellungsmethode und bei grenzüberschreitenden Fällen die Anrechnungsmethode wählen dürfen, sodass beide Methoden grundsätzlich mit den Grundfreiheiten vereinbar sind. Entscheidend ist, dass der Mitgliedstaat überhaupt eine Methode zur Vermeidung der Doppelbesteuerung bereitstellt, da dies andernfalls gegen die Grundfreiheiten verstoßen würde.847 Darüber hinaus genießt keine der beiden Methoden Vorrang vor der jeweils anderen,848 sofern sie eine gleichwertige Behandlung der Dividenden vorsehen.849 Dies ist der Fall, soweit die jeweilige Methode zu einer steuerlichen Gleichstellung des grenzüberschreitenden Sachverhalts mit dem zu vergleichenden Inlandsfall führt.850 Der EuGH vergleicht somit die wirtschaftlichen Folgen.851 Damit ist bei Vorliegen bestimmter Tatbestandsvoraussetzungen auch ein Wechsel von der einen zur anderen Methode möglich,852 und zwar auch dann, wenn der Wechsel von einem Schwellenwert der Beteiligung abhängt.853 Dabei ist es unerheblich, ob bei der Anrechnungsmethode ein erhöhter Verwaltungsaufwand entsteht,854 da ein solcher der Funktionsweise der Anrechnungsmethode inhärent ist.855 Entscheidend sei nur, dass dieser Aufwand nicht gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstoße.856 847 Vgl.

Ribbrock, BB 2014, 2592 (2600). v. 10.2.2011, verb. C-436/­08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305; ebenso: Ismer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 23A, 23B Rn. 7. 849  EuGH v. 11.9.2014, C-47/­12 – Kronos, EuZW 2015, 61 Rn. 65 ff. 850  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 86 ff.; v. 13.11.2012, C-35/­11 – Test Claimants in the FII Group Litigation, IStR 2012, 924 Rn. 39, 50; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 267a f. 851  Brill, GWR 2012, 572. 852  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 4. Leitsatz. 853  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 142; v. 12.12.2006, C-446/­04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 67. 854  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 91; v. 12.12.2006, C-446/­04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 53. Vgl. auch: Geurts, IStR 2011, 299 (301). 855  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 97. 856  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 92. 848  EuGH

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Die Gleichwertigkeit setzt voraus, dass beide Methoden zu gleichwertigen Ergebnissen und somit zu einer Gleichbehandlung führen. Für Dividendenausschüttungen beispielsweise ist hier maßgebend, dass „der Steuersatz für Dividenden aus ausländischen Quellen nicht höher ist als der Satz für Dividenden aus inländischen Quellen und dass die Steuergutschrift zumindest ebenso hoch ist wie der im Staat der ausschüttenden Gesellschaft gezahlte Betrag, bis zur Höhe der im Mitgliedstaat der Empfängergesellschaft festgesetzten Steuer“.857 Dies sei nicht der Fall, wenn das Steuerniveau der Muttergesellschaft sowohl über dem der inländischen Tochtergesellschaft als auch über dem der ausländischen Tochtergesellschaft liege.858 Zudem reiche nur die direkte Anrechnung (einer Quellensteuer) nicht aus, es müsse vielmehr auch eine indirekte Anrechnung (der zugrunde liegenden ausländischen Körperschaftsteuer) gewährt werden.859 Entsprechendes gilt, wenn ausländische Dividenden im Rahmen der Anrechnungsmethode in die Steuerbemessungsgrundlage der Muttergesellschaft einbezogen werden und somit einen Verlust sowie den Verlustvortrag verringern.860 Es fehle zudem an der Gleichwertigkeit, wenn zwar keine zusätzliche Besteuerung, aber durch eine Vorauszahlung ein Liquiditätsnachteil entstehe, der bei einer rein inländischen Gruppenbesteuerungsoption nicht entstünde.861 Festzuhalten ist, dass zahlreiche Konstellationen bestehen, in denen die Methoden nicht zu einem gleichwertigen Ergebnis führen. Der EuGH hat in seinen bisherigen Entscheidungen jedoch allein Normen zur Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung untersucht. Fraglich ist daher, ob sich die Grundsätze aus der EuGH-Rechtsprechung auf die Methodenartikel in den DBA übertragen lassen, die auf die Vermeidung der juristischen Doppelbesteuerung gerichtet sind. Soweit es keinen Anspruch des Steuerpflichtigen auf Vermeidung der Doppelbesteuerung gibt, sind die Staaten darin souverän, wie sie die juristische Doppelbesteuerung vermeiden, und damit, welche Methode sie zur Vermeidung 857 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 48, 57; vgl. auch: EuGH v. 13.11.2012, C-35/­11 – Test Claim­ ants in the FII Group Litigation, IStR 2012, 924 Rn. 39; v. 10.2.2011, verb. C-436/­08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 86; v. 15.9.2011, C-310/­09 – Accor, Slg. 2011, I8115 Rn. 88; v. 23.4.2008, C-201/­05 – Test Claimants in the CFC and Dividend Group Litigation, Slg. 2008, I-2875 Rn. 39. 858 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 49 ff. 859 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 61 ff.; Linn, IStR 2012, 924 (933). 860  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 173. 861 EuGH v. 8.3.2001, C-397/­ 98 und C-410/­ 98 – Metallgesellschaft und Hoechst, Slg. 2001, I-1727.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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dieser Doppelbesteuerung in den zwischen ihnen zu schließenden DBA vereinbaren wollen.862 Dabei haben sie nicht nur das Recht, ganz generell eine Methode zu wählen, sondern ebenfalls für einzelne Einkunftsarten (z. B. Art. 10 Abs. 2 OECD-MA) und sogar für einzelne Sachverhaltsunterschiede Ausnahmen zu treffen, insbesondere im Rahmen von sog. Switch-over-Klauseln (Art. 24 Abs. 3 DBA Polen).863 Dies gilt auch dann, wenn ein Staat für bestimmte Fälle von einer im DBA vereinbarten Methode durch eine nationale Norm im Wege des Treaty Override abweicht. Denn auch hier wird nur im Rahmen der Souveränität der Staaten eine Vermeidungsmethode auf eine andere Art und Weise zur Geltung gebracht. Es spielt also keine Rolle, wo die jeweilige Methode vereinbart wird. Der das Treaty Override schaffende Staat muss sich hier nur gegenüber seinem jeweiligen Vertragspartner rechtfertigen, nicht aber gegenüber dem Steuerpflichtigen, wenn es ihm ohnehin freistand, durch DBA-Regelungen für besondere Fälle zur anderen Methode zu wechseln. Bei den Methoden zur Vermeidung einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung sind die Staaten hingegen nicht frei. Zwar steht es ihnen – ungeachtet der Regelungen in der Mutter-Tochter-Richtlinie – frei, eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung überhaupt zu vermeiden. Entscheidet sich ein Staat jedoch dafür, muss er bei einem Wechsel zur anderen Methode vergleichbare Ergebnisse schaffen,864 sodass der EuGH den Mitgliedstaaten im Ergebnis vorschreibt, wie sie ihre nationalen Vorschriften auszugestalten haben, damit sie den Anforderungen der Grundfreiheiten entsprechen. Darüber hinaus ist ein Vergleich beider Methoden in einem DBA bereits aus praktischen Gründen nicht möglich. Die Freistellungsmethode verhindert zwar eine Doppelbesteuerung vollständig, bei ihr können wegen der Symmetriethese aber keine Verluste abgezogen werden. Während bei der Anrechnungsmethode zwar ein Rest an Steuerlast übrigbleiben kann, ist hier eine Verlustberücksichtigung möglich. Je nach Lage des Einzelfalles kann sowohl die Freistellungs- als auch die Anrechnungsmethode für den betreffenden Steuerpflichtigen günstiger sein. Ließe man hier eine Prüfung über die Ungleichbehandlung der Steuerpflichtigen zu, käme man zu dem Ergebnis, dass jede der Methoden gegenüber der anderen ungünstiger sein kann. Zudem kann es bereits deshalb zu keiner Ungleichbehandlung kommen, da es bei dem Vergleich zweier ausländischer Steuersysteme zu keiner Diskriminierung im Inland kommt. Die Rechtsprechung des EuGH behandelt nicht die 862  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305. 863  Dazu siehe unten § 6 F. IV. 864 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 72.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Fälle, in denen zwei grenzüberschreitende Sachverhalte ungleich behandelt werden. Verlegt beispielsweise eine deutsche Muttergesellschaft ihre in Staat A (Freistellungsmethode) ansässige Tochtergesellschaft nach Staat B (Anrechnungsmethode), kann es für die Muttergesellschaft einen Unterschied machen, in welchen Staat sie den Sitz ihrer Tochter verlegt. Vor dieser Entscheidung stehen jedoch alle Steuerpflichtigen gleichermaßen, egal ob sie im In- oder Ausland ansässig sind. Dies zeigt das Urteil des EuGH im Falle Columbus Con­ tainer Services ganz deutlich: Hier ging es um ein Treaty Override, das die im DBA vorgesehene Freistellungsmethode durch die Anrechnungsmethode ersetzte. Zwar lag ein Fall der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung vor, doch dieser war nur dadurch bedingt, dass hybride Personengesellschaften beteiligt waren, sodass es aus rechtlicher Perspektive um eine DBA-Norm ging. Hier hatte der EuGH klar entschieden, dass keine Ungleichbehandlung vorliegt. Denn die Gesellschafter der inländischen Personenobergesellschaft hätten denselben Steuersatz zu zahlen, wenn diese an einer inländischen Personenuntergesellschaft beteiligt gewesen wäre. In den übrigen Fällen kann eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung jedoch sowohl in reinen Inlandsfällen als auch in Auslandsfällen vermieden werden, sodass hier eine Vergleichbarkeitsprüfung durchgeführt werden kann. Da Deutschland seinen Besteuerungsanspruch in Form des Quellensteuereinbehalts auf gebietsfremde Anteilseigner ausweitet, nimmt es insoweit eine Vergleichbarkeit gebietsfremder und gebietsansässiger Anteilseigner an und muss sich bei der Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung an dem unionsrechtlichen Gebot der Gleichbehandlung (das heißt der gleichmäßigen Anwendung des § 8b Abs. 1 KStG) messen lassen.865 Auch aus systematischen Gründen ist eine Übertragbarkeit zu verneinen. Die juristische Doppelbesteuerung ist das Ergebnis der Konkurrenz zweier Steuersysteme, die im Rahmen der Souveränität der Staaten gerade mit der Überlappung von Besteuerungsbefugnissen gerechtfertigt ist.866 Die wirtschaftliche Doppelbesteuerung hingegen ist eine Frage des nationalen Rechts und Folge der bewussten Entscheidung der Mitgliedstaaten, ausländische Sachverhalte anders zu behandeln als inländische.867 Diese Trennung von wirtschaftlicher und juristischer Doppelbesteuerung hat der EuGH mehrfach klargestellt: Die Kapitalverkehrsfreiheit verbietet nicht, die Anrechnung der in einem anderen Mitgliedstaat auf die Dividenden erhobenen Quellensteuer vorzusehen, um zu 865 

Schnitger, IStR 2018, 169 (170). in: EuGH v. 6.12.2007, C-298/­ 05 – Columbus Container Ser­ vices, Slg. 2007, I-10451 Rn. 43; Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 12.4.2016, C-176/­15 Rn. 32, 44; Lichtblau, Anrechung ausländischer Steuern, S. 50. 867  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 12.4.2016, C-176/­15 Rn. 33. 866 Angesprochen

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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verhindern, dass eine rechtliche Doppelbesteuerung eintritt, die daraus resultiert, dass die betreffenden Staaten ihre jeweilige Besteuerungsbefugnis parallel ausüben.868 Umgekehrt reicht es zur Gleichstellung von Freistellungs- und Anrechnungsmethode nicht aus, wenn nur die Anrechnung der ausländischen Quellensteuer erfolgt. Denn dies führt zur Vermeidung einer rechtlichen Doppelbesteuerung der ausgeschütteten Gewinne, nicht aber der juristischen Doppelbesteuerung.869 Hier trennt der EuGH scharf zwischen den von den Staaten gleich zu behandelnden Fällen der wirtschaftlichen und der juristischen Doppelbesteuerung, die eine solche Gleichbehandlung nicht erfordern. Als Ergebnis lässt sich daher festhalten, dass sich die Rechtsprechung des EuGH zur Einwirkung der Grundfreiheiten auf nationale Normen zur Verhinderung der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung nicht auf Fälle der juristischen Doppelbesteuerung, insbesondere auf den Methodenartikel in den DBA, übertragen lässt.870 Hiervon ist jedoch in solchen Fällen eine Ausnahme zu machen, in denen die Wahl der Methode aus anderen Gründen als die der reinen Besteuerung zu Nachteilen führen kann. Dies ist insbesondere bei der rechtlichen Wirkung der Methoden der Fall, nämlich dann, wenn die Freistellungsmethode das Besteuerungsrecht ausschließt und aufgrund dieses Ausschlusses dem Steuerpflichtigen andere Vorteile versagt bleiben, die er im reinen Inlandssachverhalt gehabt hätte. So ist es beispielsweise bei der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung. II.  Grenzüberschreitende Verlustverrechnung 1.  Überblick

Ein weiterer Bereich, in dem die Grundfreiheiten auf die Methoden zur Beseitigung der Doppelbesteuerung einwirken, ist die grenzüberschreitende Verlustverrechnung. Wird diese beschränkt, ist häufig eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung die Folge, sodass die Europäische Kommission eine Beschränkung der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung zu Recht als ein „grundlegendes Hindernis für das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts im Steuerbereich“ bezeichnet.871 868  EuGH v. 10.2.2011, verb. C-436/­ 08 und C-437/­08 – Haribo Lakritzen und Öster­ reichische Salinen, Slg. 2011, I-305 Rn. 173. 869 EuGH v. 12.12.2006, C-446/­ 04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 64. 870  Vgl. auch: Lichtblau, Anrechung ausländischer Steuern, S. 49 f. 871  Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss v. 24.11.2003, KOM(2003)726 endg. Rn. 3.3.; Schlussanträge des Generalanwalts Luís Miguel Poiares Maduro v. 7.4.2005, C-446/­03 Rn. 3.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Bevor die unionsrechtlichen Vorgaben des EuGH dargestellt und untersucht werden, soll zunächst ein kurzer Überblick über die Möglichkeiten der Verrechnung von Verlusten in rein nationalen sowie in grenzüberschreitenden Sachverhalten gegeben werden. Hierbei ist grundlegend danach zu unterscheiden, ob es sich um eine unternehmensinterne (zwischen Betriebstätte und Stammhaus) oder um eine konzerninterne (zwischen Tochtergesellschaft und Muttergesellschaft) Verlustverrechnung handelt. a)  Innerstaatliche Sachverhalte

Die (positiven und negativen) Einkünfte einer Betriebstätte werden in innerstaatlichen Sachverhalten aus steuerrechtlicher Sicht direkt dem Stammhaus zugerechnet, da die Betriebstätte kein eigenständiges Rechts- und Steuersubjekt ist.872 Das Stammhaus kann daher die Betriebstättenverluste mit seinen Gewinnen verrechnen. Rein innerstaatliche Sachverhalte mit Tochtergesellschaften unterscheiden sich hiervon, da diese gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG als eigenständige Steuersubjekte unbeschränkt steuerpflichtig sind, sodass deren Gewinne und Verluste bei ihnen selbst und nicht bei der Muttergesellschaft berücksichtigt werden (sog. Trennungsprinzip). Sollen die Verluste der Tochter- auf die Muttergesellschaft übertragen werden (oder umgekehrt), kann dies nur aufgrund besonderer Regelungen erfolgen. In Betracht kommen hier beispielsweise eine Form der Gruppenbesteuerung (so beispielsweise in Österreich873 nach § 9 öKStG oder in den Niederlanden nach den Grundsätzen der fiscale eenheid), eine steuerrechtlich anerkannte Organschaft mit Ergebnisabführungsvertrag, wie es in Deutschland nach §§ 14, 17 KStG der Fall ist, oder auch das Cash-Pooling, wenn es steuerlich anerkannt ist. Die Ausgestaltung der inländischen Verlustverrechnung, die in den meisten Mitgliedstaaten möglich ist, lässt sich dabei in drei Gruppen einordnen:874 Erstens gibt es das System des konzerninternen Verlustübertrags, wozu die konzerninterne Verlustverrechnung (sog. group relief  ) 875 sowie die konzerninternen Beträge (sog. intra-group contributions) 876 gehören. Beide Systeme ermögli872 

Siehe dazu bereits § 6 A. II. Vgl. hierzu ausführlich: Mayr, IStR 2010, 633. 874  Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss v. 19.12.2006, KOM(2006) 824 endg. Rn. 1.2, 3.2. 875  Um einen group relief ging es beispielsweise im Urteil Marks & Spencer (EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837). 876 Um intra-group contributions ging es beispielsweise im Urteil Oy AA (EuGH v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373). 873 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

261

chen innerhalb der Gruppe einen endgültigen Übertrag von Verlusten (beim group relief  ) bzw. von Gewinnen (bei den intra-group contributions) von einer Gesellschaft zur anderen. Zweitens gibt es ein „Pooling“-System, bei dem die Einzelergebnisse der Gesellschaften bei der Muttergesellschaft konsolidiert werden. Drittens besteht die Variante der steuerlichen Vollkonsolidierung, bei der das Konzernergebnis – über das „Pooling“-System hinaus – anhand einer einzigen, rechtsformunabhängigen Gewinn- und Verlustrechnung ermittelt wird. Tochtergesellschaften in Form von Personengesellschaften sollen in der vorliegenden Arbeit im Bereich des Verlustabzugs keine Rolle spielen. Hier sei nur kurz angemerkt, dass in diesem Fall die Verlustzuweisung über den Mitunternehmeranteil direkt bei den Gesellschaftern erfolgt. b)  Grenzüberschreitende Sachverhalte

Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten stellt sich die Situation komplexer dar und ist somit differenzierter zu betrachten als rein nationale Fälle. Auch hier ist jedoch grundlegend danach zu unterscheiden, ob die grenzüberschreitende Verrechnung von Verlusten innerhalb eines Unternehmens oder innerhalb eines Konzerns in Frage steht.877 aa)  Verlustverrechnung innerhalb eines Unternehmens

Bei einem inländischen Stammhaus mit einer im Ausland belegenen Betriebstätte ändert sich nichts daran, dass die Betriebstätte ein unselbstständiger, abhängiger Unternehmensteil des Stammhauses ist. Letzteres unterliegt daher im Betriebstättenstaat der beschränkten Steuerpflicht und wird dort hinsichtlich der ihm zuzurechnenden Betriebstätteneinkünfte besteuert. Da die Betriebstätteneinkünfte dem Stammhaus zugerechnet werden und dieses im Stammhausstaat der unbeschränkten Steuerpflicht unterliegt, werden die Betriebstätteneinkünfte aufgrund des Welteinkommensprinzips ebenfalls im Stammhausstaat besteuert. Es entsteht somit eine (juristische) Doppelbesteuerung. Im Rahmen der unternehmensinternen, grenzüberschreitenden Verlustverrechnung ist danach zu unterscheiden, ob zwischen dem Stammhaus- und dem Betriebstättenstaat ein DBA abgeschlossen wurde oder nicht und gegebenenfalls welche Methode zur Vermeidung der Doppelbesteuerung vereinbart wurde.

877 

Quilitzsch, Grenzüberschreitende Verlustverrechnung, S. 5.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

(1)  DBA mit Anrechnungsmethode und kein DBA

Besteht zwischen dem Stammhaus- und dem Betriebstättenstaat ein DBA, steht zunächst dem Betriebstättenstaat das Besteuerungsrecht hinsichtlich der Betriebstätteneinkünfte zu (sog. Betriebstättenprinzip, Art. 7 Abs. 1 S. 1 Hs. 2, S. 2 OECD-MA). Die Aufteilung der Einkünfte zwischen dem inländischen Unternehmen und seiner ausländischen Betriebstätte richtet sich dabei im deutschen Steuerrecht nach Art. 7 Abs. 2 OECD-MA, § 1 Abs. 5, 6 AStG sowie der Betriebstättengewinnaufteilungsverordnung (BsGaV). Der Betriebstättenstaat als Quellenstaat wird in der Regel die Betriebstätteneinkünfte nach seinen nationalen Vorschriften besteuern. Handelt es sich um ein DBA, in dem die Anrechnungsmethode gemäß Art. 23B OECD-MA vereinbart ist, werden im Stammhausstaat das Welteinkommen zugrunde gelegt und zur Vermeidung der Doppelbesteuerung die im Ausland entrichteten Steuern auf die inländische Steuer angerechnet. Im deutschen Steuerrecht ist dies in § 26 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 KStG, §§ 34c Abs. 1, 34d Nr. 2 EStG geregelt, jedenfalls sofern es sich bei den Betriebstättengewinnen um gewerbliche Einkünfte im Sinne des § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2 EStG handelt. Der Stammhausstaat übt zwar das Besteuerungsrecht über die ausländische Betriebstätte aus, er muss die erhobenen Steuern aber entsprechend reduzieren. Aufgrund der Einheit von Betriebstätte und Stammhaus werden auch die negativen Einkünfte bzw. Verluste einer ausländischen Betriebstätte ebenso wie die Betriebstättengewinne dem Stammhaus zugerechnet, sodass die ausländischen Verluste die inländische Bemessungsgrundlage trotz Bestehens eines DBA im gleichen Umfang wie im Inland entstandene Verluste mindern.878 Dieser Verlustausgleich ist gemäß § 2a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG lediglich für negative Einkünfte aus einer in einem Drittstaat belegenen gewerblichen Betriebstätte ausgeschlossen, welche in der vorliegenden Arbeit keine Rolle spielt. In den Fällen, in denen zwischen den beteiligten Staaten kein DBA besteht, liegt die Besteuerungsbefugnis beim Stammhausstaat, sodass sich die Anrechnung der ausländischen Steuern allein nach dessen jeweiligen nationalen Vorschriften richtet. (2)  DBA mit Freistellungsmethode

Im Bereich der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung sind insbesondere Fälle relevant, in denen zwischen den Vertragsstaaten ein DBA abgeschlossen wurde, das die Freistellungsmethode vorsieht. Auch hier sieht Art. 7 Abs. 1 S. 1 Hs. 2, S. 2 OECD-MA vor, dass die Gewinne, die der ausländi878  Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 268a; Quilitzsch, Grenzüberschreitende Verlustverrechnung, S. 16 f. mwN.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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schen Betriebstätte zuzurechnen sind, im Betriebstättenstaat besteuert werden. Im Gegensatz zur Anrechnungsmethode werden die ausländischen Einkünfte bei der Freistellungsmethode jedoch von der Besteuerung im Stammhausstaat ausgenommen, also freigestellt (Art. 23A Abs. 1 OECD-MA), und lediglich in den Progressionsvorbehalt einbezogen. Im deutschen Steuerrecht ist dies in Art. 23A Abs. 3 OECD-MA i. V. m. § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 EStG geregelt. Die Freistellungsmethode führt – im Gegensatz zur Anrechnungsmethode – dazu, dass der Stammhausstaat schon gar kein Besteuerungsrecht über die Betriebstättengewinne ausübt. Die Freistellung der (positiven) Einkünfte umfasst aufgrund der Symmetriethese auch die negativen Einkünfte, sodass die grenzüberschreitende Berücksichtigung von Verlusten einer ausländischen Betriebstätte beim inländischen Stammhaus in diesem Fall grundsätzlich ausgeschlossen ist.879 Vielmehr hat der Betriebstättenstaat die Verluste der ausländischen Betriebstätte anzuerkennen, da ihm das Besteuerungsrecht zusteht. Dies führt dazu, dass die Verluste der ausländischen Betriebstätte bei der inländischen Bemessungsgrundlage des Stammhauses nicht berücksichtigt, sondern nur in den negativen Progressionsvorbehalt einbezogen werden. Im deutschen Steuerrecht finden sich die entsprechenden Regelungen in Art. 23A Abs. 3 OECD-MA i. V. m. § 32b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 EStG. bb)  Verlustverrechnung innerhalb eines Konzerns

Bei einer inländischen Muttergesellschaft mit einer ausländischen Tochtergesellschaft werden die ausländischen Verluste nicht automatisch berücksichtigt. Wie bereits bei den rein nationalen Sachverhalten dargestellt, sind sowohl die Mutter- als auch die Tochtergesellschaft eigenständige Steuersubjekte.880 Das Besteuerungsrecht bezüglich der Unternehmensgewinne ist mittels DBA üblicherweise dem Ansässigkeitsstaat der jeweiligen Gesellschaft zugewiesen. Es sind wie bei den rein inländischen Fällen entsprechende nationale Vorschriften bzw. Maßnahmen erforderlich, um den Konzern steuerlich als Einheit anzusehen und somit die grenzüberschreitende Verlustverrechnung zu ermöglichen.881 879  Die Symmetriethese entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs: vgl. BFH v. 5.2.2014 – I R 48/­11, BFH/­N V 2014, 963 Rn. 10: „Da sich der Begriff der Betriebstätteneinkünfte auf einen Nettobetrag bezieht, entspricht es ständiger Rechtsprechung des Senats, dass nicht nur Betriebstättengewinne, sondern ebenso Betriebstättenverluste aus der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer auszunehmen sind.“ Vgl. auch: Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 268b. 880  Der Konzern an sich besitzt jedoch weder eine eigene Rechtspersönlichkeit noch eine Steuersubjektsfähigkeit. 881 Eine beispielhafte Übersicht über die Verlustverrechnungsmöglichkeiten in verschiedenen Staaten findet sich in: Roser, Ubg 2010, 30.

264

Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Hier kommen die bereits dargestellten Verrechnungsinstrumente bzw. -möglichkeiten in Betracht. Jedoch haben nur wenige Staaten ein Gruppenbesteuerungssystem, das auch auf grenzüberschreitende Sachverhalte anwendbar ist.882 Sieht ein Mitgliedstaat eine Gruppenbesteuerung vor, die in einer inländischen Gruppe Verlustverrechnungen zulässt, wird teilweise angenommen, dass er zumindest die „Ausfallhaftung“ für eine fehlende ausländische Verlustnutzung übernehmen solle.883 Eine allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Berücksichtigung von Verlusten bei EU-Tochtergesellschaften etwa im Rahmen von Gruppenbesteuerungssystemen oder sog. Konzernbeitragsregelungen hat der EuGH jedoch abgelehnt.884 Bei den Tochtergesellschaften gestaltet sich die Besteuerung unter Geltung eines DBA anders: Die Besteuerungsrechte bleiben nach Art. 7 Abs. 1 S. 1 Var. 1 OECD-MA bei den jeweiligen Steuersubjekten (Mutter- bzw. Tochtergesellschaft). Die grenzüberschreitende Ergebniskonsolidierung führt aber dazu, dass die Tochtergesellschaft steuerlich gesehen weder Gewinne noch Verluste aufweist, da diese der Muttergesellschaft zugerechnet werden. cc)  Problemaufriss

Im Bereich der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung stehen sich grundlegend die den Mitgliedstaaten zugebilligte Befugnis, Steuern von den in ihrem Gebiet erzielten Einkünften zu erheben, und die den Staatsbürgern der EU zustehende Freiheit, sich in der EU niederzulassen, gegenüber.885 Diese zwei Systematiken kollidieren miteinander, sodass es notwendig ist, ein Gleichgewicht bei der Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und der EU festzulegen.886 Die im Falle der Freistellungsmethode geltende Symmetriethese und die daraus folgende Nichtberücksichtigung von Gewinnen und Verlusten im Stammhausstaat ist zunächst logisch und konsequent, da sie auf diese Art und Weise die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis wahrt und zugleich einen doppelten 882  Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss v. 19.12.2006, KOM(2006) 824 endg. Rn. 3.1. Dazu gehören insbesondere Dänemark, Frankreich, Italien und Österreich. 883  Sutter, EuZW 2006, 85 (88). 884  EuGH v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 44, 51 ff.; v. 25.2.2010, C-337/­08  – X Holding, Slg. 2010, I-1215 Rn. 28 ff.; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 268 f. 885 Schlussanträge des Generalanwalts Luís Miguel Poiares Maduro v. 7.4.2005, C-446/­03 Rn. 6. 886 Schlussanträge des Generalanwalts Luís Miguel Poiares Maduro v. 7.4.2005, C-446/­03 Rn. 6.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Verlustabzug verhindert. Ist nur einer der Vertragsstaaten zur Berücksichtigung der Verluste verpflichtet, können die Unternehmen von vornherein nicht wählen, in welchem Staat sie die Verluste geltend machen möchten. Die Verlustverrechnung von ausländischen Betriebstättenverlusten beim inländischen Stammhaus widerspricht somit zunächst grundsätzlich der abkommensrechtlichen Freistellungsmethode. Aber auch die Anerkennung sowie Berechnung der ausländischen Verluste muss den Vorgaben des Unionsrechts genügen.887 Bereits im Urteil AMID hat der EuGH entschieden, dass eine nationale Vorschrift gegen die Niederlassungsfreiheit verstößt, wenn sie Stammhäuser mit in- und ausländischen Betriebstätten ungleich behandelt.888 Denn eine inländische Gesellschaft, die keine ausländische Betriebstätte hat und einen Verlust erleidet, befinde sich in steuerlicher Hinsicht in der gleichen Situation wie eine Gesellschaft mit einer ausländischen Betriebstätte.889 Die ausländischen Betriebstättenverluste müssen danach mit Gewinnen des inländischen Stammhauses verrechnet werden können. Etwas Anderes kann sich jedoch dann ergeben, wenn die Verluste im Ausland nicht mehr berücksichtigt werden können, weil sie dort endgültig bzw. final sind. Wegen der Freistellungsmethode sowie der Symmetriethese kann aber auch das Stammhaus die ausländischen Verluste nicht mehr steuerlich geltend machen, sodass endgültige Verluste in keinem der Staaten berücksichtigt werden können. Stammhäuser bzw. Muttergesellschaften mit ausländischen Betriebstätten bzw. Tochtergesellschaften werden somit ungünstiger behandelt als rein innerstaatlich tätige Gesellschaften. 2.  Die Rechtsprechung des EuGH

Der EuGH hat sich zum Thema der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung bereits mehrfach geäußert.890 Im Folgenden soll insbesondere auf die Fra887  Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 268a. So verstößt eine nationale Vorschrift gegen die Kapitalverkehrsfreiheit, wenn ein inländischer Steuerpflichtiger entstandene Verluste aus Vermietung und Verpachtung einer Immobilie nur dann im Verlustentstehungsjahr von der Bemessungsgrundlage abziehen und bei der Ermittlung der Einkünfte aus einer Immobilie eine degressive Abschreibung ansetzen kann, wenn die Immobilie im Inland belegen ist: EuGH v. 15.10.2009, C-35/­08 – Busley/­Cibrian, Slg. 2009, I-9807 Rn. 26 ff. Zur Berücksichtigung von Verlusten aus Vermietung und Verpachtung eines selbst zu Wohnzwecken genutzten Wohnhauses, das in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat liegt, in dem die Steuerpflichtigen unbeschränkt steuerpflichtig sind, siehe auch: EuGH v. 21.2.2006, C-152/­03 – Ritter-Coulais, Slg. 2006, I-1711. 888  EuGH v. 14.12.2000, C-141/­99 – AMID, Slg. 2000, I-11619 Rn. 27. 889  EuGH v. 14.12.2000, C-141/­99 – AMID, Slg. 2000, I-11619 Rn. 29. 890  Vgl. EuGH v. 13.7.1993, C-330/­91 – Commerzbank, Slg. 1991, I-4017; v. 15.5.1997, C-250/­95  – Futura Participations, Slg. 1997, I-2471; v. 16.7.1998, C-264/­ 96 – ICI,

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

ge des grenzüberschreitenden Abzugs finaler Verluste eingegangen werden. Das erste hierzu ergangene Urteil des EuGH ist mittlerweile bereits über 13 Jahre her, wird aber in seinen Grundsätzen bis heute weiterhin angewandt. Die EuGH-Urteile zum Thema des grenzüberschreitenden Abzugs finaler Verluste lassen sich dabei in drei Gruppen einteilen: die konzerninterne Verlustverrechnung, die unternehmensinterne Verlustverrechnung sowie die Hinzurechnung zuvor abgezogener Betriebstättenverluste im dem Falle, dass die Betriebstätten später wieder Gewinne erwirtschaften. a)  Marks & Spencer

Mit dem grenzüberschreitenden Abzug finaler Verluste hatte sich der EuGH erstmals im Urteil Marks & Spencer zu befassen, welches eine konzerninterne Verlustverrechnung zum Gegenstand hatte.891 Im zugrundeliegenden Sachverhalt ging es um eine im Vereinigten Königreich ansässige Muttergesellschaft, welche sowohl in diesem als auch in anderen Staaten Tochtergesellschaften unterhielt. Diese Tochtergesellschaften übten ihre Tätigkeit im jeweiligen Ansässigkeitsstaat aus und hatten somit im Vereinigten Königreich keine Betriebstätte. Da einige ausländische Tochtergesellschaften Verluste erlitten, verkaufte die Muttergesellschaft eine dieser Tochtergesellschaften an Dritte, die anderen Tochtergesellschaften stellten ihre Tätigkeiten ein. Die streitigen nationalen Vorschriften sahen vor, dass Gesellschaften desselben Konzerns untereinander ihre Gewinne und Verluste verrechnen konnten (sog. Konzernabzug).892 Die Muttergesellschaft konnte die Verluste der Tochtergesellschaft jedoch nur dann von ihrem steuerpflichtigen Gewinn abziehen, wenn die Tochtergesellschaft ebenfalls im Vereinigten Königreich ansässig war. Die DBA sahen vor, dass ausländische Tochtergesellschaften mit ihrer Tätigkeit der britischen Körperschaftsteuer nur unterlagen, soweit die Tätigkeit im Vereinigten Königreich durch eine Betriebstätte ausgeübt wurde. Eine solche nationale Regelung beschränkt nach Ansicht des EuGH die Niederlassungsfreiheit, da die Verluste von in- und ausländischen Tochtergesellschaften steuerlich ungleich behandelt werden, indem der Steuervorteil nur bei

Slg. 1998, I4695; v. 29.4.1999, C-311/­97 – Royal Bank of Scotland, Slg. 1999, I-2651; v. 21.9.1999, C-307/­97 – Saint-Gobain, Slg. 1999, I-6161; v. 18.11.1999, C-200/­98 – X und Y, Slg. 1999, I-8261; v. 14.12.2000, C-141/­99 – AMID, Slg. 2000, I-11619; v. 18.9.2003, C-168/­01  – Bosal, Slg. 2003, I-9409. 891  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837. Im konkreten Fall ging es um Section 402, 403 des britischen Income and Corporation Tax Act 1988 (ICTA). 892  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 12 ff.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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inländischen Verlusten gewährt wurde.893 Der Steuervorteil bestehe darin, dass der Konzernabzug den Ausgleich der Verluste der Tochtergesellschaft durch ihre unmittelbare Verrechnung mit den Gewinnen anderer Konzerngesellschaften beschleunige und dem Konzern somit einen Liquiditätsvorteil verschaffe.894 Aufgrund der Versagung dieses Vorteils sei es für eine Muttergesellschaft attraktiver, Tochtergesellschaft nur im Vereinigten Königreich anzusiedeln, sodass es ihr faktisch erschwert werde, diese auch in anderen Mitgliedstaaten zu gründen.895 Zur vergleichbaren Situation von in- und ausländischen Tochtergesellschaft hinsichtlich des Konzernabzugs stellt der EuGH fest, dass zwar der Sitz der Gesellschaft ein Kriterium zur Rechtfertigung nationaler Regelungen sein könne, der Sitz aber nicht immer ein gerechtfertigtes Unterscheidungskriterium sei, da die Niederlassungsfreiheit sonst „seines Sinnes entleert“ würde.896 Im Urteil Marks & Spencer hat der EuGH erstmals kumulativ drei Rechtfertigungsgründe geprüft, die „insgesamt“ die vorliegende Beschränkung der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen: die ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten, die Gefahr einer doppelten Verlustberücksichtigung897 und die Gefahr der Steuerflucht.898 Der erste Rechtfertigungsgrund greift durch, da die Gesellschaften keine Möglichkeit erhalten dürften, für die Berücksichtigung ihrer Verluste in ihrem Ansässigkeitsstaat oder in einem anderen Mitgliedstaat zu optieren.899 Denn dadurch würde die zwischen den Vertragsstaaten vereinbarte Aufteilung der Besteuerungsbefugnis erheblich beeinträchtigt. Im Rahmen der doppelten Verlustberücksichtigung erkennt der EuGH an, dass eine Ausdehnung des Konzernabzugs auf ausländi893 

EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 34. EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 32. 895  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 33; vgl. in diesem Sinne: EuGH v. 1.4.2014, C-80/­12 – Felixstowe Dock and Railway Company, EuZW 2014, 428 Rn. 21; v. 17.7.2014, C-48/­13 – Nordea Bank, EuZW 2014, 787 Rn. 22; v. 3.2.2015, C-172/­13 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324 Rn. 23. 896  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 37. 897  Lechner, in: Gassner/­Lang/­Lechner, Doppelbesteuerungsabkommen und EURecht, S. 79: Die Gefahr einer doppelten Verlustberücksichtigung könnte dadurch vermieden werden, dass die Verluste zunächst im Ausland vollständig abgezogen und später in den Wohnsitzstaat übertragen würden. Beispielsweise in den Niederlanden werde dies von der Rechtsprechung auch ohne entsprechendes Steuergesetz anerkannt. Im Vereinigten Königreich sei eine solche Übertragung der Verluste allerdings unzulässig. 898  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 43 ff.; vgl. in diesem Sinne: EuGH v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 51; v. 21.2.2013, C-123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 46; v. 3.2.2015, C-172/­13 – Kommission/­ Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324 Rn. 24. 899  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 46. 894 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

sche Tochtergesellschaften die Gefahr einer doppelten Verlustberücksichtigung berge, welche von der streitigen Vorschrift verhindert werde.900 Schließlich besteht nach Ansicht des EuGH die Gefahr, dass die Verlustübertragungen innerhalb eines Konzerns „in Richtung der Gesellschaften geleitet werden, die in den Mitgliedstaaten ansässig sind, in denen die höchsten Steuersätze gelten und folglich der steuerliche Wert der Verluste am höchsten ist“.901 Aus diesem Grund erkennt der EuGH auch den Rechtfertigungsgrund der Steuerfluchtgefahr an. Eine nationale Vorschrift ist jedoch dann unverhältnismäßig, wenn die ausländische Tochtergesellschaft „die im Staat ihres Sitzes für den von dem Abzugsantrag erfassten Steuerzeitraum sowie frühere Steuerzeiträume vorgesehenen Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Verlusten ausgeschöpft hat, gegebenenfalls durch Übertragung dieser Verluste auf einen Dritten oder ihre Verrechnung mit Gewinnen, die die Tochtergesellschaft in früheren Zeiträumen erwirtschaftet hat“ und zudem „keine Möglichkeit besteht, dass die Verluste der ausländischen Tochtergesellschaft im Staat ihres Sitzes für künftige Zeiträume von ihr selbst oder von einem Dritten, insbesondere im Fall der Übertragung der Tochtergesellschaft auf ihn, berücksichtigt werden“.902 Diese Formulierungen bedeuten, dass eine Nichtanerkennung von finalen Verlusten unverhältnismäßig ist. Die Muttergesellschaft muss das Vorliegen dieser Voraussetzungen nachweisen. Kann sie diesen Nachweis erbringen, verstößt die nationale Vorschrift insofern gegen die Niederlassungsfreiheit, als sie der Muttergesellschaft verwehrt, die Verluste ihrer ausländischen Tochtergesellschaft abzuziehen. Im Streitfall gelang ein solcher Nachweis nicht, sodass die streitige britische Vorschrift als verhältnismäßig angesehen wurde. b)  Lidl Belgium

Im Urteil Lidl Belgium903 hat der EuGH die Grundsätze aus dem bereits dargestellten Marks-&-Spencer-Urteil904 auch auf finale Betriebstättenverluste, und somit auf eine unternehmensinterne Verlustverrechnung, übertragen. Im Sachverhalt ging es um eine KG mit Sitz in Deutschland, die in Luxemburg eine Betriebstätte unterhielt, welche dort einen Verlust erwirtschaftete. Das 900 

EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 47 f. EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 49. 902  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 55; vgl. in diesem Sinne auch: EuGH v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 47; v. 21.2.2013, C-123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 49; v. 3.2.2015, C-172/­13 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324 Rn. 26. 903  EuGH v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 54. Im konkreten Fall ging es um Artt. 5 Abs. 1, 20 des DBA-Luxemburg. 904  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837. 901 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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DBA-Luxemburg sah in Art. 5 Abs. 1 vor, dass die Besteuerungsbefugnis hinsichtlich der Betriebstätteneinkünfte bei Luxemburg lag (Betriebstättenprinzip). Gemäß Art. 20 Abs. 2 DBA-Luxemburg galt für diese Betriebstätteneinkünfte die Freistellungsmethode, weshalb Deutschland der KG den Verlustabzug verwehrte. Bei in Deutschland belegenen Betriebstätten wurde der Verlustabzug hingegen gewährt. Hierin sah der EuGH eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, da es für eine Gesellschaft aufgrund der Versagung des Steuervorteils weniger günstig sei, eine Betriebstätte in einem anderen Mitgliedstaat zu unterhalten als in Deutschland.905 Diese Beschränkung ist nach Ansicht des EuGH jedoch aufgrund der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten gerechtfertigt. Die DBA-Bestimmungen würden die Symmetrie zwischen dem Recht zur Besteuerung der Gewinne und der Abzugsmöglichkeit von Verlusten wahren, da ohne die Geltung eines DBA die Besteuerungsbefugnis hinsichtlich der Betriebstätteneinkünfte bei Deutschland läge.906 Die Gesellschaft hätte in diesem Fall die Wahl, in welchem Mitgliedstaat sie die Verluste geltend mache. Darüber hinaus greift auch der Rechtfertigungsgrund der Verhinderung einer doppelten Verlustberücksichtigung. Denn es ist nach Ansicht des EuGH nicht ausgeschlossen, dass eine Gesellschaft die bei der Betriebstätte im Ausland entstandenen Verluste erst bei sich selbst geltend mache und anschließend im ausländischen Staat auf Ebene der Betriebstätte, sobald diese Gewinne erwirtschaftet.907 Im Gegensatz zum Urteil Marks & Spencer908 könne „angesichts der Vielfalt von Situationen, in denen ein Mitgliedstaat derartige Gründe geltend machen kann,“ nicht verlangt werden, dass alle der dort geprüften drei Rechtfertigungsgründe vorliegen müssten; vielmehr würden zwei dieser Rechtfertigungsgründe ausreichen, im vorliegenden Fall die Notwendigkeit der Wahrung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten sowie die Notwendigkeit, eine doppelte Verlustberücksichtigung zu verhindern.909 Die streitige Regelung ist auch verhältnismäßig, da das luxemburgische Steuerrecht die Möglichkeit vorsah, für die Berechnung der Steuerbemessungsgrundlage Verluste eines Steuerpflichtigen in künftigen Zeiträumen geltend zu machen (Verlustvortrag).910 Die KG konnte somit nicht nachweisen, dass die 905 

EuGH v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 25 f. EuGH v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 33 f. 907  EuGH v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 36. 908  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 51. 909  EuGH v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 40, 42. 910  EuGH v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 49. 906 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

vom EuGH im Urteil Marks & Spencer aufgestellten Voraussetzungen zu den finalen Verlusten vorlagen.911 Die Grundsätze aus dem vorliegenden Urteil gelten jedoch weder für eine in einem Drittstaat belegene Betriebstätte, da in diesem Fall die Niederlassungsfreiheit nicht anwendbar ist,912 noch für eine beherrschende Beteiligung an einer dort ansässigen steuerlich transparenten Gesellschaft913 noch für Dotationskapitalverluste914. c)  Krankenheim Wannsee

Im Urteil Krankenheim Wannsee hatte sich der EuGH mit der steuerlichen Hinzurechnung von zuvor abgezogenen Verlusten einer Betriebstätte zu befassen.915 Im Sachverhalt ging es um eine deutsche GmbH, die in Österreich eine Betriebstätte unterhielt, welche Verluste erwirtschaftete. Diese Verluste konnte die GmbH zunächst von ihrem Gewinn abziehen. Als die Betriebstätte in einem späteren Zeitraum wieder Gewinne erwirtschaftete, wurden diese Gewinne aufgrund der streitigen deutschen Vorschriften dem Gesamtbetrag der Einkünfte der GmbH hinzugerechnet. Eine solche Nachversteuerungsregelung sah im Übrigen auch § 2a Abs. 3 EStG a. F.916 vor. Anschließend wurde die Be911 EuGH v. 13.12.2005, C-446/­ 03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 55; v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 51. 912  EuGH v. 6.11.2007, C-415/­06 – Stahlwerk Ergste Westig, Slg. 2007, I-151 Rn. 13 ff., 19; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 268c; Stein/­Schwarz/­Nientimp/­van Leuven, IStR 2018, 822 (824), de Weerth, IStR 2008, 400 (405). 913  Rainer, EuZW 2008, 402 (405); ders., IStR 2008, 183 (188); de Weerth, IStR 2008, 400 (405). 914  EuGH v. 28.2.2008, C-293/­ 06 – Deutsche Shell, Slg. 2008, I-1129. Hier hatte der EuGH eine Verlustberücksichtigung im Inland verlangt. Der Grund dafür sei, dass sich dieser Verlust auf die ausländische Betriebstätte nicht auswirke, da er sich nur manifestiere, wenn die an die Muttergesellschaft überwiesenen Beträge in die Währung des Staates konvertiert werden, in dem die Muttergesellschaft ansässig ist: Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston v. 8.11.2007, C-293/­06 Rn. 25. Im Betriebstättenstaat werde der Währungsverlust in der steuerlichen Buchhaltung der Gesellschaft nicht abgebildet, weil diese in der nationalen Währung des Betriebstättenstaates zu führen sei: de Weerth, IStR 2008, 224 (226); ders., IStR 2008, 400 (405). 915  EuGH v. 23.10.2008, C-157/­07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 55. Im konkreten Fall ging es um § 2 Abs. 1 des von 1969 bis 1990 geltenden Gesetzes über steuerliche Maßnahmen bei Auslandsinvestitionen der deutschen Wirtschaft (Auslandsinvestitionsgesetz; BGBl. I 1969, S. 1211). 916 Diese Vorschrift wurde durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/­ 2000/­ 2002 v. 24.3.1999 (BGBl. I 1999, S. 402) aufgehoben. Zur weiteren Anwendung siehe § 52 Abs. 2 Sätze 3, 4 EStG. Zur Nachversteuerung von negativen ausländischen Betriebstätteneinkünften, welche in einem vorangegangenen Veranlagungszeitraum nach § 2 Abs. 1 AuslInvG a. F. abgezogen wurden: BFH v. 3.2.2010 – I R 23/­09, BStBl. II 2010, 599.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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triebstätte veräußert. Die österreichischen Vorschriften sahen zudem vor, dass den Betriebstätten einer ausländischen Gesellschaft ein Verlustvortrag nur dann gewährt wurde, wenn letztere insgesamt, das heißt bezogen auf ihr Welteinkommen, keine Gewinne erwirtschaftet hatte.917 Dies war vorliegend nicht der Fall, da die GmbH in Deutschland Gewinne erzielt hatte. Im DBA-Österreich war geregelt, dass die Einkünfte der Betriebstätte in Österreich besteuert wurden, unter gleichzeitiger Freistellung in Deutschland. Im Gegensatz zum Urteil Lidl Belgium918 wurden im vorliegenden Fall im ersten Schritt bei der Veranlagung der GmbH in Deutschland die gesamten Verluste der Betriebstätte in Österreich von den Gewinnen der GmbH abgezogen.919 Eine Beschränkung des Rechts aus Art. 31 des EWR-Abkommens920 liegt nach Ansicht des EuGH aber darin, dass die Verluste der Betriebstätte in einem zweiten Schritt dem zu versteuernden Einkommen der GmbH bis zur Höhe der Gewinne der Betriebstätte wieder hinzugerechnet wurden, sobald die Betriebstätte Gewinne erwirtschaftete.921 Der zuvor gewährte Steuervorteil wurde dadurch wieder entzogen. Durch diese Ungleichbehandlung würden Gesellschaften davon abgehalten, Betriebstätten in anderen Mitgliedstaaten zu unterhalten. Diese Beschränkung ist durch das Erfordernis, die Kohärenz des innerstaatlichen Steuersystems zu gewährleisten, gerechtfertigt.922 Denn die Hinzurechnung der Verluste dürfe nicht von der vorangegangenen Berücksichtigung dieser Verluste getrennt werden, sondern sei „das logische Pendant zum vorher gewährten Abzug“, sodass ein direkter, persönlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen den beiden Komponenten bestehe.923 Da nur die zuvor abgezogenen Verluste wieder hinzugerechnet würden, gehe die nationale Vorschrift zudem symmetrisch vor. Darüber hinaus ist die Beschränkung auch verhältnismäßig, da die Verluste nur bis zur Höhe der von der Betriebstätte erwirtschafteten Gewinne wieder

917 

EuGH v. 23.10.2008, C-157/­07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 12. EuGH v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601. 919  EuGH v. 23.10.2008, C-157/­07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 34. 920  Da Österreich erst am 1.1.1995 der EU beitrat, das Streitjahr aber 1994 war, waren die Vorschriften anhand von Art. 31 EWR-Abkommen zu prüfen, dessen Bestimmungen mit denen des Art. 49 AEUV identisch sind: EuGH v. 23.10.2008, C-157/­07 – Kran­ kenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 55; v. 23.2.2006, C-471/­04 – Keller Holding, Slg. 2006, I-2107 Rn. 48 f. 921 EuGH v. 23.10.2008, C-157/­ 07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 36 ff. 922  EuGH v. 23.10.2008, C-157/­07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 42 f. 923  EuGH v. 23.10.2008, C-157/­07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 42. 918 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

hinzugerechnet würden.924 Ein Mitgliedstaat könne nicht verpflichtet sein, „die eventuell ungünstigen Auswirkungen der Besonderheiten einer Regelung eines anderen Staates zu berücksichtigen, die auf eine Betriebstätte anwendbar ist, die in diesem Staat belegen ist und zu einer im ersten Staat ansässigen Gesellschaft gehört“ und somit seine Steuervorschriften auf diejenigen eines anderen Mitgliedstaats abzustimmen.925 d)  A Oy

Im Urteil A Oy926 nahm der EuGH erstmals Stellung zur grenzüberschreitenden Verlustverrechnung im Falle einer Verschmelzung. Im zugrundeliegenden Sachverhalt ging es um eine finnische Gesellschaft, die eine Tochtergesellschaft in Schweden hatte, an der sie zu 100 % beteiligt war. Die Tochtergesellschaft erwirtschaftete Verluste und stellte ihre Tätigkeiten daher ein. Zudem sollte die Tochter- mit der Muttergesellschaft fusioniert werden. Die streitigen finnischen Vorschriften sahen zwar vor, dass eine finnische Gesellschaft im Falle einer Fusion mit einer ebenfalls finnischen Gesellschaft deren vor der Fusion erlittene Verluste steuerlich abziehen konnte. Nicht geregelt war jedoch ein solcher Abzug, wenn die übertragende Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat ansässig war.927 Im geltenden DBA war das Betriebstättenprinzip vorgesehen. In dem Fall, dass der inländischen Muttergesellschaft bei einer Fusion der Abzug von Verlusten einer ausländischen Tochtergesellschaft versagt wird, wird nach Ansicht des EuGH eine Ungleichbehandlung begründet, durch die die Gründung von Tochtergesellschaften in einem anderen Mitgliedstaat weniger attraktiv sei.928 Eine solche Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ist allerdings durch die Rechtfertigungsgründe der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis, der Gefahr der doppelten Berücksichtigung sowie der Gefahr der Steuerflucht gerechtfertigt.929 Der EuGH verweist hier auf die Ausführungen im Ur-

924 EuGH v. 23.10.2008, C-157/­ 07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 45 ff. 925 EuGH v. 23.10.2008, C-157/­ 07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 49 f.; vgl. auch: EuGH v. 6.12.2007, C-298/­05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I10451 Rn. 51; v. 28.2.2008, C-293/­06 – Deutsche Shell, Slg. 2008, I-1129 Rn.  42 f. 926  EuGH v. 21.2.2013, C-123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269. Im konkreten Fall ging es um die finnische Vorschrift des § 123 Abs. 2 tuloverolaki (1535/­1992). 927  EuGH v. 21.2.2013, C-123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 18. 928  EuGH v. 21.2.2013, C-123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 32. 929  EuGH v. 21.2.2013, C-123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 41 ff.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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teil Marks & Spencer 930. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung hat der EuGH „im Umkehrschluss“ zum Urteil  X Holding 931 festgestellt, dass „der Umstand, dass der Muttergesellschaft die Möglichkeit eingeräumt wird, die Verluste ihrer gebietsfremden Tochtergesellschaft im Rahmen einer grenzüberschreitenden Fusion zu berücksichtigen, der Muttergesellschaft nicht von vornherein erlauben kann, von einem Jahr zum anderen frei zu wählen, welches Steuersystem auf die Verluste ihrer Tochtergesellschaften anwendbar“ sei.932 Bei der Prüfung, ob es sich um finale Verluste der Tochtergesellschaft handelt, legt sich der EuGH nicht fest. Er stellt lediglich fest, dass nach Durchführung der Fusion sowie der Abwicklung der Tochtergesellschaft keine der Gesellschaften die Möglichkeit zu haben scheine, die vor der Fusion erlittenen Verluste der Tochtergesellschaft abzuziehen.933 Durch diese konkreten Umstände allein könne die Finalität der Verluste jedoch nicht nachgewiesen werden.934 e)  Nordea Bank

Im Urteil Nordea Bank 935 ging es um eine dänische Gesellschaft, die Betriebstätten in mehreren anderen Mitgliedstaaten unterhielt, welche Verluste erwirtschafteten. Diese Verluste konnte die Gesellschaft von ihrem steuerpflichtigen Gewinn zunächst rechtmäßig abziehen. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde das Geschäft der Betriebstätten teilweise auf Tochtergesellschaften der Muttergesellschaft in denselben Mitgliedstaaten übertragen. Das dänische Recht sah in einem solchen Fall vor, dass die zuvor für das übertragene Geschäft abgezogenen Verluste, denen keine Gewinne späterer Jahre entsprachen, bei der Muttergesellschaft nachbesteuert wurden. Aus diesem Grund besteuerte Dänemark die zuvor abgezogenen Verluste für das übertragene Geschäft bei der Muttergesellschaft nach. Wie bereits im Urteil Krankenheim Wannsee936 wurde somit auch im vorliegenden Sachverhalt zunächst ein Steuervorteil gewährt, der später wieder mittels Hinzurechnung entzogen wurde. Auf inländische ­Betriebstätten fand

930 

EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 45 ff. EuGH v. 25.2.2010, C-337/­08 – X Holding, Slg. 2010, I-1215 Rn. 31. 932  EuGH v. 21.2.2013, C-123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 48. 933  EuGH v. 21.2.2013, C-123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 51. 934  EuGH v. 21.2.2013, C-123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 52. 935  EuGH v. 17.7.2014, C-48/­13 – Nordea Bank, EuZW 2014, 787. Im konkreten Fall ging es um die dänische Vorschrift des § 33 D Abs. 5 Ligningslov (lov om påligningen af indkomstskat til staten „ligningsloven“). Das Urteil Nordea Bank wird mitunter als Grundsatzurteil zur europarechtlichen Einhegung des internationalen Steuerrechts bezeichnet: Musil, EuZW 2014, 787 (790). 936  EuGH v. 23.10.2008, C-157/­07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 9. 931 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

die Vorschrift hingegen keine Anwendung. Das betroffene DBA sah das Betriebstättenprinzip sowie die Anrechnungsmethode vor. Eine solche Vorschrift stellt nach Ansicht des EuGH eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar, da eine dänische Gesellschaft davon abgehalten werde, ihre Tätigkeit mittels einer Betriebstätte auszuüben, die in einem anderen Mitglied- oder EWR-Staat belegen ist.937 Zur Vergleichbarkeit der Situationen stellt der EuGH fest, dass sich in- und ausländische Betriebstätten „in Bezug auf Maßnahmen eines Mitgliedstaats, die der Vermeidung oder Abschwächung der Doppelbesteuerung der Gewinne einer gebietsansässigen Gesellschaft dienen“, grundsätzlich nicht in einer vergleichbaren Situation befinden.938 Da die ausländischen Betriebstätten aber im vorliegenden Fall mit ihren Gewinnen der dänischen Besteuerung unterlagen, wurden sie hinsichtlich des Verlustabzugs den inländischen Betriebstätten gleichgestellt, sodass die Situationen objektiv vergleichbar waren.939 Die Beschränkung ist nach Ansicht des EuGH durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, eine ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Verhinderung der Steuerumgehung sicherzustellen.940 Die Vorschrift ist allerdings nach Ansicht des EuGH unverhältnismäßig, da die Symmetrie zwischen dem Besteuerungsrecht und dem Verlustabzug nicht gewahrt werde. Denn die Wahrung der Symmetrie verlange, dass die für eine Betriebstätte abgezogenen Verluste durch die Besteuerung ihrer Gewinne ausgeglichen werden können; hierzu zählen die vor ihrer Veräußerung realisierten Gewinne sowie die Gewinne, die aus dem bei der Veräußerung erzielten Wertzuwachs resultieren.941 Da vorliegend sowohl die Gewinne der Betriebstätten bei der dänischen Mutter besteuert werden konnten (ungeachtet der Anrechnung durch das DBA), als auch bei der Veräußerung der Wertzuwachs der Betriebstätte ebenfalls von Dänemark besteuert werden konnte, ist diese Symme­trie nicht gewahrt.942 Daran ändere auch der Umstand nichts, dass der Marktwert einer Betriebstätte im Ausland schwer zu bestimmen sei, da diese Schwierigkeiten auch vorliegen, wenn die Muttergesellschaft den Betrieb an einen Dritten verkauft. 937 

EuGH v. 17.7.2014, C-48/­13 – Nordea Bank, EuZW 2014, 787 Rn. 22. EuGH v. 17.7.2014, C-48/­13 – Nordea Bank, EuZW 2014, 787 Rn. 24; vgl. auch: EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 27; v. 12.6.2018, C650/­16  – Bevola, BB 2018, 1697 Rn. 37. 939  EuGH v. 17.7.2014, C-48/­13 – Nordea Bank, EuZW 2014, 787 Rn. 24; v. 14.12.2006, C170/­05  – Denkavit France, Slg. 2006, I-11949 Rn. 34 f. 940  EuGH v. 17.7.2014, C-48/­13 – Nordea Bank, EuZW 2014, 787 Rn. 29. 941  EuGH v. 17.7.2014, C-48/­13 – Nordea Bank, EuZW 2014, 787 Rn. 33 ff. 942  EuGH v. 17.7.2014, C-48/­13 – Nordea Bank, EuZW 2014, 787 Rn. 34 bis 36. 938  Vgl.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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f)  Kommission/­Vereinigtes Königreich

Zehn Jahre nach dem Urteil Marks & Spencer hatte sich der EuGH erneut mit dem britischen, grenzüberschreitenden Konzernabzug auseinanderzusetzen.943 In der Folge des Urteils Marks & Spencer wurden die britischen Regelungen zwar entsprechend den Vorgaben des EuGH geändert. Eine der neuen Regelungen sah allerdings vor, dass die Feststellung, ob Verluste der ausländischen Tochtergesellschaft in zukünftigen Steuerzeiträumen berücksichtigt werden können, „unmittelbar nach Ende“ des Steuerzeitraums, in dem die Verluste entstanden waren, zu treffen war.944 Die allgemeine Frist für die Stellung eines Antrags auf Konzernabzug betrug hingegen zwei Jahre ab dem Ende des Steuerzeitraums, in dem die Verluste entstanden waren. Nach Ansicht des EuGH liegt hierin eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, da die britischen Vorschriften die Berücksichtigung der Verluste einer ausländischen Tochtergesellschaft durch die inländische Muttergesellschaft von bestimmten Voraussetzungen abhängig machten, wodurch die Muttergesellschaft von der Gründung von Tochtergesellschaften in anderen Mitgliedstaaten abgehalten werde.945 Diese Ungleichbehandlung kann nach Ansicht des EuGH jedoch – unter Verweis auf die frühere Rechtsprechung – mit drei zwingenden Gründen des Allgemeininteresses „zusammen genommen“ gerechtfertigt werden.946 Die nationalen Vorschriften sind auch verhältnismäßig, da die britischen Vorschriften die Berücksichtigung der Verluste einer ausländischen Tochtergesellschaft durch die inländische Muttergesellschaft in den vom EuGH vorgeschriebenen Fällen zulassen.947 Darüber hinaus ist auch die Festlegung des Zeitpunkts, ob die Verluste der ausländischen Tochtergesellschaft endgültig sind („unmittelbar nach Ende“ des 943  EuGH v. 3.2.2015, C-172/­ 13 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324. Im konkreten Fall ging es um Section 118 und 119 Corporation Tax Act 2010 (CTA 2010) des Vereinigten Königreichs. 944  EuGH v. 3.2.2015, C-172/­ 13 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324 Rn. 5. 945  EuGH v. 3.2.2015, C-172/­ 13 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324 Rn. 23 mwN. 946 Rn. 24 unter Verweis auf EuGH v. 13.12.2005, C-446/­ 03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 51, v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 51 sowie v. 21.2.2013, C123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 46. Der Verweis auf das Urteil Oy AA ist jedoch nicht ganz richtig, da der EuGH in diesem Urteil zwei Rechtfertigungsgründe ausreichen ließ, die Notwendigkeit der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten „zusammen“ mit der Notwendigkeit der Verhinderung der Steuerumgehung (a. a. O. Rn. 60). 947  EuGH v. 3.2.2015, C-172/­ 13 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324 Rn. 28. Diese Ausführungen gelten entsprechend für Art. 31 des EWR-Abkommens (Rn. 39).

