Die zeitgenössische Literatur der Chicanos (1958-1988) 9783964562241

Una presentación de la literatura chicana contemporánea, considerando sus tradiciones históricas y mitológicas tanto com

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Die zeitgenössische Literatur der Chicanos (1958-1988)
 9783964562241

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Dieter Herms

Die zeitgenössische Literatur der Chicanos

Editionen der Iberoamericana Reihe III Monographien und Aufsätze Herausgegeben von Walther L. Bernecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann Band 34

Dieter Herms

Die zeitgenössische Literatur der Chicanos (1959 -1988)

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main

1990

Für Uschi

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Dieter Herms: Die zeitgenössische Literatur der Chícanos (1959-1988)/ Dieter Herms Frankfurt am Main : Vervuert, 1990 (Editionen der Iberoamericana : Reihe 3, Monographien und Aufsätze ; Bd. 34) ISBN 3-89354-834-3 NE: Editionen der Iberoamericana © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1990 Alle Rechte vorbehalten Printed in West-Germany

Inhalt s Verzeichnis

Vorwort

7

Einleitung

8

1. K a p i t e l : V o r a u s s e t z u n g e n u n d R a h m e n b e d i n g u n g e n v o n Chicano-Literatur

12

Zur Mythologie und Philosophie der Azteken und Mayas (12) - Geschichte der Chicanos (17) - Chicano-Literatur bis Pocho (1959) (27) - Literaturvertrieb und Literatursprache (36) - Das politische Movement des Chicanismo (40) 2. K a p i t e l :

Chicano-Theater

50

Luis Valdez 1964/65: Vorbedingungen (51) - El Teatro Campesino: Actos 19651970 (53) - El Teatro Campesino: mito, corrido, htstoria; von Bemabe bis Zoot Suit (66) - El Teatro Campesino in der 1980er Jahren und Valdez' Entwicklung als Dramatiker (83) - El Teatro de la Esperanza (90) - TENAZ und andere Teatros (96) - Chicano-Drama: Estela Portillo und Carlos Morton (101) - Teatropoesia: von Alurista zu Cherrie Moraga (109) 3. K a p i t e l : D i e N a r r a t i v i k der C h i c a n o s

118

Der Protestroman (120) - "The Classics" oder "los tres grandes": Rivera, Anaya, Hinojosa (127) - Techniken des erzählerischen Experiments und Formen des Irrealen: Von "Zeta" Acosta bis Isabel Rios (144) - The Fringe: Rechy; literatura chicanesca (151) - Short Stories (158) - Autobiographien (166) - Historische Romane (171) - Die Narrativik der 1980er Jahre (180) 4. K a p i t e l : D i e L y r i k d e r C h i c a n o s

191

Yo Soy Joaquin: Movement Poem (192) - Die erste Generation der "Barden": Montoya, Elizondo, Delgado, Sanchez (200) - Die Gefängnismetapher: Pinto Poetry und Raul Salmas (224) - Alurista, poeta laureatus? (230) - Die erste Generation der Chicanas: Angela de Hoyos und Bernice Zamora (240) - Der Reifeprozess der Chicanolyrik, die 1970er und 1980er Jahre (250) - Die "Massenlyrik" der Chicanas (262) 5. K a p i t e l : M u r a i s , M u s i c , M o v i e s : e i n E x k u r s

279

6. K a p i t e l : Zwei K u l t u r e n

292

P o s t s c r i p t 18.03.1990

298

Bibliographie

300

Index

323

7

Vorwort Kultur der Chicanos wurde mir erstmalig 1970/71 bewußt, als ich im Raimen von Recherchen über das alternative Theater in den USA auf El Teatro Campesino stieß. 1972 gastierte diese Theatertruppe der kalifornischen Landarbeiter in Europa und eine Projektgruppe Regensburger Amerikanistikstudentinnen unter meiner Leitung führte ein Interview mit ihrem Gründer und Leiter Luis Valdez durch, das sogar in Theater Heute erschien. Nach und nach machte ich mich mit dem Kampf der United Farm Workers-Gewerkschaft vertraut, dem das Teatro entstammte, und entdeckte, daß es noch eine Vielzahl anderer Facetten eines "Befreiungskampfes" der Chicanos gab. In diese eingelagert waren auch andere Gattungen einer aufblühenden Chicanoliteratur: Protestlyrik, Roman, oral tradition ... Seit 1977 begann ich systematisch diese Literatur zu sammeln, zu lesen und darüber mit Chicano-Autorlnnen und Wissenschaftlerinnen in Kontakt zu treten. Ich traf sie auf USA-Reisen 1978, 1981, 1984 und 1986, besuchte Symposien und Kongresse, arbeitete in Chicano Studies-Zentren und Archiven (Austin, Berkeley) und legte erste Erkenntnisse in eigenen Tagungsbeiträgen (Anglistentag 1982; DGfA 1982, 1984; National Association of Chicano Studies 1984; British Association of American Studies 1985; Europäische "Hispanics" Tagungen 1984 und 1986) und Vorauspublikationen zu diesem Buch (siehe Bibliographie) vor. Wegen der Schwierigkeiten der Materialbeschaffung, des häufig nur indirekten Informationsflusses bei einem Gegenstand, der nicht im "mainstream" der "scientific communities" abläuft, bin ich besonders dankbar für die vielen persönlichen Bekanntschaften mit Chicanos und Chicanas, die mich bei meinen Recherchen tatkräftig unterstützten. Ganz besonders möchte ich nennen: Alurista, Yolanda Broyles, Juan Bruce-Novoa, Cordelia Candelaria, Ana Castillo, José Delgado, Sergio Elizondo, Andres Gutiérrez, Rolando Hinojosa, Jorge Huerta, Nick Kanellos, Cherrie Moraga, Diana Rodríguez, Juan Rodríguez, Chuck Tatum, Donaldo Urioste, Liiis Valdez. Anglos und Deutsche, die mir geholfen haben sind Mike Baumann, Wolfgang Binder, Rutger von Bothmer, Heiner Bus, Martin Franzbach, Hartmut Lutz, Richard Rundell und Horst Tonn. Für die umfassenden Bereiche von Kulturtheorie und Methodik geht mein Dank an die Freunde und Kolleginnen des GuZ/tuer-Mitarbeiterkreises und des Bremer Forschungsprojekts "Zweite Kultur". Mein innigster Dank gilt Uschi Bauer, der ich dieses Buch auch widme. Behindert und verzögert wurde seine Fertigstellung durch den Kampf gegen den Rippenfellkrebs seit Herbst 1987 und den Verlust meines heben Sohnes Stephan im November 1988.

Bremen, im September 1989, D.H.

8

Einleitung Die Chicanoliteratur der Neuzeit, "the literature of the Chicano-Renaissance" (Philip Ortego) kam mit den politischen Bewegungen der 1960er Jahre in Going, die ihrerseits als Aktivierung ethnisch-kultureller Energien ihre Impulse aus den Civil Rights-Kämpfen seit den 1950er Jahren empfingen. Nach Black Power gab es Red Power und nun auch Chicano Power. An einzelnen Universitäten etablierten sich nach Black Studies und Native American Studies nun auch Chicano Studies. Da Universitäten in den USA betriebswirtschaftlich geführt werden und den Gesetzen des Marktes unterliegen, war die Einrichtung solcher Chicano Studies Centers oder Departments mancherorts nur eine vorübergehende Erscheinung. Heute gibt es sie - mehr oder weniger selbständig, manchmal mit Ethnic Studies, Spanish oder Foreign Language Studies integriert, u.a. em den Universities of Texas in Houston und Austin, auf allen Campuses der University of California, in Albuquerque und Las Cruces (New Mexico), in Phoenix und Tucson (Arizona) in Boulder (Colorado) und Seattle (Weishington). Innerhalb des umfassenderen Ansatzes von Chicano Studies entwickelte sich seit Anfang der 1970er Jahre eine Chicano-Literaturkritik und Literaturtheorie. Von Einzelpersönlichkeiten wie Joseph Sommers oder Vernon Lattin abgesehen, wird Chicano-Literaturwissenschaft überwiegend von Chicanos betrieben. Die Chicano-Wissenschaftlerinnen garantieren einerseits ein Höchstmaß von Einfühlungsvermögen; anderseits gibt es das "Inzuchf'-Phänomen: die überethnischen, internationalen Maßstäbe fehlen häufig. Chicanoliteratur ist bis auf den heutigen Tag von English and American Studies in den USA und Großbritannien im großen und ganzen nicht wahrgenommen oder schlicht ignoriert worden. Die Amerikanist Innen haben den jüdischen, schwarzamerikanischen und indianischen Beitrag zur Gegenwartsliteratur der USA zu registrieren begonnen, doch Chicanos, Puertorikaner und Asiaten als Produzentinnen nordamerikanischer Literatur werden weitgehend geleugnet. In Europa ist es (zumal durch Kongresse in Mainz-Germersheim 1984, Paris 1986 und Barcelona 1988) zu Ansätzen einer interdisziplinären Kooperation von Nordamerikanistik und Lateinamerikanistik vor allem der BRD und Frankreichs bei der Chicano-Forschung gekommen. Auch in Spanien hat man begonnen, die Chicanos als einen der vielen Ableger der Mutterkultur zur Kenntnis zu nehmen. Doch in den anderen Ländern ist das Interesse an Chicanokultur oder Kultur der "Hispanics" gering; dies zeigt sich u.a. darein, daß der Kongress 1990 an seinen "Ursprungsort" Mainz-Germersheim zurückkehren wird (wo mit Erlinda GonzälesBerry nach Juan Bruce-Novoa 1984 abermals eine Chicano-Persönlichkeit als Austauschprofessorin für die nötige Motivation sorgt). Die mithin überwiegend durch Chicanos selbst in Gang gekommene Forschung zum Gesamtfeld Chicano-Literatur und der einzelnen Uterarischen Gattungen habe ich größtenteils in Literaturberichten und Sammelrezensionen schon bearbeitet

9 (Herms, 1983). 1 Eine ausführliche Darstellung der Forschungslage erübrigt sich also hier. Ich will nur auf vier seit 1985 erschienene Werke kurz eingehen, die ich im weiteren Verlauf dieser Studie wiederholt als Informationsquelle heranziehe. Ein Grundlagenwerk enzyklopädischen Zuschnitts ist Ghicano Literature. A Reference Guide (Martínez, Julio/Lomelí, A., 1985). Zu den wichtigsten Autorinnen werden Daten und Fakten zusammengestellt sowie erste Einschätzungen geliefert. Es finden sich d a r ü b e r h i n a u s zusammenfassende Darstellungen zu übergeordneten T h e m e n z u s a m m e n h ä n g e n wie Chicano Philosophy, Chicano Literary Criticism, Chicano Children's Literature, Chicano Theatre, the Chicana in Chicano Literature, C o n t e m p o r a r y Chicano Novel, Mexican American Literature, etc. Im Anhang gibt es eine Zeittafel u n d ein Glossar. Eine einheitliche methodische oder wissenschaftstheoretische Konzeption ist schon wegen der Vielzahl der Verfasserinnen unmöglich. Das Materied ist nach alphabetischen Stichworten angeordnet. Die Brauchbarkeit variiert je nach Bearbeiter u n d schon vorhandener bzw. anderswo zugänglicher Literatur. Die einzelnen Stichwörter beschreiben in der Regel das Gesamtwerk des betreffenden Autors (oder der Autorin) bis ca. 1983 u n d gehen auch auf die wichtigste Sekundärliteratur ein. Der Band Contemporary Chicano Fiction, A Critical Survey (Lattin, 1986) versammelt (zumeist vorab publizierte) Beiträge seit 1975 zum Chicano-Roman, einige auf Spanisch. Ein Schwerpunkt hegt auf "Tomás Rivera and the Spanish Language Novel". Andere "accomplished voices" unter den R o m a n a u t o r i n n e n wie Villareal, Acosta, Barrio, Hinojosa, Anaya, Méndez, Arias, Brito, Candelaria, Morales und Romero erhalten je ein bis zwei Aufsätze. Chicanas bleiben (Estella Portillo ausgenommen) außen vor, ebenso wie die gesamte kurze Narrativik und die Autobiographien. Die Einleitung des Herausgebers umreißt die Intention: "This volume is a recognition of b o t h the quality of criticism on the Chicano novel and the need to gather together for easy access some of the best of this criticism." (9) Auswahlkriterien f ü r die "Qualität" bleiben freilich ungenannt. In jedem Fall ist der Begriff "fiction" auf das Erscheinungsbild "novel" verengt. Missions in Conflict (v. Bardeleben, et al., 1986) heißt die Kongreßpublikation der ersten Chicano-Tagung auf europäischem Boden, die im Juli 1984 in MainzGermersheim durchgeführt wurde. Ihre Besonderheit bestand sicherlich darin, die "gestandenen" Kämpfer und Barden des Movimiento, die Lyriker Alurista, Elizondo und Montoya zur gleichzeitigen Teilnahme zu bewegen, die sie in programmatischen, politischen, auch partiell literaturtheoretischen Beiträgen verdichte1

Dieser Beitrag berücksichtigt schwerpunktmäßig die Essaybände Leal, Luis, et al., 1982: Modem Chicano Writers; Somers, Joseph/Ybarra-Prausto, Tomás, 1979: A Decade of Chicano Literature-, Tatum, Charles, 1982: Chicano Literature, und Huerta, Jorge,1982: Chicano Theater sowie den Interviewband (Bruce-Novoa, 1980). Eine Sammelrezension, Herms, Dieter, 1982, Gulliver 12, 157-160, behandelt u.a. den Band New Directions in Chicano Scholarship (Romo, Ricardo/Paredes, Raymund, 1978). Eine weitere zur Lyrik, Herms, Dieter, 1987, Gulliver 22 (164-169) arbeitet die Studien von Binder, 1985, Bruce Novoa, 1982, Candelaria, 1986 und Marta Ester Sánchez, 1986 auf.

10 ten. Der europäische R a h m e n vermochte sich von Frankreich u n d der B R D auf Beiträgerinnen aus Italien (Lia Tessarolo Bondolfo) u n d Ungarn (Laszlo Scholz) auszudehnen. Den multiethnischen Aspekt innerhalb der USA vertrat Melba Boyd mit einer Diskussion ihres Gedichtes Song For Maya. Übergreifende theoretische Ansätze fanden sich freilich auch hier nicht. 2 Dieses gilt in gleicher Weise f ü r die Auswahl der Beiträge der Tagung von Paris im März 1986, European Perspectives on Híspante Literature ofthe United States.3 Die A n o r d n u n g des Bandes ist chaotisch u n d die Auswahlkriterien sind kaum erkennb a r . Wertvoll sind die Beiträge von Genaro Padilla u n d Gloria Velazquez Treviño zur älteren Literatur von Chicanos u n d Chicanas vor der "Chicano Renaissance". Aluristas u n d Lomeh's Untersuchungen z u m R o m a n h a b e ich an entsprechender Stelle verarbeitet. Insgesamt reflektiert das schmale Bändchen nicht a n n ä h e r n d den Reichtum u n d die Fülle der Präsentationen auf dem Kongreß selbst. Es ist vorab ein Untersuchungsfeld zu erwähnen, daß in meiner Studie ausgegrenzt bleibt. Manche Sekundärliteratur von Chicanos geht erst allmählich in die kreative Literatur von Chicanos hinein, indem sie sich mit Porträts, der stereotypen Daxstellung, von Chicanos in der nordamerikanischen Literatur ganz allgemein auseinandersetzt. 4 Solche Ansätze sind erst sekundär, in Abhebung von der Negativfolie, an der kreativen Gestaltungskraft von Chicanos interessiert. Die große u n d erschöpfende Untersuchung von Cecil Robinson sei in diesem Z u s a m m e n h a n g g e n a n n t . 5 Ihre Verdienste werden durch diese Bemerkungen keinesfalls herabgesetzt. Doch besteht hier ein grundsätzlich anderes Erkenntnisinteresse. Meines richtet sich ausschließlich auf die Herauspräparierung der Evolution einer eigenen Literaturleistung von Chicanos selbst, die durch Vergleiche mit mexikanischen oder Chicano-Figuren u n d T h e m e n aus dem weiten Feld der US-Literatur nur verwaschen würde. Grundlegende Überlegungen zur Literatur- u n d Kulturtheorie sind innerhalb der Chicanokritik selten. Verstreute Ansätze wie diejenigen von J u a n Gómez Quiñones, J u a n Bruce-Novoa oder Joseph Sommers werden von mir im abschließenden Kapitel des Buches, "Zwei Kulturen" aufgenommen. Ich h a b e der 2

Die Einsichten und Forschungsergebnisse zu einzelnen Themen arbeite ich in den jeweiligen Zusammenhängen auf. 3 Fabre, Genevieve, (ed.), 1988, Arte Público Press, Houston. Die schlampige Lektorierung des Bandes (Der Vorname der Herausgeberin wird durchweg als "Genvieve" angegeben; das Inhaltsverzeichnis enthält keine Seitenangaben, etc.) will ich nicht weiter vertiefen. 4 Auch Anthologien beschreiten diesen Weg. Vgl. stellvertretend Simmen, Edward (ed.), 1971: The Chicano. From Caricature to Self-Portrait. Mentor Books, New York. 5 Robinson, Cecil, 1963: With the Ears of Strangers. The Mexican in American Literature, erweitert als Mexico and the Hispanic Southwest in American Literature (University of Arizona Press, Tucson 1977). Vgl. auch derselbe, "Images o f t h e Mexican in American Literature" und die Beiträge von Edward Murguia und Richard D. Woods über Steinbecks Tortilla Fiat in Lawhn, Juanita (ed.), 1984: Mexico and the United States (San Antonio College), 37-63.

11 gesamten Untersuchung - abgesehen vom eher deskriptiven - , "vertikalen" Ansatz der "zwei Kulturen" (USA u n d Mexiko) relativ unaufdringlich den Leninschen Stempel der demokratischen u n d sozialistischen zweiten K u l t u r aufgedrückt. Hierauf wird im letzten Kapitel des Buches zusammenfassend eingegangen. Dieser "Stempel" wird durch die Hauptuntersuchungsfelder hindurch im Verlaufe des Buches allmählich "fabriziert", etwa ü b e r die Geschichte der Chicanos u n d das politische Movement im Kapitel "Voraussetzungen u n d R a h m e n b e d i n g u n g e n " , über die Rekonstruktion des Teatro Campesino, über die einzelnen Facetten der Erzählkunst (insbesondere P r o t e s t r o m a n , Rivera, literatura chicanesca) u n d ü b e r die Bildervielfalt in der Lyrik speziell der "Barden", der "Pintos", Aluristas u n d der Frauen. Der Kulturbegriff - selbst als ein abgebildeter "gelebter" - kann nicht auf Literatur verengt bleiben; ein Exkurs wirft daher Seitenblicke auf so wichtige u n d ausdrucksvolle Identitätsbereiche der Chicanos wie Malerei, Musik u n d Film. Durch die Querverbindungen, die sich zur Literatur ergeben, erfährt auch diese zusätzliche Klärungen. Der Begriff der zwei Kulturen kann an diesen Gegenständen überdies klarer herausgearbeitet werden. Jenseits theoretischer Ansätze u n d übergreifenden Konzeptionen der Literaturanalyse verfolgt dieses Buch als Hauptziel jedoch dasjenige der umfassenden Information. Zum Zeitpunkt dieser Niederschrift (Sommer 1989) liegt weder auf dem amerikanischen noch auf dem europäischen Markt eine ähnlich erschöpfende Gesamtstudie des Gegenstandes, verfaßt von einer Einzelperson vor. In raffenden Uberblicken werden die Zeitspanne 1948-1959 und r u n d 50 weitere Autorinnen der Periode 1960-1987 vorgestellt. Ein relativ detaillierter Uberblick zu den historischen Abläufen bindet Literatur in das soziokulturelle Umfeld ein. Ausführliche Analysen ergeben sich zum Uterarischen Werk von vier Dramatikerinnen, ca. einem Dutzend Prosakünstlerinnen, sowie besonders reichhaltig im Feld der expressivsten G a t t u n g , der Lyrik (ca. 15 Lyrikerinnen). Daneben beschäftigt mich insbesondere die Institution des Theaters, aber auch andere Formen mündlicher Uberlieferung, Festivals, etc. und generell die Frage von Literaturdistribution. F ü r diejenigen, die das Buch nicht systematisch und chronologisch lesen wollen, sollte der Index den Informationsgehalt erschließen helfen. Die sehr ausführliche (aber immer noch auswählende) Bibliographie wird diejenigen, die sich den Gegenstand der Chicano-Literatur zum Weiterstudium ausgesucht h a b e n , anleiten. Es bleibt zu hoffen, daß das Buch hier und dort zur Motivation eines solchen Weiterstudiums beitragen kann.

12

Erstes Kapitel: Die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen von Chicano-Literatur Die selektiven Hinweise, die dieses Kapitel nur geben kann, machen deutlich, daß sich hinter manchem Teilaspekt ein neues eigenes Buchprojekt verbergen könnte. Das gilt sicherlich für die Frage des Rekurses der Chicanoliteratur auf Mythologien und Philosophien der präkolumbianischen Gesellschaftssysteme. Während einzelne Beeinflussungen gut recherchiert sind (VaJlejos, 1980), fehlten bislang die Gesamtdarstellung. Die Geschichte der Chicanos ist gut ausgearbeitet (vgl. die dortigen Literaturhinweise); meine Zusammenfassung macht sehr unvollkommen einige der Faktoren deutlich, die für das Verständnis von Chicano-Literatur, soweit eine Teilrekonstruktion historischer Zusammenhänge angestrebt wird, von Bedeutung sein können. Zur (zumal spanisch-sprachigen) Literatur der Chicanos vor der "Chicano-Renaissance" 1960 ff. wurde sehr viel Einzelmaterial zusammengetragen. Auch hier fehlt nach wie vor die vereinheitlichende Gesamtdarstellung. Ungleich schwieriger ist die Forschungslage bei Fragen des Literaturmarktes und der Literatursprache. Soziologinnen und Linguistinnen sind hier gefordert. Lediglich das "Movement" als eine der unmittelbar auslösenden Ursachen der Literatur kann als erschöpfend dokumentiert gelten.