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Steuerzeitraums, in dem die Verluste entstanden sind), verhältnismäßig. Zwar hatte die Kommission vorgetragen, dass diese Festlegung es einer gebietsansässigen Muttergesellschaft praktisch unmöglich mache, einen grenzüberschreitenden Konzernabzug vorzunehmen.948 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH könne die Endgültigkeit der Verluste einer ausländischen Tochtergesellschaft im Sinne des Urteils Marks & Spencer949 jedoch „nicht von dem Umstand herrühren, dass der Mitgliedstaat, in dem diese Tochtergesellschaft ihren Sitz hat, jegliche Möglichkeit des Verlustvortrags ausschließt“.950 Denn in einem solchen Fall könne der Ansässigkeitsstaat der Muttergesellschaft den grenzüberschreitenden Konzernabzug verweigern, ohne dadurch gegen die Niederlassungsfreiheit zu verstoßen. Darüber hinaus konkretisiert der EuGH die Finalität der Verluste einer ausländischen Tochtergesellschaft: Die Endgültigkeit der Verluste könne nur dann festgesellt werden, „wenn diese Tochtergesellschaft im Mitgliedstaat ihres Sitzes keine Einnahmen mehr erzielt“; dies sei beispielsweise der Fall, wenn sie ihre Geschäftstätigkeit eingestellt und alle ihre Einnahmen erzielenden Vermögenswerte verkauft oder abgegeben hat.951 Solange sie weiterhin – wenn auch nur minimale – Einnahmen erzielt, bestehe jedoch noch die Möglichkeit, die Verluste mit künftigen Gewinnen, die in ihrem Ansässigkeitsstaat erzielt werden, zu verrechnen.952 Für einen Abzug von finalen Verlusten muss somit ein Verlustabzug im Betriebstättenstaat überhaupt rechtlich möglich und zudem tatsächlich ausgeschlossen sein. g)  Timac Agro

Auch in seinem Urteil Timac Agro953 ging es um die Hinzurechnung von zuvor abgezogenen Verlusten einer ausländischen Betriebstätte. Im Sachverhalt handelte es sich um eine deutsche Gesellschaft, die zu einer französischen Unternehmensgruppe gehörte und eine Betriebstätte in Österreich unterhielt, welche Verluste erwirtschaftete. Nachdem die Betriebstätte entgeltlich auf eine 948  EuGH v. 3.2.2015, C-172/­ 13 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324 Rn. 30. 949  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 55. 950  EuGH v. 3.2.2015, C-172/­ 13 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324 Rn. 33; v. 7.11.2013, C-322/­11 – K, EuZW 2014, 110 Rn. 75 ff. mwN. 951  EuGH v. 3.2.2015, C-172/­ 13 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324 Rn. 36. 952  EuGH v. 3.2.2015, C-172/­ 13 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324 Rn. 36; v. 21.2.2013, C-123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 53 f. 953  EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262. Im konkreten Fall ging es um § 2a Abs. 3 EStG a. F. Diese Vorschrift wurde durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/­2000/­2002 v. 24.3.1999 (BGBl. I 1999, S. 402) aufgehoben. Zur weiteren Anwendung siehe § 52 Abs. 2 S. 3, 4 EStG.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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ebenfalls in Österreich ansässige Gesellschaft desselben Konzerns übertragen wurde, wurden aufgrund der streitigen deutschen Vorschriften die zuvor bei der Muttergesellschaft abgezogenen Verluste der Betriebstätte wieder hinzugerechnet. Im Gegensatz zum Urteil Krankenheim Wannsee954, bei dem die Verluste der Bemessungsgrundlage bis zur Höhe der Gewinne der ausländischen Betriebstätte hinzugerechnet wurden, erfolgte die Hinzurechnung im vorliegenden Fall aufgrund der Veräußerung und ohne Zusammenhang mit etwaigen Gewinnen der Betriebstätte.955 Für die Veräußerung von inländischen Betriebstätten sah das deutsche Steuerrecht keine entsprechende Hinzurechnung vor. Das DBA-Österreich sah das Betriebstättenprinzip sowie die Freistellung der Betriebstätteneinkünfte in Deutschland vor. Nach Ansicht des EuGH stellt die streitige nationale Vorschrift eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar, da sie eine Gesellschaft aufgrund der vorliegenden Ungleichbehandlung davon abhalten könne, im Ausland Betriebstätten zu gründen.956 Da das nationale Recht den Abzug von Verlusten der ausländischen Betriebstätte zugelassen hatte, befänden sich in- und ausländische Betriebstätten in dieser Hinsicht in einer vergleichbaren Situation.957 Die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ist jedoch durch die Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, der Kohärenz des Steuersystems sowie der Verhinderung von Steuerumgehungen gerechtfertigt. Der erste Rechtfertigungsgrund ist einschlägig, da die Hinzurechnung der zuvor in Abzug gebrachten Verluste bezwecke, dass der Steuerpflichtige den Mitgliedstaat, in dem er Gewinne sowie Verluste geltend machen möchte, nicht frei wählen könne. Die streitige Vorschrift diene somit der Wahrung der Symmetrie zwischen dem Recht zur Besteuerung der Gewinne sowie dem Verlustabzug.958 Hinsichtlich der Kohärenz des Steuersystems nimmt der EuGH auf sein früheres Urteil Krankenheim Wannsee959 Bezug und wiederholt, dass die Hinzurechnung „einer spiegelbildlichen Logik“ folge und „das untrennbare Pendant“ zu den zuvor abgezogenen Verlusten darstelle.960 Aufgrund der nationalen Vorschrift würden zudem steuerumgehende Praktiken verhindert, mit denen die

954 

EuGH v. 23.10.2008, C-157/­07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 42. EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 14. 956  EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 25. 957  EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 28. 958  EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 38. 959  EuGH v. 23.10.2008, C-157/­07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 42. 960  EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 40 f. 955 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

normalerweise auf die durch Tätigkeiten im deutschen Hoheitsgebiet erzielten Gewinne zu zahlende Steuer umgangen werden solle.961 Die Hinzurechnungsbesteuerung ist auch verhältnismäßig. Denn die abgezogenen Verluste könnten nicht durch die Besteuerung der Einkünfte ausgeglichen werden, da das ausschließliche Besteuerungsrecht hinsichtlich der Betriebstätteneinkünfte bei Österreich liege.962 Hier liegt der entscheidende Unterschied zum früheren Urteil Nordea Bank, in welchem die Verhältnismäßigkeit der innerstaatlichen Vorschrift verneint wurde. In diesem Sachverhalt wurden die vor der Veräußerung erwirtschafteten Gewinne der ausländischen Betriebstätte sowie der Veräußerungsgewinn im Ansässigkeitsstaat der Muttergesellschaft besteuert, sodass die Symmetrie zwischen dem Besteuerungsrecht und dem Verlustabzug nicht gewahrt war. Im Fall Timac Agro lag das Besteuerungsrecht hingegen beim Ansässigkeitsstaat der Betriebstätte, sodass die Gewinne und Verluste im Ansässigkeitsstaat der Muttergesellschaft von der Besteuerung freigestellt wurden. Die Bejahung der Verhältnismäßigkeit der Hinzurechnung bedeute jedoch nicht, „dass der Mitgliedstaat, in dem die veräußernde Gesellschaft ansässig ist, die in den [Randnummern 55 und 56 des Urteils Marks & Spencer 963] aufgestellten Grundsätze nicht beachten müsste“, da die Hinzurechnung „keine Auswirkung auf die Einstufung des betreffenden Verlusts“ habe.964 Weist die Muttergesellschaft somit nach, dass es sich bei den Verlusten der Betriebstätte um finale Verluste handelt, liegt ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit vor, sofern ihr der Verlustabzug versagt wird. Da im vorliegenden Fall nicht alle Möglichkeiten zur Berücksichtigung der Verluste ausgeschöpft wurden, geht der EuGH davon aus, dass keine finalen Verluste vorliegen.965 Im Anschluss an die Prüfung der deutschen Vorschrift hatte sich der EuGH mit einer Änderung dieser Regelung zu befassen. Danach konnten die Verluste einer ausländischen Betriebstätte ab dem Veranlagungszeitraum 1999 – anders als in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 – in Deutschland nicht mehr berücksichtigt werden, falls der Mitgliedstaat, in dem die Betriebstätte belegen war, die ausschließliche Besteuerungsbefugnis hinsichtlich der Ergebnisse dieser Betriebstätte hatte.966 Der EuGH stellt hierbei fest, dass „die Situation einer in Österreich belegenen Betriebstätte, über deren Ergebnisse die Bundesrepublik Deutschland keine Steuerhoheit ausübt und deren Verluste in Deutschland nicht mehr abzugsfähig sind, […] nicht mit der Situation einer in Deutschland 961 

EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 44. EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 51. 963  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 55 f. 964  EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 52. 965  EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 56. 966  EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 59. 962 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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belegenen Betriebstätte vergleichbar ist“.967 Die Beschränkung ist somit bereits deshalb statthaft, sodass es einer weiteren Rechtfertigungsprüfung nicht mehr bedarf. h)  Bevola

Im Urteil Bevola968 ging es um eine dänische Gesellschaft, die zu einem Konzern gehörte und eine finnische Betriebstätte unterhielt. Nach den streitigen dänischen Regelungen umfasste das steuerpflichtige Einkommen nicht Einnahmen und Ausgaben von im Ausland belegenen Betriebstätten. Die Regelungen sahen jedoch die Möglichkeit einer „internationalen gemeinsamen Besteuerung“ vor, wonach die oberste Muttergesellschaft entscheiden konnte, dass alle – ansässigen oder nicht ansässigen – verbundenen Gesellschaften, einschließlich ihrer im Inland oder im Ausland belegenen Betriebstätten, in Dänemark steuerpflichtig waren; an diese Wahl war sie zehn Jahre gebunden.969 Wurde diese Option gewählt, konnte die Gesellschaft die Verluste ihrer ausländischen Betriebstätte genauso abziehen wie die Verluste ihrer inländischen Betriebstätte. Eine solche Option hatte die Gesellschaft vorliegend jedoch nicht gewählt. Der Gesellschaft wurde es daher verwehrt, die Verluste der Betriebstätte steuerlich geltend zu machen, obwohl die Verluste seit der Schließung der Betriebstätte in Finnland nicht abgezogen werden konnten. Nach Ansicht des EuGH stellt eine solche nationale Regelung eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar, da die Ungleichbehandlung es für eine inländische Gesellschaft weniger attraktiv mache, ihre Tätigkeiten über eine in einem anderen Mitgliedstaat belegene Betriebstätte auszuüben.970 Zwar könnten die Gesellschaften zur internationalen gemeinsamen Besteuerung optieren, dieser Vorteil unterliege jedoch zwei Voraussetzungen, die nach Ansicht des EuGH „eine schwere Bürde darstellen“: Zum einen setze er voraus, dass die gesamten Einkünfte des Konzerns in Dänemark körperschaftsteuerpflichtig seien; zum anderen gelte die Wahl für zehn Jahre.971 Im Rahmen der Vergleichbarkeit der Situation von in- und ausländischen Betriebstätten weist der EuGH darauf hin, dass für ihn in den Urteilen Nordea Bank und Timac Agro keine Notwendigkeit bestand, sich mit dem Zweck der nationalen Bestimmungen zu befassen, „wenn diese für die im Ausland bele967  EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 65; vgl. EuGH v. 17.7.2014, C-48/­13 – Nordea Bank, EuZW 2014, 787 Rn. 24 mwN. 968  EuGH v. 12.6.2018, C-650/­16 – Bevola, BB 2018, 1697. Im konkreten Fall ging es um §§ 8 Abs. 2, 31 A des dänischen Selskabsskattelov (Körperschaftsteuergesetz). 969  EuGH v. 12.6.2018, C-650/­16 – Bevola, BB 2018, 1697 Rn. 5 f., 21. 970  EuGH v. 12.6.2018, C-650/­16 – Bevola, BB 2018, 1697 Rn. 29. 971  EuGH v. 12.6.2018, C-650/­16 – Bevola, BB 2018, 1697 Rn. 27.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

genen und für die im Inland belegenen Betriebstätten dieselbe steuerliche Behandlung“ vorsahen.972 Der EuGH stellt aber im vorliegenden Urteil klar, dass diese früheren Urteile nicht dahin verstanden werden könnten, dass „zwei Sachverhalte, die das nationale Steuerrecht unterschiedlich behandelt, nicht als vergleichbar angesehen werden“ könnten.973 Vorliegend sollte mit der streitigen nationalen Vorschrift der doppelte Verlustabzug vermieden werden. In Anbetracht dieses Ziels befinden sich in- und ausländische Betriebstätten hinsichtlich finaler Verluste in einer objektiv vergleichbaren Situation; gleiches gilt für die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft mit in- und ausländischen Betriebstätten mit finalen Verlusten.974 Die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ist nach Ansicht des EuGH durch die ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten gerechtfertigt, da eine Gesellschaft nicht frei wählen dürfe, in welchem Mitgliedstaat sie die Verluste geltend macht.975 Auch greift der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz des Steuersystems. Der steuerliche Vorteil, dass eine inländische Gesellschaft die Verluste ihrer ebenfalls inländischen Betriebstätte geltend machen kann, stehe in unmittelbarem Zusammenhang mit der Einbeziehung etwaiger Gewinne der inländischen Betriebstätte in das steuerpflichtige Ergebnis der Gesellschaft.976 Letztlich könne die Beschränkung auch durch die Vermeidung der Gefahr einer doppelten Verlustberücksichtigung gerechtfertigt werden. Die streitige Regelung ist aber dann unverhältnismäßig, wenn es sich um finale Verluste handelt, da die Entsprechung von Besteuerung und Leistungsfähigkeit der Gesellschaft in einem solchen Fall besser gewährleistet sei, wenn die finalen Verluste abgezogen werden könnten.977 Die Finalität der Verluste der finnischen Betriebstätte muss die dänische Gesellschaft nachweisen. Der EuGH überträgt hier seine Rechtsprechung zum Abzug von finalen Verlusten ausländischer Tochtergesellschaften ausdrücklich auf die Verluste ausländischer Betriebstätten.978

972 

EuGH v. 12.6.2018, C-650/­16 – Bevola, BB 2018, 1697 Rn. 34. EuGH v. 12.6.2018, C-650/­16 – Bevola, BB 2018, 1697 Rn. 35. 974  EuGH v. 12.6.2018, C-650/­16 – Bevola, BB 2018, 1697 Rn. 38 f. 975  EuGH v. 12.6.2018, C-650/­16 – Bevola, BB 2018, 1697 Rn. 42 f. 976  EuGH v. 12.6.2018, C-650/­16 – Bevola, BB 2018, 1697 Rn. 46 ff. 977  EuGH v. 12.6.2018, C-650/­ 16 – Bevola, BB 2018, 1697 Rn. 59. Der EuGH führe damit den Gedanken der Leistungsfähigkeit in die Verhältnismäßigkeitsprüfung ein: Hu­ feld, in: BeckOK EStG, § 2a Rn. 126. 978  EuGH v. 12.6.2018, C-650/­16 – Bevola, BB 2018, 1697 Rn. 64. 973 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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i)  NN

Im aktuellen Urteil des EuGH NN 979 ging es erneut um eine dänische Gesellschaft, die Teil eines Konzerns war. Sie hatte zwei Tochtergesellschaften in Schweden, die wiederum jeweils eine Betriebstätte in Dänemark hielten. Als diese Betriebstätten zu einer einzigen Betriebstätte fusioniert wurden, wurde der Gesellschaft verwehrt, die Verluste aus der Fusion auf das steuerliche Gesamteinkommen des Konzerns anzurechnen. In Schweden wurde der Vorgang als nicht steuerbare Neugliederung behandelt. Die dänischen Vorschriften sahen vor, dass dänische Konzerngesellschaften sowie die Betriebstätten des Konzerns gemeinsam zu besteuern waren. Hiervon waren auch die in Dänemark belegenen Betriebstätten von Konzerngesellschaften umfasst, die ihren Sitz im Ausland hatten. Der Verlust einer solchen Betriebstätte konnte jedoch nur dann auf das in Dänemark zu versteuernde Konzerneinkommen angerechnet werden, wenn dieser Verlust im Ansässigkeitsstaat der ausländischen Konzerngesellschaft nicht berücksichtigt werden konnte. Das DBA sah das Anrechnungsverfahren vor. In der dänischen Vorschrift sah der EuGH eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, da ein Konzern, der über eine ausländische Tochtergesellschaft eine Betriebstätte in Dänemark unterhält, ungünstiger behandelt werde als ein Konzern, dessen sämtliche Gesellschaften ihren Sitz in Dänemark haben, und die Gründung von Tochtergesellschaften in anderen Mitgliedstaaten damit weniger attraktiv sei.980 Auch im vorliegenden Urteil stellt der EuGH fest, dass sich Gesellschaften mit einer ausländischen Betriebstätte grundsätzlich nicht in einer vergleichbaren Situation befinden wie Gesellschaften mit einer inländischen Betriebstätte.981 Dies gelte seiner Ansicht nach entsprechend für Konzerne, deren ausländische Tochtergesellschaft eine inländische Betriebstätte unterhält, im Vergleich zu Konzernen, deren Tochtergesellschaften und Betriebstätten im Inland ansässig sind.982 Handelt es sich jedoch um finale Verluste, befänden sich Konzerne mit einer ausländischen Tochtergesellschaft und rein nationale hinsichtlich der steuerlichen Leistungsfähigkeit in einer objektiv vergleichbaren Situation.983

979  EuGH v. 4.7.2018, C-28/­17 – NN, EuZW 2018, 832. Im konkreten Fall ging es um § 31 Abs. 1 des dänischen Selskabsskatteloven (Körperschaftsteuergesetz) sowie um Art. 25 des nordischen Abkommens. 980  EuGH v. 4.7.2018, C-28/­17 – NN, EuZW 2018, 832 Rn. 29 f. 981  EuGH v. 4.7.2018, C-28/­17 – NN, EuZW 2018, 832 Rn. 33 mwN. 982 EuGH v. 4.7.2018, C-28/­ 17 – NN, EuZW 2018, 832 Rn. 34; vgl. auch: EuGH v. 6.9.2012, C-18/­11 – Philips Electronics, EuZW 2013, 238 Rn. 19. 983  EuGH v. 4.7.2018, C-28/­17 – NN, EuZW 2018, 832 Rn. 35.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Die Beschränkung ist nicht durch den Rechtfertigungsgrund der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten gerechtfertigt. Im Gegensatz dazu ist jedoch der Rechtfertigungsgrund der Vermeidung des doppelten Verlustabzugs einschlägig. Denn ohne die streitige dänische Regelung würde einem grenzüberschreitenden Sachverhalt gegenüber dem vergleichbaren innerstaatlichen Sachverhalt, in dem der doppelte Abzug nicht möglich ist, ein ungerechtfertigter Vorteil gewährt werden.984 Zwar stellt der EuGH ausdrücklich fest, dass die DBA zwischen den Mitgliedstaaten nicht unberücksichtigt gelassen werden dürfen, dennoch ist die Beschränkung nicht aus diesem Grund gerechtfertigt, da Dänemark aufgrund des DBA vorliegend keine Möglichkeit hätte, die Verluste der Betriebstätte doppelt zu berücksichtigen.985 Die streitige Vorschrift ist jedoch unverhältnismäßig, da dem dänischen Konzern jede tatsächliche Möglichkeit genommen werde, den Verlust der Betriebstätte seiner ausländischen Tochtergesellschaft abzuziehen.986 Die Vorschrift wäre hingegen verhältnismäßig, wenn der Konzern nachweist, dass die Anrechnung des Verlusts auf das Ergebnis seiner Tochtergesellschaft in dem anderen Mitgliedstaat tatsächlich unmöglich ist.987 3.  Stellungnahme und Meinungen der Literatur

Das Grundproblem der Rechtsprechung im Bereich der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung ist, dass der EuGH zum Teil direkt in die nationale Steuersouveränität der Staaten eingreift. So werden der Ansässigkeitsstaat der Muttergesellschaft bzw. der Stammhausstaat zumindest im Falle von im Ausland entstandenen finalen Verlusten dazu verpflichtet, diese trotz im DBA vereinbarter Freistellungsmethode anzuerkennen. Der EuGH setzt sich damit ausdrücklich über die grundsätzliche Ausgestaltung der Freistellungsmethode sowie über die zwischen den Vertragsstaaten vereinbarte Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse hinweg. Hierzu stellt der EuGH zunächst fest, dass die direkten Steuern nach ständiger Rechtsprechung in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen.988 Die Mitgliedstaaten sind bei der Besteuerung grundsätzlich souverän und können daher selbst bestimmen, welche Einkünfte sie besteuern und ob sie die Verrechnung von Verlusten anerkennen oder nicht. Es gibt unionsrechtlich somit keine Vorgaben, wie Verluste zu behandeln sind. Darüber hinaus finden sich weder in 984 

EuGH v. 4.7.2018, C-28/­17 – NN, EuZW 2018, 832 Rn. 48. EuGH v. 4.7.2018, C-28/­17 – NN, EuZW 2018, 832 Rn. 45. 986  EuGH v. 4.7.2018, C-28/­17 – NN, EuZW 2018, 832 Rn. 54. 987  EuGH v. 4.7.2018, C-28/­17 – NN, EuZW 2018, 832 Rn. 55. 988  Vgl. EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 29. 985 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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den jeweiligen DBA noch im OECD-MK Bestimmungen zum Umgang mit Verlusten, sodass insofern Lücken bestehen – sei es bewusst oder unbewusst. In Art. 23A Nr. 44 OECD-MK wird lediglich darauf hingewiesen, dass die Lösung in erster Linie vom innerstaatlichen Recht der Vertragsstaaten abhänge und für den Artikel selbst keine Lösung vorgeschlagen werden könne, da die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten der OECD wesentlich voneinander abweichen. Es bleibt somit den Vertragsstaaten überlassen, die Behandlung von Verlusten zweiseitig zu klären. Das bedeutet aber auch, dass in die im DBA vereinbarte Zuteilung der Besteuerungsbefugnisse von außen grundsätzlich nicht eingegriffen werden darf. Wie der EuGH aber in ständiger Rechtsprechung festgestellt hat, müssen die Staaten ihre Befugnisse aber unter Wahrung des Unionsrechts ausüben.989 An dieser Stelle wirken die Grundfreiheiten im Bereich der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung auf die unilateralen nationalen Regelungen der Mitgliedstaaten sowie auf die DBA ein, im Falle von DBA genauer gesagt auf die im Abkommen vereinbarte Freistellungsmethode. Demgemäß verpflichtet der EuGH unter bestimmten Voraussetzungen den Ansässigkeitsstaat des Stammhauses, die ausländischen Betriebstättenverluste trotz fehlender Besteuerungsbefugnis zu berücksichtigen. Zwar ergingen die Urteile des EuGH entweder zur unternehmens- oder zur konzerninternen Verlustverrechnung oder zur Hinzurechnung von abgezogenen Verlusten bei späteren Betriebstättengewinnen. Der EuGH hat jedoch bereits seit dem Urteil Lidl Belgium eine einheitliche Rechtsprechung sowie einheitliche Grundsätze sowohl für Betriebstätten als auch für Tochtergesellschaften entwickelt. Zudem wendet er diese Grundsätze ausdrücklich auch auf die Fälle der Nachversteuerung an.990 Aus diesem Grund soll die Rechtsprechung des EuGH im Folgenden einheitlich untersucht und dargestellt werden. Mittlerweile scheint geklärt zu sein, dass der grenzüberschreitende Verlustabzug wohl erforderlich ist. Lediglich die genauen Regelungen bzw. die genaue Ausgestaltung sind teilweise noch unklar. Der EuGH folgt im Bereich der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung im Großen und Ganzen einer klaren Linie. Lediglich im Urteil Timac Agro, dem eine „Rüttelvorlage“991 des FG Köln zugrunde lag, schien der EuGH von seiner sonst vertretenen Ansicht abzuweichen und das System des Abzugs finaler Verluste aufzugeben. Indessen kehrt der EuGH wieder zu seiner früheren Marks & Spencer-Rechtsprechung zurück und wendet seine Grundsätze auch auf Freistellungsbetriebstätten an. Im Urteil 989 

Vgl. EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 29. EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 52. Kritisch: Pohl/­Burwitz, FR 2016, 561 (563 f.). 991 So Mitschke, IStR 2014, 733 (740); Schlücke, FR 2016, 126 (130). 990  Vgl.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Bevola überträgt er die zu Kapitalgesellschaften aufgestellten Grundsätze zudem ausdrücklich auf Fälle ausländischer Betriebstätten. a)  Beschränkung

Dass der EuGH in den dargestellten Urteilen stets von einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ausgeht, ist wenig überraschend, da die streitigen nationalen Vorschriften grenzüberschreitende Sachverhalte ungünstiger behandeln als rein nationale. Dem ist also nichts hinzuzufügen. Hinzuzufügen ist lediglich, dass der EuGH bereits im Urteil Marks & Spencer klarstellt, dass die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit auch für Outbound-Fälle gilt, sodass sich das Beschränkungsverbot daher auch im Herkunftsstaat als Diskriminierungsverbot entfaltet.992 Dies entspricht jedoch mittlerweile den allgemeinen Grundsätzen. b)  Vergleichbare Situation

Der EuGH geht in den dargestellten Urteilen fast durchgehend von der Vergleichbarkeit der Situationen aus, häufig ohne weitere Erwähnung oder Begründung. Hieran ist vereinzelt – zu Recht – Kritik geäußert worden.993 Fast erscheint es so, als würde der EuGH die vergleichbare Situation nach Belieben in denjenigen Fällen prüfen, in denen es für die Ergebnisbegründung als geboten erscheint.994 So wurde bereits vorgeschlagen, das bisherige Erfordernis einer Prüfung der objektiven Vergleichbarkeit der Situationen nicht mehr vorzunehmen.995 Der EuGH hält die Prüfung jedoch weiterhin für erforderlich.996

992 EuGH v. 13.12.2005, C-446/­ 03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 34; Englisch, IStR 2006, 19 (22); Scheunemann, RIW 2006, 75 (80). 993  Englisch, IStR 2014, 561. 994 Ebenso: Englisch, IStR 2014, 561. 995 Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.3.2014, C-48/­ 13 Rn. 21 ff.: „Obwohl ich in der Vergangenheit selbst solche Prüfungen durchgeführt habe, erscheint es mir an der Zeit, davon Abstand zu nehmen.“ (Rn. 22). Das Erfordernis einer Prüfung der objektiven Vergleichbarkeit der Situationen könne als ein „dogmatisches Überbleibsel gesehen werden aus der Zeit, als der Gerichtshof im Bereich der Niederlassungsfreiheit nur ausdrücklich im Vertrag vorgesehene Rechtfertigungsgründe akzeptierte“ (Rn. 23). Begründet wird dieser Vorschlag damit, dass weder eine Abgrenzung zur Prüfung eines Rechtfertigungsgrundes möglich sei noch Kriterien erkennbar seien, in welchen Fällen die objektive Vergleichbarkeit überhaupt zu verneinen sei; zudem verhindere eine solche Feststellung einen angemessenen Ausgleich zwischen der Grundfreiheit und dem jeweiligen Grund einer Ungleichbehandlung. Zustimmend: Musil, EuZW 2016, 785 (789); a. A.: Englisch, IStR 2014, 561. 996  Vgl. EuGH v. 17.7.2014, C-48/­13 – Nordea Bank, EuZW 2014, 787 Rn. 23 ff.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Es bleibt abzuwarten, wie sich die Diskussion um dieses Erfordernis weiter entwickeln wird. Ungeachtet dieser prinzipiellen Fragen werden im Folgenden die Fragen zur objektiv vergleichbaren Situation differenzierter betrachtet und dargestellt. Hierbei ist zwischen den verschiedenen Konstellationen bzw. Vergleichsgruppen zu unterscheiden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Vergleichbarkeit eines grenzüberschreitenden Sachverhalts mit einem innerstaatlichen Sachverhalt unter Berücksichtigung des mit den fraglichen nationalen Bestimmungen verfolgten Ziels zu prüfen.997 aa)  Inländische und ausländische Betriebstätten

Zunächst soll die Vergleichbarkeit von in- und ausländischen Betriebstätten untersucht werden. Hierzu hat der EuGH ausgeführt, dass sich Gesellschaften mit einer inländischen Betriebstätte in Bezug auf Maßnahmen des ausländischen Staats zur Vermeidung der Doppelbesteuerung grundsätzlich nicht in einer vergleichbaren Situation mit Gesellschaften mit einer ausländischen Betriebstätte befänden.998 Die Situation von in- und ausländischen Betriebstätten sei jedoch dann vergleichbar, wenn der Staat des Stammhauses über die Gewinne der ausländischen Betriebstätte das Besteuerungsrecht ausübe und es damit zulasse, dass Verluste der ausländischen Betriebstätte im Stammhaus abgezogen werden könnten, wie wenn die Betriebstätte in Deutschland belegen gewesen wäre.999 Der grundsätzliche Ansatz des EuGH ist folgerichtig und wird auch für die Frage des grenzüberschreitenden Konzernabzugs eine Rolle spielen. Ansatzpunkt der Symmetriethese ist das Besteuerungsrecht. Dieses kann der Stammhausstaat bei rein nationalen Fällen stets über die Betriebstätte ausüben, ohne dass es einer besonderen Entscheidung dazu bedarf. Auf die Frage, ob auch tatsächlich eine Besteuerung erfolgt, kommt es nicht an. Bei grenzüberschreitenden Fällen liegt derselbe Sachverhalt vor, sodass der Stammhausstaat wegen der Bindung der Betriebstätte an das Stammhaus auch das Besteuerungsrecht 997  EuGH

v. 25.2.2010, C-337/­08 – X Holding, Slg. 2010, I-1215 Rn. 22; v. 12.6.2014, C-39/­13 u. a. – SCA Group Holding, EuZW 2014, 699 Rn. 28; v. 22.6.2017, C-20/­16 – Bechtel, DStRE 2018, 7 Rn. 53; v. 12.6.2018, C-650/­16 – Bevola, BB 2018, 1697 Rn. 32; v. 4.7.2018, C-28/­17 – NN, EuZW 2018, 832 Rn. 31. 998 EuGH v. 17.12.2015, C-388/­ 14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 27, 65; v. 17.7.2014, C-48/­ 13 – Nordea Bank, EuZW 2014, 787 Rn. 24 mwN; v. 12.6.2018, C-650/­16  – Bevola, BB 2018, 1697 Rn. 37; v. 4.7.2018, C-28/­17 – NN, EuZW 2018, 832 Rn. 33. 999 EuGH v. 17.12.2015, C-388/­ 14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 28; v. 23.10.2008, C-157/­07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 35; v. 17.7.2014, C-48/­13  – Nordea Bank, EuZW 2014, 787 Rn. 24 mwN.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

über die Betriebstättengewinne ausüben kann. Daran hindert ihn auch das Betriebstättenprinzip nach Art. 7 Abs. 1 S. 1 Var. 2 OECD-MA nicht, da Art. 7 Abs. 1 S. 2 OECD-MA klarstellt, dass der Stammhausstaat sein Besteuerungsrecht nicht verliert, sondern der Betriebstättenstaat auch das Besteuerungsrecht hat, sodass das Besteuerungsrecht auf Ebene des Methodenartikels entschieden wird. Da der Betriebstättenstaat im Fall der Anrechnungsmethode auch weiterhin sein Besteuerungsrecht ausübt, und nur die Quellensteuern anzurechnen hat, ist allein unklar, ob im Fall der Freistellungsmethode die Vergleichbarkeit zu verneinen ist. Im Timac Agro-Urteil hat der EuGH hierzu Folgendes festgestellt: Können die Verluste der Betriebstätte im Stammhausstaat deshalb nicht berücksichtigt werden, weil der Betriebstättenstaat aufgrund eines DBA mit dem Stammhausstaat die ausschließliche Befugnis zur Besteuerung der Ergebnisse dieser Betriebstätte hat (Freistellung), übe der Stammhausstaat das Besteuerungsrecht über die Gewinne der ausländischen Betriebstätte nicht aus, sodass auch keine vergleichbare Situation vorliege.1000 Diese Formulierung wurde von der Literatur dahingehend verstanden, dass im Falle der vereinbarten Freistellungsmethode für Betriebstättengewinne keine vergleichbare Situation vorliege.1001 Das würde dazu führen, dass die Symmetriethese auch für finale Verluste durchgreift und die Verweigerung des Abzugs finaler Verluste nicht gegen die Grundfreiheiten verstößt. Bereits im Urteil Bevola1002 rückte der EuGH jedoch von dieser Rechtsprechung wieder ab und ließ einen Abzug finaler Betriebstättenverluste entsprechend seiner ursprünglich entwickelten Grundsätze wieder zu. Das Urteil Timac Agro stellt somit kein abschließendes Kapitel für finale Verluste von Freistellungsbetriebstätten dar.1003 Diese durch den EuGH im Ur1000 EuGH v. 17.12.2015, C-388/­ 14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 64; ebenso: EuGH v. 23.10.2008, C-157/­07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 (Tenor). Der Bundesfinanzhof (BFH v. 22.2.2017 – I R 2/­15, BStBl. II 2017, S. 709) nahm diese Entscheidung zum Anlass, seine langjährige Rechtsprechung zu den finalen Betriebstättenverlusten zu ändern: Schulz-Trieglaff, IStR 2018, 777 (777). Eine Übersicht zur BFH-Rechtsprechung zu den finalen Verlusten findet sich in: Schumacher, IStR 2016, 473 (476). 1001  Ackermann/­Höft, EuZW 2016, 261; Benecke/­Staats, IStR 2016, 74 (83); Schie­ fer, IStR 2016, 74 (80); Mitschke, FR 2016, 132 (133); Schnitger, IStR 2016, 72 (73); a. A.: Niemann/­Dodos, DStR 2016, 1057 (1063); Schlücke, FR 2016, 130 (131); dies., FR 2018, 648; Kraft, IStR 2018, 502 (508); Böing/­Dokholian, GmbH-StB 2018, 270. 1002  EuGH v. 12.6.2018, C-650/­16 – Bevola, BB 2018, 1697 Rn. 59. 1003  Kraft, IStR 2018, 502 (508); Schlücke, FR 2016, 130; dies., FR 2018, 643 (648); Niemann/­Dodos, DStR 2016, 1057; Ackermann/­Höft, EuZW 2016, 258 (261); Cloer/­ Sejdija, SteuK 2016, 92 (92); Kögel, IWB 2017, 7 (13 f.); Schulz-Trieglaff, IStR 2018, 777 (777); a. A.: Benecke/­Staats, IStR 2016, 74 (83); Mitschke, FR 2016, 126 (132 f.); Schnitger, IStR 2016, 72.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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teil Timac Agro ausdrücklich vorgenommene Einordnung erscheint zunächst nachvollziehbar. Sofern der Stammhausstaat erst keine Möglichkeit hat, die Betriebstättengewinne zu besteuern, besteht auch keine Vergleichbarkeit der Situationen zwischen inländischen und ausländischen Betriebstätten. Der EuGH hat in den nachfolgenden Urteilen diese Schlussfolgerung bedauerlicherweise nicht mehr explizit angesprochen. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob allein die Wahl der Methode zur Vermeidung der Doppelbesteuerung dazu führen kann, dass Verluste nicht anerkannt werden können, auch wenn diese endgültig, also final sind. Wenn sowohl die Anrechnungs- als auch die Freistellungsmethode steuerlich zu demselben Ergebnis führen, der Stammhausstaat die Betriebstättengewinne also tatsächlich nicht besteuert, mutet es befremdlich an, wenn finale Verluste in dem einen Fall anerkannt werden, in dem anderen Fall jedoch nicht. Dabei ist ein Blick auf die Grundfreiheiten, insbesondere die Niederlassungsfreiheit, zu werfen. Denn das Problem entsteht durch den grenzüberschreitenden Sachverhalt, dessen Auswirkungen gerade durch die Niederlassungsfreiheit so weit wie möglich nivelliert werden sollen. Hierzu sind zwei wichtige Aspekte zu beachten. Betrachtet man in diesem Zusammenhang zunächst die Marks & Spen­ cer-Doktrin, fällt auf, dass die Rechtsprechung zu den finalen Verlusten gerade einen solchen Ausgleich zwischen in- und ausländischen Betriebstätten schaffen soll. Die sich aus der Schließung ergebenden Verluste einer inländischen Betriebstätte werden unmittelbar dem Stammhaus zugewiesen, dem sie gehört. Dieselben endgültigen Verluste einer ausländischen Betriebstätte können hingegen keinem Unternehmen zugewiesen werden. Wenn sie nicht der Bemessungsgrundlage des Stammhauses zugewiesen werden können, verbleiben sie daher „im luftleeren Raum“.1004 Diese ungleiche Situation soll durch die Grundsätze über die finalen Verluste gerade vermieden werden, sodass sich bereits aus diesem Grunde die Wahl der Freistellungsmethode nicht auf die Vergleichbarkeit der Situationen auswirken darf. Der zweite Aspekt betrifft den Umstand, dass gerade der grenzüberschreitende Sachverhalt zur Wahl einer der beiden Methodenartikel drängt. Möchten die Vertragsstaaten eine Doppelbesteuerung vermeiden, muss eine der beiden Methoden gewählt werden. Wie bereits dargestellt,1005 haben die beteiligten Staaten hierzu die freie Wahl, sofern beide Methoden zu gleichwertigen Ergebnissen und somit zu einer Gleichbehandlung führen. Vor diesem Hintergrund ist nicht nur die Vermeidung einer Doppelbesteuerung zu betrachten, sondern ebenfalls, dass die gewählte Methode in ihrer gesamten Auswirkung auf die 1004  So treffend: Schlussanträge des Generalanwalts Manuel Campos Sánchez-Bordo­ na v. 17.12.2018, C-650/­16 Rn. 58. 1005  Siehe dazu bereits § 6 C. I.

288

Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Besteuerung keine Nachteile für den Steuerpflichtigen bedeuten darf. Sofern also die Freistellungsmethode dazu führt, dass die finalen Verluste nicht mehr dem Stammhaus zugewiesen werden können, ist dies eine Situation, die die Grundfreiheiten gerade vermeiden wollen, um Gründungen ausländischer Betriebstätten zu erleichtern. Dies führt dazu, dass die Feststellungen des EuGH zur Vergleichbarkeit der Situationen im Fall Timac Agro gerade an dem Ziel der Grundfreiheiten vorbeiführen. Die Vergleichbarkeit der Situationen sollte vorliegend nicht allein durch die formelle Wahl einer Methode zur Vermeidung der Doppelbesteuerung beurteilt werden, sondern durch Umstände, die im Wesen der beteiligten Rechtssubjekte liegen. Deshalb kann es vorliegend keinen Unterschied machen, ob der Stammhausstaat die Betriebstättengewinne freistellt oder nicht. Zwar übt er dann über diese Gewinne sein Besteuerungsrecht nicht aus, jedoch ist diese Frage unbeachtlich, wenn die Verluste tatsächlich final sind. In diesem Zusammenhang ist entweder bereits im Rahmen der Vergleichbarkeit eine inzidente Prüfung der Finalität vorzunehmen oder die Vergleichbarkeit zu unterstellen, um dann auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit den Fall zu beurteilen. bb)  Betriebstätte und Tochtergesellschaft

Eine Betriebstätte ist grundsätzlich nicht mit einer Tochtergesellschaft vergleichbar. Insofern sind die Ausführungen des EuGH im Urteil Lidl Belgium nicht korrekt und missverständlich.1006 Wie der EuGH jedoch zu Recht im Fall X Holding herausgestellt hat, kommt es bei den Tochtergesellschaften darauf an, ob das jeweilige Steuerrecht eine Verlustverrechnung auch grenzüberschreitend zulässt.1007 Andernfalls, wenn also eine Verlustverrechnung nur im rein nationalen Fall möglich ist, liegt schon keine objektiv vergleichbare Situation vor. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Es kommt hier – anders als bei der Vergleichbarkeit von Betriebstätten – nicht auf die Frage der Rechtssubjektfähigkeit an, sondern allein auf die Frage, wie Verluste überhaupt verrechnet werden können. Wegen ihrer eigenständigen Rechtssubjektfähigkeit können Verluste von Tochtergesellschaften nur durch entsprechende steuerrechtliche Bestimmungen bei der Muttergesellschaft geltend gemacht werden. Im Fall X Holding sahen die streitigen Normen zwar eine innerstaatliche (niederländische) steuerliche Einheit vor, nicht jedoch eine grenzüberschreitende. Hierin liege zwar ein

1006  EuGH v. 15.5.2008, C-414/­ 06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 21 f.; a. A.: Rehm/­Nagler, GmbHR 2008, 709 (713). 1007  EuGH, v. 25.2.2010, C-337/­08 – X Holding, Slg. 2010, I-1215 Rn. 43. Im konkreten Fall ging es um Art. 15 Abs. 1, 3 des niederländischen Körperschaftsteuergesetzes von 1969 (Belastingregeling voor het Koninkrijk).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

289

Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit,1008 dieser Verstoß war aber aufgrund der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis gerechtfertigt. Denn die Möglichkeit, eine ausländische Tochtergesellschaft in die rein national wirkende steuerliche Einheit einzubeziehen, liefe darauf hinaus, dass die Muttergesellschaft die freie Wahl hätte, welches Steuersystem auf die Verluste ihrer Tochtergesellschaft anwendbar ist und wo die Verluste berücksichtigt werden.1009 Insbesondere sei keine Ungleichbehandlung darin zu sehen, dass sich ausländische Betriebstätten und ausländische Tochtergesellschaften im Hinblick auf die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis, wie sie sich aus einem DBA ergibt, nicht in einer vergleichbaren Situation befänden. Der EuGH hat zu Recht Folgendes erkannt: „[W]ährend die Tochtergesellschaft als selbständige juristische Person in dem Vertragsstaat eines solchen Doppelbesteuerungsabkommens, in dem sie ihren Sitz hat, unbeschränkt steuerpflichtig ist, gilt dies nicht für die Betriebstätte in einem anderen Mitgliedstaat, die prinzipiell und in beschränktem Umfang weiterhin der Steuerhoheit des Herkunftsstaats unterliegt“.1010 Soweit die Mitgliedstaaten die Inländergleichbehandlung wahren, stehe es ihnen frei, die Höhe der Besteuerung der verschiedenen Niederlassungsformen von im Ausland tätigen inländischen Gesellschaften festzulegen.1011 Dem ist zuzustimmen. Wie zuvor dargestellt, befinden sich Betriebstätten in Bezug auf die Zuweisung ihrer Gewinne zur Muttergesellschaft aus zivilrecht­ licher Sicht in einer vergleichbaren Situation, da es für die Rechtssubjektfähigkeit keinen wesentlichen Unterschied bedeutet, dass bei Tochtergesellschaften eine eigenständige Gewinnausschüttung an die Muttergesellschaft zu erfolgen hat, was bei einer Betriebstätte nicht der Fall ist.1012 Jedoch trifft dies nicht auf die steuerrechtliche Beurteilung der Betriebstätten im Vergleich zu Tochtergesellschaften zu. Die Betriebstätten sind steuerrechtlich an das Stammhaus gebunden, wodurch sie im Ausland auch nur beschränkt steuerpflichtig sind. Hier bedarf es also keiner steuerrechtlichen „Verbindung“ zwischen Betriebstätte und Stammhaus, da diese bereits existiert. Dadurch ist eine Verlustverrechnung möglich, die nur ausnahmsweise durch ein DBA mit Freistellungsmethode ausgeschlossen ist.1013

1008 

EuGH, v. 25.2.2010, C-337/­08 – X Holding, EuGHE 2010, I-1215 Rn. 19. EuGH, v. 25.2.2010, C-337/­08 – X Holding, EuGHE 2010, I-1215 Rn. 31. 1010  EuGH, v. 25.2.2010, C-337/­08 – X Holding, EuGHE 2010, I-1215 Rn. 38; zustimmend: Hufeld, Ubg 2011, 504 (509 f.). 1011  EuGH, v. 25.2.2010, C-337/­08 – X Holding, Slg. 2010, I-1215 Rn. 40; vgl. EuGH v. 6.12.2007, C-298/­05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451 Rn. 51, 53. 1012  Dazu bereits ausführlich: § 6 A. II. 3. b). 1013 Ebenso: Kessler/­Eicke, IStR 2008, 581 (584). 1009 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Eine solche Verlustzuweisung existiert im Verhältnis zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft aufgrund des Trennungsprinzips grundsätzlich nicht.1014 Will die Muttergesellschaft die Verluste ihrer Tochtergesellschaft bei sich abziehen, ist sie zwingend auf eine steuerrechtliche Verbindung ähnlich der einer Betriebstätte angewiesen. Dies ist der unbeschränkten Steuerpflicht geschuldet, die sich auf die Fähigkeit bezieht, ein eigenständiges Rechtssubjekt zu sein. Soll diese dennoch hergestellt werden, ist dies eine Frage des jeweils nationalen Rechts, jedoch keine Frage, die sich aus der Rechtssubjekteigenschaft herleitet. Hierin liegt der signifikante Unterschied zwischen Betriebstätte und Tochtergesellschaft: Bei einer Betriebstätte ist die Gewinn- und Verlustzurechnung bereits aus Gründen der steuerrechtlichen Unselbstständigkeit möglich; verweigert der Stammhausstaat den Abzug ausländischer Betriebstättenverluste beim inländischen Stammhaus, wird ein grundlegendes Besteuerungsprinzip eingeschränkt.1015 Bei der Tochtergesellschaft bedarf es hier jedoch eines Instruments, das die steuerliche Selbstständigkeit überwindet. Wird dieses versagt, liegt hierin lediglich die Versagung einer als Ausnahme zu qualifizierenden steuerlichen Vergünstigung.1016 Eine für die finalen Verluste relevante Vergleichbarkeit der Situationen zwischen Betriebstätte und Tochtergesellschaft ist also nur dann anzunehmen, wenn (1) eine Ergebniskonsolidierung – jedenfalls aber eine Gewinnkonsolidierung – bei der Muttergesellschaft überhaupt steuerrechtlich ermöglicht wird (durch eine Gruppenbesteuerung, steuerliche Einheit, Organschaft etc.), und (2) diese eine grenzüberschreitende Konsolidierung zulässt, sodass der Staat der Muttergesellschaft das Besteuerungsrecht über die Tochtergesellschaft ausübt. So ist es beispielsweise nach § 9 Abs. 2, 2. Spiegelstrich öKStG der Fall, der es zulässt, dass Gruppenmitglieder auch Körperschaften sein können, die in einem Mitgliedstaat der EU oder in einem Staat, mit dem eine umfassende Amtshilfe besteht, ansässig sind. In Deutschland ist ähnliches in § 17 Abs. 1 Satz 1 KStG geregelt, wobei hier jedoch erforderlich ist, dass das jeweils ausländische Recht eine Gewinnabführung zivilrechtlich zulässt.1017 Denn in diesem Fall steht dem Sitzstaat der Muttergesellschaft das Besteuerungsrecht an den Gewinnen der ausländischen Tochtergesellschaft ebenso zu, wie es ihm an einer Betriebstätte zustünde, bei der er das Besteuerungsrecht ausübt.

1014 Ebenso:

Kessler/­Eicke, IStR 2008, 581 (584). Dörfler/­Ribbrock, BB 2008, 649 (654). 1016  Dörfler/­Ribbrock, BB 2008, 649 (654). 1017  Zu dieser Frage ausführlich: Koehler, Der Konzern 2018, S. 325 ff. 1015 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

291

cc)  Vergleichbare Situation nur bei finalen Verlusten gegeben

Wie bereits dargestellt, befinden sich Gesellschaften mit in- und ausländischen Betriebstätten grundsätzlich nicht in einer vergleichbaren Situation.1018 Entsprechendes gelte für einen Konzern, sodass sich dessen ausländische Tochtergesellschaft mit einer inländischen Betriebstätte ebenfalls nicht in einer vergleichbaren Situation mit einer inländischen Tochtergesellschaft und einer ebenfalls inländischen Betriebstätte befinde.1019 Handelt es sich jedoch um finale Verluste der ausländischen Tochtergesellschaft, die der inländischen Betriebstätte zuzurechnen sind, befinden sich Konzerne mit einer ausländischen Tochtergesellschaft und rein nationale Konzerne in einer objektiv vergleichbaren Situation, da die steuerliche Leistungsfähigkeit der beiden Konzerne durch die Verluste der Betriebstätte in gleicher Weise beeinträchtigt werde.1020 c)  Rechtfertigungsgründe

Nach Ansicht des EuGH ist die Beschränkung der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung im Bereich der finalen Verluste grundsätzlich gerechtfertigt. Während der EuGH im Urteil Marks & Spencer noch das gleichzeitige Vorliegen der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, die Vermeidung des doppelten Verlustabzugs und die Gefahr der Steuerflucht für erforderlich hält,1021 hat er diese Ansicht später ausdrücklich aufgegeben,1022 sodass er sogar nur einzelne Rechtfertigungsgründe (Krankenheim Wannsee (Kohärenz 1018 

Siehe dazu unter § 6 A. II. 3. b). EuGH v. 4.7.2018, C-28/­17 – NN, EuZW 2018, 832 Rn. 34. 1020  EuGH v. 4.7.2018, C-28/­17 – NN, EuZW 2018, 832 Rn. 35. 1021  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn 51. Diese Interpretation hat der EuGH im Urteil Lidl Belgium (EuGH v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 39) ausdrücklich bestätigt. Vgl. auch: EuGH v. 3.2.2015, C-172/­13 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324 Rn. 24; v. 21.2.2013, C123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 41 ff.; v. 12.9.2006, C-196/­04 – Cad­ bury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 Rn. 55 f.; v. 29.3.2007, C-347/­04 – Rewe Zentralfinanz, Slg. 2007, I-2647 Rn. 43; v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 60; v. 13.3.2007, C-524/­04 – Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, Slg. 2007, I-2107 Rn. 74; v. 8.11.2007, C-379/­05 – Amurta, Slg. 2007, I-9569 Rn. 56 ff. 1022  EuGH v. 7.9.2006, C-470/­ 04 – N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 47; so ebenfalls im Urteil Amurta (EuGH v. 8.11.2007, C-379/­05 – Amurta, Slg. 2007, I-9569 Rn. 57 ff.), in dem der EuGH zum Bereich der Dividendenbesteuerung nur die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten prüfte, allerdings mangels Vorbringens der Regierungen zu den anderen beiden Rechtfertigungsgründen. Vgl. auch: EuGH v. 18.7.2007, C-231/­05  – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 60; v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 40, 42. 1019 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

des Steuersystems)1023, X Holding1024 und Nordea Bank1025 (jeweils Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten), NN 1026 (Gefahr des doppelten Verlustabzugs)) gelten ließ. Zwar hat der EuGH in den Urteilen A Oy1027 sowie Kommission/­Vereinigtes Königreich1028 unter Verweis auf seine frühere Rechtsprechung wieder die drei Rechtfertigungsgründe aus dem Urteil Marks & Spencer für erforderlich gehalten. Daraus dürfte sich aber nicht herleiten lassen, dass die frühere Forderung nach drei gleichzeitigen Rechtfertigungsgründe wiederauflebt. Insgesamt geht aus den Darstellungen hervor, dass an der Erforderlichkeit von drei Rechtfertigungsgründen nicht mehr festgehalten werden kann, weder im Bereich der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung noch in anderen Bereichen.1029 Es kommt vielmehr auf den konkreten Einzelfall an, welche Rechtfertigungsgründe zu prüfen sind. Der EuGH formuliert dies zutreffend, indem er feststellt, dass „angesichts der Vielfalt von Situationen, in denen ein Mitgliedstaat derartige Gründe geltend machen kann“ nicht verlangt werden könne, alle drei Rechtfertigungsgründe zu fordern.1030 Eine starre Anwendung von drei bestimmten Rechtfertigungsgründen auf alle Sachverhaltskonstellationen ist nicht zielführend und praktisch nicht durchführbar, ohne die Fälle unter diese drei Rechtfertigungsgründe zu pressen. Den einzelnen Rechtfertigungsgründen kommt somit im Ergebnis eine eigenständige Bedeutung zu. aa)  Einzelne Rechtfertigungsgründe (1)  Aufteilung der Besteuerungsbefugnis

Ein ganz zentraler Rechtfertigungsgrund ist die Wahrung der zwischen den Mitgliedstaaten uni- oder bilateral erfolgten Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten. Diesen Rechtfertigungsgrund hatte der EuGH bis zum Urteil Marks & Spencer bei Beschränkungen durch den An-

1023 

EuGH v. 23.10.2008, C-157/­07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061. EuGH v. 25.2.2010, C-337/­08 – X Holding, Slg. 2010, I-1215. 1025  EuGH v. 17.7.2014, C-48/­13 – Nordea Bank, EuZW 2014, 787. 1026  EuGH v. 4.7.2018, C-28/­17 – NN, EuZW 2018, 832. 1027  EuGH v. 21.2.2013, C-123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269. 1028  EuGH v. 3.2.2015, C-172/­ 13 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324. 1029  Vgl. auch: Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston v. 14.2.2008, C-414/­06 Rn. 18. 1030 EuGH v. 15.5.2008, C-414/­ 06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 40; a. A.: Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston v. 14.2.2008, C-414/­06 Rn. 18. 1024 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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sässigkeitsstaat stets abgelehnt.1031 Wie bereits dargestellt, führt eine nationale Steuerregelung dann zu einer angemessenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, wenn sie die Symmetrie zwischen dem Recht zur Besteuerung der Gewinne und der Möglichkeit, Verluste in Abzug zu bringen, wahrt.1032 Die Wah­ rung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse gewährt den Mitgliedstaaten das Recht, die von ihnen vereinbarte Besteuerungsbefugnis wahrzunehmen und zu schützen.1033 Hierzu gehört insbesondere, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, negative Einkünfte (Verluste) zu berücksichtigen, für die ein anderer Mitgliedstaat die Besteuerungsbefugnis hat.1034 Bei der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung ist insbesondere maßgebend, dass Gesellschaften keine Möglichkeit erhalten dürfen, für die Berücksichtigung ihrer Verluste in ihrem Ansässigkeitsstaat oder in einem anderen Mitgliedstaat zu optieren.1035 Andernfalls wäre die zwischen den Vertragsstaaten vereinbarte Aufteilung der Besteuerungsbefugnis gestört, da die Gesellschaften die Verluste willkürlich auf die verschiedenen Staaten verteilen könnten. Dass der Rechtfertigungsgrund der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten bei den finalen Verlusten fast immer eingreift, ist folgerichtig. Denn die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden, konzerninternen Verlustverrechnung ist letztendlich eine Frage der territorialen Allokation der Steuerhoheit hinsichtlich des Konzerngewinns bzw. -verlusts und somit des Territorialitätsprinzips,1036 oder anders gesagt: Die bi1031  Vgl. EuGH v. 14.12.2000, C-141/­99 – AMID, Slg. 2000, I-11619 Rn. 33; v. 7.9.2004, C-319/­02  – Manninen, Slg. 2004, I-7477 Rn. 38 f.; v. 16.7.1998, C-264/­96 – ICI, Slg. 1998, I4695 Rn. 26; v. 12.12.2002, C-324/­00 – Lankhorst-Hohorst, Slg. 2002, I-11779 Rn. 37; v. 8.3.2001, C-397/­98 und C-410/­98 – Metallgesellschaft und Hoechst, Slg. 2001, I-1727 Rn. 57; Schlussanträge des Generalanwalts Siegbert Alber v. 8.6.2000, C-141/­99 Rn. 4. Der EuGH hatte den Rechtfertigungsgrund der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten zuvor nur im Urteil Futura Participations (EuGH v. 15.5.1997, C-250/­95 – Futura Participations, Slg. 1997, I-2471 Rn. 22) anerkannt, dieser Fall betraf jedoch eine Beschränkung durch den Quellenstaat. Vgl. auch: Englisch, IStR 2006, 19 (22); Schiller, EuR 2006, 266 (278). 1032  EuGH v. 12.9.2006, C-196/­ 04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 Rn. 56; v. 15.5.2008, C-414/­ 06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 31 ff.; v. 17.12.2015, C-388/­14  – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 38; Weber-Grellet, DStR 2009, 1229 (1231). 1033  Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.3.2014, C-48/­13 Rn. 38. 1034 Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.3.2014, C-48/­ 13 Rn. 39 ff.; Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston v. 14.2.2008, C-414/­06 Rn. 12; vgl. EuGH v. 6.9.2012, C-18/­11 – Philips Electronics, EuZW 2013, 238 Rn. 24; v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 55; v. 25.2.2010, C-337/­08 – X Hol­ ding, Slg. 2010, I-1215 Rn. 29; v. 21.2.2013, C-123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 43. 1035  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 46. 1036  Scheunemann, RIW 2006, 75 (80); ders., IStR 2005, 303 (305 f.); kritisch: Schlussanträge des Generalanwalts Luís Miguel Poiares Maduro v. 7.4.2005, C-446/­03 Rn. 62 ff.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

lateral eingeräumte Befugnis, das Ergebnis eines Steuersubjekts zu besteuern, umfasst zwingend das positive als auch das negative Ergebnis, sodass Verlustverrechnung und Steuerhoheit Hand in Hand gehen. Auch die Symmetriethese beruht auf dem Territorialitätsprinzip,1037 sodass sie eng mit der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis verknüpft ist, was insbesondere für den Quellenstaat bedeutend ist, dessen Beschränkung des Steuerzugriffs sich gerade aus dem Territorialitätsprinzip ergibt.1038 So ist es nur natürlich, dass das Territorialitätsprinzip es rechtfertigt, Verlustvorträge von Betriebstätten auf solche Verluste zu beschränken, die in einem wirtschaftlichen Zusammenhang mit im Betriebstättenstaat erzielten Gewinnen stehen.1039 Der EuGH scheint jedoch keine klare Linie zu verfolgen, wenn er die Symmetrie von Gewinn- und Verlustberücksichtigung einmal als Ausfluss des Territorialitätsprinzips anerkannt,1040 andererseits aber auch unter den Rechtfertigungsgrund der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse subsumiert.1041 (2)  Gefahr der doppelten Verlustberücksichtigung

Der Rechtfertigungsgrund der Gefahr der doppelten Verlustberücksichtigung im Rahmen von finalen Verlusten wird sowohl bei Betriebstätten als auch bei Tochtergesellschaften geprüft. Bereits in früheren Urteilen hat der EuGH die doppelte Inanspruchnahme steuerlicher Vergünstigungen als Rechtfertigungsgrund anerkannt;1042 letztlich ist sie das, was der Generalanwalt Poiares Maduro als „Kohärenz“ des nationalen Steuerrechts bezeichnet.1043 1037  Englisch, Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, S. 41; Dörr, EWS 2006, 30 (35); kritisch zum Symmetrieprinzip: Rehm/­Nagler, IStR 2008, 129 (138). 1038  Englisch, Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, S. 37 mwN. 1039  EuGH v. 15.5.1997, C-250/­95 – Futura Participations, Slg. 1997, I-2471 Rn. 21 f. 1040  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 44 ff.; v. 28.2.2008, C-293/­06 – Deutsche Shell, Slg. 2008, I-1129 Rn. 42. Zur Umsetzung des Territorialitätsprinzips durch der Symmetriethese auch im Ansässigkeitsstaat: Englisch, Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, S. 46 mwN. 1041  EuGH v. 29.3.2007, C-347/­0 4 – Rewe Zentralfinanz, Slg. 2007, I-2647 Rn. 41 ff.; v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 53. 1042  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­ 03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 45; v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 51; v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 34; v. 6.9.2012, C-18/­11 – Philips Electronics, EuZW 2013, 238 Rn. 28; vgl. auch: Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 19.4.2012, C-18/­11 Rn. 68; Schiefer, IStR 2012, 847 (850); v. 12.12.2002, C-385/­00 – de Groot, Slg. 2002, I-11819 Rn. 99 ff.; v. 7.9.2004, C-319/­02 – Manninen, Slg. 2004, I-7477 Rn. 34; Englisch, IStR 2006, 19 (22). 1043 Schlussanträge des Generalanwalts Luís Miguel Poiares Maduro v. 7.4.2005, C-446/­03 Rn. 65 ff.; Schiller, EuR 2006, 266 (278).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Im Falle von finalen Verlusten besteht jedoch keine Gefahr einer doppelten Verlustberücksichtigung,1044 da im Quellenstaat gerade keine Verlustnutzung möglich ist. In den übrigen Fällen, also bei laufenden Verlusten, kann sie dadurch vermieden werden, dass eine Nachversteuerung der zuvor abgezogenen Verluste erfolgt, sobald die ausländische Betriebstätte oder Gesellschaft wieder Gewinne erwirtschaftet.1045 Im Gegensatz zu inländischen Sachverhalten muss eine solche Nachversteuerung bei grenzüberschreitenden Fällen aber ausdrücklich geregelt werden.1046 Die Gefahr einer doppelten Verlustberücksichtigung besteht auch nicht im Fall von Betriebstättenverlusten. Da die Verluste dem Stammhaus zugerechnet werden, besteht hier kein Wahlrecht hinsichtlich des Mitgliedstaates, in dem die Verluste geltend gemacht werden sollen.1047 Bei der unternehmensinternen Verlustverrechnung schafft alleine der Stammhausstaat die Voraussetzungen für die doppelte Verlustverrechnung, wenn er die Möglichkeit einer Nachversteuerung der früher berücksichtigten Betriebstättenverluste aufgibt.1048 Die Gefahr der doppelten Verlustberücksichtigung droht somit nur bei der konzerninternen Verlustverrechnung, bei der die betroffenen Staaten die Verlustübertragung selbst gestalten können.1049 (3)  Gefahr der Steuerflucht

Die Gefahr der Steuerflucht hat der EuGH zuvor nur für rein künstliche Konstruktionen im Einzelfall anerkannt.1050 Im Urteil Marks & Spencer geht der EuGH hingegen bereits dann von einer Steuerfluchtgefahr aus, wenn die Verlustübertragungen innerhalb eines Konzerns in Richtung der Gesellschaften geleitet werden, die in den Mitgliedstaaten ansässig sind, in denen die höchsten Steuersätze gelten und der steuerliche Wert der Verluste somit am höchsten ist.1051 1044 

Von Brocke, DStRK 2018, 191. Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss v. 19.12.2006, KOM(2006) 824 endg. Rn. 2.3. 1046  Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss v. 19.12.2006, KOM(2006) 824 endg. Rn. 2.3. 1047  Englisch, IStR 2008, 400 (405). 1048  Rehm/­Nagler, GmbHR 2008, 709 (713). 1049  Rehm/­Nagler, GmbHR 2008, 709 (713); a. A.: Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston v. 14.2.2008, C-414/­06 Rn. 14, nach der die Gefahr einer doppelten Verlustberücksichtigung bei Verlusten einer weiterhin geschäftstätigen Betriebstätte sogar noch größer als bei einer Tochtergesellschaft sei, die an Dritte veräußert wurde oder die ihre Geschäftstätigkeit eingestellt hat. 1050  Englisch, IStR 2006, 19 (23); Schiller, EuR 2006, 266 (278 f.). 1051  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 49. 1045 

296

Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Die Vermeidung der Steuerfluchtgefahr wurde zunächst nur bei Konstellationen mit Tochtergesellschaften geprüft. Erst im Urteil Timac Agro prüfte der EuGH diesen Rechtfertigungsgrund auch in einem Betriebstättensachverhalt. Die Gefahr der Steuerflucht ist bei Betriebstätten jedoch in der Regel ausgeschlossen. Denn im Gegensatz zu Tochtergesellschaften, bei denen systematische, konzerninterne Verlustübertragungen in Richtung der am höchsten besteuerten Konzerngesellschaften möglich sind, ist dies bei Betriebstätten anders.1052 Die Gefahr einer Steuervermeidung im Sinne eines Verlusthandels sowie eines Verschiebens von Verlusten ist bei Betriebstätten nicht möglich, da die Gewinne und Verluste bei ein und demselben Rechtsträger anfallen.1053 Daran ändert auch das im DBA geregelte Betriebstättenprinzip nichts, da hierdurch lediglich ein weiterer Bezug zu demselben Verlust und damit nur die Möglichkeit eines Doppelabzugs entsteht.1054 Irritierenderweise prüft und bejaht der EuGH den Rechtfertigungsgrund im Urteil Timac Agro, jedoch mit einer wenig konkreten und eher formelhaften Begründung. (4)  Kohärenz des Steuersystems

Den Rechtfertigungsgrund der Kohärenz des Steuersystems prüft der EuGH vorrangig beim Thema der Nachversteuerung von Betriebstättenverlusten.1055 Dies leuchtet ein, da offensichtlich ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Abzug der ausländischen Betriebstättenverluste – also dem Steuervorteil – und der späteren Nachversteuerung im Falle von Gewinnen – also der entsprechenden Steuerbelastung – besteht. bb)  Verhältnis der Rechtfertigungsgründe

Für die Fälle der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung wird in der Literatur lebhaft diskutiert, welche Rolle den einzelnen Rechtfertigungsgründen im Rahmen der Prüfung der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses zukommt und in welchem Verhältnis sie zueinanderstehen.

1052 Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston v. 14.2.2008, C-414/­ 06 Rn. 15. 1053  Kessler/­Eicke, IStR 2008, 581 (582); Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston v. 14.2.2008, C-414/­06 Rn. 15. 1054 Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston v. 14.2.2008, C-414/­ 06 Rn. 15. 1055  Anders als noch der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen (Schlussanträge des Generalanwalts Luís Miguel Poiares Maduro v. 7.4.2005, C446/­03 Rn. 55 ff.) prüft der EuGH auch im Urteil Marks & Spencer (EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spen­ cer, Slg. 2005, I-10837) den Rechtfertigungsgrund der Kohärenz nicht.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

297

So hat die Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen zum Urteil Nor­ dea Bank vorgetragen, dass der Rechtfertigungsgrund der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse kein eigenständiger Rechtfertigungsgrund sei, sondern nur eine Ausprägung anderer Rechtfertigungsgründe, nämlich der Verhinderung von Steuerumgehungen einerseits und der Wahrung der Kohärenz des Steuersystems andererseits.1056 Es diene der Klarheit der Rechtsprechung, wenn bei der Prüfung der Rechtfertigung der eigentliche Grund nicht hinter dem Etikett der „Aufteilung der Besteuerungsbefugnis“ verborgen bleibe, sondern in den Vordergrund trete.1057 Auch der EuGH hat noch im Urteil Rewe Zentralfinanz unter Verweis auf das Urteil Marks & Spencer festgestellt, dass der Rechtfertigungsgrund der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten „nur in Verbindung mit zwei weiteren Rechtfertigungsgründen“ zugelassen werde.1058 Zudem weist er darauf hin, dass sich die Anliegen der ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse und der steuerlichen Kohärenz decken1059 und die Ziele der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse und der Vermeidung von Steuerumgehung miteinander verknüpft sind.1060 Diese Argumentation wird jedoch in der Literatur zum Teil zu Recht kritisiert.1061 Der Rechtfertigungsgrund der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse ist sehr weit gefasst und umklammert die anderen, an dieser Stelle besprochenen Rechtfertigungsgründe; der EuGH spricht davon, dass eine „Verknüpfung“ vorliege.1062 Wie Musil zu Recht herausgestellt hat, sind die Rechtfertigungsgründe der Steuerflucht und der Ausschluss eines doppelten Verlustabzugs enger ausgestaltet als die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse.1063 Beide sind Folgen bzw. Ausprägungen der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse.1064 Ohne die Zuweisung des Besteuerungsrechts an einen anderen Staat und dessen Wahrung wäre eine Steuerumgehung durch Wahl des jeweiligen Steuersystems nicht möglich, was umgekehrt dazu führt, dass 1056 

Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.3.2014, C-48/­13 Rn. 42. Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.3.2014, C-48/­13 Rn. 46. 1058  EuGH v. 29.3.2007, C-347/­0 4 – Rewe Zentralfinanz, Slg. 2007, I-2647 Rn. 41. 1059  EuGH v. 29.11.2011. C-371/­ 10 – National Grid Indus, Slg. 2011, I12273 Rn. 80; v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 47. 1060 EuGH v. 18.7.2007, C-231/­ 05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 62 mwN; v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 47. 1061  Musil, EuZW 2014, 787 (790); Mitschke, IStR 2014, 563 (566). 1062  EuGH v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 62. 1063  Musil, EuZW 2014, 787 (790). 1064  So wohl auch: Mitschke, IStR 2014, 563 (566), der zu Recht herausstellt, dass die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse nicht in den anderen Rechtsfertigungsgründen aufgehe, „sondern es sich eher genau umgekehrt verhält“. 1057 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

steuervermeidende Gestaltungen das Recht der Mitgliedstaaten zur Ausübung ihrer Steuerzuständigkeit gefährden und so die Ausgewogenheit der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen.1065 So verhält es sich auch bei dem doppelten Verlustabzug. Er wird erst dann effektiv, wenn die beteiligten Vertragsstaaten eine Doppelbesteuerung durch Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse vermeiden und daher auch ein doppelter Verlustabzug nicht gerechtfertigt erscheint. Aus diesem Grunde ist es auch ausreichend, wenn nur die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse bejaht wird, um im Fall der grenzüberschreitenden Verlustberücksichtigung einen Verstoß gegen Grundfreiheiten zu rechtfertigen. Sofern daneben weitere Rechtfertigungsgründe greifen, schadet dies nicht. Wie der Fall im Urteil NN, bei dem der Rechtfertigungsgrund der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse verneint wurde, deutlich zeigt, ändert diese Einordnung freilich nichts daran, dass die übrigen Rechtfertigungsgründe eigenständig neben der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse stehen und angenommen werden können. Denn trotz der grundsätzlichen Einordnung müssen die Rechtfertigungsgründe auch im konkreten Einzelfall bejaht werden, was keinesfalls daran hindert, die spezielleren Rechtfertigungsgründe anzunehmen. Damit gelangt man zu der Erkenntnis, dass jeder der aufgeführten Rechtfertigungsgründe allein einen Verstoß gegen Grundfreiheiten zu rechtfertigen vermag. d)  Verhältnismäßigkeit aa)  Verfolgte Ziele

Der Schwerpunkt der Prüfung liegt indes auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit. Soweit der EuGH es für erforderlich hält, dass die beschränkende nationale Maßnahme nicht über das hinausgehen darf, was erforderlich ist, um die verfolgten Ziele zu erreichen,1066 hält er es für ausreichend, dass die verfolgten Ziele „im Wesentlichen“ erreicht werden.1067 Hierzu wird in der Literatur zum Teil angemerkt, dass diese Einordnung lediglich für die Verhinderung der doppelten Verlustberücksichtigung sowie der Steuerfluchtgefahr passe.1068 Die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis werde hingegen gerade nicht gewahrt, wenn eine Verlustverrechnung – wenn auch nur ausnahmsweise – grenzüberschreitend erfolgen müsse. Der EuGH umgehe dieses Problem, indem er sich damit 1065 

EuGH v. 18.7.2007, C-231/­05 – Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 62. Vgl. EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 53. 1067  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­ 03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 55; v. 21.2.2013, C-123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 49. 1068  Schiller, EuR 2006, 266 (279). 1066 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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zufrieden gebe, dass die verfolgten Ziele „im Wesentlichen“ erreicht würden.1069 Der Einordnung des EuGH ist zuzustimmen, da zumindest zur vollen Erreichung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten ein gänzlicher Verrechnungsausschluss – auch für im Ausland untergegangene Verluste – erforderlich wäre.1070 Handelt es sich um finale Verluste, besteht sowohl keine Gefahr der doppelten Verlustnutzung als auch keine Gefahr der Steuerflucht. In diesem Fall sind also die mit den Rechtfertigungsgründen verfolgten Ziele umfassend und nicht nur im Wesentlichen erreicht. Verwehrt die nationale Maßnahme dennoch den grenzüberschreitenden Abzug der finalen Verluste, geht sie über die verfolgten Ziele hinaus und ist somit unverhältnismäßig. Im Falle von laufenden Verlusten ausländischer Tochtergesellschaften oder Betriebstätten ergeben sich grundsätzlich keine Probleme mit den Vorgaben der Grundfreiheiten, denn die Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten führt dazu, dass neben dem Besteuerungsrecht hinsichtlich der positiven Einkünfte auch die damit einhergehende Verpflichtung zur Berücksichtigung der negativen Einkünfte zwischen den Staaten aufgeteilt wird. Dieses System wird jedoch in zwei Fällen durchbrochen: Zum einen, wenn die ausschließlich im Quellenstaat zu verrechnenden Verluste endgültig werden und damit nicht mehr im Quellenstaat genutzt werden können; dies ist der Fall der finalen Verluste (2). Zum anderen, wenn der Stammhausstaat bzw. der Staat der Muttergesellschaft es durch nationale Vorschriften – und entgegen der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse – zulässt, dass auch laufende Verluste abgezogen werden können und diesen Verlustabzug jedoch unter den Vorbehalt einer Nachversteuerung stellt (3). bb)  Was sind finale Verluste?

Bestehen keine Regelungen, die einen laufenden Verlustabzug grenzüberschreitend zulassen, ist der grenzüberschreitende Verlustabzug ausnahmswei­ se (als ultima ratio)1071 nur dann zuzulassen, wenn es sich um finale Verluste handelt. Dies ist folgerichtig, da hier die Besteuerungsbefugnisse zwar weiterhin aufgeteilt bleiben, wegen der Nichtberücksichtigung der Verluste im Quellenstaat aber gerade eine Störung dieser Aufteilung eintritt. In diesem Bereich korrigieren die Grundfreiheiten also die in den DBA vereinbarte Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse. Die entscheidende Frage dabei ist, wann genau die 1069  Schiller, EuR 2006, 266 (279): „Offenbar hat der EuGH hier ein alle Beteiligte einigermaßen zufrieden stellendes Ergebnis einer dogmatisch sauberen Begründung vorgezogen.“ 1070  So auch: Englisch, IStR 2006, 19 (23). 1071  Vgl. BFH v. 5.2.2014 – I R 48/­11, BFHE 244, 371 mwN.

300

Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Verluste als final zu qualifizieren sind. Im Urteil Marks & Spencer stellt der EuGH erstmals zwei Voraussetzungen dazu auf.1072 Zum einen müsse die ausländische Tochtergesellschaft oder Betriebstätte in ihrem Ansässigkeitsstaat für den beantragten Steuerzeitraum sowie frühere Steuerzeiträume alle Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Verlusten ausgeschöpft haben. Zum anderen dürfe keine Möglichkeit bestehen, dass die ausländischen Verluste im Quellenstaat für künftige Zeiträume berücksichtigt werden. Das Stammhaus bzw. die Muttergesellschaft haben nachzuweisen, dass die Verluste final sind, wofür die konkreten Umstände allein nicht ausreichen.1073 Für den Nachweis kommt es nur auf das Recht des Ansässigkeitsstaats des Stammhauses bzw. der Muttergesellschaft an, wobei die Anforderungen an den Nachweis nicht zu streng sein dürfen.1074 Als geeignete Verlustnachweise kommen insbesondere ein förmlicher Steuerbescheid der ausländischen Betriebstätte bzw. Tochtergesellschaft oder gesonderte Bestätigungen der ausländischen Finanzverwaltung in Betracht.1075 Diese Voraussetzungen ergänzt bzw. konkretisiert der EuGH in späteren Urteilen. Im Folgenden sollen sie untersucht und näher erörtert werden. Festzustellen ist jedoch bereits an dieser Stelle, dass sich die Prüfung der Finalität nach dem jeweiligen nationalen Recht richtet.1076 (1)  Alle Möglichkeiten zur Verlustberücksichtigung ausgeschöpft

Die erste Voraussetzung enthält ein rechtliches sowie ein tatsächliches Element: das Vorliegen einer rechtlichen Möglichkeit der Verlustverrechnung sowie die tatsächliche Ausschöpfung dieser Möglichkeit.1077 Das erste Element setzt voraus, dass im Ansässigkeitsstaat der Tochtergesellschaft bzw. der Betriebstätte aus rechtlicher Sicht überhaupt Möglichkeiten bestehen, die Verluste steuerlich geltend zu machen.1078 Fehlen bereits die rechtlichen Möglichkeiten zur Verlustverrechnung, existiert bereits kein Anknüp1072  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 55; vgl. auch: EuGH v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 46. Vgl. auch: Musil, DB 2011, 2451 (2452), nach dem man unter finalen Verlusten aufgelaufene Verluste aus der bisherigen Geschäftstätigkeit verstehe, die von einer Tochtergesellschaft in ihrem Sitzstaat nicht mehr steuerlich genutzt werden könnten. 1073  EuGH v. 21.2.2013, C-123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 52. 1074  Wagner, in: Blümich, EStG, § 2a Rn. 48. 1075 Vgl. Roser, Ubg 2010, 30 (35). 1076  Böing/­Dokholian, GmbH-StB 2018, 270 (270). 1077  So auch: Rehm/­Nagler, GmbHR 2008, 709 (713). 1078 EuGH v. 7.11.2013, C-322/­ 11 – K, EuZW 2014, 110 Rn. 76 ff.; v. 23.10.2008, C-157/­07  – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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fungspunkt, um die Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zu durchbrechen. Die Verluste sind dann zwar final, aber dieser Zustand ist von den Vertragsstaaten gesehen und akzeptiert. Ein Mitgliedstaat kann auch nicht verpflichtet werden, seine Steuervorschriften auf diejenigen eines anderen Mitgliedstaats abzustimmen, um in allen Situationen eine Besteuerung zu gewährleisten, die jede Ungleichheit beseitigt.1079 Dies gilt entsprechend auch für Verlustabzugs­ beschränkungen im Quellenstaat,1080 sofern diese nur laufende Verluste betreffen, für die aufgrund von DBA-Regelungen die Freistellung von etwaigen Gewinnen vereinbart ist.1081 Selbstverständlich fehlen auch rechtliche Möglichkeiten zur Verlustverrechnung, wenn der Steuerpflichtige Fristen oder Formvorschriften nicht einhält, sodass er die Finalität der Verluste erst verursacht hat.1082 Nicht entscheidend ist hingegen, ob beim Stammhaus bzw. bei der Muttergesellschaft genügend Gewinne zur Verlustverrechnung vorhanden sind.1083 In zeitlicher Hinsicht bezieht sich diese Voraussetzung auf den von dem Abzugsantrag erfassten Steuerzeitraum sowie frühere Steuerzeiträume und somit auf die Gegenwart sowie die Vergangenheit. Hiervon werden somit sowohl die Möglichkeit, die Verluste der Tochtergesellschaft vom aktuellen Gewinn abzuziehen, als auch die Möglichkeit eines Verlustrücktrags umfasst. Das zweite (tatsächliche) Element sieht vor, dass die nach nationalem Recht gegebenen rechtlichen Möglichkeiten zur Verlustverrechnung zudem tatsächlich „ausgeschöpft“ worden sind. Dies ist eine Frage des konkreten Sachverhalts und soll daher an dieser Stelle nicht vertieft werden. Selbstverständlich ist, dass auch der Ansässigkeitsstaat des Stammhauses bzw. der Muttergesellschaft die Möglichkeit vorsehen muss, den Verlust zwischen den Gesellschaften bzw. dem Stammhaus und der Betriebstätte zu verrechnen.1084 Andernfalls würde er dazu gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, die nach seinem innerstaatlichen Rechtssystem nicht vorgesehen sind.

1079 EuGH

v. 7.11.2013, C-322/­ 11 – K, EuZW 2014, 110 Rn. 80; v. 28.2.2008, C-293/­06  – Deutsche Shell, Slg. 2008, I-1129 Rn. 43; v. 23.10.2008, C-157/­07 – Kranken­ heim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 50. 1080  EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262; Wagner, in: Blümich, EStG, § 2a Rn. 45. 1081  Schlücke, FR 2016, 126 (130 f.). 1082  Wagner, in: Blümich, EStG, § 2a Rn. 45. 1083 Vgl. Bron, EWS 2008, 235 (239). 1084  Kleinert/­Nagler, DB 2005, 2788 (2792). In diesem Zusammenhang sei der zu berücksichtigende Verlust nach dem nationalen Steuerrecht des Ansässigkeitsstaats des Stammhauses bzw. der Muttergesellschaft zu ermitteln: Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 268d; Schiller, EuR 2006, 266 (280); Jungbluth, EWiR 2006, 205 (206).

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

(2)  Keine Möglichkeiten zur Verlustberücksichtigung für künftige Zeiträume

Die zweite Voraussetzung bezieht sich auf die zukünftigen Steuerzeiträume. So darf für die Zukunft keine Möglichkeit bestehen, dass die Verluste im Quellenstaat berücksichtigt werden können. Umfasst sind auch hier sowohl die rechtliche als auch die tatsächliche Möglichkeit einer Verlustverrechnung. Zum einen muss im Quellenstaat die rechtliche Möglichkeit bestehen, Verluste vorzutragen.1085 So könne die Endgültigkeit der Verluste einer ausländischen Tochtergesellschaft im Sinne des Urteils Marks & Spencer „nicht von dem Umstand herrühren, dass der Mitgliedstaat, in dem diese Tochtergesellschaft ihren Sitz hat, jegliche Möglichkeit des Verlustvortrags ausschließt“.1086 Mit anderen Worten können die Verluste nur dann als final qualifiziert werden, wenn der Quellenstaat überhaupt einen Verlustvortrag vorsieht. Ist dies nicht der Fall, kann der Ansässigkeitsstaat der Muttergesellschaft bzw. des Stammhauses den grenzüberschreitenden Konzernabzug verweigern, ohne dadurch gegen Art. 49 AEUV zu verstoßen.1087 An einer Finalität der Verluste fehlt es auch dann, wenn der Quellenstaat nur einen zeitlich begrenzten Verlustvortrag zulässt.1088 Zum anderen darf die Tochtergesellschaft bzw. Betriebstätte aus tatsächlichen Gründen keine Möglichkeit mehr haben, die Verluste in der Zukunft zu berücksichtigen.1089 Die rechtlich vorgesehene, zeitlich unbegrenzte Verlustvortragsmöglichkeit muss somit abgelaufen sein. Es besteht dann aus tatsächlichen Gegebenheiten keine Möglichkeit zum Verlustabzug mehr, wenn die Verluste im Ausland unbeschadet der dort herrschenden rechtlichen Rahmenbedingungen definitiv keiner anderweitigen Berücksichtigung mehr zugänglich sind.1090 Im Zusammenhang mit Betriebstätten kommt als tatsächlicher Grund zunächst eine (endgültige) Aufgabe der Betriebstätte in Betracht.1091 Im Fall der 1085  Wenn die Verluste erst in den Folgejahren verrechnet werden könnten, entstünde der Gesellschaft ein Zinsnachteil, welcher selbst einen Eingriff in die Grundfreiheiten begründen könne: Bron, EWS 2008, 235 (239). 1086  EuGH v. 3.2.2015, C-172/­ 13 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324 Rn. 33; v. 7.11.2013, C-322/­11 – K, EuZW 2014, 110 Rn. 75 ff. mwN. 1087  EuGH v. 3.2.2015, C-172/­ 13 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324 Rn. 33. 1088 EuGH v. 23.10.2008, C-157/­ 07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 47 ff.; BFH v. 9.6.2010 – I R 107/­09, DStR 2010, 1611 Rn. 17; Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 268d; Sutter, EuZW 2006, 85 (88); de Weerth, IStR 2008, 400 (405). So ist es beispielsweise in Polen, in der Slowakei oder in Tschechien. 1089  So auch: Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 268d. 1090  BFH v. 9.6.2010 – I R 107/­09, DStR 2010, 1611 Rn. 18 mwN. 1091 EuGH v. 17.12.2015, C-388/­ 14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 54 ff.; v. 3.2.2015, C-172/­13 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324 Rn. 36; Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 115.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Aufgabe der Betriebstätte wird vereinzelt gefordert, dass das Stammhaus sämt­ liche Aktivitäten im Ausland aufzugeben habe, also auch solche anderer Betriebstätten oder Tochtergesellschaften.1092 Darüber hinaus wird für die Finalität teilweise sogar gefordert, dass auch das Stammhaus zu liquidieren sei.1093 Diese Ansichten können jedoch nicht durchgreifen. Eine Liquidation des Stammhauses ist bereits deshalb nicht erforderlich, da dies keinesfalls eine notwendige Folge der Besteuerungsaufteilung ist. Es geht keinesfalls darum, Verluste generell final werden zu lassen, sondern nur solche, die wegen der Freistellungsmethode und der damit zusammenhängenden Symmetriethese eigentlich im Ausland zu berücksichtigen wären. Aber auch die Aufgabe sämtlicher Aktivitäten im Ausland ist nicht erforderlich,1094 da es stets auf die vergleichbare Situation ankommt. Unterhält ein Stammhaus im Inland zwei Betriebstätten, kann es die Verluste beider Betriebstätten von seinen Gewinnen abziehen. Unterhält es zwei Betriebstätten im Ausland und wird eine davon mit Verlusten aufgegeben, sind diese Verluste final, wenn sie nicht nach dem jeweiligen ausländischen Recht einem anderen Steuersubjekt zugerechnet werden können.1095 Die Finalität der Verluste durchbricht die Aufteilung der Besteuerungszuständigkeit im Einzelfall, sodass dieser Einzelfall für jedes Rechtssubjekt gelten muss, bei dem die Verluste endgültig nicht mehr im Ausland geltend gemacht werden können. Sofern vorgetragen wird, dass die Betriebstätte jederzeit neu errichtet werden könne und dass – um Gegensatz zu neu gegründeten Tochtergesellschaften – eine spätere (doppelte) Verlustberücksichtigung möglich wäre,1096 trägt dieses Argument ebenfalls nicht. Denn nichts Anderes gilt auch bei Tochtergesellschaften. Die Liquidation einer Tochtergesellschaft und einer Betriebstätte ist insofern vergleichbar, als das betreffende Unternehmen abgewickelt wird, nur, dass es sich bei der Betriebstätte dabei um den ausländischen Unternehmensteil handelt. Der Abschluss der Liquidation führt in beiden Fällen zu Verlusten. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Tochtergesellschaft als Unternehmensträger (z. B. durch Löschung im jeweiligen Register) rechtlich „vernichtet“ werden muss, um die Verluste final werden zu lassen. Da diese Zäsur bei der Betriebstätte wegen der fehlenden Eigenständigkeit naturgemäß nicht existiert, kann dieser Unterschied nicht als Begründung herangezogen werden, um die Finalität der Verluste in Zweifel zu ziehen. Das Risiko, dass die Betriebstätte 1092 

Fähling, Die grenzüberschreitende Verlustverrechnung, S. 176 ff. Benecke/­Staats, IStR 2010, 663 (668); Roser, Ubg 2010, 30 (36). 1094  So zu Recht: BFH v. 9.6.2010 – I R 107/­09, BFHE 230, 35. 1095  Die von Fähling (Die grenzüberschreitende Verlustverrechnung, S. 177 f.) vorgebrachte Ansicht unter Nennung eines Beispiels trägt also nicht. Sie ist insoweit unbegründet, als nur vorgetragen wird, dass das Stammhaus „nicht schutzwürdig“ sei, wenn es noch zusätzlich eine gewinnbringende Tochtergesellschaft im Ausland unterhalte. 1096  Kessler/­Eicke, IStR 2008, 581 (584); Schütz, SteuK 2010, 395. 1093 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

ihren zuvor eingestellten Betrieb wieder aufnimmt, ist hinzunehmen, ihm kann durch nationale Maßnahmen zur Bekämpfung missbräuchlicher Gestaltungen begegnet werden.1097 Entscheidend müssen nur zwei Merkmale sein: erstens die tatsächliche Aufgabe des Betriebes im Wege der Liquidation und zweitens der Wille zur Aufgabe des Betriebs im Zeitpunkt der letzten Liquidationshandlung. Eine bloße Schließung des Betriebes unter Beibehaltung der Aktiva und Passiva ist damit nicht ausreichend, da hier ein Wille zur endgültigen Betriebsaufgabe nicht angenommen werden kann. Etwas Anderes kann freilich dann gelten, wenn die jeweilige Liquidationshandlung mehr Kosten und Aufwand erfordert als sie dem Unternehmen nützt.1098 Wird die Tätigkeit hingegen später tatsächlich wieder aufgenommen, hat eine Korrektur nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO zu erfolgen, weil die Verluste in diesem Fall wieder abziehbar sind. Ebenfalls im Bereich der Betriebstätten ist als weiterer tatsächlicher Grund auch eine Veräußerung oder eine unentgeltliche Übertragung1099 der Betriebstätte möglich; dies gilt auch für eine Veräußerung der Betriebstätte innerhalb eines Konzerns.1100 Möglich ist auch die Umwandlung der Betriebstätte in eine Kapitalgesellschaft.1101 Zu einer solchen für eine Verlustverrechnung geeigneten Umwandlung gehören nach deutschem Steuerrecht vorwiegend die Einbringung im Sinne des § 20 UmwStG sowie eingeschränkt die Abspaltung im Sinne des § 15 UmwStG.1102 Bei einer buchwertneutralen Übertragung dürften die vorhandenen stillen Reserven vom Ansässigkeitsstaat des Stammhauses bzw. der Muttergesellschaft jedoch nicht zu berücksichtigen sein, da sie nicht grenzüberschreitend übertragen werden und somit die Möglichkeiten zur Verlustberücksichtigung nicht ausgeschöpft werden können.1103 Mitunter 1097 

So EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 57. denken wäre beispielsweise daran, dass die Betriebstätte eine vollkommen wertlose Minderheitsbeteiligung an einer ausländischen Gesellschaft hält, welche ihrerseits inaktiv ist. Diese Beteiligung durch eine (mitunter kostenintensiv erzwungene) Liquidation der ausländischen Gesellschaft aus dem Vermögen der Betriebstätte ausscheiden zu lassen, um deren Finalität zu begründen, ginge vor dem Hintergrund des Sinns und Zwecks des Finalitätserfordernisses zu weit. 1099  EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262; BFH v. 9.6.2010 – I R 107/­09, BFHE 230, 35; Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 115. 1100 EuGH v. 17.12.2015, C-388/­ 14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 54 ff.; v. 17.7.2014, C-48/­13 – Nordea Bank, EuZW 2014, 787 Rn. 37 ff.; BFH v. 5.2.2014 – I R 48/­11, BFHE 244, 371; Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 115. 1101 EuGH v. 17.12.2015, C-388/­ 14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 54 ff.; Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 115. 1102  Benecke/­Staats, IStR 2010, 663 (669). 1103  Benecke/­Staats, IStR 2010, 663 (669). 1098 Zu

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

305

wird auch eine qualifizierte Ergebnisprognose für ausreichend erachtet, die belegt, dass die ausländische Betriebstätte bei unveränderter Fortführung keine mit den Verlusten verrechenbaren Gewinne erzielen wird (faktische Unmöglichkeit).1104 Bei Tochtergesellschaften kommen deren Auflösung, die Änderung der wirtschaftlichen Identität (§ 8 Abs. 4 KStG) oder die Umwandlung bei Eingreifen des Verlustübertragungsverbots nach Ausschöpfung möglicher Step-up-Gestaltungen in Betracht.1105 Weitere Fälle sind die Verschmelzung, wenn keine Regelung existiert, die den Verlustübergang anordnet, oder der Formwechsel der Kapitalgesellschaft in eine Personengesellschaft,1106 sofern der betreffende Staat das Transparenzprinzip anwendet. Entscheidend sowohl für die Tochtergesellschaft als auch für die Betriebstätte ist, dass sie keine (auch keine minimalen) Einnahmen im Quellenstaat mehr erzielen.1107 (3)  Nur Verluste, die im Finalitätsjahr entstanden sind

Streitig ist, ob nur die Verluste des Jahres, in dem die Finalität tatsächlich eintritt, als finale Verluste zu berücksichtigen sind, oder ob auch bereits früher entstandene Verluste (rückwirkend) abzuziehen sind.1108 Diese Frage wurde vom EuGH bislang nicht entschieden. Der Bundesfinanzhof vertritt die Ansicht, dass nur Verluste aus dem „Finalitäts-Erhebungszeitraum“ einzubeziehen seien, sodass es auf den „Entstehungs-Erhebungszeitraum“ nicht ankomme.1109 Dieser Ansicht wird auch in der Literatur weitgehend gefolgt1110 und entspricht dem deutschen Steuerrecht, nach dem die ausländischen Verluste erst im Finalitäts-

1104 

Herzig/­Wagner, DStR 2006, 1. Jungbluth, EWiR 2006, 205 (206). 1106  Kleinert/­Nagler, DB 2005, 2788 (2791). 1107  EuGH v. 3.2.2015, C-172/­ 13 – Kommission/­Vereinigtes Königreich, EuZW 2015, 324 Rn. 36; v. 21.2.2013, C-123/­11 – A Oy, EuZW 2013, 269 Rn. 53 f. 1108  Kippenberg, IStR 2015, 738 (744). 1109  BFH v. 9.6.2010 – I R 107/­ 09, BFHE 230, 35 Rn. 29; v. 12.2.2010 – I R 16/­10, BFHE 231, 554 Rn. 10. 1110  Schlücke, FR 2016, 126 (131) unter Bezugnahme auf EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14  – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 55; Böing/­Dokholian, GmbH-StB 2018, 270 (271); Wagner, in: Blümich, EStG, § 2a Rn. 48; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 123; Englisch, IStR 2008, 400 (404); de Weerth, IStR 2008, 400 (405); a. A.: Sedemund, DB 2008, 1120 (1122); Sedemund/­Wegner, DB 2008, 2565 (2566); von Brocke, DStR 2008, 2201 (2203); Rehm/­Nagler, GmbHR 2008, 1174 (1176); Roser, Ubg 2010, 30 (33 f.). 1105 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

jahr zu berücksichtigen sind, sodass keine phasengleiche Berücksichtigung der Verluste erfolgt.1111 Dem ist zuzustimmen. Für die Berücksichtigung ausschließlich der Verluste, die im Finalitätsjahr entstanden sind, spricht insbesondere die im jeweiligen DBA vereinbarte Freistellungsmethode. Für die Verrechnung der finalen Verluste sind zwar allein die nationalen Regelungen des Ansässigkeitsstaats des Stammhauses bzw. der Muttergesellschaft entscheidend. Aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes müssen die ausländischen, finalen Verluste jedoch genauso behandelt werden wie reine Inlandssachverhalte. Sofern inländische Verluste berücksichtigt werden können, muss dies auch für ausländische Verluste gelten. Zu beachten ist jedoch, dass an dieser Stelle die Freistellungsmethode auf den Gleichbehandlungsgrundsatz einwirkt. Denn aufgrund der Freistellung geht sowohl die vorrangige Besteuerungszuständigkeit als auch das Recht des Steuerpflichtigen, steuerlich mit denen gleichbehandelt zu werden, die Einkünfte unter denselben äußeren Bedingungen erzielt haben, nämlich ebenfalls im Quellenstaat, auf den Quellenstaat über.1112 Damit wird der Steuerpflichtige gänzlich dem Recht des Quellenstaates überantwortet, auch dem dortigen Recht der intertemporalen Verlustverrechnung (Symmetriethese).1113 Da es für die grenzüberschreitende Verlustverrechnung darauf ankommt, dass sämtliche vom EuGH aufgestellten Voraussetzungen vorliegen, können die Verluste erst in diesem Moment final werden. Es ist somit nicht allein auf die Verlustentstehung abzustellen, sondern auch auf die Ursache, auf der die Finalität beruht.1114 Zudem spricht hierfür der Umstand, dass auch im nationalen Steuersystem Gewinne und Verluste asymmetrisch behandelt werden. Die Gewinne werden bereits im Steuerzeitraum ihres Entstehens besteuert, während sich Verluste erst in einem späteren Veranlagungszeitraum auswirken, indem sie mit späteren Gewinnen verrechnet werden. Verluste wirken sich somit nicht bereits im Entstehungszeitpunkt aus. Im Ergebnis sind die Verluste zu berücksichtigen, die im Zeitpunkt der Finalität im Quellenstaat nicht mehr genutzt werden können. cc)  Nachversteuerung als weiteres milderes Mittel

Neben dem System der Finalität von Verlusten kommt ebenfalls in Betracht, den laufenden Verlustabzug im Inland unter den Vorbehalt zu stellen, dass die 1111 

Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 268d. Vogel, DStJG 8 (1985), 6 f.; Hufeld, in: BeckOK EStG, § 2a Rn. 13; BFH v. 9.6.2010 – I R 107/­09, BFHE 230, 35 Rn. 21, nach dem sowohl der Grundsatz der Leistungsfähigkeit als auch die Gleichbehandlung mit gleichgelagerten Inlandssachverhalten „suspendiert“ seien. 1113  Hufeld, in: BeckOK EStG, § 2a Rn. 13. 1114  Wagner, in: Blümich, EStG, § 2a Rn. 44. 1112 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Verluste der ausländischen Tochtergesellschaft bzw. Betriebstätte bis zur Höhe späterer ausländischer Gewinne dem zu versteuernden Einkommen der Muttergesellschaft bzw. des Stammhauses wieder hinzugerechnet werden.1115 Während diese Nachversteuerung bei rein inländischen Fällen automatisch erfolgt, bedarf es bei grenzüberschreitenden Sachverhalten – sowohl bei der unternehmens- als auch bei der konzerninternen Verlustverrechnung – einer ausdrücklichen nationalen Regelung.1116 Die Nachversteuerung ist kein Fall der finalen Verluste, sondern ein weiteres milderes Mittel, um die Symmetrie der Besteuerung der laufenden Betriebstättenverluste aufrecht zu erhalten;1117 die Nachversteuerung finaler Verluste wäre im Übrigen unionsrechtswidrig.1118 Durchbricht der Stammhausstaat die Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse dergestalt, dass er durch nationale Regelungen einen laufenden Verlustabzug zulässt, würden die später im Ausland erzielten Gewinne der Betriebstätte allein vom Quellenstaat besteuert. Die symmetrische Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse wird somit vorübergehend durchbrochen.1119 Um diese Asymmetrie1120 und eine doppelte Verlustnutzung im Inland1121 im Ergebnis zu vermeiden, werden diese erzielten Gewinne in der Regel im Stammhausstaat nachversteuert. Eine solche Nachversteuerung sieht somit vor, dass auf einer ersten Stufe zuvor bereits abgezogene Verluste einer ausländischen Betriebstätte auf einer zweiten Stufe in nachfolgenden Veranlagungszeiträumen nachversteuert werden, sofern die Betriebstätte wie1115  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­ 03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 54; v. 23.10.2008, C-157/­07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 36 ff. Eine entsprechende Regelung findet sich beispielsweise in § 2 Abs. 8 Nr. 3 des österreichischen EStG. Im deutschen Steuerrecht findet sich bisher keine entsprechende gesetzliche Grundlage. 1116  Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss v. 19.12.2006, KOM(2006) 824 endg. Rn. 2.1., 3.2. Der früher geltende § 2a Abs. 3 EStG a. F. sah im Falle eines DBA mit Freistellungsmethode noch den sofortigen Abzug ausländischer Betriebstättenverluste unter dem Vorbehalt einer Nachversteuerung vor, sobald die Betriebstätte wieder Gewinne erwirtschaftete. Die Regelung wurde ab dem Veranlagungszeitraum 1999 abgeschafft. In anderen Mitgliedstaaten existieren jedoch noch entsprechende Regelungen. Vgl. auch: Rainer, EuZW 2008, 402 (406). 1117 Vgl. Schlücke, FR 2016, 126 (131), nach der es insofern zu einer Rechtsfolgeneinschränkung der Nachversteuerungsregelung komme. 1118  EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 3; Heckerodt/­ Schulz, DStR 2018, 1457 (1458). 1119  Englisch, Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, S. 55; Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston v. 14.2.2008, C-414/­06 Rn. 24. 1120  Kessler/­Eicke, IStR 2008, 581 (582). 1121  Kessler/­Eicke, IStR 2008, 581 (582).

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

der Gewinne erwirtschaftet.1122 Die grenzüberschreitende Verlustverrechnung ist damit nur vorübergehend und steht unter dem Vorbehalt einer späteren Hinzurechnung der abgezogenen negativen Einkünfte. Die spätere Hinzurechnung der Verluste dient somit der Vermeidung einer dauerhaften Berücksichtigung von (laufenden) Betriebstättenverlusten nur im Stammhausstaat, zu deren Abziehbarkeit es allein aufgrund der DBA-Regelung nie gekommen wäre.1123 Der EuGH stellt hierzu lediglich fest, dass solche Maßnahmen „jedenfalls einer vom Gemeinschaftsgesetzgeber zu erlassenden Harmonisierungsregelung“ bedürfen.1124 Einen solchen Harmonisierungsvorbehalt hatte er sonst negiert.1125 Insgesamt ist der EuGH jedoch der Ansicht, dass nationale Nachversteuerungsregelungen unionsrechtlich zulässig sind.1126 Auch aus abkommensrechtlicher Sicht sind Nachversteuerungsregelungen nicht zu beanstanden, da sie im Zusammenwirken mit der vorherigen Verlustberücksichtigung effektiv nicht zu einer Besteuerung freigestellten Einkommens führen.1127 Der Höhe nach ist die Nachversteuerung zutreffend auf die von der Betriebstätte bzw. Tochtergesellschaft später erwirtschafteten Gewinne begrenzt.1128 Denn nur in dieser Höhe werden die zuvor abgezogenen Verluste tatsächlich wieder ausgeglichen. Eine Nachversteuerungsregelung hat jedoch auch Nachteile, sodass sie von der Literatur teilweise kritisiert wird.1129 So erscheine insbesondere eine automatische Nachversteuerung nach Ablauf eines willkürlich bestimmten Zeitraums oder bei Untergang der ausländischen Betriebstätte bzw. Tochtergesellschaft ohne Rücksicht auf das Bestehen eines Verlustes oder Verlustvortrags zu diesem Zeitpunkt problematisch.1130 1122  EuGH v. 15.5.2008, C-414/­06 – Lidl Belgium, Slg. 2008, I-3601 Rn. 45; Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston v. 14.2.2008, C-414/­06 Rn. 23 ff. 1123  Schlücke, FR 2016, 126 (130). 1124  EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 Rn. 58. 1125  Englisch, IStR 2006, 19 (23). 1126 EuGH v. 23.10.2008, C-157/­ 07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061; v. 17.7.2014, C-48/­13 – Nordea Bank, EuZW 2014, 787 Rn. 30; v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262. 1127  Englisch, Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, S. 55 f. mwN. 1128 EuGH v. 23.10.2008, C-157/­ 07 – Krankenheim Wannsee, Slg. 2008, I-8061 Rn. 45 ff. 1129  Rainer, EuZW 2008, 402 (405), nach dem ein solcher Vorbehalt rein rechtlich nicht haltbar sei. 1130  Rainer, IStR 2008, 183 (187); a. A.: Schlussanträge der Generalanwältin Elea­nor Sharpston v. 14.2.2008, C-414/­06 Rn. 24; kritisch: Rainer, EuZW 2008, 402 (405), da eine automatische Nachversteuerung nicht mit dem Urteil Marks & Spencer (EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837) vereinbar sein dürfte.

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Hierzu ist festzustellen, dass eine Nachversteuerungsregelung dann zu Recht nicht zulässig sein kann, wenn sie ganz ohne das Erfordernis späterer Gewinne, der Aufgabe oder der Veräußerung der Betriebstätte greift.1131 Welches Ereignis im konkreten Sachverhalt eingreift, kann hingegen keine Rolle spielen, da die Hinzurechnung in beiden Fällen aus demselben synallagmatischen Grund erfolgt.1132 Teilweise wurde vertreten, dass die finale Verluste-Doktrin in Freistellungsfällen ohne Nachversteuerungsregelung keinen Anwendungsbereich mehr habe.1133 Der EuGH hat im Urteil Timac Agro jedoch ausdrücklich klargestellt, dass eine Nachversteuerungsregelung keine Auswirkung auf die Verlusteinstufung und somit auf die Abziehbarkeit von finalen Verlusten im Stammhausstaat habe.1134 Die Grundsätze aus dem Urteil Marks & Spencer greifen damit unabhängig von einer Nachversteuerungsregelung ein.1135 Es könne sich bei den grundsätzlich nachzuversteuernden Verlusten somit gleichzeitig um finale Verluste im Sinne der EuGH-Rechtsprechung handeln, wodurch das Verhältnis von Nachversteuerungsregelungen und finalen Verlusten durch den EuGH geklärt ist.1136 4.  Zusammenfassung

Der EuGH nimmt mittels seiner Rechtsprechung direkten Einfluss auf die zwischen den Vertragsstaaten im DBA vereinbarte Aufteilung der Besteuerungsbefugnis und damit auf die mittels der Freistellungsmethode geltende Symmetriethese. Er setzt sich damit eindeutig über die abkommensrechtlichen Vereinbarungen zwischen den DBA-Vertragsstaaten hinweg und schreibt insofern vor, wie der Methodenartikel in Form der Freistellungsmethode auszugestalten ist. Zu Recht wird daher angenommen, dass mit der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung eine Grundsatzfrage angesprochen sei, die unmittelbar an der Steuersouveränität der Mitgliedstaaten rühre, nämlich die Grundsatzfrage nach der ganz allgemeinen Zuordnung des im jeweiligen Mitgliedstaat erwirtschafteten 1131 

So zu Recht: Englisch, Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, S. 57. EuGH v. 17.12.2015, C-388/­ 14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 14; Mitschke, IStR 2014, 733 (739), nach dem der direkte, persönliche und sachliche Zusammenhang zwischen Verlustabzug und späterer Hinzurechnung in all diesen Fallgestaltungen bestehe (Kohärenz). 1133  Englisch, IStR 2014, 561; Henze, ISR 2014, 311 (313 f.); a. A.: Schlücke, FR 2016, 126 (131). 1134  EuGH v. 17.12.2015, C-388/­14 – Timac Agro, EuZW 2016, 262 Rn. 52 ff.; Schlü­ cke, FR 2016, 126 (130). 1135  So auch: Schlücke, FR 2016, 126 (131). 1136  Schlücke, FR 2016, 126 (130). 1132 Vgl.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Steuersubstrats, in der Welt des Steuerrechts gehe es also um das Ganze.1137 Dies gilt zumindest für die Fälle, in denen es sich um finale Verluste handelt. Verluste sind dann als final zu qualifizieren, wenn die ausländische Tochtergesellschaft oder Betriebstätte in ihrem Ansässigkeitsstaat alle Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Verlusten ausgeschöpft hat und keine Möglichkeit besteht, die ausländischen Verluste im Quellenstaat für künftige Zeiträume zu berücksichtigen. Die Betriebstätte bzw. Tochtergesellschaft darf im Ausland keine (wenn auch nur minimale) Einnahmen mehr erzielen, die eine Verlustverrechnung doch noch ermöglichen könnten. Liegen diese Voraussetzungen vor, ist der Stammhaus- bzw. Ansässigkeitsstaat der Muttergesellschaft trotz im DBA vereinbarter Freistellungsmethode verpflichtet, die finalen Verluste der ausländischen Betriebstätte bzw. Tochtergesellschaft in Abzug zu bringen, obwohl ihm das Besteuerungsrecht hinsichtlich der Einkünfte nicht zusteht.1138 Vorausgesetzt allerdings, das Stammhaus bzw. die Muttergesellschaft weist die oben genannten Voraussetzungen nach. Von der Verpflichtung zum Abzug finaler Verluste sind jedoch nur die Verluste umfasst, die im Finalitätsjahr entstanden sind, da erst in diesem Zeitpunkt die Finalität eintritt. Die Grundsätze zu den finalen Verlusten erinnern an die Verpflichtung des Quellenstaats zur Gewährung der Steuervergünstigungen bei den beschränkt Steuerpflichtigen, der in seinem Wohnsitzmitgliedstaat keine nennenswerten Einkünfte hat, sodass dieser nicht in der Lage ist, ihm die Vergünstigungen zu gewähren.1139 Die Verpflichtung des Ansässigkeitsstaates zur Berücksichtigung der finalen Verluste gilt zumindest für Betriebstättensachverhalte mit im DBA vereinbarter Freistellungsmethode. Denn nur die Berücksichtigung von Verlusten einer ausländischen Betriebstätte beim inländischen Stammhaus, also eine unternehmensinterne Konstellation, ist Folge der abkommensrechtlichen Freistellung.1140 Erwirtschaftet eine ausländische Tochtergesellschaft einer inländischen Muttergesellschaft Verluste, handelt es sich also um die konzern1137 

Kube, IStR 2008, 305 (305 f.). der Rechtsprechung des EuGH müssen auch Verluste aus ausländischem Beteiligungsaufwand berücksichtigt werden: Vgl. EuGH v. 23.2.2006, C-471/­04 – Kel­ ler Holding, Slg. 2006, I-2107 (Verluste aus Beteiligungsaufwand inländischer Muttergesellschaften an ausländischen Enkelgesellschaften); v. 29.3.2007, C-347/­04 – Rewe Zen­ tralfinanz, Slg. 2007, I-2647 (Verluste aus der Abschreibung auf Beteiligungswerte an ausländischen Tochtergesellschaften); v. 18.9.2003, C-168/­01 – Bosal, Slg. 2003, I-9409 (Nichtberücksichtigung von ausländischem Beteiligungsaufwand); vgl. hierzu auch: Zeit­ ler, BB 1993, 1707 (1707). Vgl. auch: Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 115. 1139  So auch: Cordewener, EuZW 2015, 295 (300). 1140  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 268b ff. 1138 Nach

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interne Berücksichtigung von Verlusten, ist dies keine Folge der abkommensrechtlichen Freistellung.1141 Das System der finalen Verluste ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, eine grenzüberschreitende Verlustverrechnung zu ermöglichen. Insbesondere der Vorbehalt einer Nachversteuerung von späteren Gewinnen der ausländischen Betriebstätte bzw. Tochtergesellschaft stellt eine weitere Möglichkeit dar, die einen Ausgleich zwischen Besteuerungsrecht und Verlustabzug zwischen den beteiligten Staaten schafft.1142 Zunächst hatte der EuGH seine zu Gruppenbesteuerungssystemen entwickelten Grundsätze im Urteil Marks & Spencer zu Verlusten von ausländischen Tochtergesellschaften aufgestellt. Bereits im Urteil Lidl Belgium übertrug er diese Grundsätze auch auf Verluste ausländischer Betriebstätten.1143 Diese Grundsätze werden bis heute aufrechterhalten und lediglich weiter konkretisiert. Zwischendurch schien es aufgrund des Urteils Timac Agro, als habe der EuGH seine ursprüngliche Rechtsprechung aufgegeben. Immerhin hatte der EuGH hier zwischenzeitlich die Meinung vertreten, dass finale Verluste einer ausländischen Betriebstätte unter bestimmten Voraussetzungen im Ansässigkeitsstaat des Stammhauses nicht berücksichtigt werden müssen. Bereits im Urteil Bevola ist er jedoch bereits hierzu zurückgekehrt und ließ einen Abzug finaler Betriebstättenverluste wieder zu. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Verpflichtung zur Berücksichtigung der finalen Verluste durch den Ansässigkeitsstaat des Stammhauses bzw. der Muttergesellschaft im Wege der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung nur ausnahmsweise und zudem als ultima ratio heranzuziehen ist.1144 Die subsidiäre Anwendung des Verlustausgleichs ist zwar weniger einschneidend als ein genereller Ausschluss der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung.1145 Dennoch übernimmt der Ansässigkeitsstaat aufgrund des Verlustimports immerhin eine 1141 

Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 268 f. auch: Heckerodt/­Schulz, DStR 2018, 1457 (1458): nach dem Vorbild des früheren § 2a Abs. 3, 4 EStG aF; Sillich/­Schneider, IStR 2017, 809 (810). 1143 Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Eleanor Sharpston v. 14.2.2008, C-414/­06 Rn. 10: „Aus der Sicht der Gesellschaft handelt es sich bei der Abziehbarkeit der Verluste einer ausländischen Tochtergesellschaft im Wege des Konzernabzugs und der Abziehbarkeit der Verluste einer ausländischen Betriebsstätte offenkundig um gleichartige Sachverhalte.“; kritisch: Rehm/­Nagler, GmbHR 2008, 709 (714), nach denen sich die Grundsätze aus dem Urteil Marks & Spencer (EuGH v. 13.12.2005, C-446/­03 – Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837) gerade nicht auf Betriebstättenkonstellationen übertragen ließen. 1144 Vgl. Jochum, IStR 2006, 621 (623); Hufeld, in: BeckOK EStG, § 2a Rn. 115; ders., Ubg 2011, 504 (506); Heurung/­Engel/­Thiedemann, FR 2011, 212 (213). 1145  Dürrschmidt/­S chiller, EuR 2006, 266 (279). 1142  Vgl.

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Ausfallbürgschaft für im Ausland final gewordene Verluste.1146 Zudem werden die Freistellungsmethode sowie das Symmetrieprinzip verdrängt. Vorrangig sollte es beim Grundsatz bleiben, dass die Verluste einer ausländischen Tochtergesellschaft oder Betriebstätte in deren Ansässigkeitsstaat zu berücksichtigen sind. Im Endeffekt ist die Rechtsprechung des EuGH das Ergebnis einer Abwägung, bei der die Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit durch finale Verluste als gewichtiger angesehen wird als die Verletzung des Symmetrieprinzips.1147

D.  Diskriminierungsverbot (Art. 24 OECD-MA) In Art. 24 OECD-MA ist ein eigenes abkommensrechtliches Diskriminierungsverbot geregelt, welches in den Absätzen 1 bis 5 jeweils einzelne, eigenständige Ausprägungen enthält.1148 In sachlicher Hinsicht gelten diese für alle Steuern und nicht nur für diejenigen, für die das DBA nach Art. 2 OECD-MA gilt (Art. 24 Abs. 6 OECD-MA).1149 Zunächst enthält Art. 24 Abs. 1 OECD-MA in persönlicher Hinsicht ein Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsangehörigkeit. Hierbei ist es nicht erforderlich, dass der Steuerpflichtige in einem der Vertragsstaaten ansässig ist.1150 Nach Art. 24 Abs. 1 S. 2 OECD-MA werden damit auch in Drittstaaten ansässige Staatsangehörige geschützt. Für Drittstaatsangehörige gilt Art. 24 Abs. 1 OECD-MA allerdings nicht.1151 Art. 24 Abs. 1 OECD-MA schreibt vor, dass Staaten die Steuerpflichtigen mit einer anderen Staatsangehörigkeit steuerlich nicht anders oder belastender behandeln dürfen als die eigenen Staatsangehörigen, die sich in gleichen Verhältnissen befinden.1152 Das Erfordernis der vergleichbaren Verhältnisse erinnert insofern an die Grundsätze des EuGH zur Gewährung von Steuervergünstigungen für beschränkt Steuerpflichtige.1153 Dem Staatsangehörigen des anderen Staates müssen somit alle Steuerbefreiungen, -vergünstigungen und -ermäßigungen gewährt werden, die den eigenen Staatsangehörigen zustehen. Das Diskriminierungsverbot wirkt sich insofern 1146  Schiefer, IStR 2016, 74 (80); Wagner, in: Blümich, EStG, § 2a Rn. 45; Hufeld, in: BeckOK EStG, § 2a Rn. 125; BFH v. 5.2.2014 – I R 48/­11, DStR 2014, 837 Rn. 11. 1147  Wagner, in: Blümich, EStG, § 2a Rn. 46. 1148  Wassermeyer/­S chwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 24 MA Rn. 1: Eine Diskriminierung in diesem Sinne ist die steuerliche Ungleichbehandlung zweier vergleichbarer Sachverhalte. 1149  Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 6 Rn. 221. 1150  Rust, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 24 Rn. 40. 1151  Rust, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 24 Rn. 40. 1152  Rust, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 24 Rn. 42 ff. 1153  Siehe dazu unter § 6 B. I.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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auf die Ausgestaltung der Besteuerung durch die Vertragsstaaten aus.1154 Da die Besteuerung international aber grundsätzlich nicht an die Staatsangehörigkeit, sondern an die Ansässigkeit anknüpft, hat das Diskriminierungsverbot in Art. 24 Abs. 1 OECD-MA praktisch nur eine geringe Bedeutung.1155 Daneben enthält Art. 24 Abs. 3 OECD-MA ein Diskriminierungsverbot für Betriebstätten, die ein Unternehmen eines Vertragsstaats im anderen Vertragsstaat hat. Schutzobjekt ist hierbei das (aus Sicht des Betriebstättenstaats) ausländische Unternehmen, welches im Inland eine Betriebstätte unterhält.1156 Die Betriebstättenbesteuerung darf danach im Betriebstättenstaat nicht ungünstiger sein als die Besteuerung von inländischen Unternehmen, die die gleiche Tätigkeit ausüben. Auch hier besteht somit eine Parallele zu den vom EuGH aufgestellten Grundsätzen, und zwar an dieser Stelle mit der Gleichbehandlungspflicht von Betriebstätten und Tochtergesellschaften im Rahmen der Abkommensberechtigung. Die Einschränkung in Art. 24 Abs. 3 S. 2 OECD-MA, wonach ein Vertragsstaat nicht verpflichtet ist, den in dem anderen Vertragsstaat ansässigen Personen Steuerfreibeträge, -vergünstigungen und -ermäßigungen auf Grund des Personenstandes oder der Familienlasten zu gewähren, ist im Zusammenhang mit Betriebstätten ohne Bedeutung, da sie bereits aufgrund ihres Wortlautes nur natürliche Personen betreffen kann. In Art. 24 Abs. 5 OECD-MA ist ein Diskriminierungsverbot für inländische Unternehmen geregelt, an deren Kapital im anderen Vertragsstaat ansässige Personen beteiligt sind oder deren Kontrolle es unterliegt.1157 Schutzobjekt ist hierbei das inländische Unternehmen.1158 Dieses soll vor einer anderen oder belastenderen Besteuerung im Vergleich zu ähnlichen Unternehmen ohne eine solche Kapital- oder Kontrollbeteiligung geschützt werden. Fraglich ist, ob die Grundfreiheiten auch auf das abkommensrechtliche Diskriminierungsverbot nach Art. 24 OECD-MA einwirken. Auch hier gilt der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor dem Abkommensrecht. Zu untersuchen ist hierbei insbesondere das Verhältnis von Art. 24 OECD-MA zu den unionsrechtlichen Diskriminierungsverboten des AEUV1159, da beide bereits aufgrund ihrer 1154 

Rust, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 24 Rn. 37. Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 6 Rn. 219; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 5 Rn. 750; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 4.51. 1156  Wassermeyer/­Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 24 MA Rn. 46. 1157  Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung, S. 96. 1158  Wassermeyer/­Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 24 MA Rn. 86. 1159  Rust, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 24 Rn. 15: Das allgemeine Diskriminierungsverbot ist in Art. 18 AEUV enthalten, der durch Art. 28, 45, 49, 56 und 63 AEUV (leges speciales) konkretisiert wird. 1155 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Zielsetzung erhebliche Unterschiede aufweisen. Während Art. 24 OECD-MA nur offene Diskriminierungen verbietet, erfassen die Grundfreiheiten auch verdeckte Diskriminierungen.1160 Die Diskriminierungsverbote des Art. 24 OECDMA erfassen zudem nur Inbound-Fälle, wohingegen die Grundfreiheiten auch die Herkunftsstaaten binden und somit ebenfalls auf Outbound-Fälle gerichtet sind.1161 Darüber hinaus wirken die Diskriminierungsverbote in Art. 24 OECDMA absolut, sie können also nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt werden (sog. absolute Diskriminierungsverbote).1162 Der Anwendungsbereich der abkommensrechtlichen Diskriminierungsverbote ist somit deutlich eingeschränkter als es bei den Diskriminierungsverboten des AEUV der Fall ist. Der Hauptanwendungsbereich der abkommensrechtlichen Diskriminierungsverboten liegt daher bei DBA mit Nicht-EU-Mitgliedstaaten.1163 Dennoch können sie darüber hinaus Verstöße der nationalen Rechtsvorschriften gegen den AEUV verhindern, sodass es in diesem Fall keiner Abänderung der nationalen Regelungen bedarf.1164 Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Diskriminierungsverbote nebeneinander anwendbar sind und sich ergänzen.1165 Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts können die Grundfreiheiten also auch auf das abkommensrechtliche Diskriminierungsverbot einwirken. Da es sich auch bei Art. 24 OECD-MA nach dessen Transformation in das nationale Recht um ranggleiches innerstaatliches Recht handelt, gelten auch hier die Kollisionsregelungen, sodass beispielsweise ein Überschreiben durch ein Treaty Override möglich ist.1166

1160  Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 139; Wassermeyer/­Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 24 MA Rn. 2e. 1161  Wassermeyer/­S chwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 24 MA Rn. 2e. 1162  Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 139; Wassermeyer/­Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 24 MA Rn. 2e; Rust, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 24 Rn. 18. 1163  Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 5 Rn. 749. 1164  Rust, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 24 Rn. 19: „Die Berücksichtigung des Abkommensrechts schont dabei im Gegensatz zu einer Abänderungsverpflichtung die Souveränität der Mitgliedstaaten und entspricht somit eher dem gemeinschafts-/­u nionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzip.“ 1165  Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 5 Rn. 749; Gosch, DStR 2007, 1553 (1560), nach dem viel dafürspreche, die unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgebote in die abkommensrechtlichen Diskriminierungsverbot einfließen zu lassen. Der Bundesfinanzhof (BFH v. 29.1.2003 – I R 6/­99, BStBl. II 2004, S. 1043) habe bereits einen ersten Schritt in diese Richtung einer wechselseitigen Verschränkung der Diskiminierungsverbote getan. Vgl. auch: Rust, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 24 Rn. 37: Das Staatsangehörigkeitsdiskriminierungsverbot ergänze den Abkommensschutz durch die Verteilungsnormen. 1166  Siehe dazu § 8 C.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Die Vermeidung einer abkommensrechtlichen Diskriminierung wird vielfach vor dem Hintergrund der Meistbegünstigung diskutiert.1167 Aus dem abkommensrechtlichen Diskriminierungsverbot lässt sich jedoch keine Meistbegünstigung in dem Sinne herleiten, dass der Steuerpflichtige nach dem jeweils günstigsten DBA besteuert werden müsste.1168 Ein solches Gebot soll auch nicht aus dem Unionsrecht hergeleitet werden können.1169 Eine Meistbegünstigung ist auch aus dem Grund ausgeschlossen, dass Staatsangehörige eines dritten Staats, der nicht Vertragspartei des DBA ist, oder dort ansässige Personen auf Grund eines ähnlichen Diskriminierungsverbots in dem DBA zwischen dem dritten Staat und dem erstgenannten Staat, keinen Anspruch auf Steuererleichterungen des erstgenannten DBA haben.1170

E.  Grundsatz der Meistbegünstigung Zudem stellt sich die Frage, ob die Einwirkungen der Grundfreiheiten auf die DBA zu einem Grundsatz der Meistbegünstigung führen. Unter einer Meistbegünstigung versteht man die völkervertraglich ausdrücklich zugesicherte Verpflichtung eines Vertragsstaates, den anderen Vertragspartner bzw. Personen oder Sachen, die in einer bestimmten Beziehung zu diesem Staat stehen, so zu behandeln, wie den bestbehandelten Dritten.1171 Eindeutig besteht ein Meistbegünstigungsanspruch nur in den wenigen Fällen, in denen DBA eine Meistbegünstigung ausdrücklich vorsehen.1172 In den übrigen Fällen erkennt der EuGH den Grundsatz der Meistbegünstigung nicht an.1173 1167  Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 138; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 124. 1168  BFH v. 14.3.1989 – I R 20/­ 87, BStBl. II 1989, S. 649; v. 19.11.2003 – I R 22/­02, BStBl. II 2004, S. 560. 1169  BFH v. 9.11.2005 – I R 27/­03, BStBl. II 2006, S. 564. 1170  Art. 24 Ziffer 2 OECD-MK. 1171  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 271; Oellerich, in: Schaumburg/­ Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.161. 1172  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 271a, Art. 24 Rn. 174: Eine Formulierung des Diskriminierungsverbots in Gestalt einer Meistbegünstigungsklausel enthält Art. 24 Abs. 3 DBA-Kanada: ein Unternehmen, an dem eine im anderen Vertragsstaat ansässige Person beteiligt ist, darf steuerlich nicht schlechter behandelt werden als ein Unternehmen, an dem eine in einem Drittstaat ansässige Person beteiligt ist. Ein weiteres Beispiel findet sich in Art. 25 Abs. 3 des belgisch-niederländischen DBA: EuGH v. 5.7.2005, C-376/­03 – D, Slg. 2005, I-5821 Rn. 60. 1173 Vgl. EuGH v. 5.7.2005, C-376/­ 03 – D, Slg. 2005, I-5821. Das Urteil Metallgesellschaft/­Hoechst (EuGH v. 8.3.2001, C-397/­98 und C-410/­98 – Metallgesell­ schaft und Hoechst, Slg. 2001, I-1727) war zwar auf eine Lösung der Meistbegünstigungsproblematik gerichtet, hierzu kam es jedoch nicht, da bereits die erste Vorlagefra-

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Der Grundsatz der Meistbegünstigung folgt auch nicht aus dem Grundsatz der Inländergleichbehandlung.1174 Denn dieser ist auf eine Gleichbehandlung von In- und Ausländern gerichtet, nicht aber – wie der Grundsatz der Meistbegünstigung – auf eine Gleichbehandlung mit anderen Ausländern.1175 Die Vergleichsgruppe besteht beim Grundsatz der Meistbegünstigung somit aus zwei Ausländern, von denen einer unter das entsprechende DBA fällt, der andere jedoch in einem nicht am DBA beteiligten Staat ansässig ist.1176 Die Abkommensvergünstigungen sind dabei auf die im DBA genannten Personen beschränkt, sodass der Umstand, dass der Vorteil nur den Inländern gewährt wird, die in den Geltungsbereich des Abkommens fallen, „nicht als eine Vergünstigung angesehen werden [kann], die von dem übrigen Abkommen losgelöst werden könnte“, da dieser Vorteil „einen integralen Bestandteil der Gesamtheit der Bestimmungen des Abkommens [bildet] und zur allgemeinen Ausgewogenheit der Beziehungen zwischen den beiden Vertragsstaaten [beiträgt].“1177 Eine Vergleichbarkeit liegt damit nicht vor.1178 Diese Feststellungen gelten nach Ansicht des EuGH sowohl für DBA mit Mitgliedstaaten als auch für DBA mit Drittstaaten.1179 Eine Meistbegünstigung würde darüber hinaus auch gegen das abkommensrechtliche Prinzip der Gegenseitigkeit verstoßen, wonach die Vertragsstaaten ihre Besteuerungsansprüche grundsätzlich nur zurücknehmen, weil der andere Vertragsstaat ebenso verfährt.1180 ge positiv beantwortet worden war: Lehner, IStR 2001, 215 (221). Vgl. auch: Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 271a; Schlussanträge des Generalanwalts Nial Fen­ nelly v. 12.9.2000, C-397/­98 und C-410/­98 Rn. 57, nach dem es sich beim Problem der Meistbegünstigung um „äußerst komplizierte Fragen“ handele. 1174  Wassermeyer/­S chwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 24 MA Rn. 2d mwN. 1175 EuGH v. 5.7.2005, C-376/­ 03 – D, Slg. 2005, I-5821 Rn. 58 ff.; v. 12.12.2006, C-374/­04  – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation, Slg. 2006, I-11673; Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.162. 1176  EuGH v. 5.7.2005, C-376/­03 – D, Slg. 2005, I-5821 Rn. 58; Art. 24 Ziffer 2 OECDMK. 1177  Vgl. EuGH v. 5.7.2005, C-376/­03 – D, Slg. 2005, I-5821 Rn. 54, 61 f.; v. 20.5.2008, Rs. C-194/­06 – Orange Fund, Slg. 2008, I-3747 Rn. 50 f.; v. 30.6.2016, C-176/­15 – Riskin und Timmermans, IStR 2016, 732 Rn. 31 ff.; Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 12.4.2016, C-176/­15 Rn. 40 ff.; Lehner, IStR 2001, 215 (222). 1178 Vgl. EuGH v. 30.6.2016, C-176/­ 15 – Riskin und Timmermans, IStR 2016, 732 Rn. 34. Im Gegensatz zum EuGH prüft die Generalanwältin (Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 12.4.2016, C-176/­15 Rn. 40 ff.) nicht das Vorliegen einer vergleichbaren Situation, sondern von Rechtfertigungsgründen. Vgl. hierzu auch: Henze, ISR 2016, 324 (325). 1179  EuGH v. 30.6.2016, C-176/­15 – Riskin und Timmermans, IStR 2016, 732 Rn. 31. 1180  Wassermeyer/­S chwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 24 MA Rn. 2d.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Zudem können die Feststellungen auch auf den Bereich der Switch-overKlauseln mit Aktivitätsvorbehalt übertragen werden, sodass sich der Steuerpflichtige nicht auf die überwiegende Anzahl deutscher DBA mit Freistellungsklauseln ohne Aktivitätsvorbehalt berufen kann.1181 Diese Feststellungen gelten jedenfalls für Inbound-Fälle.1182 Eine Entscheidung zu Outbound-Fällen steht noch aus.1183

F.  Missbrauchsabwehr Zuletzt können auch Vorschriften, die der Missbrauchsabwehr dienen, in Einzelfällen mit den Grundfreiheiten in Konflikt geraten. So wird insbesondere die Abkommensberechtigung durch Missbrauchsbekämpfungsvorschriften eingeschränkt. Ein Missbrauch setzt dabei eine rechtliche Gestaltung voraus, die hinsichtlich des angestrebten Ziels unangemessen ist, der Steuerminderung dienen soll und durch wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe nicht gerechtfertigt werden kann.1184 Das Prinzip der Unbeachtlichkeit missbräuchlicher Gestaltungen ist dabei ein allgemeiner Rechtsgrundsatz.1185 Die entsprechenden Vorschriften zur Missbrauchsabwehr finden sich in den DBA selbst oder in innerstaatlichen Bestimmungen, die eine Gestaltung entgegen der DBA-Bestimmungen als missbräuchlich qualifizieren (Treaty Override).1186 In diesem Fall ist jedenfalls davon auszugehen, dass das Treaty Override nicht gegen das Unionsrecht verstößt.1187 Mit den unilateralen Vorschriften zur Missbrauchsabwehr wollen die Vertragsstaaten insbesondere steuerliche Ge1181 

Rehfeld, DStR 2010, 1809 (1812); a. A.: Rödder/­Schönfeld, IStR 2005, 523 (526). v. 5.7.2005, C-376/­03 – D, Slg. 2005, I-5821. Zur sog. Outbound-Meistbegünstigung siehe: Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 126. 1183  Strunk, in: Grotherr/­ Herfort/­Strunk, Internationales Steuerrecht, S. 748; Haa­ se, Internationales Steuerrecht, § 6 Rn. 815: Der Bundesfinanzhof hat in seinem Urteil v. 9.11.2005 – I R 27/­03, BStBl. II 2006, 564 eine Meistbegünstigung auch für den Outbound-Fall verneint. Derzeit ist nicht davon auszugehen, dass der EuGH gegenteilig entscheiden würde. 1184  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­ Ditz, DBA, Systematik Rn. 158; BFH v. 17.11.1999 – I R 11/­99, BStBl. II 2001, 822. 1185  Kokott, Das Steuerrecht der EU, § 2 Rn. 72. 1186  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 127; Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 140. 1187 EuGH v. 19.9.2012, C-540/­ 11 – Levy/­Sebbag, IStR 2013, 307; Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.178, nach dem ein treaty override regelmäßig dann gerechtfertigt sein dürfte, soweit es der Missbrauchsabwehr diene. Vgl. auch: Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 270a. Unabhängig davon gebe ein treaty override als Verstoß gegen die bilateralen Verpflichtungen dem Vertragspartner das Recht, das DBA zu kündigen oder die Anwendung des DBA auszu1182  EuGH

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

staltungen ausschließen, durch die Steuerpflichtige in missbräuchlicher Absicht den Schrankencharakter der DBA sowie rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten in Bezug auf Abkommensvergünstigungen ausnutzen.1188 Dies ist der Fall, wenn ein Steuerpflichtiger einen Sachverhalt so gestaltet, dass eine für ihn ungünstige Rechtsfolge, die ihn nach dem Zweck des Abkommens treffen soll, nicht eintritt oder er gegen den Abkommenszweck eine für ihn günstige Rechtsfolge erwirkt.1189 Es gibt in diesem Zusammenhang zwei Formen des Missbrauchs: das Treaty­Shopping1190 und das Rule-Shopping. Beiden Formen ist gemein, dass zur Erzielung abkommensrechtlicher Vorteile in der Regel eine Gesellschaft zwischengeschaltet wird.1191 In den Fällen des Treaty-Shopping ist dies wegen der fehlenden Abkommensberechtigung erforderlich, damit überhaupt ein DBA oder zumindest ein günstigeres DBA anwendbar wird. Die bestehenden Beschränkungen in den DBA werden somit umgangen.1192 Dafür wird eine Durchlaufgesellschaft gegründet: Eine inländische Gesellschaft beherrscht eine ausländische, in einem Nicht-DBA-Staat ansässige Tochtergesellschaft, welche in einem Drittstaat eine Zwischenholding gründet.1193 Bestehen im Drittstaat entsprechende Steuervergünstigungen, entsteht bei der Ausschüttung an die Tochtergesellschaft keine Quellensteuer. Im Sitzstaat der Tochtergesellschaft greift wiederum das Schachtelprivileg. Auch bei Weiterausschüttung an die inländische Gesellschaft fällt aufgrund der Mutter-Tochter-Richtlinie keine Quellensteuer an. Im Inland gilt wiederum aufgrund des DBA das Schachtelprivileg. Um diese Fälle zu verhindern, ist die Inanspruchnahme von Abkommensvergünstigungen im Quelsetzen: Vogel/­Rust, in: Reimer/­Rust, Klaus Vogel on Double Taxation Conventions, Introduction Rn. 160. 1188  Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8. 8.174. 1189  Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.175. Geht es um die Vorteile einer Richtlinie, spricht man vom Directive-Shopping. 1190  Das Treaty-Shopping findet sich als nationale Spezialregelung in § 50d Abs. 3 EStG. Der Abkommensmissbrauch zählt laut der OECD zu den wichtigsten Aspekten der Gewinnverkürzungs- und Gewinnverlagerungsproblematik, da die Steuerhoheit untergraben und dadurch den Staaten Steuereinnahmen vorenthalten würden: OECD, Aktionspunkt 6: Abschlussbericht 2015, S. 9, 13 (https:/­ /­ read.oecd-ilibrary. org/­t axation/­v erhinder ung-der-gewahr ung-von-abkommensvergunstigungen-inunangemessenen-fallen-aktionspunkt-6-abschlussbericht-2015_9789264304390-de#­ page11). 1191  Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.176. 1192  OECD, Aktionspunkt 6: Abschlussbericht 2015, a. a. O., S. 19. 1193  Kluge, Das Internationale Steuerrecht, Rn. 103 f.: Eine Abwandlung bestehe in der Gründung von stepping-stone-Gesellschaften. Hierbei werde zwar die Zwischengesellschaft in die Besteuerung einbezogen, durch entsprechende Gestaltung werde jedoch eine nur geringe Steuerlast und somit eine reduzierte Quellensteuer erreicht (statt einer beschränkten Steuerpflicht ohne Abkommensberechtigung).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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lenstaat oftmals davon abhängig, dass die die Abkommensvergünstigung beanspruchende Person bestimmte Voraussetzungen erfüllt.1194 Demgegenüber zielt das Rule-Shopping darauf ab, durch die Inanspruchnahme von Abkommensvergünstigungen innerstaatliche Rechtsvorschriften zu umgehen.1195 Ein Steuerpflichtiger hat beispielsweise eine Beteiligung an einer ausländischen Gesellschaft (DBA-Staat). Diese Beteiligung bringt er in eine inländische Gesellschaft ein, um das Schachtelprivileg gelten zu lassen. Aufgrund der Thesaurierung kommt es zu keiner Ausschüttung. Es gibt verschiedene Gestaltungen von Missbrauchsbekämpfungsvorschriften, wobei kein einheitliches System erkennbar ist. Nachfolgend sollen sowohl nationale Vorschriften als auch DBA-Bestimmungen dargestellt werden. I.  Limitation-on-benefits-Klauseln

Durch sog. Limitation-on-benefits-Klauseln (im Folgenden: LOB-­Klauseln) soll vermieden werden, dass Steuerpflichtige die in den DBA enthaltenen Steuervergünstigungen missbräuchlich in Anspruch nehmen können. Solche LOB-Klauseln finden sich im innerstaatlichen Recht sowie in DBA. Zu beachten ist, dass LOB-Klauseln nur das Treaty-Shopping vermeiden können, nicht aber auch andere Formen des Abkommensmissbrauchs. 1.  Limitation-on-benefits-Klauseln als besondere Missbrauchsbekämpfungsvorschriften

Als Pendant zu den sogleich dargestellten, unilateralen Anti-Treaty-Shopping-Regelungen versagen häufig DBA-Vorschriften die Abkommensberechtigung mittels LOB-Klauseln als besondere Missbrauchsbekämpfungsvorschriften.1196 Durch solche Klauseln soll insbesondere die Quellensteuerbefreiung verhindert werden. Art. 1 Nr. 20 OECD-MK sieht beispielhaft eine solche LOB-Klausel vor, welche bezweckt, „Personen, die in keinem der Vertragsstaaten ansässig sind, daran zu hindern, Zugang zu den Abkommensvergünstigungen durch Einschaltung eines Rechtsträgers zu erreichen, der ansonsten als eine in einem Vertragsstaat ansässige Person anzusehen wäre“. Anhand der Voraussetzungen in den LOB-Klauseln, die auf die Rechtsnatur, Eigentümerstruktur oder auf die allge1194 

Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 141. Kluge, Das Internationale Steuerrecht, Rn. R 110; Oellerich, in: Schaumburg/­ Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.176; OECD, Aktionspunkt 6: Abschlussbericht 2015, a. a. O., S. 19. 1196  OECD, Aktionspunkt 6: Abschlussbericht 2015, a. a. O., S. 9. 1195 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

meinen Tätigkeiten des Rechtsträgers abstellen, soll gewährleistet werden, dass zwischen dem Rechtsträger und seinem Ansässigkeitsstaat eine ausreichende Verbindung (sog. Nexus besteht.1197 LOB-Klauseln knüpfen somit an die Abkommensberechtigung an. Sie sehen objektive Tests vor, die erfüllt sein müssen, um sich auf die Abkommensberechtigung berufen zu können, wobei in der Regel bereits das Bestehen eines Tests zur Erlangung der Abkommensbegünstigung ausreicht.1198 LOB-Klauseln sind unionsrechtlich problematisch,1199 weil sie die Gefahr einer Ungleichbehandlung von in- und ausländischen Anteilseignern begründen.1200 Gleichwohl hat der EuGH entschieden, dass LOB-Klauseln nicht gegen das Unionsrecht, insbesondere die Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit, verstoßen.1201 Die LOB-Klauseln könnten jedoch nicht nur gegen Grundfreiheiten, sondern auch gegen Richtlinien, insbesondere die der Mutter-­Tochter-Richtlinie verstoßen, indem sie die Quellensteuerbefreiung in bestimmten Fällen versagen. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts dürften die abkommensrechtlichen Missbrauchsnormen jedoch regelmäßig nur im Drittstaatenkontext einschlägig sein.1202 Und selbst dann wäre die Frage nur dann zu klären, wenn der Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit eröffnet wäre.1203

1197  OECD, Aktionspunkt 6: Abschlussbericht 2015, a. a. O., S. 9; Eicke, in: Festgabe Wassermeyer, Beitrag Nr. 60 Rn. 13; Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.182: Diese Vorschriften gingen davon aus, dass Vorschriften, die an die Ansässigkeit anknüpfen, zu leicht umgangen werden könnten. 1198 Ausführlich: Wassermeyer/­S chönfeld, DB 2006, 1970 ff.; Eicke, in: Festgabe Wassermeyer, Beitrag Nr. 60 Rn. 17 ff.; Polatzky/­Balliet/­Steinau, DStR 2017, 226 (231). 1199  Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Systematik Rn. 269a: Diese Klauseln werden insbesondere in der Abkommenspraxis der USA verwendet. Für die Frage der Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten ist dies jedoch unerheblich, da auch DBA zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat die Grundfreiheiten beachten müssen. LOB-Klauseln finden sich auch in anderen DBA, beispielsweise in Art. 29 DBA Irland 2011 und in Ziff. 3 des Protokolls zum DBA Großbritannien 2010. 1200  Eicke, in: Festgabe Wassermeyer, Beitrag Nr. 60 Rn. 15; Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 269a: Art. 28 Abs. 3 i. V. m. Abs. 4 lit. a DBA USA 1989/­ 2006 in der Fassung von 2008 solle der Unionsrechtswidrigkeit dadurch entgegenwirken, dass Abkommensvergünstigungen dann nicht versagt werden könnten, wenn zwar nicht die Gesellschaft, wohl aber ihre Gesellschafter vergleichbare Vergünstigungen beanspruchen könnten (sog. derivative benefits). 1201  EuGH v. 12.12.2006, C-374/­ 04 – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation, Slg. 2006, I-11673; Schnittker, IStR 2012, 720 (722); a. A.: Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.185 f. 1202  Kahlenberg, IWB 2018, 145 (151). 1203  Kahlenberg, IWB 2018, 145 (151).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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Nicht abschließend geklärt ist die Frage, in welchem Verhältnis LOB-­ Klauseln zu Missbrauchsvorschriften des nationalen Rechts stehen, wie beispielsweise § 50d Abs. 3 EStG.1204 Die Frage nach dem Verhältnis stellt sich insbesondere dann, wenn die Voraussetzungen der Missbrauchsklauseln in den DBA enger sind als diejenigen der nationalen Vorschriften.1205 Grundsätzlich kommt § 50d Abs. 3 EStG Vorrang vor dem Abkommensrecht zu.1206 Die Anwendung der nationalen Vorschrift ist jedoch dann ausgeschlossen, wenn das DBA eine eigenständige speziellere Regelung zur Missbrauchsvermeidung enthält.1207 Dies müsse auch gelten, wenn das DBA zwar keine vollständige Regelung zur Missbrauchsvermeidung enthält, aber beispielsweise von dem in § 50d Abs. 3 S. 2 EStG normierten Verbot der Merkmalsübertragung abweicht.1208 Unklar ist, ob die Sperrwirkung sich nur auf die in der DBA-Regelung geregelten Sachverhalte erstreckt oder die Anwendung von Abs. 3 generell ausgeschlossen ist.1209 Neben den DBA ist auch in Art. 29 Abs. 1 bis 7 OECD-MA 2017 eine vereinfachte LOB-Klausel vorgesehen. Da hier pauschalierend bei Erfüllung bestimmter Bedingungen eine Missbrauchsvermutung aufgestellt wird, ist – insbesondere aufgrund der dargestellten aktuellen EuGH-Rechtsprechung – fraglich, ob diese Regelungen unionsrechtskonform sind.1210 Zudem findet sich in Art. 7 Abs. 8 bis 13 MLI als „vereinfachte Bestimmung zur Beschränkung von Vergünstigungen“ eine LOB-Klausel in einer vereinfachten Form.1211

1204 

Schnittker, IStR 2012, 720 (722). Lampert, in: BeckOK EStG, § 50d Rn. 120. 1206  Loschelder, in: Schmidt, EStG, § 50d Rn. 45. 1207  Lampert, in: BeckOK EStG, § 50d Rn. 120; Wagner, in: Blümich, EStG, § 50d Rn. 67; Polatzky/­Balliet/­Steinau, DStR 2017, 226 (230). Vgl. auch BFH v. 29.10.1997 – I R 35/­96, BStBl. II 1998, S. 235; v. 19.12.2007 – I R 21/­07, BStBl. II 2008, S. 619; Bundesministerium der Finanzen v. 24.1.2012 – IV B 3 – S 2411/­07/­10016, BStBl. I 2012, S. 171 Rn. 10. 1208  Lampert, in: BeckOK EStG, § 50d Rn. 120. 1209  Wagner, in: Blümich, EStG, § 50d Rn. 67. 1210  Schnitger, IStR 2018, 169 (172); vgl. hierzu auch die EuGH-Rechtsprechung vom 5.11.2002 zu den Open Skies-Abkommen: EuGH, C-467/­98 – Kommission/­Dänemark, Slg. 2002, I-9519; C-468/­98 – Kommission/­Schweden, Slg. 2002, I-9575; C-469/­98 – Kommission/­Finnland, Slg. 2002, I-9627; C-471/­98 – Kommission/­Belgien, Slg. 2002, I-9681; C-472/­98  – Kommission/­Luxemburg, Slg. 2002, I-9741; C-475/­98 – Kommission/­ Österreich, Slg. 2002, I-9797; C-476/­98 – Kommission/­Deutschland, Slg. 2002, I-9855; C-466/­98  – Kommission/­Vereinigtes Königreich, Slg. 2002, I-9427. 1211  Polatzky/­Balliet/­Steinau, DStR 2017, 226 (229). 1205 

322

Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

2.  Allgemeine Missbrauchsbekämpfungsvorschriften

Neben den besonderen Missbrauchsbekämpfungsvorschriften in Form von LOB-Klauseln gibt es allgemeine abkommensrechtliche Missbrauchsbekämpfungsvorschriften, um neben dem Treaty-Shopping auch andere Fälle des Abkommensmissbrauchs zu vermeiden, die nicht von den LOB-Klauseln erfasst werden. Solche Vorschriften stellen auf den Hauptzweck von Transaktionen und Gestaltungen ab (sog. Hauptzweck-Kriterium- bzw. Principle-Purpose-Test (PPT)-Klausel): Ist einer der Hauptzwecke die Erlangung von Abkommensvergünstigungen, werden diese verweigert, es sei denn, es wird nachgewiesen, dass die Gewährung der Vergünstigungen mit dem Ziel und Zweck der Abkommensbestimmungen im Einklang steht.1212 Der Principle-Purpose-Test ist wesentlich weiter gefasst als die spezifischen LOB-Klauseln und kann nach Auffassung der OECD auch dann Anwendung finden, wenn die den Abkommensvorteil in Anspruch nehmende Person einen der LOB-Tests erfüllt.1213 Die Entwicklung hin zu einem solchen sog. Principle-Purpose-Test zeigt sich insbesondere im BEPS-Aktionspunkt 6. Die Staaten können dabei selbst entscheiden, ob sie in die DBA entweder nur die PPT- oder LOB-Klausel1214 (ergänzt um einen Mechanismus zur Berücksichtigung von bislang durch ihre DBA nicht abgedeckten Durchlauffinanzierungsgestaltungen – sog. conduit financing arrangements) aufnehmen oder eine Kombination aus beiden.1215 Der sog. Principle-Purpose-Test ist auch bereits in Art. 9 Abs. 9 OECD-MA 2017 enthalten. Inwieweit die Mitgliedstaaten diese Regelung umsetzen, bleibt ihnen selbst überlassen. Aufgrund seiner Ausrichtung auf die Vermeidung des Missbrauchs im individuellen Einzelfall steht der Principle-Purpose-Test strukturell sehr viel stärker im Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben als die LOB-Klauseln.1216 Darüber hinaus regelt auch das MLI in Art. 7 die Verhinderung von Abkommensmissbrauch. In Art. 7 Abs. 1 bis 5 MLI ist der Principle-Purpose-Test enthalten, der ähnlich dem Art. 29 Abs. 9 OECD-MA 2017 formuliert ist. Auch das MLI lässt den Staaten die Wahl, sich selbst für eine der Möglichkeiten zu ent1212 OECD, Aktionspunkt 6: Abschlussbericht 2015, a.  a. O., S. 9 f.; Beutel/­Oppel, DStR 2018, 1469 (1474). 1213  Polatzky/­Balliet/­Steinau, DStR 2017, 226 (230); OECD, Aktionspunkt 6: Abschlussbericht 2015, a. a. O., S. 55. 1214 Ergänzt um einen Mechanismus zur Berücksichtigung von bislang durch ihre DBA nicht abgeckten Durchlauffinanzierungsgestaltungen (sog. conduit financing arrangements). 1215 OECD, Aktionspunkt 6: Abschlussbericht 2015, a. a. O., S. 10; Polatzky/­Balliet/­ Steinau, DStR 2017, 226 (230); Benz/­Böhmer, ISR 2017, 27 (29 f.). 1216  Schnitger, IStR 2018, 169 (173).