Zur Mythologie

und Philosophie

der Azteken und Mayas

Die moderne Chicano-Literatur rekurriert in edlen Gattungen auf Elemente der Geschichte, Mythologie und Ideenlehre der präkolumbianischen Zeit, insonderheit des Imperiums der Azteken. Fragmente des Weltbildes, der Religion und des Alltagslebens erscheinen als Bilder, Zeichen, Versatzstücke, Götterfiguren oder selbst konkrete plot elements in den Romanen, in der Lyrik, im Drama. Bestimmte bekannte Rituale, Konfigurationen, Konstellationen aztekischen Lebens, Elemente kriegerischer Auseinandersetzungen, Hierarchien weltlicher und göttlicher Ordnung, Helden und Heldinnen des aztekischen Mythos, tauchen in dichterischer Verarbeitung auf. Die Aufdeckung einer verschütteten Traditionslinie schafft Identität. Sie bereichert zugleich die Ressourcen kreativer Phantasie, produziert überdies Energien und Kräfte, aus denen, im konkreten zeitgenösssischen Aufeinanderprall der Kulturen als soziale und politische Auseinandersetzung, geschöpft werden kann. Die Projektion des zeitgenössischen Kulturkampfes auf eine einheitliche eigene Traditionslinie kristallisiert sich hinein in das Konzept von Aztlán, jener vermuteten Ursprungsregion der Mexika, ehe sie im Gebiet des heutigen Mexiko Stadt seßhaft wurden. Eine der Theorien lokalisiert diese Region im Nordwesten Mexikos, d.h. also im Südwesten der USA, im Gebiet des heutigen Südkalifornien oder New Mexico. Die Quellenlage ist diffus; es könnte mehrere Aztláns gegeben haben. Es ist wahrscheinlich müßig, hier weiter zu spekulieren; denn "..the name is not only

13 legendary, making it h a r d to fix in space or time; it m u s t equally b e a p p r e c i a t e d t h a t Aztlan is as m u c h a concept as a place." (Davies, 1977) 1 Als eine H a u p t f i g u r der heutigen Identifikationsauseinandersetzungen k a n n der G o t t Huitzilopochtli gelten, das Idol der N o m a d e n , g e t r a g e n von vier d i e n e n d e n P r i e s t e r n , er g a b den Azteken den n e u e n N a m e n Mexica (von N a h u a t l mcztli = M o n d ) . E r g a b i h n e n Pfeil u n d Bogen als Zeichen des Z u s a m m e n f ü g e n s zweier K r ä f t e , des N o m a d i s c h e n u n d des Zivilisierten. Huitzilopochtli w a r g e b o r e n von Coatlique, der M u t t e r der 400 Söhne. E r k a m schon m i t d e m b e r ü h m t e n Serpent of Fire zur Welt ( W i e d e r g e b u r t ) . Sein N a m e steht f ü r " t h e h u m m i n g bird of t h e S o u t h . " Die U m s t ä n d e seiner G e b u r t k ö n n e n als Allgemeinplatz des aztekischen Militarismus gelten. "Huitzilopochtli is b o r n killing a n y b o d y w h o h a s o p p o s e d birth; full of w r a t h , fury, a n d h a t r e d for his b r o t h e r s . His was n o h u m b l e b i r t h in a m a n g e r , b u t r a t h e r a violent cataclysm." ( H u e r t a , 1973, 99) D a s E m b l e m der Beendigung der langen Migration der Mexica (ca.1100-1345) u n t e r seiner F ü h r u n g i m Tal von Mexico, die Verbindung von Adler u n d Schlange ( e a g l e / s e r p e n t ) deutet die Feministin Gloria Anzaldua als Symbol des "struggle b e t w e e n t h e spirit u a l / c e l e s t i a l / m a l e a n d t h e u n d e r w o r l d / e a r t h / f e m i n i n e . T h e symbolic sacrifice of t h e serpent t o t h e 'higher' masculine powers indicates t h a t t h e p a t r i a r c h a l order h a d already vanquished t h e femininine a n d m a t r i a r c h a l order in p r e - C o l u m b i a n America." ( A n z a l d u a , 1987, 5) Diese D e u t u n g , schon fast zwei J a h r z e h n t e n a c h der Erstrezeption vorkolumbianischen Ideenguts in der C h i c a n o b e w e g u n g , stellt exemplarisch den entwickelten kritischen S t a n d der C h i c a n o l i t e r a t u r zu ihren Vorfahren dar. Von gleichwertigem R a n g unter den G o t t h e i t e n in der Chicano-Rezeption ist Quetzalcoatl, der d u r c h das E m b l e m der gefiederten Schisinge ( p l u m e d s e r p e n t ) charakterisiert ist. "This ancient Mesoamerican deity is associated with t h e celestial creativity t h e m e in his role eis one of t h e f u n d a m e n t a l c r e a t o r s sind t h e provider of s u s t e n a n c e for m a n k i n d . " ( B e r d a n , 1982, 129) Quetzalcoatl war es, a n dessen R ü c k k u n f t 1519 die Azteken g l a u b t e n , so ergab sich die b e r ü h m t - b e r ü c h tigte, verhängnisvolle Verwechslung m i t d e m E r o b e r e r Cortes. Mit Q u e t z a l c o a t l wird die gesamte Tradition der gefiederten Schlange auf europäische U r s p r ü n g e z u r ü c k g e f ü h r t . 2 Dies ließe sich d a d u r c h s t ü t z e n , daß a u c h M a y a s ( K u k u l c a n ) , Inkas (Viracocha) u n d ein brasilianischer I n d i a n e r s t a m m ( S u m e ) dieselbe F i g u r eines aus d e m O s t e n k o m m e n d e n bärtigen Weißen m i t der gefiederten Schlange k e n n e n . In der W a h r n e h m u n g der Chicanos ist Quetzalcoatl der g u t e G o t t , der Inspiration, Zivilisation u n d Kreativität verheißt. E r v e r m e n g t sich in der Uberlieferung gelegentlich mit derjenigen des Toltekenherrschers u n d Priesters Topiltzin Quetzal1

Die Chicano-Autoren selbst berufen sich wiederholt auf die Arbeiten von Miguel LeonPortilla, insbes. 1963, Aztec Thought and Culture (University of Oklahoma Press, Norman), aber auch 1969, Pre-Columbian Literatures of Mexico (Norman). Vgl. auch Erdheim, 1972 und Berdan, 1982. 2 Vgl. das Kapitel "The Plumed Serpent" in der Untersuchung von Gordon, 1971, 50fF.

14 coatí, der in Ungnade fiel u n d verbrannt wurde. Mit seiner Einäscherung verknüpft sich die Legende des Morgensterns Venus (Berdan, 1982, 129). Andere Gottheiten, die in der Chicano-Rezeption bedeutsam wurden, sind der Regengott Tlaloc u n d der Sonnengott Tonatiuh. "All warriors were dedicated to the sun's service: they supplied the sun with the blood of their captives; and if they themselves died serving the sun, they accompanied Tonatiuh on his daily journey f r o m dawn to noon." (Berdan, 1982,128) Verknüpft mit den Erd- und Fruchtbarkeitsmythen sind vor allem die Göttinnen Coatlicue und Tonantzin. Letztere wird (zuletzt in La Carpa des los Rasquachis des Teatro Campesino) mit der mestiza versión der J u n g f r a u Maria assozüert. Die enthusiastische u n d häufig äußerst emotionale Wiederaneignung der kulturellen Tradition, wie sie im Chicanismo stattfand - der darin vielfach sehr ungebrochene Vorbildcharakter des imperialistischen und militaristischen Aztekenreiches - , m u ß t e bisweilen zu Widersprüchen u n d durchaus nicht unproblematischen Appropriierungsprozessen führen. Nehmen wir beispielsweise die seit 1973 von Chícanos zunächst alljährlich veranstalteten Dichterfestivals Flor y Canto. In Gustavo Segades Einleitung zu einer der gleichnamigen Anthologien 3 werden die Chicanodichter - ohne historische Ableitung des Titelbegriffs - hymnisch gefeiert als "warriors of the p e n " (Alurista), die gegen das Herrschaftssystem der Anglos schreibend ankämpfen. Mit dem "Flor y Canto"-Motiv wird undifferenziert auf das entwickelte Herrschaftssystem der Azteken rekurriert. Blumen u n d Gesang symbolisieren f ü r die kriegerische Führungsschicht der Azteken nicht nur Schönheit, Kostbarkeit, Glück, sondern Krieg, R u h m , Prestige. Die altaztekischen Heldenlieder vermitteln Krieg u n d Blut, Schönheit und Lebensfreude, Genuß u n d Sünde, Diesseits und Vergänglichkeit als rauschhaft-einheitlichen Inhalt der Blume. Blumen und Prestige gehen hier ineinander über wegen ihrer Beziehung zum Krieg. Die im Kampf gewonnenen Blumen versinnbildlichen einmal die Gefangenen, die man machte, und sodann den Ruhm und die Ehre - also das Prestige, das sie dem Krieger einbrachten. (Erdheim, 1972, 48) Wenn Blumen und Gesang zum zentralen Motiv einer kämpferischen Bildlichkeit in der heutigen Chicano-Dichtung werden, ist der Bezug auf die Klassengesellschaft der Azteken u n d deren spezifische Herrschaftsverhältnisse darin nicht mitreflektiert. Die mythische Beschwörung aztekischer Kultur als Form und Inhalt der literarischen Ausprägung u n d Widerspiegelung von Identitätsbewußtsein der Chicanos in den USA heute vereinseitigt die Komplexität gesellschaftlicher Prozesse im Imperialismus auf die Stoßrichtung Mestizos/Aztlán versus Gringos/USA, auf eine projektierte Umkehrung der Siedlungs- und Machtverhältnisse: die Euroamerikanisierung der Indios u n d Mestizos soll nun umgekehrt werden in die Indianisierung der Amerikaner - gleichsam der kulturell hergestellte Präkolonialismus. Dementsprechend sieht der Plan Espiritual de Aztlán die Schaffung der "Nation of Aztlán" im größeren politisch-sozialen Rahmen des "Bronze Continent" vor (s.u.). 3

"An Introduction to Floricanto", in Alurista, F.A.Cervantes, J.Goméz-Quiñones, M.A.Pacheco, G.Segade (eds.), 1976, 1-5.

15 Niclt zuletzt wegen dieses problematischen Charakters der Aztekenaneignung taten führende Literaten des Movimiento (z.B. Alurista) realtiv rasch den zweiten Schritt zu den Mayas, andere (z.B. Valdez) n a h m e n gar nicht erst den Umweg. Weingleich Luis Valdez "the duality of life and death" als bleibende Botschaft az tikis eher Lebensweise und Philosophie m i t n i m m t , fasziniert ihn an den Mayas "the deep ... Indio vision of genesis! Where else could life have begun b u t in the water? And with the Creator hidden under blue and green feathers!" 4 Das von Valdez hier angesprochene Grund- und H a u p t b u c h der Maya-Kultur, Popol Vuh,5 enthält in der Tat eine Schöpfungsgeschichte, die der biblischen (abgesehen von erstaunlichen Parallelen) ein Faszination kaum nachsteht. "In this m a n n e r the sky existed and also the Heart of Heaven, which is the n a m e of God and thus He is cilled." (Valdez/Steiner (eds.), 1972, 4) Das Zentrum des Himmels ist Huracan der eigentlich eine Dreieinigkeit darstellt: Caculha Huracan, Chipi-Caculha, Raxa-Caculha. Thus let it be done! Let the emptiness be filled! Let the water recede and make £ void, let the earth appear and become solid; let it be done. Thus they spoke, let there be light, let there be dawn in the sky and on the earth! There shall be reither glory nor grandeur in our creation and formation until the human being ii made, man is formed. So they spoke. (Popol Vuh, 5) Ein weiteres Faszinosum ist die Weltenlehre der Mayas, ihre Kosmogonie, worin nach Valdez Ansätze bereits der modernen Theorie des Atoms enthalten sind. Lau-. Domingo Martinez Paredes ist im Popol Vuh eine Theorie des "Nebulösen" entvickelt, die sich zentral mit Fragen der Energie u n d Kondensation der Materie berührt, ".. t h a t cellular microcosmos in which a true whirlwind of energy opeiates a n d multiplies elements t h a t are gyrating at fantastic velocities precisely as a condition for a molecule to conserve its form ..." 6 Zur Maya-Version der Schöpfungsgeschichte, dies läßt sich nur sehr verkürzt andeuten, verhält sich die Atomphysik zumindest nicht in der Position ganz unversöhnlichen Gegensatzes, den die buchstäblichen Ausleger der biblischen Genesis konstatieren, wenn sie jegliche Theorie von Evolution zurückweisen. Es n u ß weiterhin einleuchten, daß das Konzept kosmischer O r d n u n g , das sich z.B. im Kalender der Mayas ausdrückt, attraktiver war für sensible Literaturmacher die a m Schnittpunkt zweier nationaler Kulturen Auflösungserscheinungen u n d Fragmentierungen der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft registrieren. "...the Mayan calendar was much more t h a n an arbitrary abstraction, for i'. is more t h a n a system of measuring time. It is also a description of cosmic order, of the life cycles of the gods and the space they inhabit in the cosmos." (Valejos, 1980, 31) Die Struktur einer Ordnung im Koordinatensystem von R a u m und Zeit (Alurista: "timespace") mußte einen attraktiven Fluchtpunkt darstellen 4

Lus Valdez, "Introduction; 'La Plebe'", in ders.,/Stan Steiner (eds.), 1972, XX. Pcpol Vuh: The Sacred. Book of the Ancient Quiche Maya, über das Spanische ins EngLsche übersetzt (University of Oklahoma Press, Norman 1950). 6 Paredes, 1968, zit. nach der Übersetzung von Valdez, 1972, 22. Weiteres Informationsrraterial zu den Mayas vgl. u.a.: Riese, 1972, Farriss, 1984. 5

16 angesichts eines zeitgenössischen Chaos, wo just diese zentralen Prinzipien in Frage gestellt sind. Was die Literatur u n d Weltsicht der Chicanos schließlich mit derjenigen nordamerikanischer I n d i a n e r s t ä m m e eint u n d ein weiteres Element des Rückgriffs auf die K u l t u r der May eis u n d Azteken begründet, ist die Verehrung der N a t u r . Respekt u n d Achtung vor der N a t u r , der Ganzheit einer heilen Erde, ist insbesondere bed e u t s a m angesichts der ökologischen Zerstörung, die die Menschheit, zumal ihre K r ä f t e der Profitmaximierung, gezielt und systematisch betreiben. "Perhaps the greatest link joining the ancient Indians of Mexico ... and severed contemporary Chicano writers is the respect for n a t u r e they have in common." (Vallejos, 36) Laut Tomas Rivera fühlt der Chicano "a symbiotic existence with the land and if he did not u n d e r s t a n d the political, economic, and social systems t h a t surrounded and t h a t tried t o structure him, he did understand his relationship with t h e realities of the land, the sun, the wind, and the water." 7 Die Suche des Chicanos nach einem neuen Wertesystem angesichts der Zerbrochenheit u n d Destruktion der ihn u m g e b e n d e n Umwelt orientiert sich daher fast mit Notwendigkeit an der "heilen Welt" der N a t u r , der Schöpfung, der Erde der Mayas u n d Azteken. "Primordial n a t u r e , the visible manifestations of the sacred, was not only a 'model o f ' the 'celestial archetype' in ancient Indian belief. It was also a 'model for' men to revere a n d imitate." (Vallejos, 37) So kommt es im "magischen Realismus" einiger Beispiele der Chicanoliteratur zur Rekonstruktion einer Demut und Unterwerfung des Individuums gegenüber der kosmischen Ordnung, die die Einheit von Mensch u n d N a t u r demonstriert, einer kommunalen E r f a h r u n g u n d Lebensweise, die den "rugged individualism" des Yankee-Kapitalismus zurückweist. Der Rückgriff auf die Kultur der Azteken und Mayas kann somit - zumindest partiell - z u m I n s t r u m e n t einer Protest- und Widerstandskultur werden, die anstelle der Zerstörungswut einer dehumanisierten Maschinerie die utopische Vision eines heilen Ganzen setzt. Im Zeichen der Ganzheit u n d Harmonie von Mensch, Götterwelt und Natur, wie sie von präkolumbianischen bis zu heutigen indianischen Positionen angezeigt wird, läßt sich auch die Fähigkeit der Chicanos besser einordnen, eine indianische Welto r d n u n g mit der christlichen Glaubenslehre zu integrieren. F ü r gläubige Chicanos sind letztlich Popol Vuh u n d Heilige Schrift, Maya-Schöpfungsgeschichteund Genesis, Jesus Christus u n d Quetzalcoatl nur verschiedene Sichtweisen u n d Ausdrucksformen ein u n d desselben übergeordneten Glaubensphänomens einer lenkenden Gottheit, die unser Leben durchwaltet. F ü r menschliches Leben in Teilhabe u n d Verantwortung an der Schöpfung sind die Signale dieser unterschiedlichen Quellen im wesentlichen deckungsgleich.

7 Tomas Rivera, "Recuerdo, Des cumbrimiento, y vountad en el Proceso Imaginativo Literario", engl. translation Gustavo Valades, Atisbos: Journal of Chicano Research (Summer 1975), 67.

17 Geschichte

der

Chícanos

Die Eroberung Mexikos, Cortés, der angebliche Quetzalcoatl, u n d seine Übersetzerin u n d Lebensgefährtin La Malinche; die koloniale Unterwerfung u n d Missionierung, die Einwanderung von Don J u a n de Onate, 1598, die Pueblo-Revolte 1680, die Kollisionen indigener Religiosität u n d die aggressiv vordringende Christianisierung 8 - dieses u n d vieles andere mehr sind geschichtliche Ereignisse von existentieller Dimension, die in der Chicanoliteratur immer wieder auftauchen. Sie sind unzweifelhaft formative Elemente einer historisch fundierten Kultur der Chícanos. Jedoch: Chícanos im definierten Sinn als Einwohnerinnen der USA von spanisch-mestizischer Herkunft gibt es - streng genommen - erst seit 1848, dem Zeitpunkt der Einverleibung großer Teile Mexikos durch den imperialen Zugriff des nördlichen Nachbarn. 9 In einer Situation, d a Mexiko sich 1821 soeben erst vom spanischen Kolonialjoch befreit hatte, erfuhren die d ü n n besiedelten Gebiete des heutigen Südwestens (ca. 70.000 Einwohnerinnen vorwiegend indianisch-mestizischer P r ä g u n g , einige spanische Großgrundbesitzer u n d Missionare) eine zunehmende ökonomische Durchdringung von Norden her. Landwirtschaft, Viehzucht, seit 1820 auch Baumwollanbau, waren die vornehmlichen Aktivitäten. Ein Hauptwiderspruch ergab sich in der Frage der Sklaverei. Der vordringende Baumwollanbau b e d u r f t e ihrer als notwendiger Produktivkraft, Mexiko h a t t e mit der Unabhängigkeit die Sklaverei bereits abgeschafft. Beginnend mit der Fredonia-Revolte 1826, f ü h r t e eine Reihe von Konflikten zunächst zu Versuchen des Texas-Ankaufs (etwa durch die Administrationen J o h n Quincy A d a m s ' und Andrew Jacksons), d a n n zur offenen Rebellion der Anglosiedler gegen die mexikanische Hegemonie, die sich schließlich im texanischmexikanischen Krieg entlud. Die sogenannte Republik von Texas war das Ergebnis im J a h r e 1836. Chícanos berauschen sich bis heute a m kurzfristigen Zwischenerfolg der Einnahme des Alamo von San Antonio durch die siegreiche mexikanische Armee des Generals Santa Ana. Obgleich die USA offiziell eine Politik der Nichteinmischung u n d Neutralität verfolgte, wax doch die Einverleibung der "Republik" nur eine Frage der Zeit. Im Präsidentenwahlkampf 1844 siegte J a m e s K. Polk auf der Grundlage einer "annexationist platform". M a n streckte die Fühler in andere Regionen des Südwestens aus. I m Gebiet des heutigen New Mexico war durch die Missouri-Kaufleute u n d den Santa Fé Trail ökonomisch der Boden bereitet f ü r die zunächst friedliche "Slidell-Mission", den Versuch des Ankaufs von New Mexico und Kalifornien. Als dieser fehlschlug, besetzten alsbald US-Truppen die Rio-Grande-Mündung, die Kriegserklärung der USA gegenüber Mexiko 1846 war die nachträgliche Legalisierung der flagranten Grenzverletzung. Die kriegerische Auseinandersetzung endete bekanntermaßen 8

Vgl. hierzu eine neuere Publikation von Fogel, 1988. Ich stütze mich vor allem auf drei umfassende Arbeiten: McWilliams, 1968; Acuña, 1981; Barrera, 1979.

9

18 mit dem Vertrag von Guadalupe Hidalgo, neun Tage nach der ersten Nachricht ü b e r Goldfunde in Kalifornien geschlossen; er halbierte faktisch die seit gerade 25 J a h r e n existente Republik von Mexiko. Die Erklärungsversuche f ü r Krieg und Annexion in der historischen Forschung sind mannigfaltig. Das Manifest Destiny-Konzept wird allgemein, sowohl von dessen Kritikern als auch Apologeten, als Kern der Motivation, des Dranges der Vereinigten Staaten in diese Region, gesehen. Man versteht d a r u n t e r meist eine populäre Ideologie, die sich mit der Pionierhaltung der "westward expansion" verknüpfte sils Ausdruck der Sehnsucht u n d des Uberlebenswillens der ganzen jungen Nation. Demgegenüber ist festzuhalten, daß Ideen und Konzepte dieser Art nie frei schweb e n d e Gedankenkonstrukte sind, sondern an massive ökonomische Interessen, diejenigen des Kaufmannskapitals, der aufstrebenden M a n u f a k t u r u n d knospenden Industrie des Nordens angebunden sind, ebenso wie ein diejenigen des sich ausbreitenden u n d ständig technologisch revolutionierenden Agrarkapitals des Südens der USA. Erst die willige u n d geschickte Bündelung u n d Propagierimg der genannten Interessen durch die ideologischen Appaxate und I n s t r u m e n t e (Journalismus, Politik) lassen Manifest Destiny zu einer auch von denjenigen Kreisen akzeptierten u n d internalisierten Uberzeugung werden, die daraus keinen unmittelbaren Profit ziehen. Die Expansion einer Nation geht auf Kosten der anderen Nation und ihrer Bevölkerung: " T h e former citizens of Mexico who remained in this area became American citizens and constituted the original Chicanos ... their incorporation into the United States must b e seen as the product of an imperial war." (Barrera, 1979, 11) Die Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung, die nachfolgende Besiedlung und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, die - mit unterschiedlicher Intensität u n d Geschwindigkeit - die Regionen von Texas, New Mexico (mit Arizona) u n d Kalifornien vollends appropriierte, wird im Kontext kolonialer E r o b e r u n g und der Herausbildung entsprechender gesellschaftlicher S t r u k t u r e n interpretiert. Texas bietet - bedingt durch eine vergleichweise f r ü h e Besiedlung vom AngloNorden her - das komplizierteste Bild dar. Die Landspekulation als entscheidender ökonomischer Faktor drückte der Region bereits ihren Stempel in den 1830er J a h r e n vor der Errichtung der "Republik" auf. Um 1860 kontrollierte eine weiße Oligarchie die wirtschaftliche u n d politische Situation in Texas. "A census taken in t h a t year showed t h a t 263 Texans owned $ 100.000 in real property; 57 of these wealthy men lived in southeast Texas, only 2 were of Mexican extraction and their holdings were in Cameron County ..." (Acuna, 1981, 31) "Rangers" und "raiders" vertrieben die mexikanischen Farmer gewaltsam von ihren Besitztümern. In den anderen Regionen ging m a n mit legalistischen u n d politischen Mitteln differenzierter vor. Die ökonomische Penetration war im T e m p o verlangsamt gegenüber Texas. Die Landwirtschaft New Mexicos war im wesentlichen durch die Haciendas t r u k t u r b e s t i m m t . " T h e Hispano hold u p o n much of their newly acquired country was necessarily thin, discontinuous, and at times no more t h a n seasonal. T h e vanguard of their herders was often repelled and confined to the poorer lands, the

19 outermost of their settlements were often soon enclaved within Anglo cattle country." (Meinig, 1971, 34) Erst der Bau der transkontinentalen Eisenbahn - wie übrigens in allen Gebieten sorgte für eine Beschleunigung des Tempos der Erschließung, brachte einen B o o m an "Anglo influx". Der "land transfer", die Enteignung des Landes wurde damit ungeheuer akzeleriert. War unter spanischer und mexikanischer Regierung die Landbesteuerung flexibel gewesen, so setzte die neue Administration eine fixe Besteuerung von $ 1,50 pro acre fest und eignete sich die kommunal genutzten Weideund Waldflächen an. "In many cases, the Spanish-Americans could not pay land taxes of $ 1,50 an acre, or more, levied against the grazing lands. Anglo- Americans would then buy up the lands at tax sales and promptly have the land t a x reduced to thirty or forty cents an acre. Often the villagers would be permitted, for a time, to continue grazing their small flocks on the range ..." (McWilliams, 1968, 77) Die ehemals kommunalen Weideflächen wurden durch den National Forest Service in "Staatseigentum" überführt. Dies führte zu den genannten "grazing fees". Das Problem, genauer: der Widerspruch zwischen race and class ergab sich in New Mexico insbesondere durch das nennenswerte Vorhandensein von Großgrundbesitzern spanischer Herkunft, weis innerhalb der "Ureinwohner" bereits den Klassenunterschied von ricos und pobres erzeugte. "Pobres", das waren die Kleinbauern und das anwachsende Proletariat, der Herkunft nach mestizos oder auch indios. Die rein spanischstämmigen ricos traten aufgrund ihrer Interessenslage als Besitzende zunehmend in Allianzen mit Anglos ein, in denen sie naturgemäß letztinstanzlich der unterlegene Partner waren. Sie genossen aber gleichzeitig einen gewissen Vertrauensvorschuß bei der ärmeren Bevölkerung. " T h e role of the ricos in the post-Mexican American War period was to provide their Anglo partners with political support through their influence with the Hispano population." (Barrera, 1979, 29) Der Gegensatz von ricos und pobres bestimmt das gesellschaftliche Gefüge, die ideologische Sinngebung des Lebens etc., in New Mexico bis auf den heutigen Tag als Gegensatz von Spaniern und Mestizen. Die Herrschaft des Santa-Fe-Ringes, eines Konglomerates von Kaufleuten, Bankiers, Politikern, Rechtsanwälten und Großfarmern, legte in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Basis dafür, daß rund 4 / 5 der "former grant areas" des neu-mexikanischen Landes in die Hände der Anglos übergingen. Insbesondere der Verlust des kommunalen Landes (ursprünglich 2 Millionen acres, 1930 nur noch 300.000 acres) zerstörte die wirtschaftlichen Möglichkeiten der alten Dorfstrukturen, produzierte zunächst die Proletarisierung, dann die Pauperisierung der Chicano-Bauern, die einstmals ihr Auskommen gehabt hatten. Die Hauptanreize für den B o o m der Angloübernahme Kaliforniens waxen der Gold Rush der späten 1840er und 50er J a h r e und der B a u der südkalifornischen Eisenbahnen der 70er und frühen 80er Jahre. Die erste Welle der Landnahme vollzog sich somit im Norden Kaliforniens rascher als im Süden. Eine Mischung von Faktoren und Strategien bestimmte das Verfahren: neue Formen des Nachweises der Ansprüche auf Land, denen sich die Alteingesessenen oftmals nicht gewachsen sahen; Schikanen innerhalb des legalistischen Vorgehens, die Anglo-Richter ge-