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

323

scheiden (Art. 7 Abs. 15 lit. A) MLI). Zudem enthält das MLI eine sog. Saving Clause, mit der das Recht der Vertragsstaaten zur Besteuerung der in ihrem Gebiet ansässigen Personen unabhängig von den Abkommensbestimmungen gesichert und bestätigt wird.1217 Auch Art. 7 Abs. 2 lit. b) der Anti-Tax-Avoidance-Richtlinie enthält im Rahmen einer Hinzurechnungsbesteuerung einen sog. Principle-Purpose-Test für die Bestimmung der hinzurechnungspflichtigen Einkünfte. Diese Vorschrift ähnelt insofern der nationalen Vorschrift in § 50d Abs. 3 EStG.1218 3.  Innerstaatliche Vorschriften

Neben den DBA enthalten auch die nationalen Vorschriften zur Vermeidung von Abkommensmissbrauch teilweise Anti-Treaty-Shopping-Regelungen. Im deutschen Steuerrecht sieht § 50d Abs. 3 EStG eine solche Regelung vor.1219 Diese Vorschrift soll verhindern, dass Steuerpflichtige durch Zwischenschaltung einer (Holding-)Gesellschaft missbräuchlich in den Genuss von Quellensteuerentlastungen nach DBA oder Richtlinien (insbesondere der Mutter-Tochter-Richtlinie) kommen, indem die Quellensteuer regelmäßig abgeltende Wirkung (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 KStG) hat.1220 Hierdurch soll das Besteuerungsrecht von Deutschland als Quellenstaat gesichert werden. Insofern enthält § 50d Abs. 3 EStG ein (verdecktes) Treaty Override.1221 Ohne die Regelung des § 50d Abs. 3 EStG wäre das Quellenbesteuerungsrecht von Deutschland begrenzt, und zwar sowohl durch Art. 10 Abs. 2 OECD-MA auf 5 % bzw. auf 15 % (wenn die Mindestbeteiligungsquote von 25 % nicht erreicht wird) als auch durch § 43b EStG auf 0 % bzw. gemäß § 44a Abs. 9 S. 1 EStG auf 15 %. § 50d Abs. 3 EStG erfasst jedoch nicht nur missbräuchliche Fälle, sodass der EuGH1222 entschieden hat, dass diese Vorschrift sowohl gegen Art. 1 Abs. 2 1217  Benz/­Böhmer, ISR 2017, 27 (29 f.); vgl. auch: OECD, Aktionspunkt 6: Abschlussbericht 2015, a. a. O., S. 91. 1218  Kahlenberg, IWB 2018, 145 (150). 1219  Zuvor gab es nur die allgemeine Missbrauchsvorschrift in § 42 AO. 1220  Beutel/­Oppel, DStR 2018, 1469 (1469). 1221  Lampert, in: BeckOK EStG, § 50d Rn. 121 f.; Wagner, in: Blümich, EStG, § 50d Rn. 67: Der Gesetzgeber sei bei der Neufassung der Norm hingegen davon ausgegangen, dass sie nur den Anwendungsbereich durch eine Missbrauchsregelung in Übereinstimmung mit dem DBA beschränke. 1222  EuGH v. 20.7.2017, verb. Rs. C-504/­16 und C-613/­16 – Deister Holding und Juh­ ler Holding, EuZW 2018, 96 zur bis einschließlich des Veranlagunszeitraums 2011 geltenden Fassung des § 50d Abs. 3 EStG 2007. Das Bundesministerium der Finanzen veröffentlichte daraufhin ein Schreiben (Bundesministerium der Finanzen v. 4.4.2018 – IV B 3 – S 2411/­07/­10016-14), durch das die Nichtanwendung der Anti-Treaty-Shopping-Regelung des § 50d Abs. 3 EStG für alle noch offenen Fälle angeordnet wurde. Vgl. auch:

324

Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

i. V. m. Art. 5 Abs. 1 der Mutter-Tochter-Richtlinie als auch gegen die Niederlassungsfreiheit verstößt, da sie eine Ungleichbehandlung begründe.1223 Dieser Verstoß könne nicht mit der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und umgehung gerechtfertigt werden.1224 Nach Ansicht des EuGH bezweckt eine nationale Regelung nur dann die Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen, „wenn ihr spezifisches Ziel in der Verhinderung von Verhaltensweisen liegt, die darin bestehen, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktionen zu dem Zweck zu errichten, ungerechtfertigt einen Steuervorteil zu nutzen“.1225 Der EuGH gibt damit die Definition vor, wann ein Missbrauch vorliegt. Für die Feststellung einer solchen Konstruktion sei erforderlich, dass in jedem Einzelfall eine umfassende Prüfung der betreffenden Situation vorgenommen werde.1226 Eine allgemeine Vermutung für das Vorliegen von Steuerhinterziehung und Missbrauch könne demnach keine Steuermaßnahme rechtfertigen, vielmehr müssten die nationalen Behörden einen Anfangsbeweis oder ein Indiz für die Steuerhinterziehung oder den Missbrauch beibringen.1227 Dies war bei § 50d Abs. 3 EStG 2007 nicht der Fall, da diese Vorschrift Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 127; Polatzky/­Goldschmidt/­ Schuhmann, DStR 2018, 641 (641). 1223  EuGH v. 20.7.2017, C-504/­16 und C-613/­16 – Deister Holding und Juhler Holding, EuZW 2018, 96 Rn. 89 f., 100: So hing die in Art. 5 Abs. 1 der Mutter-Tochter-Richtlinie vorgesehene Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle nur dann von den Voraussetzungen in § 50d Abs. 3 EStG a. F. ab, wenn eine gebietsansässige Tochtergesellschaft Gewinne an eine gebietsfremde Muttergesellschaft ausschüttete, wodurch eine gebietsfremde Muttergesellschaft davon abgehalten wurde, in Deutschland durch eine dort niedergelassene Tochtergesellschaft wirtschaftlich tätig zu werden. Diese Feststellungen gelten auch für die Neufassung der Mutter-Tochter-Richtlinie: EuGH v. 14.6.2018, C-440/­17 – GS, DStR 2018, 1479 Rn. 30. 1224  EuGH v. 20.7.2017, C-504/­16 und C-613/­16 – Deister Holding und Juhler Holding, EuZW 2018, 96 Rn. 60 ff., 95 ff. Nach Ansicht des EuGH könne auch die Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten den Verstoß nicht rechtfertigen (Rn. 98). 1225 EuGH v. 20.7.2017, C-504/­ 16 und C-613/­16 – Deister Holding und Juhler Hol­ ding, EuZW 2018, 96 Rn. 60; vgl. auch: EuGH v. 7.9.2017, C-6/­16 – Eqiom und Enka, EuZW 2017, 824 Rn. 30 mwN; v. 14.6.2018, C-440/­17 – GS, DStR 2018, 1479 Rn. 43; v. 12.12.2002, C-324/­00 – Lankhorst-Hohorst, Slg. 2002, I-11779 Rn. 37. Vgl. hierzu ausführlich: Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 7.250 ff. 1226  EuGH v. 20.7.2017, C-504/­16 und C-613/­16 – Deister Holding und Juhler Holding, EuZW 2018, 96 Rn. 74; v. 14.6.2018, C-440/­17 – GS, DStR 2018, 1479 Rn. 57: Nach Ansicht des EuGH müssten bei einer solchen Prüfung Gesichtspunkte wie die organisatorischen, wirtschaftlichen oder sonst beachtlichen Merkmale der Unternehmensgruppe, zu der die betreffende Muttergesellschaft gehört, sowie die Strukturen und Strategien dieser Gruppe berücksichtigt werden. Vgl. auch EuGH v. 17.7.1997, C-28/­95 – Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161 Rn. 41. 1227  EuGH v. 20.7.2017, C-504/­16 und C-613/­16 – Deister Holding und Juhler Holding, EuZW 2018, 96 Rn. 61 f.; v. 7.9.2017, C-6/­16 – Eqiom und Enka, EuZW 2017, 824 Rn. 31 f.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

325

eine unwiderlegbare Missbrauchs- oder Hinterziehungsvermutung begründe, indem „sie in dem Fall, in dem eine der in ihr vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt ist, der gebietsfremden Muttergesellschaft nicht die Möglichkeit lässt, das Vorliegen wirtschaftlicher Gründe zu beweisen“.1228 Diese Feststellungen entsprechen nahezu denen im Urteil Cadbury Schwep­ pes1229, in dem es um typisierende Missbrauchsvermeidungsvorschriften im Rahmen der britischen Hinzurechnungsbesteuerung ging. Wie bereits in diesem Urteil entschieden, können typisierende Missbrauchsvermeidungsvorschriften zwar Beschränkungen der Grundfreiheiten rechtfertigen, jedoch nur, soweit sich diese Klauseln gegen „rein künstliche Gestaltungen“ richten, die dazu bestimmt sind, die normalerweise geschuldete Steuer zu umgehen.1230 Damit dürfte feststehen, dass diese Grundsätze des EuGH unverändert weiterhin Bestand haben und das Urteil Deister Holding und Juhler Holding somit deutlich über den entschiedenen Sachverhalt hinausgeht.1231 Die unionsrechtlichen Anforderungen an die Erbringung eines Gegenbeweises durch den EuGH haben somit weiterhin Bestand.1232 Das Urteil Cadbury Schweppes betraf jedoch nur den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit. Im aktuellen Urteil X hatte der EuGH zu entscheiden, ob die Cadbury-Schweppes-Rechtsprechung auf die Kapitalverkehrsfreiheit in Fällen mit Drittstaaten ausgeweitet werden kann.1233 Hierbei ging es insbesondere um die Frage, ob die Auslegung des Ausdrucks „rein künstliche Gestaltung“ durch den EuGH im Urteil Cadbury Schweppes auch auf den Sachverhalt des Urteils X übertragbar ist.1234 Zwar decke sich nach Ansicht des EuGH der Begriff „rein künstliche Gestaltung“ im Kontext des freien Kapitalverkehrs nicht unbedingt mit den im Urteil Cadbury Schweppes gemwN; v. 14.6.2018, C-440/­17 – GS, DStR 2018, 1479 Rn. 44 f.; v. 26.9.2000, C-478/­98 – Kommission/­Belgien, Slg. 2000, I-7587 Rn. 45 mwN; v. 5.7.2012, C-318/­10 – SIAT, EuZW 2012, 823 Rn. 38. 1228  EuGH v. 20.7.2017, C-504/­16 und C-613/­16 – Deister Holding und Juhler Holding, EuZW 2018, 96 Rn. 70. 1229  EuGH v. 12.9.2006, C-196/­ 04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 Rn. 55; vgl. auch: EuGH v. 5.7.2012, C-318/­10 – SIAT, EuZW 2012, 823 Rn. 40. 1230  Vgl. EuGH v. 26.2.2019, C-135/­17 – X, DStR 2019, 489; EuGH-Vorlage durch Beschluss des BFH v. 12.10.2016 – I R 80/­14; v. 19.11.2009, C-540/­07 – Kommission/­Italien, Slg. 2009, I-10983 Rn. 58. Vgl. auch: Musil, FR 2012, 149 (153); Lampert, in: BeckOK EStG, § 50d Rn. 122, 122.2, nach dem der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit bei rein künstlichen Gestaltungen überhaupt nicht eröffnet sei. 1231  Schönfeld, IStR 2018, 325 (328). 1232  Vgl. auch: Weiss/­Brühl, ISR 2018, 238 (241). 1233  EuGH v. 26.2.2019, C-135/­17 – X, DStR 2019, 489; EuGH-Vorlage durch Beschluss des BFH v. 12.10.2016 – I R 80/­14. Vgl. hierzu auch: Schlussanträge des Generalanwalts Paolo Mengozzi v. 5.6.2018, C-135/­17; Cloer/­Hagemann, IStR 2018, 685 (697 ff.). 1234  EuGH v. 26.2.2019, C-135/­17 – X, DStR 2019, 489 Rn. 81.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

nannten Anhaltspunkten für die fehlende wirtschaftliche Realität der Niederlassung einer Gesellschaft. Die Kriterien zur Bestimmung einer „rein künstlichen Gestaltung“ können jedoch als Indizien auch für die Beurteilung im Rahmen der Kapitalverkehrsfreiheit herangezogen werden.1235 Daran ändern auch die Richtlinienbestimmungen nichts. Zwar enthält Art. 1 Abs. 4 der Mutter-Tochter-Richtlinie eine Öffnungsklausel, nach der die Richtlinie der Anwendung einzelstaatlicher oder vertraglicher Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerbetrug oder Missbrauch nicht entgegensteht.1236 Die Mitgliedstaaten können den Missbrauchsbegriff jedoch nicht beliebig definieren, vielmehr liegt der Vorschrift durch die EuGH-Rechtsprechung ein selbständiges unionsrechtliches Verständnis des Begriffs zugrunde.1237 Nur in diesem vom EuGH festgelegten Rahmen besteht für die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, Missbrauchsbekämpfungsvorschriften zu schaffen.1238 Trotz einer Änderung des § 50d Abs. 3 EStG 2007 ab dem Veranlagungszeitraum 2012 durch den Gesetzgeber1239 hat der EuGH1240 aktuell entschieden, dass auch diese Vorschrift gegen Art. 1 Abs. 2 der Mutter-Tochter-Richtlinie sowie gegen die Niederlassungsfreiheit verstößt.1241 Der EuGH nimmt in diesem Urteil weitestgehend Bezug auf das Urteil Deister Holding und Juhler Holding, sodass 1235 

EuGH v. 26.2.2019, C-135/­17 – X, DStR 2019, 489 Rn. 84. 90/­435/­EWG des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten, ABl. Nr. L 225 v. 20.8.1990, S. 6, aufgehoben durch Richtlinie (EU) 2011/­96/­EU des Rates v. 30.11.2011, ABl. Nr. L 345 v. 29.12.2011, S. 8, zuletzt geändert durch die Richtlinie (EU) 2015/­121 des Rates vom 27.1.2015, ABl. Nr. L 21 v. 28.1.2015, S. 1. 1237  Lampert, in: BeckOK EStG, § 50d Rn. 124.9. 1238  Wagner, in: Blümich, EStG, § 50d Rn. 70. 1239 Gesetz zur Umsetzung der Beitreibungsrichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften (Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz – BeitrRLUmsG) v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, S. 2592. Bis zum Veranlagungszeitraum 2011 war eine Entlastung von Quellensteuern nur möglich, wenn die betreffende Gesellschaft mindestens 10 % ihrer Bruttoerträge aus eigener Wirtschaftstätigkeit erzielte. Diese Regelung wurde ab dem Veranlagungszeitraum 2012 durch die sog. „Aufteilungsklausel“ ersetzt („soweit“). 1240  EuGH v. 14.6.2018, C-440/­17 – GS, DStR 2018, 1479 Rn. 81. 1241  EuGH v. 14.6.2018, C-440/­17 – GS, DStR 2018, 1479 Rn. 71: Auch in diesem zugrundeliegenden Sachverhalt galten für die Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle die Vorgaben des § 50d Abs. 3 EStG a. F. nur dann, wenn eine gebietsansässige Tochtergesellschaft Gewinne an eine gebietsfremde Muttergesellschaft ausschüttete. § 50d Abs. 3 EStG muss somit erneut überarbeitet und geändert werden, um den Vorgaben des Unionsrechts zu entsprechen. Vgl. auch: Weiss/­Brühl, IStR 2018, 543 (550): Die vorliegende Entscheidung lenke den Blick auf die Unionsrechtskonformität weiterer national-steuerrechtlicher (z. B. § 8 Abs. 2 AStG) oder international-steuerrechtlicher Normen (z. B. Art. 7 Abs. 2 lit. b) ATAD). 1236  Richtlinie

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

327

nun endgültig feststehen dürfte, dass § 50d Abs. 3 EStG – zumindest in den Fassungen von 2007 und 2012 – nicht als Missbrauchsabwehrnorm qualifiziert, sodass die Vorschrift gesetzlich angepasst oder gestrichen werden muss.1242 Dabei ist aufgrund der EuGH-Rechtsprechung auf unwiderlegbare Missbrauchsvermutungen zu verzichten und dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit einzuräumen, nachzuweisen, dass keine rein künstliche Gestaltung vorliegt.1243 Gelingt ihm dieser Beweis, ist die Anwendung der Missbrauchsbekämpfungsvorschrift nicht erforderlich1244, sodass sich die Niederlassungsfreiheit gegen sie durchsetzt. Typisierende Missbrauchsvermeidungsvorschriften ohne Möglichkeit eines Gegenbeweises sind hingegen grundsätzlich nicht mit den Anforderungen der Grundfreiheiten vereinbar.1245 4.  Ergebnis

Nach alledem steht fest, dass sich Missbrauchsbekämpfungsvorschriften nur gegen rein künstliche Konstruktionen richten dürfen. Sofern kein Missbrauch im Sinne der EuGH-Rechtsprechung vorliegt, dürfen die Steuervorteile nicht versagt werden. Diese primärrechtliche Definition des EuGH ist auch für das Sekundärrecht sowie die innerstaatlichen Vorschriften bindend, sodass die im Rahmen des § 50d Abs. 3 EStG aufgestellten Grundsätze auch für die abkommensrechtlichen Missbrauchsbekämpfungsvorschriften sowie für die Mutter-Tochter-Richtlinie gelten.1246 Auf diese Weise wirken die Grundfreiheiten auf die DBA ein. Die Vorschrift des § 50d Abs. 3 EStG in seiner aktuellen Fassung muss an die unionsrechtlichen Vorgaben angepasst werden. Die bisherige schematische Betrachtungsweise dürfte von einem Principle-Purpose-Test abgelöst werden, 1242 Vgl. Wittkowski, DStRK 2018, 233 (233): Bei einer gesetzlichen Anpassung des § 50d Abs. 3 EStG sollte nicht nur auf die Mutter-Tochter-Richtlinie, sondern auch auf etwaige Quellensteuern bei Zinsen und Lizenzen Bezug genommen werden. Vgl. auch: Schiefer/­Scheuch, ISR 2018, 61 (63); Kahlenberg, IWB 2018, 145 (152), nach dem sich der Gesetzgeber wörtlich an Art. 1 Abs. 2 RL 2015/­121/­EU orientieren sollte, sowie Beutel/­ Oppel, DStR 2018, 1469 (1474): Eine vollständige Streichung wäre mit einem Rückgriff auf § 42 AO verbunden. 1243  Polatzky/­Goldschmidt/­S chuhmann, DStR 2018, 641 (647); Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 140. 1244  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 127. 1245  EuGH v. 12.9.2006, C-196/­ 04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 Rn. 70; Polatzky/­Goldschmidt/­Schuhmann, DStR 2018, 641 (641). 1246 Vgl. auch: Thömmes, IStR 2007, 577 (578): Mögliche in Betracht zu ziehende Anhaltspunkte für solche rein künstlichen Gestaltungen ließen sich in Anlehnung an das Cadbury Schweppes-Urteil (EuGH v. 12.9.2006, C-196/­04 – Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995) möglicherweise auch für den Gegenstand der LOB-Klauseln entwickeln.

328

Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

wie er sich aufgrund des MLI zukünftig in zahlreichen DBA finden wird.1247 Ähnliche Regelungen finden sich bereits in Art. 1 Abs. 2 der Mutter-TochterRichtlinie 1248, wonach die Mitgliedstaaten die Richtlinienvorteile nicht gewähren, wenn „eine unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen“ vorliegt, „bei der der wesentliche Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke darin besteht, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck dieser Richtlinie zuwiderläuft“.1249 Eine ähnliche Formulierung enthält auch Art. 6 der Anti-Tax-Avoidance-Richtlinie1250. Ob dieser Ansatz wiederum mit den Grundfreiheiten zu vereinbaren ist, ist fraglich, da die Regelungen in den Richtlinien nicht mit der Missbrauchsdefinition des EuGH übereinstimmen. In nicht vollständig harmonisierten Bereichen, wie dem der Mutter-Tochter-Richtlinie, findet nach der Rechtsprechung des EuGH eine Prüfung anhand des Primärrechts und nicht ausschließlich anhand des jeweiligen sekundärrechtlichen Rechtsakts statt.1251 Und primärrechtlich hat der EuGH eindeutig entschieden, dass nur rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktionen als missbräuchlich qualifiziert werden. II.  Switch-over-Klauseln

Switch-over-Klauseln sind abkommensrechtliche Regelungen, die in bestimmten Fällen den Wechsel von der Freistellungs- zur Anrechnungsmethode ermöglichen. Sie finden sich entweder direkt in einem Artikel der einzelnen DBA selbst oder im Protokoll zum Abkommen.1252 Switch-over-Klauseln sind anwendbar in Fällen, in denen es aufgrund eines Qualifikations- oder Zurechnungskonflikts zu einer Doppelfreistellung oder zu einer niedrigen Besteuerung kommt und der Konflikt nicht bereits durch ein Verständigungsverfahren nach Art. 25 OECD-MA gelöst werden konnte.1253 1247  1248 

21, 1.

Beutel/­Oppel, DStR 2018, 1469 (1474). In der Fassung der Richtlinie (EU) 2015/­121 des Rates vom 27.1.2015, ABl. Nr. L

1249 

Näher zu den Voraussetzungen siehe Kahlenberg, IWB 2018, 145 (149 ff.). (EU) 2016/­1164 des Rates v. 12.7.2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts, ABl. Nr. L 193 v. 19.7.2016, S. 1 (ATAD I), geändert durch Richtlinie (EU) 2017/­952 des Rates v. 29.5.2017, ABl. Nr. L 144 v. 7.6.2017, S. 1 (ATAD II). 1251  Beutel/­Oppel, DStR 2018, 1469 (1474). 1252  Petereit, IStR 2003, 577 (578) mit einer Übersicht über die Switch-over-Klauseln in den deutschen DBA sowie einer typischen Formulierung einer Switch-over-Klausel. 1253  Prokisch, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 136a; Bundesministerium der Finanzen v. 16.4.2010 – IV B 2 – S 1300/­09/­10003, BStBl. I 2010, S. 354; v. 20.6.2013 – IV 1250  Richtlinie

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

329

Ein Qualifikationskonflikt im Sinne der Switch-over-Klausel ist gegeben, wenn in den Vertragsstaaten dieselben Einkünfte oder Vermögenswerte unterschiedlichen Abkommensbestimmungen zugeordnet werden.1254 Ein Zurechnungskonflikt in diesem Sinne ist gegeben, wenn in den Vertragsstaaten Einkünfte oder Vermögen verschiedenen Personen zugerechnet werden.1255 Eine Nichtbesteuerung muss Folge des Qualifikations- oder Zurechnungskonflikts sein, andernfalls sind die Switch-over-Klauseln nicht anwendbar.1256 Wann genau eine „niedrige Besteuerung“ vorliegt, ist nicht abschließend geklärt.1257 Jedenfalls reicht eine niedrige Besteuerung nicht aus, vielmehr muss sie zu niedrig sein, das heißt, sie muss im Verhältnis zum anwendbaren deutschen Steuersatz deutlich niedriger ausfallen.1258 Als Vergleichsmaßstab kann hierbei die Steuerbelastung dienen, die sich ohne den Qualifikations- oder Zurechnungskonflikt in Deutschland ergeben würde.1259 Während die Anrechnungsmethode im Sinne des Methodenartikels nur die juristische Doppelbesteuerung vermeidet, also eine Steuersubjektidentität vorliegen muss, umfassen Switch-over-Klauseln auch die Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung.1260 Denn sie sind auf Zurechnungskonflikte anwendbar, bei denen die Steuersubjekte gerade nicht identisch sind.1261 Die aufgrund des Methodenwechsels erzeugte Anrechnungsverpflichtung geht somit über die anderen abkommensrechtlichen Verpflichtungen hinaus.

B 2 – S 1300/­09/­10006, BStBl. I 2013, S. 980; Rupp, in: Rupp/­K nies/­Ott/­Faust, Internationales Steuerrecht, S. 211, 216; Haase/­Dorn, IStR 2011, 791 (792). 1254  Petereit, IStR 2003, 577 (579); Haase/­Dorn, IStR 2011, 791 (792). 1255  Petereit, IStR 2003, 577 (580); Haase/­Dorn, IStR 2011, 791 (792). 1256  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 136c. 1257  Aus diesem Grund ist diese Regelung verfassungsrechtlich problematisch, da sie nicht hinreichend bestimmt und begrenzt ist. 1258  Petereit, IStR 2003, 577 (580); Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 136c: Damit werden vor allem die Fälle erfasst sein, in denen im Quellenstaat eine Abzugssteuer aufgrund DBA von 5 % oder 10 % erhoben wird, während der Wohnsitzstaat wegen seiner abweichenden Qualifizierung die Einkünfte freistellen würde. 1259  Haase/­Dorn, IStR 2011, 791 (794); Petereit, IStR 2003, 577 (582): Auf die Definitionen in §§ 2 Abs. 2, 8 Abs. 3 AStG könne hier nicht zurückgegriffen werden. 1260  Petereit, IStR 2003, 577 (583); Haase/­Dorn, IStR 2011, 791 (796): Fraglich sei jedoch, ob diese Verpflichtung nach dem Steuerrecht des jeweiligen Ansässigkeitsstaates durchgesetzt werden könne. So ermögliche beispielsweise § 34c Abs. 1 i. V. m. Abs. 6 EStG in diesen Fällen keine Anrechnung der ausländischen Steuern, da diese Norm nur auf die Steuern abstelle, welche der unbeschränkt Steuerpflichtige selbst gezahlt habe. 1261  Im Gegensatz zu den Methodenartikeln, die auf die Vermeidung der Doppelbesteuerung gerichtet sind, sollen Switch-over-Klauseln die Nicht- bzw. Niedrigbesteuerung verhindern.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Switch-over-Klauseln gibt es auch auf nationaler Ebene, im deutschen Steuerrecht beispielsweise in § 50d Abs. 9 Nr. 1 EStG. Diese unilateralen, innerstaatlichen Vorschriften stehen in Konkurrenz zu den Switch-over-Klauseln in den DBA. Die innerstaatlichen Regelungen können dann zur Anwendung kommen, wenn zwar ein Qualifikations- oder Zurechnungskonflikt vorliegt, aber kein Verständigungsverfahren durchgeführt wurde oder keine zu niedrige Besteuerung vorliegt. Da das Abkommensrecht dem nationalen Recht vorgeht, ist § 50d Abs. 9 Nr. 1 EStG bei einer möglichen Kollision mit DBA nicht anwendbar.1262 Durch das enthaltene offene Treaty Override wird das DBA jedoch überschrieben. Soweit ersichtlich, gibt es keine EuGH-Rechtsprechung zu den abkommensrechtlichen Switch-over-Klauseln. Das einzige Urteil Columbus Container Services1263 zu diesem Thema erging in Bezug auf die innerstaatliche Switchover-Klausel in § 20 Abs. 2 AStG. Diese Vorschrift sieht den Wechsel von der Freistellungs- zur Anrechnungsmethode bei passiven Einkünften einer ausländischen Betriebstätte eines unbeschränkt Steuerpflichtigen vor. § 20 Abs. 2 AStG verstößt damit nicht gegen die Grundfreiheiten. III.  Aktivitätsklauseln

Im Zusammenhang mit den Switch-over-Klauseln sind auch die sog. Aktivitätsklauseln zu beachten. Die in den DBA enthaltenen Aktivitätsklauseln stellen Regelungen dar, die die Inanspruchnahme der Steuerfreistellung für bestimmte Einkünfte in ihrem Anwendungsbereich begrenzen bzw. das Prinzip der Freistellung durch DBA durchbrechen.1264 So wird die Gewährung der Freistellung anstelle der Anrechnung zunehmend davon abhängig gemacht, dass die freizustellenden Einkünfte aus einer aktiven bzw. produktiven Tätigkeit stammen (sog. Aktivitätsvorbehalt).1265 Aktivitätsklauseln spielen somit im Zusam1262  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 136e; Haase/­Dorn, IStR 2011, 791 (796 f.); BFH v. 19.12.2007 – I R 21/­07, BStBl. II 2008, S. 619 ff., wonach die abkommensrechtliche Missbrauchsvermeidungsnorm grundsätzlich Vorrang vor den nationalen Missbrauchsvermeidungsnormen habe. 1263  EuGH v. 6.12.2007, C-298/­05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451. 1264  Rupp, in: Rupp/­ K nies/­Ott/­Faust, Internationales Steuerrecht, S. 219; Beckmann, in: Festgabe Wassermeyer, Beitrag Nr. 62 Rn. 1. 1265  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­ Ditz, DBA, Systematik Rn. 130. Deutschland hat in über zwei Drittel seiner DBA die Freistellungsverpflichtung unter einen Aktivitätsvorbehalt gestellt. Auf unilateralem Weg ist dies im Rahmen eines treaty override in § 20 Abs. 2 AStG geregelt: Meretzki, in: Wassermeyer/­R ichter/­Schnittker, Personengesellschaften im Internationalen Steuerrecht, Rn. 15.9; vgl. auch: Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 23A Rn. 54, 156: Die Aktivitätsvorbehalte seien häufig in einem Protokoll, Schlussprotokoll, Brief- oder Notenwechsel „versteckt“ (vgl.

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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menhang mit den Methodenartikeln eine Rolle und werden insbesondere auf Unternehmensgewinne im Sinne des Art. 7 OECD-MA, auf Veräußerungsgewinne im Sinne des Art. 13 OECD-MA, auf Schachteldividenden nach Art. 10 Abs. 2 lit. a) OECD-MA1266 sowie insbesondere auf grenzüberschreitende Betriebstätten inländischer Stammhäuser angewendet.1267 Aktivitätsklauseln gibt es auch auf nationaler Ebene, im deutschen Steuerrecht beispielsweise in § 2a Abs. 2 EStG, §§ 8 Abs. 1, 7 Abs. 6, 6a AStG. Auch hier sollen sie insbesondere verhindern, dass Einkünfte aus einem Drittstaat deswegen von der inländischen Besteuerung auszunehmen sind, weil sie über eine passive Betriebstätte eines im Inland unbeschränkt steuerpflichtigen Stammhauses umgelenkt werden.1268 Hat ein inländischer Unternehmer Einkünfte in einem Drittstaat, unterliegen diese der Inlandsbesteuerung (Welteinkommensprinzip). Gründet er eine ausländische Betriebstätte in einem Mitgliedstaat, die keine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des § 6 AStG ausübt (z. B. Holding) und lenkt er die Drittstaateneinkünfte auf diese Betriebstätte um, unterliegen diese Einkünfte der Besteuerung des anderen Mitgliedstaats (Art. 7 Abs. 1 OECD-MA). Nach der Freistellungsmethode würden diese Einkünfte im Inland freigestellt werden, obwohl die Betriebstätte keine Einkünfte aus aktiver Tätigkeit hat. Aufgrund der Aktivitätsklausel gilt jedoch nicht die Freistellungs-, sondern die Anrechnungsmethode. Es findet somit ein Wechsel von der Freistellungs- zur Anrechnungsmethode für die jeweiligen Einkünfte statt, weshalb die Klauseln auch als sog. Switch-over-Klauseln mit Aktivitätsvorbehalt bezeichnet werden.1269 Das Besteuerungsrecht geht somit vom Quellen- auf den Ansässigkeitsstaat über.1270 Wann genau eine Tätigkeit als aktiv gilt, ist entweder in den einzelnen DBA definiert oder wird durch einen VerDBA-Australien), die offiziell zum Abkommen gehörten und Gegenstand des Ratifikationsverfahrens seien (Art. 1 Rn. 7 OECD-MA). Diese „Unsitte“ sei darauf zurückzuführen, dass die deutschen Verhandlungsleiter glaubten, dem anderen Vertragsstaat die Kröte „Aktivitätsklausel“ in der Form eines Schlussprotokolls oder Briefwechsels besser verkaufen zu können. Vgl. hierzu auch: Wassermeyer, IStR 2000, 65 (70). 1266  Im Bereich des internationalen Schachtelprivilegs mache allerdings § 8b Abs. 1 KStG die Prüfung der Aktivitätsklausel obsolet: Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 23A Rn. 157; Rehfeld, DStR 2010, 1809 (1810). 1267  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 23A Rn. 54. Eine Übersicht über die in den deutschen DBA vereinbarten Aktivitätsklauseln findet sich bei Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Übersicht über die in den DBA geltenden Aktivitätsklauseln. 1268  Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.187. 1269  Rehfeld, DStR 2010, 1809 (1809). 1270  Wassermeyer, IStR 2000, 65 (70): Ist Deutschland Ansässigkeitsstaat, wirken die Aktivitätsklauseln einseitig zu Gunsten Deutschlands, da die anderen Vertragsstaaten gewissermaßen keine Aktivitätsklauseln kennen.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

weis auf das AStG geregelt und kann unter Umständen erheblich voneinander abweichen.1271 Überschreiten die passiven Einkünfte bestimmte Grenzen, verlieren unter Umständen auch die daneben erzielten aktiven Einkünfte ihre Privilegierung der Freistellung (sog. Infektionswirkung).1272 Bei den Aktivitätsklauseln spielt es keine Rolle, ob ein Missbrauch vorliegt oder nicht, sodass es dem Steuerpflichtigen nicht möglich ist, positiv den Nachweis zu führen, dass kein Missbrauch von steuerlichen Vorschriften stattfindet.1273 Aus diesem Grund hat der deutsche Gesetzgeber § 8 Abs. 2 Satz 1 AStG geschaffen, wonach dem Steuerpflichtigen ein Nachweis gestattet ist.1274 Problematisch bei den Aktivitätsklauseln ist, dass die gleiche Tätigkeit, die ein inländischer Steuerpflichtiger in verschiedenen Staaten ausübt, unterschiedlich besteuert wird, je nachdem, ob die Einkünfte aus einem DBA-Staat mit oder ohne Aktivitätsvorbehalt stammen.1275 Die Einkünfte aus DBA-Staaten mit Aktivitätsvorbehalt werden dabei ungünstiger behandelt, was einen nicht gerechtfertigten Verstoß gegen die Grundfreiheiten begründet.1276 Die Vergleichsgruppe sind hierbei jedoch nicht andere grenzüberschreitende bzw. aktive Einkünfte, die von dem Methodenwechsel tatbestandlich nicht erfasst werden, sondern die günstigere Behandlung eines fiktiven inländischen Investments gegenüber dem grenzüberschreitenden, sachlich identischen Lebenssachverhalt.1277 In diesem Zusammenhang hat der EuGH zum Grundsatz der Rezipro1271  Kaminski/­Strunk, IStR 2011, 137 (138); Beckmann, in: Festgabe Wassermeyer, Beitrag Nr. 62 Rn. 18: Die Beweislast für die Qualifizierung als aktive Einkünfte liege beim inländischen Steuerpflichtigen, zur Art und zum Umfang könne auf § 17 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AStG zurückgegriffen werden. 1272  Beckmann, in: Festgabe Wassermeyer, Beitrag Nr. 62 Rn. 1; Schönfeld, ISR 2013, 168 (172), der darauf hinweist, dass eine solche Infektionswirkung in Art. 22 Abs. 1 lit. d) DE-VG nicht enthalten sei („soweit“). 1273  Beckmann, in: Festgabe Wassermeyer, Beitrag Nr. 62 Rn. 2; Oellerich, in: Schaumburg/­ Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.188; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 130. 1274  Vogt, in: Blümich, AStG, § 8 Rn. 4: Gleichwohl müsse der Unternehmer nach § 18 Abs. 3 AStG Hinzurechnungserklärungspflichten beachten, was zumindest unionsrechtlich bedenklich sei. 1275  Rödder/­S chönfeld, IStR 2005, 523 (526). 1276  EuGH v. 6.12.2007, C-298/­05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451; v. 5.7.2005, C-376/­03 – D, Slg. 2005, I-5821; v. 12.12.2006, C-374/­04 – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation, Slg. 2006, I-11673. 1277  Rehfeld, DStR 2010, 1809 (1812); a. A.: Rödder/­S chönfeld, IStR 2005, 523 (526), die einen grundfreiheitlichen Eingriff durch die unterschiedliche Behandlung von Betriebstätteneinkünften aufgrund von DBA mit und ohne Aktivitätsklausel bei demselben Steuerpflichtigen annehmen. Der beschränkende Eingriff ergebe sich dadurch, dass Ak-

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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zität der DBA entschieden, dass eine Diskriminierung bzw. Beschränkung im Sinne einer Grundfreiheit durch den Vergleich von einzelnen, aus dem Kontext unterschiedlicher DBA herausgelösten Vorschriften, nicht isoliert feststellbar sei.1278 Zudem liegt nach Ansicht des EuGH im Bereich der Aktivitätsklauseln ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit vor, indem die Ansiedlung passiver Betriebstätten im Ausland im Vergleich zu aktiven Betriebstätten weniger attraktiv sei.1279 Dieser Verstoß ist aber aufgrund der Missbrauchsabwehr gerechtfertigt, da mit dieser Vorgehensweise Praktiken entgegenwirkt werde, deren einziges Ziel darin besteht, der Steuer zu entgehen, die normalerweise für durch Tätigkeiten im Inland erzielte Gewinne geschuldet werde.1280 Die Anrechnungsmethode führt zu einem Steuersatz, der auch von inländischen Gesellschaften zu zahlen wäre. Es macht hierbei keinen Unterschied, ob die Aktivitätsklausel im DBA oder in einer nationalen Vorschrift geregelt ist.1281 IV.  Subject-to-tax-Klauseln und Rückfallklauseln

Subject-to-tax-Klauseln stellen die Gewährung von Abkommensvorteilen bzw. die Freistellung von Einkünften durch den Quellenstaat unter den Vorbehalt der Besteuerung der jeweiligen Einkünfte im Ansässigkeitsstaat.1282 Je nach Ausgestaltung können die Subject-to-tax-Klauseln auch bewirken, dass das Besteuerungsrecht an den Ansässigkeitsstaat zurückfällt, wenn der Quellenstaat sein Besteuerungsrecht nicht wahrnimmt (sog. Rückfallklausel), sodass die Ausführungen dementsprechend umgekehrt gelten.1283 Der Besteuerungsvortivitätsklauseln in DBA die Investitionsentscheidung zu Gunsten von Staaten, mit denen keine Aktivitätsvorbehalte vereinbart sind, verzerrten. 1278  EuGH v. 5.7.2005, C-376/­ 03 – D, Slg. 2005, I-5821 Rn. 62; Rehfeld, DStR 2010, 1809 (1813); Rödder/­Schönfeld, IStR 2005, 523 (526). 1279  EuGH v. 6.12.2007, C-298/­05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451 Rn. 59. 1280  EuGH v. 6.12.2007, C-298/­05 – Columbus Container Services, Slg. 2007, I-10451 Rn. 59. 1281  Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 142. 1282  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 135e; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­ Ditz, DBA, Systematik Rn. 131; Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 143. Subject-to-tax-Klauseln finden sich in den Methodenartikeln von derzeit rund zwölf deutschen DBA sowie dem Protokoll zum DBA Italien: Meretzki, in: Wassermeyer/­R ichter/­Schnittker, Personengesellschaften im Internationalen Steuerrecht, Rn. 15.6. Vgl. auch: Art. 1 Ziffer 15 OECD-MK; Art. 22 Abs. 1 lit. e) DE-VG; Bundesministerium der Finanzen v. 20.6.2013 – IV B 2 – S 1300/­09/­10006, BStBl. 2013 I, S. 980. 1283  Rupp, in: Rupp/­K nies/­O tt/­Faust, Internationales Steuerrecht, S. 211; Dürrschmidt, in: Vogel/­Lehner, DBA, Vor Art. 6 bis 22 Rn. 20a.

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

behalt kann dabei einkunftsbezogen in den einzelnen Einkunftsartikeln oder allgemein im Methodenartikel geregelt sein.1284 Die Gewährung der Freistellungsmethode wird bei den Subject-to-tax-Klauseln nicht von einer bestimmten Tätigkeit, sondern von der tatsächlichen Besteuerung der Einkünfte abhängig gemacht.1285 Das Vorliegen einer virtuellen Doppelbesteuerung genügt somit nicht.1286 Subject-to-tax-Klauseln zielen somit, anders als Switch-over Klauseln, auf eine durch innerstaatliches Recht verursachte Nichtbesteuerung ab.1287 Eine tatsächliche Besteuerung im Ansässigkeitsstaat, dem das Besteuerungsrecht nach dem DBA zugewiesen ist, liegt vor, soweit die Einkünfte in die Bemessungsgrundlage einbezogen werden, auf deren Grundlage die Steuer berechnet wird.1288 „Tatsächlich besteuert“ heißt jedoch nicht, dass eine Steuerzahllast entstanden sein muss.1289 Besteuert der Ansässigkeitsstaat die Einkünfte hingegen nicht,1290 bleibt das Besteuerungsrecht beim Quellenstaat – auch wenn er die Besteuerungsbefugnis nach DBA nicht hätte –, ohne dass es anzurechnende ausländische Steuern gibt.1291 Subject-to-tax-Klauseln sind nach denselben Grundsätzen zulässig wie die Aktivitätsklauseln. Auch sog. Einkünfte-Herkunftsbestimmungen stellen Subject-to-tax-­ Klauseln dar. Nach diesen Einkünfte-Herkunftsbestimmungen gelten Einkünfte nur dann als aus dem anderen Vertragsstaat stammend, wenn sie dort besteuert werden.1292 Art. 23 Abs. 4 OECD-MA stellt hingegen keine Subject-to1284 

Kahlenberg/­Mair, PIStB 2014, 10. Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 132; Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 143. 1286  Ismer, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 23A, 23B Rn. 11; Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 15 Rn. 89; Lüdicke, IStR 2013, 721 (721). 1287  Jacobs/­Endres/­S pengel, in: Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 86. 1288  Schönfeld, ISR 2013, 168 (174); Rosenthal, in: Festgabe Wassermeyer, Beitrag Nr. 64 Rn. 11; Rupp, in: Rupp/­K nies/­Ott/­Faust, Internationales Steuerrecht, S. 212 f.: Dies ist nicht der Fall, wenn die Einkünfte nicht steuerbar bzw. steuerbefreit sind oder aus anderen Gründen eine tatsächliche Besteuerung unterbleibt. 1289  Schönfeld, ISR 2013, 168 (175); Dürrschmidt, in: Vogel/­Lehner, Vor Art. 6 bis 22 Rn. 19a. 1290  Kahlenberg/­Mair, PIStB 2014, 10: Eine Nichtbesteuerung liege vor, wenn der Staat aufgrund nationaler Vorschriften an der Besteuerung der betreffenden Einkünfte gehindert sei (nicht steuerbarer Vorgang, sachliche oder persönliche Steuerbefreiung), er auf sein Besteuerungsrecht verzichte oder die Besteuerung unterbleibe, z. B. durch Erlass oder Unkenntnis der Behörde. 1291  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 135e; Rosenthal, in: Festgabe Wassermeyer, Beitrag Nr. 64 Rn. 6; Bundesministerium der Finanzen v. 20.6.2013 – IV B 2 – S 1300/­09/­10006, BStBl. I 2013, S. 980 Rn. 2.5. 1292  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 135h mwN; Lüdicke, IStR 2013, 721 (723); Dürrschmidt, in: Vogel/­Lehner, Vor Art. 6 bis 22 Rn. 20 f. 1285 

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tax-Klausel dar, da er nur bei Meinungsverschiedenheiten über die Anwendung des DBA gilt, nicht aber, wenn der Nichtansässigkeitsstaat auf Grund seines innerstaatlichen Rechts keine Steuer erhebt.1293 Nicht anwendbar sind Subject-to-tax-Klauseln auf die sog. Verteilungsnormen mit abschließender Rechtsfolge, bei denen der Quellenstaat das ausschließliche Besteuerungsrecht hat.1294 V.  DBA-Vorbehalte zugunsten nationaler Missbrauchsbekämpfungsvorschriften

In den DBA finden sich zunehmend Klauseln, die keinen individuellen Ansatz zur Verhinderung der missbräuchlichen Abkommensnutzung vorsehen, sondern den Anwendungsbereich nationaler Missbrauchsbekämpfungsvorschriften eröffnen.1295 Da dies allerdings nicht dazu führen kann, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts aufgehoben wird, ist die einzige Rechtsfolge solcher Klauseln, dass eine durch die nationale Missbrauchsbekämpfungsvorschrift verursachte DBA-Kollision beseitigt wird.1296 Die Vertragsstaaten können ihre innerstaatlichen Missbrauchsgrundsätze somit auch auf die Abkommensvorschriften anwenden.1297 Enthält jedoch das DBA eine eigene umfassende Missbrauchsbekämpfungsvorschrift, ist es nicht zulässig, auf die nationale Vorschrift zurückzugreifen.1298 Enthält das DBA zwar eine eigene Missbrauchsbekämpfungsvorschrift, die jedoch nicht umfassend ist, oder ist der konkrete Missbrauchsfall nicht davon umfasst, finden die nationalen Vorschriften Anwendung.1299 Darüber hinaus enthält auch Art. 1 Abs. 2 der Mutter-Tochter-Richtlinie einen Vorbehalt zugunsten einzelstaatlicher oder vertraglicher Missbrauchsbekämpfungsvorschriften. 1293 

Ismer, in: Vogel/­Lehner, Art. 23A, 23B Rn. 250. Rosenthal, in: Festgabe Wassermeyer, Beitrag Nr. 64 Rn. 7. 1295  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­ Ditz, DBA, Systematik Rn. 133; Rupp, in: Rupp/­ Knies/­Ott/­Faust, Internationales Steuerrecht, S. 221. 1296  Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 144; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 133. 1297  Prokisch, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 1 Rn. 135. 1298  Rust, in: Reimer/­ Rust, Klaus Vogel on Double Taxation Conventions, Art. 1 Rn. 59: Die Missbrauchsbekämpfungsvorschriften in DBA legten fest, was als missbräuchlich angesehen werde und was nicht. Die Vertragsstaaten dürften sich durch die Anwendung ihrer entsprechenden nationalen Vorschriften darüber nicht hinwegsetzen. 1299  Rust, in: Reimer/­ Rust, Klaus Vogel on Double Taxation Conventions, Art. 1 Rn. 59. 1294 

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Trotz dessen müssen die Mitgliedstaaten ihre Anti-Missbrauchsvorschriften verhältnismäßig ausgestalten.1300 Das könne insbesondere für die Zulässigkeit von Anti-Treaty-Shopping-Klauseln sowie für Aktivitätsvorbehalte und Subject-­to-tax-Klauseln von Bedeutung sein.1301

G.  Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Grundfreiheiten an zahlreichen Stellen auf die DBA einwirken. Die umfangreiche Rechtsprechung des EuGH gibt den Mitgliedstaaten damit – mehr oder weniger eindeutig – vor, wie sie ihre nationalen Regelungen auszugestalten haben, um den unionsrechtlichen Anforderungen zu entsprechen. Im zuerst dargestellten Bereich der Abkommensberechtigung spielen beschränkt Steuerpflichtige, Betriebstätten sowie Personengesellschaften eine Rolle. Zunächst sind beschränkt Steuerpflichtige nicht abkommensberechtigt, da sich aus Artt. 1, 4 Abs. 1 S. 2 OECD-MA eindeutig ergibt, dass sie nicht ansässig sind. Die Versagung von Steuervergünstigungen ergibt sich bei beschränkt Steuerpflichtigen jedoch nicht in erster Linie aus der fehlenden Abkommensberechtigung, sondern vielmehr aus der Aufteilung der Besteuerungszuständigkeit zwischen den Vertragsstaaten. Aus diesem Grund werden die beschränkt Steuerpflichtigen in diesem Kapitel untersucht und dargestellt. Betriebstätten sind keine „Personen“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. a) OECDMA und somit ebenfalls nicht abkommensberechtigt. Dennoch dürfen ausländische Gesellschaften hinsichtlich ihrer Betriebstätten nicht ungünstiger besteuert werden als ansässige Gesellschaften. Dies hat zur Folge, dass die abkommensrechtlichen Steuervorteile auch den Betriebstätten zu gewähren sind, trotz fehlender Abkommensberechtigung. Eine abkommensrechtliche Ansässigkeit oder Abkommensberechtigung der Betriebstätten wird dadurch jedoch nicht begründet. Bei den Personengesellschaften besteht hingegen ein anderer Anknüpfungspunkt. Da sie jedenfalls zu den „anderen Personenvereinigungen“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. a) Var. 3 OECD-MA gehören und zudem ansässig sind, sind sie abkommensberechtigt. Aufgrund des Transparenzprinzips sind sie nach deutschem Steuerrecht jedoch nicht steuerpflichtig. Vertreten die beteiligten Vertragsstaaten eine jeweils voneinander abweichende Auffassung, was die Qua1300 

Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 136. Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 146; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 136. 1301 

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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lifikation der Personengesellschaft als transparent oder intransparent angeht, kann es zu einem subjektiven Qualifikationskonflikt (Zurechnungskonflikt) kommen. Entscheidend ist dabei die Erkenntnis, dass jeder Vertragsstaat die beteiligten Rechtssubjekte nach seinem eigenen Steuerrecht besteuert und die DBA-Regelungen nur eine Lösung zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung finden sollen, nicht jedoch das nationale Steuerrecht modifizieren. Dies führt zu folgendem Schluss: Eine Personengesellschaft ist dann ansässig (und damit abkommensberechtigt), wenn sie in ihrem Sitzstaat selbst als steuerpflichtig behandelt wird (Art. 4 Abs. 1 S. 1 OECD-MA). Darüber hinaus bestimmt sich die Einordnung, wer eigentlich Einkünfte im Sinne der jeweiligen Verteilungsnorm erzielt, nach dem jeweiligen nationalen Steuerrecht. Dadurch entstehende Konflikte werden dadurch gelöst, indem die beteiligten Staaten denjenigen Sachverhalt unterstellen müssen, der bestünde, wenn der jeweils andere Staat von einer gleichgelagerten Qualifikation ausgegangen wäre. Der zweite Bereich betrifft die Aufteilung der Besteuerungszuständigkeit zwischen den Vertragsstaaten. Diese führt zunächst bei den beschränkt Steuerpflichtigen zu Problemen, da sie verhindert, dass der Quellenstaat dem Steuerpflichtigen Steuervergünstigungen gewähren muss. Zwar ist es grundsätzlich Sache des Wohnsitzstaates, die persönliche und familiäre Situation des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen. Aufgrund der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse liegt das Besteuerungsrecht aber beim Tätigkeitsstaat. Dieser hingegen könnte die Steuervergünstigungen zwar gewähren, er muss dies jedoch nicht, da der Steuerpflichtige dort eben nur beschränkt steuerpflichtig ist. Grundsätzlich ist diese Ungleichbehandlung nicht zu beanstanden, da sie gerade aus der unterschiedlichen Besteuerung von beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtigen resultiert. Diese befinden sich in der Regel nicht in einer vergleichbaren Situation. Die Grundfreiheiten führen nun aber dazu, dass der Tätigkeitsstaat die entsprechenden Steuervergünstigungen dann gewähren muss, wenn der beschränkt Steuerpflichtige in seinem Wohnsitzmitgliedstaat keine nennenswerten Einkünfte hat und sein zu versteuerndes Einkommen im Wesentlichen aus einer Tätigkeit bezieht, die er im Tätigkeitsstaat ausübt. Denn dann befinden sich beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtige in einer vergleichbaren Situation. Die Grundfreiheiten wirken hier direkt auf die DBA ein. Eine Einwirkung der Grundfreiheiten auf die DBA lässt sich auch bei der Entstrickungs- bzw. Wegzugsbesteuerung feststellen. Das Besteuerungsrecht des Mitgliedstaates wird dadurch ausgeschlossen oder beschränkt, dass beispielsweise eine natürliche Person wegzieht, eine Gesellschaft ihren Sitz in einen anderen Staat verlegt oder Wirtschaftsgüter grenzüberschreitend verlagert werden. Vielmehr steht dem Zuzugsstaat nun die Besteuerungsbefugnis zu. Dies entspricht der abkommensrechtlichen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse gemäß Art. 13 Abs. 5 OECD-MA. Der Herkunftsstaat hat deshalb ein

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Kapitel 2:  Einwirkungen der Grundfreiheiten

Interesse daran, zumindest die vor dem Wegzug entstandenen stillen Reserven zu versteuern. Er fingiert daher im Zeitpunkt des Wegzugs eine Realisierung der stillen Reserven, die jedoch tatsächlich nicht stattgefunden hat. Diese Vorgehensweise wird als zulässig anerkannt, allerdings muss dem Steuerpflichtigen im Gegenzug beispielsweise die Möglichkeit eines Zahlungsaufschubs der festgesetzten Steuer gewährt werden. Die Grundfreiheiten setzen sich zudem insofern über die DBA-Bestimmungen hinweg, als sie verlangen, dass der Zuzugsstaat mögliche nach der Entstrickung entstandene Wertverluste der stillen Reserven zu berücksichtigen hat. Den Mitgliedstaaten wird damit die eigentlich ihnen zustehende abkommensrechtliche Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse vorgegeben. Der dritte Bereich betrifft die Einwirkung der Grundfreiheiten auf die Methode zur Vermeidung der Doppelbesteuerung. Vorrangig kommen hierfür die Freistellungs- sowie die Anrechnungsmethode in Betracht. Die auf eine Kapitalimportneutralität gerichtete Freistellungsmethode stellt dabei die ausländischen Einkünfte im Ansässigkeitsstaat des Steuerpflichtigen vollständig von der Besteuerung frei. Dies betrifft aufgrund der Symmetriethese neben den positiven Einkünften auch die negativen Einkünfte, also die Verluste, sodass diese nicht abgezogen werden können. Die Anrechnungsmethode ist hingegen auf eine Kapitalexportneutralität gerichtet und rechnet die ausländische Steuer auf die Steuer im Ansässigkeitsstaat an. Verluste können daher ebenfalls geltend gemacht werden. Unionsrechtlich sind beide Methoden zulässig, sodass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet werden können, sich für eine der beiden zu entscheiden. Darüber hinaus dürfen die Mitgliedstaaten bei inländischen Dividenden die Freistellungsmethode und bei ausländischen Dividenden die Anrechnungsmethode vorsehen. Voraussetzung ist jedoch, dass beide Methoden zu gleichwertigen Ergebnissen gelangen. Die Grundsätze aus der EuGH-Rechtsprechung lassen sich jedoch nicht auf die Methodenartikel in den DBA übertragen, die auf die Vermeidung der juristischen Doppelbesteuerung gerichtet sind. Neben der Gleichwertigkeit der Methoden spielt im Bereich der Methoden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung die grenzüberschreitende Verlustverrechnung eine Rolle. Diese steht in weiten Teilen in engem Zusammenhang mit der Freistellungsmethode. Obwohl grundlegende Unterschiede zwischen der unternehmens- sowie konzerninternen Verlustverrechnung bestehen, wendet der EuGH seine Grundsätze sowohl auf Betriebstätten als auch auf Tochtergesellschaften einheitlich an. Grundsätzlich werden die Verluste der Betriebstätte oder der Tochtergesellschaft in deren Ansässigkeitsstaat berücksichtigt. Dem Ansässigkeitsstaat des Stammhauses bzw. der Muttergesellschaft kommt diese Verpflichtung nur dann zu, soweit es sich um finale Verluste handelt. Verluste sind dann final, wenn die ausländische Betriebstätte oder Tochtergesellschaft in ihrem Ansässigkeitsstaat für die Vergangenheit alle Möglichkeiten zur Berück-

§ 6  Konkrete Einwirkungen auf Doppelbesteuerungsabkommen

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sichtigung von Verlusten ausgeschöpft hat und zudem keine Möglichkeit besteht, die Verluste für künftige Zeiträume zu berücksichtigen. Diese Voraussetzungen müssen das Stammhaus bzw. die Muttergesellschaft nachweisen. Von der Verlustverrechnung sind nur die Verluste umfasst, die im Finalitätsjahr entstanden sind. Als Ausgleich für die Verpflichtung, finale Verluste zu berücksichtigen, sehen die Mitgliedstaaten häufig Nachversteuerungsregelungen vor. Diese gewähren ihnen das Recht, die zuvor abgezogenen Verluste der Betriebstätte oder der Tochtergesellschaft wieder hinzuzurechnen und somit nachzuversteuern, sofern die Betriebstätte oder Tochtergesellschaft später wieder Gewinne erwirtschaftet. Hiervon betroffen sind jedoch nur laufende Verluste. In Art. 24 OECD-MA ist ein eigenes abkommensrechtliches Diskriminierungsverbot geregelt. Dieses findet insbesondere aufgrund der verschiedenen Anwendungsbereiche und Zielrichtungen neben den unionsrechtlichen Diskriminierungsverboten des AEUV Anwendung. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ist eine Einwirkung der Grundfreiheiten jedoch auch hier möglich. Darüber hinaus gibt es keinen Meistbegünstigungsgrundsatz. So kann sich ein Steuerpflichtiger nicht auf ein DBA zwischen Staaten berufen, in denen er selbst nicht ansässig ist. Zuletzt wirken die Grundfreiheiten auch auf die Vorschriften zur Missbrauchs­ abwehr und somit auf die DBA ein. Insbesondere wird die Abkommensberechtigung durch Missbrauchsbekämpfungsvorschriften eingeschränkt. Mittels dieser Vorschriften soll verhindert werden, dass Steuerpflichtige Abkommensvergünstigungen in Anspruch nehmen können, obwohl ihnen diese rechtmäßigerweise nicht zustehen würden. Dies erfolgt insbesondere durch sog. LOB-Klauseln im innerstaatlichen Recht sowie in den DBA, die aus unionsrechtlicher Sicht als zulässig angesehen werden, jedoch dürfen sich Missbrauchsbekämpfungsvorschriften nur gegen rein künstliche Konstruktionen im Sinne der EuGH-Rechtsprechung richten. Neben den LOB-Klauseln gibt es Switch-over-Klauseln, die in bestimmten Fällen den Wechsel von der Freistellungs- zur Anrechnungsmethode ermöglichen. Zudem existieren Aktivitätsklauseln, die die Inanspruchnahme der Steuerfreistellung von einer aktiven Tätigkeit abhängig machen. Subject-to-taxKlauseln stellen die Gewährung von Abkommensvorteilen durch den Quellenstaat hingegen unter den Vorbehalt der Besteuerung der jeweiligen Einkünfte im Ansässigkeitsstaat bzw. fällt das Besteuerungsrecht an den Ansässigkeitsstaat zurück, wenn der Quellenstaat sein Besteuerungsrecht nicht wahrnimmt (sog. Rückfallklauseln). Zuletzt bestehen DBA-Vorbehalte, die den Anwendungsbereich nationaler Missbrauchsbekämpfungsvorschriften eröffnen. Wenn jedoch das DBA eine eigene umfassende Missbrauchsbekämpfungsvorschrift enthält, darf nicht auf die nationale Vorschrift zurückgegriffen werden.

Kapitel 3

Einwirkungen der Richtlinien auf Doppelbesteuerungsabkommen Nachdem die Einwirkungen der Grundfreiheiten auf DBA dargestellt worden sind, soll im Folgenden untersucht werden, ob auch Richtlinien auf DBA einwirken. Die Einwirkungen des Unionsrechts auf das nationale Steuerrecht erfolgen zwar weitestgehend mittels der Rechtsprechung des EuGH, dennoch haben auch Richtlinien insbesondere im Bereich der Unternehmensbesteuerung eine wichtige Bedeutung.1 Unter Umständen kann auch bei der Umsetzung einer Richtlinie in das nationale Recht ein Verstoß gegen Grundfreiheiten vorliegen.2 Im Bereich der direkten Steuern wurden bisher nur einige wenige Richtlinien erlassen, sodass der Rechtsangleichung jedenfalls in der Rechtspraxis hier bisher nur eine begrenzte Bedeutung zukommt.3 Die wichtigsten steuerrechtlichen Richtlinien in diesem Bereich sind die Mutter-Tochter-Richtlinie4, die Fusionsrichtlinie5, die Zinsrichtlinie6 sowie die Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie7. 1  Engert, in: Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften, § 8 Rn. 6: Größtenteils dürften die Richtlinien lediglich das nachzeichnen, was mittlerweile aus den Grundfreiheiten abzuleiten wäre. 2  Engert, in: Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften, § 8 Rn. 6. 3  Von Danwitz, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, B. II. Rn. 139; Clas­ sen, in: von der Groeben/­Schwarze/­Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 115 AEUV Rn. 19. 4  Richtlinie 90/­ 435/­EWG des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten, ABl. Nr. L 225 v. 20.8.1990, S. 6, aufgehoben durch Richtlinie (EU) 2011/­96/­EU des Rates v. 30.11.2011, ABl. Nr. L 345 v. 29.12.2011, S. 8, zuletzt geändert durch die Richtlinie (EU) 2015/­121 des Rates vom 27.1.2015, ABl. Nr. L 21 v. 28.1.2015, S. 1. 5  Richtlinie 90/­ 434/­EWG des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, ABl. Nr. L 225 v. 20.8.1990, S. 1, aufgehoben durch Richtlinie 2009/­133/­EG des Rates v. 19.10.2009, ABl. Nr. L 310 v. 25.11.2009, S. 34, zuletzt geändert durch die Richtlinie 2013/­13/­EU des Rates v. 13.5.2013, ABl. Nr. L 141 v. 28.5.2013, S. 30. 6  Richtlinie 2003/­48/­EG des Rates v. 3.6.2003 im Bereich der Besteuerung von Zins­ erträgen, ABl. Nr. L 157 v. 26.6.2003, S. 38, aufgehoben durch Richtlinie (EU) 2015/­2060 des Rates v. 10.11.2015, ABl. Nr. L 301 v. 18.11.2015, S. 1. 7  Richtlinie 2003/­49/­EG des Rates v. 3.6.2003 über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen ver-

§ 7  Grundlagen zu Richtlinien

341

Im Bereich der steuerrechtlichen Richtlinien spielen auch die BEPS-­ Maßnahmen eine entscheidende Rolle. Im Februar 2013 veröffentlichte die OECD einen Aktionsplan gegen das sogenannte Base Erosion and Profit Shifting (BEPS). Dieser enthält einen Katalog von Maßnahmen, auf dessen Grundlage wirksame, international abgestimmte Regelungen gegen Gewinnkürzungen und Gewinnverlagerungen erarbeitet wurden, um weiße oder zu niedrige Einkünfte zu verhindern. Am 28.1.2016 veröffentlichte der Rat eine entsprechende Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts.8 Mit der nun erlassenen Anti-Tax-Avoidance-Richtlinie (ATAD) sollen Steuervermeidungspraktiken bekämpft werden.9 Neben die Vermeidung der Doppelbesteuerung tritt somit mittlerweile die Aufgabe, die nationale und internationale Praxis der Steuervermeidung, Steuerabwehr und Steuerverkürzung zu bekämpfen. Darüber hinaus hat die Europäische Kommission am 25.10.2016 einen Vorschlag für eine Richtlinie über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) veröffentlicht.10

§ 7  Grundlagen zu Richtlinien Zunächst ist auch im Bereich der Richtlinien das Verhältnis des Abkommensrechts zum Sekundärrecht entscheidend, es geht also um die Frage, ob Richtlinien den DBA vorgehen.

schiedener Mitgliedstaaten, ABl. Nr. L 157 v. 26.6.2003, S. 49, zuletzt geändert durch die Richtlinie 2013/­13/­EU des Rates v. 13.5.2013, ABl. Nr. L 141 v. 28.5.2013, S. 30. 8  Vorschlag für eine Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts v. 28.1.2016, COM(2016) 26 final. 9  Richtlinie (EU) 2016/­1164 des Rates v. 12.7.2016 mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts, ABl. Nr. L 193 v. 19.7.2016, S. 1 (ATAD I), geändert durch Richtlinie (EU) 2017/­952 des Rates v. 29.5.2017, ABl. Nr. L 144 v. 7.6.2017, S. 1 (ATAD II). 10 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) v. 25.10.2016, COM(2016) 683 final. Gemäß Art. 80 Nr. 1 dieser Richtlinie setzen die Mitgliedstaaten diese spätestens bis zum 31.12.2020 um, sodass die entsprechenden Rechtsvorschriften ab dem 1.1.2021 anzuwenden sind. Vgl. hierzu auch: Spengel/­Stutzenberger, IStR 2018, 37 (39).

342

Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

A.  Verhältnis zwischen Richtlinien und Grundfreiheiten Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts umfasst neben dem Primär- auch das Sekundärrecht, sodass auch die Richtlinienbestimmungen im Kollisionsfall dem nationalen Recht – und damit dem transformierten Abkommensrecht – vorgehen. Wie sich das Verhältnis von den Richtlinien zu den Grundfreiheiten, insbesondere zur Niederlassungsfreiheit, konkret darstellt, soll im Folgenden kurz erläutert werden. Innerhalb des Unionsrechts kommt dem Primärrecht ein Anwendungsvorrang vor dem Sekundärrecht zu. Trotz der Vermutung der Rechtmäßigkeit des Sekundärrechts hat sich dieses an die Vorgaben des Primärrechts zu halten. Dies gilt insbesondere auch für die Auslegungsregeln, nach denen das angeglichene nationale Recht anhand der Richtlinie und diese wiederum anhand des Primärrechts auszulegen ist. Entscheidend für die Vorrangfrage ist somit der Ursprung der nationalen Vorschrift. Die im Wege der Umsetzung von Richtlinien erlassenen nationalen Vorschriften sind nur unter bestimmten Voraussetzungen sowohl anhand der Grundfreiheiten als auch anhand des Sekundärrechts zu prüfen. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist „jede nationale Regelung in einem Bereich, der auf Unionsebene abschließend harmonisiert wurde, anhand der fraglichen Harmonisierungsmaßnahme und nicht anhand des Primärrechts zu beurteilen“.11 Im Falle der Existenz einer abschließenden sekundärrechtlichen Regelung können die Grundfreiheiten somit durch eine Richtlinie verdrängt werden, sodass die Vorgaben des EuGH auf die Anwendung eines Unionsrechtsaktes dann nicht übertragbar sind.12 Das Sekundärrecht ist daher vor primärrechtlichen Grundfreiheiten vorrangig heranzuziehen.13 Entscheidend ist die Feststellung, ob mit der jeweiligen Richtlinienbestimmung eine abschließende Harmonisierung erfolgt. Diese Grundsätze sollen anhand zweier Beispiele aus dem Bereich der

11  Vgl. EuGH v. 8.3.2017, C-14/­ 16 – Euro Park Service, EuZW 2017, 429 Rn. 19; v. 12.11.2015, C-198/­14 – Visnapuu, BeckEuRS 2015, 491030 Rn. 40 mwN; v. 11.12.2003, C-322/­01  – Deutscher Apothekerverband, Slg. 2003, I-14887 Rn. 64; v. 16.12.2008, C-205/­07  – Gysbrechts und Santurel Inter, EuZW 2009, 115 Rn. 33; v. 20.7.2017, C-504/­16 und C-613/­16 – Deister Holding und Juhler Holding, EuZW 2018, 96 Rn. 45; v. 7.9.2017, C-6/­16  – Eqiom und Enka, EuZW 2017, 824 Rn. 15 ff. Vgl. auch: Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.7.2017, C-292/­16 Rn. 19. 12  So auch: Mitschke, IStR 2013, 15; ders., IStR 2017, 711 (717). 13  Ruffert, in: Calliess/­Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 8.

§ 7  Grundlagen zu Richtlinien

343

Entstrickungsbesteuerung14 näher dargestellt werden, wobei es hierbei konkret um die Anwendbarkeit der Fusionsrichtlinie ging.15 Im ersten Urteil Euro Park Service ging es um verschiedene Fragen zu einer grenzüberschreitenden Verschmelzung.16 Die streitigen nationalen Vorschriften wurden im Wege der Umsetzung von Art. 11 Abs. 1 lit. a) der Fusionsrichtlinie erlassen. Diese Bestimmung war jedoch nicht auf eine abschließende Harmonisierung gerichtet, sondern gestand den Mitgliedstaaten verschiedene Möglichkeiten zu, die Anwendung der Richtlinienbestimmungen ausnahmsweise in besonderen Fällen ganz oder teilweise zu versagen oder ihre Inanspruchnahme rückgängig zu machen.17 Die streitigen französischen Vorschriften sahen vor, dass der grundsätzlich gewährte Aufschub der Besteuerung der stillen Reserven eingebrachter Vermögenswerte generell (und nicht nur ausnahmsweise) von verschiedenen formellen und materiellen Anforderungen abhängig gemacht wurde, wenn es sich um eine grenzüberschreitende Verschmelzung handelte. Nach Ansicht des EuGH verstößt eine solche generelle Vorschrift gegen Art. 11 Abs. 1 lit. a) der Fusionsrichtlinie, da sie nicht verhältnismäßig sei.18 Die Feststellungen zur Verhältnismäßigkeit des Art. 11 Abs. 1 lit. a) der Fusionsrichtlinie gelten nach Ansicht des EuGH ebenfalls für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Niederlassungsfreiheit, sodass auch ein Verstoß gegen diese vorliegt.19

14 

Siehe dazu § 6 B. II. Beispiele finden sich hier: EuGH v. 22.3.2018, C-327/­16 und C-421/­16 – Jacob/­Lassus, IStR 2018, 316 (zu Art. 8 der Fusionsrichtlinie); v. 20.12.2017, C-504/­16 und C-613/­16 (zu Art. 1 Abs. 2 i. V. m. Art. 5 Abs. 1 der Mutter-Tochter-Richtlinie). Die Mutter-Tochter-Richtlinie und generell grenzüberschreitende Dividendenzahlungen sind darüber hinaus in weiteren Urteilen durch den EuGH ausgelegt worden: vgl. EuGH v. 28.1.1986, C-270/­83 – Avoir fiscal, Slg. 1986, I-273; v. 17.7.1997, C-28/­95 – Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161; v. 15.5.1997, C-250/­ 95 – Futura Participations, Slg. 1997, I-2471; v. 16.7.1998, C-264/­96 – ICI, Slg. 1998, I4695; v. 8.3.2001, C-397/­98 und C-410/­98 – Me­ tallgesellschaft und Hoechst, Slg. 2001, I-1727; v. 12.12.2002, C-324/­00 – Lankhorst-Ho­ horst, Slg. 2002, I-11779; v. 18.9.2003, C-168/­01 – Bosal, Slg. 2003, I-9409; v. 12.12.2006, C-374/­04  – Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation, Slg. 2006, I-11673; v. 12.12.2006, C-446/­04 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753; v. 14.11.2006, C-513/­04 – Kerckhaert und Morres, Slg. 2006, I-10967; v. 14.12.2006, C170/­05  – Denkavit France, Slg. 2006, I-11949. 16  EuGH v. 8.3.2017, C-14/­16 – Euro Park Service, EuZW 2017, 429. 17  EuGH v. 8.3.2017, C-14/­ 16 – Euro Park Service, EuZW 2017, 429 Rn. 22 ff., 48; v. 17.7.1997, C-28/­95 – Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161 Rn. 38 ff.; v. 20.5.2010, C-352/­08 – Modehuis A. Zwijnenburg, EuZW 2010, 591 Rn. 45 mwN. 18  EuGH v. 8.3.2017, C-14/­16 – Euro Park Service, EuZW 2017, 429 Rn. 54 ff. 19  EuGH v. 8.3.2017, C-14/­16 – Euro Park Service, EuZW 2017, 429 Rn. 69. 15  Weitere

344

Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Im zweiten Urteil A Oy beruhte die streitige finnische Regelung auf der Umsetzung von Art. 10 Abs. 2 der Fusionsrichtlinie.20 Diese Bestimmung ermächtigte den Mitgliedstaat der einbringenden Gesellschaft zur Besteuerung der Gewinne oder Veräußerungsgewinne, die aus der Durchführung einer Fusion, Spaltung oder Einbringung von Unternehmensteilen stammten, unter dem Vorbehalt, dass er die vorgesehenen Voraussetzungen einhielt.21 Die finnische Vorschrift sah vor, dass der durch eine grenzüberschreitende Einbringung von Unternehmensteilen entstandene Veräußerungsgewinn sowie die stillen Reserven dem Steuerjahr der Einbringung zugerechnet und bei der inländischen Gesellschaft im Zeitpunkt der Übertragung ohne Zahlungsaufschub sofort besteuert wurden. Da Art. 10 Abs. 2 der Fusionsrichtlinie keine Aussage über den Zeitpunkt der Besteuerung treffe („zu besteuern“), obliege es dem jeweiligen Mitgliedstaat, diesen Zeitpunkt festzulegen.22 Die Gegenansicht meint, dass diese Richtlinienbestimmung auch die Berechtigung der Mitgliedstaaten zum sofor­ tigen Einzug der geschuldeten Steuer enthalte, sodass die streitige nationale Regelung unionsrechtskonform sei und nicht in einen Konflikt mit der Niederlassungsfreiheit gerate.23 Denn der sofortige Einzug einer geschuldeten Steuer sei insbesondere dann der Normalfall, wenn nicht ein nur fiktiver Gewinn (wie etwa in den klassischen Entstrickungsfällen), sondern vielmehr ein bereits realisierter Gewinn besteuert werde.24 Die fehlende Wahlmöglichkeit zwischen sofortiger Entrichtung der Steuer und einem Zahlungsaufschub verstößt jedenfalls gegen die Niederlassungsfreiheit. Diese Beurteilung werde nicht dadurch in Frage gestellt, dass die nationale Regelung im Einklang mit Art. 10 Abs. 2 der Fusionsrichtlinie den Abzug der Steuer ermögliche.25 Da die Rechts­ akte der Union den Vorgaben des Primärrechts entsprechen müssen,26 nahm die Generalanwältin Kokott an, dass die streitigen Vorschriften neben der Nieder-

20  EuGH v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80. Vgl. zu Art. 10 Abs. 1 der Fusionsrichtlinie im Bereich der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung auch: Eng­ lisch, Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, S. 8. 21  EuGH v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80 Rn. 18. 22  EuGH v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80 Rn. 21 f.; zustimmend: Reu­ ter, EuZW 2018, 80 (83). 23  Mitschke, IStR 2018, 65 (66); ders., IStR 2017, 711 (717 f.). 24  Mitschke, IStR 2018, 65 (66): „wie im hiesigen Fall der Veräußerungsgewinn auf­ grund der Einbringung als ein veräußerungsähnlicher Tatbestand“. 25  EuGH v. 23.11.2017, C-292/­16 – A Oy, EuZW 2018, 80 Rn. 38. 26  Vgl. EuGH v. 28.4.1998, C-120/­95 und C-158/­96 – Decker und Kohll, EuZW 1998, 343 Rn. 25 ff. Vgl. auch: Linn/­Pignot, IWB 2018, 114 (119); Reuter, EuZW 2018, 80 (83 f.); Lüdicke/­Hummel, IStR 2006, 694 (698); Schön/­Schindler, IStR 2004, 571 (575 f.); Eng­ lisch, Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, S. 8.