20 genüber der Bevölkerung ausübten; Manipulation der Besteuerung; erhöhte Gerichtskosten; Einschüchterung u n d Gewalt seitens der Anglo "squatters"; Naturkatastrophen wie etwa Dürre; allmähliche Herausbildung eines "institutional racism". "No set p a t t e r n emerges in these land transformations, but the eroded claims of t h e original claimants washed away steadily and flowed into t h e hands of the newcomers-financiers, railroad developers, town promoters, cooperative colonizers, a n d irrigation companies." (Pitt, 1970, 275) Insgesamt gesehen, resultierte die organisierte L a n d n a h m e in einer ständigen Schmälerung der ökonomischen Basis der Mexiko-Amerikaner. Mithin entwickelten sich die Einflußmöglichkeiten auf die Gestaltung des politischen Entscheidungsprozesses gegen Null. Die ehemaligen Kleinbauern wurden immer mehr in ein verfügbares Proletariat verwandelt. Das koloniale Ausbeutungssystem, das auf der Arbeitskraft von Chicanos gründete, bildete sich heraus. Grob zusammengefaßt, wurde der Prozeß der ökonomischen Formation in der zweiten Hälfte des 19. J a h r h u n d e r t s durch die rapide Industrialisierung b e s t i m m t . Sie ging ein in die Expansion der Agrikultur als technologische Revolution. Die Gewinnung von Metallen u n d anderen Rohstoffen n a h m massiv zu. Der Drang in den Südwesten war eine entscheidende Komponente des Expansionsprozesses. Landwirtschaft u n d Viehzucht, der Siegeszug der Eisenbahnen und der Bergbau waren im Südwesten die herausragenden Investitionsfelder. Genauer aufgeschlüsselt: seit ca. 1850 begann in Texas u n d Kalifornien die Landwirtschaft, die Viehzucht zurückzudrängen. Dabei überflügelte in Texas u m 1870 der Baumwollanbau denjenigen von Weizen und anderen Getreidesorten, in Kalifornien zogen u m dieselbe Zeit Früchte und Gemüse besonders an. "Subsistence f a r m i n g " , der Ackerbau f ü r den eigenen Konsum, wich vollends dem "commercial farming". Das Agribusiness begann. Die weitgehend unentfremdete Arbeit des unabhängigen Kleinbauern wandelte sich zur lohnabhängigen Landarbeit. Der zweite große Sektor, in dem Lohnarbeit wachsenden Ausmaßes verlangt war, e n t s t a n d durch den Bau der transkontinentalen Eisenbahnlinien zwischen 1870 u n d 1890. Die Eisenbahngesellschaften wurden zu führenden "Arbeitgebern", zunächst f ü r die Bauaxbeit, d a n n den Betrieb der Linien. Die neue Transportform gab der Expansion der Landwirtschaft neue Impulse, vor allem jedoch auch dem dritten Sektor, der A u s b e u t u n g der natürlichen Ressourcen. Nach der Holzgewinnung und dem Fellhandel waren es vor allem der Silber- u n d K u p f e r a b b a u in Arizona u n d New Mexico, die ein immenses Potential von Arbeitskraft verschlangen. Die rapide Industrialisierung sorgte f ü r eine rasche Angloüberfremdung der ursprünglich mexikanischen Gebiete, wobei freilich die einzelnen Regionen sehr unterschiedliche Wachstumsraten aufwiesen. Kalifornien erlebte den größten Schub, von 100.000 auf 560.000 Einwohnerinnen zwischen 1850 u n d 1870. Arizona wies noch u m 1900 nicht m e h r als 125.000 Einwohnerinnen auf. Lediglich im südlichen Texas u n d in New Mexico b e h a u p t e t e n i m 19. J a h r h u n d e r t die Chicanos die Bevölkerungsmehrheit. Das Ausmaß der Urbanisierung hielt sich in Grenzen. Natürlich wuchsen ältere Städte wie San Antonio u n d Santa Fe in der zweiten Hälfte des J a h r h u n d e r t s , die meisten Stadtgründungen Kaliforniens fallen

21 in diese Periode. Vor der mexikanischen Revolution fand auch bereits eine nennenswerte Nordwanderung der Mexikanerinnen statt. Chinesische und japanische Einwanderlnnen siedelten vorwiegend entlang der Westküste. Unter den Bedingungen der rasch zunehmenden Industrialisierung des Südwestens in den genannten Bereichen Landwirtschaft, Eisenbahn und Bergbau bildete sich eine Arbeitsstruktur heraus, die Barrera als "colonial labor system" definiert: " A colonial labor system exists when the labor force is segmented along ethnic and/or racial lines, and one or more of the segments is systematically maintained in a subordinate position". (Barrera, 1979, 39) Dieser Ansatz, empirisch abgeleitet aus den Arbeitsbedingungen und Ausbeutungsverhältnissen, ordnet sich in den umfassenderen historischen ein, wie ihn Acuna definiert: "The Mexicans in the conquered territory became victims of a colonial process in which the U.S. troops acted as an army of occupation. This process of conquest and colonization involved violence and brutality on the part of the conquerors, a system of privilege based on racism, and exploitation of the labor of Mexicans and other poor people". (Acuna, 1981, 1) Freilich wurde - soweit verfügbar - auch schwarzamerikanische und asiatische Arbeitskraft ausgebeutet, jedoch stellten Chicanos als Nachfahren der Ureinwohner der Region den weitaus größten Anteil. Zudem wurde durch Maßnahmen wie den "Chinese Exclusion Act" (1882) oder durch ein Gentlemen's Agreement mit Japan 1906 der Import asiatischer Arbeit eingeschränkt. Der Einsatz von Chicanos als "colonized labor force" variierte je nach dem Sektor der Beschäftigung. In Regionen wie dem nördlichen New Mexico oder dem südlichen Colorado hielten sich länger als anderswo beispielsweise eine ChicanoKleinbauern-Produktionsweise oder das partido-System, wonach "the landlord provided the tenant with a herd and with access to grazing lands, and the tenant was usually obligated to repay the patron with a certain payment in sheep at regular intervals." (Barrera, 1979, 55) Auch in solchen marginalen Bereichen, wo zwar die neue ökonomische Ordnung schon durchgriff, aber Chicano-Arbeit keine Verwendung fand, läßt sich "colonized labor" nicht nachweisen. Im Gegenteil: das System von "colonized labor" beweist sich am stärksten dort, wo Chicanos traditionellerweise kompetent waren, d.h. im Sektor der Landwirtschaft, Viehzucht und des Bergbaus. Hier hatte sich nach dem klassischen Muster, das wir in der Frühphase der Entstehung des Kapitalismus in Europa beobachten können, der Prozeß vom Landraub über die Proletarisierung zur schließlichen Pauperisierung vollzogen. Entsprechend der Logik dieses Prozesses war eine Entwicklung von der "debt peonage" über die Diskriminierung am Arbeitsplatz durch Jobklassifizierung und Lohndifferenzierung zur Verfügbarkeit von Chicanos als Reservearmee zu beobachten. Das "company store"-Wesen etwa in den Bergbaugebieten Arizonas schuf die vollendeten Abhängigkeitsverhältnisse der Verschuldung: "Miners had little choice but to buy the necessities of life at company stores, and by keeping the wages of Mexican and Chicano miners low enough and jacking the prices of goods high enough, the mine owners could keep them in a more or less perpetual state of debt and thus unable to leave." (Barrera, 1979, 41) Die gezahlten Löhne wurden somit

22 von den Besitzern voll wieder hereingeholt. In den Bergwerken Arizonas u n d Kaliforniens, wie auch im texanischen Agribusiness w u r d e das Prinzip der "cheap labor" angewandt. Ein doppeltes Lohnsystem stellte sicher, daß Chicanos u n d Anglos (bzw. "white ethnic minorities", d.h. Einwanderlnnen aus Osteuropa) f ü r die gleiche Arbeit unterschiedlichen Lohn erhielten. Dieses Modell wurde ergänzt durch die Vorauswahl von Arbeitsplätzen je nach Zugehörigkeit zu Bevölkerungsgruppen. Gleichsam naturwüchsig bildete sich heraus, daß auf Anglo-Ranches die Aufseher Anglos, die "average cowhands" Chicanos waren; daß bei Betrieb der Eisenbahnen "the common labor on the rails" von Chicanos verrichtet wurde; daß nach zunehmender Mechanisierung des Bergbaus Anglos die Maschinen bedienten, Chicanos die Handarbeit a u s f ü h r t e n . Somit wax das System der "Reserve Labor Force", das bis auf den heutigen Tag den Einsatz von Minoritäten im Arbeitsprozeß b e s t i m m t , bereits vorprogrammiert. Die Saisontätigkeit der Wanderarbeiter in Kalifornien begann also bereits mit der Herausbildung des "fruit and vegetable agribusiness" der 1870er J a h r e . " W h a t has long been termed the ' f a r m labor problem' in California may be said to date f r o m t h e introduction of intensive farming with the a t t e n d a n t requirements for an a b u n d a n c e of cheap, skilled, mobile, and t e m p o r a r y labor." (McWilliams, 1968, 65) Die Wurzeln des f ü r "farbige" Minoritäten nach wie vor geltenden "last hired - first fired"-Prinzips werden damit erkennbar. Die Errichtung des kolonialen Arbeitssystems vollzog sich nicht primär nach Gesichtspunkten rassistischer Diskriminierung, sondern nach dem rationalen Kalkül der Interessen der Kapitalisten als herrschender Klasse, die gezielt alle nationale Identität liquidierte. So ließ sich etwa im Bergbau beobachten, daß "... m a n y of t h e mining superintendents purposely hired men from as wide a range of nationalities as possible in t h e hope t h a t cultured and linguistic differences would make union organization more difficult." (Lingenfelder, 1974, 7) Rassismus weir mithin eher ein sekundäres P h ä n o m e n , wenn auch das von den Kapitalisten praktizierte klassische "divide et impera"-System bewirkte, daß Rassismus sich auch eigendynamisch entfalten konnte. Die Artikulation und Organisation von Protest u n d Widerstand gegen das errichtete Arbeits- und Ausbeutungssystem war unter den geschilderten Bedingungen sehr erschwert. Gemäß der theoretischen Bestimmung der zwei Kulturen nach Lenin (s.u.), wonach die zweite, unterdrückte, sich immer nur in "Elementen" realisiert, gab es indessen in den Regionen des Südwestens vielfältige, diskontinuierliche, fragmentarisierte Form e n des Widerstands, die eine Geschichtsschreibung zweiter Kultur der Region vor der Verschüttung zu bewahren hätte. Manche der Akte individualistischen Aufbegehrens bewegen sich im Raster des bandido-Wesens oder der Hobsbawmschen "primitive rebels". Dem stehen solche mit einem gewissen ideologischen Konzept oder Ansätze eines movement gegenüber. Die Serie von bürgerkriegsähnlichen Aufständen in Texas der 1860er J a h r e unter F ü h r u n g von J u a n "Cheno" Cortina basierte auf einem P r o g r a m m , "Declaration of Grievances", das aus der Sicht der A r m e n in der Region die "Besatzungsmacht" der Anglos der Verübung schwerwiegender Ungerechtigkeiten an-

23 klagt. Cortinas Diktion ist erfüllt vom Sendungsbewußtsein im K a m p f gegen die Unterdrückung: "It would appear t h a t justice had fled f r o m this world, leaving you to the caprice of your oppressors ... T h e race has never humbled itself before the conqueror ... Mexicans! My part is taken, the voice of revelation whispers to me t h a t to m e is entrusted the work of breaking the chains of your slavery, a n d t h a t t h e Lord will enable me, with powerful a r m to fight against our enemies." 1 0 Im Vergleich zur relativ geordneten Revolte Cortinas, unter der F ü h r u n g einer einzelnen überragenden Persönlichkeit, wax der El Paso Salt War von 1877 eine crowd, action, ein Volksaufstand, in dem sich die ohnmächtige Wut der verarmten Chicano-Bevölkerung entlud, als ihr das Anglo-Establishment das Recht der freien Salzentnahme vorenthielt. Nach mexikanischem Recht waxen Salzlager "community p r o p e r t y " ; die Anglos h a t t e n nach üblichem Schema, das schon auf Land u n d Wasser, Weiderechte etc. angewandt worden wax, die Salzvorkommen mit G e b ü h r e n belegt. "Denial of community ownership of the salt pits represented the removal of a r e m n a n t of rights to which Mexicans were entitled before the conquest." (Acuna, 39). In New Mexico n a h m dieser Widerstand gegen die Transformation der a n g e s t a m m ten gemeinschaftlichen Rechte organisiertere Formen an. Sehr wirkungsvoll operierte hier in San Miguel County von 1889-1891 die G r u p p e Las Gorras Biancas, deren P l a t t f o r m sich explizit in den Dienst der "helpless classes" stellte u n d den "land g r a b b e r s " sowie deren Instrumenten in der Justiz ("we are not down on lawyers as a class") den Kampf ansagte. Auch die frühe Gewerkschaft Knights of Labor wurde aktiv. In ihrer Erklärung vom August 1890 war von "party abuses against the souvereignty of the people" sowie "interests of the working people" die Rede. Aus beiden Wurzeln erwuchs die erste Partei der Chicanos in New Mexico, die United People's P a r t y unter der F ü h r u n g von J u a n Jose Herrera, die ihre Positionen in der spanischsprachigen Zeitung La Voz del Pueblo darlegte. " T h e p a r t y won every race it entered by a margin of two to one, running on an anticapitalist, antimonopoly, antirailroad, antilandgrabber, anti-Santa Fe Ring, and anti-Republican platform." (Acuna, 67). Die Distriktswahlen des J a h r e s 1890 in New Mexico wurden gewonnen; doch interne Zwistigkeiten zwischen Las Gorras, Knights u n d People's P a r t y sowie die letztendliche U b e r m a c h t der AngloOrganisationen f ü h r t e n dazu, daß 1912 - dem J a h r des Anschlusses New Mexicos an die USA - Industrie, Agribusiness u n d Transportgesellschaften fest in AngloHänden waren. Durch die überragende Bedeutung des Bergbaus in Arizona, entwickelten sich hier die Gewerkschaften zu zentralen Trägern sozialer Kämpfe. Insbesondere war es die Western Federation of Miners, die gerade Chicanos u n d Mexicanos zu organisieren begann u n d in den 1890er J a h r e n und u m die J a h r h u n d e r t w e n d e Forderungen aufstellte, die schließlich 1903 im ersten umfassenden Streik dieser Branche gipfelten. Mein verlangte u.a. freie Behandlung in den Krankenhäusern, eine Lebensversicherung f ü r Bergleute, Preiskontrollen in den company stores, Kündigungs10

Zit. nach Moquin, Wayne et al (eds.)1971, 207.

24 schütz. Nach 1915 wurde die Kampffront jedoch durch interne Auseinandersetzungen (American Federation of Labor, Western Federation of Miners, Industrial Workers of t h e World, Sozialisten) entscheidend geschwächt. Auch in Arizona konnte sich der Siegeszug des Kapitals letztlich ungehindert durchsetzen. A m kontinuierlichsten u n d zugleich vielfältigsten waren die Widerstandsformen in Kalifornien. Bereits 1855 bis 1859 erschien in Los Angeles die Zeitschrift El Clamor Público mit den intelligenten u n d radikalen Editoriais des Francisco P. Ramírez. Sie v e r d a m m t e n die von Anglos an Chicanos verübte Ungerechtigkeit u n d Gewalt, forderten, die Unabhängigkeitserklärung mit Leben zu erfüllen u n d erhärteten die Lesart von den Anglo-Kaliforniern als den Eindringlingen: "California has fallen into t h e hands of the ambitious sons of North America who will not stop until they have satisfied their passions, by driving the first occupants of the land out of the country, disrupting their religion and disfiguring their customs." (El Clamor Público 10.05.1856). In der Frage etwa des Aufstands von J u a n Flores freilich, stellte sich Ramírez auf die Seite der ricos unter den Native Californians, die mit den Anglos f ü r eine Unt e r d r ü c k u n g der Rebellion eintraten. Er verkannte damit den Klassenkonflikt, der das Volk der Chicanos spaltete. Neben dem Aufstand von J u a n Flores verdienen im Bereich der f r ü h e n iandtdo-Revolten die des Joaquín Murietta u n d Tiburcio Vásquez E r w ä h n u n g . Das Leben u n d Sterben Joaquín Muriettas - Ahnherr m a n chen revolutionär empfindenden Chicanodichters der Movimiento-Generation - ist durch das zeitgenössische Zeugnis des indianischen Bruders Yellow Bird gut dokumentiert. 1 1 Freilich mischt sich im Eifer des Erzählens Dichtung u n d Wahrheit. Die Überfälle u n d Schlachten, die Rettungen u m Haaresbreite erfüllen gänzlich die Muster der Legendenbildung, welche solche Populärliteratur zum Ziel h a t . In m a n c h e dieser Beschreibungen bringt sich der Native American selbst als distanzierter Erzähler ein: " T h e time honoured custom of choking a m a n to death was soon p u t into practise and the robber stood on nothing, kicking at empty space. Bah! it is a sight t h a t I never like to see, although I have been civilized for a good m a n y years." (138) Tiburcios Revolutionierung ergab sich zunächst völlig privatistisch aus der mac/iMmo-Konkurrenz mit den Siegermännern: "As I grew to m a n h o o d I was in the habit of attending balls a n d parties given by the native Californians, into which the Americans ... would force themselves and shove t h e native born men aside, monopolizing the dance and the women. This was a b o u t 1852. A spirit of h a t r e d a n d revenge took possession of me." (Greenwood, 1960, 12) Vásquez b a u t e eine große Gefolgschaft auf. Im Dienste der A r m e n zog er r a u b e n d durch die Lande. Seine Beliebtheit erklärt sich aus der Wut weiter Kreise der Bevölkerung ü b e r die Behandlung als Untermenschen, die sie von den Anglos erfuhr. "This feeling was greatly intensified by the rough b r u t a l conduct of the worst class of American settlers, who never missed an opportunity t o openly exhibit their con11

Yellow Bird (John Rollin Ridge), 1955: The Life and Adventures of Joaquin Murietta: The Celebrated California Bandit. University of Oklahoma Press, Norman.

25 tempt for the native Californian or Mexican population - designating them eis 'd-d greasers' and treating them like dogs." (Greenwood, 1960, 75) Väsquez' Exekution durch Erhängung vertiefte die Rassenkonflikte noch zusehends. Mehrere Lynchmorde waren die Folge. Doch insgesamt beendete Tiburcios Tod die Ära der intensiven mexikanischen Rebellion in Kalifornien. Angesichts des gewerkschaftlich unorganisierten Landwirtschaftssektors konnten sich keine nennenswerten Aktivitäten der Arbeiterbewegung entfalten, außer in Ansätzen in der an Arizona angrenzenden Bergbauindustrie. Der Siegeszug des Agribusiness war unaufhaltsam. Die These, daß die Nordwanderung der Mexikanerinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts im wesentlichen von den Wirren der mexikanischen Revolution ausgelöst wurde, läßt sich an Hand der Immigrationsdaten nicht nachweisen. Im Gegenteil: Die erste große Welle der Einwanderung muß mit einer annähernden Verdreifachung von 1908 auf 1909 konstatiert werden, mit einem Sprung von 6.000 auf 16.000 Personen. Lag die Gesamtzahl für das Jahrfünft 1910-1914 bei 82.000, so erhöhte sie sich für 1915-1919 mit 91.000 nur geringfügig. Der große Sprung auf annähernd 250.000 ist dann erst wieder Mitte der 20er J a h r e zu verzeichnen. Während ohne Zweifel die politischen Ziele der Kämpfe Zapatas und Villas gegen das Diaz-Regime in der populären Ideologie bis auf den heutigen Tag die Rolle des Heroischen einnehmen, so gehen doch andererseits die Einwanderbewegungen auf ein Bündel ökonomischer und sozialer Faktoren zurück. Im Anschluß an den Landraub der USA im Südwesten fand unter dem quasidiktatorischen Regime Porfirio Diaz' (1876-1910) die Herausbildung eines landlosen Proletariats in Mexiko verstärkt statt, das die noch zögernd voranschreitende Industrialisierung nicht zu absorbieren vermochte. Eine gleichzeitige Bevölkerungsexplosion (zwischen 1875 und 1910 nahezu verdoppelt) sowie verbesserte Transportmöglichkeiten taten das ihrige. Diesen sogenannten "push factors" (Barrera) für die Nordwanderung in die USA standen auch solche des "pull" gegenüber. Das Interesse des südwestlichen Agribusiness und der Bergbauindustrie an billiger Arbeitskraft (wie gezeigt, war "colonial labor" Strukturelement des Aufbaus dieser Sektoren) muß an erster Stelle genannt werden. Dieser "pull" konkretisierte sich in den Anwerbepraktiken der Arbeitsvermittler (labor contractors), die weit ins Innere Mexikos einreisten. Die Einwanderungsgesetzgebung begünstigte insgesamt gerade den Import mexikanischer Arbeitskraft. "Powerful, western economic groups with substantial political power were major supporters of the Mexican labor program, and without their demands for the program it would never have come into being. Among the most important of these groups were the railroads, coal mines, sugar beet growers, and cotton and fruit farmers." (Kiser, 1972, 129) Mexikanische Immigration garantierte somit die Festigung des kolonialen Arbeits- und Ausbeutungssystems, das mit den "ursprünglichen" Chicanos erfolgreich aufgebaut worden wax. Insgesamt versechsfachte sich die Bevölkerung mexikanischer Herkunft in den USA zwischen 1900 und 1930. Bei aller Vorsicht gegenüber Statistiken: nach konser-

26 vativer Lesart ist mit 1930 eine Gesamtzahl von 639.000 US-Einwohnerinnen mexikanischer Herkunft verbürgt. Die Wander- und Saisonarbeiterinnen sind daxin nicht erfaßt. Der Anteil von Texas an dieser Gesamtbevölkerung hat sich in den genannten 30 Jahren dabei von 68% auf 41% verringert, derjenige Kaliforniens von 8% auf 31% dramatisch erhöht. Nach dem 15. Census des Jahres 1930 ergibt sich eine Gesamtbeschäftigungszahl von 372.000 männlichen und 63.000 weiblichen arbeitenden Chicanos und Mexikanern (hierin sind offensichtlich die nicht-US-Bürgerlnnen zum Teil erfaßt). Bei deren prozentualer Verteilung auf die einzelnen Erwerbszweige steht die Landwirtschaft mit 41% 1930 noch bei weitem an der Spitze. Es folgen: Manufaktur mit 23%, "Transportation und Communication" mit 11%, "Domestic and personal service" mit 10%, "Mining" figuriert nach dieser Erhebung nur mehr mit 3,3%. Der wichtigste Aspekt jeglicher Statistik dieser Zeit ist jedoch, daß ungelernte Arbeit und Farmarbeit zusammengenommen, bei den männlichen Arbeitskräften über 63% der Beschäftigung ausmachten, während bei den Frauen Dienstleistung (Service) mit annähernd 40% an der Spitze liegt, gefolgt von rund 22% "semiskilled operative work" und rund 20% Farmarbeit. Die dauerhafte Etablierung des "colonial labor"-Systems wird durch solche offiziellen Angaben plastisch erhärtet. Die Massenarbeitslosigkeit der großen Depression Heß das Arbeitskräftereservoir der Mexicanos und Chicanos sehr bald zu einer überdimensionalen Reservearmee anwachsen, die für die US.Wirtschaft und -Politik zu einem großen Problem wurde. Deportations- und Repatriierungsmaßnahmen waren die Folge. Sie erfaßten Eingebürgerte, Saisonarbeiter und Illegale in gleicher Weise. Obgleich die Deportation eine zwangsweise, die Repatriierung eine freiwillige Rückkehr in die "Heimat" bedeuteten, waren in den Augen vieler Chicanos die Maßnahmen synonym. In jedem Falle entledigte man sich - getreu dem Grundprinzip des "colonial labor"-Systems - des Mohren, der seine Schuldigkeit getan hat. Die Zahlenangaben über die Maßnahmen schwanken beträchtlich. Acuna, der sich auf "official U.S. records" beruft, spricht von 300.000, meint aber ergänzend, es könnte sehr wohl eine halbe Million gewesen sein. Sicher ist auf jeden Fall, daß im ganzen 30er Jahrzehnt zusammengenommen nur 28.000 Mexikaner eingewandert sind. Die Arbeitskämpfe und Streikwellen, die Organisationsbestrebungen des CIO, erreichten in abgeschwächter Form auch den Südwesten. "One of the most dramatic agricultural labor struggles of the decade took place in El Monte, California, berry fields in 1933, under the leadership of the Confedercion de Uniones de Campesinos y Obreros ( C U C O M ) . Most of the workers involved were Chicanos, Mexicanos, and Filipinos. The strike spread to nearby areas and eventually enlisted an estimated 5.000 workers. The strike resulted in limited wage gains." (Barerra, 110). Das Hauptergebnis solcher Kämpfe war indessen die Formierung der Associated Farmers of California, die vom Ende der 30er bis zum Beginn der 60er Jahre die kalifornische Agrikultur fest im Griff hatten, ehe nach Ende des Bracero-Programms unter Cesar Chavez und der U F W der lange Kampf um die letztendlich erfolgreiche Errichtung einer dauerhaften Landarbeitergewerkschaft einsetzte.

27 Die Details der Errichtung u n d Durchführung des Bracero-Programms 1942-1964 können hier nicht aufgerollt werden. Es geht vielmehr u m die klare Pointierung des Grundprinzips. War aufgrund des Uberschusses an Arbeitskraft soeben noch deportiert und repatriiert worden, entstand n u n m e h r plötzlich a u f g r u n d der Umleitung weißer Arbeitskräfte in die Rüstungsproduktion u n d den Rekrutierungsprozeß des zweiten Weltkriegs ein Vakuum, das mit einer disponiblen Manövriermasse an Arbeitspotential neu gefüllt werden mußte. Seit d e m New Deal war z u d e m der ordnende u n d regulierende Zugriff des Staates auf ökonomische Prozesse etabliert. In der mexikanischen Regierung stand der willige P a r t n e r bereit, u m den Zufluß u n d Abfluß mexikanischer Arbeitskraft vertraglich zu regeln. Obgleich nur als M a ß n a h m e für die Kriegszeit konzipiert, dauerte das P r o g r a m m a n bis 1964, ein J a h r vor Delano (s.u.). Insgesamt wurden 5 Millionen Arbeitskräfte während dieser Periode ins Land geschleust. Die Gipfelphase lag 1956-60, als jedes J a h r ü b e r 400.000 Mexikaner importiert wurden. Erst als Bracero aufgehoben wurde, konnte sich eine eigene politische Bewegung der kalifornischen Landarbeiter unter F ü h r u n g der Chicanos entfalten. 1 2

Chicanoliteratur

bis Pocho (1959)

Analog zur voraufgegangenen kurzgefaßten Geschichte der Chicanos setzt auch deren Literaturgeschichte f ü r mich mit 1848 ein, dem D a t u m der Einverleibung einer knappen Hälfte Mexikos durch die USA. Sicherlich gab es vorher Werke von Belang, auf die sich Chicanos immer wieder beziehen. 1 3 Aber: "It was this event (der mexikanisch-amerikanische Krieg, D.H.) t h a t set off social, political, economic, linguistic and cultural shockwaves which m a y b e said to have generated an autobiographic impulse in Hispano-Mexicano society ...". (Padilla, 1988, 47) Vieles aus der Literaturproduktion dieser Zeitspanne von 110 J a h r e n steht im Zeichen der oral tradition, der spanischsprachigen Zeitungen, der Reiseberichte u n d Geschichtsbücher, auf die allesamt das auf Autobiographien gemünzte Zitat Padillas ebenso gut zutrifft. Die attraktivste u n d massenwirksamste G a t t u n g war aber ohne Zweifel das Theater, dessen f r ü h e Formen von Kanellos im Uberblick dokumentiert sind. (Kanellos (ed.), 1983) Zunächst spielten W a n d e r b ü h n e n posadas, pastorelas u n d andere Volksstücke, deren Ursprünge teils auf das Mittelalter zurückgehen, ehe sich zuerst an der Westküste (San Francisco, Los Angeles) d a n n mit zunehmender Einwanderung u n d dem Bau der Eisenbahnen auch z.B. in San Antonio u n d Santa Fe spanischsprachige S t a d t t h e a t e r etablierten. Die mobilen troupes waren - zumal zur Zeit 12 Vgl. auch zu den kulturellen Implikationen des Bracero-Programms Herrera-Sobek, 1979. 13 z.B. Cortes' Cartas de realcion (1519-26) oder Juan de Onates Carta und verschiedenste Relaciones (1600-28).

28 der französichen Besetzung Mexikos - rasch wechselnde mexikanische Exilbühnen. "San Antonio, during Juarez' struggle against Maximilian, had am inordinately large population of exiled Mexican intellectuals and artists in residence who patronized these performances. Because these troupes were in the neighbourhood, so to speak, they also performed at other cities and towns in Texas." (Brokaw, 1981, 244) Gleichwohl spielten die Wanderbühnen wie auch die späteren Stadttheater für die jeweiligen unteren Schichten, die Arbeiter und ihre Familien. Eine Familienstruktur charakterisierte auch die Produzenten: "the Mexican professional theatre in the United States was a family enterprise on both sides of the footlights." (Brokaw). Die kulturelle Integration des mexikanischen Lebenszusammenhangs wurde damit gefördert. La Familia Estrella wax die erste nennenswerte repertory company an der Westküste, die in den 1860er Jahren San Francisco zu ihrer Basis machte. Ihr Direktor Gerado Lopez del Castillo kann zugleich als sozial engagierter Theatermacher gelten, unterstützte er doch die Armee Juarez' im französisch-mexikanischen Krieg und war Präsident der Junta Patriotica Mexicana in San Francisco. In den Aufführungen war allenfalls bei der komödiantischen Schlußfarce des Abends etwas von solchem Engagement zu spüren. Zuvor kam ein geschlossenes Melodram eines spanischen Autors (Zorilla, Larra oder de los Herreros), zur Eröffnung Lieder und Tänze. "The company was typical of those that toured Mexico in that it was composed of Mexican and Spanish players, staged Spanish melodrama and occasionally a Mexican or Cuban play, and held most of its performances on Sunday evenings." (Kanellos, 1983, 21) Vor der Jahrhundertwende gab es sieben solcher Stadttheater in Los Angeles und San Francisco, die Tourneen allenfalls nach Tucson unternahmen. Die unbestrittenen Stars der Epoche waren Amalia Estrella del Castillo und Laura Morales de Molla, wie aus Theaterkritiken und Huldigungsgedichten (Kanellos 22 f.) hervorgeht. Doch ebensowenig wie es zu dieser Zeit weiße oder schwarze US-Dramatikerlnnen von Rang gab, sind auf spanisch schreibende Chicano-Dramatikerlnnen des Südwestens auszumachen. Seit ca. 1910 gab es auch in kleineren Städten (z.B. Laredo) Repertoiretheater. Im gesamten spanischsprachigen Theater kommt es neben der Pflege der mexikanischen zarzuelarTradition auch zur Übernahme allgemein "westlicher" Genres: Vaudeville, Operette, Revue und Variete. Behebt blieben unterhaltsame Mischprogramme, die an demselben Abend Beispiele verschiedener Gattungen boten. Auch unter der Woche mußte das Programm ständig variiert werden. Die beiden Städte mit den höchsten mexikanischen Einwohnerzahlen, Los Angeles und San Antonio, bildeten sich zu regelrechten Zentren des spanischsprachigen Theaters mit teilweise bis zu zwanzig gleichzeitig operierenden Theaterhäusern heraus. In Los Angeles kam es dabei auch zu einem Autorentheater, das von hier aus in die gesamte Region und nach Mexiko ausstrahlte. Die am meisten gespielten Dramatiker waren Eduardo Carillo, Adalberto Elias Gonzales, Esteban V. Escalante, Gabriel Navarro. Los amores de Ramona von Gonzales war der absolute box office-Hekoid. Das Stück war eine spanische Bearbeitung des kalifornischen Romans Ramona: A Story von Helen Hunt Jackson, ein Bestseller des "white America", rasch in ein

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Latino-Erfolgsstück umgesetzt. Am meisten Sozialkritik gab es in den revistas, deren wichtigste Autoren Don Catarino und Guzman Aguilera waren. "It is in the revistas that we find a great deal of humor based on culture shock typically derived from following the misadventures of a naive, recent immigrant from Mexico who has difficulty getting accustomed to life in the big Anglo-American metropolis. It is also in the revista that the raggedly dressed underdog, the pelado, comes to the fore with his low-class dialect and acerbic satire. A fore-runner of characters like Cantinflas, the pelado really develops in the humble carpa, or tent show, that evolved in Mexico and existed in the Southwest of the United States until the 1950s." (Kanellos, 31) Mit dem pelado und la carpa waren somit schon wichtige Elemente des späteren Teatro Campesino präfiguriert. Die Arbeitslosigkeit während der Depression der 30er Jahre löste die bekannte Repatriierungswelle von Mexikanerinnen aus, was einen Niedergang des Theaters zur Folge hatte. Es kam zur Massenarbeitslosigkeit mexikanischer Theaterkünstlerinnen in den USA. Man gründete Theaterkooperativen, um sich über Wasser zu halten: Compania de Artistas Unidos und Compania Cooperativa. Die Theaterhausbesitzer vermieteten freilich ungern an Theatermacher, konnten sie mittlerweile durch die Vorführung von Filmen doch größere Profite einheimsen. Einige der Künsterinnen konnten in den 1940er und 50er Jahren im Radio unterkommen. Seine größte Blüte erlebte das spanisch-sprachige Theater im Südwesten der USA sicherlich zwischen 1910 und 1930. Es förderte massenhaft eine ingroup-Kultur und damit einen Community-Lebensstil der Mexikaner: "the theatre became an institution in the Southwest for the preservation of the culture in a foreign environment and for resistance against the influence of the dominant society." (35). 1st das Theater schon seiner Natur nach eine oral (und eidetisch) transportierte Gattung, so gilt das Prinzip mündlicher Überlieferung ganz generell zunächst auch für die anderen Genres der Chicanoliteratur seit 1848, sie hat insesamt eine folk base. (Paredes, 1979, 4-17) Das Erzählen ist der Natur der Sache nach eine mündliche Angelegenheit: Legenden, Rätsel, Witze, cuentos und estampas. Aus den Erzähltraditionen der Grenzregionen entwickelten sich vor allem folk tales und border ballads. Die mexikanische Volksballade corrido entstand zuerst aus den Kollisionen der mexikanischen und nordamerikanischen Kulturen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ehe sie überhaupt eine genuine auch innermexikanische Gattung wurde. "... the corrido mexicano begins in the last quarter of the nineteenth century, with the singing of the deeds of various rebels against the government of Porfirio Diaz ... But in Southern Texas and nearby areas of Northern Mexico, corridos of this type which sing the feats of the first MexicanAmerican rebels against the North American government already exist at the end of the 1850s." (Paredes, 1979, 13) Die corridos konstituieren eine kontinuierliche musikalische Erzähltradition von unten; faktisch alle Ereignisse der komplexen mexikanisch-amerikanischen Beziehung sind hier irgendwann einmal widerspiegelt worden, meistens in witzig-satirischer, immer aber in sehr unterhaltsamer Zuspitzung.

30 Die b e r ü h m t e s t e Ballade, die in einen der b e k a n n t e n Chicano-Spielfilme m ü n d e t e , ist diejenige des Gregorio Cortéz. (Paredes, 1958) 1 4 Sie erzählt das L e b e n u n d S t e r b e n dieses unerschrockenen mexikanischen Cowboys aus der Zeit 1875-1915 u n d ist in zahlreichen Varianten überliefert. Sie gilt als Beispiel des "heroischen" corrido, als " p r o t o t y p e of t h e corrido of b o r d e r conílict." ( P a r e d e s ) . Interessante Balladen r a n k e n sich auch u m die E r f a h r u n g e n des Braceros (s.u.); sie s t ü t z e n das autobiographische Material als folklore, im Gegensatz zur elitelore, der Verarbeit u n g des B r a c e r o t h e m a s im mexikanischen R o m a n . 1 5 Das reichhaltigste volkstümliche G e n r e ist dasjenige der folk tales (vgl. Paxedes (ed.), 1970). I m Gegensatz zu den u n v e r m i s c h t e n indigenen Einflüssen seitens der präkolumbianischen H o c h k u l t u r e n , d e m o n s t r i e r t die volkstümliche E r z ä h l l i t e r a t u r Mexikos u n d der Grenzregionen bereits die "theory for American Folklore" (Vgl. Dorson, 1957,197-212), eine V e r m e n g u n g i m p o r t i e r t e r , indigener u n d bereits historisch gewordener "amerikanischer" Elemente; " t h e central fact of Mexican folklore is t h e Spanish-Indian synthesis." (Dorson). H e r a u s g e b e r Paredes unterschied zwischen "ordinary folktales", "legendary n a r ratives", " a n i m a l tales", "jokes a n d anecdotes" u n d "formula tales". Viele davon sind allgemein euroamerikanisches E r z ä h l g u t . A m ehesten unverwechselbar regional sind die Legenden ( " T a m a c a s t i " , "Elves", "Mal de o j o " , "Don B a r t o l o " u.a.), deren Einflüsse im magischen Realismus vieler s p ä t e r anthologisierter cuentos (Kurzgeschichten) u n d der R o m a n e etwa Anayas oder Portillos s p ü r b a r sind. A b e r a u c h unter den A n e k d o t e n ist z.B. der "practical joke", den sich P e d r o de Urd e m a l a s gegenüber " t h e gringo" leistet (156), n u r angesichts der spezifisch mexikoamerikanischen Beziehungen d e n k b a r . Die Chicano-Literatur zwischen 1848 u n d 1959 ist zunächst von Chroniken, Reiseberichten, Memoiren u n d Zeitungstexten geprägt. Bereits in den 1870er J a h r e n g a b es mit H u b e r t Bancroft in San Francisco einen Historiker, der B u c h h ä n d l e r u n d D o k u m e n t e s a m m l e r in einem w a r . D u r c h ihn w u r d e n beispielsweise M a r i a n o Vallejos recuerdos historíeos y personales to cante a la alta California (1875) ü b e r liefert. Auch Chroniken u n d Memoiren von Frauen (María Angustias de la G u e r r a , Eulalia Pérez, C a t a r i n a Avila de Ríos), die schon d a m a l s deutliche Kritik des patriarchalischen Systems enthielten, befinden sich in der S a m m l u n g B a n c r o f t s . (Vgl. Padilla, 1988, 48 f ) " O n e clear sign of t h e will t o survive culturally in t h e face of t h e Anglo-American o c c u p a t i o n is t h e proliferation of Spanish-language newspapers t h r o u g h o u t t h e Southwest and California f r o m t h e mid-nineteenth Century on." ( T a t u m , 1982, 23) T a t u m zählte r u n d 400 Zeitungen u n d Zeitschriften zwischen 1848 u n d 1958. Die meisten veröffentlichten gelegentlich oder regelmäßig Erzähltexte u n d Lyrik. Als ein Meister der humoristischen E r z ä h l u n g u n d satirischen Glosse in den bei14

Vgl. auch unten den Exkurs zum Chicanofilm. (Vgl. Herrera-Sobek, 1979. Auch die Rolle der Frauen in der comdo-Ballade wurde bereits bearbeitet; vgl. Herrera-Sobek, 1982, Aztlán 13, 135-148 und dieselbe, 1982, PCCLAS, 25-34. 15

31 den e r s t e n J a h r z e h n t e n des 20. J a h r h u n d e r t s gilt B e n j a m i n Padilla ( " K a s k a b e l " ) . Seine ironisch-witzige Darstellungsweise richtet sich gegen die Pose der Reichen, z u m a l a u c h reicher F r a u e n ("Los ricos sin cutilla"; "Los ricos p o b r e s " ; "Las p e l a d a s ricas"), gegen b e s t i m m t e Rituale des Katholizismus ( " M e m e n t o H o m o " ) o d e r die medizinische Profession ("Los medicos"). In " C a r t a s de u n a c a s a d a " verwendet er wirkungsvoll die Briefform. Ein a n d e r e r b e r ü h m t e r Journalist u n d Erzähler, n u n m e h r bereits der 1920er J a h r e , war J o r g e Ulica (Julio G. Arce). Seine beißenden Glossen w u r d e n u n t e r d e m Serientitel "Crónicas Diabólicas" b e k a n n t u n d sind h e u t e s e p a r a t publiziert. (Aluris t a / J u a n Rodríguez (eds.), 1982) Deutlicher als Padilla n i m m t Ulica Besonderheiten der anglo-amerikanischen Lebensweise ins Visier: v o m Fußball ü b e r Tanzgew o h n h e i t e n bis zu W a h l e n , zur Prohibition u n d zur sich verschlechternden ökonomischen Lage. In " C o n la toilette moscovita" w a r n t er beispielsweise Ausländer i n n e n davor, in die USA einzureisen, i n d e m er auf die Unsicherheiten der wirtschaftlichen Situation hinweist. Aber die Mexikanerinnen k o m m e n bei Ulica a u c h nicht besser weg. In "No e s t a m o s b a s t a n t e a p t o s " werden sowohl die Anglos n a c h ä f f e n d e n Verhaltensweisen der Mexikanerinnen als auch ihre Unfähigkeit der Assimilation aufs K o r n g e n o m m e n . Kritik ein der Sprechfähigkeit u n d der Sprachb e h e r r s c h u n g des Spanischen wie auch des Englischen ist G e g e n s t a n d in Skizzen wie "No hay que habler en p o c h o " u n d "La e s t e n o g r a p h a " . Ulicas E r z ä h l u n g e n h a b e n häufig einen humoristischen Uberschuß, der sich nicht m e h r an eine inhaltliche B o t s c h a f t binden läßt. In der Zeit von 1897-1906 war Miguel Antonio O t e r o G o u v e r n e u r des T e r r i t o r i u m s von New Mexico. Seine Chroniken u n d Memoiren My Life on the Frontier 18641882, The Real Billy the Kid u n d My Nine Yean as Governor of the Territory of New Mexico16 sind detaillierte D o k u m e n t a t i o n e n des Industrialisierungsprozesses u n d kapitalistischer K o n z e n t r a t i o n , politischer Intrigen u n d des land, grabbing, faszinierende Zeugnisse u n d s p a n n e n d e E r z ä h l u n g der " s o u t h west e x p a n s i o n " . O t e r o genießt in der Chicano-Kritik " a distinguished position in t h e evolution of Chicano prose." ( T a t u m ) . Mit O t e r o ergibt sich z u d e m der U b e r g a n g "of breaking into t h e Anglo literary world." Eine G r u p p e solcher Schreiber u n d Schreiberinnen, die in den 1920er u n d 1930er J a h r e n veröffentlichten, p r o d u z i e r t e gezielt f ü r ein englischsprachiges P u b l i k u m " a n d generally p e r p e t u a t e d t h e negative or unrealistic images t h a t audiences h a d of t h e Mexican." (Rodriguez, 1979, 70) M a r í a Cristina M e ñ a , R o b e r t H e r n á n Torres u n d R o b e r t o Felix Salazar werden dazu gezählt. J u a n Rodríguez n e n n t auch einige Autorinnen der 1930er J a h r e (Nina O t e r o , Josefina E s c a j e d a , J o v i t a Gonzáles, F e r m i n a G u e r r a ) , denen er bescheinigt, einen "step b a c k w a r d in t h e development of Chicano prose" zu repräsentieren, "for t h e y r e t u r n e d t o t h e quaint p r e s e n t a t i o n of t h e Mexican a n d t h e Mexican way of life." (79) Diese Sichtweise wird freilich d u r c h Gloria Velasquez Treviño korrigiert, die eine " a t t i t u d e of resitance expressed by the early C h i c a n a a u t h o r " (Treviño, 1988, 16

Sicherlich früher verfaßt, aber erst veröffentlicht Pioneer Press New York 1935, Rufus Rockwell New York 1935 bzw. University of New Mexico Press Albuquerque 1940.

32 140) konstatiert und ein Gesamtfeld kultureller Ambivalenz ausmacht. In die 1940er und 1950er Jahre, d.h. schon unmittelbar vor José Antonio Villareals Pocho, fallen die literarischen Arbeiten von Mario Suárez, Pray Angélico Chávez und Josephina Niggli. Suárez veröffentlichte Kurzgeschichten im Arizona Quarterly, wie z.B. "El hoyo" und "Senor Garza", die Lokalkolorit und ein beginnendes Verständnis für eine Chicano community miteinander verbinden. "His stories while still seeking an Anglo audience, contain elements which only a Chicano reader can fully understand and appreciate." (Rodríguez, 71) Der Franziskanermönch Angélico Chávez ist der religiöse Autor dieser beiden Dekaden. In seinen Kurzgeschichten "The Bell that Sang Again", "The Lean Years", "The Colonel and the Santo" oder "Hunchback Madonna" (Chávez, 1943; 1954; 1940) vermeidet er in der Regel die Spezifika der Chicano-Erfahrung und transportiert ungebrochen Elemente des mexikanischen Katholizismus. Josephina Niggli kann als die beste und produktivste Chicana-Autorin vor der Chicano Renaissance gelten. Sie schrieb mit Sunday Costs Five Pesos in Mexican Folk Plays (Niggli, 1938) ein Drama, veröffentlichte die Kurzgeschichtensammlung Mexican Village (Niggli, 1945) und schließlich den Roman Step Down Eider Brother (Niggli, 1947). Die Schauplätze ihrer Werke sind in den Nordprovinzen Mexikos angelegt. Indem die dortigen Industrialisierungsprozesse, die Entstehung der bürgerlichen Klassen und politisch-historische Verhältnisse seit der mexikanischen Revolution zusammengeknüpft werden, entsteht ein reichhaltiges Netzwerk sozialer Fragestellungen, die durch eine überaus kompetente Erzählleistung transportiert werden. "As a gifted writer, Niggli succeeds in maintaining a high level of suspense and tension ... and at the same time creates multi-dimensional and credible characters who fit within their local ambience without being stereotypically drawn." (Tatum, 35). Wenn sie auch keine frauenspezifischen Themen anschneidet, kann Josephina Niggli doch als die erste Chicana von Rang in der Chicano-Literatur des 20. Jahrhunderts gelten. Die Gedichtform der corrido-BaJlade hat erzählerische, poetische und musikalische Traditionen gleichermaßen beeinflußt. Lyrik im engeren Sinne gab es - wie auch die Formen des kurzen Erzählens - überwiegend in Zeitungen zu lesen. Felipe Maximiliano Chacón, der wichtigste Lyriker im frühen 20. Jahrhundert, veröffentlichte seine Liebesgedichte zwischen 1906 und 1935 in z.B. El eco del valle und La bandera americana (vgl. Tatum, 40). Sein Band Cantor Neomexicano. Poesia y Prosa (Chacón, 1924; vgl. Meyer, 1978, 111-126) schließt allerdings auch politische und patriotische Gedichte ein: "Recibe, por lo tanto, Patria mia / Las notas de mi ardiente patriotismo ..." (Meyer, 115). Das angesprochene Vaterland ist freilich das US-amerikanische und der Anlaß der Huldigung ist die Fourth-of-JulyZelebration 1918. Auch auf die endgültige "statehood" für New Mexico verfaßte Chacón eine Hymne: Estrella cuyos lampos matinales Os proclaman Estado soberano, Que brille de la Patria en los anales Eterno en el pendón americano! (117)

33 Ein Stern, dessen Morgenlicht dich als souveränen Staat ausruft, Möge er in den Annalen des Vaterlands leuchten, für ewig auf die amerikanische Flagge.