§ 7  Grundlagen zu Richtlinien

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lassungsfreiheit an den Bestimmungen der Fusionsrichtlinie zu messen seien.27 Diese Auffassung stieß jedoch auf Kritik.28

B.  Ordnungsgemäße Umsetzung einer Richtlinie Sind Richtlinienbestimmungen in nationales Recht umgesetzt worden, geht es vorrangig um dogmatische Aspekte. Entscheidend ist hierbei, welche Wirkungen von den umgesetzten Bestimmungen ausgehen und in welchem Rangverhältnis die umgesetzten Richtlinienbestimmungen zu den DBA stehen. Zwar ist diese Frage eigentlich ein Problem des Rangverhältnisses innerhalb des nationalen Rechts, da sowohl die Richtlinien umgesetzt als auch die DBA transformiert werden. Dennoch bewirken weder die Umsetzung noch die Transformation, dass die Richtlinien oder die DBA wegfallen oder im innerstaatlichen Recht vollständig aufgehen. Vielmehr bleiben sowohl die Richtlinien als auch die DBA an sich bestehen. Dabei haben Richtlinien im Kollisionsfall beispielsweise im Wege der Auslegung eine klarstellende Funktion. Sie wirken somit auch nach der Umsetzung auf das innerstaatliche Recht ein. Das Verhältnis zwischen Richtlinien und DBA ist damit keinesfalls eine lediglich innerstaatliche Frage, sondern ist im Lichte des Unions- sowie des Abkommensrechts zu betrachten. Bevor das Verhältnis zwischen umgesetzten Richtlinien und transformierten DBA geprüft wird, ist zuvor kurz darzustellen, wie Richtlinien ordnungsgemäß zustande kommen und welche Grundsätze sie dabei zu beachten haben. I.  Zuständigkeit und Zustandekommen von Richtlinien

Die Zuständigkeit für den Erlass von Richtlinien im Bereich der direkten Steuern liegt gemäß Art. 115 AEUV bei der EU, sodass die in Art. 4 Abs. 1 EUV enthaltene Vermutung für die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten in diesem Bereich nicht gilt.29 Wie die EU die Zuständigkeit auszuüben hat, ist in Art. 5 Abs. 1 EUV näher geregelt. Aus dieser Vorschrift lassen sich der Grundsatz 27 

Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 13.7.2017, C-292/­16 Rn. 20 f.; vgl. auch: Mitschke, IStR 2018, 65 (66), nach dem es erstaunlich sei, mit welcher Leichtigkeit und mit welch geringem Stellenwert innerhalb seines Urteils der EuGH eine im Bereich der Unternehmensbesteuerung maßgebliche Richtlinie des Unionsgesetzgebers vom Tisch wische. 28  Mitschke, IStR 2017, 711 (717). 29  Calliess/­Kahl/­Puttler, in: Calliess/­Ruffert, Art. 4 EUV Rn. 2; Obwexer, in: von der Groeben/­Schwarze/­Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 13 ff.: Art. 4 Abs. 1 EUV solle die Kompetenz-Kompetenz der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ und damit ihre fortbestehende Staatlichkeit unterstreichen und könnte aufgrund seiner systematischen Stellung zu einer „Warnlampe“ werden, die immer dann aufleuchtet, wenn die

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

der begrenzten Einzelermächtigung als Kompetenzabgrenzungsregel sowie das Subsidiaritätsprinzip und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Kompetenzausübungsregeln ableiten.30 Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Artt. 5, 13 Abs. 2 EUV gilt im gesamten Bereich des Sekundärrechts. Gemäß Art. 5 Abs. 2 S. 1 EUV wird die Union nach diesem Grundsatz nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben.31 Demnach bedarf jeder Rechtsakt der EU einer Rechtsgrundlage im Primärrecht.32 Für die Richtlinien im Bereich der direkten Steuern findet sich diese Rechtsgrundlage in Art. 115 AEUV. Der EuGH kann die Einhaltung der Kompetenzen gemäß Art. 263 AEUV überprüfen, ihm steht das Verwerfungsmonopol zu.33 Nur kompetenzgemäß erlassenes Sekundärrecht kann in der EU Anwendbarkeit sowie Vorrang beanspruchen.34 Fehlt die entsprechende Kompetenz zum Erlass des Rechtsakts, wird dieser gemäß Art. 264 AEUV für nichtig erklärt. Da die direkten Steuern nicht zum Bereich der ausschließlichen Kompetenz der EU gemäß Art. 2 Abs. 1, Art. 3 AEUV gehören, muss stets eine Prüfung des Unionsorgane die der Union übertragenen Kompetenzen besonders extensiv auslegten. Die dabei anzuwendenden Kriterien seien in Art. 5 EUV niedergelegt. 30  Nettesheim, in: Oppermann/­ Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 11 Rn. 23: Diese Kompetenzausübungsregeln kenne das Primärrecht seit Maastricht 1992. Das Subsidiaritätsprinzip sei auch im Zusammenhang mit dem Gebot der Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 2 EUV) zu lesen. 31  Die Regelung des Art. 4 Abs. 1 EUV entspricht nahezu wortgleich der Regelung in Art. 5 Abs. 2 S. 2 EUV. Der Regelung des Art. 4 Abs. 1 EUV kommt insofern kein eigenständiger rechtlicher Gehalt zu, da sich die Regelzuständigkeit der Mitgliedstaaten bereits im Umkehrschluss aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ergibt: Obwexer, in: von der Groeben/­Schwarze/­Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 4 EUV Rn. 13 ff. Vgl. auch: Bieber, in: Bieber/­Epiney/­Haag, Die EU, § 3 Rn. 22; Härtel, in: Hatje/­MüllerGraff, Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht, § 11 Rn. 129. 32  Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 11 Rn. 3; Bast, in: Grabitz/­Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 19: Die Rechtsgrundlage könne auch in einem Sekundärrechtsakt enthalten sein (sog. abgeleitete Rechtsgrundlage). 33  Kadelbach, in: von der Groeben/­Schwarze/­Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 5 EUV Rn. 7; Nettesheim, in: Grabitz/­Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 288 AEUV Rn. 62; Schaumburg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 4.23: Das Bundesverfassungsgericht behalte sich in diesem Zusammenhang eine sog. Ultra-­viresKontrolle vor, ob es sich um einen sog. ausbrechenden Rechtsakt handelt. 34  Nettesheim, in: Grabitz/­ Hilf/­ Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 288 AEUV Rn. 62; Bast, in: Grabitz/­Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 33a: Die Gerichte der Mitgliedstaaten müssten bei Zweifeln an der Kompetenz diese Frage gemäß Art. 267 AEUV dem EuGH zur Entscheidung vorlegen, es sei denn, der Rechtsfehler sei so offenkundig und schwerwiegend, dass der Rechtsakt als inexistent anzusehen sei.

§ 7  Grundlagen zu Richtlinien

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Subsidiaritätsprinzips gemäß Art. 5 Abs. 3 UAbs. 1 EUV erfolgen.35 Die Prüfung der Subsidiarität erfolgt dabei anhand von zwei Tests, dem Effizienztest36 sowie dem Mehrwerttest 37. Im Ergebnis sind die Normen so auszugestalten, dass sie die Kompetenzen der Mitgliedstaaten am wenigsten beeinträchtigen.38 Neben dem Subsidiaritätsprinzip ist vor allem auch zu überprüfen, ob die jeweilige Richtlinie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Art. 5 Abs. 4 UAbs. 1 EUV entspricht. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit werden die Eignung und Erforderlichkeit der konkreten Richtlinie hinsichtlich der mit ihr verfolgten Ziele überprüft.39 Nicht hinreichend geklärt ist hingegen, ob das erforderliche Maß alle drei Stufen der Verhältnismäßigkeit umfasst, mithin die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit.40 Eine Richtlinie entsteht mittels eines zweistufigen Rechtsetzungsverfahrens. Zunächst erlassen die zuständigen Organe der EU die Richtlinie grundsätzlich 35  Der EuGH ist gemäß Art. 8 SubsProt., Art. 263 AEUV für Klagen wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts gegen das Subsidiaritätsprinzip zuständig (sog. Subsidiaritätsklage). 36  Härtel, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 6 Rn. 124; Kadelbach, in: von der Groeben/­Schwarze/­Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 5 EUV Rn. 35 f.; Bast, in: Grabitz/­Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 54; Bieber, in: Bieber/­ Epiney/­Haag, Die EU, § 3 Rn. 32; Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 11 Rn. 29; Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 114; Schaum­ burg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 11.12: Beim Effizienztest sei zu untersuchen, ob die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden könnten (Negativkriterium). Sei im Bereich der direkten Steuern hingegen absehbar, dass die Mitgliedstaaten von sich aus ihre Vorschriften den Bedürfnissen des gemeinsamen Markts anpassten, dürfe die EU keine entsprechenden Harmonisierungsvorschriften erlassen: Birk/­Desens/­Tappe, in: Birk/­ Desens/­Tappe, Steuerrecht, Rn. 228. 37  Bast, in: Grabitz/­ Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 57; Här­ tel, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 6 Rn. 122 ff.; Kadelbach, in: von der Groeben/­Schwarze/­Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 5 EUV Rn. 26; Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 11 Rn. 29: Beim Mehrwerttest sei zu überprüfen, ob die Ziele der Maßnahmen wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen seien (Positivkriterium). Bereits in Art. 5 des früheren Protokolls (Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit v. 2.10.1997, BGBl. II 1998, S. 387) waren detaillierte Prüfkriterien enthalten, welche weiterhin als Orientierungshilfe zur Auslegung von Art. 5 Abs. 3 EUV dienen. 38  Schaumburg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 11.13. 39  Bast, in: Grabitz/­ Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 70; Ka­ delbach, in: von der Groeben/­Schwarze/­Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 5 EUV Rn. 51. 40  Kadelbach, in: von der Groeben/­Schwarze/­Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 5 EUV Rn. 49; Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 11 Rn. 33.

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens gemäß Artt. 289 Abs. 1, 294 AEUV. Das ordentliche Verfahren findet allerdings im Bereich der direkten Steuern keine Anwendung, da weder die spezielle Ermächtigung des Art. 113 AEUV noch die Regelung des Art. 114 Abs. 1 AEUV einschlägig sind. Für den Bereich der direkten Steuern gilt ein besonderes Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 115 AEUV.41 Die Richtlinie tritt in dem Zeitpunkt in Kraft, der in der Richtlinie selbst bestimmt ist, andernfalls am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung (Art. 297 Abs. 1 UAbs. 3, Art. 297 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV). In einem zweiten Schritt sind die adressierten Mitgliedstaaten mit Ablauf der Umsetzungsfrist verpflichtet, die Richtlinie in das jeweilige nationale Recht umzusetzen.42 Diese Pflicht sowie die Frist dafür sind regelmäßig in den Richtlinien selbst geregelt. Primärrechtlich ergibt sich die Umsetzungspflicht aus Art. 288 Abs. 3, 291 Abs. 1 AEUV und ergänzend aus Art. 4 Abs. 3 EUV.43 Eine allgemeine Verweisung auf unionsrechtliche Vorschriften oder eine mit der Richtlinie übereinstimmende Verwaltungspraxis reichen für eine Umsetzung nicht aus.44 Es ist vielmehr die Übernahme der Richtlinienbestimmungen in einen innerstaatlichen Rechtsakt erforderlich. Entsprechen die nationalen Vorschriften bereits den Vorgaben der Richtlinie, ist eine Anpassung oder Änderung dieser Vorschriften nicht notwendig.45 Im Ergebnis treten die Regelungen einer Richtlinie also nicht an die Stelle der nationalen Rechtsvorschriften, sondern die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, ihr entgegenstehendes Recht an die Richtlinienbestimmungen anzupassen.46 Das angeglichene Recht bleibt „europäisch geprägtes“ nationales Recht und unterliegt weiterhin der Auslegung durch die nationalen Gerichte.47 Die Richtlinien behalten aber auch nach ihrer 41  Neben Art. 115 AEUV könne auch auf Art. 116 AEUV oder Art. 352 AEUV zurückgegriffen werden: Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU, Rn. 828. Vgl. auch: Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 35 Rn. 11. Das besondere Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 115 AEUV gilt grundsätzlich auch bei der nachträglichen Änderung von Richtlinien. Das Initiativrecht liegt auch beim besonderen Gesetzgebungsverfahren nach Art. 115 AEUV bei der Kommission (Art. 17 Abs. 2 S. 1 EUV). Vgl. auch: Leible/­Schröder, in: Streinz, Art. 115 AEUV Rn. 18; Tietje, in: Grabitz/­ Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 115 AEUV Rn. 35; Von Danwitz, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, B. II. Rn. 13. 42  EuGH v. 28.2.1991, C-360/­87 – Kommission/­Italien, Slg. 1991, I-791. 43  Vgl. EuGH v. 18.12.1997, C-129/­96 – Inter-Environment Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40; v. 22.6.2000, C-318/­98 – Fornasar u. a., Slg. 2000, I-4785 Rn. 41. Vgl. auch: Streinz, Europarecht, Rn. 482; Obwexer, in: von der Groeben/­Schwarze/­Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 291 AEUV Rn. 1 ff.; Art. 4 EUV Rn. 95. 44  Haag, in: Bieber/­Epiney/­Haag, Die EU, § 6 Rn. 31. 45  Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 94. 46  Haag, in: Bieber/­Epiney/­Haag, Die EU, § 6 Rn. 29. 47  Classen, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 32 Rn. 33.

§ 7  Grundlagen zu Richtlinien

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Umsetzung in das nationale Recht ihre Wirkung, sodass das umgesetzte Recht einer richtlinienkonformen Auslegung unterliegt.48 II.  Tatbestandsmerkmale des Art. 115 AEUV

Entscheidend für den Erlass steuerlicher Richtlinien ist weniger das Verfahren selbst, als vielmehr die Einhaltung der Tatbestandsmerkmale des Art. 115 AEUV. 1.  Rechtsangleichung als Ziel von Richtlinien

Wie bereits dargestellt, sind steuerrechtliche Richtlinien auf eine Rechtsangleichung in den verschiedenen Mitgliedstaaten gerichtet.49 Ziel der Rechtsangleichung ist, das staatliche Recht, das vielfach erhebliche Unterschiede aufweist, an die Erfordernisse des Binnenmarkts anzupassen, damit in den Mitgliedstaaten materiell und zum Teil auch der formell möglichst gleiche Bedingungen herrschen.50 Die Rechtsangleichung durch Richtlinien ist somit von der Rechtsvereinheitlichung durch Verordnungen abzugrenzen, welche auf die Schaffung einheitlicher Regelungen gerichtet ist. Eine weitreichende oder sogar vollständige Harmonisierung findet im Bereich der direkten Steuern hingegen nicht statt.51 Die Mindestharmonisierung der direkten Steuern erschöpft sich somit weitgehend in einigen Richtlinien, die insbesondere darauf gerichtet sind, die unionsrechtlich verbürgten Grundfreiheiten zu gewährleisten.52 Daneben findet eine Harmonisierung vor allem im Bereich der direkten Unternehmensbesteuerung derzeit vorwiegend durch die Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten statt.53 Die lediglich punktuell stattfindende Harmonisierung der direkten Steuern steht im Ermessen der EU. Soweit allerdings nationale steuerliche Regelungen gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot, die Grundfreiheiten oder das Beihilfeverbot verstoßen, ist die EU zur Tätigkeit 48 

Schaumburg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 3.10. Siehe dazu § 3 B. II. 50  Haag, in: Bieber/­ Epiney/­Haag, Die EU, § 6 Rn. 29; Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 116; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU, Rn. 511; Mick, in: Birk, Handbuch des Europäischen Steuer- und Abgabenrechts, § 24 Rn. 1. 51 Im Gegensatz zu den indirekten Steuern, für die eine Steuerharmonisierung in Art. 113 AEUV ausdrücklich vorgesehen ist, fehlt hier eine solche Regelung. Insbesondere der Bereich der Konzernbesteuerung ist jedoch bereits teilweise angeglichen worden: Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 35 Rn. 43. 52  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.63 ff.; Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 113; Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 35 Rn. 5. 53  Kahl, in: Calliess/­Ruffert, Art. 26 AEUV Rn. 26. 49 

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

verpflichtet, sodass ein Ermessen in diesen Fällen nicht besteht.54 Das Ermessen der EU wird zudem durch das Erfordernis der Einstimmigkeit beim Erlass der Richtlinien sowie die Steuersouveränität der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern begrenzt.55 2.  Vorschriften, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarkts auswirken

Darüber hinaus ist eine Rechtsangleichung nach Art. 115 AEUV nur dann zulässig, wenn eine unmittelbare Auswirkung auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarkts vorliegt.56 Insofern wird auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gemäß Art. 5 Abs. 4 EUV Bezug genommen.57 Der Binnenmarkt umfasst dabei gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 1 EUV, Art. 26 Abs. 2 AEUV einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist. Mit dem Merkmal der Errichtung ist die Phase des Aufbaus des Binnenmarkts gemeint, während der Begriff des Funktionierens seine fortdauernde Wirkungsweise beschreibt.58 Das Unmittelbarkeitskriterium dient der Einschränkung des Anwendungsbereichs und ist Ausdruck des Grundsatzes der Subsidiarität.59 Wann von einer unmittelbaren Auswirkung auszugehen ist, ist umstritten. Nach der Rechtsprechung des EuGH liegt eine solche Auswirkung vor, wenn die nationalen Regelungen ohne Rechtsangleichung zu spürbaren Wettbewerbsverfälschungen führen.60 Im Schrifttum wird hingegen überwiegend ein von den nationalen Vorschriften ausgehender negativer Effekt verlangt, wobei insofern auf die Intensität und Sachnähe der Auswirkung abzustellen sei und eine spürbare, potentielle oder tatsächliche sowie kausale negative Auswirkung im Sinne einer Funktionsstörung gefordert wird.61 Ob eine unmittelbare Auswirkung vorliegt, kann nur für den jeweiligen Einzelfall getroffen 54 

Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 114. Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 113 f. 56  Vgl. auch: Birk/­Desens/­Tappe, Steuerrecht, Rn. 236. 57  Kahl, in: Calliess/­Ruffert, Art. 115 AEUV Rn. 8. 58  Leible/­S chröder, in: Streinz, Art. 115 AEUV Rn. 7. 59  Mick, in: Birk, Handbuch des Europäischen Steuer- und Abgabenrechts, § 24 Rn. 40 f. 60 EuGH v. 18.3.1980, Rs. 91/­ 79 – Kommission/­Italien, Slg. 1980, 1099 Rn. 8; v. 18.3.1980, Rs. 92/­79 – Kommission/­Italien, Slg. 1980, 1115 Rn. 8; v. 16.12.1976, Rs. 33/­ 76 – Rewe, Slg. 1976, 1989 Rn. 5; Mick, in: Birk, Handbuch des Europäischen Steuer- und Abgabenrechts, § 24 Rn. 41. 61  Kahl, in: Calliess/­ Ruffert, Art. 115 AEUV Rn. 7 mwN: Teilweise wird angenommen, eine unmittelbare Auswirkung sei schon dann gegeben, wenn die nationalen Regeln dem Binnenmarkt nicht förderlich seien. 55 

§ 7  Grundlagen zu Richtlinien

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werden, wobei der Europäischen Kommission und dem Rat eine Einschätzungsprärogative zukommt.62

C.  Unmittelbare Wirkung und Anwendungsvorrang von Richtlinien I.  Unmittelbare Wirkung von Richtlinien

Setzt ein Mitgliedstaat eine Richtlinie nicht ordnungsgemäß um, kommen mehrere Rechtsfolgen in Betracht. In den Verträgen ist lediglich die Möglichkeit vorgesehen, ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß Artt. 258 ff. AEUV einzuleiten. Der EuGH hat im Wege der Rechtsfortbildung jedoch weitere Mittel bzw. Sanktionen zur Überwindung der Umsetzungsdefizite geschaffen: den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch, die richtlinienkonforme Auslegung63 und die unmittelbare Wirkung von Richtlinien.64 Vorliegend sollen nur die richtlinienkonforme Auslegung sowie die unmittelbare Wirkung von Richtlinien betrachtet werden. Aufgrund von Art. 288 Abs. 3 AEUV haben die Richtlinien keine unmittelbare Geltung,65 sodass diese von den betroffenen Mitgliedstaaten in das jeweilige nationale Recht umgesetzt werden müssen. Diese Umsetzung ist deshalb erforderlich, da ohne eine unmittelbare Geltung auch keine Wirkung gegenüber den Steuerpflichtigen eintreten kann,66 sodass die unmittelbare Geltung die Frage der rechtlichen Existenz der entsprechenden Norm betrifft.67 Die un62 

Leible/­Schröder, in: Streinz, Art. 115 AEUV Rn. 12. Englisch, in: Tipke/­Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 33; Streinz, Europarecht, Rn. 481; Haag, in: Bieber/­Epiney/­Haag, Die EU, § 6 Rn. 33, 63; Ruffert, in: Calliess/­Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 77; Rüthers/­Fischer/­Birk, Rechtstheorie, § 22 Rn. 769c; Schaumburg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 4.62; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation, S. 55; Nettesheim, in: Grabitz/­Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 288 AEUV Rn. 52; Schroeder, in: Streinz, Art. 288 AEUV Rn. 105. 64  Ruffert, in: Calliess/­ Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 46; Haag, in: Bieber/­Epiney/­ Haag, Die EU, § 6 Rn. 35; Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 36; Streinz, Europarecht, Rn. 499; Schroeder, in: Streinz, Art. 288 AEUV Rn. 78; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation, S. 34; Bundesverfassungsgericht v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/­85, BVerfGE 75, 223 (235 ff.) mwN. 65 Missverständlich: Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 265, der von unmittelbarer Geltung, unmittelbarer Wirkung und unmittelbarer Anwendbarkeit spricht. 66 Dazu: Hartisch, Die unmittelbare Wirkung von Richtlinien, S. 24; Haag, in: Bieber/­Epiney/­Haag, Die EU, § 6 Rn. 53; Wünschmann, Geltung und gerichtliche Geltendmachung völkerrechtlicher Verträge, S. 141. 67  Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation, S. 49; Wünschmann, Geltung und gerichtliche Geltendmachung völkerrechtlicher Verträge, S. 42 f. 63 

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

mittelbare Wirkung von Richtlinien sieht vor, dass sich der Steuerpflichtige gegenüber einem Mitgliedstaat auf die Bestimmungen einer Richtlinie auch dann berufen kann, wenn diese nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt worden ist. Sie ist kein Fall der unmittelbaren Geltung, sondern der unmittelbaren Anwendbarkeit des Unionsrechts,68 sodass sie auch nicht Bestandteil des innerstaatlichen Rechts wird.69 Sobald die Richtlinie umgesetzt ist, wird die unmittelbare Wirkung durch die umgesetzten Richtlinienbestimmungen ersetzt. Als Rechtsgrundlage für die unmittelbare Wirkung von Richtlinien dient Art. 288 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV.70 Als Begründung für die unmittelbare Wirkung werden in der Rechtsprechung des EuGH und der Lehre vor allem zwei teleologische Ansätze vertreten.71 Erstens wird argumentiert, dass sich der Mitgliedstaat nicht auf seine eigene Säumigkeit berufen könne (Estoppel-Prinzip): Die Mitgliedstaaten dürften den Einzelnen nicht ihre eigene Umsetzungssäumnis entgegenhalten und müssten daher nach Fristablauf unmittelbar geltendes Richtlinienrecht gegen sich gelten lassen.72 Zweitens wird der Sanktionsgedanke herangezogen.73 Die praktische Wirksamkeit (effet uti­ le) von Richtlinienbestimmungen wäre abgeschwächt, wenn Einzelne sich nicht vor staatlichen Gerichten auf sie berufen könnten.74 Für Richtlinien wurde die unmittelbare Wirkung erstmals in der Entscheidung van Duyn anerkannt, in der

68 

Schroeder, in: Streinz, Art. 288 AEUV Rn. 89. Schroeder, in: Streinz, Art. 288 AEUV Rn. 89. 70  EuGH v. 20.9.1988, C-190/­87 – Moormann, Slg. 1988, 4689 Rn. 24. 71  Ruffert, in: Calliess/­ Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 48; Haag, in: Bieber/­Epiney/­ Haag, Die EU, § 6 Rn. 62; Schroeder, in: Streinz, Art. 288 AEUV Rn. 103; Geismann, in: von der Groeben/­Schwarze/­Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 288 AEUV Rn. 47. 72  EuGH v. 19.1.1982. Rs. 8/­81 – Becker, Slg. 1982, I-53 Rn. 24: „Daher kann ein Mitgliedstaat, der die in der Richtlinie vorgeschriebenen Durchführungsmaßnahmen nicht fristgemäß erlassen hat, den einzelnen nicht entgegenhalten, daß er die aus der Richtlinie erwachsenen Verpflichtungen nicht erfüllt hat.“ Vgl. auch: EuGH v. 5.4.1979, Rs. 148/­ 78 – Ratti, Slg. 1979, I-1629 Rn. 22; v. 22.2.1984, Rs. 70/­83 – Kloppenburg, Slg. 1984, I-1075 Rn. 3; v. 26.2.1986, Rs. 152/­84 – Marshall I, Slg. 1986, I-723 Rn. 47; v. 14.7.1994, C-91/­92  – Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 23 f. Vgl. auch: Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 38. 73  Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 37; Haag, in: Bieber/­Epiney/­Haag, Die EU, § 6 Rn. 62. 74  Vgl. EuGH v. 4.12.1974, Rs. 41/­74 – van Duyn, Slg. 1974, I-1337 Rn. 12; v. 1.2.1977, Rs. 51/­76 – Nederlandse Ondernemingen, Slg. 1977, I-113 Rn. 20 ff.; v. 5.4.1979, Rs. 148/­ 78 – Ratti, Slg. 1979, I-1629 Rn. 21; v. 19.1.1982. Rs. 8/­81 – Becker, Slg. 1982, I-53 Rn. 23; v. 22.2.1990, C-221/­88 – Busseni, Slg. 1990, I-495 Rn. 22; v. 12.7.1990, C-188/­89 – Foster u. a., Slg. 1990, I-3313 Rn. 16. Vgl. auch: Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation, S. 63. 69 

§ 7  Grundlagen zu Richtlinien

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der EuGH die zuvor entwickelten Argumente auf Richtlinien übertrug.75 Mittlerweile ist die unmittelbare Wirkung von Richtlinien ständige Rechtsprechung des EuGH und damit allgemein anerkannt.76 Die unmittelbare Wirkung von Richtlinien kommt insbesondere in drei Fallgruppen der nicht ordnungsgemäßen Umsetzung von Richtlinien zur Anwendung: Die Richtlinie wurde nicht fristgemäß umgesetzt, die Richtlinie wurde nicht vollständig bzw. unzulänglich umgesetzt und die Richtlinie wurde zwar ordnungsgemäß umgesetzt, die entsprechenden Regelungen werden allerdings nicht in der Art und Weise angewendet, dass das mit der Richtlinie verfolgte Ziel erreicht wird.77 Die unmittelbare Wirkung kommt auch dann in Betracht, wenn der Mitgliedstaat die Richtlinienbestimmung zunächst ordnungsgemäß umsetzt, dann aber nach Ablauf der Umsetzungsfrist den gebotenen Rechtszustand richtlinienwidrig verändert.78 Hierunter fallen beispielsweise Kon­ stellationen, in denen die Umsetzungsvorschrift zwar dem Wortlaut nach dem Richtlinienziel entspricht, der nationale Umsetzungsakt aber stets in einer nicht unionsrechtskonformen Weise ausgelegt wird.79 Voraussetzung für die unmittelbare Wirkung von einzelnen Richtlinienbestimmungen80 sind die Fristsetzung81 und die Nichtumsetzung der Richtlinie82 75 EuGH v. 4.12.1974, Rs. 41/­ 74 – van Duyn, Slg. 1974, I-1337. Vgl. auch: Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 27. 76  EuGH v. 5.4.1979, Rs. 148/­78 – Ratti, Slg. 1979, I-1629 Rn. 19 f.; v. 6.10.1970, Rs. 9/­ 70 – Grad, Slg. 1970, I-825; v. 4.12.1974, Rs. 41/­74 – van Duyn, Slg. 1974, I-1337. Vgl. auch: Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 28, 34 mwN; Haag, in: Bieber/­Epiney/­ Haag, Die EU, § 6 Rn. 62; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU, Rn. 139; Ruf­ fert, in: Calliess/­Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 49; Bundesverfassungsgericht v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/­85, BVerfGE 75, 223 (235 ff.). 77  EuGH v. 26.2.1986, Rs. 152/­ 84 – Marshall I, Slg. 1986, I-723 Rn. 46; Ruffert, in: Calliess/­Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 52. Auch für diesen Fall ist Voraussetzung, dass die Umsetzungsfrist bereits abgelaufen ist. 78  Nettesheim, Die mitgliedstaatliche Durchführung von EG-Richtlinien, S. 81. 79  EuGH v. 11.7.2002, Rs. 62/­0 0 – Marks & Spencer, Slg. 2002, I-6325 Rn. 27; Ruffert, in: Calliess/­Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 52; Nettesheim, in: Grabitz/­Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 288 AEUV Rn. 143. 80  Dazu: EuGH v. 4.12.1974, Rs. 41/­74 – Van Duyn, Slg. 1974, 1337 Rn. 13 f.; v. 19.1.1982, Rs. 8/­81 – Becker, Slg, 1982, 53 Rn. 27 ff.; zusammenfassend: Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation, S. 35; Hartisch, Die unmittelbare Wirkung von Richtlinien, S. 36. 81  Vgl. EuGH v. 5.4.1979, Rs. 148/­ 78 – Ratti, Slg. 1979, I-1629; Ruffert, in: Calliess/­ Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 51; Nettesheim, in: Grabitz/­Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 288 AEUV Rn. 142; Geismann, in: von der Groeben/­Schwarze/­Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 288 AEUV Rn. 48. 82 Vgl. EuGH v. 26.2.1986, Rs. 152/­ 84 – Marshall I, Slg. 1986, I-723 Rn. 46; v. 20.9.1988, C-190/­87 – Moormann, Slg. 1988, 4689 Rn. 23; v. 30.4.1996, C-194/­94 – CIA Security International, Slg. 1996, I-2201 Rn. 42.

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

innerhalb dieser Frist. Im Rahmen dieser Arbeit sollen diese zwei Voraussetzungen jedoch im Folgenden nicht näher untersucht, sondern das Verhältnis von unmittelbarer Wirkung und DBA behandelt werden. Es soll dabei allein der Fall betrachtet werden, dass DBA-Bestimmungen den Richtlinienbestimmungen zuwiderlaufen83, also der Fall, dass mittels eines Transformationsgesetzes Recht geschaffen wird, das der Richtlinie widerspricht. Ein Umsetzungsverstoß liegt aber dann nicht vor, wenn sich kollidierende Bestimmungen richtlinienkonform interpretieren lassen.84 Die unmittelbare Wirkung nicht oder nur fehlerhaft umgesetzter Richtlinien führt dazu, dass kollidierendes nationales Recht zurücktritt mit der Folge, dass stattdessen die betreffende Richtlinienbestimmung anzuwenden ist.85 Die Rechtsfolgen der unmittelbaren Wirkung umfassen zum einen die Heranziehung einer Richtliniennorm als streitentscheidende (Anspruchs-)Norm, zum anderen ihre Heranziehung als Rechtmäßigkeitsmaßstab zur Beurteilung des nationalen Rechts.86 Daher wird in diesem Zusammenhang teilweise von der objektiven sowie der subjektiven Wirkung von Richtlinien gesprochen.87 Verwendet man diese Begriffe, besteht die subjektive Wirkung zunächst in der Gewährung von subjektiven Rechten durch die Richtlinie.88 Als entscheidende Rechtsfolge der unmittelbaren Wirkung kann sich der Steuerpflichtige gegenüber den nationalen Behörden und Gerichten unmittelbar auf die Richtlinienbestimmungen berufen und individuelle Rechtsfolgen direkt ableiten („vertikale unmittelbare Richtlinienwirkung“).89 Die Finanzverwaltung und die Finanzgerichte müssen die Bestimmungen einer nicht umgesetzten Richtlinie von Amts wegen berücksichtigen,90 sofern der Steuerbescheid noch nicht bestandskräftig

83  Haag, in: Bieber/­Epiney/­Haag, Die EU, § 6 Rn. 32: Durch diese Sperrwirkung bewirke die Richtlinie eine Einschränkung der Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Rechtsetzung auf den von ihren Bestimmungen erfassten Gebieten. 84  Schroeder, in: Streinz, Art. 288 AEUV Rn. 107. 85  Schaumburg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 4.60; Schil­ ling, Rang und Geltung von Normen, S. 433 f. 86  Hartisch, Die unmittelbare Wirkung von Richtlinien, S. 28; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation, S. 50 mwN. 87  Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation, S. 50 mwN. 88  Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation, S. 50. 89  Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 29. 90 Vgl. EuGH v. 22.6.1989, Rs. 103/­ 88 – Constanzo, Slg. 1989, I-1839; v. 11.7.1991, C-87/­90 bis 89/­90 – Verholen, Slg. 1991, I-3757; v. 11.8.1995, C-431/­91 – Großkrotzenburg, Slg. 1995, I-2189 Rn. 26; v. 24.10.1996, C-72/­95 – Kraaijeveld u. a., Slg. 1996, I-5403 Rn. 55 ff.; v. 9.11.1999, C-365/­97 – Kommission/­Italien, Slg. 1999, I-7773 Rn. 63. Vgl. auch: Nettesheim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 101; ders., in: Grabitz/­Hilf/­Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 288 AEUV Rn. 148.

§ 7  Grundlagen zu Richtlinien

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ist.91 Der Mitgliedstaat kann sich zudem nicht zu Lasten eines Steuerpflichtigen auf eine Richtlinienbestimmung berufen, die noch nicht umgesetzt worden ist (keine „umgekehrt vertikale Wirkung“).92 Bedeutender ist jedoch die objektive Wirkung. Sie besteht darin, dass die Richtlinienbestimmungen entgegenstehende nationale Vorschriften in ihrer Anwendung verdrängen.93 Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist jedoch nicht Folge der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie, sondern umgekehrt. Die unmittelbare Wirkung führt nicht zugleich auch die unmittelbare Geltung einer Richtlinienbestimmung herbei. Vielmehr ist die unmittelbare Wirkung nur Ausfluss einer Rechtsfortbildung, sodass die nicht umgesetzte Richtlinie weder innerstaatliches Recht noch lex im Sinne der Kollisionsauflösungsregeln wird. Gleichwohl kann der Gedanke lex superior derogat legi inferiori bei der Beantwortung des Rangverhältnisses gegenüber dem innerstaatlichen Recht herangezogen werden.94 Trotz dieser beiden Anwendungsbereiche stellt die unmittelbare Wirkung von Richtlinien lediglich eine Mindestgarantie dar und entbindet die Mitgliedstaaten keinesfalls von der Pflicht zur ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinien.95 II.  Anwendungsvorrang und Sperrwirkung von Richtlinien

Soweit die Richtlinie dem betreffenden Mitgliedstaat vorschreibt, entsprechende Normen bzw. Ausführungsvorschriften zu erlassen, kommt ihr nach Ablauf der Umsetzungsfrist eine Schrankenfunktion für die nationale Normgebung zu.96 Der Mitgliedstaat verliert zu diesem Zeitpunkt die Dispositionsbefugnis über die angeglichenen Vorschriften und darf keine einseitigen Änderungen mehr vornehmen, sodass die Richtlinie selbst eine Sperrwirkung 91 

Schaumburg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 3.11. Vgl. EuGH v. 8.10.1987, Rs. 80/­86 – Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 9 ff.; v. 26.2.1986, Rs. 152/­84 – Marshall I, Slg. 1986, I-723 Rn. 49; v. 14.7.1994, C-91/­92 – Fac­ cini Dori, Slg. 1994, I-3325. Vgl. auch: Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 29 f.; Gröpl, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, J. 1. Rn. 217; Geismann, in: von der Groeben/­Schwarze/­Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 288 AEUV Rn. 50. 93 Dazu grundlegend: EuGH v. 15.7.1964, Rs. 6/­ 64 – Costa/­ENEL, Slg. 1964, 1251 (1269); v. 9.3.1978, Rs. 106/­77 – Simmenthal II, Slg. 1978, 629 Rn. 17 f.; v. 19.6.1990, C-213/­89 – Factortame, Slg. 1990, I-2433 Rn. 18. 94  Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 268, 284. 95  Magiera, in: Niedobitek, Europarecht Grundlagen, § 7 Rn. 29. 96  Nettesheim, in: Grabitz/­ Hilf/­ Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 288 AEUV Rn. 130. 92 

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

(oder auch „Vorwirkung“) entfaltet.97 Diese Sperrwirkung ist Ausdruck des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts vor dem nationalen Recht,98 sodass die Mitgliedstaaten in der Folge alle das Richtlinienziel konterkarierenden Maßnahmen zu unterlassen haben. Die Sperrwirkung besteht jedoch nicht aufgrund des umgesetzten Richtlinienrechts, also der nationalen Norm selbst, sondern entstammt der Richtlinie als eine Form der europäischen Normensetzung. Sie kommt insbesondere bei bereits umgesetztem Richtlinienrecht in Betracht, wenn der jeweilige Mitgliedstaat kollidierende Normen erlassen will. Da die Umsetzung der Richtlinie zunächst nur auf Ebene des jeweils nationalen Rechts wirkt (Art. 288 Abs. 3 AEUV), kann es Fälle geben, in denen andere nationale Normen der entsprechenden umgesetzten Richtliniennorm vorgehen. In diesen Fällen greift die Sperrwirkung des Unionsrechts ein, dass nicht nur den Erlass einer solchen Norm dem Grunde nach „verbietet“, sondern auch den Behörden und Gerichten „untersagt“, diese Norm anzuwenden. Materiell löst der Anwendungsvorrang die Konkurrenz zwischen umgesetzter Norm und konkurrierender Norm dadurch, dass die klassischen Regeln über die Normenkollision durchbrochen werden, insbesondere der Grundsatz lex posterior derogat legi priori. Die Sperrwirkung ist jedoch kein Ausfluss der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien. Während die unmittelbare Wirkung dafür sorgt, dass Richtlinienbestimmung überhaupt zwischen Rechtssubjekten innerhalb der EU angewendet werden können, also quasi positives Recht setzen, verhindert die Sperrwirkung, dass dieses positive Recht (auch in Form bereits umgesetzter Richtlinienbestimmungen) seine Wirkung verliert.

§ 8  Kollisionsauflösungen zwischen Transformationsgesetz und nationalem Steuerrecht Grundsätzlich ist danach zu unterscheiden, ob das DBA bei Erlass der Richtlinie bereits bestand oder ob es erst nach Erlass der Richtlinie abgeschlossen wurde. Wie bereits dargestellt, entfalten DBA vor ihrer Transformation in das innerstaatliche Recht gegenüber den Steuerpflichtigen noch keine Wirkungen.99 97  Haag, in: Bieber/­Epiney/­Haag, Die EU, § 6 Rn. 32; Schaumburg, in: Schaumburg/­ Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 4.58. 98  Konsolidierte Fassungen des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Erklärung zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den am 13.12.2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon angenommen hat, 2008/­C 115/­01, ABl. EG 2008, Nr. C 115, 1, Erklärung Nr. 17, S. 344. 99  Siehe dazu § 1 D.

§ 8  Kollisionsauflösungen

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Dies gilt jedenfalls für die Staaten mit dem dualistischen System. Im Verhältnis zu ordnungsgemäß umgesetzten Richtlinien kann es somit zu keiner Einwirkung auf DBA kommen, sofern dieses noch nicht transformiert wurde. Dieser Fall ist daher unproblematisch.100 Sind DBA in das innerstaatliche Recht transformiert worden, entfalten sie ihre Wirkungen auch gegenüber den Steuerpflichtigen. Hinsichtlich der Einwirkungen der Richtlinienbestimmungen auf transformierte DBA lassen sich verschiedene Fallkonstellationen unterscheiden. Zum einen kommen die Fälle in Betracht, in denen die Richtlinie und DBA inhaltsgleich sind, zum anderen die Fälle, in denen die Richtlinie und DBA inhaltlich miteinander kollidieren. Dabei ist der Fall auszublenden, dass die Richtlinienbestimmungen sowie die DBA-Regelungen vollständig verschiedene Bereiche betreffen, sodass keine Berührungspunkte und somit keine Kollision vorliegen können. Diese Konstellation ist unproblematisch, da die jeweils transformierten bzw. umgesetzten Regelungen im nationalen Recht nebeneinander bestehen. Hierauf wird daher nicht näher eingegangen. Neben diesen rein dogmatischen Betrachtungen der inhaltlichen Übereinstimmung ist ganz entscheidend, wie eine Kollision aufzulösen ist, wenn das nationale Steuerrecht zur Umsetzung einer Richtlinie den DBA-Regelungen im Transformationsgesetz widersprechen. Bevor allerdings diese Konstellationen untersucht werden, wird im Folgenden zunächst dargestellt, wie Normenkollisionen zwischen DBA und nationalen Vorschriften aufgelöst werden. Anschließend wird untersucht, ob sich das gleiche Ergebnis ergibt, wenn die nationalen Vorschriften auf der Umsetzung von Richtlinienbestimmungen beruhen. In diesem Zusammenhang werden die Ergebnisse auf die beiden Konstellationen – Richtlinie wird nach DBA erlassen und DBA wird nach der Richtlinie abgeschlossen – übertragen und untersucht.

A.  Grundlagen zur Kollision zwischen DBA und nationalen Vorschriften Zunächst werden die Fälle untersucht, bei denen es zu einer Kollision zwischen DBA und rein nationalen Vorschriften kommt. Eine Normenkollision liegt dann vor, wenn zwei Normen auf einen Sachverhalt anwendbar sind und

100  Etwas anders stellt sich diese Situation hingegen in Staaten mit monistischem System dar. Da in diesen Staaten keine Transformation erfolgt, gibt es keinen Unterschied zwischen transformierten und nicht transformierten DBA.

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

bei ihrer Anwendung zu verschiedenen Ergebnissen führen können.101 Aufgrund der verschiedensten Normgeber und Normen aus unterschiedlichen Epochen sind diese oftmals nicht aufeinander abgestimmt, sodass Normenkollision häufig anzutreffen sind.102 Dabei können nicht nur einzelne Regelungen miteinander kollidieren, sondern auch ganze Regelungskomplexe.103 Die Auflösung einer Normenkollision ist aufgrund der Einheit der Rechtsordnung zwingend erforderlich, da es logisch undenkbar ist, dass einander ausschließende Rechtsfolgen wirksam nebeneinander eintreten.104 Von zwei sich widersprechenden Normen ist somit notwendig (mindestens) eine ungültig.105 Die meisten Normwidersprüche werden durch allgemeine Kollisionsregeln verhindert oder aufgelöst, welche so allgemein und grundlegend sind, dass sie auch ohne ausdrückliche Anordnung in Verfassung oder Gesetz gelten.106 In der Regel wird dabei einer der Normen der Vorrang zuerkannt oder aber es werden beide Normen eingeschränkt.107 Dies erfolgt mittels eines Anwendungsvorrangs, bei dem die vorrangige Norm lediglich die Anwendung der anderen Norm für den Konkurrenzbereich ausschließt und letztere nach Aufhebung der konkurrierenden Norm in vollem Umfang anwendbar wird.108 Im sachlichen Anwendungsbereich der kollidierenden Norm des Unionsrechts muss die nationale Rechtsnorm aber „ohne weiteres“ ohne Anwendung bleiben.109 Lässt sich mit den zur Verfügung stehenden Mitteln keine Auflösung der Kollision erreichen – was jedoch selten der Fall sein dürfte –, heben sich die widersprechenden Normen gegenseitig auf, und es entsteht eine sog. Kollisions101  Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 30; Rüthers/­Fischer/­Birk, Rechtstheorie, § 22 Rn. 770; Musil, Deutsches Treaty Overriding, S. 33 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 335; Schilling, Rang und Geltung von Normen, S. 378 ff.; Von Normenkollisionen seien Wertungswidersprüche abzugrenzen, bei denen Normen Ausdruck entgegenstehender Wertungen seien. Vgl. auch: Bundesverfassungsgericht v. 29.1.1974 – 2 BvN 1/­69, ­BVerfGE 36, 342 (363). 102  Rüthers/­Fischer/­Birk, Rechtstheorie, § 22 Rn. 775; Drüen, in: Tipke/­ K ruse, AO/­ FGO, § 4 AO Rn. 273. 103  Larenz, Methodenlehre, S. 269. 104  Larenz, Methodenlehre, S. 335; Röhl/­Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 154, 585; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 30; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 463; Schilling, Rang und Geltung von Normen, S. 371 ff.; Rüthers/­Fischer/­Birk, Rechtstheorie, § 22 Rn. 775; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 271 f. 105  Röhl/­Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 154. 106  Röhl/­Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 585. 107  Larenz, Methodenlehre, S. 335. 108  Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 346; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 30. 109  Nettesheim, in: Grabitz/­ Hilf/­ Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 288 AEUV Rn. 53.

§ 8  Kollisionsauflösungen

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lücke, die nach den allgemeinen Grundsätzen der Lückenfüllung bzw. Rechtsfortbildung zu schließen ist.110

B.  Kollisionsauflösungsregeln Grundsätzlich sind Normenkollisionen nach einem gestuften System aufzulösen, sodass die kollidierenden Normen zuerst auszulegen sind.111 Erst wenn die Normen auch nach einer Auslegung widersprüchlich bleiben, kann auf die allgemeinen Kollisionsregeln zurückgegriffen werden.112 Lässt eine Norm mehrere Deutungsvarianten zu, schreibt der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes vor, dass der völkerrechtskonformen Variante der Vorrang einzuräumen ist (völkerrechtskonforme Auslegung).113 Eine Auslegung ist jedoch deshalb problematisch, da entweder eine Vorranganordnung im nationalen Gesetz („ungeachtet des Wortlauts des Abkommens“) oder jedenfalls § 2 Abs. 1 AO eine klare Anordnung treffen.114 Wird ein DBA zeitlich nach einer nationalen Steuernorm erlassen, ist zwar nicht eindeutig, ob der Gesetzgeber seinen früher geäußerten Willen, auch bezüglich der später abgeschlossenen DBA, weiterhin aufrechterhalten möchte.115 In Betracht käme hierbei nur ein hypothetischer, nicht konkretisierter und in die Zukunft gerichteter Wille des Gesetzgebers, dass alle nachfolgenden DBA hinter das bereits bestehende nationale Recht zurücktreten sollen. Eine solche Annahme geht zu weit und ließe sich nur schwer rechtfertigen. Dies gilt jedenfalls für die später abgeschlossenen DBA.

110  Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 275 ff.; ders., Die Einheit der Rechtsordnung, S. 49 f., nach dem jedoch zu bedenken sei, dass Lückenergänzung unter Umständen verboten sei. Vgl. auch: Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 464; Rüthers/­Fischer/­Birk, Rechtstheorie, § 22 Rn. 771b. 111  Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 464; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 33; Rüthers/­Fischer/­Birk, Rechtstheorie, § 22 Rn. 775; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 271 ff., nach dem sich viele Normwidersprüche als nur scheinbare darstellten, nämlich dann, wenn bereits eine richtige Auslegung der prima facie einander widersprechenden Normen in ihrem Zusammenhalt ergebe, dass die eine Norm der anderen vorgehen solle. 112  Röhl/­Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 156. Zum Thema der Kollisionsauflösung siehe auch: Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (846). 113  Rust/­Reimer, Treaty Override im deutschen Internationalen Steuerrecht, IStR 2005, 843 (845 f.): Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes komme in der Präambel, in Art. 1 Abs. 2 mit dem Bekenntnis zu Frieden, Gerechtigkeit und Völkerverständigung, in Art. 23, 24, 25 und 26, außerdem in Art. 59 Abs. 2, 79 Abs. 1 S. 2 sowie in Art. 100 Abs. 2 GG zum Ausdruck. 114  Siehe dazu: Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (846). 115  Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (846).

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Dieses Ergebnis zeigt eindeutig, dass es von entscheidender Bedeutung ist, zu welchem Zeitpunkt sowohl das nationale Recht in Form des Treaty Overrides als auch das DBA zustande gekommen sind. Denn davon hängt es ab, welche der beiden Regelungen der anderen vorgeht. Ein entgegengesetztes Ergebnis ergibt sich für die Fälle, in denen das DBA bei Erlass des Treaty Overrides bereits bestand. Hier kommt der Wille des Gesetzgebers zum Vorrang des nationalen Rechts eindeutig zum Ausdruck. Eine Auslegung kommt in diesem Zusammenhang also nicht in Betracht. Am wichtigsten sind jedoch die allgemeinen Regeln zur Kollisionsauflösung von gleichrangigen Normen,116 deren Ziel die endgültige Feststellung ist, welcher von zwei Normen der Vorrang gegenüber der anderen zukommt.117 Obwohl heute nur noch selten auf die allgemeinen Kollisionsregeln zurückgegriffen werden muss, da moderne Gesetze meistens spezielle Kollisionsregeln enthalten, soll dennoch ein kurzer Blick auf sie geworfen werden, da sie bei der Kollisionsauflösung von DBA-Regelungen und nationalen Steuergesetzen gleichwohl wichtig sind.118 Zuerst werden die allgemeinen Kollisionsregeln119 dargestellt, vor allem lex superior derogat legi inferiori, lex specialis derogat legi generali, lex posterior derogat legi priori sowie lex generalis posterior non derogat legi speciali priori, bevor auf § 2 Abs. 1 AO als Regel zur Auflösung von Normenkollisionen120 eingegangen wird. I.  Allgemeine Kollisionsauflösungsregeln

Nach dem Grundsatz lex superior derogat legi inferiori geht die ranghöhere Norm der rangniederen vor. Die lex-superior-Regel verdrängt in ihrer Wirkung die Anwendung der nachfolgend dargestellten allgemeinen Kollisionsregeln und ist daher als erstes zu prüfen.121 Diese Regel hilft bei Kollisionen 116 

Vgl. auch: Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 47. Drüen, in: Tipke/­K ruse, AO/­FGO, § 4 AO Rn. 270: Schilling, Rang und Geltung von Normen, S. 397: Bei diesen Kollisionsauflösungsregeln gehe es darum, einen in sich widerspruchsfreien Sinnzusammenhang zwischen den einzelnen Rechtsnormen und Rechtsbegriffen zu ermitteln. 118  Röhl/­Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 585: Spezielle Kollisionsregeln fänden sich in Übergangsvorschriften und Einführungsgesetzen. 119  Drüen, in: Tipke/­ K ruse, AO/­FGO, § 4 AO Rn. 270; Gebhardt, Ubg 2012, 585 (588); Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.24; Larenz, Methodenlehre, S.  266 ff.; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 275 ff. 120  Gebhardt, Ubg 2012, 585 (588); Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.24; Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 21. 121  Rüthers/­Fischer/­Birk, Rechtstheorie, § 22 Rn. 773; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 32 f.: Selbst Normenwidersprüche, die sich innerhalb eines und desselben Gesetzes finden könnten, habe man in gewissen Fällen zu lösen versucht, indem man auf 117 

§ 8  Kollisionsauflösungen

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zwischen innerstaatlichem Recht und DBA jedoch zunächst nicht weiter, da die DBA-­Regelungen aufgrund der Transformation nationales Recht geworden sind und somit den gleichen Rang wie das rein innerstaatliche Recht haben. Etwas Anderes kann aber gelten, wenn es nicht mehr allein um das Verhältnis von Transformationsgesetz zu umgesetztem Richtlinienrecht geht, sondern wenn die Richtlinie selbst, entweder durch unmittelbare Geltung oder jedenfalls als Auslegungsmittel, herangezogen wird. Zu der erforderlichen Kollisionsauflösung bei gleichrangigen Normen trägt vor allem der Grundsatz lex specialis derogat legi generali bei. Danach verdrängt die speziellere die allgemeinere Norm, soweit dem Willen des Gesetzgebers nichts anderes zu entnehmen ist.122 Dem Vorrang der lex specialis liegt dabei die Annahme zugrunde, dass die speziellere Norm eine bestimmte Fallgestaltung exakt trifft, während eine allgemeine Norm diese Fallgestaltung lediglich unter vielen anderen auch erfasst.123 Die Frage, welche der kollidierenden Normen die speziellere ist, lässt sich erst aus der näheren Untersuchung des Inhalts der konkret betroffenen Normen beantworten, sodass diese Regel, anders als die Regeln vom Vorrang zeitlich jüngerer und rangmäßig höherer Gesetze, nicht schematisch angewendet werden kann.124 Eine Norm ist jedenfalls dann lex specialis gegenüber einer anderen, wenn der Tatbestand der spezielleren Norm alle Merkmale der allgemeinen Norm und darüber hinaus noch mindestens ein zusätzliches Merkmal enthält.125 Lässt sich die Spezialität der einen oder anderen Norm nicht zweifelsfrei ermitteln, ist auf eine weitere Kollisionsauflösungsregel, insbesondere die Regel des Vorrangs der lex poste­ rior, zurückzugreifen.126 das Rangverhältnis der Normen zurückgriff. Diese Rangfrage komme aber nur dann zum Zuge, wenn der Widerspruch nicht schon nach dem Grundsatz lex specialis derogat legi generali auszuräumen sei. 122  Schilling, Rang und Geltung von Normen, S. 456. 123  Schilling, Rang und Geltung von Normen, S. 447; zur Abgrenzung bei sich nur teilweise deckenden Tatbeständen siehe: Larenz, Methodenlehre, S. 268. 124  Rüthers/­Fischer/­Birk, Rechtstheorie, § 22 Rn. 771; vgl. auch: Röhl/­Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 585: Die Spezialität werde anhand der üblichen Maßstäbe der Auslegung (Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik des Gesetzes) geprüft, wobei es entscheidend auf den Vergleich der Normzwecke der konkurrierenden Vorschriften ankomme. 125  Larenz, Methodenlehre, S. 267; Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (845). 126  Schilling, Rang und Geltung von Normen, S. 457; Drüen, in: Tipke/­K ruse, AO/­ FGO, § 2 AO Rn. 5; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.24, nach dem derjenigen Auslegungsmöglichkeit der Vorzug zu geben sei, die die innerstaatliche Wirksamkeit der völkervertraglichen Regelung aufrechterhalte. Vgl. auch: Bundesverfassungsgericht v. 26.3.1957 – 2 BvG 1/­55, BVerfGE 6, 309 (362); v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/­04, BVerfGE 111, 307 (316 f.).

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Neben dem Grundsatz lex specialis derogat legi generali gehört insbesondere der Grundsatz lex posterior derogat legi priori zu den Kollisionsauflösungsregeln bei gleichrangigen Normen.127 Danach geht die zeitlich spätere Regelung der früheren vor, da anzunehmen ist, dass der Gesetzgeber mit dem Erlass einer neuen Norm eine entgegenstehende ältere Regel aufheben wollte.128 Dies gilt auch dann, wenn keine ausdrückliche Verdrängungsanordnung (z. B. Kenntlichmachung) in der späteren Regelung enthalten ist (sog. materielle Derogation).129 Regelt die spätere Norm einen bestimmten Bereich hingegen nicht im gleichen Umfang wie die ältere Norm, ist es möglich, dass letztere zum Teil neben der neueren Vorschrift fortbesteht.130 An erster Stelle steht die lex-superior-Regel, der die lex-specialis-Regel und zuletzt die lex-posterior-Regel nachfolgen. Die lex-posterior-Regel wird wiederum durch die Regel lex generalis posterior non derogat legi speciali priori eingeschränkt. II.  Die Geltung von § 2 Abs. 1 AO

Nachdem die allgemeinen Kollisionsauflösungsregeln und deren Wirkungen näher untersucht wurden, soll ein Blick auf § 2 Abs. 1 AO geworfen werden und insbesondere auf die Frage, in welcher Art und Weise diese Regelung auf die allgemeinen Kollisionsauflösungsregeln einwirkt. Nach § 2 Abs. 1 AO gehen Verträge mit anderen Staaten im Sinne des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG über die Besteuerung, soweit sie unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind, den Steuergesetzen vor. Zu den Verträgen mit anderen Staaten im Sinne

127  Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 33: Diese Konkurrenzregel gelte nicht im Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und einfachem Gesetz, weil die Verfassung als höherrangige Norm nicht durch einfaches Gesetz geändert werden könne. 128  Larenz, Methodenlehre, S. 266 f.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 32 f.; Rüthers/­Fischer/­Birk, Rechtstheorie, § 22 Rn. 772; Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 48; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 572, nach dem die Absicht genüge, dass jedenfalls die spätere Norm gelten solle; ihr Widerspruch zu einer älteren Norm brauche dem Gesetzgeber hingegen nicht bewusst zu sein. 129  Zu deren Zulässigkeit siehe: Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 32 f.; Rüthers/­ Fischer/­Birk, Rechtstheorie, § 22 Rn. 772; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 572; Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 48: Voraussetzung sei das Bewusstsein des Schöpfers des späteren Gesetzes, dass durch dasselbe das frühere Gesetz berührt werden könnte. 130  Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 32 f.

§ 8  Kollisionsauflösungen

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des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG zählen insbesondere DBA131, nicht aber steuerrechtliche Richtlinien132 oder etwa der EUV sowie der AEUV.133 § 2 Abs. 1 AO verschafft den Regelungen eines DBA Vorrang vor den innerstaatlichen Steuergesetzen („gehen […] den Steuergesetzen vor“), sofern diese in das innerstaatliche Recht transformiert worden sind.134 Die Bedingung der innerstaatlichen Transformation ist hierbei lediglich deklaratorisch, da DBA wegen des Transformationserfordernisses gemäß Art. 59 Abs. 2 GG ohnehin nicht unmittelbar auf deutsches Recht einwirken. 1.  Rechtscharakter des § 2 Abs. 1 AO

Bei näherer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass die Vorschrift des § 2 Abs. 1 AO nicht geeignet ist, einen allgemeinen und umfassenden Vorrang der DBA vor den nationalen Vorschriften zu begründen.135 Da § 2 Abs. 1 AO selbst nur Teil eines einfachen Gesetzes ist, kann seine Wirkung ebenfalls nicht über den Rang eines einfachen Gesetzes hinausgehen.136 Andernfalls wäre unter anderem auch das Entstehen von Treaty Overrides nicht möglich, was wiederum gegen die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts verstoßen würde. Daraus folgt zugleich, dass der in § 2 Abs. 1 AO enthaltene Vorrangbefehl nicht dahin verstanden werden kann, dass das Völkervertragsrecht ein stets gegenüber innerstaatlichen Steuergesetzen höherrangiges Recht ist.137 § 2 Abs. 1 AO kann also nicht verhindern, dass das nach Art. 59 Abs. 2 GG transformierte Vertragsrecht durch spätere innerstaatliche Gesetze abgeändert oder gar aufge-

131 

Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 3. Schwarz, in: Schwarz, AO, § 2 Rn. 5. 133  Drüen, in: Tipke/­K ruse, AO, § 2 Rn. 2a. 134 Vgl. Gersch, in: Klein, AO, § 2 Rn. 3; BFH v. 22.10.1986 – I R 261/­82, BStBl. II 1987, S. 171 Rn. 19. 135  Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 573; a. A. angesprochen bei Musil, Deutsches Treaty Overriding, S. 70; so auch bei: Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 17, der aber fälschlich auf Drüen (in: Tipke/­K ruse, AO, § 2 Rn. 2) verweist. Dieser Verweis als „aA“ ist inhaltlich in dieser Generalität nicht korrekt, da sich in der zitierten Fundstelle keine Aussage dazu findet, dass das Völkervertragsrecht ein stets gegenüber innerstaatlichen Steuergesetzen höherrangiges Recht ist. 136  BFH v. 13.7.1994 – I R 120/­93, BStBl. II 1995, 129; Schwarz, in: Schwarz, AO, § 2 Rn. 7; Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 3; Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 13; Gersch, in: Klein, AO, § 2 Rn. 1; Drüen, in: Tipke/­K ruse, AO, § 2 Rn. 2 mwN. 137  Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 4; ebenso: Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 17. 132 

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

hoben wird.138 Deshalb kann er nur im Sinne einer „völkervertragsrechtlichen Auslegungsregel“ rechtliche Bedeutung haben.139 Es gelten somit die allgemeinen Kollisionsregeln für Normen, welche durch § 2 Abs. 1 AO beeinflusst werden, indem dieser eine methodische Aussage zur Anwendung der Kollisionsregeln trifft.140 In Form einer Kollisionsauflösungsregel wirkt § 2 Abs. 1 AO somit auf die anderen allgemeinen Regeln ein.141 Im Grundsatz bedeutet dies, dass § 2 Abs. 1 AO nur dann eingreift, wenn das betreffende Ziel der Norm (Vorrang der DBA-Bestimmungen) mit den allgemeinen Regeln nicht erreicht würde. Wird also eine mit der betreffenden Steuernorm kollidierende DBA-Regelung zeitlich nach dieser Steuernorm erlassen, bedarf es keines Rückgriffs auf § 2 Abs. 1 AO, da hier bereits die Regel lex pos­ terior derogat legi priori greift. Für Fälle, in denen die allgemeinen Kollisionsregeln zu keinem Vorrang der DBA-Norm führen, ist der Rechtscharakter von § 2 Abs. 1 AO streitig. Die wohl h. M. sieht in § 2 Abs. 1 AO die Deklarierung eines Spezialitätscharakters von DBA-Normen.142 § 2 Abs. 1 AO stufe DBA als spezieller gegenüber den nationalen Vorschriften ein, sodass diese den nachfolgenden Regelungen vorgingen.143 Begründet wird diese Ansicht damit, dass DBA als sachliche Steuerbefreiungsbzw. -ermäßigungsnormen anzusehen seien.144 Als zusätzliches Tatbestandsmerkmal im Vergleich zu den innerstaatlichen Vorschriften enthielten DBA die Verengung des Grundtatbestandes auf grenzüberschreitende Sachverhalte im Verhältnis zu lediglich einem konkreten anderen Staat.145 So würden die Tatbestandsvoraussetzungen der Verteilungsnorm des DBA als zusätzliche Voraus138  Drüen, in: Tipke/­K ruse, AO/­FGO, § 2 AO Rn. 2; Kluge, Das deutsche Internationale Steuerrecht, S. 214. 139  Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 18 mwN; Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 5 Rn. 305. 140  So treffend: Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 5. 141  Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 5. 142  Schwarz, in: Schwarz, AO, § 2 Rn. 7; Seer, IStR 1997, 481 (484); Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.24; Drüen, in: Tipke/­K ruse, AO/­FGO, § 2 AO Rn. 2; Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 5 Rn. 305; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 200; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 5 Rn. 573; Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (845); lediglich darstellend: Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 18; a. A. Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO/­FGO, § 2 AO Rn. 196. 143  Drüen, in: Tipke/­K ruse, AO/­FGO, § 2 AO Rn. 2; Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 5 Rn. 305; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 200; Haase, Internationales und Europäisches Steuerrecht, § 5 Rn. 573; Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (845); a. A. Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO/­FGO, § 2 AO Rn. 196. 144  Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (845); Schönfeld/­Häck in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 24; Kluge, Das Internationale Steuerrecht, R 23. 145  Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (845).

§ 8  Kollisionsauflösungen

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setzungen der Steuerpflicht bei grenzüberschreitenden Sachverhalten neben die des innerstaatlichen Rechts treten.146 Aufgrund der Spezialität sei es auch unerheblich, wenn der Gesetzgeber eine dem Transformationsgesetz nachfolgende Regelung schaffe, mag sie auch noch so speziell im Vergleich zum Transformationsgesetz sein; die DBA-Regelungen gingen trotzdem vor.147 Lediglich wenn die Regelung eines DBA hinter den schon vorhandenen nationalen Regelungen zurückbleibe, finde die günstigere nationale Regelung Anwendung.148 Die Gegenansicht geht davon aus, dass DBA keine Sonderregelungen sind, die den tatbestandlichen Anwendungsbereich der Steuergesetze einengen, sondern es sich um ein eigenständiges Regelsystem handelt, das die materiellen Voraussetzungen der innerstaatlichen Steuertatbestände unangetastet lässt und nur die daraus entstandenen Steueransprüche unter den Vertragsstaaten aufteilt.149 Als eigenständige Verteilungsnormen seien DBA daher nicht leges specialis, sondern leges aliud.150 Die Vorschrift des § 2 Abs. 1 AO bewirke, dass die lex-posterior-Regel nicht anzuwenden sei, unabhängig davon, wie speziell die spätere Regelung sei.151 Sie greife als noch speziellere Vorschrift geltend in das Verhältnis mehrerer Gesetzesvorschriften ein.152 Für die Fallgruppe, dass das DBA dem Steuergesetz nachfolgt, decke sich die Rechtsfolge nach § 2 AO mit der lex-posterior-Regel: Alle bestehenden oder künftigen DBA gehen solchen Steuergesetzen vor, die zeitlich vor Inkrafttreten des DBA erlassen wurden.153 Dies gelte auch, wenn die Normenkollision zwischen der innerstaatlichen Vorschrift und dem DBA bereits beim Inkrafttreten des § 2 AO bestanden habe. Für die Fallgruppe, dass das 146 

Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 87. Gersch, in: Klein, AO, § 2 Rn. 3; Schwarz, in: Schwarz, AO, § 2 Rn. 7. 148  Drüen, in: Tipke/­K ruse, AO/­FGO, § 2 AO Rn. 2. 149  Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO/­FGO, § 2 AO Rn. 196 ff.; Vogel, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 70; ausführlich dazu: Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (845); Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 18; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.24; Drüen, in: Tipke/­K ruse, AO, § 2 Rn. 2. 150  Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO/­FGO, § 2 AO Rn. 195 ff.: Prinzipiell sei es allerdings nicht ausgeschlossen, dass völkerrechtliche Verträge auch auf den Steuertatbestand selbst einwirkten, so beispielsweise Art. X des NATO-Truppenstatuts; in diesen Fällen sei das transformierte Völkervertragsrecht lex specialis gegenüber dem Steuergesetz und gehe diesem vor. Vgl. auch: Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 2.4 ff.; Drüen, in: Tipke/­Lang, Steuerrecht, § 2 Rn. 40; Wassermeyer, DStJG 19 (1996), 154 f.; Seer, IStR 1997, 481 (484); Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 18 mwN; BFH v. 8.6.1972 – IV R 129/­66, BStBl. II 1972, S. 784 (789). 151  Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 19 mwN; Gersch, in: Klein, AO, § 2 Rn. 3; Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 205. 152  Schwarz, in: Schwarz, AO, § 2 Rn. 7. 153  Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 194 ff. 147 

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Steuergesetz dem DBA nachfolge, sei danach zu unterscheiden, ob die Normenkollision bereits bei Inkrafttreten der AO bestanden habe.154 Soll die spätere Regelung dem DBA dennoch vorgehen, sei eine ausdrückliche Kenntlichmachung im Gesetz erforderlich, um die allgemeine Kollisionsregel in § 2 AO außer Kraft zu setzen.155 Fehle eine solche Regelung, die den lex-posterior-Satz wiederherstelle, gehe das DBA dem konkurrierenden Steuergesetz vor.156 Lässt sich ein Spezialitätsverhältnis nicht feststellen, gingen aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes die DBA gegenüber dem späteren innerstaatlichen Gesetz im Zweifel vor, es sei denn, das später erlassene Gesetz bestimme ausdrücklich etwas Anderes.157 Mit Rücksicht auf § 2 Abs. 1 AO sei nur dann von einem Treaty Override auszugehen, wenn der Gesetzgeber klar und zweifelsfrei deutlich mache, dass das Gesetz entgegenstehenden DBA vorgehen solle, andernfalls gingen die DBA vor.158 Dagegen verhindere § 2 Abs. 1 AO keinen bewussten Treaty Override, vielmehr werde mittels dieses Treaty Overrides neben der überrollten Vertragsbestimmung zugleich § 2 Abs. 1 AO verdrängt.159 Eine weitere Ansicht meint, dass § 2 AO die lex-posterior-Regel sowie die lex-specialis-Regel nicht außer Kraft setze.160 § 2 AO gelte für Richtlinien entsprechend, jedoch nur in den Fällen, in denen die Richtlinie durch Übernahmegesetz unmittelbar geltendes innerstaatliches Recht wird.161 Diese seltenen Fälle seien bei der Fassung des § 2 AO anscheinend übersehen worden.162

154  Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 194 ff.: Eine Normenkollision zwischen Steuergesetz und DBA, die bei Inkrafttreten der AO bereits bestanden habe, sei auch dann zugunsten des DBA zu lösen, wenn dieses zeitlich vor dem Steuergesetz ergangen sei. Bei der Fallgruppe der Normenkollisionen, die nach Inkrafttreten der AO entstehen, liege jedoch ein Konflikt zwischen der Rechtsfolge des § 2 AO und der lex poste­ rior-Regel vor. 155  Gersch, in: Klein, AO, § 2 Rn. 3; Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn.  194 ff.; Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (846). 156  Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 194 ff. 157  Drüen, in: Tipke/­ K ruse, AO/­FGO, § 2 AO Rn. 2; Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 19; Schwarz, in: Schwarz, AO, § 2 Rn. 7. 158  Drüen, in: Tipke/­K ruse, AO/­FGO, § 2 AO Rn. 2. 159  Drüen, in: Tipke/­K ruse, AO/­FGO, § 2 AO Rn. 2. 160  Drüen, in: Tipke/­K ruse, AO/­FGO, § 2 AO Rn. 2. 161  Schwarz, in: Schwarz, AO, § 2 Rn. 8: Da sie den Vertragsfällen hinsichtlich der entscheidenden Punkte und der Interessenlage voll glichen, ohne selbst Vertragsfälle zu sein, sei eine entsprechende Anwendung zur Lückenfüllung angebracht. 162  Schwarz, in: Schwarz, AO, § 2 Rn. 8.

§ 8  Kollisionsauflösungen

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2.  Stellungnahme

Für die Beantwortung der Frage, welche methodische Aussage bezüglich § 2 Abs. 1 AO zutrifft, dürfte zunächst unstreitig sein, dass der Grundsatz lex posterior derogat legi priori für den Fall der nachfolgenden Steuergesetze durchbrochen wird.163 Denn die Begründung im Ausschussbericht sagt Folgendes: „Der neu eingefügte § 2 stellt klar, daß völkerrechtliche Vereinbarungen, soweit sie innerstaatliches Recht geworden sind, Vorrang vor den innerstaatlichen Steuergesetzen haben und deshalb allein durch spätere innerstaatliche Gesetze nicht abgeändert werden können.“164

Es geht also nur noch darum, ob § 2 Abs. 1 AO ein Spezialitätsverhältnis begründet oder nicht. Dass § 2 Abs. 1 AO entgegen der Begründung im Ausschussbericht nicht klarstellt, dass transformierte DBA den allgemeinen Steuergesetzen vorgehen, bedarf keiner weiteren Erörterung.165 Nach der h. M. würde eine spätere innerstaatliche Vorschrift keinen Vorrang haben, da lex generalis posterior non derogat legi speciali priori. Hier überzeugt insbesondere die Ansicht nicht, dass DBA als vorrangig bilaterale Verträge auf die allgemeinen Steuergesetze in eben dem konkreten Vertragsverhältnis zwischen den Vertragsstaaten einwirken, denn völkerrechtliche Verträge können auch multilateral abgeschlossen werden, was rechtstechnisch zumindest die abstrakte Möglichkeit eröffnet, eine flächendeckende Abänderung des nationalen Steuergesetzes zu bewirken. Auch bedürfte es dann der ausdrücklichen Anordnung durch § 2 Abs. 1 AO nicht. Hierzu wird vertreten, dass § 2 Abs. 1 AO den Spezialitätsgrundsatz nur deklaratorisch zum Ausdruck bringe.166 Wenn dem so wäre, eröffnete sich entgegen der klaren Anordnung von § 2 Abs. 1 AO eine Prüfungsmöglichkeit, ob die jeweils zu betrachtende Steuernorm nicht noch spezieller sein kann. Dann würde der Spezialitätscharakter der DBA nur durch eine ausdrückliche Kenntlichmachung im Gesetz durchbrochen werden, was aber bedeuten würde, dass der Gesetzgeber den Spezialitätsgrundsatz durchbrechen will, obwohl er mitunter eine Norm schafft, die isoliert betrachtet als gegenüber dem DBA genereller einzustufen ist. Hier gelangt die von der h. M. vertretene Auffassung an ihre Grenzen. Nach ihr hätte die Kenntlichmachung in dem nationalen Steuergesetz 163  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.24; Seer, IStR 1997, 481 (484 f.). Für nachfolgende DBA gelte der Grundsatz lex posterior derogat legi priori jedoch fort: Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 194 ff. 164  BT-Drs. 7/­4292, S. 15. 165  Erörtert bei: Schwarz, in: Schwarz, AO, § 2 Rn. 6; Musil, Deutsches Treaty Overriding, S. 44; ders., in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 3. 166  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.24.

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

entweder die Wirkung einer noch spezielleren Anordnung oder einer ausdrücklichen Durchbrechung des Spezialitätscharakters der DBA-Normen. Hier ist der Auffassung der Vorzug zu geben, die die DBA als lex aliud einstuft. Nicht nur, dass es richtig ist, dass DBA nur eine kollisionsauflösende Funktion haben, also gerade nicht Inhalt und Reichweite der innerstaatlichen Steueransprüche modifizieren, auch die Anordnung des § 2 Abs. 1 AO gewinnt überhaupt erst an Form: § 2 Abs. 1 AO wirkt konstitutiv167 und schafft erst einen Vorrang für DBA-Normen, der sonst nicht gegeben wäre, unabhängig davon, ob es sich bei der betreffenden Steuernorm um ein späteres oder spezielleres Gesetz handelt. In diesem Fall bedarf es auch keiner Erörterung, ob ein anderes Gesetz noch spezieller als eine DBA-Norm sein kann, insbesondere in den Fällen, in denen sich nicht zweifelsfrei bestimmen lässt, ob das betroffene DBA tatsächlich lex specialis ist. An dieser Stelle wird auch das Erfordernis der Kenntlichmachung zur Durchbrechung der Anordnung in § 2 Abs. 1 AO deutlich. Denn sofern DBA-Normen nach der Gesetzesbegründung „allein durch spätere innerstaatliche Gesetze nicht abgeändert werden können“, betrifft dies sowohl den Spezialitätsgrundsatz als auch den Grundsatz lex posterior derogat legi priori. Hierdurch wird klar, dass es mehr bedarf, um ein Treaty Override zu bewirken, als nur der bloße Erlass eines nachfolgenden Gesetzes. § 2 Abs. 1 AO kann damit auch als eine Art Formvorschrift für solche Gesetze verstanden werden, die die DBA-Normen durchbrechen sollen: Eine spätere Derogation der DBA-Norm ist nur möglich, wenn der Vorrang in irgendeiner Art und Weise kenntlich gemacht wird. Im Ergebnis gehen DBA dem innerstaatlichen Steuerrecht somit vor, allerdings nur insoweit, wie die jeweilige DBA-Bestimmungen die innerstaatliche Besteuerung begrenzt, da sie nur als sachliche Steuerbefreiung wirkt.168

C.  Durchbrechung des DBA-Vorrangs mittels Treaty Override I.  Überblick und Meinungsstand

Damit ist noch nicht geklärt, in welchen Fällen die DBA tatsächlich vorgehen. Da sie weder lex superior noch lex specialis sind, bleibt nur die Regel lex posterior derogat legi priori, welche jedoch durch § 2 Abs. 1 AO verdrängt wird169. In diesem Zusammenhang stellt sich somit die Frage, ob die dargestell167 Ebenso:

Musil, Deutsches Treaty Overriding, S. 71. Kollruss, IStR 2016, 419 (420): Nationale Steuerbefreiungen (§ 8b KStG, § 9 Nr. 3 GewStG) könnten und würden durch ein DBA schon gar nicht aufgehoben. 169  Zu dem Konflikt ebenfalls: Gebhardt, Ubg 2012, 585 (588). 168 

§ 8  Kollisionsauflösungen

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ten Grundsätze auch bei innerstaatlichen Vorschriften gelten, welche einen Vorrang vor den DBA-Regelungen ausdrücklich vorsehen. Durch Art. 25 GG und § 2 Abs. 1 AO wird die allgemeine Vermutung verstärkt, dass der Gesetzgeber von völkerrechtlichen Pflichten nicht abweichen will.170 Diese Vermutung wird aber für die Fälle in Frage gestellt, bei denen der innerstaatliche Gesetzgeber den Vertragsbruch anordnen will.171 Dies ist der Fall, soweit ein gesetzgeberischer Wille zur Abkommensverdrängung vorliegt.172 Ein solcher Wille ist in den innerstaatlichen Normen regelmäßig durch die Formulierung „ungeachtet des Abkommens“ ausdrücklich kenntlich gemacht. Liegt eine solche Kenntlichmachung des Vorrangs des nationalen Gesetzes vor, handelt es sich um offene Treaty Overrides, welche einen formalen Derogationswillen des Gesetzgebers erkennen lassen.173 Dieser ausdrücklich angeordnete Vorrang führt dazu, dass das innerstaatliche Recht den DBA-Bestimmungen vorgeht. Im Rahmen der Bestimmung des Rangverhältnisses völkerrechtlicher Verträge ist die Unterscheidung zwischen einem sog. verdeckten und einem offenen Treaty Override entscheidend.174 Im Gegensatz zum offenen Treaty Override zeigt der Wortlaut der Norm bei einem verdeckten Treaty Override die Absicht zur Abkommensverletzung nicht an, es fehlt also eine Inbezugnahme auf das Abkommensrecht und die Norm kommt lediglich in ihren Auswirkungen einer Abkommensverletzung gleich.175 Von einem konkludenten Treaty Override des Gesetzgebers kann daher nur in Ausnahmefällen ausgegangen werden.176 Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 15.12.2015 entschieden, dass die Überschreibung eines DBA durch innerstaatliches Recht verfassungsrechtlich zulässig ist.177 Das Bundesverfassungsgericht hat zudem ent170  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 147; Drüen, in: Tipke/­ Kruse, AO/­FGO, § 2 AO Rn. 2, 38. 171  Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (844); Drüen, in: Tipke/­ K ruse, AO/­FGO, § 2 AO Rn. 2, 38. 172  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.25. 173  Gebhardt, Deutsches Tax Treaty Overriding, S. 11. 174  Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 13; Schaum­ burg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.25. 175  Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 13: Ein offenes treaty override finde sich beispielsweise in § 50d Abs. 1, 8, 9 EStG aufgrund der Formulierungen „ungeachtet des Abkommens“ sowie in § 20 Abs. 1 AStG aufgrund der Formulierung „Die Vorschriften […] werden durch die Abkommen […] nicht berührt.“ 176  Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 194 ff. 177  Bundesverfassungsgericht v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/­12, BVerfGE 141, 1. In diesem Beschluss ging es um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des § 50d Abs. 8 EStG. Vgl. auch: Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung MA Rn. 66: Die Frage der Zulässigkeit des treaty override betreffe allein die Auslegung nationalen Rechts, nicht aber des Unionsrechts, sodass das Bundesverfassungsgericht und nicht der EuGH zuständig sei.

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

schieden, dass der lex-posterior-Grundsatz auch bei DBA-Regelungen gelte, es sei denn, die ältere Regelung sei spezieller als die jüngere oder die Geltung des lex-posterior-Grundsatzes werde abbedungen.178 Ein solches Abbedingen des lex-posterior-Grundsatzes findet durch § 2 Abs. 1 AO statt,179 unabhängig davon, ob das innerstaatliche Recht vor oder nach dem DBA geschaffen worden ist. Bei einem offenen Treaty Override hingegen komme nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts hinzu, dass der Gesetzgeber seinen Willen zur Abkommensüberschreibung eindeutig zum Ausdruck bringe, sodass „weder mit Blick auf den Rang noch auf die Zeitfolge noch auf die Spezialität der Regelung Zweifel am Vorrang des § 50d Abs. 8 S. 1 EStG vor inhaltlich abweichenden völkerrechtlichen Vereinbarungen in DBA bestehen“.180 Das bedeutet, dass weder der lex-posterior-Grundsatz noch § 2 Abs. 1 AO bei offenen Treaty Overrides gilt, sodass die innerstaatliche Regelung ungeachtet der abkommensrechtlichen Vorschrift vorgeht; das innerstaatliche Recht wird somit gegenüber dem DBA zum vorrangigen Recht.181 Bei einem verdeckten Treaty Override bleibt es hingegen bei der Geltung des lex-posteri­ or-Grundsatzes.182 Aus Sicht des WÜRV ist ein Treaty Override hingegen nicht zulässig, da es völkerrechtliche Grundsätze verletzt. So schreibt das Völkerrecht den Grundsatz pacta sunt servanda in Art. 26 WÜRV ausdrücklich vor: „Ist ein Vertrag in Kraft, so bindet er die Vertragsparteien und ist von ihnen nach Treu und Glauben zu erfüllen.“ Darüber hinaus trifft das Völkerrecht in Art. 27 WÜRV auch eine Aussage zum Verhältnis von innerstaatlichem Recht und der Einhaltung von Verträgen. Gemäß Art. 27 S. 1 WÜRV kann sich eine Vertragspartei nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen. Liegt eine Vertragsverletzung vor, ist die andere Vertragspartei berechtigt, den Vertrag zu beenden oder diesen ganz oder teilweise zu suspendieren (Art. 60 WÜRV). Der Verstoß gegen Völkerrecht hat hingegen keine in178  Bundesverfassungsgericht v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/­ 12, BVerfGE 141, 1 Rn. 49 f.; Lehner, IStR 2016, 217; Frotscher, IStR 2016, 561; Hummel, IStR 2016, 335. 179 Siehe dazu § 8 B. II.; a. A.: Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.24; Drüen, in: Tipke/­K ruse, AO, § 2 Rn. 6b; Frotscher, IStR 2016, 561 (562). 180  Bundesverfassungsgericht v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/­12, BVerfGE 141, 1 Rn. 88. 181  Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 17: Der Bundesfinanzhof (BFH v. 25.5.2016 – I R 64/­13, BStBl. II 2017, S. 1185 Rn. 19) habe sich mittlerweile unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Rn. 88 der Treaty-Override-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dieser Rechtsauffassung für den Fall eines nach Inkrafttreten der Regelung des § 50d Abs. 8 EStG ergangenen DBA angeschlossen; Schaum­ burg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.24; Frotscher, IStR 2016, 561 (565 ff.). 182 Bundesverfassungsgericht v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/­ 12, BVerfGE 141, 1 Rn. 50; Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 18.

§ 8  Kollisionsauflösungen

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nerstaatliche Wirkung, sodass er keine Ansprüche des Steuerpflichtigen gegen den Staat hervorbringt und auch nicht die Rechtswidrigkeit des gegen den Steuerpflichtigen gerichteten Steuerbescheids bewirkt.183 Ein Treaty Override ist in denjenigen Staaten ausgeschlossen, in denen völkerrechtliche Verträge selbst vor späteren spezielleren nationalen Steuergesetzen Vorrang haben.184 Zudem kann ein Treaty Override in den Staaten nicht entstehen, in denen ein monistisches System besteht, da dieses System dem Völkerrecht im Kollisionsfall typischerweise einen Vorrang vor dem nationalen Recht einräumt. Fraglich ist, ob eine ausdrückliche Kenntlichmachung zur Überschreibung des DBA stets erforderlich ist. An dieser Stelle ließen sich drei Meinungen vertreten (II. 1.): Ein Vorrang wird nur bei ausdrücklicher Kenntlichmachung im Gesetzestext selbst gewährt,185 (II. 2.) ein Vorrang wird auch dann gewährt, wenn der Wille des Gesetzgebers zum Treaty Override ausdrücklich in der Gesetzesbegründung zu finden ist und (II. 3.) ein Vorrang wird auch dann noch gewährt, wenn sich aus den sonstigen Umständen ein entsprechender Wille des Gesetzgebers erkennen lässt186. II.  Stellungnahme 1.  Ausdrückliche Kenntlichmachung im Gesetzestext?

Für eine „formalrechtlich erforderliche Kenntlichmachung des Vorrangs“ im Gesetz187 findet sich in den einzelnen Gesetzen regelmäßig die Formulierung

183 

Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 20. Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 19.39: So in Frankreich, den Niederlanden sowie Japan. 185  Frotscher, Internationales Steuerrecht, § 5 Rn. 307; Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 41; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.24; Koenig, in: Koenig, AO, § 2 Rn. 20; Drüen, in: Tipke/­K ruse, AO/­FGO, § 2 AO Rn. 2; Seer, IStR 1997, 481 (485); so auch noch: Musil, Deutsches Treaty Overriding, S. 71. 186  Musil, in: Hübschmann/­ Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 194 ff., der entgegen seiner Vorarbeit (Fußnote 185) ein konkludentes Treaty Overriding nur in Ausnahmefällen zulassen will; Lehner, IStR 2012, 389 (390 f.); ders., in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 194, nach dem die Formulierung „ungeachtet des Abkommens“ zwar als gewichtiges Indiz für das Vorliegen eines Treaty Overrides gewertet werden könne, Voraussetzung für die Annahme eines Treaty Override sei eine solche Formulierung aber nicht; Pflugfel­ der, FR 1983, 319 (320). 187  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 147. 184 

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

„ungeachtet des Abkommens“.188 Teilweise werden im Gesetz auch die Formulierungen „ungeachtet des Wortlauts des Abkommens“189, „ungeachtet der Bestimmungen eines Abkommens“190, „ungeachtet der Vorschriften eines Abkommens“191, „ungeachtet entgegenstehender Bestimmungen des Abkommens“192 , „ungeachtet eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in einem dieser Staaten nach einem Abkommen“193 oder „Die Vorschriften […] werden durch die Abkommen […] nicht berührt“194 verwendet. Im Sinne einer Vereinheitlichung wäre es ratsam, wenn sich der Gesetzgeber zukünftig für eine einheitliche Formulierung entscheidet und diese dann konsequent anwendet. Die h. M. in der Literatur195 verlangt, dass das dem Transformationsgesetz nachfolgende Gesetz eine ausdrückliche Kenntlichmachung enthalten muss, die festlegt, dass das nachfolgende Gesetz im Wege des Treaty Overrides vorgeht. Für eine ausdrückliche Kenntlichmachung im Gesetz spricht zum einen ein dogmatisches Argument. Da § 2 Abs. 1 AO den Vorrang von DBA-Bestimmungen ausdrücklich vorschreibt, könnte erwogen werden, dass nachfolgende Vorrangbestimmungen selbst ausdrücklich kenntlich zu machen sind, die Kenntlichmachung also im Gesetzestext selbst zu erfolgen hat. Zweitens werden so Zweifel über den Derogationswillen des Gesetzgebers abschließend und eindeutig ausgeräumt, ohne dass es Schwierigkeiten bei der Anwendung geben würde.196 Allerdings scheint das erste Argument nur auf den ersten Blick logisch zu sein. Denn der Sinn und Zweck von § 2 Abs. 1 AO, das Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung durchzusetzen, orientiert sich nur an dem Willen des Gesetzgebers. Dieser kann jedoch jederzeit entscheiden, inwiefern er der Völkerrechtsfreundlichkeit zur Geltung verhelfen oder im Wege eines Treaty Overrides ganz bestimmte Regelungen eines DBA außer Kraft setzen will. Zur Durchsetzung dieses Willens ist jedoch nicht zwingend erforderlich, dass der Gesetzgeber in jede Norm eine ausdrückliche Kenntlichmachung aufnimmt. Trotz der ausdrücklichen Anordnung von § 2 Abs. 1 AO bleibt diese Norm nur 188  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 147; Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 200. Solche Formulierungen finden sich beispielsweise in §§ 4j Abs. 1 S. 1 und 2, 48d Abs. 1 S. 1, 50d Abs. 1 S. 1, Abs. 8 S. 1, Abs. 9 S. 1, Abs. 10 S. 3, Abs. 11 S. 1 EStG. 189  Beispielsweise in § 8b Abs. 1 S. 3 KStG. 190  Beispielsweise in §§ 15 Abs. 1a S. 1, 17 Abs. 5 S. 3, 20 Abs. 4a S. 1 EStG. 191  Beispielsweise in § 50d Abs. 10 S. 3 EStG. 192  Beispielsweise in § 50i Abs. 1 S. 1, 3 EStG. 193  Beispielsweise in § 95 Abs. 1 Nr. 1 EStG. 194  Beispielsweise in § 20 Abs. 1 AStG. 195  Nachweise in Fußnote 185. 196  So noch: Musil, Deutsches Treaty Overriding, S. 71.

§ 8  Kollisionsauflösungen

373

eine Auslegungsregel und trifft keine Anordnung mit bindendem Charakter. Damit muss ein entgegenstehender Wille des Gesetzgebers nicht zwingend Ausdruck im Gesetzestext finden. Es reicht bereits, dass dieser Wille anderweitig zu erkennen ist, beispielsweise aus der Systematik der Norm oder aus der Regierungsbegründung. § 2 Abs. 1 AO greift also nur in Zweifelsfällen, in denen der Wille des Gesetzgebers nicht eindeutig bestimmt werden kann. Diese Betrachtung spiegelt sich auch in der Regierungsbegründung zu § 2 Abs. 1 AO wider. Da es dort heißt, dass die DBA-Regelungen „allein durch spätere innerstaatliche Gesetze nicht abgeändert werden können“197, bezieht sich diese Aussage lediglich auf die zeitliche Komponente und stellt klar, dass ohne einen besonderen Grund das spätere Gesetz keinen Vorrang vor der DBA-Regelung hat. Hieraus lässt sich jedoch entnehmen, dass der Gesetzgeber den DBA-Regelungen keinen unveränderbaren Vorrang einräumen will. Vielmehr ist durch Auslegung der betroffenen Vorschriften zu ermitteln, ob eine Norm auch ohne ausdrückliche Kenntlichmachung des Vorrangs den DBA-Regelungen vorgehen oder sie aufheben soll, letzteres etwa dann, wenn eine jüngere Norm als abschließende Regelung einer bestimmten Materie zu interpretieren ist.198 Diese Aufhebung kann ersatzlos oder in Verbindung mit der Setzung einer neuen Norm für die betroffenen Sachverhalte geschehen.199 Regelt die spätere Norm einen bestimmten Bereich hingegen nicht im gleichen Umfang wie die ältere Norm, ist es logisch möglich, dass letztere zum Teil neben der neueren Vorschrift fortbesteht.200 Dies ist für den konkreten Einzelfall zu bestimmen und bemisst sich nach der Absicht, welche dem jüngeren Gesetz zu entnehmen ist.201 Eben diese allgemeinen Lehren lassen sich auch auf § 2 Abs. 1 AO übertragen. Die daraus entstehende Diskrepanz zwischen dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 AO und dem Sinn und Zweck der Norm lässt sich nur dadurch vermeiden, dass ihr Tatbestand teleologisch reduziert, also eingeschränkt wird, indem diesem weitere Tatbestandsmerkmale hinzugefügt werden.202 Vor dem Tatbestandmerkmal „den Steuergesetzen“ könnte beispielsweise das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal „im Zweifel“ hinzugefügt werden. Alternativ dazu könnte auch nach „den Steuergesetzen vor“ das Merkmal „sofern sich ein abweichender Wille nicht erkennen lässt“ hinzugefügt werden. Das zweite Argument ist zwar praxisgerecht, allerdings nicht zwingend durchzusetzen, da Zweifel an dem Vorrang auch anderweitig ausgeräumt wer197 

BT-Drs. 7/­4292, S. 15; Unterstreichung durch mich hinzugefügt. Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 33. 199  Siehe auch: Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 572. 200  Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 32 f. 201  Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 32 f. 202  Dazu im Allgemeinen: Larenz, Methodenlehre, S. 391. 198 Grundlegend:

374

Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

den können 203. Zudem werden fehlende, fehlerhaft formulierte oder in höchstem Maße auslegungsbedürftige Klauseln zur Kenntlichmachung nicht dazu führen, dass das nachfolgende Gesetz nachrangig gilt. Dies ist insbesondere bei Gesetzen virulent, die eine Richtlinie umsetzen. Weiterhin ist anzumerken, dass eine Forderung nach der ausdrücklichen Kenntlichmachung den Anwendungsbereich von § 2 Abs. 1 AO vollständig verdrängen würde204, da diese die allgemeinen Kollisionsregeln unanwendbar macht, sodass § 2 Abs. 1 AO seine Berechtigung verliert. Wenn aber § 2 Abs. 1 AO die Kenntlichmachung im Gesetz selbst fordern soll, würde sein Charakter als Regulierungsnorm für die allgemeinen Kollisionsregeln verfehlt. § 2 Abs. 1 AO würde also etwas anordnen, das über seinen Regelungscharakter hinausgeht. Hierdurch entsteht ein unauflösbarer Zirkelschluss. Zuletzt lässt sich mit Blick auf den umgekehrten Fall keine andere Auslegung von § 2 Abs. 1 AO vertreten: Bestand bereits eine Vorschrift, in der der Vorrang des nationalen Rechts ausdrücklich kenntlich gemacht war und wird erst danach ein gegen diese Norm kollidierendes DBA abgeschlossen bzw. umgesetzt,205 lässt sich ein Vorrang des nationalen Gesetzes nicht ohne weiteres begründen. In diesen Fällen sei nämlich nicht eindeutig, ob der Gesetzgeber seinen früher geäußerten Willen, durch die ausdrückliche Anordnung dem nationalen Gesetz Vorrang gegenüber dem DBA einzuräumen, auch bezüglich der später abgeschlossenen DBA weiterhin aufrechterhalten möchte.206 Denn zum Zeitpunkt des Erlasses der betroffenen nationalen Rechtsnormen war unter Umständen überhaupt noch nicht absehbar, dass zu einem späteren Zeitpunkt ein kollidierendes DBA abgeschlossen werden wird. Wenn aber diese Ungewissheit beim Erlass einer nationalen Vorschrift gelten soll, muss dies auch bei einer Transformation eines DBA gelten. Denn zum einen hat die gesetzliche Kenntlichmachung denselben Rang wie § 2 Abs. 1 AO, und geht sogar noch weiter, da sie § 2 Abs. 1 AO unanwendbar macht. Zum anderen kann der Gesetzgeber auch hier nicht wissen, ob er mit einem späteren nationalen Steuergesetz die DBA-Regelungen überholen will. Eine Kenntlichmachung im Gesetz ist also nicht zwingend erforderlich.

203  A. A.: Musil, Deutsches Treaty Overriding, S. 71; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, S. 177. 204  BFH v. 1.2.1989 – I R 74/­86, BStBl. II 1990, S. 4; Gersch, in: Klein, AO, § 2 Rn. 3. 205  Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (846). 206  Rust/­Reimer, IStR 2005, 843 (846).

§ 8  Kollisionsauflösungen

375

2.  Kenntlichmachung in der Gesetzesbegründung?

Für die Kenntlichmachung in der Gesetzesbegründung spricht einerseits, dass hier der Wille des Gesetzgebers ebenfalls in einer solchen Klarheit erkennbar werden kann, dass eine Wiederholung im Gesetzestext bloße Förmelei wäre. Andererseits könnte die Begründung selbst undeutlich oder interpretationsbedürftig sein. Hier würde das Abstellen auf den Zwang, die Kenntlichmachung in der Begründung zu verankern, dazu führen, dass das Gesetz trotz anderweitig, eindeutig erkennbarem Willen des Gesetzgebers allein durch eine missglückte Gesetzesbegründung dem DBA im Range nachgeht. Allein auf die Gesetzesbegründung abzustellen ist damit auch nicht der richtige Weg. 3.  Wille des Gesetzgebers aus den Umständen des Einzelfalls

Richtigerweise ist davon auszugehen, dass die Gerichte völkerrechtliche Verträge „im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden“ haben, sodass an die Annahme eines Derogationswillens des Gesetzgebers strenge Anforderungen zu stellen sind.207 Zu fragen ist, wo die genaue Grenze zwischen „zweifelsfrei“ und „zweifelhaft“ verlaufen soll. Dennoch kann diese Auslegung nicht schlichtweg mit Erwägungen der Praxis außer Acht gelassen werden. Denn dogmatisch lässt sich diese Auslegung – wie bereits dargestellt – sehr wohl rechtfertigen. Um die Zweifel im Hinblick auf den Willen des Gesetzgebers auszuräumen, können Fallgruppen etabliert werden, welche auch bei Auslassen der Kenntlichmachung im Gesetz einen Vorrang des nachfolgenden Gesetzes vor den DBA-Regelungen begründen. Ein abschließender Katalog lässt sich hier freilich nicht festlegen, jedoch sollen zwei mögliche Fallgruppen dargestellt werden. Der Sinn und Zweck von § 2 Abs. 1 AO kann bereits dann nicht mehr greifen, wenn die Parteien von DBA gleichermaßen Regelungen erlassen, die dieselbe DBA-Regelung auf beiden Seiten aushebeln soll. Hier ist klar, dass sich beide Parteien an die betreffende Regelung nicht mehr gebunden fühlen und daher kein Bedürfnis nach einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung besteht. So ist es beispielsweise dann, wenn zwei Mitgliedstaaten durch die Umsetzungspflicht einer Richtlinie dazu gezwungen sind, eine DBA-Regelung zu übergehen. Zwar werden auch Gesetze von § 2 Abs. 1 AO erfasst, welche eine Richtlinie umsetzen,208 jedoch können nicht ernsthaft Zweifel daran bestehen, dass der Gesetzgeber eine mit dem Umsetzungsgesetz kollidierende DBA-Regelung außer Kraft setzen will. Denn vergisst der Gesetzgeber die Kenntlichmachung oder ist diese in ihrer Deutlichkeit selbst zweifelhaft, würde die betreffende DBA-­ 207  208 

Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 194 ff. Gersch, in: Klein, AO, § 2 Rn. 4.

376

Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Regelung wegen § 2 Abs. 1 AO vorrangig angewendet. Die Richtlinie hätte in diesem Fall Anwendungsvorrang, sodass die betreffende DBA-Regelung ohnehin zurücktreten würde. Dieser „Umweg“ über die Prinzipien des Unionsrechts kann nicht deshalb in Kauf genommen werden, weil der Wille des Gesetzgebers – obschon zweifelsfrei feststehend – nicht ausdrücklich kenntlich gemacht ist. Anders kann es freilich dann aussehen, wenn nur das Umsetzungsgesetz gegen eine DBA-Regelung verstößt, nicht jedoch die Richtlinie selbst, wenn also der nationale Gesetzgeber den von der Richtlinie gesetzten Rahmen ausnutzt und sich das Treaty Override gerade innerhalb dieses Rahmens abspielt. In diesem Falle muss der Derogationswille durch weitere Umstände bestätigt werden. Als zweite Fallgruppe greift der Sinn und Zweck von § 2 Abs. 1 AO ebenfalls dann nicht, wenn ein nachfolgendes Gesetz erkennbar spezieller ist, es also aus der Steuerverteilung eines DBA einen konkreten Fall herausnimmt. Gemeint sind Fälle, in denen bereits der Wortlaut einer nationalen Steuernorm unverkennbar konträr zum Wortlaut einer DBA-Regelung steht. Dass es hier keiner ausdrücklichen Erklärung des Gesetzgebers hinsichtlich eines Treaty Overrides mehr bedarf, liegt auf der Hand. In anderen Fällen muss auf den jeweiligen Einzelfall geschaut werden. Dies ist insbesondere wichtig, wenn man davon ausgehen muss, dass der Gesetzgeber ein der DBA-Regelung widersprechendes Gesetz schafft, die geschaffene Kollision aber selbst nicht erkannt hat. Hier können die Grenzen eines absichtlich verdeckten Treaty Overrides und eines, das unabsichtlich entstanden ist, verschwimmen.

D.  Ergebnis Die Rangfolge von DBA-Regelungen lässt sich gemessen an § 2 Abs. 1 AO somit wie folgt skizzieren. DBA gehen den allgemeinen innerstaatlichen Gesetzen vor, auch wenn diese zeitlich nach der DBA-Regelung in Kraft treten. Innerstaatliche Gesetze gehen den DBA-Regelungen nur dann vor, wenn sie entweder eine Richtlinie umsetzen und/­oder durch einen entsprechenden Derogationswillen des Gesetzgebers ein Treaty Override darstellen. Dieser Wille muss jedoch nicht ausdrücklich im Gesetz kenntlich gemacht werden, sondern lässt sich in Einzelfällen auch aus den Umständen schließen. So ist es beispielsweise, wenn die derogierende Norm der Umsetzung einer Richtlinie dient und die Richtlinie in diesem Punkt keinen Ermessensspielraum lässt.

§ 9  Einwirkung von Richtlinien auf das Transformationsgesetz

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§ 9  Einwirkung von Richtlinien auf das Transformationsgesetz Werden Richtlinienbestimmungen ordnungsgemäß in das nationale Recht umgesetzt, werden sie zu einem Steuergesetz im Sinne des § 2 Abs. 1 AO. Umgesetzte Richtlinienbestimmungen gewinnen keinen besonderen Rang im Vergleich zu anderen nationalen Steuernormen, auch wenn sie inhaltlich auf eine Richtlinie zurückzuführen sind. Im Kern wird bereits an dieser Stelle deutlich, dass eine formalrechtliche Kenntlichmachung des Vorrangs in der entsprechenden nationalen Steuernorm eine entgegenstehende DBA-Bestimmung im Wege des Treaty Overrides derogiert. Dies gilt also insbesondere für Fälle, in denen der Gesetzgeber eine Kollision zwischen einer Richtlinie und einer DBA-Bestimmung erkennt und der Richtlinie daher Geltung verschafft, sie also nicht nur ordnungsgemäß umsetzen, sondern auch die Anwendung der geschaffenen Norm sicherstellen will. Ist eine Derogation im Wege der Kenntlichmachung in der betreffenden Steuernorm hingegen nicht enthalten, bleibt es dabei, dass die DBA-Regelungen einer anderen allgemeinen Steuernorm vorgehen, was damit auch umgesetzte oder umzusetzende Richtlinienbestimmungen erfasst. Ob die spätere Richtlinienbestimmung dem früheren DBA vorgeht oder nicht, richtet sich also im Ergebnis danach, ob der Gesetzgeber die Abkommensverdrängung formalrechtlich kenntlich gemacht hat, was für den jeweiligen Einzelfall zu bestimmen ist. Vergisst der Gesetzgeber eine erforderliche formalrechtliche Kenntlichmachung, beispielsweise, weil er eine Kollision zwischen umgesetzten Richtlinienbestimmungen und DBA-Regelungen gar nicht erkennt, oder verwendet er eine unklare Formulierung, aus der die Abkommensverdrängung nicht ohne weiteres hervorgeht, hat dies erhebliche Auswirkung auf die Normenanwendung, insbesondere auf den betreffenden Steuerpflichtigen im Verhältnis zur Finanzverwaltung.

A.  Kollisionsauflösung zwischen Richtlinie und DBA I.  Kollisionsauflösung bei umgesetzten Richtlinienbestimmungen

Im Folgenden soll zunächst abstrakt untersucht werden, wie die dargestellten allgemeinen Kollisionsauflösungsregeln und auch § 2 Abs. 1 AO auf das Verhältnis von transformierter DBA-Regelung und umgesetzter Richtlinienbestimmung einwirken.

378

Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

1.  DBA wird nach Richtlinie abgeschlossen

Wird das DBA nach erfolgter Umsetzung einer Richtlinie transformiert, gilt dem Grunde nach der Grundsatz lex posterior derogat legi priori. Eines Rückgriffs auf § 2 Abs. 1 AO bedarf es nicht, da die lex-posterior-Regel gerade das von § 2 Abs. 1 AO gewollte Ergebnis herbeiführt, nämlich den Vorrang des späteren DBA vor der früheren (umgesetzten) Richtlinienbestimmung. Gibt es keine Kollision zwischen der umgesetzten Richtlinienbestimmung und der DBA-Regelung, ist nicht auf die Kollisionsauflösungsregeln zurückzugreifen. In diesem Fall bestehen die umgesetzten Richtlinienbestimmungen und die transformierten DBA-Regelungen im innerstaatlichen Recht nebeneinander. Das Transformationsgesetz ist nur in dem betreffenden Punkt insofern für die beteiligten Vertragsstaaten redundant, als es inhaltlich identische Regelungen wie die Richtlinie enthält. Darüber hinaus findet auch kein „Wechsel“ vom Abkommensrecht zum Sekundärrecht statt. Zwar entfaltet die umgesetzte Richtlinie ihre Sperrwirkung auch dahingehend, dass sich der zeitlich frühere Erlass der Richtlinie sowie deren Umsetzung gegenüber der zeitlich späteren Transformation des DBA durchsetzt, dies gilt jedoch nur so lange, wie das DBA nicht im Einklang mit den Richtlinienbestimmungen stünde. Erst in diesem Fall würden die nachfolgenden Ausführungen zu kollidierenden Regelungen gelten. Stehen die DBA-Regelungen im Widerspruch zu Richtlinienbestimmungen, würde die betreffende Richtlinienbestimmung trotz bereits erfolgter ordnungsgemäßer Umsetzung dem Grunde nach von der kollidierenden DBA-Regelung verdrängt werden. Dieser Konflikt bedeutet jedoch nicht, dass der Staat damit gegen seine Umsetzungsverpflichtung verstößt, sodass die Richtlinie ihre unmittelbare Wirkung entfaltete.209 Denn es kann wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts und der daraus abzuleitenden Sperrwirkung schon zu keinem Umsetzungsverstoß kommen. Es wird lediglich die Regel lex posterior derogat legi priori dadurch durchbrochen,210 dass die Richtlinie selbst zwar als eigenständiges Recht, aber dennoch seine Wirkung als quasi lex superior entfaltet. Wird eine DBA-Bestimmung nach Umsetzung der Richtlinie transformiert, kann nicht von einer konkludenten Derogation ohne ausdrückliche Kenntlichmachung durch den Gesetzgeber gesprochen werden, da die Transformation gerade einen der Derogation widersprechenden Akt darstellt. Für eine Derogation müsste in diesem Fall die Kenntlichmachung in einer erkennbaren Art und Wei209  So aber Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 827, der einen solchen Verstoß, und damit eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie ohne eine nähere Begründung oder Untersuchung annimmt. 210  Musil, in: Hübschmann/­Hepp/­Spitaler, AO, § 2 Rn. 347.

§ 9  Einwirkung von Richtlinien auf das Transformationsgesetz

379

se erfolgen. Erfolgt keine solche Kenntlichmachung, würde die Anordnung des § 2 Abs. 1 AO greifen, die die Kollision zu Lasten der Richtlinienbestimmung auflöst. Aber auch hier sorgt der Anwendungsvorrang der Richtlinie dafür, dass die betreffende DBA-Regelung entgegen § 2 Abs. 1 AO nicht anzuwenden ist, da § 2 Abs. 1 AO trotz des konstitutiven Charakters nur eine Auslegungsregel bleibt. Es bleibt daher festzuhalten, dass es keine Möglichkeit gibt, bestehende Richtlinienbestimmungen mittels DBA zu ändern. 2.  Richtlinie wird nach DBA erlassen

Wird eine Richtlinienbestimmung zeitlich nach Transformation eines DBA in das nationale Recht umgesetzt, gilt dem Grunde nach der Grundsatz lex pos­ terior derogat legi priori. Kollidiert die umgesetzte Richtlinienbestimmung inhaltlich nicht mit der betreffenden DBA-Regelung, findet § 2 Abs. 1 AO keine Anwendung. Auch auf die allgemeinen Kollisionsauflösungsregeln muss nicht zurückgegriffen werden. Für das bereits transformierte DBA bedeutet dies, dass eine Anpassung oder Änderung der DBA-Regelung an die Vorgaben der Richtlinie nicht erforderlich ist. Entscheidend ist dabei allerdings, dass das inhaltlich identische, transformierte Abkommensrecht nicht mehr vollständig dispositiv ist.211 Insofern findet systematisch gesehen ein „Wechsel“ vom Abkommensrecht hin zum Sekundärrecht statt. Aufgrund des Anwendungsvorrangs und der damit einhergehenden Sperrwirkung des Unionsrechts darf das Transformationsgesetz nicht mehr nachträglich geändert werden, falls es dann im Widerspruch zur Richtlinie stehen würde. Der Erlass der Richtlinie wirkt sich dahingehend mittelbar auf das bereits transformierte Abkommensrecht aus, dass dieses nur noch im Einklang mit den Richtlinienbestimmungen geändert werden darf. Zukünftig entscheidet für diese Fälle somit weder der subjektive Wille des Transformationsgesetzgebers noch eine DBA-spezifische Auslegung. Durch diese Überlagerung kann bei textlich unverändertem Fortbestand der transformierten DBA-Regelungen somit eine (partielle) Inhaltsänderung sowohl auf der Tatbestands- als auch der Rechtsfolgenseite eintreten.212 Der Steuerpflichtige muss daher bei der Anwendung der entsprechenden DBA-Regelungen darauf achten, dass diese Vorschriften nunmehr vom Sekundärrecht beherrscht werden. Zwar kann es für ihn grundsätzlich unerheblich sein, ob er sich auf die Richtlinienbestimmungen oder auf die DBA-Regelungen beruft, da beide nicht voneinander abweichen. Allerdings ist auch der Fall denkbar, dass sowohl die Richtlinie als auch das DBA dieselben Begriffe enthalten, 211  212 

Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 125. Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 128.

380

Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

diese aber trotz des identischen Wortlauts unterschiedlich definiert und verstanden werden. In diesem Fall ist es für den Steuerpflichtigen entscheidend, welche Regelung für ihn gilt, da er möglicherweise von der einen Definition erfasst wird und von der anderen nicht. Hier ist genau darauf zu achten, ob nicht doch eine Kollision vorliegen kann. Kollidiert die früher transformierte DBA-Regelung inhaltlich mit der später umgesetzten Richtlinienbestimmung, wird man – sofern eine ausdrückliche Kenntlichmachung fehlt – eine Derogation der DBA-Bestimmung nur dann annehmen können, wenn man der Ansicht folgt, die eine solche Derogation auch konkludent zulässt. Fordert man in diesem Fall hingegen eine ausdrückliche Kenntlichmachung, und fehlt diese, greift der Grundsatz lex posterior derogat legi priori zu Gunsten der umgesetzten Richtlinienbestimmung. Dieser Grundsatz würde dem Grunde nach durch § 2 Abs. 1 AO überwunden werden, was in der Folge bedeuten würde, dass das frühere DBA den späteren Richtlinienbestimmungen vorginge, was für die umgesetzte Richtlinienbestimmung bedeuten würde, dass sie nicht durch eine spätere Derogation, sondern faktisch von Anfang an nicht gelten würde. Tatsächlich kommt es jedoch bereits zu keiner Anwendbarkeit von § 2 Abs. 1 AO, da auch hier der Anwendungsvorrang der Richtlinie dessen Wirkungen von Anfang an durchbricht. 3.  Schlussfolgerung

Der Anwendungsvorrang sowie die darauf abzuleitende Sperrwirkung des Unionsrechts sorgen gegenüber den nationalen Regeln also dafür, dass die allgemeinen Normenkollisionsregeln und auch § 2 Abs. 1 AO zu Gunsten von Richtlinienbestimmungen unanwendbar werden. Der Anwendungsvorrang ist aber nicht Ausfluss der umgesetzten Norm an sich, sondern haftet ausschließlich der Richtlinie als unionsrechtliche Norm an. Das Transformationsgesetz und die Steuernormen aufgrund einer Richtlinienumsetzung sind stets gleichrangig. Daran ändert auch nichts, dass das Transformationsgesetz auf einen völkerrechtlichen Vertrag (DBA) zurückzuführen ist und die umgesetzten Normen auf eine Richtlinie. Diese dogmatische Trennung führt dazu, dass der Rechtsanwender an erster Stelle die klassischen Kollisionsregeln prüfen muss, die uneingeschränkt Anwendung finden. Führen diese Grundsätze im Einzelfall dazu, dass die umgesetzten Richtlinienbestimmungen keine Anwendung mehr finden würden, käme es zu einer Störung des vom Unionsrecht vorgegebenen Vorrangbefehls, sodass sie im positiven Recht keine Anwendung mehr hätten. Dies ist immer dann der Fall, wenn das DBA nach der Umsetzung einer Richtlinie transformiert wird (lex posterior derogat legi prio­ ri) oder aufgrund der Wirkung von § 2 Abs. 1 AO dem Grunde nach verdrängt würde.

§ 9  Einwirkung von Richtlinien auf das Transformationsgesetz

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In diesen Fällen greift der Anwendungsvorrang des Unionsrechts soweit und solange, wie die ursprünglich umgesetzten Normen durch ein transformiertes DBA verdrängt würden, auch in Form der Sperrwirkung. Nicht die aus dem Unionsrecht umgesetzten nationalen Normen sperren das Schaffen nachfolgender, kollidierender Normen. Denn in Ansehung des nationalen Rechts gibt es keine Sperrwirkung für nachfolgende Gesetze, sofern der Gesetzgeber keinen Vorbehalt in das vorherige Gesetz aufgenommen hat. Erst der unionsrechtliche Anwendungsvorrang sorgt dafür, dass in der juristischen Sekunde des Inkrafttretens des nachfolgenden Gesetzes eben dieses Gesetz sofort verdrängt wird. Dem Gesetzgeber ist es weder verwehrt, ein weiteres Gesetz zu schaffen noch sind ihm im Gesetzgebungsverfahren in irgendeiner Art und Weise die Hände gebunden. Die Verdrängungswirkung der Richtlinie führt jedoch zur Unsinnigkeit einer solchen Normgebung, da diese Normen schlichtweg nicht anzuwenden sind. Um diese Rechtsfolge zu vermeiden, und den Streit über eine ausdrückliche oder konkludente Derogation durch den Gesetzgeber zu umgehen, empfiehlt es sich für den Gesetzgeber, die Derogation der betreffenden DBA-Norm stets ausdrücklich kenntlich zu machen. Hiervon macht der Gesetzgeber auch reichlich Gebrauch. II.  Kollisionsauflösung bei unmittelbarer Wirkung von Richtlinien

Neben der Kollision von umgesetzten Richtlinienbestimmungen mit transformierten DBA-Normen kommt auch der – derzeit theoretische – Fall in Betracht, dass eine Richtlinie nicht umgesetzt wurde und daher unmittelbar wirkt. Probleme ergeben sich insbesondere dann, wenn eine dem DBA entgegenstehende Richtlinie nicht ordnungsgemäß in das nationale Recht umgesetzt worden ist und deshalb das DBA bzw. die transformierten Rechtsvorschriften partiell weiterhin gelten.213 Im Folgenden soll daher auf die Besonderheiten eingegangen werden, die sich beim Zusammentreffen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien und transformierten DBA-Bestimmungen ergeben. Wegen des Anwendungsvorrangs der Richtlinie soll hier nicht nach der zeitlichen Geltung unterschieden werden. Wirkt eine Richtlinie unmittelbar, wird sie nicht Teil des nationalen Rechts. Vielmehr ist das Unionsrecht ein eigenständiger Rechtskreis, der seine Wirkungen auf die Mitgliedstaaten nach eigenständigen Regeln entfaltet. Die unmittelbar wirkende Richtlinie hat daher keinen spezifischen Rang innerhalb des nationalen Rechts und wird weder einfach gesetzliches Recht noch Steuergesetz. Aus diesem Grund ist – ungeachtet des Anwendungsvorrangs der Richtlinie – § 2 Abs. 1 AO bei unmittelbar wirken213 

Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 118.

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

den Richtlinien nicht anwendbar. Wirkt eine Richtlinie unmittelbar und wird seit dieser Wirkung ein kollidierendes DBA später transformiert, kann dieser Konflikt nicht nach den Grundsatz lex posterior derogat legi priori aufgelöst werden. Im umgekehrten Fall gilt dasselbe, sodass die unmittelbare Wirkung eine eigene Art der Normengeltung entfaltet. Aufgrund des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs ist die Richtlinie in beiden Fällen vorrangig vor der betreffenden DBA-Norm anzuwenden. 1.  Richtlinie und DBA sind inhaltsgleich

Liegt inhaltlich keine Kollision zwischen transformierter DBA-Bestimmung und Richtlinie vor, gilt die Richtlinie gleichwohl als nicht umgesetzt, da die Richtlinie inter omnes wirkt, das DBA aber nur zwischen den beteiligen Vertragsstaaten. In der Folge entfaltet die Richtlinie gleichwohl ihre unmittelbare Wirkung. Es stellt sich nur die Frage, auf welche Norm sich der Steuerpflichtige berufen soll. Da es keine Konkurrenzlösung im Fall der unmittelbaren Wirkung gibt, müsste die Richtlinie in diesem konkreten Fall Anwendungsvorrang genießen. Diese Schlussfolgerung mutet jedoch deshalb seltsam an, weil in dem konkret zu betrachtenden Fall eine entsprechende Norm existiert, auf die sich Steuer­pflichtige berufen können. Vor diesem Hintergrund ließe sich – ungeachtet der Tatsache, dass die hier geschilderte Fallkonstellation derzeit keine praktische Anwendung findet – vertreten, dass die Richtlinie zumindest partiell für einen ganz bestimmten Anwendungsfall (Wirkung zwischen zwei Vertragsstaaten) als umgesetzt gelten kann. Auch wenn keine vollständige Umsetzung in das nationale Recht erfolgt ist, dürfte die Konsequenz der unmittelbaren Wirkung nicht dazu führen, dass eine inhaltsgleiche DBA-Norm nicht zu prüfen ist, obwohl sie innerstaatliches Recht geworden ist. In diesem Fall wäre nicht verständlich, weshalb eine Richtlinienbestimmung von der Finanzverwaltung und den Finanzgerichten vorrangig anzuwenden ist, wenn hierfür materiell kein Bedürfnis besteht. Vor diesem Hintergrund ließe sich jedoch auch mit guten Argumenten vertreten, dass die betreffenden Bestimmungen aus der Richtlinie und aus dem DBA nebeneinander angewendet werden können, was jedoch zu Problemen im Umgang mit dem Anwendungsvorrang führen kann. An dieser Stelle soll das Problem jedoch nicht weiter vertieft werden. 2.  Unmittelbare Wirkung und DBA kollidieren inhaltlich

Eine unmittelbar wirkende Richtlinienbestimmung kollidiert inhaltlich dann mit einer DBA-Regelung, wenn das nationale Recht eine den Richtlinienbestim-

§ 9  Einwirkung von Richtlinien auf das Transformationsgesetz

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mungen entgegenstehende Vorschrift enthält und die Kollision auch den von der Richtlinie vorgegebenen Rahmen erfasst. Liegt eine solche Kollision vor, werden entgegenstehende nationale Bestimmungen durch unmittelbar wirkende Richtlinienbestimmungen in der Weise ersetzt, dass die nationalen Behörden und Gerichte die Richtlinien an Stelle der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften anwenden (Ersetzungsfunktion).214 Die unmittelbare Wirkung führt somit dazu, dass kollidierendes nationales Recht zurücktritt mit der Folge, dass stattdessen die betreffende Richtlinienbestimmung vorrangig anzuwenden ist.215 In diesem Zusammenhang sind zwei Arten von Kollisionen von nationalem Recht und Richtlinienbestimmungen möglich: Zum einen liegt eine Kollision vor, wenn die Richtlinienbestimmung selbst auf einen Sachverhalt keine Anwendung findet, aber festlegt, dass der Mitgliedstaat alle richtlinienwidrigen nationalen Vorschriften zu ändern oder außer Kraft zu setzen hat.216 Zum anderen liegt eine Kollision auch dann vor, wenn die Richtlinienvorschrift selbst auf einen Sachverhalt Anwendung findet, den eine nationale Norm in anderer Weise regelt.217 Bezüglich der Reichweite der Einwirkung der unmittelbaren Wirkung auf Richtlinien ist danach zu unterscheiden, inwiefern die Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt wurde. Wird die Richtlinie vollständig nicht in nationales Recht umgesetzt und besteht bereits ein kollidierendes, transformiertes DBA,218 ist die betreffende Richtlinienbestimmung vorrangig anzuwenden.219 Dies gilt jedoch nur für die Richtlinienbestimmung, der die unmittelbare Wirkung selbst zukommt, sodass transformierte DBA-Bestimmungen unter Umständen partiell weiterhin gelten können.220 Zwar kann die unmittelbare Wirkung von Richtlinien – im Gegensatz zu transformierten DBA – den Rang einfachen Rechts nicht haben, da eine Umsetzung in nationales Recht gerade nicht stattgefunden hat. Wegen des Anwendungsvorrangs ist aber die Prüfung entscheidend, ob die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung der entspre214  Schroeder, in: Streinz, Art. 288 AEUV Rn. 119: Anstelle dieser Ersetzungsfunktion könne eine Richtlinie jedoch im Einzelfall lediglich eine Ausschlussfunktion entfalten, beispielsweise, wenn ein Staat seine aufgrund einer Richtlinie bestehende Verpflichtung zur Notifizierung technischer Vorschriften an die Kommission verletze und deshalb die betreffende nationale Vorschrift unanwendbar werde. 215  Schaumburg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 4.60. 216  Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation, S. 50. 217  Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation, S. 50. 218 Dazu auch: Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 121. 219  Schaumburg, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 4.60; Sche­ rer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 121. 220  Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 118.

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

chenden Richtlinienbestimmung auch vollständig und gerade im Hinblick auf die kollidierende Bestimmung erfüllt sind. Sind die Voraussetzungen für die unmittelbare Wirkung erfüllt, überlagert die entsprechende Bestimmung der Richtlinie das Abkommensrecht. Liegen die Voraussetzungen hingegen nicht vor, bleibt das bereits transformierte Abkommensrecht weiterhin anwendbar, auch wenn dieses nicht mit den Vorgaben der Richtlinie übereinstimmt. Setzt ein Mitgliedstaat die Richtlinie unvollständig oder abweichend von den Vorgaben der Richtlinie um, stellt sich die Frage, ob es Fälle gibt, in denen das DBA trotz des Anwendungsvorrangs der unmittelbaren Wirkung vorgeht. Ein solcher Fall könnte beispielsweise dann vorliegen, wenn die Richtlinie derart strenge Bestimmungen enthält, dass sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widerspricht. Darüber hinaus kann es dazu kommen, dass die Richtlinie zwar vollständig, aber missverständlich umgesetzt wird. Probleme zwischen dem Anwendungsbereich der DBA und den Richtlinien können sich dabei insbesondere für die Auslegung von Begriffen ergeben, die sowohl im Abkommensrecht als auch in der auf das Abkommensrecht mittelbar einwirkenden Richtlinie enthalten sind. Dies wird insbesondere dann relevant, wenn die Begriffsbestimmungen in der Richtlinie und dem DBA nicht einheitlich sind.221 Nicht selten enthalten sowohl das DBA als auch die hierauf mittelbar einwirkende Richtlinie zwar identische Begriffe, welche allerdings unterschiedlich verstanden bzw. ausgelegt werden.222 Hier sind zunächst die Auslegungsregeln heranzuziehen, bevor es zum Anwendungsvorrang kommen kann. Von der richtlinienkonformen Auslegung zu unterscheiden sind jedoch die Auslegung der Richtlinie selbst sowie die Auslegung des DBA. Entscheidend ist hierbei, dass auch die Richtlinie primärrechtskonform auszulegen ist,223 wofür in letzter Instanz der EuGH zuständig ist.224 Ist eine solche primärrechtskonforme Auslegung nicht möglich, darf die Richtlinienbestimmung nicht angewandt werden.225 Daneben haben die richtlinienbedingten Ein221  Beispiele hierfür sind die Begriffe „Zinsen“, „Lizenzgebühren“, „Unternehmen“, „verbundenes Unternehmen“ sowie „Betriebstätte“, die im deutschen Steuerrecht, DBA sowie Richtlinien oftmals unterschiedlich verstanden werden. Vgl. auch: Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 119, 127 ff.; Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 275. 222  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 275. 223  Englisch, in: Tipke/­Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 36. 224  Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 275; Tischbirek/­Specker, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 10 Rn. 177: Die Frage, ob die Auslegung der Richtlinie durch den EuGH auf DBA mit einem Drittstaat übertragbar sei, sei ungelöst und in ihren Konsequenzen unüberschaubar. 225  Englisch, in: Tipke/­Lang, Steuerrecht, § 4 Rn. 36.

§ 9  Einwirkung von Richtlinien auf das Transformationsgesetz

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wirkungen auf das Abkommensrecht in diesem Bereich wichtige Folgen insbesondere für die Auslegung der DBA.226 Denn diese hat sich nach den Vorgaben des gesamten Unionsrechts zu richten.227 Die Richtlinien wirken somit auch in diesem Bereich auf die DBA ein.

B.  Inhaltliche Kollisionen von konkreten Richtlinien und DBA-Bestimmungen Im Folgenden soll vor dem Hintergrund der zuvor dargestellten Grundsätze ein Blick auf mögliche inhaltliche Kollisionen von Richtlinien mit DBA-­ Bestimmungen geworfen werden. Die nachfolgende Aufbereitung soll dabei jedoch keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern nur einen Ausschnitt ausgewählter Kollisionen darstellen. I.  Richtlinie ist günstiger als DBA

Bisher lautete das Ergebnis bei Kollisionen zwischen Richtlinien und DBA stets, dass entweder die Richtlinienbestimmungen oder aber die DBA-­ Regelungen vorgehen. Es gibt daneben aber auch Konstellationen, in denen richtlinienkonform geändertes innerstaatliches Recht und DBA nebeneinander anwendbar sein können und somit keines der beiden vom jeweils anderen verdrängt wird.228 In diesem Fall entscheidet die Wirkung der jeweiligen Bestimmung, welche Regelungen anzuwenden sind. Soweit eine umgesetzte Richtlinienbestimmung oder auch die unmittelbare Wirkung ein „Mehr“ an Rechten gegenüber einer kollidierenden DBA-Regelung gewährt, gehen die Richtlinienbestimmung bzw. die unmittelbare Wirkung unmittelbar vor (sog. Günstigkeitsprinzip).229 226  Lehner, in: Birk, Handbuch des Europäischen Steuer- und Abgabenrechts, § 31 Rn. 67. Zur Auslegung von DBA siehe ausführlich: Wassermeyer/­Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 51 ff.; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 95 ff.; Korn, IStR 2009, 641. Zur fehlenden Einwirkung abkommensrechtlicher Begriffsbestimmungen auf innerstaatliches Steuerrecht siehe auch: BFH v. 20.7.2016 – I R 50/­15, BStBl. II 2017, S. 230. 227  Koenig, in: Koenig, § 2 AO Rn. 12; Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 3 OECD-MA Rn. 79 mwN: Spätere Übereinkünfte zwischen den Vertragsstaaten über die Auslegung und Anwendung sowie die tatsächliche Übung bei der Abkommensanwendung seien für die Auslegung eines DBA hingegen unverbindlich. 228  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 276. 229  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­ Ditz, DBA, Systematik Rn. 135; Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 145; grundlegend hierzu siehe: Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 826 ff.

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Ein Beispiel für die mittelbare Einwirkung von Richtlinien auf DBA ist die Quellensteuerreduktion: Nach Art. 10 Abs. 2 S. 1 OECD-MA kann der Ansässigkeitsstaat der Gesellschaft, die Dividenden an eine im Ausland ansässige Person ausschüttet, diese Dividenden besteuern. Dies erfolgt unter Anrechnung der Quellensteuer im ausländischen Staat (Art. 23A Abs. 2 S. 1 OECD-MA). Art. 10 Abs. 2 S. 1 lit. a) OECD-MA begrenzt die Höhe der Steuer auf 5 % des Bruttobetrages der Dividenden, wenn die Empfängergesellschaft während eines Zeitraums von 365 Tagen einschließlich des Tages der Dividendenzahlung unmittelbar zu mindestens 25 % an der ausschüttenden Gesellschaft beteiligt ist. In allen anderen Fällen ist die Steuer auf 15 % des Bruttobetrages der Dividenden begrenzt (Art. 10 Abs. 2 S. 1 lit. b) OECD-MA). Die Quellensteuer ist somit in der Regel lediglich auf 5 % des Bruttobetrags der Dividenden reduziert, sodass im Ergebnis nur 95 % von der Quellensteuer befreit sind. Darüber hinausgehend sieht Art. 5 der Mutter-Tochter-Richtlinie vor, dass die von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne vom Quellensteuerabzug befreit sind. Für den Quellenstaat enthält Art. 5 der Mutter-Tochter-­R ichtlinie damit ein Quellenbesteuerungsverbot, während der Ansässigkeitsstaat gemäß Art. 4 Abs. 1 der Mutter-Tochter-Richtlinie zur wahlweisen Entlastung nach der Anrechnungs- oder Freistellungsmethode verpflichtet ist.230 Die Richtlinie verdrängt damit die Bestimmungen in Artt. 10, 23A OECD-MA.231 Dem Steuerpflichtigen kommt hierbei die günstigere Richtlinienbestimmung unmittelbar zugute, was zu einer Quellensteuerreduktion auf null führt. Dieses Quellensteuerverbot führt dazu, dass die entsprechenden Quellensteuerreduzierungen in den innereuropäischen DBA leerlaufen.232 Die Mutter-Tochter-Richtlinie überlagert somit die in Artt. 10 und 23A OECD-MA enthaltenen DBA-Regelungen.233 Diese Verdrängung besteht jedoch nur bezüglich der im Anhang der Mutter-Tochter-Richtlinie aufgezählten Gesellschaften und für diese nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 3 der Mutter-Tochter-Richtlinie. Im Gegensatz zum OECD-MA und zu den DBA bezieht die Mutter-Tochter-Richtlinie gemäß Art. 1 Abs. 1 lit. c) und d) allerdings auch 230 

Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 146. Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 146. 232  Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 274c; Fey, in: Birle/­Fey/­ Golombek, Beck’sches Steuer- und Bilanzrechtslexikon, Mutter-Tochter-Richtlinie Rn. 4; Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 825; Kokott, Das Steuerrecht der EU, § 7 Rn. 49 ff. 233  Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 146; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 136. Diese Überlagerung aufgrund von Änderungen des innerstaatlichen Rechts führe allerdings nicht zum vollständigen Leerlaufen der Verteilungsnormen, sodass auch hier keine unmittelbare Einwirkung von Richtlinien auf DBA vorliege. 231 

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Gewinnausschüttungen von und an Betriebstätten ausdrücklich mit ein, sodass die Richtlinie insofern weiter gefasst ist als die Abkommen. Ein weiteres Beispiel für die mittelbare Einwirkung von Richtlinien auf DBA ist Art. 4 Abs. 1 der Mutter-Tochter-Richtlinie, wonach Dividenden von der Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft von der Steuer freigestellt oder die auf diese Dividenden gezahlten Steuern angerechnet werden. Dadurch wird den Schachtelprivilegien der innereuropäischen DBA eine zusätzliche unionsrechtliche Grundlage im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt, was dazu führt, dass die abkommensrechtlichen Schachtelprivilegien weitgehend bedeutungslos geworden sind.234 Dies liegt unter anderem auch daran, dass in Art. 4 der Mutter-Tochter-Richtlinie im Gegensatz zu den DBA kein Aktivitätsvorbehalt enthalten ist. Die Richtlinienbestimmungen müssen sich jedoch an die Vorgaben des Primärrechts halten. So ist es nach der Rechtsprechung des EuGH nicht zulässig, das in Art. 4 Abs. 3 der Mutter-Tochter-Richtlinie eingeräumte Wahlrecht, bei Freistellung von Auslandsdividenden korrespondierende inländische Betriebsausgaben nur begrenzt oder gar nicht zu berücksichtigen, nur auf innerstaatliche Sachverhalte anzuwenden.235 Ein weiteres Beispiel für die mittelbare Einwirkung einer steuerrechtlichen Richtlinie auf DBA ist Art. 1 der Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie. Diese Vorschrift befreit die Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren vollständig von der Quellenbesteuerung. Diese Regelung ist günstiger als Artt. 11 und 12 OECD-MA, welche die Besteuerung der entsprechenden Zahlungen vorsehen. Zugleich wird den Mitgliedstaaten die Möglichkeit verwehrt, im Anwendungsbereich der Richtlinie insbesondere auf Zinsen entsprechende Quellensteuern zu erheben.236 Im Ergebnis wirken sowohl die Mutter-Tochter-Richtlinie als auch die Zinsund Lizenzgebühren-Richtlinie wie Teilregelungen eines multilateralen DBA, weil sie spezielle Teilaspekte eines DBA erfassen.237 Darüber hinaus wird Art. 25 OECD-MA durch die Schiedsverfahrenskonvention 238 in weiten Teilen überlagert.239

234 

Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 274c. EuGH v. 18.9.2003, C-168/­01 – Bosal, Slg. 2003, I-9409. 236  Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 147; Schönfeld/­ Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 137. 237  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 258, 274e. 238  Übereinkommen über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (90/­436/­EWG), ABl. Nr. L 225, 10 v. 20.8.1990. 239  Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 150. 235 

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Die Fusionsrichtlinie enthält weder eine mittelbare noch eine unmittelbare Einwirkung auf DBA. Vielmehr knüpft sie beispielsweise in Artt. 3, 4 und 10 der Fusionsrichtlinie an die DBA an.240 Im Übrigen findet auch eine günstigere nationale Regelung Anwendung, soweit die Regelungen eines DBA hinter den schon vorhandenen nationalen zurückbleiben.241 II.  Richtlinienvorbehalte zugunsten günstigerer DBA

Ist hingegen das DBA günstiger als die Richtlinienbestimmung, enthalten die Richtlinien zumeist einen Günstigkeitsvorbehalt zugunsten des Abkommens.242 Ein solcher Günstigkeitsvorbehalt ist beispielsweise in Art. 9 der Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie enthalten. Danach berührt diese Richtlinie nicht die Anwendung einzelstaatlicher oder bilateraler Bestimmungen, die über die Bestimmungen dieser Richtlinie hinausgehen und die Beseitigung oder Abschwächung der Doppelbesteuerung von Zinsen und Lizenzgebühren bezwecken. Auch Art. 7 Abs. 2 der Mutter-Tochter-Richtlinie enthält einen solchen Günstigkeitsvorbehalt. Zu beachten ist hierbei auch der in Art. 1 Abs. 2 der Mutter-Tochter-Richtlinie enthaltene Vorbehalt zugunsten einzelstaatlicher oder vertraglicher Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen (Directive-Shopping). Einen entsprechenden Vorbehalt enthält auch Art. 5 Abs. 1 der Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie.243 Der Günstigkeitsvorbehalt ist somit in einigen steuerrechtlichen Richtlinien ausdrücklich enthalten.244 Wie aus beiden Regelungen hervorgeht, sind sowohl das Verhältnis zwischen Richtlinien und DBA als auch das Verhältnis zwischen Richtlinien und ursprünglich innerstaatlichem Recht, welches nicht auf der Transformation eines DBA beruht, umfasst. Die Richtlinien geben nur einen gewissen Mindeststandard vor, den die Mitgliedstaaten auch „übererfüllen“ können.245 Die Mitgliedstaaten können aber auch dazu verpflichtet sein, den 240 

Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 148; Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 825. 241  Drüen, in: Tipke/­K ruse, AO/­FGO, § 2 AO Rn. 2. 242  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­ Ditz, DBA, Systematik Rn. 135; Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 145. Im Gegensatz zu Richtlinien wurde eine solche Regelung vom EuGH für Verordnungen hingegen abgelehnt: EuGH v. 7.6.1973, Rs. 82/­72 – Walder, Slg. 1973, I-599. 243  Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 147; Schönfeld/­ Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 137. 244  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 276. 245  Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 829; Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Kapitel II, Einleitung Rn. 75.

§ 9  Einwirkung von Richtlinien auf das Transformationsgesetz

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Mindeststandard einer Richtlinie „überzuerfüllen“, ohne sich rechtfertigend auf weniger günstige Richtlinien berufen zu können, wenn die Vorgaben der Grundfreiheiten dies erfordern.246 Die Folge ist also, dass im Bereich der direkten Steuern das Günstigkeitsprinzip vorschreibt, dass günstigeres Abkommensrecht trotz des Bestehens einer – weniger günstigen – Bestimmung des Sekundärrechts anwendbar bleibt.247 Sofern nämlich ein DBA für den Steuerpflichtigen günstigere Bestimmungen als das Richtlinienrecht vorsieht und damit zugunsten des Steuerpflichtigen eine weitere Besteuerungsschranke schafft, bestehen unionsrechtlich keine Bedenken, diese günstigeren Regelungen anzuwenden, wenn und soweit damit den Richtlinienvorgaben nicht widersprochen wird.248 Wie bereits angesprochen, gilt dies nicht nur im Verhältnis zwischen Richtlinien und DBA, sondern auch zwischen Richtlinien und ursprünglich innerstaatlichem Recht. Zu beachten ist allerdings, dass insbesondere der Günstigkeitsvorbehalt in Art. 7 Abs. 2 der Mutter-Tochter-Richtlinie nicht jede einzelstaatliche oder vertragliche Bestimmung, welche die Beseitigung oder Minderung der Doppelbesteuerung der Dividenden bezwecken, umfasst, sondern nur diejenigen Vorschriften, die konkret eine wirtschaftliche Doppelbesteuerung vermeiden sollen.249 Aber auch ohne ausdrücklichen Günstigkeitsvorbehalt des Richtlinienrechts dürfte allgemein davon ausgegangen werden können, dass die Mitgliedstaaten sowohl bilateral durch DBA als auch unilateral Regelungen treffen oder aufrechterhalten dürfen, die eine weitergehende Beseitigung der Doppelbesteuerung bewirken.250 Grenzen bestehen aber auch hier insoweit, als es durch diese Regelungen nicht zu einer Diskriminierung durch einseitige Begünstigungen von in bestimmten Mitgliedstaaten Ansässigen kommen darf, die primärrechtlich nicht legitimiert sind.251 Im Ergebnis regelt das Günstigkeitsprinzip den unter Umständen möglichen Vorrang von DBA gegenüber Richtlinien sowie nationalem Recht. Es ergänzt insofern die bereits dargestellten formalen Kenntlichmachungen des Vorrangs des nationalen Rechts. Denn auch diese formalen Kenntlichmachungen regeln das Verhältnis zwischen nationalem Recht und den DBA. 246  Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 830. 247  Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S.  827 f.; Tischbirek/­Specker, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 10 Rn. 176. 248  Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 828. 249  Ausführlich zum Verhältnis zwischen DBA und Art. 7 Abs. 2 der Mutter-Tochter-Richtlinie: Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 847 ff., 871. 250  Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 129. 251  Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 129.

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

III.  Richtlinienverpflichtung strenger als DBA

Diese Grundsätze des Günstigkeitsprinzips gelten im Zusammenhang mit Rechten des Steuerpflichtigen. Eine andere Frage geht dahin, ob diese Grundsätze auch dann gelten, wenn es um Verpflichtungen des Steuerpflichtigen geht. Bleibt demnach eine in einem DBA enthaltene Verpflichtung hinter der Verpflichtung in einer Richtlinie zurück, verdrängen die weitergehenden (und damit der Schaffung des Binnenmarktes dienenden) Richtlinienbestimmungen das hinter dem Binnenmarktstandard zurückbleibende Abkommensrecht.252 Ein Beispiel für einen solchen Richtlinienvorbehalt zulasten günstigerer DBA ist die Pflicht zur Amtshilfe nach der Amtshilfe-Richtlinie253 gegenüber der kleinen Auskunftsklausel nach Art. 26 OECD-MA sowie der Amtshilfe bei der Vollstreckung von Steueransprüchen (Art. 27 OECD-MA).254 So werden Artt. 26, 27 OECD-MA durch die Amtshilfe-Richtlinie sowie die Beitreibungsrichtlinie255 verdrängt. In diesem Zusammenhang hat auch die Kommission festgestellt, dass „weniger umfassende Verpflichtungen zum Informationsaustausch hingegen […] automatisch durch die einschlägige Bestimmung der Richtlinie ersetzt [werden]“.256

C.  Inhaltliche Kollisionen von umgesetzten Richtlinienbestimmungen und DBA (§ 8b) Praktische Probleme stellen sich insbesondere dann, wenn nationale Vorschriften, die auf der Umsetzung einer Richtlinie beruhen, DBA-Bestimmun252  Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 145; Schönfeld/­ Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 135; Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 840 ff. 253 Richtlinie 77/­ 799/­EWG des Rates v. 19.12.1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern, ABl. Nr. L 336 v. 27.12.1977, S. 15, aufgehoben durch Richtlinie 2011/­16/­EU des Rates v. 15.2.2011, ABl. Nr. L 64 v. 11.3.2011 S. 1. 254  Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 MA Rn. 145, 149; Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 135. 255  Richtlinie 76/­308/­EWG des Rates v. 15.3.1976 über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen im Zusammenhang mit Maßnahmen, die Bestandteil des Finanzierungssystems der Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft sind, sowie von Abschöpfungen und Zöllen, ABl. Nr. L 73 v. 19.3.1976, S. 18, aufgehoben durch Richtlinie 2008/­55/­EG des Rates v. 26.5.2008, ABl. Nr. L 150 v. 10.6.2008, S. 28, aufgehoben durch Richtlinie 2010/­24/­EU des Rates v. 16.3.2010, ABl. Nr. L 84 v. 31.3.2010, S. 1. 256  Europäische Kommission, Doppelbesteuerungsabkommen und Recht der Europäischen Gemeinschaft, DOC(05)2306/­B v. 9.6.2005, Anhang A, S. 17.

§ 9  Einwirkung von Richtlinien auf das Transformationsgesetz

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gen überschreiben. Der Sachverhalt wird somit noch komplexer, wenn als weiteres Element noch eine nationale Vorschrift hinzukommt, die auf der Umsetzung einer Richtlinienbestimmung beruht. Es bestehen verschiedene nationale Vorschriften, welche auf der Umsetzung von Richtlinien beruhen und DBA verdrängen. Ein Beispiel hierfür ist § 8b Abs. 1 S. 2 KStG. Dieser wurde im Rahmen der Umsetzung der geänderten Mutter-Tochter-Richtlinie in das innerstaatliche Gesetz eingeführt. Regelungsinhalt ist eine Ausnahme von der grundsätzlich vorgesehenen Steuerfreistellung des § 8b Abs. 1 KStG. Es bestehen aber zahlreiche DBA, die für die Schachteldividenden bzw. solche im Sinne des Art. 10 OECD-MA die Steuerfreistellung vorsehen. In enger Verbindung hiermit steht ein weiteres Beispiel: § 8b Abs. 1 S. 3 KStG enthält eine weitere Ausnahme von der Steuerfreistellung des § 8b Abs. 1 KStG. Bei dieser Ausnahme ist die Verdrängung der DBA jedoch ausdrücklich vorgeschrieben („ungeachtet des Wortlauts des Abkommens“). Hier stellt sich die Frage, ob das in der Mutter-Tochter-Richtlinie enthaltene materielle Korrespondenzprinzip angewendet werden muss, wodurch die DBA-Freistellung verdrängt werden würde. Dies hätte ähnliche Wirkungen wie § 8b Abs. 1 S. 3 KStG, mit dem Unterschied, dass § 8b Abs. 1 S. 2 KStG kein offenes Treaty Override enthält. Hier stehen somit Richtlinien, die in das nationale Recht umgesetzt wurden, den DBA-Bestimmungen entgegen. I.  Umsetzung der Mutter-Tochter-Richtlinie in § 8b Abs. 1 KStG

Durch die neugefasste Richtlinie werden grenzüberschreitende Dividendenzahlungen und andere Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften an ihre Muttergesellschaften von Quellensteuern befreit und die Doppelbesteuerung derartiger Einkünfte auf Ebene der Muttergesellschaft beseitigt.257 Damit überlagert die Mutter-Tochter-Richtlinie die in Artt. 10 und 23A OECD-MA enthaltenen DBA-Regelungen.258 Der Anwendungsbereich ist nicht auf Quellensteuern im engeren Sinne begrenzt, sondern kann auch für eine ausschüttungsbedingte Körperschaftsteuer greifen, deren Schuldner die Tochtergesellschaft ist.259 257  Erwägungsgrund Nr. 1 der Richtlinie (EU) 2011/­ 96/­EU des Rates v. 30.11.2011, ABl. Nr. L 345 v. 29.12.2011, S. 8; EuGH v. 1.10.2009, C-247/­08 – Gaz de France, Slg. 2009, I-9225 Rn. 27, 57; v. 12.2.2009, C-138/­07 – Cobelfret, Slg. 2009, I-731 Rn. 29 f.; v. 3.4.2008, C- 27/­07 – Banque Fédérative du Crédit Mutuel, Slg. 2008, I-2067 Rn. 24, 27. Vgl. auch: Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 136. 258  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 136. 259  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­Ditz, DBA, Systematik Rn. 136.