Direktes Vorläufertum des Chicanismo läßt sich bei Chacón mithin beim besten Willen nicht ausmachen. Das Ausmaß von Amerikanismus, das in spanischen Versen möglich ist, sei hiermit exemplarisch illustriert! I m großen und ganzen war spanisch-sprachige Lyrik von Mexikanerinnen in den USA seit dem 1. Weltkrieg soziokulturell assimiliert. Protestlyrik gab es in den Zeitungen nur von 1848 bis 1898, als es gegen die Yankeesierung des Südwestens u n d gegen die imperialistische Kriegsführung der USA im spanisch-amerikanischkubanischen Krieg anzukämpfen galt. Doch bereits bei diesem Anlaß wird die ganze Bandbreite der Reaktionsweisen sichtbar: während sich der anonyme Text " T h e Voice of the Hispano" deutlich auf die Seite der Kubaner schlägt ("Librare nos de ese yugo / A los humildes cubanos", T a t u m 46) huldigt der neumexikanische Poet Elenterio Baca in "A la union americana" dem Sieg der USA in der Karibik, (in Arellano (ed.), 1976, 87f) So hat die Lyrik seit 1898 keine Vorbilder hervorgebracht. Die Dichter des Movimiento orientierten sich daher eher an Walt W h i t m a n und Pablo Neruda, den beiden Giganten demokratischer Lyrik im Weltmaßstab. Pocho (Villareal, 1959) von José Antonio Villareal (geb. 1924) ist das einzige Werk, das in diesem Vorkapitel etwas genauer analysiert werden soll. Der Akkult u r a t i o n s r o m a n schließt die Literaturentwicklung vor der "Chicano Renaissance" a b u n d wird in der Kritik häufig als schon dieser vorauseilend oder zugehörig qualifiziert, j a manchen erscheint Pocho als Signal des Reifeprozesses ("the Coming of age of Chicano literature"). Sicherlich wird durch die Wiederveröffentlichung 1970 das Buch im Movement angeeignet. 1 7 Es enthält prototypische Besonderheiten, die den R o m a n der 1970er J a h r e nachhaltig prägen sollten. Pocho setzt mit einer Art Prolog ein, als in Juarez, a m Grenzübergang nach El Paso, in den frühen 1920er J a h r e n , der einstmalige Kavallerieoffizier Pancho Villas, J u a n Rubio, den Liebhaber einer canitna-Tänzerin tötet und in die USA fliehen muß. Dies ist "stock historical back drop", wie er stereotypischer nicht sein kann: "I rode with Pancho Villa/en la revolucion" singt noch der alte Chicano in Hotel Universe der San Francisco Mime Troupe; der Mord aus Liebe und die klassische Einwanderung über den Rio Grande. Auch der Migrationtrip über New Mexico und Arizona nach Kalifornien, die Geburt des Sohnes Richard, die schließliche Seßhaftwerdung im Santa Clara Valley, sind stereotype Handlungselemente. Soweit R a h m e n und Hintergrund, der Protagonist ist nun der heranwachsende Richard Rubio. Adoleszenz u n d Initiation; das Erzählschema sollte hinfort die Chicano-Narrativik von Bless Me, Ultima bis Rain of Scorpioni und darüber hin17 Zur relativ umfänglichen Literatur über Pocho vgl. u.a.: Bruce-Novoa, 1976, 65-77; Grajeda, 1979, , 329-57; Martinez/Lomeli(eds.): 1985, 420-432; Shirley, 1979, 63-68; Luedtke, 1986, 62-81.

34 aus bestimmen. Villareal ü b e r n a h m es von US-amerikanischen und weltliterarischen Vorbildern. Mit Anklängen an Henry Roth, B u d d Shulberg u n d Saul Bellow ü b e r n a h m er gleichzeitig das Schema der melodramatischen "ethnic autobiograp h y " , mit denjenigen an Horatio Alger, Sherwood Anderson, Ralph Ellison, Elem e n t e des Erzählschemas des American Dream (vgl. Luedtke, op.cit.). Mit Joyces Stephen Daedalus verbindet Richard Rubio, daß er "agonizes over the immensity of God, suffers t h e guilt of childhood sexuality, mistakes the laughter of his teachers for ridicule, flees abusive adolescents, fears t h e dark, a n d strives to unriddle the n a t u r a l universe through language and sign." (Luedtke, 64). Pocho erschien demnach eher zufällig ids Chicano-Roman; die Veröffentlichung in einem Verlagshaus nationalen Zuschnitts wäre mithin kein Zufall, sondern spiegelt den gesamtamerikanischen Zuschnitt des Werkes. " T h e year was 1931, and t h e people of S a n t a Clara were hungry." (47). I m zweiten Kapitel ist Richard n e u n J a h r e eilt; die sozialen Probleme der Depressionsära werden mit den psychischen der Entwicklung seiner Innenwelt kontrastiert. Spätestens nun wird ein weiteres höchst repräsentatives und zunächst europäisches Schema offenbar, das d e m indigenen Handlungsablauf aufgepropft wird, dasjenige des Entwicklungsu n d Bildungsromans (vgl. Shirley). Die Erziehung des pocho in die Assimilation ist verknotet mit einem Prozeß der Bewußt- und Selbstwerdung als psychischem Entwicklungsprozeß. Die derogative Sprachgebung des Titels wurde im Lichte des individuellen Bildungsvorgangs zu einem Mittel ironischer Distanzierung. "Pocho" heißt j a nicht nur "farblos", "gebleicht", "traurig", "desillusioniert", sondern ist sprachlich u n d ideologisch mit der Negativkonnotation des Einwanderers, der z u m Verräter wurde, besetzt. Er hat das Spanische verlernt u n d ist auch "historically lost": "Mexican traitors are either would-be bilinguals or accomplished polyglots." (Martinez/Lomeli, 421) "I've been trying to teach my father and m o t h e r to talk English, but I don't think they really want to learn." (73) Die Zweisprachigkeit erzeugt in den Eltern den Minderwertigkeitskomplex, dem Sohn nicht hinreichend "guidance" gewähren zu können. Welche Personen vermögen das? Maria Jamison eröffnet i h m die Welt der Bücher in ihres Vaters Haus. Mit seiner "Anglo-Protestant confidante" Mary Madison kann er sein sich entwickelndes religiöses Bewußtsein, seine Gotteserfahrung teilen, die sich gegen den "mainstream" des mexikanischen Katholizismus wendet. Der aristokratische portugiesische Kuhhirte Lou Pete vermittelt i h m etwas von seiner europäisch-peninsularen Philosophie u n d Poesie, kann aber sein eigenes Privatleben nicht meistern, ist somit letztlich kein Vorbild f ü r Richard. Als Zelda, die Freundin seiner K n a b e n j a h r e , auch die erste Gehebte wird, gibt i h m dies Stabilität im Chaos seiner rastlosen Queste, doch keine letztendliche Perspektive u n d Erfüllung. "Her relationship with Richard ripened into a deep love on her p a r t and an indifferent one on his." (143) Auch diese Beziehung wird, wie voraufgegangene, ein Durchgangsstadium bleiben. Bislang wurde Richards Reifungs- u n d Bildungsprozeß als individuelles Projekt dargetan, im 9. Kapitel kommt es n u n m e h r zum Gruppenprozeß, der Begegnung mit la raza in Gestalt der jugendlichen Pachucos der Region. Wenngleich er ihre

35 "English a n d Spanish syllables a n d words", die Rituale des Aufbegehrens u n d der E n t f r e m d u n g von beiden Kulturen, eher von außen betrachtet, wird er gleichwohl in eine tätliche Auseinandersetzung mit der Polizei verwickelt, aus der er als Indiviuum gestärkt hervorgeht. "Never - no, never will I allow myself to become a p a r t of a group - to become classified, to lose my individuality". (152) Die Identifikation des Chicano Movement mit d e m Pachuco-Phänomen u n d dessen intensive A u f a r b e i t u n g (Montoya, Valdez u.a.) wird vehement zurückgewiesen. Die Familienstruktur zerbricht, als J u a n Rubio seine Frau verläßt. Richard schließt die High School ab, arbeitet zunächst in der Ernte, der Bestimmung mexikanischer Wanderarbeiter gemäß, kriegt dann einen Job in der Stahlindustrie (Vorbereitung des US-Eintritts in den zweiten Weltkrieg) u n d läßt sich schließlich in die USMarine rekrutieren. Seine Assimilation in den H a u p t s t r o m des American Way of Life ist d a m i t abgeschlossen. "All very wrong t h a t he should use the war, a thing he could not believe in, to serve his personal problem." Richards Queste - damit unterscheidet sie sich von der Mehrzahl derjeniger des klassischen American D r e a m - ist p r i m ä r keine ökonomische ("I do not care about making a lot of money", 64), sondern eine solche der Identitätsfindung u n d Selbsterfüllung. Luedtke b e h a u p t e t : "When Richard finds he cannot discuss sex with his parents, religion with his priest or history with his teachers, he stands naked before t h e symbolic abstractions of the culture itself. T h e story of American literature has been just this initiation of expectant youths into the corporate m y t h s of America and t h e psychological and metaphysical mysteries they conceal." Richard wird damit z u m "universal m a n " , dessen ethnische Zugehörigkeit zweitrangig ist. Ahnlich auch ein weiterer "Anglo-Kritiker": "... Pocho is better for the very reason t h a t it is not merely a novel of racial or social protest, but one which relates a h u m a n experience common to all mankind ... Villareal has provided us with a traditional English Bildungsroman with a Chicano protagonist." (Shirley, 68) Solches wäre wohl als G r u n d nicht ausreichend f ü r die breite Rezeption und Aneignung des R o m a n s durch das Movimiento. Die Attraktivität von Pocho m u ß also in mehr bestehen als nur der Addition eines Chicano-Lebenskontexts plus ethnic biography/American Dream/Bildungsroman. Ein entscheidender P u n k t ist sicherlich derjenige, historischer Erstling zu sein. "Its a u t h o r is t h e first m a n of Mexican parents to produce a novel about the millions of Mexicans who left their fatherland to settle in the United States." (Ruiz, 1970, VII) Erst im J a h r e seiner Wiederentdeckung, 1970, gab es komplementär jenen anderen R o m a n , der "ethnic autobiography" und "self-referent work" zugleich war, Chicano (s.u.). Daß Pocho f ü r die Erforschung der roots, die mit der Entwicklung des Movement einherging, als historisches Dokument von entscheidendem Interesse wax, versteht sich fast von selbst. Doch was m a c h t den R o m a n attraktiv als Literatur? Pocho erhebt sich aus der bloßen Schematik der b e n u t z t e n Modelle durch die Akzeptanz u n d das reale Durchleben der Widersprüchlichkeit des soziohistorischen Kontexts. Richard rebelliert und assimiliert sich. Aus der Dialektik zweier Kulturen horizontal und vertikal (Mexiko versus USA und demokratisch/sozialistisch versus kapitalistisch) k o m m t

36 er als komplexes Produkt hervor, das die Dynamik dieses historischen Prozesses in sich enthält u n d weiter vorantreibt. "Richard's decision to fight for his country is m a d e with the clear recognition t h a t his is a country t h a t refuses him his own measure of justice, t h a t imprisons his friends, and t h a t makes economic serfs of his family." (Saldivar, 1986, 17) Die Widersprüche im Gegensatz zum eindimensionaleren Vater nicht harmonisiert, sondern bis ins tendenziell Existentialistische u n d Nihilistische ausgehalten zu h a b e n , macht wohl die Besonderheit der Figur des Richard Rubio aus. Literatur selbst ist für Richard das Medium einer Reise in die Zeit und das Nichts. "I travel, Mama, I travel all over the world, and sometimes out of this whole universe, and I go back in time and again forward. I do not know I a m here, and I do not care. I a m always thinking of you a n d my father, except when I read. Nothing is important to me then, and I even forget t h a t I a m going to die sometime." (64) So entscheidet er sich nicht nur zu lesen, sondern selbst zu schreiben. Zusätzlich zum sozialen/ökonomischen/kulturellen " R a u m " seiner Auseinandersetzung mit der Welt u n d Erforschung des eigenen Selbst, schafft er sich "literarischen R a u m " : "Literary space is not the vehicle, but the transcendent unity of Richard's reality ... Literature has become Richard Rubio's answer t o the nothingness." (Bruce-Novoa, 76 f.) Pocho ist damit zugleich Ende und Wiederbeginn: E n d e einer Entwicklung von Chicanoliteratur vor ihrer "Renaissance", indem der R o m a n den Gipfel eines Reifeprozesses ohne das inspirierende Movement repräsentiert. Beginn insofern, als sich die inspirierten Schriftstellerinnen des Movement zunächst an ihm messen müssen. Pocho wird in der Rezeption und Weiterentwicklung eines Genres "paradigmatic Chicano novel ... central Chicano novel." (Saldivar, 19). Was nachfolgte, fiel zunächst hinter Pocho zurück: Chicano, Macho u n d selbst der gefällige costumbrismo eines Hinojosa oder der magische Realismus eines Anaya. Es ist also Vermächtnis und Herausforderung zugleich, was Pocho für die Chicanoliteratur seit den 60er Jahren und speziell f ü r die Narrativik der 70er und 80er so unverzichtbar macht. Alle Wertungen, zu denen es hier k o m m t , sind mindestens implizit an der schon erreichten Leistung Villareals aus der Zeit vor dem Chicano Movement zu messen.

Literaturvertrieb

und

Literatursprache

Einige exemplarische Bemerkungen, welche die Vielfalt der Distributionskanäle nur anzudeuten vermögen, sollen vermitteln, daß Chicanoliteratur sich weitgehend im Bereich von Gegenöffentlichkeit (Negt/Kluge, 1972) realisiert. Bis auf wenige A u s n a h m e n , wie z.B. Pocho und die Romane von J o h n Rechy (s.u.), f a n d die Uterarische Produktion von Chicanos nicht das Interesse etablierter Verlage in den USA. Die Anfänge einer politisch motivierten Chicanoliteratur 1965-67 wurden durch die Organe des Movement selbst verbreitet. Ybarra-Frausto hat dargelegt, daß die verschiedenen Flügel des Movement rasch eigene Zeitschriften a u f b a u t e n ,

37 u m i h r e jeweiligen Teilöffentlichkeiten zu erreichen. ( Y b a r r a - F r a u s t o , 1977, 81109) Die United F a r m Workers Kaliforniens h a t t e n z.B. ihre Zeitung El Malcriado, die Alianza Federal des Lopes T i j e r i n a in New Mexico h a t t e El Grito del Norte. Beide enthielten u.a. Lyrik. Yo Soy Joaquín des C r u s a d e for J u s t i c e - F ü h r e r s C o r k y Gonzales w u r d e als "Movement P o e m " direkt d u r c h die I n s t a n z e n der O r g a n i s a t i o n verteilt. I m R a h m e n ,der E n t s t e h u n g kleinster Verlage der barrio presa u n d des L i t e r a t u r vertriebs einer sich i m Movement herausbildenden Gegenöffentlichkeit k o m m t der G r ü n d u n g des Quinto Sol ( " f ü n f t e S o n n e " ) in Berkeley b e s o n d e r e B e d e u t u n g zu, dessen Publikationen sich zu Foren "der Selbstdefinition u n d des S e l b s t a u s d r u c k s " (Kerkhoff, 1989, 273) entwickeln sollten. Q u i n t o Sol vergab seit Beginn der 1970er J a h r e a u c h einen jährlichen literarischen Preis; A n a y a , Hinojosa u . a . w a r e n unt e r den P r e i s t r ä g e r i n n e n . Auch die erste wichtige Literaturanthologie El Espejo (Hrsg. Ignacio R o m a n o V.) erschien bei Q u i n t o Sol. U n t e r den Zeitschriften der ersten S t u n d e , die n e b e n politischen T e x t e n u n d Essays a u c h Lyrik u n d Kurzgeschichten b r a c h t e n , sind n e b e n El Grito del Norte u n d El Malcriado weiterhin auch Con Safos, La Raza, El Grito, Regeneración, El Gallo u n d Aztlán zu n e n n e n . Phantasievolle V e r l a g s g r ü n d u n g e n - ehe sich i m Zuge der E i n r i c h t u n g von Chicano Studies D e p a r t m e n t s auch die university presses der Chicanoliteratur a n z u n e h m e n b e g a n n e n - waren P a j a r i t o Publications, Editorial P o c h o - C h é , Diseños Literarios, Maize Press, C a s a Editorial, P e n c a Books, Editorial la C a u s a u.v.a. Vor allem ü b e r die erfolgreich wissenschaftliche u n d kreative Texte edierende Zeitschrift Revista Chicano-Riqueña erfolgte der Aufstieg der A r t e Público Press (Houston) unter i h r e m Direktor Nicolás Kanellos, die sich h e u t e die Veröffentlichung von a n n ä h e r n d 90% der Chicanoliteratur mit d e m zweiten m ä c h tigen Verlag der "Hispanics in t h e U S A " , der Bilingual P r e s s / E d i t o r i a l Bilingüe G a r y Kellers teilt. A r t e Público Press u n d Bilingual Press bringen n e b e n der L i t e r a t u r der Chícanos auch diejenigen der P u e r t o r i k a n e r in den USA u n d - in geringerem U m f a n g - anderer lateinamerikanischer E i n w a n d e r e r g r u p p e n (etwa der K u b a n e r ) h e r a u s . Wenngleich es sich bei diesen beiden U n t e r n e h m u n g e n bereits u m Großverlage hinsichtlich der Anzahl jährlich veröffentlichter Titel h a n d e l t , ist die Auflagenhöhe in der Regel gering. Abgesehen von - relativ g e s p r o c h e n - "Bestsellern" wie A nayas Bless Me, Ultima werden Lyrik u n d T h e a t e r der Chicanos in Auflagen von 500-2000, R o m a n e m a n c h m a l bis zu 5000 E x e m p l a r e n gedruckt sicherlich keine " M a s s e n l i t e r a t u r " , vertrieblich gesprochen. Die Verlage a r b e i t e n daher mit " g r a n t s " , Zuschüssen von meist regionalen Stift u n g e n u n d I n s t i t u t i o n e n oder direkt von Mäzenen aus d e m industriellen Sektor; insbesondere soll Nicolás Kanellos ein Genie der S u b v e n t i o n s b e s c h a f f u n g sein. Die Buchauflagen k ö n n t e n sicher höher sein, wäre der amerikanische B u c h m a r k t nicht so chaotisch organisiert. Chicanoliteratur ist i m regulären B u c h h a n d e l in der Regel nicht greifbar. Verkauft wird in centros culturales, Community centers, in Univers i t ä t s b u c h h a n d l u n g e n , wo Chicano D e p a r t m e n t s existieren. B u c h h a n d l u n g e n , die das g e s a m t e lieferbare P r o g r a m m der Chicanoliteratur a m Lager h a b e n , gibt es k a u m ; R e l á m p a g o Books von J u a n Rodríguez in A u s t i n ist eine der wenigen, die

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sich auf Versand spezialisiert h a t . Buchproduktion und Buchmarkt waren jedoch meistens nur sekundäre Instanzen des Chicano-Literaturvertriebs. Das Theater h a t t e seinen Umschlagplatz alsbald in den jährlichen Festivals der Teatros National de Aztlan (TENAZ, s.u.). F ü r die Lyrik inszenierte m a n die Festivals "Flor y Canto" - Blumen u n d Gesang, in Nachahmung des aztekischen Vorbildes (s.o.). Läßt m a n die Widersprüchlichkeiten der Ableitung des Titelbegriffs einmal außer acht, so demonstrieren die Flor y Canto-Festivals eindrücklich den oral ¿racfrfton-Charakter der Lyrik und des kurzen Erzählens: "here axe included the prose and the poetry of thirty-five persons who are t h e voices of Chicanos and Chicanas, Latinos and Latinas, Hispanos and Hispanas: raza, la gente, el pueblo. These thirty-five voices speak to us from prisons and schools, fields and factories, individual and collective experiences." (Segade, 1976, 1) Es sind primär voices, die ertönen; erst in zweiter Hinsicht werden diese Stimm e n der oral tradition aufgezeichnet und damit festgehalten: "oral tradition in print." Aber "oral presentation", die Rezitation oder Deklamation, so wird immer wieder betont, sei die angemessenere Weise der Darbietung von Chicanoliteratur: "Through this mode reverberates the spirit and the reality of Chicanos; and a national character, Chicanismo, is the permeating refrain of each recitacion." ( A r m a s / Z a m o r a , 1980, 10) Die enge Funktionalität von mündlicher Darbietung u n d Literaturproduktion, hänge, so wurde kürzlich erst wieder dargetan, mit dem Bilingualismus, mit dem Element des code-switching als Kennzeichen der Alltagsu n d zugleich Literatursprache der Chicanos zusammen. 1 8 Die Theater- und Lyrikfestivals haben mithin neben ihren (und anderen) Anthologien, neben den Zeitschriften und der Buchpublikation und -distribution ü b e r h a u p t , entscheidenden Anteil a m Literaturvertrieb der Chicanos. Interne Veränderungen, ideologische Umschichtungen der Chicanoliteratur, wie z.B. u m 1975 beobachtbar waren, wurden auf Festivals, durch den Zusammenbruch von Quinto Sol u n d durch neue Zeitschriften gleichsam seismographisch erfaßt. "Clearly 1975 marked a change in Chicano literature. T h e conflicts t h a t divided T E N A Z surfaced in other areas as well. Quinto Sol, the m a j o r publisher for the first seven years, was torn apart by internal conflicts ... in 1976 there appeared two new literary magazines: Mango and Cambios Phideo. T h e editorial staffs and contributors were young writers who were to make names for themselves later ... They avoided the hyperbole of early Chicano writing, preferring to r e t u r n to basic personal experience." (Bruce-Nuvoa, Sonderdruck, 124ff) Die tendenzielle Privatisierung der Inhalte von Chicanoliteratur, die bisweilen mit einer Tendenz zu ideologischem "mainstreaming" einhergeht, wurde somit wieder durch Zeitschriften angezeigt. Über die Spiegelung der Realität von Jarno-Idiom in der Literatur verbindet sich das P h ä n o m e n einer Literaturvermittlung, in der das orale Moment konstitutiv ist, 18

"mündliche Realität des 'binary phenomenon' bzw. des code-switching", Febel, 1989, 142.

39 mit demjenigen der Literatursprache. Es ist eine Minderheit von R o m a n e n u n d Erzählungen, die rein spanisch veröffentlicht wird (z.B. Elizondo, Morales). Eine Anzahl von spanisch verfaßten R o m a n e n wurde gemeinsam mit einer englischsprachigen Ubersetzung erstpubliziert (Rivera, Hinojosa). Die Mehrheit der gesamten Chicanoliteratur erscheint zwar auf Englisch (allenfalls mit spanischen Brocken als ethnic markers durchsetzt), aber im D r a m a und in der Lyrik ist die Wiedergabe des realsprachlichen code-switching, ein Element der Lebenskultur von Chícanos, ein weitverbreitetes, wenn nicht ü b e r h a u p t das charakteristische Element. Zweisprachigkeit als E r f a h r u n g s z u s a m m e n h a n g des Südwestens erscheint in den vielfältigsten Formen u n d ist in ihrer Ausgestaltung von geographischen, demographischen und gesellschaftlichen (d.h. klassenspezifischen) Faktoren abhängig, die hier im einzelnen zu erörtern den R a h m e n einführender Hinweise sprengen würde. "For Chicanos in the Southwest, bilingualism is primarily oral rather them literate." (Sánchez, 1978, 209-225; vgl. außerdem Jacobson, 1978, 227-256; Chávez et al., 1975) Linguisten unterscheiden zwischen stable, dynamic, transitional und vestigal bilingualism (Lewis, 1972, 275-278), die auf einer gleitenden Assimilationsskala angesiedelt sind. F ü r Chicanos sind die mittleren Formen des "dynamic and transitional bilingualism" charakteristisch. Die Spezifika der historischen Entwicklung seit 1848 (s.o.) haben eine Situation geschaffen, die durch "the appropriation of English as the language of literacy, work, education and recreation, with Spanish limited primarily to intimate domains" geprägt ist (Sánchez, 218). Häufig werden die Wechsel der Sprache, die unter Bezeichnungen wie "Spanglish", "pochismos", Tex-Mex", "caló" etc. geführt werden (dabei jeweils unterschiedliche Varianten benennen), als halbbewußte oder unbewußte Sprechakte vollzogen. Der Sprecher/die Sprecherin "copes with the whole universe of experience t h r o u g h two language media and he is never quite sure which one he employs at a given m o m e n t . It is therefore no small wonder t h a t he not only switches f r o m one to the other language as he moves from situation to situation but at times he does so within the same situation and even within the same sentence." (Jacobson, 227) Es wird daher vom "intra-sentential code-switching" gesprochen, dem Wechsel der Sprachkodes innerhalb desselben Satzes. Jacobson hat eine Fülle von Beispielen aufgeführt und nach grammatischen Gesichtspunkten analysiert (insbes. 231 ff.). Wird im code-switching des realen Lebenszusammenhangs "encoding a n d decoding ... mainly a(s) subconscious strategy" (Jacobson, 233) eingeschätzt, ergibt sich f ü r den literarischen Verwendungszusammenhang code-switching als bewußte Gestaltungsstrategie. Die Untersuchungen dazu sind noch sehr sporadisch. (Vgl. z.B. Valdes-Fallis, 1975; Candelaria, 1988, 91-97) In der bewußten literarischen Gestaltung wird die Vermischung von Varianten des Spanischen mit einem mehr oder minder Standard American English noch verfeinert u n d kompliziert durch den gezielten Einsatz regionaler oder vernakularer Dialekte des Englischen (etwa Black English slang) oder nominaler Entlehnung aus Nahuatl- u n d Mayasprachen, u m Ausdrucksformen des Indigenen zu verstärken. Chicanosprache eröffnet praktisch unbegrenzte Möglichkeiten der Flexibilisierung und Assimilation, so daß es vermittels des code-switching, zumal in der Lyrik zu

40 erstaunlichen Formen von Experiment und Kreativität kommt. "... code-switching in Chicano p o e t r y is emblematic of theme. T h a t is, specific transition itself - the discrete speech act of changing from one language to another a n d back again conveys meanings quite a p a r t f r o m the lexical meanings denoted or t h e symbolic meanings connoted by t h e surface language forms." (Candelaria, 1988, 92). Cordelia Candelaria zeigt diese Elemente der Verdichtung u n d zunehmenden Komplexität von Bedeutung u n d Aussage durch code-switching an je einem Text von Alurista u n d Carmen Tafolla auf. Interlinguales oder bilinguales code-switching erzielt demnach eine Vielfalt von Effekten, indem es das liguistische Repertoire bereichert, kulturelle Implikationen transportiert, soziale Matrix reflektiert u n d eine ethnisch-kulturelle Autonomie bekräftigt. Code-switching manifestiere schließlich "the dichotomy of values implicit in the diamal vs. the nocturnal modes of m i n d " (96) u n d stößt damit z u m Zentrum lyrischer Aussageweise vor, indem es direkt in die metaphorischen u n d symbolischen Schichten des Textes eintritt. Die zitierten Beispiele meines Lyrikkapitels werden diese komprimierten B e h a u p t u n g e n nach u n d nach konkretisieren können.