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Die Mutter-Tochter-Richtlinie hat insbesondere zur Anpassung des § 8b KStG beigetragen und das materielle Korrespondenzprinzip auf EU-Ebene eingeführt.260 1.  Grundsatz: Steuerbefreiung gemäß § 8b Abs. 1 S. 1 KStG

Die Vorschrift des § 8b Abs. 1 S. 1 KStG sieht vor, dass die abschließend aufgezählten Bezüge im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1, 2, 9 und 10 lit. a) EStG bei der Ermittlung des Einkommens außer Ansatz bleiben.261 Die Regelung des § 8b Abs. 1 S. 1 KStG enthält somit in sachlicher Hinsicht eine Steuerbefreiung für die aufgeführten Bezüge, bei denen es sich um laufende Erträge aus Beteiligungen an in- oder ausländischen Kapitalgesellschaften handelt.262 Die Steuerbefreiung gilt dabei für In- und Auslandsdividenden gleichermaßen und kann sowohl von unbeschränkt als auch von beschränkt steuerpflichtigen Körperschaftsteuerpflichtigen im Sinne der §§ 1 bis 3 KStG in Anspruch genommen werden.263 Die Steuerfreistellung gemäß § 8b Abs. 1 KStG dient dabei der Vermeidung der wirtschaftlichen sowie juristischen Doppelbesteuerung.264 Gemäß § 8b Abs. 4 KStG ist die Steuerbefreiung nicht anwendbar auf Streubesitzdividenden. Als Rechtsfolge sieht § 8b Abs. 1 S. 1 KStG eine vollständige Steuerfreistellung vor, indem die Bezüge im Einkommen, das die Bemessungsgrundlage für die Anwendung des Tarifsteuersatzes bildet, in vollem Umfang nicht mehr enthalten sind.265 Allerdings enthält § 8b Abs. 5 S. 1 KStG eine Einschränkung dahingehend, dass von den steuerbefreiten Bezügen 5 % als Ausgaben gelten, die nicht als Betriebsausgaben abgezogen werden dürfen (sog. Schachtelstrafe). Ob eine in- oder ausländische körperschaftsteuerliche Vorbelastung bei der ausschüttenden Gesellschaft tatsächlich besteht, ist für die Anwendung des § 8b Abs. 1 KStG unerheblich.266 Eine auf die tatsächliche Vorbelastung abstellende 260  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.71: Neben § 8b KStG sei die Mutter-­Tochter-Richtlinie durch § 43b EStG und § 9 Nr. 7 S. 1 Hs. 2 GewStG in nationales Recht umgesetzt worden. 261  Rengers, in: Blümich, EStG, KStG, GewStG, § 8b KStG Rn. 114. 262  Herlinghaus, in: Rödder/­Herlinghaus/­Neumann, KStG, § 8b Rn. 2. 263  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 18.144 ff.; Gosch, in: Gosch, KStG, § 8b Rn. 11; Rengers, in: Blümich, EStG, KStG, GewStG, § 8b KStG Rn. 100 f.: So finde § 8b Abs. 1 KStG auf der Ebene der Organgesellschaft, bei bestimmten Bezügen von Kredit- und Finanzdienstleistungsinstituten, Finanzunternehmen, Lebens- und Krankenversicherungen und Pensionsfonds sowie bei bestimmten Mitwirkungs- und Aufsichtspflichtverletzungen keine Anwendung. 264  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 18.144 ff. 265  Herlinghaus, in: Rödder/­Herlinghaus/­Neumann, KStG, § 8b Rn. 123. 266  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 18.144  ff.; Rengers, in: Blümich, EStG, KStG, GewStG, § 8b KStG Rn. 112.

§ 9  Einwirkung von Richtlinien auf das Transformationsgesetz

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Systemkorrektur erfolgt allerdings durch das in § 8b Abs. 1 S. 2 KStG verankerte, insbesondere für verdeckte Gewinnausschüttungen geltende Korrespondenzprinzip.267 2.  Erste Ausnahme: § 8b Abs. 1 S. 2 KStG – materielles Korrespondenzprinzip

Die erste Ausnahme zur Steuerbefreiung nach § 8b Abs. 1 S. 1 KStG enthält § 8b Abs. 1 S. 2 KStG, nach dem Satz 1 nur gilt, soweit die Bezüge das Einkommen der leistenden Körperschaft nicht gemindert haben (sog. materielles Korrespondenzprinzip).268 Das sog. formelle Korrespondenzprinzip ist in § 8b Abs. 1 S. 4 KStG geregelt.269 § 8b Abs. 1 S. 2 KStG beruht auf der Umsetzung der geänderten Mutter-Tochter-Richtlinie.270 Gemäß Art. 1 Nr. 1 der Änderungsrichtlinie besteuern der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft und der Mitgliedstaat der Betriebstätte diese Gewinne insoweit nicht, als sie von der Tochtergesellschaft nicht abgezogen werden können, und besteuern diese Gewinne insoweit, als sie von der Tochtergesellschaft abgezogen werden können. Dies soll eine doppelte Nichtbesteuerung verhindern.271 Faktischer Hauptanwendungsbereich von § 8b Abs. 1 S. 2 KStG (sowie auch von § 8b Abs. 1 S. 3 KStG) sind grenzüberschreitende Sachverhalte. Die Beschränkung der früheren Fassung auf Fälle von verdeckten Gewinnausschüttungen der ausländischen Tochtergesellschaft an die inländische Muttergesellschaft gilt nicht mehr.272 Die Vorschrift regelt die Nichtberücksichtigung der betreffenden Bezüge auf der Ebene der leistenden Kapitalgesellschaft.273 Die Sätze 2 bis 4 des § 8b Abs. 1 KStG wurden durch das JStG 2007274 eingeführt. In der bis dahin geltenden Fassung enthielt § 8b Abs. 1 KStG a. F. lediglich zwei Sätze, welche den heutigen Sätzen 1 und 5 entsprechen. Eine allgemeine Korrespondenz der steuerlichen Behandlung auf der Gesellschaftsebene und auf der 267 

Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 18.144 ff. Abs. 1 S. 2 KStG in der Fassung des AmtshilfeRLUmsG v. 26.6.2013 ist erstmals für den Veranlagungszeitraum 2014 anzuwenden. Bei vom Kalenderjahr abweichenden Wirtschaftsjahren sei die Neuregelung erstmals für den Veranlagungszeitraum anzuwenden, in dem das Wirtschaftsjahr endet, das nach dem 31.12.2013 begonnen habe: Gosch, in: Gosch, KStG, § 8b Rn. 83a. 269  Herlinghaus, in: Rödder/­Herlinghaus/­Neumann, KStG, § 8b Rn. 129. 270  Richtlinie 2014/­86/­EU des Rates v. 8.7.2014, ABl. Nr. L 219 v. 25.7.2014, S. 40. 271  Erwägungsgrund 2 der Richtlinie 2014/­86/­EU des Rates v. 8.7.2014, ABl. Nr. L 219 v. 25.7.2014, S. 40. 272  Gosch, in: Gosch, KStG, § 8b Rn. 140; Pung, in: Dötsch/­P ung/­Möhlenbrock, Die Körperschaftsteuer, § 8b KStG Rn. 2; Herlinghaus, in: Rödder/­Herlinghaus/­Neumann, KStG, § 8b Rn. 45. 273  Gosch, in: Gosch, KStG, § 8b Rn. 143a. 274  Jahressteuergesetz 2007 v. 13.12.2006, BGBl. I 2006, S. 2878. 268 § 8b

394

Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Gesellschafterebene wurde vom Gesetzgeber (zunächst) nicht geregelt.275 Dadurch konnte es zu ungerechtfertigten Steuerfreistellungen gemäß § 8b Abs. 1 KStG kommen, falls es tatsächlich an einer steuerlichen Vorbelastung auf der Gesellschaftsebene fehlte.276 Durch die Einfügung der neuen Sätze 2 bis 4 werden die Ebene des Ausschüttungsempfängers und der ausschüttenden Kapitalgesellschaft bei verdeckten Gewinnausschüttungen verknüpft und somit das Entstehen von weißen Einkünften verhindert.277 Zudem wurde das materielle Korrespondenzprinzip auf alle Bezüge im Sinne des § 8b Abs. 1 S. 1 KStG erweitert. Die Steuerfreistellung gemäß § 8b Abs. 1 KStG wird damit versagt, wenn sie bei der leistenden Körperschaft steuermindernd in Erscheinung getreten ist und es infolgedessen an einer konkreten steuerlichen Vorbelastung der freizustellenden Beträge fehlt.278 Fraglich ist, ob § 8b Abs. 1 S. 2, 3 KStG mit dem Verfassungsrecht vereinbar sind. Im Hinblick auf das Leistungsfähigkeitsprinzip sowie das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit ist jedoch problematisch, dass eine steuerliche Vorbelastung nur im Bereich der verdeckten Gewinnausschüttung verlangt wird.279 Bis zur Einführung des materiellen Korrespondenzprinzips in § 8b Abs. 1 S. 2 ff. KStG wurden die Ebene der Körperschaft und diejenige des Gesellschafters getrennt betrachtet und war die Vorbelastung deshalb nicht Tatbestandsmerkmal der Steuerbefreiung, sondern wurde sie nur unter Wahrung des Trennungsprinzips typisierend unterstellt.280 Nunmehr wird dieses Trennungsprinzip aber durch § 8b Abs. 1 S. 2 ff. KStG durchbrochen, weshalb auch insoweit ein Verstoß gegen das objektive Nettoprinzip in seiner Ausprägung der Folgerichtigkeit gesetzgeberischen Handelns angenommen wird.281 3.  Zweite Ausnahme: § 8b Abs. 1 S. 3 KStG

§ 8b Abs. 1 S. 3 KStG enthält die zweite Ausnahme von der Steuerbefreiung nach § 8b Abs. 1 S. 1 KStG. Sind danach die Bezüge im Sinne des Satzes 1 nach einem DBA von der Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer auszunehmen, gilt Satz 2 ungeachtet des Wortlauts des Abkommens für diese Freistellung entsprechend. Danach gelten Satz 2 und damit das materielle 275 

Rengers, in: Blümich, EStG, KStG, GewStG, § 8b KStG Rn. 120. Rengers, in: Blümich, EStG, KStG, GewStG, § 8b KStG Rn. 120. 277  Pung, in: Dötsch/­P ung/­Möhlenbrock, Die Körperschaftsteuer, § 8b KStG Rn. 64; Herlinghaus, in: Rödder/­Herlinghaus/­Neumann, KStG, § 8b Rn. 131. 278  Gosch, in: Gosch, KStG, § 8b Rn. 143a. 279  Herlinghaus, in: Rödder/­ Herlinghaus/­Neumann, KStG, § 8b Rn. 130; Gosch, in: Gosch, KStG, § 8b Rn. 143a. 280  Herlinghaus, in: Rödder/­Herlinghaus/­Neumann, KStG, § 8b Rn. 86. 281  Herlinghaus, in: Rödder/­Herlinghaus/­Neumann, KStG, § 8b Rn. 86. 276 

§ 9  Einwirkung von Richtlinien auf das Transformationsgesetz

395

Korrespondenzprinzip also auch dann, wenn die Bezüge im Sinne des Satzes 1 nach einem DBA von der Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer auszunehmen sind. Der Ausnahmetatbestand des § 8b Abs. 1 S. 3 KStG regelt damit die Freistellung der betroffenen Bezüge bei der ausschüttenden Kapitalgesellschaft aufgrund eines DBA-Schachtelprivilegs.282 Die Folge ist, dass ein DBA-Schachtelprivileg nur dann zu berücksichtigen ist, soweit die Bezüge das Einkommen der leistenden ausländischen Gesellschaft nicht gemindert haben.283 Eine Rückausnahme für DBA-Steuerfreistellungen enthält § 8b Abs. 1 S. 4 KStG. Voraussetzung dafür ist zunächst, dass die Bezüge nach einem DBA von der Besteuerung freigestellt sind. Damit sind insbesondere DBA-Schachtelprivilegien gemeint, wobei dem Wortlaut des § 8b Abs. 1 S. 3 KStG auch sonstige abkommensrechtliche Steuerbefreiungen unterfallen.284 Enthält das konkrete DBA bereits eine der Regelung des § 8b Abs. 1 S. 2 KStG vergleichbare Einschränkung, so muss nicht auf § 8b Abs. 1 S. 3 KStG zurückgegriffen werden, da abkommensrechtlich schon das allgemeine Schachtelprivileg eingeschränkt wird.285 Der Anwendung des § 8b Abs. 1 S. 3 KStG bedarf es auch dann nicht, wenn die Abkommensanwendung durch anderweitige unilaterale Regelungen (beispielsweise § 50d Abs. 9 EStG) eingeschränkt wird oder aber der ausländische Staat den Gewinn aus anderen Gründen steuerfrei belässt.286 4.  Verhältnis von § 8b Abs. 1 KStG und DBA

Neben § 8b Abs. 1 S. 1 KStG enthalten auch DBA ein abkommensrechtliches Schachtelprivileg (Artt. 10 Abs. 2 S. 1, 23A Abs. 2 S. 1 OECD-MA), wonach die Dividenden in der Regel zu 95 % von der Quellensteuer befreit sind. Beide Steuerbefreiungen – sowohl das abkommensrechtliche Schachtelprivileg als auch die Freistellung nach § 8b Abs. 1 S. 1 KStG – sind dabei nebeneinander anwendbar.287

282 

Herlinghaus, in: Rödder/­Herlinghaus/­Neumann, KStG, § 8b Rn. 157. Rengers, in: Blümich, KStG, § 8b Rn. 140. 284  Herlinghaus, in: Rödder/­Herlinghaus/­Neumann, KStG, § 8b Rn. 159. 285  Herlinghaus, in: Rödder/­Herlinghaus/­Neumann, KStG, § 8b Rn. 159. 286  Herlinghaus, in: Rödder/­Herlinghaus/­Neumann, KStG, § 8b Rn. 160 mwN. 287  BFH v. 23.6.2010 – I R 71/­ 09, BStBl. II 2011, S. 129; v. 14.1.2009 – I R 47/­08, BStBl. II 2011, S. 131; v. 22.2.2006 – I R 30/­05, BFH/­N V 06, 1659. Vgl. auch: Schaum­ burg, Internationales Steuerrecht, Rn. 18.144 ff.; Geißer, in: Mössner/­Seeger, KStG, § 8b Rn. 104; Herlinghaus, in: Rödder/­Herlinghaus/­Neumann, KStG, § 8b Rn. 79; Gosch, in: Gosch, § 8b KStG Rn. 40 f. 283 

396

Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Zu beachten ist jedoch, dass der Anwendungsbereich des § 8b Abs. 1 S. 1 KStG weiter ist als der des abkommensrechtlichen Schachtelprivilegs. Während § 8b Abs. 1 S. 1 KStG i. V. m. § 8b Abs. 4 S. 1 KStG für die Steuerbefreiung eine Mindestbeteiligung in Höhe von 10 % voraussetzt, erfordern Artt. 10 Abs. 2 S. 1 lit. a), 23A Abs. 2 S. 1 OECD-MA eine Mindestbeteiligung in Höhe von 25 %.288 Darüber hinaus stehen die abkommensrechtlichen Schachtelprivilegien im Gegensatz zu § 8b Abs. 1 KStG oftmals unter einem Aktivitätsvorbehalt.289 Ist die Muttergesellschaft zu weniger als 25 %, aber zu mehr als 10 % an der Tochtergesellschaft beteiligt, ist nur der Anwendungsbereich des § 8b Abs. 1 KStG eröffnet. Der Vorrang des Anwendungsbereichs des § 8b Abs. 1 KStG ist mittlerweile ausdrücklich in § 8b Abs. 1 S. 3 KStG vorgesehen. Die Mutter-TochterRichtlinie hat den Schachtelprivilegien der innereuropäischen DBA damit mittelbar eine zusätzliche unionsrechtliche Grundlage im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten gegeben und dazu geführt, dass die abkommensrechtlichen Schachtelprivilegien weitgehend bedeutungslos geworden sind.290 Darüber hinaus hat sie aufgrund des Quellensteuerverbot im Staat der Tochtergesellschaft zu einem Leerlauf der entsprechenden Quellensteuerreduzierungen in den DBA geführt.291 § 8b Abs. 1 S. 3 KStG enthalt aufgrund der Formulierung „ungeachtet des Wortlauts des Abkommens“ ein offenes Treaty Override. Hier wird allgemein ein Vorrang der nationalen Regelung vor dem abkommensrechtlichen Schachtelprivileg bejaht, wobei verfassungsrechtliche Bedenken bezüglich dieses Treaty Overrides geäußert werden.292 Zwar enthält § 8b Abs. 1 S. 2 KStG im Gegensatz dazu kein offenes Treaty Override. Dennoch schränkt die Vorschrift die abkommensrechtliche Freistellung ein. Wie bereits dargestellt, gilt der Anwendungsvorrang des Unionsrechts, sodass die umgesetzte Vorschrift des § 8b Abs. 1 S. 2 KStG die DBA-Bestimmungen überschreiben kann, obwohl keine Kenntlichmachung vorliegt. II.  Beidseitiges und einseitiges Treaty Override

Stimmen also – wie bereits dargestellt – die umgesetzten Vorgaben der Richtlinie nicht mit dem bereits transformierten DBA überein, liegt ein Treaty Over-

288  Vgl. auch: Geißer, in: Mössner/­Seeger, KStG, § 8b Rn. 104; Rengers, in: Blümich, EStG, KStG, GewStG, § 8b KStG Rn. 113. 289  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 18.144 ff. Siehe dazu § 6 F. II. 290  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 274c. 291  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 274c. 292  Geißer, in: Mössner/­Seeger, KStG, § 8b Rn. 104.

§ 9  Einwirkung von Richtlinien auf das Transformationsgesetz

397

ride vor.293 Sind beide DBA-Vertragsstaaten Mitgliedstaaten der EU, sind auch beide DBA-Vertragsstaaten von der Richtlinie betroffen. Setzen diese beiden Staaten die Richtlinie in der Art und Weise um, dass das nationale Recht inhaltlich mit dem transformierten DBA kollidiert, liegt in beiden Staaten jeweils ein Treaty Override vor. Ein solches Treaty Override kann aber auch nur einseitig bestehen. Dies ist zum einen der Fall, wenn einer der beiden Mitgliedstaaten die Richtlinie inhaltsgleich zum bereits bestehenden transformierten DBA umsetzt, sodass es in diesem Staat nicht zu einem Treaty Override kommt. Zum anderen liegt ein einseitiges Treaty Override vor, wenn nur ein DBA-Vertragsstaat von der Richtlinienbestimmung, die das transformierte Abkommensrecht überschreibt, betroffen ist. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn es sich um ein DBA mit einem Drittstaat handelt, für den die Richtlinien nicht gelten. Hierbei ist wiederum zu unterscheiden, ob es sich bei den betroffenen Mitgliedstaaten um Staaten handelt, in denen das monistische System gilt oder um Staaten, bei denen das dualistische System gilt. Denn im erstgenannten Fall kann ein Treaty Override von vornherein nicht entstehen. III.  Rechtsfolge der Verdrängung der DBA

Die im Bereich der direkten Steuern auf der Grundlage des Art. 115 AEUV erlassenen Richtlinien können unmittelbaren oder nur mittelbaren Abkommensbezug haben.294 Wie bereits dargestellt, gibt es verschiedene Konstellationen, in denen eine später erlassene Richtlinie bzw. deren Umsetzung in das innerstaatliche Recht die DBA-Regelungen verdrängen. Diese Verdrängung des DBA kann dabei aber immer nur mittelbar erfolgen. Eine solche mittelbare Einwirkung von Richtlinien auf DBA liegt dann vor, wenn Richtlinien zur Änderung von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts führen, an die DBA anknüpfen.295 In diesem Fall wird die direkte Anwendung der DBA mittels der nationalen Vorschriften geändert bzw. unter Umständen gesperrt. Die Richtlinien wirken somit im Ergebnis über den Umweg des nationalen Rechts auf die DBA ein. Im Vergleich dazu hätten Richtlinien eine unmittelbare Einwirkung auf DBA, wenn sie direkt auf Regelungen eines DBA Bezug nehmen und für

293 

Zu Treaty Overrides siehe § 8 C. Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 274a. 295 Dazu: Lehner, in: Vogel/­ Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 274c; ders., in: Birk, Handbuch des Europäischen Steuer- und Abgabenrechts, § 31 Rn. 67; Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 824. 294 

398

Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

diese Regelungen Änderungen oder Ergänzungen vorschreiben würden.296 Solche Richtlinien wurden bisher jedoch nicht erlassen.

§ 10  Vermeidung von Kollisionen mittels konkludenter Änderung von DBA Das Ergebnis der Untersuchungen zeigt, dass DBA in verschiedenen Fällen von Richtlinien verdrängt werden. Ob diese Verdrängung ohne weiteres zulässig ist, wird im Folgenden untersucht. In den bisher dargestellten Fällen lag entweder von vornherein keine Kollision vor, da die Regelungen inhaltsgleich waren oder aber eine solche kam aufgrund sich widersprechender Regelung zustande. Insofern stellt sich die Frage, ob es Möglichkeiten gibt, mit denen eine solche Kollision in jedem Fall von vornherein vermieden werden könnte. Zu dieser Frage wird vereinzelt vertreten, dass eine solche Kollision von vornherein dann nicht bestünde, wenn sich durch die Richtlinie oder deren Umsetzung in das innerstaatliche Recht gleichzeitig und inhaltsgleich das völkerrechtliche DBA materiell geändert hätte.297 In Betracht hierfür käme eine konkludente Änderung des DBA. Eine solche konkludente Änderung von DBA hätte zur Folge, dass insoweit keine Kollision mit der Richtlinie mehr bestehen würde, da die DBA-Regelungen automatisch bzw. konkludent an die Richtlinienbestimmungen angepasst würden. Bei Vorliegen von beidseitigen Treaty Overrides müsste sich die konkludente Änderung dementsprechend auch auf beide Seiten beziehen. Liegt hingegen nur auf einer Seite ein Treaty Override vor, dann würde dies zu einer einseitigen konkludenten Änderung des DBA führen. Es wäre daher für den konkreten Einzelfall zu untersuchen, ob und ggf. in welchem Staat ein Treaty Override vorliegt. Anhand dieser Darstellungen wird deutlich, welche weitreichenden Folgen eine konkludente Änderung von DBA haben würde und sich im Vergleich zur vorliegenden Arbeit teilweise entgegengesetzte Rechtsfolgen ergeben würden. Diese Möglichkeit einer solchen konkludenten Änderung von DBA soll daher im Folgenden näher untersucht werden. Diesbezüglich kommen verschiedene 296  Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 274b; ders., in: Birk, Handbuch des Europäischen Steuer- und Abgabenrechts, § 31 Rn. 67; Kofler, Doppelbesteuerungsabkommen und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 824. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn die Richtlinie die Aussage des DBA modifizieren oder dazu führen würde, dass Verteilungsnormen aufgrund von Änderungen des innerstaatlichen Rechts leerlaufen. 297  Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 119.

§ 10  Vermeidung von Kollisionen mittels konkludenter Änderung von DBA

399

Ansätze bzw. Wege in Betracht, deren Begründungen im Folgenden zusammenfassend dargestellt und diskutiert werden. I.  Konkludente Änderung aufgrund von Art. 288 Abs. 3 AEUV

Bereits in der Umsetzungsverpflichtung nach Art. 288 Abs. 3 AEUV sei eine – im bilateralen Verhältnis der DBA-Vertragspartner zueinander – das DBA ändernde Wirkung enthalten.298 Darüber hinaus könne im Abschluss des EG-Vertrags bzw. im Beitritt zur EU – und der damit verbundenen Änderung der Altabkommen zwischen den Mitgliedstaaten mit Wirkung für die Zukunft – eine latente, vorweggenommene Änderung derjenigen Altabkommen liegen, welche dem Inhalt des späteren Sekundärrechts widersprechen. Insofern müssten sich die betroffenen DBA zwischen den Mitgliedstaaten mit Wirkung für die Zukunft von selbst konkludent ändern und nicht nur von der Richtlinie überschrieben werden.299 Diese Ansätze bzw. Begründungen sind aber aus verschiedenen Gründen nicht vertretbar. 1.  Umsetzungsverpflichtung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV

Die Umsetzungsverpflichtung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV betrifft zunächst nur Richtlinien, nicht aber DBA. So überlässt Art. 288 Abs. 3 AEUV den Mitgliedstaaten lediglich die Wahl der Form und der Mittel, legt darüber hinaus aber nicht fest, dass dadurch DBA geändert werden müssten. Selbst wenn Art. 4 Abs. 3 EUV hinzugezogen wird, aus der sich die Umsetzungsverpflichtung genauso ergibt, ändert sich daran nichts, denn auch diese Vorschrift enthält keine Aussage zu DBA. Nicht nachvollziehbar ist auch das Argument, dass sich aus dem bilateralen Verhältnis der Vertragspartner des DBA eine ändernde Wirkung ergeben solle. Denn es bestehen zahlreiche DBA zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat. Da dieser von einer auf EU-Ebene erlassenen Richtlinie schon nicht betroffen ist, ist nicht ersichtlich, warum er von einer ändernden Wirkung betroffen sein sollte. Folglich müssten DBA unterschiedlich behandelt werden, abhängig davon, ob an ihnen ein Drittstaat beteiligt ist oder nicht. Dies würde zu Rechtsunsicherheiten führen, insbesondere, weil sich das DBA als völkerrechtlicher Vertrag an sich nicht ändern würde. Es würden sich vielmehr nur die Regelungen ändern, ohne festgeschrieben zu werden. Für den Steuerpflichtigen ist eine solche Änderung weder erkennbar noch greifbar. Die Vorschrift des Art. 288 Abs. 3 AEUV enthält zudem weder eine Regelung zum Verhältnis von Richtlinien und DBA noch von Richtlinien und inner298  299 

Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 119. Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 119, 121.

400

Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

staatlichem Recht. Eine konkludente Änderung würde hingegen ein Rangverhältnis dahingehend festlegen, dass Richtlinien stets den DBA vorgehen und diese verdrängen. Dass dieses Ergebnis nicht in jeder Konstellation zutrifft, sondern teilweise auch DBA vorgehen, wurde bereits dargestellt. Eine konkludente Änderung von DBA würde gleichzeitig bedeuten, dass sich auch das bereits transformierte nationale Recht konkludent ändern würde. Denn andernfalls würde dieses nicht mehr mit den DBA-Regelungen übereinstimmen. Eine solche Ausdehnung mittels der Vorschrift des Art. 288 Abs. 3 AEUV würde die Souveränität der Staaten grundlegend missachten, denn es sind die Mitgliedstaaten, die das Verhältnis zwischen DBA und nationalem Recht selbst regeln können. Auch sind es die Mitgliedstaaten, die entscheiden, ob und wann ein DBA transformiert wird oder nicht. Entscheidende Auswirkungen hätte eine konkludente Änderung auch auf die Mitgliedstaaten, in denen das monistische System gilt. Denn dieses System sieht typischerweise den Vorrang des Völkerrechts vor dem nationalen Recht vor. Sollte sich ein DBA konkludent ändern, würde sich dadurch automatisch auch das nationale Recht ändern, da im monistischen System keine Transformation erfolgt. Die EU könnte somit mittels einer Richtlinie über den Umweg der Änderung von DBA unmittelbar das nationale Recht ändern. Wie bereits dargestellt, kommt Richtlinien eine solche unmittelbare Einwirkung auf DBA jedoch nicht zu und würde auch zu weit gehen. Zwar wäre der jeweils betroffene Mitgliedstaat aufgrund der erforderlichen Einstimmigkeit für den Erlass von Richtlinien mittelbar an der Änderung seines nationalen Rechts beteiligt. Daraus kann aber nicht generell geschlossen werden, dass er zugleich mit einer unmittelbaren Einwirkung auf das nationale Recht einverstanden ist. 2.  Abschluss des EG-Vertrags bzw. Beitritt zur EU

Darüber hinaus kann auch im Abschluss des EG-Vertrags bzw. im Beitritt zur EU keine konkludente Änderung der Altabkommen liegen. Eine solche konkludente Änderung wird vorliegend mit der die völkerrechtlichen Altabkommen ändernden Wirkung des Vertrags begründet. Dies stimmt zwar insofern, als die Grundfreiheiten den betroffenen Mitgliedstaat zum Bruch des Völkervertragsrechts zwingen, wenn dieser entgegen seinen unionsrechtlichen Bindungen eine den Grundfreiheiten widersprechende Bestimmung im DBA vereinbart haben sollte.300 Die Pflicht zur Beachtung der Grundfreiheiten gilt auch für Altabkommen. Allerdings kann in diesem Zusammenhang nicht von einer Änderung der Altabkommen durch den (EG-)Vertrag gesprochen werden. Denn der EG-­ 300  Oellerich, in: Schaumburg/­ Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.155 f.: Den Mitgliedstaaten sei es untersagt, durch Abschluss völkerrechtlicher Verträge gegen den Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten zu verstoßen.

§ 10  Vermeidung von Kollisionen mittels konkludenter Änderung von DBA

401

Vertrag bzw. der Beitritt zur EU begründet zwar die Geltung des Unionsrechts für den Mitgliedstaat. Dies bedeutet aber nicht gleichzeitig, dass DBA im Sinne einer Richtlinie geändert werden. Der EG-Vertrag bzw. der Beitritt zur EU führen lediglich dazu, dass die Vorgaben des Unionsrechts eingehalten werden. Ob das mittels einer Änderung des betroffenen DBA erfolgt, liegt beim Mitgliedstaat. Dieser hat hierbei die Möglichkeit, die Altabkommen zu ändern und somit den Widerspruch zu den Grundfreiheiten zu beseitigen, was allerdings Verhandlungen mit dem anderen Vertragspartner bzw. dessen Einverständnis erfordert. Denn es handelt sich unabhängig vom Unionsrechts weiterhin um einen Vertrag, der nicht einseitig geändert werden kann. Der EG-Vertrag kann hingegen keine Änderung der DBA bewirken. Von der Verpflichtung zum Vertragsbruch sind zudem nur die DBA betroffen, die vor dem Beitritt zur EU geschlossen wurden. Eine generelle, die DBA ändernde Wirkung würde hingegen sämtliche DBA umfassen, also auch diejenigen, die während der EU-Mitgliedschaft geschlossen wurden. Unklar ist auch, wie solch eine ändernde Wirkung des EG-Vertrags bei DBA mit Drittstaaten begründet werden könnte. Denn für Altabkommen mit Drittstaaten enthält Art. 351 AEUV eine ausdrückliche Regelung, dessen Rechtsgedanke heranzuziehen ist. Bei den Altabkommen im Sinne des Art. 351 Abs. 1 AEUV handelt es sich um solche, die vor dem 1.1.1958 oder, im Falle später beigetretener Staaten, vor dem Zeitpunkt ihres Beitritts zwischen einem oder mehreren Mitgliedstaaten einerseits und einem oder mehreren dritten Ländern andererseits geschlossen wurden. Die Rechte und Pflichten aus diesen Übereinkünften werden gemäß Art. 351 Abs. 1 AEUV durch die Verträge nicht berührt. Das bedeutet, dass insbesondere die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus vorunionsrechtlichen Abkommen mit Drittstaaten zum Schutz der Drittstaaten den unionsrechtlichen Verpflichtungen des Mitgliedstaats vorgehen.301 Art. 351 Abs. 1 AEUV enthält daher keine Aussagen über eine mögliche konkludente Änderung von DBA. Im Gegenteil schreibt er sogar den Vorrang von abkommensrechtlichen Rechten und Pflichten vor den Verträgen vor. Der Vorrang besteht allerdings nur übergangsweise, da Art. 351 Abs. 2 AEUV vorschreibt, dass die betreffenden Mitgliedstaaten alle geeigneten Mittel anwenden, um die festgestellten Unvereinbarkeiten zu beheben, soweit diese Übereinkünfte mit den Verträgen nicht vereinbar sind. Eine Möglichkeit wäre hier die Anpassung des betroffenen DBA.302 Es stellt sich diesbezüglich zudem die Frage, ob Richtlinien unter den Begriff der „Verträge“ fallen. Nach der Legaldefinition des Art. 1 Abs. 3 EUV gehören zu den Verträgen der EUV sowie der AEUV. Bei den Richtlinien handelt es sich hingegen um Sekundärrecht, also um abgeleitetes 301  302 

Takacs, Das Steuerrecht der EU, S. 496. Takacs, Das Steuerrecht der EU, S. 496.

402

Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Recht, welches gerade nicht zu den Verträgen im Sinne des Art. 1 Abs. 3 EUV gehört. Auch hinsichtlich der DBA mit Drittstaaten, die zwar nach Abschluss des EG-Vertrags bzw. nach dem Beitritt zur EU abgeschlossen wurden, ist eine konkludente Änderung von DBA nicht erforderlich. Denn in diesen Fällen hat der Mitgliedstaat ohnehin gemäß Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 Alt. 2 EUV Verstöße gegen das Unionsrecht zu vermeiden.303 Schließt der Mitgliedstaat entgegen dieser Verpflichtung ein DBA mit einem Drittstaat ab, wird zwar die völkerrechtliche Verbindlichkeit des DBA nicht berührt.304 Der mitgliedstaatliche Gesetzgeber ist allerdings gehindert, den Vertrag in nationales Recht zu transformieren. Verstößt er hiergegen, ist es ihm untersagt, den nationalen Transformationsakt anzuwenden.305 Der Drittstaat ist insofern bereits ausreichend geschützt, sodass es einer konkludenten Änderung von DBA nicht bedarf. Im Ergebnis ist Art. 351 AEUV nicht geeignet, eine konkludente Änderung von DBA mit Drittstaaten zu begründen. Darüber hinaus würde eine konkludente Änderung der DBA das Verhältnis von EU-Recht und sonstigem Völkerrecht missachten. Dies gilt insbesondere in den Staaten, in denen das monistische System gilt und die den Vorrang des Unionsrechts nicht ohne weiteres anerkennen. In Einzelfällen ist den Mitgliedstaaten daran gelegen, den Wortlaut der DBA unangetastet zu lassen, um etwaige Auslegungs- oder Anwendungslücken der Richtlinien nicht auch auf die DBA zu übertragen. Nicht nur, dass eine ständige Änderung einen wesentlichen Verwaltungsaufwand für die Mitgliedstaaten bedeuten würde, sie wären bei einer nachträglichen Rückänderung einer kollidierenden Richtlinie unter Umständen gezwungen, das DBA wiederum zu ändern. Zuletzt bestehen auch aus wertungstechnischen Gründen keine Bedenken, die DBA ihrem Wortlaut und ihrer Wirkung nach unverändert zu lassen und lediglich durch die Umsetzung der Richtlinie partiell zu überschreiben. Hierdurch entsteht den Mitgliedstaaten kein Nachteil. Einzig die Gefahr der Rechtsunsicherheit ist gegeben, wenn es mehrere Richtlinien gibt, die die Regelungen eines DBA an verschiedenen Stellen überschreiben. Dies ist jedoch hinzunehmen. So existieren bereits diverse nationale Regelungen, die im Wege des Treaty Override DBA an verschiedenen Stellen durchbrechen. Dies ist verfassungsrechtlich unproblematisch. Demgemäß hat der Rechtsanwender ohnehin das nationale Recht im Auge zu behalten.

303 

Der AEUV enthält hierzu keine besonderen Bestimmungen. Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.160. 305  Oellerich, in: Schaumburg/­Englisch, Europäisches Steuerrecht, Rn. 8.160. 304 

§ 10  Vermeidung von Kollisionen mittels konkludenter Änderung von DBA

403

II.  Konkludente Änderung aufgrund von Art. 39 WÜRV

Ein weiterer Ansatz zur konkludenten Änderung von DBA könnte nach der untersuchten Ansicht durch Art. 39 WÜRV begründet sein. So könnte in der Umsetzung der Richtlinie durch beide Vertragsstaaten eine nachträgliche Änderung des DBA entsprechend Art. 39 WÜRV liegen.306 Art. 39 WÜRV sieht dabei vor, dass ein Vertrag durch Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien geändert werden kann (Satz 1). Gemäß Art. 39 Satz 2 WÜRV findet Teil II auf eine solche Übereinkunft insoweit Anwendung, als der Vertrag nichts Anderes vorsieht. Diese Vorschrift sagt zunächst nichts darüber aus, in welcher Form die Änderung der Verträge zu erfolgen hat. Zwar verweist Art 39 S. 2 WÜRV auf Teil II der WÜRV, aber auch dieser enthält keine Bestimmungen darüber, in welcher Form eine Übereinkunft geschlossen werden muss. Lediglich nach der Legaldefinition in Art. 2 Abs. 1 lit. A) WÜRV bedeutet „Vertrag“ „eine in Schriftform geschlossene und vom Völkerrecht bestimmte internationale Übereinkunft zwischen Staaten, gleichviel ob sie in einer oder in mehreren zusammengehörigen Urkunden enthalten ist und welche besondere Bezeichnung sie hat“. Nach dem actus-contrarius-Grundsatz könnte dies bedeuten, dass auch eine Vertragsänderung schriftlich geschlossen werden muss. Da es sich bei einer konkludenten Änderung von DBA jedenfalls nicht um eine schriftliche Änderung handeln würde, ist ein Vergleich mit mündlich bzw. formlos abgeschlossenen Verträgen vorzunehmen. Wurde ein Vertrag lediglich mündlich bzw. formlos abgeschlossen, kann es sich gleichwohl um einen völkerrechtlichen Vertrag handeln;307 nur finden auf ihn die Regeln der WÜRV nur insoweit Anwendung, als sie Völkergewohnheitsrecht widerspiegeln.308 Gleiches muss nach dem actus-contrarius-Grundsatz auch für die Änderung dieser mündlichen Verträge gelten. Das Völkergewohnheitsrecht umfasst dabei die Summe der Verhaltensregeln, die von Völkerrechtssubjekten in ihrem Verkehr untereinander angewendet worden sind (Praxiselement) und bezüglich deren Rechtsgültigkeit eine allgemeine Rechtsüberzeugung besteht (Rechtsüberzeugungselement).309 Auch Art. 38 Abs. 1 lit. B) IGH-Statut erkennt das internationale Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten 306 

Scherer, Doppelbesteuerung und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 119. Schweitzer/­Weber, Handbuch der Völkerrechtspraxis der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 19: Die in Art. 2 Abs. 1 lit. A) WÜRV vorgeschriebene Schriftform sei nicht zwingende Voraussetzung. 308  Vitzthum, in: Vitzthum/­Proelß, Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 115; Stein/­von Buttlar/­ Kotzur, Völkerrecht, § 4 Rn. 35. 309  Vitzthum, in: Vitzthum/­ Proelß, Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 131: Zwei-Elemente-Lehre bzw. dualistische Theorie des Gewohnheitsrechts. 307 

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Übung, an. Objektiv ist dies die wiederholte, gefestigte oder regelmäßige, einheitliche Übung seitens relevanter Subjekte und Organe, subjektiv die Überzeugung, zu diesem Verhalten von Völkerrechts wegen verpflichtet zu sein.310 Beim Völkergewohnheitsrecht handelt es sich um eine von den Verträgen zu unterscheidende Rechtsquelle. Soweit also Art. 39 WÜRV die Änderung von Verträgen vorsieht, spiegelt dies nicht Völkergewohnheitsrecht wider, sodass folglich die WÜRV nicht anwendbar ist, sofern es sich nicht um einen schriftlichen Vertrag handelt. Art. 39 WÜRV ist somit bereits auf eine eventuell mögliche konkludente Änderung von DBA nicht anwendbar. Zudem enthalten auch DBA selbst keine abweichenden Bestimmungen, sodass dieselben Grundsätze gelten, wie auch für den Vertragsabschluss. Die Änderung eines völkerrechtlichen Vertrages setzt also wiederum einen völkerrechtlichen Vertrag voraus.311 Dem entspricht auch Art. 3 WÜRV, der ausdrücklich vorschreibt, dass das WÜRV keine Anwendung auf nicht schriftliche internationale Übereinkünfte findet. Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 3 lit. a) WÜRV. Danach wird die rechtliche Gültigkeit dieser Übereinkünfte festgestellt. Diese Regelung begründet allerdings nicht die Anwendbarkeit der WÜRV auf nicht schriftliche internationale Übereinkünfte. Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 3 lit. b) WÜRV. Danach wird die Anwendung einer der in diesem Übereinkommen niedergelegten Regeln auf sie nicht berührt, denen sie auch unabhängig von diesem Übereinkommen auf Grund des Völkerrechts unterworfen wären. Eine solche Regel ist vorliegend nicht ersichtlich. Selbst wenn man von der Anwendbarkeit des WÜRV ausgeht, überzeugen die Begründungen auch aus anderen Gründen nicht. Insofern ist zu beachten, dass die Regeln der WÜRV unmittelbar nur für die Vertragsstaaten gelten.312 Bisher haben 114 Staaten das WÜRV unterzeichnet und ratifiziert. Hierbei fehlen allerdings mehrere Staaten, beispielsweise Frankreich und Rumänien sowie die Vereinigten Staaten von Amerika, die den Vertrag zwar unterzeichnet, nicht aber ratifiziert haben. Diese Staaten gelten nach der Definition in Art. 2 Abs. 1 lit. h) WÜRV somit als Drittstaaten. Auf diese findet die WÜRV nur Anwendung, soweit sie Gewohnheitsrecht kodifiziert hat oder mittlerweile in Gewohnheitsrecht erwachsen ist.313 DBA als völkerrechtliche Verträge gehören nicht hierzu. In der Folge würde dies bedeuten, dass lediglich solche DBA konkludent geändert werden könnten, deren Vertragspartner zugleich Vertragsstaat

310  Vitzthum, in: Vitzthum/­P roelß, Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 131: opinio iuris sive necessitatis. 311  Stein/­von Buttlar/­Kotzur, Völkerrecht, § 8 Rn. 87. 312  Vitzthum, in: Vitzthum/­P roelß, Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 115. 313  Vitzthum, in: Vitzthum/­P roelß, Völkerrecht, 1. Abschnitt Rn. 115.

§ 10  Vermeidung von Kollisionen mittels konkludenter Änderung von DBA

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der WÜRV sind. Dies würde zu einer lückenhaften Änderung von DBA und damit zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit führen. Die Begründungen überzeugen auch insofern nicht, als das WÜRV gemäß Art. 4 WÜRV nur auf Verträge Anwendung findet, die von Staaten geschlossen werden, nachdem das Übereinkommen für sie in Kraft getreten ist. Da das Übereinkommen selbst erst am 27.1.1980 in Kraft getreten ist, ist es für alle Staaten frühestens ab diesem Zeitpunkt anwendbar. Das Übereinkommen erfasst folglich nur diejenigen DBA, die nach diesem Zeitpunkt geschlossen wurden. Sind die betroffenen Staaten dem Übereinkommen erst später beigetreten, sind somit auch nur die DBA betroffen, die nach dem Beitritt geschlossen wurden. In Deutschland ist das WÜRV am 20.8.1987 in Kraft getreten.314 Das WÜRV gilt somit nur für alle nach diesem Zeitpunkt abgeschlossenen deutschen DBA. Erhebliche Schwierigkeiten ergeben sich zudem, wenn das WÜRV in den DBA-Vertragsstaaten zu verschiedenen Zeitpunkten oder gar nicht in Kraft getreten ist. In diesem Fall würde das WÜRV möglicherweise nur für einen der DBA-Vertragsstaaten gelten, was zu unüberschaubaren Ergebnissen führen würde. Denn eine konkludente Änderung von DBA wäre dann nur in dem Staat mittels der Regeln der WÜRV begründbar, in dem dieses Übereinkommen auch tatsächlich gilt. Im anderen Staat könnte das WÜRV nicht herangezogen werden, sodass eine konkludente Änderung keine Grundlage hätte. Auch in zeitlicher Hinsicht wäre eine konkludente Änderung von DBA somit lückenhaft und überzeugt im Ergebnis nicht. III.  Weitere Argumente gegen eine konkludente Änderung von DBA

Neben den Argumenten, die sich konkret auf die genannten Begründungsansätze beziehen, sprechen weitere Gründe gegen die Annahme einer konkludenten Änderung von DBA. Zunächst würde sich das betroffene DBA bei jeder Änderung der Richtlinie erneut konkludent ändern. Da das DBA auf diese Weise mehrfachen Änderungen unterliegen kann, würden die DBA-Regelungen in den geänderten Bereichen vollkommen unüberschaubar und damit so gut wie zwecklos werden. Denkbar ist in diesem Zusammenhang auch, dass mehrere steuerrechtliche Richtlinien in verschiedenen Bereichen auf das DBA einwirken und dieses somit durch verschiedene Richtlinien konkludent geändert wird. Das würde bedeuten, dass das DBA „zerrissen“ und die Regelungen derart unüberschaubar geändert würden, dass eine Anwendung erheblich erschwert wäre. Denn neben dem DBA müssen auch stets alle einwirkenden Richtlinien sowie deren Ände314 Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge v. 26.10.1987, BGBl. II 1987, S. 757.

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

rungen herangezogen werden. Wird die Richtlinie hingegen ihrerseits später wieder aufgehoben, müsste das DBA in der Folge wieder in seiner ursprünglichen – vor der konkludenten Änderung geltenden – Fassung wiederaufleben. Dies gilt auch für den Fall, dass eine Richtlinienbestimmung nachträglich derart geändert wird, dass sie nicht mehr im Widerspruch zum DBA steht. Eine solche Rückänderung wäre allerdings kompliziert, da sich das DBA in der Zwischenzeit unter Umständen schon mehrfach konkludent geändert hätte. Auch würde eine solche Rückänderung nur die von der aufgehobenen Richtlinie betroffenen Bereiche betreffen. Die anderen Bereiche, in die möglicherweise andere steuerrechtliche Richtlinien einwirken, würden aufgrund dieser Richtlinien weiterhin konkludent geändert bleiben. Zwar würde eine konkludente Änderung von DBA dazu führen, dass die Kollisionsauflösungsregeln sowie die verschiedenen Abgrenzungen, in welchem Fall die Richtlinienbestimmungen die DBA-Regelungen verdrängen, nicht mehr erforderlich wären, sodass die Abgrenzungsschwierigkeiten verhindert würden. Allerdings hätte eine konkludente Änderung von DBA auch zur Folge, dass sich ein ursprünglich „richtiges“ DBA ändern würde, selbst in den Fällen, in denen die Richtlinie Lücken aufweist, fehlerhaft ist oder entscheidende Umstände nicht bedacht worden sind. Im konkreten Fall würde somit eine nicht ordnungsgemäß erlassene oder fehlerhafte Richtlinie dazu führen, dass auch das betroffene DBA fehlerhaft werden würde. Dass diese Folge nicht gewünscht sein kann, liegt auf der Hand. Darüber hinaus müsste das geänderte DBA erneut in nationales Recht transformiert werden, obwohl dies weniger schlimm wäre, da das nationale Recht ohnehin regelmäßig den Vorgaben der Richtlinie entspricht. Entscheidende Auswirkungen hätte eine konkludente Änderung allerdings auf DBA zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat. Denn insofern ist nicht ersichtlich, warum der Drittstaat als von der Richtlinie nicht betroffener Staat die Änderung des abgeschlossenen DBA hinnehmen sollte. Zwar könnte insofern an eine einseitige konkludente Änderung von DBA dahingehend angenommen werden, dass sie nur für den Mitgliedstaat gilt. Dem kann allerdings nicht gefolgt werden. Das DBA ist noch immer ein völkerrechtlicher Vertrag. Ändert sich dieser, muss das für beide Vertragspartner gelten, da andernfalls eine Ungleichbehandlung entstehen würde. DBA mit Drittstaaten könnten aber auch nicht aus dem Bereich der konkludenten Wirkung ausgenommen werden, da zumindest ein von der Richtlinie betroffener Mitgliedstaat beteiligt ist. Zudem würde das eine Ungleichbehandlung verschiedener DBA bedeuten, abhängig davon, ob ein Drittstaat beteiligt ist oder nicht. Problematisch ist ferner, dass die bereits dargestellten Fälle, in denen die DBA-Regelungen von den Richtlinienbestimmungen gerade nicht verdrängt

§ 10  Vermeidung von Kollisionen mittels konkludenter Änderung von DBA

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werden, hinfällig werden würden. Stattdessen würde das DBA in jeglichen Konstellationen von den Richtlinienbestimmungen verdrängt. Betroffen davon wäre insbesondere das Günstigkeitsprinzip, welches folglich leerlaufen würde. Der Steuerpflichtige müsste also immer die Richtlinienbestimmung hinnehmen, unabhängig davon, ob sie für ihn günstiger als die DBA-Regelungen ist oder nicht. Für ihn wäre eine solche Änderung somit in den Bereichen nachteilig, in denen das DBA günstiger ist. Für die Bereiche, in denen die Richtlinienbestimmungen ohnehin günstiger sind, ergibt sich keine Änderung. Zudem würden die Eigenständigkeit des DBA als völkerrechtlicher Vertrag sowie die Souveränität der Mitgliedstaaten, solche DBA abzuschließen, jedenfalls in den von der Richtlinie betroffenen Bereichen vollständig missachtet. Denn die Mitgliedstaaten können eigenständig entscheiden, ob und mit welchem Staat sie ein DBA abschließen oder nicht. Zudem muss – zumindest in Staaten mit dualistischem System – der Gesetzgeber das DBA in das nationale Recht transformieren. Dies gilt auch bei der Änderung von DBA. Für die erneute Einschaltung des Gesetzgebers bei Änderungsverträgen spricht die umfassende Kontrolle der gesetzgebenden Körperschaften, damit nicht zustimmungsfreie Teile, die wesentlicher Grund für die politische Billigung des Parlaments sind, entzogen werden.315 Eine konkludente Änderung würde hingegen bedeuten, dass der nationale Gesetzgeber und insbesondere auch das Gesetzgebungsverfahren umgangen würden. Eine Änderung des nationalen Gesetzes wäre aber erforderlich, da es sonst nicht mit den geänderten DBA-Regelungen übereinstimmen würde. Wird das geänderte DBA aber nicht in das nationale Recht transformiert, kann es damit an sich auch keine Wirkungen entfalten. Der Steuerpflichtige könnte sich nicht auf die DBA-Regelungen berufen. Erforderlich wäre deswegen die Transformation des geänderten DBA in das nationale Recht. Unklar ist in diesem Zusammenhang aber, ob der nationale Gesetzgeber gezwungen werden kann, ein entsprechendes Transformationsgesetz zu erlassen. Denn das geänderte DBA wurde nicht von ihm und seinem Vertragspartner individuell verhandelt, sondern es ist die Richtlinie, die dem DBA den geänderten Inhalt aufzwingt. Ein unbedingter Willen der Vertragsstaaten zur Änderung von DBA kann der Richtlinie jedenfalls nicht entnommen werden. Würde sich der nationale Gesetzgeber nun weigern, das geänderte DBA zu transformieren, könnte es in den Staaten, in denen das dualistische System gilt, keine Wirkungen entfalten. Eine konkludente Änderung wäre damit sinnlos. Im Ergebnis ist eine Richtlinie daher nicht geeignet, eine konkludente Änderung von DBA zu begründen. Die im Kollisionsfall geltenden Regelungen sind hinreichend, um den Vorrang im konkreten Einzelfall zu regeln. 315  Schweitzer/­Weber, Handbuch der Völkerrechtspraxis, Rn. 149: Die Vertragspraxis der Bundesregierung folge dieser Auffassung.

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

§ 11  Multilaterales Abkommen Die Europäische Kommission hatte bereits im Jahr 1968 ein multilaterales Abkommen zwischen allen Mitgliedstaaten vorgeschlagen, das allerdings nie in Kraft getreten ist.316 Zudem konnte im Rahmen eines Forschungsprojektes bereits 1997 gezeigt werden, dass sich das bestehende OECD-MA ohne Schwierigkeiten zu einem multilateralen Steuerabkommen umgestalten lässt.317 Die OECD hat sich stattdessen für eine Weiterentwicklung auf der Grundlage des BEPS-Aktionsplans entschieden und hat – als Präzedenzfall – am 24.11.2016 das MLI veröffentlicht.318 Das MLI beruht auf dem BEPS-Aktionspunkt 15319 und soll verschiedene BEPS-Maßnahmen – namentlich die BEPS-Aktionspunkte 2, 6, 7 und 14 – in die bestehenden DBA sowie in das OECD-MA implementieren und diese damit ergänzen.320 Auf diese Weise soll vermieden werden, dass jedes einzelne DBA in diesen Punkten neu verhandelt und angepasst werden muss.321 Eine Aktualisierung der vorhandenen bilateralen DBA wäre schon aufgrund ihrer Vielzahl äußerst mühsam, sodass selbst eine einvernehmliche Änderung an einem Musterabkommen viel Zeit und Ressourcen in Anspruch nehmen würde.322 So ließen sich durch das MLI kurz- und mittelfristig bis zu 2.000 DBA weltweit ändern, wobei zunächst 32 der deutschen DBA vom MLI erfasst werden.323 Aufgrund der einheitlichen Bestimmungen soll eine größtmögliche Transparenz und Eindeutigkeit für alle Beteiligten gewährleistet wer316 

Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 256d; EWG (1968b). Lang, IStR 2013, 365 (369 f.): Dies liege auch an der verhältnismäßig geringen Zahl von Vorbehalten, die EU-Mitgliedstaaten gegenüber dem OECD-Musterabkommen abgegeben haben. 318  http:/­/­w ww.oecd.org/­t ax/­t reaties/­multilateral-convention-to-implement-tax-treatyrelated-measures-to-prevent-BEPS.pdf. Die deutsche Übersetzung lautet: „Mehrseitiges Übereinkommen zur Umsetzung steuerabkommensbezogener Maßnahmen zur Verhinderung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung“ (http:/­/­w ww.oecd.org/­tax/­t reaties/­ beps-multilateral-instrument-text-translation-german.pdf [Stand: Juli 2019]). Vgl. auch: OECD, Ausarbeitung eines multilateralen Instruments, S. 10. 319  http:/­/­w ww.keepeek.com/ ­D igital-Asset-Management/­o ecd/­t axation/­d evelopinga-multilateral-instrument-to-modify-bilateral-tax-treaties-action-15-2015-final-report_ ­9789264241688-en#.­WZK95mfwCmQ#page6 (Stand: Juli 2019). 320 Vgl. Fischer/­Pitzer, IStR 2017, 804 (805); Gradl/­Kiesewetter, IStR 2018, 1 (10 f.) mit einer Übersicht der Änderungen in deutschen DBA. 321  OECD, Ausarbeitung eines multilateralen Instruments, S. 9 f.: Das MLI hätte die gleiche Wirkung wie die gleichzeitige Neuverhandlung Tausender bilateraler Steuerabkommen. 322  OECD, Ausarbeitung eines multilateralen Instruments, S. 9. 323  Polatzky/­Balliet/­Steinau, IStR 2017, 226 (227); Fischer/­Pitzer, IStR 2017, 804 (805); Gradl/­Kiesewetter, IStR 2018, 1 (2 f.); Haase, ISR 2017, 349 (355). 317 

§ 11  Multilaterales Abkommen

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den.324 Seit dem 31.12.2016 kann das MLI von den Staaten unterzeichnet werden. Am 7.6.2017 fand in Paris eine Unterzeichnungszeremonie statt, bei der die ersten Staaten, darunter auch Deutschland, das MLI unterzeichneten. Mittlerweile haben insgesamt 86 Staaten das MLI unterzeichnet.325

A.  Verfahren, Inkrafttreten und Wirksamwerden Nach der Unterzeichnung des MLI muss es in den einzelnen Vertragsstaaten nach den jeweiligen Vorschriften in das nationale Recht umgesetzt werden. So schreibt es auch Art. 27 Abs. 2 MLI vor, nach dem das Übereinkommen der Ratifikation, Annahme oder Genehmigung bedarf. In Deutschland bedeutet dies, dass das multilaterale Instrument – entsprechend bilateraler DBA – das normale Ratifikationsverfahren nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG durchlaufen muss und anschließend den Rang eines einfachen Bundesgesetzes hat. Das MLI tritt gemäß Art. 34 Abs. 1 MLI am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf einen Zeitabschnitt von drei Kalendermonaten ab Hinterlegung der fünften Ratifizierungs-, Annahme- oder Genehmigungsurkunde folgt. Für das Inkrafttreten ist somit erforderlich, dass mindestens fünf Staaten das Übereinkommen unterzeichnet und – nach dem jeweiligen nationalen Recht – ratifiziert, angenommen oder genehmigt haben. Tritt das MLI in Kraft, ist es zunächst nur für die Vertragsparteien bindend, die es bereits unterzeichnet und in das nationale Recht umgesetzt haben. Für die unterzeichnenden Vertragsparteien, die das MLI erst nach dem Inkrafttreten umsetzen, tritt es gemäß Art. 34 Abs. 2 MLI am ersten Tag des Monats in Kraft, der auf einen Zeitabschnitt von drei Kalendermonaten ab Hinterlegung der Ratifizierungs-, Annahme- oder Genehmigungsurkunde durch die jeweilige Vertragspartei folgt. Am 22.3.2018 hat Slowenien als fünfter Staat die Ratifikationsurkunde vorgelegt,326 sodass das MLI in den bereits ratifizierten Staaten am 1.7.2018 in Kraft getreten ist. Das Wirksamwerden des MLI ist in Art. 35 MLI geregelt. Gemäß Art. 35 Abs. 1 lit. A) MLI wird es für die Quellensteuer wirksam, wenn das Ereignis, das zu diesen Steuern führt, im auf das Inkrafttreten folgenden Kalenderjahr eintritt. Da das MLI in manchen Staaten am 1.7.2018 in Kraft getreten ist, gilt es jedenfalls dort für die Quellensteuer seit dem 1.1.2019. Für alle anderen Steuern, die für Veranlagungszeiträume erhoben werden, wird das MLI gemäß Art. 35 324  325 

OECD, Ausarbeitung eines multilateralen Instruments, S. 35 ff. http:/­/­w ww.oecd.org/­tax/­t reaties/ ­beps-mli-signatories-and-parties.pdf (Stand: Juli

2019). 326  Nach Österreich (22.9.2017), Isle of Man (19.10.2017), Jersey (15.12.2017) und Polen (23.1.2018).

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Abs. 1 lit. B) MLI für die Veranlagungszeiträume, die nach einem Zeitabschnitt von sechs Kalendermonaten ab Inkrafttreten des MLI beginnen, wirksam. Darüber hinaus können die Vertragsparteien Vorbehalte festlegen.

B.  Anwendungsbereich, Änderung und Rücktritt Das MLI gilt gemäß Art. 1 MLI für alle unter das Übereinkommen fallenden Steuerabkommen, wie sie in Art. 2 Abs. 1 lit. A) MLI bestimmt sind. Danach bedeutet der Begriff „unter das Übereinkommen fallendes Steuerabkommen“ im Wesentlichen eine Übereinkunft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen (unabhängig davon, ob sie auch für andere Steuern gilt), die in Kraft ist zwischen zwei oder mehr Vertragsparteien dieses Übereinkommens. Das MLI ist somit nur auf die im Vorhinein von den Vertragsparteien selbstständig bestimmten DBA anwendbar. Die Staaten müssen der OECD mitteilen, für welche DBA das MLI gelten soll.327 Durch das multilaterale Instrument werden lediglich die Bestimmungen bestehender DBA modifiziert, die im Zusammenhang mit den oben benannten BEPS-Aktionspunkten stehen. Bei allen Sachverhalten bleiben die bilateralen DBA in Kraft.328 Das neue multilaterale Instrument gilt somit parallel zu den bereits bestehenden DBA. Das MLI schreibt zum einen sog. Mindeststandards vor (Artt. 6, 7 und 14 MLI), die von allen unterzeichnenden Staaten zu übernehmen sind, und zum anderen enthält es Maßnahmen, die optional übernommen werden können.329 Gemäß Art. 33 Abs. 1 MLI kann jede Vertragspartei eine Änderung des Übereinkommens vorschlagen, indem sie dem Verwahrer den Änderungsvorschlag vorlegt.330 In diesem Zusammenhang ist auch die allgemeine Regel über die Änderung von Verträgen des Art. 39 WÜRV zu beachten, wonach ein Vertrag durch Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien geändert werden kann. Treffen die Vertragsparteien eine solche Übereinkunft, kann das MLI somit geändert werden. Diese Änderungsübereinkunft bindet allerdings gemäß Art. 40 Abs. 4 WÜRV keinen Staat, der schon Vertragspartei des Vertrags ist, jedoch nicht Vertragspartei der Änderungsübereinkunft wird. In dem Fall, dass ein Vertragsstaat des MLI der Änderung nicht zustimmt, gilt im Verhältnis zu ihm weiterhin das ursprüngliche MLI. 327 

Polatzky/­Balliet/­Steinau, IStR 2017, 226 (227). Benz/­Böhmer, ISR 2017, 27 (28 f.); OECD, Ausarbeitung eines multilateralen Ins­ truments, S. 35. 329  Polatzky/­Balliet/­Steinau, IStR 2017, 226 (227). 330  Verwahrer ist gemäß Art. 39 Abs. 1 MLI der Generalsekretär der OECD. 328 

§ 11  Multilaterales Abkommen

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Jede Vertragspartei kann gemäß Art. 37 Abs. 1 MLI jederzeit vom MLI zurücktreten. Zu beachten ist hier Art. 37 Abs. 2 Satz 2 MLI. Wird danach ein DBA abgeschlossen, das noch vor dem Wirksamwerden des Rücktritts der Vertragspartei des MLI in Kraft tritt, verbleibt dieses DBA in seiner durch das Übereinkommen geänderten Fassung. Diese Vorschrift sieht somit vor, dass das DBA nicht wieder in seiner ursprünglichen Fassung gilt, sondern das MLI bis über den Rücktritt der Vertragspartei hinaus weiter auf die DBA einwirkt.

C.  Aufbau der materiellen Vorschriften Die einzelnen Bestimmungen des MLI folgen weitestgehend einer einheitlichen Regelungssystematik sowohl in ihrem Aufbau als auch in ihrem Inhalt.331 So beinhalten die Art. 3 bis 17 MLI am Anfang grundsätzlich inhaltliche Regelungen zur jeweiligen BEPS-Maßnahme. Daran schließen sich in der Regel Vereinbarkeitsklauseln an, um eine möglicherweise entstehende Kollision mit bestehenden DBA aufzulösen. Danach folgen gegebenenfalls zulässige Vorbehalte und bzw. oder alternative Regelungen, zwischen denen die Vertragsparteien optieren können. Zuletzt enthalten die MLI-Bestimmungen von den Vertragsparteien unter Umständen gemäß Art. 29 MLI abzugebende Notifikationen. Anhand dieses Aufbauschemas sollen die einzelnen Bestandteile der Bestimmungen im Folgenden kurz dargestellt werden. I.  BEPS-Maßnahmen 1.  Aktionsplan 2: Hybride Gestaltungen

Der BEPS-Aktionspunkt 2 beschäftigt sich mit der Neutralisierung der Effekte hybrider Gestaltungen. Neben den hybriden Finanzinstrumenten befasst sich der Abschlussbericht insbesondere auch mit der Abkommensberechtigung von hybriden Rechtsträgern. Bisher enthielt Art. 1 OECD-MA hierzu nur einen Absatz, nach dem das Abkommen für Personen gilt, die in einem Vertragsstaat oder in beiden Vertragsstaaten ansässig sind, sodass transparente Personengesellschaften hiervon nicht umfasst waren.332 Nach Art. 1 Abs. 2 OECD-MA „gelten Einkünfte, die von oder über einen Rechtsträger oder ein Gebilde erzielt werden, die nach dem Steuerrecht eines der Vertragsstaaten ganz oder teilweise steuerlich transparent behandelt werden, als Einkünfte einer in einem Vertrags331  Vgl. auch: Benz/­Böhmer, ISR 2017, 27 (28); kritisch zum Aufbau siehe: Haase, ISR 2017, 349 (356), nach dem es nahegelegen hätte, sich in Aufbau und Inhalt am OECD-MA zu orientieren. 332  Siehe dazu § 6 A. III.

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

staat ansässigen Person, jedoch nur insoweit, als diese Einkünfte für die Zwecke der Besteuerung durch diesen Staat als Einkünfte einer in diesem Vertragsstaat ansässigen Person behandelt werden“. Zusätzlich beeinträchtigt das OECD-MA das Recht eines Staates zur Besteuerung – bis auf die ausdrücklich aufgeführten Fälle – nicht (Art. 1 Abs. 3 OECD-MA).333 Im MLI findet sich die entsprechende Klausel in Art. 3 Abs. 1. Sie wurde lediglich an die typischen Formulierungen des MLI angepasst. So heißt es in Art. 3 Abs. 1 MLI „Übereinkommen“ und nicht wie in Art. 1 Abs. 2 OECD-MA 2017 „Abkommen“. Auf den Inhalt hat dies allerdings keine Auswirkungen. Durch diese zusätzliche Bedingung für die Abkommensberechtigung soll sichergestellt werden, dass Abkommensvorteile nicht gewährt werden, wenn die Einkünfte im Ansässigkeitsstaat nicht als Einkünfte der dort ansässigen Person erfasst werden.334 Eine Gesellschaft, die in ihrem Sitzstaat als transparent behandelt wird, soll demnach im Quellenstaat keine Steuervergünstigungen erhalten, wenn die Einkünfte im Sitzstaat nicht bei der Gesellschaft oder ihren Gesellschaftern erfasst werden, sondern in einem dritten Staat ansässigen Gesellschaftern zugerechnet werden.335 Die Einkünfte der transparenten Gesellschaften sollen somit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen behandelt werden, die bereits im OECD-Bericht von 1999 Ausdruck fanden.336 Darüber hinaus wird der Anwendungsbereich des OECD-Berichts durch den neuen Absatz 2 auf sämtliche Rechtsträger und Gestaltungen ausgeweitet, während vorher unmittelbar nur Personengesellschaften umfasst waren. Zudem werden neben hybriden auch umgekehrt hybride Gesellschaften erfasst.337 Gemäß Art. 3 Abs. 5 MLI sind die Vorgaben nicht zwingend. In Art. 4 MLI finden sich zudem Regelungen für doppelt ansässige Gesellschaften. 2.  Aktionsplan 6: Verhinderung von Abkommensmissbrauch

Der Aktionspunkt 6 der OECD beschäftigt sich mit der Verhinderung von Abkommensmissbrauch. Hierfür soll zunächst die Präambel des jeweiligen DBA dahingehend ergänzt werden, dass es nicht nur der Vermeidung der Doppelbesteuerung dient, sondern auch der Nicht- oder Niedrigbesteuerung durch Steuerverkürzung oder -umgehung (Art. 6 Abs. 1 MLI). 333 

Vgl. auch: Neutralisierung der Effekte hybrider Gestaltungen, S. 159. Polatzky/­Balliet/­Steinau, IStR 2017, 226 (228); Neutralisierung der Effekte hybrider Gestaltungen, S. 157. 335  Polatzky/­Balliet/­Steinau, IStR 2017, 226 (228); Neutralisierung der Effekte hybrider Gestaltungen, S. 157. 336  Siehe dazu § 6 A. III. 337  Polatzky/­Balliet/­Steinau, IStR 2017, 226 (228). 334 

§ 11  Multilaterales Abkommen

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Der Schwerpunkt liegt jedoch bei der Vermeidung des Treaty-Shoppings. Zu diesem Zweck enthält das MLI eine allgemeine Missbrauchsvorschrift, den Principal-Purpose-Test (Art. 7 Abs. 1 bis 5 MLI), der durch sog. spezifisch zu erfüllende Tests (LOB-Klauseln) ergänzt werden kann.338 Diese vereinfachten LOB-Klauseln sind auch in Art. 7 Abs. 8 bis 13 MLI vorgesehen. Die Einführung eines Tests ist für die Staaten zwar zwingend. Bezüglich der Ausgestaltung sind sie jedoch frei: Principal-Purpose-Test allein, Principal-Purpose-Test ergänzt um eine vereinfachte oder detaillierte LOB-Klausel inklusive Regelungen zur Verhinderung schädlicher Durchleitungsfinanzierungen.339 Durch die Vorgaben soll die Abkommensberechtigung eingeschränkt werden. Die Anwendung der DBA wird dadurch komplexer, da neben den Verteilungsnormen und dem Methodenartikel nun auch der Principal-Purpose-Test geprüft werden müssen.340 3.  Aktionsplan 7: Umgehung des Betriebstättenstatus

Aufgrund des BEPS-Aktionspunkts 7 („Verhinderung der künstlichen Umgehung des Betriebstättenstatus“) wurde der Betriebstättenbegriff im OECDMA 2017 neu definiert und erweitert. Dies entspricht auch dem Ansatz des MLI. Auch hierdurch wurde der Betriebstättenbegriff an die aktuellen Entwicklungen angepasst. Insbesondere durch den Teil IV (Artt. 12 bis 15) des MLI soll eine künstliche Umgehung des Betriebstättenstatus verhindert werden. Darüber hinaus soll nach Art. 10 MLI ein Abkommensmissbrauch für in Drittstaaten oder -gebieten gelegene Betriebstätten verhindert werden. Der BEPS-Aktionspunkt 14 zur Streitbeilegung spielt in der vorliegenden Arbeit keine Rolle. II.  Vereinbarkeitsklauseln

Das Verhältnis des MLI zu DBA wirft verschiedene Fragen auf. So gelten insbesondere für die Auslegung des MLI Besonderheiten gegenüber bilateralen DBA.341 Problematisch ist hier bereits der Umstand, dass das MLI im Original nur in englischer und französischer Sprache vorliegt.342 338 

Polatzky/­Balliet/­Steinau, IStR 2017, 226 (227). Polatzky/­Balliet/­Steinau, IStR 2017, 226 (230); Fischer/­Pitzer, IStR 2017, 804 (806); Benz/­Böhmer, ISR 2017, 27 (29 f.); Gradl/­Kiesewetter, IStR 2018, 1 (5): Deutschland hat sich für die erste Möglichkeit (Principle Purpose Test) entschieden. 340  Polatzky/­Balliet/­Steinau, IStR 2017, 226 (227). 341  Drüen, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 188; Lang, SWI 2017, 11; Schön, IStR 2017, 681 (686 ff.). 342 Vgl. Drüen, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 188. 339 

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Das Verhältnis des MLI zu DBA wird in den Vereinbarkeitsklauseln geregelt. Hierbei ist danach zu unterscheiden, ob das jeweilige DBA im Zeitpunkt des Inkrafttretens des MLI bereits bestand oder erst später abgeschlossen wird. 1.  DBA vor Inkrafttreten des multilateralen Instruments geschlossen

Zunächst soll das Verhältnis des MLI zu bereits bestehenden DBA untersucht werden. In Betracht kommen hier zum einen die Festlegung des Verhältnisses durch die allgemeinen Regeln des Völkerrechts und zum anderen eine ausdrückliche Regelung des Verhältnisses im multilateralen Instrument selbst. a)  Allgemeine Vereinbarkeitsklausel

Art. 30 Abs. 3 WÜRV enthält folgende Regelung: „Sind alle Vertragsparteien eines früheren Vertrags zugleich Vertragsparteien eines späteren, ohne dass der frühere Vertrag beendet oder nach Art. 59 suspendiert wird, so findet der frühere Vertrag nur insoweit Anwendung, als er mit dem späteren Vertrag vereinbar ist.“

Es gilt somit auch hier der bereits dargestellte Grundsatz lex posterior dero­ gat legi priori. Das multilaterale Instrument enthält jedoch eine eigene Vereinbarkeitsklausel zur Festlegung des Verhältnisses zu DBA. Gemäß Art. 1 MLI werden durch dieses Übereinkommen alle unter das Übereinkommen fallenden Steuerabkommen, wie sie in Art. 2 Abs. 1 lit. A) MLI bestimmt sind, geändert. Der Begriff der Änderung ist an dieser Stelle nicht ganz genau, da eine formale „Änderung“ jedes einzelnen der bereits bestehenden DBA gerade nicht erfolgt; vielmehr tritt das multilaterale Instrument neben die bestehenden DBA. Eine automatische oder unmittelbare Abkommensüberschreibung findet durch das MLI aber nicht statt.343 Der Begriff Modifikation wäre hier somit genauer. Dies entspricht im Übrigen auch sowohl der englischen Fassung des MLI („This Convention modifies all Covered Tax Agreements […]“) als auch deren französischer Fassung („La présente Convention modifie toutes les Conventions fiscales couvertes […]“). Zu beachten ist jedoch, dass die Übersetzungen des multilateralen Instruments lediglich Informationszwecken dienen. Nur die unterzeichneten Versionen in Englisch und Französisch sind bei deren Anwendung bindend. Es ist

343  Drüen, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 181; Schön, IStR 2017, 681 (682); a. A.: Haase, IWB 2017, 16 (20); Gradl/­Kiesewetter, IStR 2018, 1 (10); OECD, Ausarbeitung eines multilateralen Instruments, S. 39.

§ 11  Multilaterales Abkommen

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somit in Übereinstimmung der englischen sowie französischen Fassung besser von einer Modifikation der bestehenden DBA zu sprechen.344 b)  Spezielle Vereinbarkeitsklauseln

Neben dieser allgemeinen Vereinbarkeitsklausel enthalten viele einzelne Bestimmungen des MLI eine eigene Vereinbarkeitsklausel. Um welche Art von Vereinbarkeitsklausel es sich im konkreten Einzelfall genau handelt, ist somit anhand der jeweiligen Regelung zu bestimmen. Die verschiedenen Auswirkungen dieser Vereinbarkeitsklauseln auf die bestehenden DBA sind in der Begründung zum MLI („Explanatory Statement to the Multilateral Convention to Implement Tax Treaty Related Measures to Prevent Base Erosion and Profit Shifting“)345 beispielhaft aufgeführt und anhand von Beispielen in bereits bestehenden Abkommen (nicht aus dem Bereich des Steuerrechts) näher erläutert. aa)  Ausgestaltung der Vereinbarkeitsklauseln im MLI

In Betracht kommen Vereinbarkeitsklauseln in verschiedenen Ausgestaltungen und Abstufungen. Die weitreichendste Modifikation ist der vollständige Ersatz der DBA-Bestimmung durch die jeweilige Vorschrift des MLI. Das MLI enthält hierfür beispielsweise die Formulierungen „gilt/­gelten anstelle […] von“346 , „gelten nicht, soweit/wenn […]“347 oder „Wenn […], gelten […] nicht für“348. Wie bereits im Rahmen der Treaty Overrides dargestellt, enthält auch das MLI teilweise die Formulierung „Ungeachtet der Bestimmungen eines unter das Übereinkommen fallenden Steuerabkommens […].“349

344 Eine Synopse (deutsch/­ englisch) des MLI mit Hinweis auf Regelungen, die Deutschland anwenden will findet sich unter: https:/­/­w ww.pplaw.com/­sites/­default/­files/­ publications/­2017/­07/­synopsis-mli.pdf (Stand: Juli 2019). 345  Erläuternde Begründung zum MLI, http:/­/­w ww.oecd.org/­t ax/­t reaties/­explanatorystatement-multilateral-convention-to-implement-tax-treaty-related-measures-to-preventBEPS.pdf (Stand: Juli 2019), S. 5 ff. 346  Diese oder eine ähnliche Formulierung findet sich beispielsweise in Art. 3 Abs. 4, 4 Abs. 2, 5 Abs. 7, 6 Abs. 2, 7 Abs. 2, 8 Abs. 2, 10 Abs. 4, 17 Abs. 2 347  Diese oder eine ähnliche Formulierung findet sich beispielsweise in Art. 3 Abs. 2, 5 Abs. 2 und 4, 10 Abs. 1, 12 Abs. 2 MLI. 348  Diese Formulierung findet sich beispielsweise in Art. 10 Abs. 1 MLI. 349  Diese Formulierung findet sich beispielsweise in Art. 12 Abs. 1, 13 Abs. 2 und 3 MLI.

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Darüber hinaus enthalten einige Regelungen des MLI Bedingungen für die Anwendbarkeit der DBA-Bestimmungen. Das MLI verwendet hierfür beispielsweise die Formulierungen „gelten, wenn […]“350 oder „gelten nur, wenn […]“.351 Eine andere Ausgestaltung von Vereinbarkeitsklauseln führt dazu, dass möglicherweise bestehende Lücken in DBA geschlossen werden. Hierfür enthält das MLI beispielsweise die Formulierung „gilt/gelten […] in Ermangelung“.352 Teilweise enthält das MLI auch kombinierte Formulierungen wie „gilt/gelten anstelle oder in Ermangelung“. Neben den bereits genannten Ausgestaltungen enthält das MLI auch eine Hinzufügung bestimmter Sachverhalte durch die Formulierung „gelten für […], zusätzlich zu bereits unter die Bestimmungen fallenden […]“.353 Der Anwendungsbereich der DBA wird damit um die im MLI vorgesehenen Konstellationen erweitert. bb)  Auswirkung der Vereinbarkeitsklauseln auf DBA

Anhand von ausgesuchten Beispielen sollen im Folgenden die Auswirkungen des MLI auf die DBA dargestellt werden. So regelt beispielsweise Art. 17 Abs. 2 MLI im Rahmen der Gegenberichtigung Folgendes: „Absatz 1 gilt anstelle oder in Ermangelung einer Bestimmung, nach der ein Vertragsstaat verpflichtet ist, eine entsprechende Berichtigung der Höhe der dort von den Gewinnen eines Unternehmens dieses Vertragsstaats erhobenen Steuer vorzunehmen, wenn der andere Vertragsstaat diese Gewinne den Gewinnen eines Unternehmens dieses anderen Vertragsstaats zurechnet und diese Gewinne entsprechend besteuert und es sich bei den zugerechneten Gewinnen um solche handelt, die das Unternehmen dieses anderen Vertragsstaats erzielt hätte, wenn die zwischen den beiden Unternehmen vereinbarten Bedingungen die gleichen gewesen wären, die unabhängige Unternehmen miteinander vereinbart hätten.“

Eine entsprechende Verpflichtung zur Gegenberichtigung ist in Art. 9 Abs. 2 OECD geregelt.354 Diese Regelung begründet für den jeweils anderen Vertrags350 

Diese Formulierung findet sich beispielsweise in Art. 9 Abs. 1 lit. a) MLI. Diese Formulierung findet sich beispielsweise in Art. 8 Abs. 1 MLI. 352  Diese oder eine ähnliche Formulierung findet sich beispielsweise in Art.  3 Abs. 4, 4 Abs. 2, 6 Abs. 2, 7 Abs. 2, 8 Abs. 2, 10 Abs. 4, 17 Abs. 2 MLI. 353  Diese Formulierung findet sich beispielsweise in Art. 9 Abs. 1 lit. b) MLI. 354  Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 9 MA Rn. 8: Trotz eines bis 1992 bestehenden Vorbehalts vonseiten Deutschland erhalten mittlerweile zahlreiche deutsche DBA eine Gegenberichtigung im Sinne des Art. 9 Abs. 2 OECD-MA. Eine Übersicht über die deutschen DBA, die eine Gegenberichtigung im Sinne des Art. 9 Abs. 2 OECD-MA vorsehen, findet sich bei Eigelshoven, in: Vogel/­Lehner, DBA, Art. 9 Rn. 145. 351 

§ 11  Multilaterales Abkommen

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staat die abkommensrechtliche Verpflichtung zu einer Gegenberichtigung, wenn der eine Vertragsstaat zutreffenderweise eine Gewinnberichtigung zu seinen Gunsten durchführt und diese Gewinnberichtigung mit dem Ansatz eines zu hohen und nicht mit Art. 9 Abs. 1 OECD-MA korrespondierenden Gewinns in dem anderen Vertragsstaat übereinstimmt.355 Im OECD-MA und somit in diversen deutschen DBA finden sich somit eine Verpflichtung des betroffenen Vertragsstaats zur Vornahme einer Gegenberichtigung. Die Regelung ist somit von Art. 17 Abs. 2 MLI umfasst. Danach gilt anstelle der jeweiligen DBA-Bestimmung Art. 17 Abs. 1 MLI. In den Fällen, in denen eine DBA-Regelung hingegen lediglich eine optionale Gegenberichtigung vorsieht, ist Art. 17 Abs. 2 MLI nicht anwendbar, da dieser eine Verpflichtung des Vertragsstaates erfordert. Das bedeutet, dass die entsprechenden Bestimmungen im DBA weiterhin gelten. In diesem Zusammenhang ist jedoch Art. 30 Abs. 3 WÜRV zu beachten, wonach der frühere Vertrag nur insoweit Anwendung findet, als er mit dem späteren Vertrag vereinbar ist.356 Insoweit die betroffenen DBA-Bestimmungen dem Vertragsstaat somit selbst in einer Situation, in der die Berichtigung der Höhe der dort von diesen Gewinnen erhobenen Steuer gerechtfertigt war, die Wahl lässt, eine Gegenberichtigung nicht vorzunehmen, ist diese Bestimmung nicht mit Art. 17 Abs. 1 MLI vereinbar. Denn dieser schreibt eine Verpflichtung des Vertragsstaats zur Vornahme einer Gegenberichtigung vor, wenn der andere Vertragsstaat – berechtigterweise – eine entsprechende Berichtigung vorgenommen hat. Diese Unvereinbarkeit führt dazu, dass Art. 17 Abs. 1 MLI die entsprechenden DBA-Bestimmungen insoweit verdrängt. 2.  DBA nach Inkrafttreten des multilateralen Instruments geschlossen

Zu nach dem Inkrafttreten des MLI vorgenommenen Änderungen an bestehenden DBA enthält Art. 30 MLI eine Regelung. Danach berührt dieses Übereinkommen nicht nachträgliche Änderungen eines unter das Übereinkommen fallenden Steuerabkommens, die zwischen den Vertragsstaaten des unter das Übereinkommen fallenden Steuerabkommens vereinbart werden können. Die Vertragsstaaten können somit grundsätzlich nachträgliche Änderungen an bereits bestehenden DBA vornehmen. Es gilt somit auch hier der bereits dargestellte Grundsatz lex posterior derogat legi priori.357 Zu beachten dürfte aber auch hier Art. 30 Abs. 3 WÜRV sein, wonach das geänderte DBA nur insoweit Anwendung findet, als es mit dem MLI vereinbar ist. 355 

Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Art. 9 MA Rn. 8. Erläuternde Begründung zum MLI, S. 6 f. 357  Vgl. auch: Benz/­Böhmer, ISR 2017, 27 (31); Drüen, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 188. 356 

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Im Gegensatz zu nachträglichen Änderungen von bestehenden DBA enthält das MLI keine Regelung, die das Verhältnis zu später vollständig neu abgeschlossenen DBA regelt. Zwar ist in Art. 41 Abs. 1 lit. B) WÜRV eine Möglichkeit geregelt, den Vertrag unter bestimmten Voraussetzungen und ausschließlich im Verhältnis zueinander zu modifizieren. Diese Vorschrift hilft an dieser Stelle jedoch nur bedingt weiter, da sie die Möglichkeit einer späteren Änderung des mehrseitigen Vertrags – im vorliegenden Fall also des MLI – regelt. Zudem dürften neue DBA nicht gezwungenermaßen abgeschlossen werden, um das MLI zu modifizieren. Sie hilft aber insofern weiter, als dadurch feststeht, dass die spätere Übereinkunft sich insbesondere nicht auf eine Bestimmung beziehen darf, von der abzuweichen mit der vollen Verwirklichung von Ziel und Zweck des gesamten Vertrags unvereinbar ist. Wie bereits dargestellt, ist es Ziel und Zweck des MLI, die BEPS-Aktionspunkte 2, 6, 7 und 14 in die bestehenden DBA zu implementieren.358 Später abgeschlossene DBA dürfen somit nicht mit diesem Ziel und Zweck unvereinbar sein. Ist dies der Fall, ist die Einbeziehung späterer DBA in das MLI möglich, allerdings ist hierfür eine Notifizierung erforderlich.359 Möglich ist auch, im MLI enthaltene Modifikationen durch ein Treaty Override zu überschreiben.360 Zudem kann das MLI hinsichtlich eines konkreten DBA ein Treaty Override darstellen.361 Unklar ist, wie spätere Änderungen des OECD-MA behandelt werden.362 Auch hier könnte an die Anwendung des Art. 30 Abs. 3 WÜRV gedacht werden. Diese Regelung ist jedoch auf die Konstellation eines später geschlossenen DBA nicht anwendbar, da nicht alle Vertragsparteien des MLI an dem neuen DBA beteiligt sein werden. 3.  Verhältnis zu Drittstaaten

Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Auswirkungen das MLI für Drittstaaten, also Staaten, die nicht selbst Vertragspartei des MLI sind, entfalten kann. Hier regelt Art. 34 WÜRV Folgendes: „Ein Vertrag begründet für einen Drittstaat ohne dessen Zustimmung weder Pflichten noch Rechte.“

358 

Erläuternde Begründung zum MLI, S. 2. Benz/­Böhmer, ISR 2017, 27 (31). 360 Vgl. Benz/­Böhmer, ISR 2017, 27 (31). 361  Drüen, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 189. 362 Vgl. Benz/­Böhmer, ISR 2017, 27 (31). 359 Vgl.

§ 11  Multilaterales Abkommen

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Das MLI begründet für einen Drittstaat somit ohne weiteres keine Rechte und Pflichten. Eine Pflicht kann einen Drittstaat gemäß Art. 35 WÜRV ohnehin nur treffen, wenn der Drittstaat die Verpflichtung ausdrücklich in Schriftform annimmt. Aber selbst für die Gewährung von Rechten im Rahmen von Verträgen zugunsten von Drittstaaten erfordert gemäß Art. 36 Abs. 1 WÜRV die Zustimmung des berechtigten Drittstaats, auch wenn diese Zustimmung laut Wortlaut weder ausdrücklich noch in Schriftform zu erfolgen hat. Im Ergebnis bedeutet das, dass ein Drittstaat von den Wirkungen des MLI nicht betroffen ist, es sei denn, er hat hierzu seine Zustimmung erteilt. Zu untersuchen ist aber auch die Konstellation, in der ein DBA zwischen einer Vertragspartei des MLI und einem Drittstaat geschlossen ist. Streng genommen würde das bedeuten, dass das MLI nur die Vertragspartei bindet, nicht aber auch den Drittstaat. Im Ergebnis müsste somit das DBA in seiner ursprünglichen, nicht durch das MLI geänderten, Fassung Anwendung finden. Dies entspricht auch den Regelungen des MLI selbst. Gemäß Art. 1 MLI gilt das Übereinkommen für „alle unter das Übereinkommen fallenden Steuerabkommen“ im Sinne des Art. 2 Abs. 1 lit. A) MLI. Hiervon erfasst sind danach Übereinkünfte zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen, die in Kraft sind zwischen zwei oder mehr Vertragsparteien des MLI. Das MLI ist somit nur auf DBA anwendbar, an denen zwei Vertragsparteien des MLI beteiligt sind. Bei der Anwendung der DBA ist nunmehr erforderlich, genau zu prüfen, ob die beteiligten Vertragsstaaten gleichzeitig Vertragspartei des MLI sind oder nicht. Denn davon hängt entscheidend die Feststellung ab, ob das DBA in der ursprünglichen oder in der durch das MLI modifizierten Fassung anwendbar ist. In diesem Zusammenhang ist auch darauf zu achten, ob das MLI in den betroffenen DBA-Vertragsstaaten bereits in deren nationalen Recht umgesetzt wurde oder nicht. Die Anwendbarkeit wird dadurch nicht unbedingt erleichtert. III.  Vorbehalte und alternative Regelungen

Um auf die Belange der einzelnen Staaten einzugehen, ist es erforderlich, in bestimmten Bereichen ein gewisses Maß an Flexibilität zu gewähren. In Betracht kommen zu diesem Zweck sog. Opt-in- sowie Opt-out-Mechanismen oder auch alternative Regelungen, bei denen die Vertragspartei zwischen mehreren Optionen wählen kann.363 Insbesondere bei den Opt-in- sowie Opt-out-Mechanismen handelt es sich um bekannte Mechanismen, die standardmäßig in Verträgen verschiedener internationaler Organisationen eingesetzt werden.364 363  364 

OECD, Ausarbeitung eines multilateralen Instruments, S. 56. OECD, Ausarbeitung eines multilateralen Instruments, S. 56.

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Kapitel 3:  Einwirkungen der Richtlinien

Opt-in-Mechanismen sind Bestimmungen, nach denen die Vertragsparteien Verpflichtungen eingehen können, die ohne ihre ausdrückliche Zustimmung nicht automatisch für sie gelten würden.365 Ein Opt-out-Mechanismus gibt den Vertragsstaaten die Möglichkeit, Vorbehalte gegen bestimmte Punkte des MLI vorzubringen, wodurch diese dann zwischen dem ausübenden Staat und seinen DBA-Vertragspartnern nicht anwendbar sind.366 Hinsichtlich sog. Mindeststandards im MLI kann ein solcher Vorbehalt jedoch nicht ausgeübt werden.367 Im Übrigen enthält Art. 28 Abs. 1 MLI eine Liste zulässiger Vorbehalte. Die Möglichkeit, Vorbehalte anzubringen, ist auch in den Artt. 19 bis 23 WÜRV geregelt. Ein angebrachter Vorbehalt führt gemäß Art. 28 Abs. 3 MLI dazu, dass für die den Vorbehalt anbringende Vertragspartei des MLI in ihren Beziehungen zu einer anderen Vertragspartei des MLI die Bestimmungen des Übereinkommens, auf die sich der Vorbehalt bezieht, nach Maßgabe des Vorbehalts geändert werden. In gleichem Maße werden die Bestimmungen für die andere Vertragspartei des MLI in ihrem Verhältnis zu der den Vorbehalt anbringenden Vertragspartei des MLI geändert. Diese Vorschriften ähneln den Regelungen des Art. 21 Abs. 1 WÜRV. Ein einseitig erklärter Vorbehalt führt somit im Ergebnis dazu, dass die betroffene Bestimmung geändert wird, ohne dass die jeweils andere Vertragspartei zustimmen muss. Neben der Möglichkeit zum Anbringen von Vorbehalten enthält das MLI in den Artt. 5 und 13 MLI zwei alternative Regelungen, die der Vertragspartei die Wahl zwischen verschiedenen Bestimmungen lassen. Danach kann sich die Vertragspartei für die Anwendung entweder der Option A, B oder C oder aber für die Anwendung keiner der dort genannten Optionen entscheiden (Artt. 5 Abs. 1, 13 Abs. 1 MLI). Entscheiden sich die DBA-Vertragsstaaten für verschiedene Optionen, so gilt die von jedem Vertragsstaat gewählte Option für die in seinem Gebiet ansässigen Personen (Art. 5 Abs. 1 MLI). Im Ergebnis beinhaltet das MLI eine Mischung aus Vorbehalten und alternativen Regelungen, durch die die Flexibilität des MLI gewahrt wird. IV.  Notifikationen

Im MLI ist an mehreren Stellen vorgesehen, dass die Vertragsparteien bei der Unterzeichnung oder bei der Hinterlegung der Ratifikations-, Annahmeoder Genehmigungsurkunde eine Notifikation abzugeben haben. Eine entspre365 

OECD, Ausarbeitung eines multilateralen Instruments, S. 61. Fischer/­Pitzer, IStR 2017, 804 (806); OECD, Ausarbeitung eines multilateralen Instruments, S. 56. 367  Fischer/­Pitzer, IStR 2017, 804 (806). 366 

§ 11  Multilaterales Abkommen

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chende Auflistung findet sich in Art. 29 Abs. 1 MLI. Die Abgabe von Notifikationen dient dazu, die Transparenz und Eindeutigkeit für alle Beteiligten zu gewährleisten, indem jede Notifikation gemäß Art. 39 Abs. 2 lit. D) MLI vom Verwahrer (gemäß Art. 39 Abs. 1 MLI der Generalsekretär der OECD) den Vertragsparteien und Unterzeichnern des Übereinkommens innerhalb eines Kalendermonats notifiziert wird.

Kapitel 4

Zusammenfassung und Ausblick § 12  Zusammenfassung der Ergebnisse Zunächst ist die juristische von der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung abzugrenzen. Während die DBA die Vermeidung der juristischen Doppelbesteuerung zum Ziel haben, handelt es sich bei den streitigen nationalen Vorschriften um Fälle der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung, welche wiederum einen Verstoß gegen das Unionsrecht begründen können. Die Ursache der juristischen Doppelbesteuerung liegt konkret darin, dass der Steuerpflichtige in seinem Ansässigkeitsstaat mit seinen weltweiten Einkünften unbeschränkt steuerpflichtig ist (Welteinkommens- bzw. Universalitätsprinzip), während er zugleich im anderen Staat (Quellenstaat) mit diesen Einkünften der beschränkten Steuerpflicht unterliegt (Territorialitäts- bzw. Quellenprinzip). Diese parallele Besteuerung von beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtigen wird in zahlreichen Staaten vorgenommen. Die abkommensrechtlichen DBA müssen in das nationale Recht transformiert werden, um eine umfassende Geltung gegenüber dem Steuerpflichtigen zu begründen. Sind die DBA-Bestimmungen hinreichend bestimmt, sodass sie ohne weitere gesetzgeberische Maßnahmen angewendet werden können, sind sie self-executing und somit unmittelbar anwendbar. Der innerstaatliche Rang der transformierten DBA wird durch Art. 59 Abs. 2 GG festgelegt: DBA stehen auf einer Stufe mit den einfachen Bundesgesetzen. An diesem Grundsatz ändert auch § 2 Abs. 1 AO nichts, da es sich bei der Abgabenordnung selbst um ein einfaches Bundesgesetz handelt, das keinen Vorrang völkerrechtlicher Verträge begründen kann. Das Unionsrecht ist eine eigenständige Rechtsordnung sui generis. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass die unionsrechtlichen Vorschriften unmittelbar anwendbar sind. Dem Unionsrecht (Primär- sowie Sekundärrecht) kommt bei einer Kollision mit dem nationalen Recht (in Deutschland einschließlich des Verfassungsrechts) ein Anwendungsvorrang zu. Ein Geltungsvorrang wird hierdurch jedoch nicht begründet. Innerhalb des Unionsrechts hat das Primärrecht einen Anwendungsvorrang vor dem Sekundärrecht. Die Grundfreiheiten sind teils als Diskriminierungs-, teils als Beschränkungsverbote ausgestaltet. Eine verbotene Diskriminierung liegt dabei vor,

§ 12  Zusammenfassung der Ergebnisse

423

wenn innerhalb einer Rechtsordnung auf gleiche Sachverhalte unterschiedliche Regelungen oder auf unterschiedliche Sachverhalte gleiche Regelungen angewandt werden und es aufgrund dessen zu einer Ungleichbehandlung der Sachverhalte kommt. Hierzu zählen sowohl offene Diskriminierungen, die an die persönlichen Eigenschaften anknüpfen, als auch verdeckte Diskriminierungen, die an andere Unterscheidungsmerkmale anknüpfen. Demgegenüber sind Beschränkungsverbote unspezifisch formuliert und knüpfen an die Eigenschaft einer Wirtschaftsbeziehung als grenzüberschreitend an. Sie greifen bereits dann, wenn die nationalen Vorschriften geeignet sind, die Ausübung der Grundfreiheiten zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Hierbei genügt es bereits, wenn die Ausübung einer Grundfreiheit aufgrund der jeweiligen Maßnahme als weniger attraktiv erscheint oder wenn der Zugang zu einem anderen nationalen Markt erschwert wird. Im Rahmen der Direktinvestition wird das Abgrenzungsproblem zwischen der Kapitalverkehrs- und der Niederlassungsfreiheit deutlich. Während die Grundfreiheiten gleichrangig nebeneinanderstehen, gibt es Konstellationen, in denen auf den ersten Blick nicht eindeutig geklärt ist, welcher sachliche Anwendungsbereich eröffnet ist. Zur Abgrenzung ist auf den Gegenstand sowie auf die Zielsetzung der betreffenden Regelung abzustellen. Zunächst ist die Anwendbarkeit der Kapitalverkehrsfreiheit zu prüfen. Handelt es sich um eine sog. Portfoliobeteiligung, ist ausschließlich die Kapitalverkehrsfreiheit anwendbar. Die Beurteilung der Beteiligung erfordert eine positive Feststellung, wann der Anteilsinhaber Einwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten in der Gesellschaft hat. Ist eine nationale Vorschrift auf Beteiligungen an einer ausländischen Gesellschaft anwendbar, die es dem Gesellschafter ermöglichen, einen sicheren (nicht zwingend beherrschbaren) Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen (sog. Kontrollbeteiligung), ist ausschließlich die Niederlassungsfreiheit anwendbar. Lässt die nationale Regelung eine Ausrichtung an eine der Grundfreiheiten nicht explizit erkennen, ist zunächst zu prüfen, ob sie typischerweise einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen einer Gesellschaft zum Gegenstand hat. Davon ist bei einer Beteiligung von mehr als 50 %, und je nach Gesellschaftsstatut bei einer Beteiligung in Höhe von 20 %, 25 %, 26,5 % oder bei einem Drittel auszugehen. Bei Beteiligungen unter 10 % oder 15 % dürfte es sich nicht um einen sicheren Einfluss handeln. Darüber hinaus muss die nationale Vorschrift auch tatsächlich einen Einfluss zum Gegenstand haben. Während Vetorechte oder Goldene Aktien in der Regel einen sicheren Einfluss vorsehen, ist dies bei stimmrechtslosen Anteilen nicht ohne Weiteres der Fall. Ist die nationale Regelung hingegen sowohl auf Beteiligungen anwendbar, die einen gesicherten Einfluss ermöglichen, als auch auf solche, die keinen solchen Einfluss gewähren, können beide Grundfreiheiten nebeneinander anwendbar sein. Sitzt die ausschüttende Tochtergesellschaft

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Kapitel 4:  Zusammenfassung und Ausblick

in einem anderen EU- oder EWR-Staat, sind in diesem Fall die tatsächlichen Gegebenheiten des konkreten Falles heranzuziehen. Ergibt die Prüfung der tatsächlichen Gegebenheiten, dass der Anteilsinhaber eine kontrollierende Stellung innerhalb der Gesellschaft hat, ist ausschließlich die Niederlassungsfreiheit anwendbar. In Fällen mit Drittstaatsbezug kann sie sich die Gesellschaft unabhängig vom Umfang ihrer Beteiligung an der in einem Drittstaat niedergelassenen Tochtergesellschaft auf die Kapitalverkehrsfreiheit berufen. Je nachdem, ob es sich um Gesellschaften in EU- oder Drittstaaten handelt, können Beteiligungen in gleicher Höhe somit unterschiedlichen Grundfreiheiten zugeordnet werden. Die nationalen Vorschriften verstoßen gegen das Unionsrecht, wenn sie diskriminierend oder beschränkend wirken. Im Rahmen der Diskriminierungsprüfung geht es im Wesentlichen um die Ungleichbehandlung von beschränkt im Vergleich zu unbeschränkt Steuerpflichtigen. Sowohl die offenen als auch die verdeckten Diskriminierungen sind anhand von Gleichheitsrechten zu prüfen, wobei die Feststellung der vergleichbaren Personengruppen entscheidend ist. Die Beschränkungsverbote werden hingegen danach überprüft, ob ein Eingriff in den jeweiligen Schutzbereich der betreffenden Grundfreiheit vorliegt, da sie einen freiheitsrechtlichen Charakter haben. Im Anschluss an die Bejahung einer Diskriminierung oder Beschränkung sind die Rechtfertigungsgründe zu prüfen. Der EuGH erkennt hierbei in erster Linie nur die Abwehr von Steuerumgehungen bzw. die Vermeidung der Steuerflucht, die Wirksamkeit der Steueraufsicht bzw. Steuerkontrolle, die Kohärenz des Steuersystems sowie die Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten an. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit der nationalen Norm ist zu prüfen, ob sie nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die verfolgten Ziele zu erreichen. Die konkreten Einwirkungen des Unionsrechts auf DBA wurden anhand von Fallgruppen dargestellt. Zunächst spielt die fehlende Abkommensberechtigung der Betriebstätten und Personengesellschaften eine Rolle. Betriebstätten sind als rechtlich unselbstständiger Teil eines Unternehmens kein eigenes Rechtssubjekt. Sie sind daher keine „Personen“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. a) OECD-MA und somit nicht abkommensberechtigt. Obwohl Tochtergesellschaften und Betriebstätten unterschiedliche Rechtsformen haben, befinden sie sich in Bezug auf die Besteuerung objektiv in einer vergleichbaren Lage, wenn die Bemessungsgrundlage bei den inländischen Gesellschaften und den Betriebstätten auf gleiche Art und Weise ermittelt wird (Anerkennungsgrundsatz). Die Abkommensvorteile sind somit den Betriebstätten ausländischer Gesellschaften unter den gleichen Voraussetzungen wie den inländischen Gesellschaften zu gewähren. Eine Abkommensberechtigung wird hierdurch jedoch nicht begründet.

§ 12  Zusammenfassung der Ergebnisse

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Bei Personengesellschaften kommt es darauf an, ob sie ihren Sitz in einem Staat haben, der sie als Steuersubjekt ansieht (intransparente Besteuerung). Zu prüfen ist hierbei, ob im konkreten Fall eine Besteuerung der betreffenden Personen vorliegt, die zu einer vom DBA gesehenen Doppelbesteuerung führen kann. Darüber hinaus ist zu beurteilen, wer die Einkünfte im Sinne der jeweiligen Verteilungsnormen des DBA eigentlich erzielt. Hier beurteilt sich die Frage der Einkünfteerzielung nach dem Steuerrecht beider Vertragsstaaten, sodass es Fälle geben kann, in denen beide Personen (Gesellschaft und Gesellschafter) die Einkünfte erzielen. Abschließend müssen die beteiligten Staaten dann denjenigen Sachverhalt unterstellen, der bestünde, wenn der jeweils andere Staat von einer gleichgelagerten Qualifikation ausgegangen wäre. Dadurch kommen die Abkommensvorteile denjenigen Personen zu Gute, die auch ohne die Transparenz der Personengesellschaft Anspruch darauf hätten. Die Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten wurde anhand der Steuervergünstigung für beschränkt Steuerpflichtige sowie der Entstrickungsbesteuerung untersucht. Grundsätzlich werden ausländische Einkünfte im Quellenstaat besteuert. Ist der Steuerpflichtige in einem anderen Mitgliedstaat ansässig, ist er im Quellenstaat lediglich beschränkt steuerpflichtig. Beschränkt Steuerpflichtigen werden die Steuervergünstigungen hinsichtlich ihrer persönlichen und familiären Situation jedoch grundsätzlich nur in ihrem Ansässigkeitsstaat gewährt. Die Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten führt somit mittelbar dazu, dass beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtige ungleich behandelt werden, da die Gewährung von Steuervergünstigungen an die Besteuerungsbefugnis anknüpft. Darin liegt ein Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit bzw. die Niederlassungsfreiheit. Der Schwerpunkt liegt in diesem Bereich in der Feststellung der vergleichbaren Situation. Beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtige befinden sich grundsätzlich nicht in einer objektiv vergleichbaren Situation. Etwas Anderes gilt jedoch dann, wenn der Steuerpflichtige in seinem Ansässigkeitsstaat keine nennenswerten Einkünfte hat und sein wesentliches Einkommen im Quellenstaat erzielt. Keine nennenswerten Einkünfte liegen ab einer prozentual zum Gesamteinkommen des Steuerpflichtigen (Relation von den Inlandseinkünften zum gesamten Auslandseinkommen) zu bestimmenden Grenze vor, die sich an der statistischen Erhebung der Einkünfte der Steuerpflichtigen des Wohnsitzstaates orientiert. Entscheidend ist, dass der Wohnmitgliedstaat nicht in der Lage sein darf, dem Steuerpflichtigen die Vergünstigungen zu gewähren, die sich aus der Berücksichtigung seiner persönlichen Lage und seines Familienstands ergeben. Die relative Grenze wird durch zwei absolute Werte beschränkt: nach oben hin durch sämtliche Vergünstigungen, die dem Steuerpflichtigen in seiner konkreten Lage dem Grunde nach von seinem Wohnsitzstaat gewährt werden können; nach unten hin

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Kapitel 4:  Zusammenfassung und Ausblick

durch Einkünfte, die im Wohnsitzstaat nicht besteuert werden können, also in jedem Fall der Grundfreibetrag. Wesentliches Einkommen liegt ab einer Grenze von mehr als 50 % des Welteinkommens des Steuerpflichtigen vor, und zwar bezogen auf alle Mitgliedstaaten, in denen der Steuerpflichtige Einkünfte aus seiner Tätigkeit erzielt. Die Wesentlichkeit des Einkommens ist jedoch nur dann zu prüfen, wenn es sich um einen Fall mit Drittstaatsbezug handelt. In EU-Fällen genügt die Feststellung der nicht nennenswerten Einkünfte, da der Steuerpflichtige in diesem Fall sein Einkommen gezwungenermaßen in anderen Mitgliedstaaten erzielt. Sind die Voraussetzungen bzw. in EU-Fällen nur die erste Voraussetzung erfüllt, sind dem beschränkt Steuerpflichtigen die Steuervergünstigungen auf Grundlage einer fraktionierten Besteuerung zu gewähren. Jeder beteiligte Staat hat die Vergünstigungen zu gewähren, die sich anteilsmäßig aus dem in seinem Hoheitsgebiet erzielten Einkommen ergeben. Die Grundfreiheiten verpflichten die Mitgliedstaaten somit entgegen ihrer abkommensrechtlichen Absprechen zur Gewährung von Steuervergünstigungen. Die Entstrickungsbesteuerung ist auf verschiedenste Konstellationen anwendbar. Neben der Wegzugsbesteuerung von natürlichen Personen sowie der grenzüberschreitenden Sitzverlegung von Gesellschaften greift sie auch im Falle einer Verlagerung von Wirtschaftsgütern in einen anderen Mitgliedstaat. Liegt ein solcher Entstrickungstatbestand vor, geht das Besteuerungsrecht gemäß Art. 13 Abs. 5 OECD-MA auf den Zuzugsstaat als neuen Ansässigkeitsstaat über. Um die Besteuerung der vor der Entstrickung im eigenen Hoheitsgebiet entstandenen stillen Reserven zu wahren, besteuert der Herkunftsstaat diese, was sich konträr zur Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Vertragsstaaten im DBA verhält. Aus rein innerstaatlicher Sicht verstößt die Entstrickungsbesteuerung gegen das Leistungsfähigkeits- sowie das Realisations- bzw. Zuflussprinzip. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ist sie jedoch anhand dessen Vorgaben zu messen. Die streitigen nationalen Vorschriften fallen sämtlich in den sachlichen Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit. Der Anknüpfungspunkt für die Entstrickungsbesteuerung ist dabei die tatsächliche Hinderung des Herkunftsstaats an der Ausübung seiner Steuerhoheit. Hierfür kommen eine Beschränkung oder auch ein vollständiger Ausschluss der Ausübung der Besteuerungsbefugnis in Betracht. Der Verstoß kann jedoch aufgrund des Rechtfertigungsgrunds der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten gerechtfertigt werden. Denn verknüpft mit dem Territorialitätsprinzip sowie einem zeitlichen Element, ist jeder Mitgliedstaat befugt, die in seinem Hoheitsgebiet entstandenen stillen Reserven zu besteuern. Der Rechtfertigungsgrund der Gefahr der Steuerflucht greift hingegen nicht, da nicht bei jedem Wegzug bzw. jeder Sitzverlegung oder Verlagerung von Wirtschaftsgütern generell eine Steuerflucht

§ 12  Zusammenfassung der Ergebnisse

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vermutet werden kann. Der Schwerpunkt der Entstrickungsbesteuerung liegt in der Verhältnismäßigkeit. Während die sofortige und endgültige Festsetzung der Steuer im Zeitpunkt der Entstrickung zulässig ist, ist die sofortige Einziehung der festgesetzten Steuer nicht verhältnismäßig. Vielmehr muss dem betroffenen Steuerpflichtigen die Wahl zwischen der sofortigen Zahlung der Steuer und der Gewährung eines Zahlungsaufschubs gelassen werden. Der Zeitraum für einen Zahlungsaufschub hat dabei die Interessen des Staates als auch des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen und sollte zwischen fünf und zehn Jahren liegen. Der Zahlungsaufschub darf nur unter bestimmten Voraussetzungen an die Leistung von Sicherheiten geknüpft werden, insbesondere in Missbrauchsfällen. Zudem ist stets vorab das tatsächliche Risiko eines Zahlungsausfalls zu bewerten. Entscheidend ist bei alledem, dass das Fordern einer Sicherheitsleistung im grenzüberschreitenden Fall nicht strengere Maßstäbe ansetzen darf als im vergleichbaren Inlandsfall. Darüber hinaus muss der Zahlungsaufschub zinsfrei gewährt werden, da Zinsen auch im vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht zulässig wären. Aufgrund des Territorialitätsprinzips müssen nach der Ent­ strickung entstandene stille Reserven vom Zuzugsstaat berücksichtigt werden. Bei der Wahl des Methodenartikels im DBA sind die Mitgliedstaaten frei. Sie können sich sowohl für die Freistellungs- als auch die Anrechnungsmethode entscheiden. Beide Methoden haben verschiedene Auswirkungen, sodass es vom Einzelfall abhängt, welche Methode für den Mitgliedstaat günstiger ist. Die Freistellungsmethode gemäß Art. 23A Abs. 1 OECD-MA führt dazu, dass die ausländischen Einkünfte von der Besteuerung im Inland freigestellt werden, sodass sie demnach dort aus der Besteuerungsgrundlage ausscheiden bzw. nur in den Progressionsvorbehalt einbezogen werden. Die Einkünfte unterliegen somit dem Steuerniveau im ausländischen Staat, wodurch eine Kapitalimportneutralität erreicht wird. Ob der ausländische Staat die Einkünfte tatsächlich besteuert, spielt bei der Freistellungsmethode keine Rolle, sodass weiße Einkünfte entstehen können. Aus diesem Grund enthalten die DBA häufig Aktivitätsvorbehalte, Switch-over- oder Subject-to-tax-Klauseln. Aufgrund der bei dieser Methode geltenden Symmetriethese bleiben Verluste unberücksichtigt, da auch diese von der Freistellung umfasst sind. Bei der Anrechnungsmethode gemäß Artt. 23A Abs. 2, 23B Abs. 1 OECD-MA werden die ausländischen Steuern auf die Steuern im Ansässigkeitsstaat angerechnet. Liegt der Steuersatz im Ansässigkeitsstaat über dem Steuersatz im Quellenstaat, wird die Steuerbelastung auf das höhere Niveau heraufgeschleust. Sie dient damit der Kapitalexportneutralität. Zudem werden ausländische Verluste bei der Anrechnungsmethode berücksichtigt. Aufgrund des fehlenden Vorrangs einer der beiden Methoden dürfen die Mitgliedstaaten für inländische Fälle die Freistellungsmethode vorsehen und gleichzeitig für grenzüberschreitende Fälle die Anrechnungsmethode. Dies gilt zumindest für die Vermeidung der juristischen Dop-

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Kapitel 4:  Zusammenfassung und Ausblick

pelbesteuerung in den DBA. Bei der Wahl der Methode zur Vermeidung einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung sind die Staaten hingegen nicht frei. Die Rechtsprechung des EuGH schreibt hierbei vor, dass die jeweilige Methode zu einer steuerlichen Gleichstellung des grenzüberschreitenden Sachverhalts mit dem zu vergleichenden Inlandsfall führt. Ist dies der Fall, ist es auch zulässig, einen Wechsel von der einen zur anderen Methode vorzusehen. Die Grundsätze aus der EuGH-­Rechtsprechung lassen sich jedoch nicht auf die Methodenartikel in den DBA übertragen, die auf die Vermeidung der juristischen Doppelbesteuerung gerichtet sind. Bei der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung ist zunächst zwischen der unternehmens- und der konzerninternen Verlustverrechnung zu unterscheiden. Während Verluste unternehmensintern zwischen dem Stammhaus und der Betriebstätte ohne Weiteres verrechnet werden können, sind hierfür im Verhältnis einer Muttergesellschaft zu ihrer Tochtergesellschaft entsprechende nationale Vorschriften erforderlich. Die grenzüberschreitende Verlustverrechnung spielt insbesondere in den Fällen eine Rolle, in denen ein DBA die Freistellungsmethode vorsieht und somit die Verluste im Ansässigkeitsstaat nicht berücksichtigt werden. Die Verstöße der nationalen Vorschriften sind im Bereich der grenzüberschreitenden Verlustverrechnung in der Regel gerechtfertigt. Der Schwerpunkt liegt auch hier in der Verhältnismäßigkeit. An dieser Stelle spielt es eine entscheidende Rolle, ob die ausländischen Verluste weiterhin berücksichtigt werden können oder ob sie endgültig bzw. final sind. Denn sind sie final, ist der inländische Ansässigkeitsstaat des Stammhauses bzw. der Tochtergesellschaft ausnahmsweise verpflichtet, die Verluste zu berücksichtigen, obwohl ihm das Besteuerungsrecht für die entsprechenden Einkünfte nach dem DBA nicht zusteht. Verluste sind dann als final zu qualifizieren, wenn im ausländischen Staat alle Möglichkeiten zur Verlustberücksichtigung ausgeschöpft wurden. Hierfür ist es erforderlich, dass das Steuersystem dieses Staats überhaupt die Möglichkeit vorsieht, Verluste zu verrechnen. Weitere Voraussetzung ist, dass die ausländischen Verluste im Quellenstaat auch in der Zukunft nicht mehr berücksichtigt werden können, beispielsweise mittels eines Verlustvortrags. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn die ausländische Betriebstätte endgültig aufgegeben wird. In Betracht kommen auch eine unentgeltliche Übertragung der Betriebstätte, eine Veräußerung der Betriebstätte innerhalb eines Konzerns oder eine Umwandlung der Betriebstätte in eine Kapitalgesellschaft. Bei ausländischen Tochtergesellschaften kommen beispielsweise deren Auflösung, die Änderung der wirtschaftlichen Identität oder die Umwandlung bei Eingreifen des Verlustübertragungsverbots nach Ausschöpfung möglicher Step-up-Gestaltungen in Betracht. Jedenfalls darf weder die Tochtergesellschaft noch die Betriebstätte (auch keine minimalen) Einnahmen im Quellenstaat mehr erzielen. Von

§ 12  Zusammenfassung der Ergebnisse

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der Verpflichtung zur Berücksichtigung der finalen Verluste sind jedoch nur solche umfasst, die im Finalitätsjahr entstanden sind, da erst zu diesem Zeitpunkt die Finalität eintritt. Neben der Berücksichtigung der finalen Verluste kommt als weiteres milderes Mittel eine Nachversteuerung der bereits abgezogenen laufenden Verluste in Betracht, soweit die ausländische Betriebstätte bzw. Tochtergesellschaft später wieder Gewinne erwirtschaftet. Dies ist konsequent, da auf diese Weise die Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten gewahrt wird. Das abkommensrechtliche Diskriminierungsverbot gemäß Art. 24 OECDMA steht neben dem unionsrechtlichen Diskriminierungsverbot. Beide haben einen unterschiedlichen Anwendungsbereich. Art. 24 OECD-MA erfasst im Gegensatz zum unionsrechtlichen Diskriminierungsverbot nur offene Diskriminierungen sowie Inbound-Fälle und kann zudem nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt werden. Sein Hauptanwendungsbereich liegt in den Fällen von DBA mit Nicht-EU-Mitgliedstaaten. Ein allgemeiner Grundsatz der Meistbegünstigung lässt sich nicht feststellen. Es fehlt insbesondere im Rahmen des Grundsatzes der Inländergleichbehandlung an einer vergleichbaren Personengruppe. Denn beim Grundsatz der Meistbegünstigung besteht die Vergleichsgruppe aus zwei Ausländern, von denen einer unter das entsprechende DBA fällt, der andere jedoch in einem nicht am DBA beteiligten Staat ansässig ist. Ein Meistbegünstigungsanspruch besteht nur in den seltenen Fällen, in denen DBA diesen ausdrücklich vorsehen. Die Grundfreiheiten wirken auch auf die Vorschriften zur Missbrauchsabwehr und somit auf die DBA ein. Missbrauchsbekämpfungsvorschriften finden sich sowohl in den DBA als auch im nationalen Steuerrecht. Mit ihnen soll der Missbrauch in Form des Treaty-Shoppings als auch des Rule-Shoppings vermieden werden. Für diesen Zweck kommen verschiedene Möglichkeiten in Betracht: Zur Vermeidung des Treaty-Shoppings werden in DBA sowie im innerstaatlichen Recht LOB-Klauseln eingefügt, mit denen verhindert werden soll, dass Steuerpflichtige die in den DBA enthaltenen Steuervergünstigungen missbräuchlich in Anspruch nehmen können. Diese LOB-Klauseln dürfen sich jedoch nur gegen rein künstliche Konstruktionen im Sinne der EuGH-Rechtsprechung richten. Switch-over-Klauseln ermöglichen in bestimmten Fällen den Wechsel von der Freistellungs- zur Anrechnungsmethode und dienen somit der Vermeidung von weißen Einkünften. Aktivitätsklauseln machen die Inanspruchnahme der Freistellung von einer aktiven Tätigkeit abhängig. Subject-to-tax-Klauseln stellen die Gewährung von Abkommensvorteilen durch den Quellenstaat unter den Vorbehalt der Besteuerung der jeweiligen Einkünfte im Ansässigkeitsstaat. Rückfallklauseln sorgen dafür, dass das Besteuerungsrecht an den Ansässigkeitsstaat zurückfällt, wenn der Quellenstaat

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Kapitel 4:  Zusammenfassung und Ausblick

sein Besteuerungsrecht nicht wahrnimmt. DBA-Vorbehalte eröffnen den Anwendungsbereich zugunsten nationaler Missbrauchsbekämpfungsvorschriften, soweit das DBA keine eigene umfassende Missbrauchsbekämpfungsvorschrift enthält. Missbrauchsbekämpfungsvorschriften dürfen sich nur gegen rein künstliche Konstruktionen richten. In diesem Fall wird die Abkommensberechtigung der jeweiligen Personen eingeschränkt. Sofern kein Missbrauch im Sinne der EuGH-Rechtsprechung vorliegt, dürfen die Steuervorteile nicht versagt werden. Neben den Grundfreiheiten wirken auch die steuerrechtlichen Richtlinien auf DBA ein. Im Gegensatz zum Primärrecht müssen Richtlinien zunächst ordnungsgemäß in das nationale Recht umgesetzt werden. Bei fehlender Umsetzung entfalten sie unmittelbare Wirkung für den Steuerpflichtigen. Es sind die allgemeinen Regeln zur Kollisionsauflösung anwendbar, wobei DBA als lex ali­ ud zu qualifizieren sind. Auf diese allgemeinen Regeln wirkt § 2 Abs. 1 AO ein. Dementsprechend gehen DBA den allgemeinen innerstaatlichen Gesetzen vor, auch wenn diese zeitlich nach der DBA-Regelung in Kraft getreten sind. Innerstaatliche Gesetze gehen den DBA-Regelungen nur dann vor, wenn sie entweder eine Richtlinie umsetzen und/­oder durch einen entsprechenden Derogationswillen des Gesetzgebers ein Treaty Override darstellen. Dieser Wille muss jedoch nicht ausdrücklich im Gesetz kenntlich gemacht werden, sondern lässt sich in Einzelfällen auch aus den Umständen schließen. Bei inhaltlichen Kollisionen von konkreten Richtlinien und DBA-Bestimmungen spielt es eine Rolle, welche Regelung günstiger ist. Ist die Richtlinienbestimmung günstiger als das DBA, geht sie diesem unmittelbar vor. Ist hingegen die DBA-Bestimmung günstiger, enthalten Richtlinien in der Regel einen Vorbehalt zugunsten der günstigeren DBA-Bestimmung. In Fällen, in denen die Richtlinie eine strengere Verpflichtung enthält als das DBA, ist dennoch die Richtlinie anwendbar, um das Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten. Eine Vermeidung von Kollisionen mittels konkludenter Änderung von DBA kommt nicht in Betracht. Die Umsetzung einer Richtlinie oder deren Umsetzung in das innerstaatliche Recht kann nicht dazu führen, dass die kollidierenden DBA gleichzeitig und inhaltsgleich materiell geändert werden. Die OECD hat am 24.11.2016 ein multilaterales Instrument zur Anpassung von DBA veröffentlicht, mit dem die bilateralen DBA sowie das OECD-MA ergänzt und damit vereinheitlicht werden sollen. Es enthält sowohl Mindeststandards, die von den Staaten zwingend zu befolgen sind, als auch sonstige Regelungen, bei denen die Staaten entscheiden können, ob sie in die DBA integriert werden oder nicht. Die bestehenden DBA werden durch das MLI nicht aufgehoben, sondern sie bestehen parallel fort.

§ 13  Ausblick

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§ 13  Ausblick Das Unionsrecht wirkt an zahlreichen Stellen auf die DBA ein und enthält auf dem Wege der EuGH-Rechtsprechung verschiedene Vorgaben zur Ausgestaltung der direkten Steuern in den Mitgliedstaaten. Das Unionsrecht setzt sich damit klar über die abkommensrechtlichen Absprachen zwischen den Vertragsstaaten hinweg. Zwar orientieren sich viele DBA am OECD-MA, welches der EuGH ausdrücklich anerkennt, sodass damit weite Teile der DBA unionsrechtlich „immunisiert“ sein dürften.1 Diese grundsätzliche Immunität schränkt der EuGH aber in einzelnen Bereichen immer weiter ein.2 Obwohl die Rechtsprechung des EuGH im Bereich der direkten Steuern bereits jetzt sehr umfangreich ist, erfasst sie immer nur punktuelle Bereiche. Es gibt neben den in der vorliegenden Arbeit dargestellten Fallgruppen noch weitere Bereiche, in denen die Grundfreiheiten auf die DBA einwirken. Dies gilt beispielsweise für die Mindestbeteiligungsquote für Quellensteuerbefreiungen im Fall von grenzüberschreitenden Dividendenausschüttungen.3 Die Rechtsprechung des EuGH entwickelt sich zudem stetig weiter. Es ist daher zu erwarten, dass der EuGH auch weiterhin Einfluss auf die DBA nehmen wird. Das Zusammenwirken der DBA, des Unionsrechts sowie des nationalen Steuerrechts führt dazu, dass diverse grenzüberschreitende Sachverhalte in den Anwendungsbereich aller drei Rechtsordnungen fallen, die sich jedoch teilweise erheblich voneinander unterscheiden. Die Rechtsanwendung für den Steuerpflichtigen wird dadurch erheblich erschwert, da sämtliche Vorschriften verschiedenen Ursprungs zu beachten sind. Es kommt hierbei zu Wirkungen, die ein rationaler Gesetzgeber in seinem Binnenraum tätigen Steuerpflichtigen nicht zumuten würde.4 Dabei ist es dem Internationalen Steuerrecht inhärent, dass es zu Konflikten zwischen den verschiedenen Vorschriften kommt. Anders als das Internationale Privatrecht ist das Internationale Steuerrecht kein 1  Schönfeld/­Häck, in: Schönfeld/­ Ditz, DBA Systematik Rn. 104. Teilweise ist auch von einer „Neutralität“ gegenüber den Grundfreiheiten die Rede: Schwenke, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 106; Lehner, in: Vogel/­Lehner, DBA, Grundlagen Rn. 266c. 2  Schwenke/­Hardt, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, Vor Art. 1 Rn. 109. 3  EuGH v. 3.6.2010, C-487/­08 – Kommission/­S panien, Slg. 2010, I-4843; v. 11.6.2009, C-521/­07  – Kommission/­Niederlande, Slg. 2009, I-4873; v. 8.11.2007, C-379/­05 – Amurta, Slg. 2007, I-9569; v. 20.10.2011, C-284/­09 – Kommission/­Deutschland, BB 2011, 2910; v. 19.11.2009, C-540/­07 – Kommission/­Italien, Slg. 2009, I-10983; v. 10.4.2014, C-190/­12 – Emerging Markets DFA, IStR 2014, 334; v. 10.5.2012, C-338/­11 bis C-347/­11 – Santander Asset Management u. a., IStR 2012, 432; v. 7.9.2017, C-6/­16 – Eqiom und Enka, EuZW 2017, 824; v. 22.11.2018, C-575/­17 – Sofina u. a., BeckRS 2018, 29367. 4  Menck, in: FS Debatin, S. 305 (317).

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Kapitel 4:  Zusammenfassung und Ausblick

Kollisionsrecht, es wird also nicht erst das anzuwendende Sachrecht bestimmt, sondern jeder Staat wendet sein Internationales Steuerrecht an, wie er aufgrund seiner Hoheitsgewalt auch anderes öffentliches Recht anwenden würde.5 Darüber hinaus unterscheiden sich die Zielsetzungen des Unionsrechts, des Abkommensrechts sowie des nationalen Steuerrechts zum Teil erheblich.6 Die Grundfreiheiten möchten die Steuerpflichtigen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten vor steuerlichen Nachteilen schützen, ohne ihnen zugleich Vorteile gegenüber rein nationalen Sachverhalten zu gewähren. Hierfür sind sie als Diskriminierungs- sowie als Beschränkungsverbote ausgestaltet, wodurch die eine Gleichbehandlung der vergleichbaren Steuerpflichtigen sowie die Freiheit, grenzüberschreitend tätig zu werden, gewährleisten. Die steuerrechtlichen Richtlinien geben den Mitgliedstaaten nur ein verbindliches Ziel vor, wobei die Mitgliedstaaten selbst bestimmen können, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Das Ziel der DBA besteht hingegen darin, Doppelbesteuerungen zu vermeiden. Das nationale Steuerrecht wiederum sichert dem Staat auf der einen Seite seine wichtigste Einnahmequelle und soll dabei auf der anderen Seite den Steuerpflichtigen eine angemessene und gerechte Erhebung von Steuern gewährleisten. Es umfasst zudem sowohl innerstaatliche als auch grenzüberschreitende Sachverhalte. Trotz der verschiedenen Ziele der Rechtsordnungen sind deren Regelungen auf grenzüberschreitende Sachverhalte gleichzeitig anwendbar, was gezwungenermaßen zu Konflikten führt. Den Kernbereich des Zusammenwirkens der nationalen Steuersysteme bildet weiterhin das Problem der doppelten Besteuerung. Dies liegt insbesondere daran, dass der in der vorliegenden Arbeit untersuchte Bereich der direkten Steuern nicht harmonisiert ist. Eine vollständige Vermeidung von Kollisionen zwischen dem Unionsrecht und DBA ließe sich nur durch eine solche Harmonisierung der direkten Steuern erreichen. Die fehlende Harmonisierung führt zudem dazu, dass zwischen den Mitgliedstaaten und ihren teils sehr unterschiedlichen Steuersystemen ein Steuerwettbewerb entstanden ist. Zwar hat die Europäische Kommission zumindest für den Bereich der Unternehmenssteuern am 25.10.2016 einen Vorschlag für eine Richtlinie über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) veröffentlicht, durch die Transparenz geschaffen werden soll, ohne den Steuerwettbewerb auszuschließen.7 Dieser Vorschlag betrifft jedoch mit dem Unternehmenssteuer5 

Haase, in: Haase, AStG/­DBA, Einleitung DBA Rn. 20. Jacobs, Internationale Unternehmensbesteuerung, S. 110. 7 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über eine Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) v. 25.10.2016, COM(2016) 683 final. Gemäß Art. 80 Nr. 1 dieser Richtlinie setzen die Mitgliedstaaten diese spätestens bis zum 31.12.2020 um, sodass die entsprechenden Rechtsvorschriften ab dem 1.1.2021 anzuwen6 

§ 13  Ausblick

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recht nur einen Teil des gesamten Steuerrechts und kann daher nicht als gesamte Harmonisierung der direkten Steuern verstanden werden. An den Ausführungen wird vielmehr deutlich, dass im Bereich der direkten Steuern seit Jahren ein Prozess der stillen Harmonisierung des nationalen Steuerrechts stattfindet, der vom Vorrang der Grundfreiheiten gegenüber der Steuersouveränität der Mitgliedstaaten ausgeht.8 Die jüngste Entwicklung zeigt jedoch, dass mittlerweile einheitliche bzw. aufeinander abgestimmte Regelungen geschaffen werden. In diesem Rahmen schreibt beispielsweise das multilaterale Instrument vor, wie DBA auszugestalten sind und damit vereinheitlicht werden sollen. Da es sich bei diesem multilateralen Instrument um einen Präzedenzfall handelt, muss sich erst noch zeigen, ob die theoretischen Vorgaben auch in der Praxis durchsetzbar sein werden. Mittlerweile ist neben der Vermeidung der Doppelbesteuerung auch die Vermeidung einer Nichtbesteuerung das ausdrückliche Ziel der DBA. So schreibt Art. 6 Abs. 1 MLI, der wiederum auf dem BEPS-Aktionsplan beruht, vor, dass die jeweiligen DBA dahingehend ergänzt werden, dass sie nicht nur der Vermeidung der Doppelbesteuerung dienen, sondern auch der Vermeidung von Nichtoder Niedrigbesteuerung durch Steuerverkürzung oder -umgehung. Darüber hinaus sieht auch die geänderte Mutter-Tochter-Richtlinie im Erwägungsgrund 2 vor, dass die Vorteile aus der Richtlinie nicht zu einer doppelten Nichtbesteuerung führen sollten.9 Aber auch die Vertragsstaaten fügen häufig sog. Subjectto-tax-Klauseln bzw. Rückfallklauseln in die DBA ein, wodurch das Besteuerungsrecht beispielsweise im Falle der Nichtbesteuerung durch den Quellenstaat an den Ansässigkeitsstaat zurückfällt, wodurch das Entstehen von weißen Einkünften verhindert werden soll. Es zeigt sich, dass das Internationale Steuerrecht stets im Wandel ist und mit aktuellen Entwicklungen Schritt halten muss. Wenn auch insbesondere aufgrund der verschiedenen wirtschaftspolitischen Interessen eine vollständige Harmonisierung der direkten Steuern unwahrscheinlich ist, wäre zumindest eine inhaltliche Annäherung der verschiedenen Rechtsordnungen wünschenswert.

den sind. Vgl. hierzu auch: Spengel/­Stutzenberger, IStR 2018, 37 (39). Vgl. dazu: Nettes­ heim, in: Oppermann/­Classen/­Nettesheim, Europarecht, § 35 Rn. 60. 8  Schaumburg, Internationales Steuerrecht, Rn. 3.64. 9  Erwägungsgrund 2 der Richtlinie 2014/­86/­EU des Rates v. 8.7.2014, ABl. Nr. L 219 v. 25.7.2014, S. 40.

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Sachverzeichnis Stichwortverzeichnis

Abkommensberechtigung  104, 161

Betriebstättenvorbehalt 117

Abkommensvorteile 156

DBA-Vorbehalte 335

Abwehr von Steuerumgehungen  94 Aktivitätsklauseln 330 Aktivitätsvorbehalt  317, 330, 396 Anerkennungsgrundsatz  89, 110, 118, 424 Anrechnungsmethode 244 –– Heraufschleusung 244 –– juristische Doppelbesteuerung  244 –– Verluste 245 –– virtuelle Doppelbesteuerung  244 Anti-Tax-Avoidance-Richtlinie  323, 341 Äquivalenzgrundsatz 238

Derogation 377 –– konkludente Derogation  378 –– materielle Derogation  362 Derogationswille  372, 375, 430 –– formaler Derogationswille  369 Diskriminierung  58, 85, 88, 103, 257 –– offene Diskriminierung  58, 89 –– verdeckte Diskriminierung  58, 89, 161 Diskriminierungsverbot  284, 312

Arbeitnehmerfreizügigkeit 61

–– absolutes Diskriminierungsverbot 314

Aufteilung der Besteuerungsbefug­ nisse 100

–– Verhältnis der Diskriminierungsver­ bote 313

Aufteilung der Besteuerungszuständigkeit 159

Diskriminierungsverbote  58, 59

Aufteilung der Vergünstigungsgewährung 187

–– Begriff 22

Base Erosion and Profit Shifting (BEPS) 341

Doppelbesteuerung 21 –– juristische Doppelbesteuerung  24, 242, 258 –– Ursachen der Doppelbesteuerung  24

Befreiung mit Progression  243

–– virtuelle Doppelbesteuerung  23

Beschlüsse 80 Beschränkt Steuerpflichtige  105

–– wirtschaftliche Doppelbesteuerung 127

–– Besteuerung 160

Doppelbesteuerungsabkommen

–– Steuervergünstigungen 160

–– Einwirkung der Richtlinien  340

Beschränkung  89, 92, 103

–– innerstaatliche Geltung  41

Beschränkungsverbote  58, 59

–– innerstaatlicher Rang  37

Betriebstätten 106

–– Kollisionen zum nationalen Recht 357

Betriebstättenprinzip  107, 113, 262, 286, 296

–– konkludente Änderung  398

458

Sachverzeichnis

–– mit Drittstaaten  86

–– Euro Park Service  343

–– Transformation 36

–– Haribo Lakritzen und Österreichische Salinen 252

–– unmittelbare Anwendbarkeit  43 –– Verhältnis zum Primärrecht  84 –– Verhältnis zum Sekundärrecht  84 Effet utile  352 Empfehlungen 80 Entstrickungsbesteuerung  194, 200 –– Anknüpfungspunkt 220 –– Begriff der Entstrickung  194 –– Entfall des Steueranspruchs  231 –– sofortige Einziehung der Steuer  232 –– sofortige und endgültige Festsetzung der Steuer  229 –– Verlustabzug 238 –– Währungsverluste 240 –– Zahlungsaufschub 234 Ersatzrealisationstatbestand  195, 197, 219 Estoppel-Prinzip 352 EuGH-Rechtsprechung –– AMID 265 –– A Oy  212, 216, 272, 344 –– Avior Fiscal  108 –– Bevola  279, 284, 286 –– Cadbury Schweppes  325 –– Cartesio 219 –– Centros 218 –– CLT-UFA 113 –– Columbus Container Services  251, 258 –– Daily Mail  218 –– De Groot  165 –– Deister Holding und Juhler Holding 325

–– Imfeld und Garcet  183 –– Inspire Art  218 –– Kommission/Estland 167 –– Kommission/Portugal 206 –– Kommission/Spanien 209 –– Kommission/Vereinigtes Königreich 275 –– Krankenheim Wannsee  270 –– Kronos 254 –– Lidl Belgium  124, 268, 283, 288 –– Manninen 250 –– Marks & Spencer  266, 283, 284, 287 –– Meilicke II  250 –– Metallgesellschaft/Hoechst 249 –– N 202 –– National Grid Indus  206, 219 –– NN  281, 298 –– Nordea Bank  273, 297 –– Philips Electronics  114 –– Rewe Zentralfinanz  297 –– Saint Gobain  110 –– Schumacker  119, 162, 168 –– Test Claimants in the FII Group Litigation 247 –– Timac Agro  276, 283, 286 –– Überseering 218 –– van Duyn  352 –– Verder LabTec  216 –– X  168, 187, 325 –– X Holding  288 Exit-Besteuerung siehe Entstrickungsbesteuerung

–– De Lasteyrie du Saillant  202, 219, 225

Finale Verluste  291, 299

–– DMC  210, 216, 217

–– Ultima ratio  299

–– Nachversteuerung 307

Sachverzeichnis

–– Verluste im Finalitätsjahr  305 –– Voraussetzungen 300 Formalrechtliche Kenntlichmachung des Vorrangs  371, 377 Freistellungsmethode  242, 286 –– Aktivitätsvorbehalt 243 –– juristische Doppelbesteuerung  243 –– Verluste 244 –– virtuelle Doppelbesteuerung  243 Fusionsrichtlinie 340 Genuine link  195

459

–– bei unmittelbarer Wirkung von Richtlinien 381 –– mittels konkludenter Änderung von DBA 398 –– zwischen Richtlinien und § 8b KStG 390 –– zwischen Richtlinien und DBA-Bestimmungen 385 Kollisionsauflösungsregeln  355, 359, 360, 377, 381 –– § 2 Abs. 1 AO  362, 364 –– allgemeine Kollisionsauflösungsregeln 360

Grenzüberschreitende Verlustverrechnung 259

Kontrollbeteiligung 70

–– Ausfallhaftung 264

Korrespondenzprinzip

–– konzernintern 263

–– formelles Korrespondenzprinzip  393

–– Unternehmensintern 261

–– materielles Korrespondenzprinzip  391, 393

Grundfreiheiten 57 –– Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote 88 –– Schutzbereich 61 –– Verhältnis zwischen den Grundfrei­ heiten 68

Leistungsfähigkeitsprinzip  29, 214 Lex posterior derogat legi priori  356, 362 Lex specialis derogat legi generali  361

Grundsatz der Meistbegünstigung  315

Lex superior derogat legi inferiori  355, 360

Grundsatz der Reziprozität der DBA  333

Limitation-on-benefits-Klauseln 319

Grundsatz der Steuergerechtigkeit  213

–– allg. Missbrauchsbekämpfungsvorschriften 322

Gruppenbesteuerungssystem 264 Günstigkeitsprinzip  385, 389, 390, 407 Inbound-Fall  58, 314, 317, 429

–– besond. Missbrauchsbekämpfungsvorschriften 319

Infektionswirkung 332

–– Verhältnis zu nationalen Missbrauchsvorschriften 321

Kapitalexportneutralität 245

Lizenzgebührenrichtlinie 340

Kapitalimportneutralität 243

Methodenartikel

Kapitalverkehrsfreiheit 65

–– Gleichwertigkeit  242, 255

–– Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit 68

–– juristische Doppelbesteuerung  256

Kohärenz des Steuersystems  98 Kollisionsauflösung

–– wirtschaftliche Doppelbesteuerung 256

–– bei umgesetzten Richtlinien  377

Missbrauchsabwehr 317

–– Vergleichbarkeit 258

460

Sachverzeichnis

Multilaterales Abkommen  408 –– Aufbau 411

Prinzip der Unbeachtlichkeit missbräuchlicher Gestaltungen  317

–– Auslegung 413

Progressionsvorbehalt  246, 263

Mutter-Tochter-Richtlinie 340

Qualifikationsverkettung 136

–– Umsetzung 391

Quellenprinzip 24

Nexus 320

Quellensteuerreduktion  386, 396

Nichtbesteuerung  243, 329, 330, 433

Realisationsprinzip  213, 215, 232, 426

–– stiller Reserven  202, 230

Rechtfertigung  33, 90

Nicht nennenswerte Einkünfte  175, 178

Rechtfertigungsgründe 91

Niederlassungsfreiheit 63

Richtlinien 81

–– Abgrenzung zur Kapitalverkehrsfreiheit 68

–– Anwendungsvorrang  342, 355

OECD-Aktionsplan 341 OECD-Musterabkommen 33 OECD Partnership-Report  127 Offene Diskriminierung  314 Opt-in-Mechanismus 419 Opt-out-Mechanismus 419 Outbound-Fall  60, 284, 314, 317 Personengesellschaften 125 –– andere Personenvereinigungen  125, 131

–– Einwirkungen auf das Transformationsgesetz 377 –– Mindestharmonisierung 349 –– Rechtsangleichung 349 –– Sperrwirkung 355 –– Umsetzung 345 –– unmittelbare Wirkung  351 –– Zuständigkeit für den Erlass  345 Rückfallklausel 333 Rule-Shopping 318 Schachteldividenden  331, 391

–– hybride Personengesellschaften  129, 411

Schachtelprivileg 117

–– intransparente Besteuerung  126, 153

–– Arten des Sekundärrechts  80

–– konkrete Normenanwendung  149

–– Grundsätze 79

–– transparente Besteuerung  125, 148

Sitzverlegung 198

–– umgekehrt hybride Personengesellschaften  130, 412

Stellungnahmen 80

Primärrecht

Stundung  205, 234, 236

–– Anwendungsvorrang 50

Subject-to-tax-Klauseln 333

–– Anwendungsvorrang vor dem Sekundärrecht 82

–– Einkünfte-Herkunftsbestimmungen 334

–– unmittelbare Anwendbarkeit  49

–– Nichtbesteuerung 334

Primärrechtskonforme Auslegung  384

Subjektive Qualifikationskonflikte  126

Principle-Purpose-Test 322

Subsidiaritätsprinzip  346, 347

Prinzip der Folgerichtigkeit  214

Switch-over-Klauseln 328

Sekundärrecht 79

Step-up  202, 221, 228, 238

Sachverzeichnis

–– juristische Doppelbesteuerung  329

461

–– Qualifikationskonflikt 329

Unionsrechtliches Sekundärrecht siehe Sekundärrecht

–– wirtschaftliche Doppelbesteuerung 329

Universalitätsprinzip 24

–– Zurechnungskonflikt 329

Verdeckte Diskriminierung  314 Verhältnismäßigkeit  89, 95, 103, 216, 229, 298, 384

Switch-over-Klauseln mit Aktivitätsvorbehalt 331 Symmetriethese  101, 238, 244, 257, 263

Verlagerung von Wirtschaftsgütern  199 Verordnungen 80

–– finale Verluste  286

Verteilungsnormen  133, 155

Territorialitätsprinzip  24, 102, 118, 225, 226, 293

–– Auslegung 154

Tochtergesellschaft 116 Transparenzprinzip  125, 336 Treaty Override  33, 38, 39, 47, 257, 366, 368 –– konkludentes Treaty Override  369 –– offenes Treaty Override  369, 370

–– mit abschließender Rechtsfolge  35, 107, 148, 241 –– mit offener Rechtsfolge  35, 107, 157 –– Neutralität 159 Völkerrechtsfreundliche Auslegung  372, 375 Völkerrechtskonforme Auslegung  359

–– verdecktes Treaty Override  323, 369

Wegzug 196

Treaty-Shopping 318

Wegzugsbesteuerung  195, 196

Trennungsprinzip  260, 290, 394

–– Umgehung 215

Typenvergleich 126

Welteinkommensprinzip  24, 245

Typisierende Missbrauchsvermeidungsvorschriften 325

Wesentliches Einkommen  177, 183 Wirksamkeit der Steueraufsicht  96

Unionsrecht

Zahlungsaufschub  338, 344, 427

–– Rangverhältnis 82

Zinsrichtlinie 340

Unionsrechtliches Primärrecht siehe Primärrecht

Zuflussprinzip  215, 232, 426 Zurechnungskonflikte 126