Das politische

Movement

des

Ghicanismo

Daß die Landarbeitergewerkschaft United Farm Workers ( U F W ) einmal der zündende Funke f ü r das gesamte Chicano Movement wax, ist heute nur schwer vorstellbar angesichts ihrer vollen Integration in den schwerfälligen bürokratischen A p p a r a t der Dachgewerkschaft A F L / C I O . Dieser Umstand bedeutet keinesfalls, daß heute alles in O r d n u n g ist im Sektor der Landarbeit und der Ernährungsindustrie. Der 18 Monate währende Streik in den canneries von Watsonville 1986/87, in dem wieder einmal die Frauen als aktivste u n d beharrlichste K r a f t sichtbar wurden (vgl. Castillo, 1989, 25-38), m a g als Beispiel stehen für die vielen Aktivitäten lokalen Protests u n d Widerstands, durch die allein die Rechte der Arbeitenden immer wieder neu gesichert werden müssen. Jedenfalls: als am 8. September 1965 1300 philippinische Traubenpflückerlnnen des Agricultural Workers Organizing Committee unter Larry Itliong in Delano, Kalifornien, in den Ausstand t r a t e n , schloß sich Cesar Chavez mit seiner National F a r m Workers Association eine Woche später an. Er verschickte gleichlautende Telegramme an 37 Pflanzer des Agribusiness, in denen die Hauptforderungen enthalten waren: Anerkennung der NFWA als Tarifpartner; Anhebung des Mindestlohnes auf $ 1.40; Ausgestaltung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der kalifornischen Landarbeiterinnen nach geltendem Recht. 1 9 Damit waren die erste Farmarbeitergewerkschaft in der Geschichte der amerikanischen Arbeiterbewegung, die 19

Die Anfänge der UFW (und damit des Chicano Movement) sind aus quasi zeitgenössischer Sicht (häufig: participatory observation) gut dokumentiert. Vgl. u.a. Kushner, 1975; Steiner, 1969; Meyer/Rivera, 1972; Levy, 1975; Rabe/Meyer/Tonn, 1977; Herms, 1977, 123-142; u.a.m.

41 von Bestand sein würde, und das Movimiento Chicano geboren. Damit begann zugleich ein fünfjähriges zähes Ringen, ehe es 1970 gelang, zumindest in Delano die Farmer soweit in die Knie zu zwingen, daß sie in der Mehrzahl bereit waren, einen dreijährigen Tarifvertrag mit dem United Farm Workers Organizing Committee zu unterzeichen. Einige Stationen des dornenreichen Weges bis dorthin: Im Oktober 1965 streikten ca. 5000 Arbeiterinnen, was die Pflanzer mit dem Einsatz von Streikbrecherinnen beantworteten. Die UFW erfuhr zunehmend solideirische Unterstützung (materiell und ideell) von Einzelgewerkschaften der AFL/CIO (United Auto Workers, Walther Reuther) und Organisationen wie SNCC, CORE, CPUSA, die sich in den Großaktionen des Jahres 1966 (nationaler Boykott der Schenley Produkte; Marsch auf Sacramento; Río-Grande Marsch von 1500 texanischen Chícanos; etc.) niederschlug. Die Zuspitzung der Konkurrenz zwischen UFW und Teamster Union (von der mit den Pflanzern die berüchtigten kollaborierenden "sweetheart contracts" abgeschlossen wurden) endete 1967 mit einem vorläufigen Kompromiß: Chávez darf ausschließlich Landarbeiter organisieren, die Teamsters konzentrieren sich auf die Konservenfabriken und Großmärkte. Dem Nachlassen des Kampfgeistes begegnete Chávez im Frühjahr 1968 mit einem 25tägigen Fasten und einer Rede am 10. März vor 5000 Arbeiterinnen in Delano, der auch Senator Robert Kennedy beiwohnte. Martin Luther King schickte ein Solidaritätstelegramm. Das Jahr 1969 stand ganz im Zeichen der bundesweiten Ausdehnung des Boykotts kalifornischer Produkte aus "non-union"-Betrieben, der freilich durch das massenhafte Aufkaufen von Trauben und Salat durch das US-Verteidigungsministerium sehr behindert wurde. Am 29. Juli 1970 würdigte Chávez auf einer (vorläufigen) Siegesfeier den Durchbruch in Delano als "the beginning of a new era in labor relations in California agriculture". Die 1970er Jahre standen im Zeichen eines einstrengenden Kampfes um die Akzeptanz der UFW-Gewerkschaft in Gesamtkalifornien und schließlich in weiteren Bundesstaaten. Parallel dazu lief die Ausweitung der Boykottaktivitäten auf Kanada und Europa: "César Chávez unternahm 1974 eine Europareise, um Gewerkschaften und Kirchen auf die besonderen Probleme 'seiner' kalifornischen Landarbeiter aufmerksam zu machen, deren Sprecher und Präsident er ist. Er berichtete auch mir von seiner Arbeit ... Sein Ruf zur Solidarität und zu internationeder Zusammenarbeit sollte von uns allen gehört werden." (Zit. nach "Geleitwort von Gustav Heinemann", in Meyer/Rabe/Tonn, 1975, 2) Soweit der Altbundespräsident Heinemann 1975. Der Rückschläge gab es freilich viele. Als besonders schmerzlich wurde die Niederlage im Jahre 1976 bei der Volksabstimmung "Proposition 14" in Kalifornien empfunden. Es ging um die Absicherung demokratischer Gewerkschaftswahlen. Auf die 719.000 Unterschriften unter die Petition reagierte das Agribusiness mit einer Kampagne, die über einen Etat von 1,6 Millionen Dolleir verfügte. Ihr Slogan war: "Protect private property - No on 14". So stimmten schließlich 4,2 Millionen Kalifornierlnnen dagegen, 2,6 Mili, allerdings dafür, so deiß Chávez eim Wahlabend konstatieren konnte: "In our struggle we never really lose. We've not lost

42 our unity, our solidarity, our spirit." (Zit. nach Negra, 1976, 5) Unity-Solidarity-Spirit: Einheit u n d Solidarität drückten sich in den weltweiten B o y k o t t m a ß n a h m e n u n d der Zusammenarbeit mit den Black P a n t h e r s von Oakland gleichermaßen aus. Doch unter dem Signal von "spirit" k o m m t ein weiteres entscheidendes Element hinzu: " T h e Church is one form of the Presence of God on E a r t h , and so naturally it is powerful. It is powerful by definition. It is a powerful moral and spiritual force which cannot b e ignored by any movement." (Chavez, 1974, 143) W ä h r e n d es die Unterstützung der California Migrant Ministry, einer Instanz der protestantischen Kirche, von Anfang an in Delano gab, m u ß t e die Hilfe seitens der katholischen Kirche, die den Chicanos traditionell viel n ä h e r steht, m ü h s a m e r k ä m p f t werden. Chavez beharrte zäh auf deren Funktion als "economic power" u n d "spiritual guide": "We don't ask for more cathedrals. We d o n ' t ask for bigger churches or fine gifts. We ask for its presence with us, beside us, eis Christ among us. We ask the Church to sacrifice with the people for social change, for justice and for love of brother." (Chavez, 146) Die Rolle der Kirche als I n s t r u m e n t u n d R a h m e n der Mitschöpfung ("co-creation") des Menschen i m Sinne der Theologie der Befreiung wurde somit eingefordert. (Vgl. Solle, 1985) Der Streik von Delano u n d der Kampf der United Farm Workers unter Cesar Chavez war zweifelsfrei Ursprung u n d Kern des Chicano Movement u n d ragte gleichzeitig weit d a r ü b e r hinaus, nämlich in die Gewerkschaftsbewegung der USA, in deren interne Drittweltnationen hinein u n d in die Untergliederungen der Demokratischen Partei, in Kirche u n d Gesellschaft allgemein. Neben d e m Kampf der F a r m a r b e i t e r i n n e n gab es regional begrenzte Aktionen, die ausschließlich dem S p e k t r u m des Chicanismo zu zuordnen sind, so etwa die "Bürgerrechtsbewegung" des "Corky" Gonzales in Colorado. Gonzales' Hauptziel war die Verbesserung der Lage der Chicanos in allen Lebensbereichen: Justiz, Arbeits- u n d Wohnbedingungen, Ausbildung. Als "Crusade for Justice in Denver" b e g a n n 1965 seine Bewegung, die eher nationalistisch als integrationistisch ist; am E n d e des Poor People's March nach Washington 1968 verkündete er seinen "Plan of t h e Barrio, calling for housing t h a t would meet Chicano cultural needs; for education basically in Spanish, t h a t would b e based on the same concept of community; for barrio business t h a t would b e owned within the community; and for reforms in landholding, with emphasis on restitution of pueblo lands." (Meyer/Rivera, 1972, 275) Das bedeutet in der Tendenz die Errichtung einer autarken ChicanoGegengesellschaft in K o m m u n e n und Kooperativen, unter Einschluß einer intakten Gegenkultur: Gonzales selbst schuf eines ihrer verbreitetsten Zeugnisse, das epische Gedicht "Yo Soy Joaquin" (s.u.), das nicht zuletzt zur G r ü n d u n g der Chicano Youth Liberation Conference 1969 beitrug. (Vgl. u.a. Steiner, 1974, 322-30) Auf dieser Großversammlung, an der r u n d dreitausend jugendliche Chicanos teilnahmen, wurde der von Alurista entworfene "Plein Espiritual de Aztlan" verkündet, P r o g r a m m u n d P l a t t f o r m der kulturnationalistischen Bewegung der Chicanos. "With our heart in our hands and our hands in the soil, we declare t h e Independence of our Mestizo Nation. We are a Bronze People with a Bronze Culture. Before the world, before all of North America, before all our brothers in

43 the Bronze Continent, We are Aztlán." (Valdez/Steiner (eds.), 1972, 403) In hymnischer Rhetorik wird die Einheit aller Mestizen- u n d I n d i a n e r s t ä m m e Amerikas, das indigene Amerindia, beschworen, woraus indes auch praktische P r o g r a m m p u n k t e (wenngleich utopisch) wie z.B. "cooperative buying" (404) und "defeat the gringo dollar value system" (405) abgeleitet werden. El Plan Espiritual ist der romantisch-enthusiastische Entwurf einer sozialistischen Utopie der Einheit der Nationen, dessen spiritueller drive auf die Entwicklung der Chicano-Literatur nachhaltigen Einfluß a u s ü b e n sollte. Die Ansätze von Landreform (bzw. Umkehr des "Yankee landgrabbing" zur Reappropriierung durch die rechtmäßigen Eigentümer), wie sie bereits bei Gonzales u n d auch in der P l a t t f o r m der Youth Conference erkennbar waren, waren das zentrale Ziel der Alianza Federal de Mercedes, die 1963 in New Mexico gegründet wurde. César Chávez erklärte " t h a t if he lived in New Mexico he would be a m e m b e r of the Alianza". (Meyer/Rivera, 1972, 272) Parallel zu den Bestrebungen in den benachbarten Provinzen Nordwestmexikos zielte R. López Tijerinas Strategie auf die Rückgewinnung ländlichen Gemeindeeigentums. Seine Vorstellungen entzündeten jugendliche Militanz; Zusammenstöße mit lokaler Polizei u n d Justiz blieben nicht aus. Tijerina selbst wurde 1969 zu mehrjähriger Haft verurteilt, zwei J a h r e später auf Bewährung freigelassen. Ohne seine F ü h r u n g n a h m e n Zusammenhalt u n d Effektivität der Alianza rapide ab. (Zur Alianza vgl. Blawis, 1971; Knowlton, 1974, 331-340) Bildete sich U F W rasch als die Gewerkschaft der Chícanos heraus, so ist La Raza Unida die Partei der Chicanos. Sie erfuhr rasche Verbreitung als Reaktion auf die Unzufriedenheit der mexiko-amerikanischen Minderheit mit den beiden großen Parteien, zumal den Demokraten: "Both parties have been guilty of using t h e Spanish speaking and the Chicano vote for their imperative of control of the legislature ... they axe cynical in their dealings with our needs and aspirations ... Both parties ultimately have shown t h a t they represent the big money interests". 2 0 Ausgehend 1970 von Crystal City, Texas, wurde lange Zeit das Hauptaugenmerk auf die Bildungspolitik gerichtet. La Raza-Vertreter erreichten alsbald Mehrheiten in den "school-boards" zahlreicher Distrikte mit starkem mexikanischen Bevölkerungsanteil und konnten so allmählich ihre Vorstellungen einer Gleichbehandlung im Ausbildungssektor durchsetzen. Inzwischen betreibt La Raza erfolgreich K o m m u nalpolitik in Texas, Kalifornien, New Mexico, Arizona, Colorado u n d stellt eigene Kandidaten f ü r Kongress-, Gouverneurs-, u n d Präsidentschaftswahlen auf. La Raza Unida wird immer m e h r , so ihr F ü h r e r José Gutiérrez, zu "a serious threat t o local and state Democratic and Republican candidates throughout the Southwest, especially as it gains m e m b e r s and m o m e n t u m . La Raza Unida, Gutiérrez believes, will provide solutions to a century-old problem -the acceptance by Anglos of Mexican Americans and their culture." (Juarez, op.cit., 47) 20 Californian State Advisory Committee to U.S. Civil Rights Commission, zit. nach Juarez, 1974, 305. Vgl. auch die Redeauszüge des Parteivorsitzenden José Angel Gutiérrez, 1974, 226-233.

44 Der häufig emotionalisierten Politik des Movements der End-1960er Jahre folgte in den 70er Jahren eine eher pragmatische Ausrichtung, für die manchmal der Nationalkongreß der Raza Unida Party von El Paso 1972 als "landmark" gilt. Die Gewerkschaftsbewegung der United Farm Workers hatte sich zu diesem Zeitpunkt durch Einbindung in die Dachgewerkschaft AFL/CIO und Annäherung an den linksliberalen Flügel der Demokratischen Partei vergleichsweise stabilisiert. "Crusade for Justice" und "Land and Culture" isolierten sich zunehmend sektiererisch in ihren Regionen. Eine Periode ideologischer Auseinandersetzungen begann. Zwar war auch Gonzales' Kulturnationalismus eine sozialistische Komponente eigentümlich gewesen, die freilich eher verschwommen an Fanon, Cesaire und Malcolm X anknüpfte, als daß präzise auf die Arbeiterklasse abgehoben wurde. Doch wurde dieser aktionistische Gefühlssozialismus nunmehr abgelöst durch eine Phase theoretischer Vertiefung: "It was a period of philosophical maturation and theoretical consolidation. Chicano movement activists studied Marx, Mao, Lenin, Stalin, and others." (Garcia, 1978, 122) Zwei wichtigere, im engeren Sinne sozialistische, Gruppierungen der Chicanos im Zeitraum 1972-77 waren die Socialist Workers' Party - Young Socialist Alliance (SWP-YSA) und das Center for Autonomous Social Action - General Brotherhood of Workers (CASA-HGT). Die trotzkistische SWP mit ihrem national verbreiteten Organ The Militant ist die ältere der beiden Organisationen, die sich auf eine nennenswerte Basis innerhalb der Antikriegsbewegung und der Frauenbewegung stützen konnte. 21 Demgegenüber rekrutierte sich CASA ausschließlich aus dem Chicano Movement selbst und war auf Kuba als lateinamerikanisches Vorbild eines "realen Sozialismus" orientiert. Bei signifikanten Unterschieden im Hinblick auf die ideologische Herkunft verband jedoch beide das Konzept einer sozialistischen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA. Das zentrale Thema der siebziger Jahre, das Problem der illegalen Wanderarbeiterinnen aus Mexiko, verband nicht nur SWP und CASA, sondern auch beide mit den gemäßigteren Organisationen, d.h. der liberalpragmatischen Raza Unida Party und der traditionellen League of United Latin American Citizens (LULAC). "Almost everyone ... was in total agreement with the main slogans: unconditional amnesty for all undocumented workers, and immediate cessation of all deportations." (Garcia, 127) Bei aller Vielfalt und Differenzierung hinsichtlich theoretischideologischer Positionen ist das Ergebnis der Auseinandersetzungen jedoch das einer politischen Lähmung gewesen und bereitete den Weg für massenhafte Organisierung von Chicanos innerhalb der Demokratischen Partei. "We need to examine opening up the possibility of using the Democratic Party and electoral politics as a means of forging links between Chicanos, community-based activists, and the small intellectual and middle-class strata." 2 2 Dieser Trend ma21

Zu ihrem Programm, konkrete Chicanopolitik betreffend, vgl. auch Olga Rodriguez (ed.), 1977. 22 Almaguer, 1978, 141. Almaguer verfaßte auch 1975 die Broschüre "Class, Race, Chicano Oppression", Sonderdruck aus Socialist Revolution 25.

45 nifestierte sich in der Ü b e r n a h m e staatsoffizieUer Amter durch Chicanos, etwa der Wahl des Gouverneurs Anaya in New Mexico u n d des Bürgermeisters Cisneros in San Antonio, Texas. Viele Chicano-Gruppen arbeiteten in der Jackson-Kampagne zu den Präsidentschaftsvorwahlen der Demokratischen Partei. Daß nur ca. 50% aller "Latino"-Wähler f ü r Mondale stimmten, ist p r i m ä r dem ausschließlich konservativen Engagement des kubanischen Bevölkerungsanteils der USA zuzuschreiben. Die Organisation unabhängiger Mexican American Democrats verweist auf die Einsicht, daß - ob radikal oder liberal - die Organisierung von Chicanos als Chicanos das Gebot der Stunde ist. " T h e special needs a n d issues t h a t directly affect various s t r a t a of the Chicano population ... bilingual education, affirmative action hiring Raza people, justice for u n d o c u m e n t e d workers, equal access to quality education, etc., are all d e m a n d s t h a t can be most forcefully advanced by Chicano organizations t h a t make t h e m their priority issues". (Almaguer, 141) In den Wahlkämpfen der 1980er J a h r e engagierten sich viele Chicanos f ü r das Drittweltprogramm, die "Regenbogenkoalition" des Reverend Jesse Jackson in der Demokratischen Partei. Es bleibt abzuwarten, ob eine Chicanopolitik des demokratischen Sozialismus innerhalb der Demokratischen Partei wird Fuß fassen können. Weder der kulturelle Nationalismus, noch der theoretische Sozialismus der ideologischen Phase, noch auch bislang der liberale P r a g m a t i s m u s der jüngsten Vergangenheit seit 1978 haben die sozialen Kernprobleme der Masse der Chicanos in den USA zu lösen vermocht. Seit den Anfangserfolgen der Raza Unida P a r t y in der Schulpolitik u m 1970 setzten sich Chicanos aktiv f ü r eine Reform im Ausbildungssektor ein. So wie das Civil Rights Movement Black Studies an den Universitäten erkämpft h a t t e , ging es n u n d a r u m , Chicano Studies D e p a r t m e n t s zu errichten u n d Chicano Studies in den Studiengängen zu verankern. Von besonderer Bedeutimg war ein gemeinsamer Versuch von Chicanos und Indianern als Native Americans, eine eigene alternative Ausbildungsinstitution aufzubauen. In Kalifornien, dem Staat mit der größten Anzahl von Indianerinnen (1980: 201 311) u n d Chicanos (1980: 3 537 466, die Dunkelziffer ist weit höher) wurde 1971 auf Betreiben der Chicano u n d Indian Community des Central Valley u n d der Bay Area eine gemeinsame Hochschule, die Degannawidah-Quetzalcoatl University (D-Q U) auf einem geräumten Armeegelände ins Leben gerufen, das Studierende u n d Arbeiterinnen gemeinsam besetzten. (Zur G r ü n d u n g von D-Q U: F o r b e s / M a r t i n / R i s l i n g , jr., 1972; zur Geschichte: Lutz ( a u t h o r / e d i t o r ) , 1980; Peyer/Bolz, 1983, 5-10; Lutz, 1986) Trotz immenser technischer, rechtlicher, finanzieller und vor allem politischer Schwierigkeiten hat D-QU bis heute als ZweijahresCollege überlebt, ist eine staatlich anerkannte Bildungseinrichtung u n d hat sich AIHEC, dem "American Indian Higher Education Consortium" angeschlossen, einer nicht zuletzt vom D-QU Vorsitzenden David Risling, jr. initiierten Interessengemeinschaft indianischer Colleges, die maßgeblich an der Verabschiedung des "Tribally Controlled Community Colleges Assistance Act" (1978) beteiligt waren. D-QU hat stets in der ersten Reihe des Kampfes der campesinos u n d indianischen Unterprivilegierten gestanden, u n d ist seit ihrer G r ü n d u n g ständiger Überwachung

46 seitens des F B I ausgesetzt, eine Überwachung, die u . a . auch Dennis B a n k s galt, d e m A I M - B e g r ü n d e r u n d Janklow-Ankläger, der als politischer Asylant in Kalifornien von 1975 bis 1982 Kanzler von D-QU war. Trotz aller Angriffe u n d Schwierigkeiten h a t D - Q U seit seiner G r ü n d u n g edlen Chicagos u n d I n d i a n e r i n n e n ü b e r 18 J a h r e n , die willens waren, die politischen u n d kulturellen Ziele D - Q U ' s m i t z u t r a gen, ein Aus- u n d F o r t b i l d u n g s p r o g r a m m angeboten, u n a b h ä n g i g von den zuvor erreichten Schulabschlüssen. D - Q U ist f ü r Chicanos u n d I n d i a n e r i n n e n ein Community center geworden, von d e m aus andere Bewegungen initiiert u n d koordiniert w e r d e n , die d e m K a m p f u m S e l b s t b e s t i m m u n g dienen. Als Bestandteil der politischen P r o t e s t - u n d kulturellen E m a n z i p a t i o n s b e w e g u n g seit 1965 w u r d e auch von den Chicanos der K a m p f gegen Diskriminierung im Ausbildungsbereich a u f g e n o m m e n . Eine Serie privater u n d staatsoffizieller Unt e r s u c h u n g e n , insbesondere ü b e r den Zustand der zweisprachigen Ausbildung im Schulsystem des Südwestens waren die Folge. Als erstes sichtbares Ergebnis auf der E b e n e der Bundesgesetzgebung darf der "Bilingual E d u c a t i o n A c t " von 1968 gelten, Title VII, der zentrale F i n a n z m i t t e l f ü r lokale S c h u l p r o g r a m m e f ü r zweisprachige Erziehung vorsah. " T h r o u g h the Bilingual E d u c a t i o n Act, t h e U.S. Congress m a d e a f u n d a m e n t a l policy shift f r o m monolingualism in t h e public schools t o permissive use of bilingual instruction." (Padilla, 1984, 91. Weitere Studien zu diesem G e g e n s t a n d , u.a.: San Miguel, 1984, 111-130; Castro, 1977, 81-122) Chicanos schienen es vom A u s g a n g s p u n k t her leichter zu h a b e n als I n d i a n e r i n n e n , ging es d o c h " n u r " u m den K a m p f f ü r Gleichrangigkeit des Spanischen; freilich werden N a v a h o u n d Chinesisch im Umfeld des Gesetzes g e n a n n t . Ein Gesetz u n d seine U m s e t z u n g in Wirklichkeit sind indes zweierlei: sechs Berichte der United States C o m m i s s i o n on Civil Rights zwischen 1971 u n d 1976 ü b e r Schulen des Südwestens k a m e n zu d e m Ergebnis einer massiven Anklage des Systems. Segregation, "low r a t e s of r e t e n t i o n " , m a n g e l n d e Lesefertigkeit, hochgradige Wiederholungsfrequenz, Ü b e r a l t e r u n g der Schülerinnen, L e h r e r i n n e n m a n g e l u.v.a.m. waren an der Tageso r d n u n g . Die Verhältnisse h a b e n sich bis h e u t e nicht signifikant geändert. Eine h o h e R a t e an "High School d r o p o u t s " war u n d ist die Folge. (Vgl. z.B. Strack, 1978) Selbst wenn in neuerer Zeit ü b e r 200 P r o g r a m m e unter Titel VII die Einsicht reflektieren, daß monolinguale Schulerziehung den Nöten u n d Bedürfnissen von Chicanos u n d Chicanas nicht entgegenkommt, sind doch die ü b e r g e o r d n e t e n Konzeptionen u n d Ziele klar erkennbar. Allgemeiner Unterricht durch das M e d i u m des Spanischen ist kein Zweck in sich selbst, der die Vertrautheit der Kinder mit der eigenen mexikanischen K u l t u r t r a d i t i o n fördern soll, sondern dient der Verm i t t l u n g von Fertigkeiten, die die Verwertbarkeit des Individuums im Kontext der h e r r s c h e n d e n Gesellschaftsordnung erleichtern. Letztendlich geht es u m Akk u l t u r a t i o n u n d Assimilation, 2 3 u n d wie bei den Indianerinnen intensiviert sich dieser Prozeß, je höher die Schülerinnen bzw. Studierenden innerhalb des Bil23

"Acculturation is the clear purpose with assimilation implied as the eventual goal" (Castro, 1977, 114).

47 dungssystems aufsteigen. F ü r Native Americans gilt allgemein, daß sie Erfolge im herrschenden euroamerikanischen Bildungssystem derzeit nur u m den Preis des Verlusts ihrer indianischen oder Chicano-Identität erreichen oder in einen Zus t a n d "kulureller Schizophrenie" 2 4 geraten, den nur wenige Individuen integrierend überwinden können. Völlig unabhängig zunächst vom 1960er Movimiento, ragte historisch die Leistung von Chicanas in Arbeitskämpfen heraus. Vom zitierten Beispiel Watsonville 1986 ließe sich 80 J a h r e zurückblättern zur Formierung der B a h n a r b e i t e r i n n e n in Laredo ein der texanisch-mexikanischen Grenze 1906, 26 wo Frauen die treibende K r a f t waren. Der in Salt of the Earth abgebildete Streik oder die Gewerkschaftsformierung in der Sportartikelindustrie Los Angeles 1976 (Vasquez, 1980, 145-148) können als skandierende Zwischenbeispiele zitiert werden. In den 1970er J a h r e n waren es vor allem die Chicanas in den "Amalgamated Clothing Workers of America" u n d "International Ladies Garment Workers Union", die mit Zähigkeit und Umsicht Arbeiterinnenrechte durchsetzten. (Coyle/Hershalter/Honig, 1980, 117-143) Das Beispiel der Dolores Huerta bei den United Farm Workers weist auf einen Umstand hin, der in der Folge häufiger zur Distanzierung der Chicanas vom restlichen Movimiento führte: the "invisibility of women." Dolores Huerta war stellvertretende Vorsitzende der United Farm Workers und "worked quietly and effectively behind the scenes lobbying and negotiating on behalf of the farm workers." (Mirande/Enriguez, 1979, 233) Die Unauffälligkeit und Bescheidenheit, mit der sie ihre Aufgaben verrichtete, ließen sie kaum anecken. "Although an outstandingly talented woman, she appears to arouse little hostility or resentment in men: 'There's been no reaction from farm workers to my role as a woman within t h e union. They will appreciate anybody who will come in and help t h e m . " ' (Mir a n d e / E n r i q u e z , 233) Solange eine Frau sich keine "leadership" a n m a ß t , ist sie geduldet. Im studentischen Chicano Movement wurde Frauen gern die "invisible labor by being the cooks, secretaries and janitors" zugewiesen; Soma Lopez hat dies auf die spezifischen Sozialisationsprozesse durch mexikanische Kultur- und Bildungstraditionen zurückgeführt: Familie, Kirche, Bildungssystem, rechtliche Institutionen. (Lopez, 1977, 16-29) Diese Behinderungen und Diskriminierungen wurden aus dem mexikanischen Kontext in denjenigen vom euroamerikanischen Patriarchat geprägten hineintransportiert, worin sie sich häufig potenzierten. Es will daher einleuchten, daß Chicanas sich in ihrer Analyse und P r o g r a m m a t i k häufig vehement von den Männern des Movement distanzieren. Der Aufschwung 24 »Tjj e r e ¡ s a n 0 l(j Iroquois saying about how one cannot for long have one's feet placed in two canoes. To be able to operate effectively in both cultures with a certain level of authenticity in each has been called 'controlled schizophrenia"'. (Witt, 1981, 7-8) Siehe auch: Billedeaux, 1978, 15-18. 25

Vgl. Zamora, 1980, 163-169. Wg. weiterer bibliographischer Informationen zur Chicana-Prauenbewegung siehe Castello-Argendona/Gomez-Quinones/HerreraDuran, 1975, und die Anmerkungen von Herms, 1981, 79-93.

48 d e r C h i c a n a b e w e g u n g geschieht vielfach nicht wegen sondern trotz der Bewegung d e r "progressiven M ä n n e r " . M u ß t e dem C h i c a n i s m o d e m n a c h bisweilen der Vorwurf des Antifeminismus gem a c h t werden, wird derjenige des Rassismus gegenüber der U.S.-Frauenbewegung e r h o b e n . 2 6 A u c h hier also wieder eine subtile zusätzliche Diskriminierung, die das allgemeine Dreifachraster race-class-gender weiter kompliziert. "... w o m e n with s t r a i g h t white t e e t h a n d clear skins f r o m t h o u s a n d s of years of p r o p e r n u t r i t i o n . T h e y choose t o b e p o o r ... T h e lies, pretentions, t h e s n o b b e r y a n d cliquishness. T h e racism which bled t h r o u g h every m o m e n t at every level. T h e terrifying a n d useless struggle t o b e accepted. T h e awful gossip, bitchiness, backbiting a n d jealousy. T h e gross lack of love. I left t h e w o m e n ' s m o v e m e n t utterly d r a i n e d . " ( C h r y s t o s , 1983, 6 8 f ) Soweit die konkrete E r f a h r u n g einer Desillusionierten. Eine d r i t t e Verdichtung u n d Komplikation der dreifachen Diskriminierung e r f a h r e n D r i t t w e l t f r a u e n u n d Chicanas d o r t , wo sie sich offen als Lesbierinnen b e k e n n e n u n d politisch zusammenschließen. Dieses Bekenntnis, der politische Z u s a m m e n s c h l u ß , sind in sich b e r e i t s Akte des W i d e r s t a n d s : "For a w o m a n t o b e a lesbian in a m a l e - s u p r e m a c i s t , capitalist, misogynist, racist, h o m o p h o b i c , imperialist culture, such as t h a t of N o r t h America, is a n act of resistance." (Clarke, 1983, 128) Die persönliche i n t i m s t e E r f a h r u n g der Homosexualität, die physische E n t d e c k u n g dieser Neigung, zu veröffentlichen, ist in sich ein politischer Akt: "It w a s n ' t until I acknowledged a n d confronted m y own lesbianism in t h e flesh, t h a t m y h e a r t felt identification w i t h a n d e m p a t h y for m y m o t h e r ' s oppression - due to being p o o r , u n e d u c a t e d , a n d C h i c a n a - was realized." (Moraga, 1983, 28) Die H o m o s e x u a l i t ä t wird gleichsam z u m I n s t r u m e n t , zur "avenue", politischer Erkenntnis. M o r a g a s Einleitung zur 2. Auflage der erfolgreichen Anthologie This Bridge Called My Back liest sich aus erweiterter politischer Perspektive d e n n auch als dicht g e d r ä n g t e Horrorvision einer "world on fire", wie sie 1983 w a h r z u n e h m e n war - die USA trainieren T r u p p e n in H o n d u r a s , u m die Regierung Nicarag u a s zu s t ü r z e n ; massive Menschenrechtsverletzungen in G u a t e m a l a u n d El Salvador; Eskalation politischer Repression in Chile; Invasion G r e n a d a s ; A p a r t h e i d in S ü d a f r i k a ; Christenmiliz u n d israelisches Militär m o r d e n in Beirut; die philippinische R e g i e r u n g e r m o r d e t Aquino; " A n d in t h e U.S.? T h e R e a g a n a d m i n i s t r a t i o n daily d r a i n s us of nearly every political gain m a d e by t h e feminist, T h i r d World a n d anti-war work of t h e late 60s a n d early 70s." (Moraga, Foreword) Aus der düsteren B e s t a n d s a u f n a h m e ergeben sich die Fragen nach Organisation, Solidarität u n d U b e r l e b e n . D a s Selbstverständnis des Drittweltfeminismus ist das B a u e n einer B e w e g u n g von i n n e n h e r a u s . "If we are interested in building a movement t h a t will not c o n s t a n t l y b e subverted by internal differences, t h e n we m u s t build f r o m t h e inside o u t , not t h e other way a r o u n d . " (Moraga). Der Drittweltfeminismus i n n e r h a l b der C h i c a n a b e w e g u n g verbindet ein H ö c h s t m a ß an b e g r ü n d e t e r Radika26 In Moraga/Anzaldua (eds.), 1983, gibt es dazu eine Sektion von nicht weniger als 10 Beiträgen mit dem übergreifenden Thema "And when you leave, take your pictures with you" - Racism in the Women's Movement", 63-106.

49 lität mit W ä r m e u n d Emotionalität, eine gelebte Kultur des Widerstands. (Vgl. auch Anzaldua, 1983, 198-209, und den neuen Band der Autorin, 1987) Die Akademikerinnen des Chicana Movement t r a t e n in den 1970er J a h r e n den langen Marsch durch die Institutionen an. Zu einem Zeitpunkt, als die neu eingerichteten Chicano Studies Centers und D e p a r t m e n t s schon wieder zu bröckeln drohten, weil Kampfesmut fehlte u n d Finanzen gestrichen wurden, besetzten sie Positionen, forschten u n d publizierten. 2 7 Ein Durchbruch gelang ihnen 1984 mit der J a h r e s t a g u n g der National Association of Chicano Studies in Austin, Texas. Unter d e m Titel "Voces de la m u j e r " beschäftigte sich r u n d die Hälfte aller Workshops, Dichterinnen-Lesungen und eine zentrale Podiumsdiskussion mit Geschichte, K u l t u r , Politik, Wissenschaftsorganisation, Lebensverhältnissen, sexistischer u n d rassistischer Diskriminierung von Chicanas in den USA. 2 8 Die Beziehungen zur Angloherrschaft und -ideologie wurden ebenso thematisiert wie die widersprüchlichen Verhältnisse, denen die Chicanas oft im Umgang mit den Männern der eigenen ethnischen G r u p p e unterworfen sind. Mit dem Austiner Kongress manifestierte sich eindrucksvoll der Durchbruch der Chicanas in die "scientific Community" der Chicano Studies. Die Chicanas konnten sich während der 1980er J a h r e in allen Bereichen des Movement durchsetzen und etablieren, ein Prozess, der sich auch in der Literatur, insbesondere der "Massenlyrik" spiegelt. Doch Theater, P r o t e s t r o m a n u n d die Lyrik der "Barden" reflektieren eher das männlich dominierte Movimiento, wie es sich in besonderer Dichte und Intensität 1965-1971 entfaltet hatte. Die sich dann im Verlauf der 1970er J a h r e allmählich abzeichnende Dichotomie der Frauen und Männer des Chicano-Movement ist durchaus für die Literatur produktiv geworden.

27

Siehe die Flut von Veröffentlichungen, die ich in "La Chicana", 1981, nur unvollkommen dokumentiere. 28 Ein Teil der Beiträge ist dokumentiert in Cördova et al. (eds.), 1986.

50

2. Kapitel: Chicano - Theater Jede Äußerung zum Drama und Theater der Chícanos muß notwendig hauptsächlich vom Teatro Campesino und Luis Valdez handeln. Anders als in der Lyrik, wo es eine Anzahl Produzentenlnnen von weltliterarischem Format gibt, und in der Naxrativik, wo etwa eine Handvoll Erzählerinnen dem nordamerikanischen oder auch lateinamerikanischen Vergleich standhält, steht und fallt die Welt des Theaters mit Luis Valdez und El Teatro Campesino - obwohl es dieses streng genommen seit 1982 schon nicht mehr gibt. Doch die Mythen- und Legendenbildung blüht; neue teatros, die sich gründen, werden zu allererst den acto üben. In der Theaterpraxis gilt gute Imitation des Teatro Campesino schon als höchst kreativ; in der schreibenden Zunft der Dramatikerinnen bestimmte sich niemand von einem ähnlich umfassenden Ansatz her wie Valdez. Viele der Ausübenden sind zudem in anderen Genres erfolgreicher (Estela Portillo, Alurista, Cherrie Moraga). Folgerichtig ist das Grund- und Hauptbuch, das die ersten fünfzehn Jahre modernen Chicano-Theaters (1965-1980) überblickt (Huerta, 1982), denn auch wesentlich Luis Valdez und dem Teatro Campesino gewidmet. Dessen gesamte Produktion wird erfaßt, vier Stücke haben eigene Kapitel ( The Shrunken Head of Pancho Villa; Bernabé; Dark Root of a Scream; Zoot Suit), ganz selten erfolgen Rückblicke zu historischen Vorstufen des Chicano-Theaters, neben dem Teatro Campesino wird nur noch die Arbeit des Teatro de la Esperanza ausführlich berücksichtigt, weil der Autor es begründete und leitete, also den insider view besitzt, auf andere Dramatikerinnenpersönlichkeiten (Carlos Morton, Estela Portillo Trambley etc.) wird nur eingegangen, wenn es die vom Teatro Campesino her determinierte Systematik gestattet. Im übrigen ist aber Huertas Studie eine der sensibelsten Leistungen der Chicanokritik, die in einem bestimmten Sinn durchaus einen materialistischen Ansatz verfolgt (vgl. meinen Literaturbericht, Herms, 1983). Daß es nennenswertes teatro, also von Mexikanerinnen und Chícanos in den USA produziertes, überwiegend spanischsprachiges, Theater gab, ließ sich bereits im Kapitel "Voraussetzungen" kursorisch und exemplarisch zeigen. Der qualitative Neuanfang eines überwiegend englischsprachigen (bzw. code-switching) teatro ist sicherlich einerseits durch die spezifischen sozialen Rahmenbedingungen begründet: zum ersten Mal in der Geschichte der US-amerikanischen Arbeiterbewegung schickte sich eine Gewerkschaft an, tatsächlich zu überleben und sich durchzusetzen (s.o.). Die generell begünstigende Rolle der Civil Rights-Bewegung und des Klimas der rebellischen "Sixties" für die Entfaltung des "Movimiento" war bereits mehrfach zu betonen. Doch nahm sich mit Valdez ein kreativer Künstler des teatro an, der zugleich hautnahe Erfahrungen als Wanderarbeiter hatte (ein Schulstück, das er geprobt hatte, konnte er nicht mehr spielen, weil seine Familie inzwischen zu einem anderen Ernteeinsatz gezogen war) und am San José State College klare Impulse der kalifornischen Studentenbewegung aufnahm. Seine spezifische Radikalisierung vor "La Huelga" schuf Voraussetzungen seines gesamten ouevre, die ich vor den acto» von Delano kurz in den Blick bekommen möchte.

51 Luis Valdez 1964/65:

Vorbedingungen

Vier wichtige Ereignisse fielen 1964 f ü r den 24jährigen z u s a m m e n : seine Graduier u n g a m San José S t a t e College; die Inszenierung seines Erstlings The Shrunken Head of Poncho Villa d u r c h die S t u d i o b u h n e des dortigen D r a m a D e p a r t m e n t ; sein E i n t r i t t in die San Francisco M i m e T r o u p e . Seine Radikalisierung innerh a l b d e r S t u d e n t e n b e w e g u n g b r a c h t e ihn schließlich auch als Mitglied der e r s t e n "Venceremos-Brigade" n a c h K u b a . Alle Ereignisse b e d i n g t e n einander gegenseitig u n d b e r e i t e t e n sein E n g a g e m e n t f ü r den Streik der C a m p e s i n o s vor. E r f o r d e r t e " t h a t we s u p p o r t Fidel C a s t r o as t h e real voice of L a t i n America, declaring t o t h e world w i t h dignity t h a t social justice m u s t b e given t o L a t i n America." (Valdez in Valdez/Steiner, eds, 1972, 218) A m Beispiel K u b a s k o n n t e Valdez den antiimperialistischen K a m p f der Drittweltvölker a u ß e r h a l b der USA mit d e m j e n i g e n der E t h n i e n von innen u n t e r einer gesamtlateinamerikanischen Perspektive z u s a m mensehen. D a ß a u c h bei Valdez - wie häufig in der d r a m a t i s c h e n L i t e r a t u r - der klaren politischen u n d ästhetischen Linie, die er in den actos entwickeln w ü r d e , eine E x p e r i m e n t i e r p h a s e vorausgeht, zeigt sich an The Shrunken Head of Poncho Villa1 , das - m ö c h t e m a n den Chicano m i t Brecht vergleichen - d e m Stellenwert von Baal o d e r Trommeln in der Nacht i m Gesamtschaffen e n t s p r i c h t . Das Stück setzt ein m i t einer musikalischen Dia-Show, u m in die B e d e u t u n g des historischen P a n c h o Villa e i n z u f ü h r e n (Prolog). Der erste Akt beginnt mit d e m Schrei i m Schlaf "Viva Villa" des Altrevolutionärs P e d r o , gefolgt von einer l a u t s t a r k e n D a r b i e t u n g des Corrido " L a c u c a r a c h a " , eine Art N a t i o n a l h y m n e der Chicanos. E n t s p r e c h e n d sind der 2. u n d der 4. Akt m i t einem B ü h n e n b i l d ü b e r d i m e n s i o n i e r t e r Kakerlaken versehen. Das T i t e l s y m b o l (der Revolutionsführer w u r d e angeblich e x h u m i e r t , der Leiche w u r d e der Kopf vom R u m p f g e t r e n n t , der Kopf verschwand) t a u c h t in der Figurenkonstellation der beiden Jugendlichen Domingo u n d J o a q u i n u n d dessen B r u der B e l a r m i n o wieder auf. Wie sich im 3. Akt zeigt, ist letzterer ein Kopf o h n e K ö r p e r , w ä h r e n d Joaquin als K ö r p e r ohne Kopf aus d e m Gefängnis z u r ü c k k e h r t - eine deftige Bilderwelt, die insgesamt - nicht n u r , wie H u e r t a m e i n t , " t h e setting with its cockroach-covered walls" (55) - an den europäischen Expressionismus erinnert. Wichtiger freilich als die überzogenen Bilder f ü r s Auge (sie sollen l a u t Valdez mit der Dia-Show zu A n f a n g d a r a u f h i n w e i s e n , " t h a t we have a h i s t o r y " , 51) ist der A n t a g o n i s m u s zweier Chicano-Lebensweisen, die Valdez mit D o m i n g o u n d J o a q u i n konfiguriert h a t . Drei J a h r e bevor " C o r k y " Gonzales J o a q u i n M u r r i e t t a 1 Nach der Erstaufführung am San José College erfolgte eine Revitalisierung und Professionalisierung in einer Produktion des Teatro Campesino (1968). Veröffentlicht wurde das Stück erst in West Coast Plays 11/12 (1982), also 19 Jahre nach seiner ersten Fassung. Diese Verfahrensweise ist nicht untypisch für Valdez' Umgang mit seinen Texten. La Carpa, Zoot Suit und I Don't Have to Show You No Stinking Badges waren zum Zeitpunkt dieser Niederschrift überhaupt noch nicht publiziert.

52 zur Identifikationsfigur seines historisch-epischen Gedichtes machte, läßt Valdez neben P a n c h o Villa diesen zweiten historischen Bezugspunkt aufscheinen. Joaquin "represents the Chicano who has lost his Mexican identity yet is not Anglicized either. He is a street youth who we discover has been released f r o m jail the day before and who his sister calls a 'lousy pachuco'." (Huerta, 53) Ein Anglo "gavacho" h a t t e ihn "lousy Pancho" genannt, und d a h a t t e er zugeschlagen. Das Netzwerk der Bezugspunkte verdichtet sich. Läuse kommen wie Kakerlaken häufiger vor, es wird mehrfach entlaust im Stück. Der Pachuco als Straßenjugendlicher der 40er u n d 50er Jahre ist ein Evergreen in Valdez' Stücken, bis er in Zoot Suit 1978 schließlich seine volle Reife erhält. Pancho ist historischer backdrop u n d Schimpfname zugleich, worin Rassismus u n d Diskriminierung schlaglichtartig eingefangen werden. Domingo k o m m t aus dem Krieg; Chicanos im 2. Weltkrieg, in Korea und Vietnam blitzen auf. Er h a t sich einen "Chivi" gekauft; dieses Automobil war Pancho Villas Tod in den Händen der US-Amerikaner. Im Gegensatz zu Joaquin als Pachuco repräsentiert Domingo den vendido, einen weiteren P r o t o t y p / S t e r e o t y p in Valdez' Schaffen, dem 1967 ein acto desselben Titels gewidmet werden wird. "El vendido" ist der vom herrschenden System "gekaufte" Chicano, der seine eigene raza verrät. Als Joaquin in einem noch eher schüchternen Versuch von "social banditry", einem Warenhausdiebstahl zur Linderung der Armut und des Hungers von la raza, seiner Bestimmung als gesellschaftlich bewußt Handelnder näherrückt, hilft Domingo der Polizei, ihn zu fangen, vertritt also im Sinne der Anglos "Law and O r d e r " . Zwei J a h r e später bringt er im letzten Akt als Mr. Sunday den e n t h a u p t e t e n Joaquin zurück, mit dem sich nunmehr Belarmino als das Haupt z u s a m m e n f ü g t . "Belarmino is the head of Pancho Villa, just as he is the hope for the future or the oppression of the present." (Huerta, 59) Als symbolischer Kopf des Chicanovolks spricht er das Schlußwort des Dramas: "So don't worry, my people, because one of these days Pancho Villa will pass among you again. Look to your mountains, your pueblos, your barrios. He will be there. Buenas noches." Auch die Familie, die in der Mutter Cruz ihr Zentrum hat, steht f ü r die Chicanos schlechthin, der kleinste Mikrokosmos für den nächst größeren, el barrio. "La familia" als Hort u n d Fluchtpunkt, Valdez praktizierte dies fortwährend, von der Kleinstzelle seiner eigenen über das Chävez-Movement und die kollektive Großfamilie des 'Teatro bis hin zu La Bamba. Die Familie ist reale Größe u n d fiktional gestaltete Nostalgie in einem. Cruz ist die Mutter aller Mejicanos. Die Bildlichkeit ist mithin elementar und krude, der hinweisende Zeigefinger u n ü b e r s e h b a r . Im entwickelten acto wird sie zum Bestandteil einer einsichtigen politischen Ästhetik, im komplexeren Ansatz der historia in zusätzliche Dimensionen eingebunden. Nach Pancho Villa u n d K u b a war es die San Francisco Mime Troupe, die Valdez ganz gezielt auf seinen Einsatz in Delano vorbereitete. Es schien nur logisch konsequent, daß er sein Engagement f ü r populäres Theater u n d seine eigene Politisierung in einem Theaterkollektiv weiter entwickeln wollte, das soeben mit dem Polizeiu n d Justizapparat San Franciscos u m das Aufführungsrecht in den öffentlichen

53 P a r k s u n d Anlagen der Stadt k ä m p f t e und den Ruf eines radikalen Straßentheaters genoß, in dem sich "Engagement, C o m m i t m e n t and Fresh Air" 2 zu einer lustvollen politischen Ästhetik verbanden, wo "Comedy and Revolution" 5 produktiv zusammengebracht wurden. R.G.Davis, der G r ü n d e r der "S.F. Mime Studio and Troupe", wie sie zuerst hieß, h a t t e sehr bald vom Prinzip "mime without words" Abschied genommen u n d eine umfassende Strategie antibürgerlichen Theaters zu entwickeln begonnen, die sich zunehmend der exaltierten Formen der traditionellen italienischen Commedia dell'arte bediente, u m agitatorisch besser wirksam zu werden, u n d italienische Textvorlagen (später auch französiche und deutsche) zu bearbeiten u n d anzuverwandeln begann. I m "Valdez-Jahr" 1964/65 arbeitete m a n zudem a m Konzept des Guerillatheaters (vgl. Davis, 1973, dt. in Herms, 1973, 72-80) u n d begann, das amerikanische Modell der Minstrel Show 4 umzufunktionieren. Doch Valdez interessierte sich vorrangig f ü r die Möglichkeiten der C o m m e d i a dell'arte, die, wie sich zeigen sollte, bestens auf die Lage der Campesinos anwendbar waren. Practising our own brand of Commedia dell'arte, we improvise within the framework of traditional characters associated with the strike. Instead of Arlecchinos, Pantalones, and Brighellas, we have Esquiroles (scabs), Contratistas (contractors), Patroncitos (growers), and Huelgistas (strikers). 5 Ergänzt m a n die ü b e r die Mime Troupe vermittelten Commedia-Einflüsse einer extrovertiert-demonstrativen Spielweise des Slapstick, der überzogenen Pose u n d Situationskomik durch gewisse Brechtische Techniken der Verfremdung u n d den alles durchwaltenden folk humor des mexikanischen Spaßmachers Cantinflas, d a n n sind die wesentlichen Strukturelemente des acto bereits b e n a n n t - jener Spielform des Agitprop-Sketches, die den Weltruhm des Teatro Campesino begründete, weil weltweit Solidarität bestand mit der Farmarbeit erb ewegung, der das Teatro ents t a m m t e , u n d in die es zunächst auch hineinwirkte.

El Teatro

Campesino:

Actos

1965-70

Niemand m a g sich so recht festlegen auf das genaue D a t u m jenes legendären Abends im Herbst 1965, als es zu den ersten "Gehversuchen" des Teatro kam. Der von Chávez ausgerufene Streik begann im September. Ein Flugblatt, das f ü r denselben A b e n d zu einem "organizational meeting" des " F a r m Workers T h e a t r e " aufruft u n d als "first leaflet announcing the first gathering of farmworkers to create El Teatro Campesino" reklamiert wird, ist auf den 2. November 1965 datiert. (El 2

Wahlspruch der S F M T seit 1962; vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Arno Paul in Herms/Paul, 1981, 60-80; zur frühen Geschichte der S F M T das Buch von Davis, 1975, zur Gesamtleistung der bis heute aktiven Troupe Burger/Herms, 1984. 3 Vgl. den Aufsatz dieses Titels von Holden, 1970, dt. bei Herms, 1973, 103-115. 4 Das Stück hieß A Minstrel Show or Civil Rights in a Cracker Barrel (Juni 1965) 5 Luis Valdez in Ramparts (July 1966), zit. nach El Teatro Campesino, 1985, 3.

54 Teatro Campetino, 1985, 7) Jedenfalls feierte das Teatro sein 20jähriges Bestehen (unter Beisein u.a. von Cesar Chavez, Dolores Huerta, J a n e Fonda u n d Peter Coyote 6 ) auf Einladung der Bürgermeisterin Dianne Feinstein i m großen Ballsaal des Westin St. Francis Hotel, San Francisco, am 9. November 1985. Wenn d e m Organisationstreif, zu dem das Flugblatt lädt ("There is interest in establishing a bilingual community f a r m workers' theatre project in Delano"), schon Probeversuche vorausgingen, ist wahrscheinlich, daß jener erste legendäre Abend, wo Valdez die Entdeckung machte, daß das Theater funktionieren würde, Ende Oktober 1965 war. ...he and a small group of striking farmworkers are meeting in a little pink house that is part of the union headquarters ... He has brought signs to hang around these "actors'" necks, identifying the characters, and asks for two volunteers to portray huelgisias, or strikers, and a third volunteer to play an esquirol, or scab. Everyone is reluctant to play the part of the despised strikebreaker ... So beschreibt es Huerta (11). Nach u n d nach gibt es mehr Bereitschaft, die Erlebnisse des Tages auf der "picket line" improvisatorisch in Szene zu setzen. Politische K u l t u r als "way of life" (Streik) wird zögernd umgesetzt in inszenierte Kultur, produziertes Theater. Der Vorgang erinnert an J o h n Reeds Peterson Pageant, wo die New Yorkerinnen im Madison Square Garden unmittelbar von den Streikenden im benachbarten New Jersey ihre Lage dargestellt erhielten (vgl. Kornbluh, ed., 1964, 197-226), oder Strike Marches On, das D r a m a der Automobilbesetzer von Flint Michigan (1937; vgl. Bültemann, 1978). Auch die Campesinos als Produzent i n n e n ihrer Lebenskultur (Raymond Williams' Konzept des "whole way of life" einer Klasse oder G r u p p e (Williams, 1971, 18) sind selbst Verlängerer dieser Kultur in die künstlerische Abbildung hinein. Kultur als Lebensweise und diese als künstlerisch gestaltete wachsen unter dem Signal des gesellschaftlichen Kampfes zusammen. Als nächste Stufe zieht Valdez nun triumphierend die Schweinsmaske hervor: "Who wants to play El Patroncito?" asks the director, and the volunteers rush forward, eager to make their individual comments about the villain in their lives ... The actor turns his head to face the audience, and the mask seems to come alive, sneering this way and that, drawing roars of laughter with every move. "Y'all stop that laughing!" he shouts at the crowd in a Texas drawl, and they love it. (Huerta,12) Das Teatro Campesino ist geboren, die wichtigsten Elemente f ü r den ersten acto, Las Dos Caras del Patroncito, (Valdez et al., 1971, 7-19) sind schon bereit: Rollenspiel u n d Humor. Aus den Improvisationen in wenigen Wochen zu einem geschlossenen Stück geworden, ist Las Dos Caras der einzige acto, dessen Entstehungszeit mit 1965 angegeben wird. Ein offensichtlich soeben erst aus Mexiko importierter Farmworker (esquirol - sign; u n d o c u m e n t e d ) eröffnet mit einer komischen Selbstvorstellung: "My patron bring m e all the way from Mexico here to California - t h e land of sun and money! More 6

Ein frühes Mitglied der SFMT, der am Anfang des Films Troupers (1985) zu sehen ist.

55 sun t h a n money." (7) und hat mit den wenigen Bewegungen des Rebenschneidens seine Identität etabliert, als bereits "driving an imaginary limousine, making the roaring sound of the motor" der Patroncito in der Schweinsmaske eintrifft: "Good morning, boy!" Sofort wird Arbeit demonstriert: "Oh, you can work harder t h a n t h a t , boy." Es ist schon zu Auftakt ganz offensichtlich, daß das Ziel des acto, die Streikbrecher für die Gewerkschaft zu gewinnen, so schnell wie möglich auf den P u n k t gebracht werden mußte. Vom Lastwagen herunter direkt in den Feldern gespielt, m u ß t e der acto häufig gegen Radios, Autohupen etc. konkurrieren u n d daher mit witzigen u n d identifizierbaren Aktionen sofort zur Sache kommen. Das Dreipersonenstück ("the armed guard" kommt immer d a n n zur Hilfe, wenn die Patroncitomaske in Bedrohung zu geraten scheint) basiert auf dem schlichten komödiantischen - auch aus der Märchentradition bekannten - Einfall des Rollentausches von Arm u n d Reich. Jovial läßt sich der Patroncito zum Gespräch mit dem Campesino herbei und entgegnet auf dessen schüchterne Klage über defekte T ü r e n , R a t t e n und Abortgestank in den Wohnbaracken: "Awright! So you g o t t a rough it a little - I do t h a t every time I go hunting in the mountains! Why, it's almost like camping out, boy. A free vacation!" (12) Er rechnet dem Arbeiter vor, daß jener weder f ü r die Behausung noch Beförderung, noch Verpflegung zahlen müsse, während er, der P a t r ó n , eine teure Villa, eine blonde Gattin im Minibikini, ein schweres Auto u n d die vom Großvater ererbten Weinfelder unter großem Kostenaufwand betreibe. Daher wünschte er sich, Mexikaner zu sein, u n d schildert in leuchtenden Farben die Idylle des Farmarbeiters: Riding in the trucks, hair flying in the wind, feeling all that freedom, coming out here to the fields, working under the green vines, smoking a cigarette, my hands in the cooi soft earth, underneath the blue skies, with white clouds drifting by, looking at the mountains, listening to the birdies sing. (14)

Unter Betonung des humoristischen Details wird der Rollentausch vorgenommen. Identitätsabzeichen, Zigarre, Peitsche, Mantel, Schweinemaske, Hut wechseln den Besitzer. Die Szene gerät z u m immanenten schauspielerischen Experiment, ob denn der reale Campesino den fiktiven Boss ü b e r h a u p t überzeugend daxstellen könne. Damit wird die tatsächliche ursprüngliche Situation der ersten Spielversuche des Teatro in den Text hereingenommen, als sich die Campesinos zunächst weigerten, den Streikbrecher zu spielen, da er der Gegner und Feind war, mit dem m a n sich nicht identifizieren mochte. Der Patroncito, der den Rollentausch im bloß Fiktiv-Spielerischen sieht ( " W h a t an actor - He's good, isn't he?"), muß plötzlich erfahren, daß sein gelehriger Schüler Fiktion in Wirklichkeit umwandelt, Weinfelder, Villa, Automobil u n d Frau sich anzueignen anschickt u n d durch den hinzukommenden Aufseher, der das Spiel nicht erkennt, den Boß entfernen läßt. Im Schlußwort des Arbeiters werden allerdings Toleranz und soziales Bewußtsein didaktisch demonstriert, denn nichts ist gewonnen, wenn ein einzelner Campesino einem einzelnen Patroncito seinen Besitz wegnimmt:

56 Bueno, so much for the patrón. I got his house, his land, his car - only I'm not going to keep'em. He can have them. But I'm taking the cigar. Ay los watcho. (19) E r n i m m t n u r die Zigaxre, Symbol der Macht des Farmbesitzers, die a m Schluß die z u k ü n f t i g e M i t b e s t i m m u n g der C a m p e s i n o s präfiguriert. Der G r u n d e i n f a l l der Verwandlungskomödie ist z u m b e s t i m m e n d e n S t r u k t u r p r i n zip des acto geworden. Der K o n t r a s t i e r u n g von sorgenfreier Besitzlosigkeit des A r b e i t e r s m i t b e l a s t e n d e m E i g e n t u m des Bosses aus dessen Sicht i m ersten Teil entspricht n a c h der Verwandlung in achsialsymmetrischer Weise die u m g e k e h r t e P e r s p e k t i v e des F a r m w o r k e r . F o r m wird so zu politökonomischer Materie. U n t e r rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten sind beide Hauptfiguren "stereotypes of t h e grower-scab relationship, a n d the t r a n s f o r m a t i o n they undergo is simply a h u m o r o u s way of exposing t h e m . " ( H u e r t a , 23) Einige J a h r e s p ä t e r h a t Valdez in einer Art Klassenanalyse des Lachens die Bed e u t u n g des H u m o r s f ü r das T e a t r o herausgestellt: Let's say there is a hard shell around somebody. The acto is like a little rock that cracks the shell, and it falls to pieces, because it's kind of a shock. But it ends up in laughter. That's better than insult. Farmworkers I'd say, laugh differently, workers in general, laugh differently from intellectuals. Intellectuals find it very hard to laugh a belly laugh, a robust laugh, because they are trying to maintain a certain attitude ... so they are only gonna laugh half. But simple people, working people, are free enough to laugh; so when farm workers see our images, and it catches them by surprise, they laugh very hard. It's a lot of laughter. They enjoy their laughter; and it has a liberating effect, it sets up a certain electricity on the p erformance.7 In der befreienden E n e r g i e a u s t r ö m u n g des Lachens, die aus der S p a n n u n g von E r w a r t u n g u n d Ü b e r r a s c h u n g resultiert, können die Arbeiterinnen ihre eigenen P r o b l e m e e r k e n n e n u n d zugleich auf die A u f f ü h r u n g u n d ihre Darsteller zurückwirken. E r s t in dieser Wechselwirkung hegt der spezifisch volkstümliche Zug der actos. Der zweite b e d e u t s a m e acto aus der F r ü h p h a s e des K a m p f e s der F a r m a r b e i t e r i n nen u m gewerkschaftliche A n e r k e n n u n g ist La Quinta Temporada (1966; Valdez et al., 1971, 22-34) Wie schon das (unveröffentlichte) The Three Grapes grüne, reife u n d v e r d o r b e n e W e i n t r a u b e n personifiziert als Allegorien auftreten ließ, passiert dies a b e r m a l s - in einer Anverwandlung von F o r m e n der mittelalterlichen Mysterienspiele u n d M o r a l i t ä t e n - mit den Jahreszeiten. Es geht f o r t w ä h r e n d u m Dollarscheine. Der S o m m e r ist reichlich d a m i t b e h ä n g t , Allegorie f ü r die ü p p i g e E r n t e . Der Farmworker versucht soviel davon zu e r g a t t e r n wie möglich. E r s t o p f t die Dollars in seine Gesäßtasche, aus der sie p r o m p t von d e m "coyote", d e m A r b e i t s v e r m i t t l e r , in die seinige transferiert werden, aus dessen Hose sie schließlich in diejenige des P a t r ó n w a n d e r n . Eine sehr t r a n s p a r e n t e 7

Aus der erweiterten englischen Vorlage zu: Projektgruppe Regersburg: "El Teatro Campesino - Interview mit Luis Valdez", Theater heute 9 (Sept. 1972), 29-32. Kompletter Originaltext im Ms bei D. Herms.

57 u n d sinnlich-simple Veranschaulichung des Profittransfers. Als der Campesino a m Schluß des Sommers leere Taschen h a t , will er sich w u t e n t b r a n n t das Geld vom P a t r o n holen. Doch der Coyote erklärt ihm: "You know what's wrong with you? You're stupid. You don't know how to save your money." Und kurz danach: "It's A u t u m n ! A u t u m n has your money." (24). A u t u m n ist schon karger mit Dollars behängt: "Fall comes in. He is a thinner m a n t h a n S u m m e r . His work shirt is covered with money, though more sparsely t h a n S u m m e r ' s . " Doch als sich der Arbeiter hier bedienen will, wird er sogleich von d e m Coyote niedergeschlagen, und die Verteilung erfolgt unmittelbar zwischen C o n t r a c t o r u n d P a t r ó n . Der Winter bringt kein Geld, sondern fordert es: "I a m Winter and I want money. Money for gas, lights, telephone, rent." (27) Der Farmarbeiter ist zu Frieren und Hungern verdammt: "Then suffer." Spring wird von der ersten Frau im Teatro dargestellt. Sie (Frühform einer feministischen Position im Teatro, die d a n n wieder verschüttet geriet?) erinnert den Farmarbeiter "You've got to fight for your rights!" (29). Der Arbeiter entscheidet sich n u n , durch den nächsten Sommer und Herbst hindurch zu streiken, bis schließlich der P a t r ó n zähneknirschend, von "Union with Raza and Churches" gezwungen, einen Tarifvertrag unterzeichnet. Somit hat sich als f ü n f t e Jahreszeit als quinta temporada "la justicia social", die soziale Gerechtigkeit, etabliert, die der Winter unter d e m lamentierenden Protest des Coyote verkündet. Der acto hat sicherlich nicht den genialen Wurf des Erstlings, den augenzwinkernden H u m o r des Rollentauschs in Dos Caras. Die Allegorien sind eher Mittel eines "straight agitprop". "The magic of the mask" im ersten acto ist verdrängt; der P a t r ó n trägt die Schweinsmaske nicht mehr. Freilich ist in der f ü n f t e n Jahreszeit ein komplexes Symbolsystem angelegt: "Mayan cosmogony and ... the m y t h of the fifth sun, a sun created to fulfill the functions the four suns failed to accomplish. It also evokes the Quincrux, the cross in whose center the four cardinal points meet from which all light radiates ..." (Fabre, 1986, 95) Die Vorstellung eines christlichen Kreuzes d ü r f t e hinzukommen, ist doch die J u n g f r a u von Guadalupe Schutzpatronin der United Farmworkers Association. Mit den f r ü h e n actos, die als soziale Satiren von Brecht, Cantinflas, aber auch mexikanischen carpas und mittelalterlichen Moralitäten beeinflußt, also sicherlich nicht kunstlos, waren, t r a t e n Valdez und das kollektive Ensemble r u n d zwei J a h r e lang an den Zentren der K ä m p f e der Campesinos in Kalifornien auf. "We shouldn't b e judged as theatre, we're really part of a cause", formulierte Valdez 1967. Die H a u p t b ü h n e war "the flatbed of a truck", die Ladefläche eines Lasters, der direkt in die Felder f u h r . Hinzu kamen Community Centers, Labor Camps, Town Halls, Union Halls. In diesen Aufführungen ging es d a r u m , die F a r m a r b e i t e r i n n e n f ü r die Gewerkschaft und den Streik zu gewinnen, den schon Gewonnenen durch die Therapie des Lachens M u t zu machen und "Lebenszusammenhang f ü r sie zu strukturieren". Gleichermaßen wichtig waren Aufführungen außerhalb der Zentren der CampesinoAktionen: in Schulen, Colleges, auf nationalen und internationalen Tourneen. Im J u l i / A u g u s t 1967 z.B. fand eine Ostküstentournee s t a t t , die das New York Festi-

58 val, eine Woche New York, u n d Washington D.C. vor dem Senate Subcommittee on Migratory Labor einschloß. Seit Herbst 1967 reiste die T r u p p e regelmäßig nach E u r o p a , u m a m Nancy Festival in Frankreich teilzunehmen. Ziel dieser Tourneen war, ü b e r die K ä m p f e der Farmarbeiterinnen zu informieren, Solidarität herzustellen u n d : fundraising. Bis Juli 1967 waren f ü r die Gewerkschaftskasse 30.000,Dollar zusammengekommen (vgl. Newsweek, 31.7.1967, zit. nach Teatro Campesino, 1985, 9). Durch die Gewerkschaft war das Teatro als T h e a t e r groß geworden, und als T h e a t e r wollte es seine kreativen Chancen ausweiten: Valdez t r e n n t e sich von den United Farmworkers im Herbst 1967; das Ensemble zog zunächst nach Del Rey, 1969 nach Fresno u n d n a h m schließlich "permanent residency" in San J u a n Bautista 1971. We became more concerned with the broad sweep of history that the Chicano was caught up in. The international struggle by working class people all over the world, the effect of U.S. imperialism in VietNam, Latin America, etc. We saw the Chicano as a part of a total thrust by humanity struggling toward something, a new world, a new society. A new vision of mankind. (Luis Valdez, zit. nach Teatro Campesino, 1985, 11) Große Worte, die freilich den Kern der internationalen antiimperialistischen Thematik demokratischer u n d sozialistischer Kulturbewegung aufzeigen. Zunächst n a h m Valdez ein T h e m a auf, das eher eine Ausweitung der internen Chicanoproblematik signalisierte u n d ihn bereits in The Shrunken Head of Pancho Villa beschäftigt h a t t e : Los Vendidos (1967). 8 Er spitzte das T h e m a zur radikalen Met a p h e r zu: die Menschen als Ware, los vendidos sind "the sold ones" und "the sell-outs" zugleich, die Verkauften u n d diejenigen, die den Ausverkauf von ChicanoInteressen betreiben. " T h e third acto in its anthology reflects the group's search for identity and is a m a j o r statement about the problem of assimilation and acculturation." (Huerta, 61) Ein Kaufladen, ein Shop, der "second hand"-Mexikaner anbietet, ist konsequenter Schauplatz des Stückes, in dem diese verschiedenen Modelle wie Schaufensterpuppen aufgestellt sind. Scene: Honest Sancho's USED MEXICAN LOT and MEXICAN CURIO SHOP. Three models are on display in Honest Sancho's shop: to the right there is a REVOLUCIONARIO, complete with sombrero, carilleras, and carabina 30-30. At center, on the floor, there is the FARMWORKER, under a broad straw sombrero. At stage left is the PACHUCO, fllero in hand. (36) Z u m Auftakt des Handels erblickt Honest Sancho in Miss Jimenez, einer Chicana aus Gouverneur Reagans Büro, bereits die erste sell-out: sie insistiert auf der englischen Aussprache ihres Namens, in der Negierung des Spanischen ist ihre Assimilierung komplett, u n d will einen "used Mexican" kaufen f ü r die Administration, vermutlich u m "affirmative action" zu praktizieren. Das humoristische Zwischenspiel der genaueren Kennzeichnung der Ware ist Musterbeispiel eines Dialogs der Entfremdung: 8

Valdez et al., 1971, 35-49. Das Stück wurde von zahlreichen anderen Teatros nachgespielt (zuletzt vom Theater Department der University of California, San Diego, auf einer Europatournee 1988) und auch verfilmt ( K N B C Los Angeles 1973).

59 Sancho: .. Any particular type you want? Secretary: Yes, we were looking for somebody suave Sancho: Suave. Secretary: Debonair. Sancho: De buen aire. Secretary: Dark. Sancho: Prieto. Secretary: But of course not too dark. Sancho: No muy prieto. Secretary: Perhaps, beige. Sancho: Beige, just the tone. Asi como cafecito con leche, no? Secretary: One more thing. He must be hard-working.(4(37) Die vorsichtige Eingrenzung des Farbtons des mestizischen Chícanos im codeswitching, das f ü r die der Sprache nicht Mächtigen die Ubersetzung liefert, ist ein treffendes Beispiel komisch-distanzierender Selbstreflexion. Der haxt Arbeitende ist natürlich der Farmworker, mit dem der Reigen der Modenschau der Schauf e n s t e r p u p p e n beginnt, u n d der n u n in der kruden Metaphorik des Automobils, jedem männlichen Zuschauer bekannt, angepriesen wird. Economical? Señorita, you are looking at the Volkswagen of Mexicans. Pennies a day is all it takes. One plate of beans and tortillas will keep him going all day. That and chile. But you have to change his oil filter once a week. (38) Doch Miss Jimenez will ihn nicht, weil er "Huelga!" schreit u n d kein Englisch kann. Das J o h n n y Pachuco-Modell lehnt sie ab, weil er klaut. "We can't have any more thieves in the State Administration." (42) Der Revolucionario, dessen Darbietung eine Fülle von den Eingeweihten bekannten Film- u n d Werbeklischees verarbeitet, paßt nicht, weil er kein "American p r o d u c t " sei. So läuft alles logisch auf den M E X I C A N A M E R I C A N hinaus, "sturdy U.S. S T E E L frame, streamlined, m o d e r n . " (45) Er ist gerade frisch hereingekommen. Er spricht nicht nur fließend Englisch, sondern singt patriotischerweise "God Bless America" - "You can keep him running on dry Martinis, Langendorf bread, - Apple pie? - Only Mom's." (46) Miss Jimenez zahlt 15.000 Dollar u n d will die Ware gleich m i t n e h m e n in eine Veranstaltung, wo "a brown face" gefragt ist, als ihr Modell plötzlich umschaltet auf Spanisch, "Viva la Raza, Viva la Causa, Viva la Huelga ... Chicano Power" ruft und mit dem Schnippen der Finger die anderen Modelle erweckt, die n u n m e h r gemeinsam die Sekretärin vertreiben. Honest Sancho, mit den Banknoten in der Hand, ist seinerseits erstarrt. Es wird am Schluß klar, daß er die P u p p e ist, die a m Draht der drei Typen agiert. In der Fernsehfassung 1973 "we discover t h a t the operation is masterminded by a soft-spoken scientist (played by Valdez) whose models go with their buyers and who are being placed in every m a j o r center of Mechicano population." (Huerta, 66). Sie sollen als aufgeklärte Chícanos dort politisch wirken - sicherlich eine verwässerte Lösung gegenüber der kruden Ökonomie u n d E n t f r e m d u n g der Erstfassung. Eine Inszenierung des Teatro de la Esperanza (1971) fügte jeweils eine Festlegung für das eingenommene Geld ein, z.B. "to build a community center."

60 Auch diese M a ß n a h m e verwischt die Genialität einer bedingungslosen ökonomischen Metapher, aus deren Sicht mit einem geradezu "hilarious h u m o r " die Manipulationsmechanismen des imperialistischen Systems aufgedeckt werden, dem der Chicano unterworfen ist. Trotz des direkt zupackenden Gestus ist, so gesehen, Los Vendidos ein acto von besonderer Komplexität. In Del Rey u n d Fresno (1967-71) erweiterte sich das Teatro z u m Centro Campesino Cultural, wo Theaterspielen nur eine von mehreren kulturellen Aktivitäten wax. Sprachkurse u n d Musikunterricht wurden angeboten. In Fresno produzierte das Centro seinen ersten Film, die Adaption des Movement P o e m I am Joaqui n von Rodolfo Gonzales (s.u.). In der Theaterpraxis verfestigte sich die Form des actos unter erweiterter Thematik; es gab Experimente (z.B. das Puppenspiel La Conquista de Mexico, 1968) und das E i n m ü n d e n des teatro in die Gesamtheit des Movimiento, dessen Speerspitze gleichsam der Kampf der F a r m a r b eiterinnen gewesen war. N u n m e h r band sich das Teatro stärker an die Studentenbewegung, was auch in der Zusammensetzung des Ensembles seit 1969 sichbar wurde. The Militants u n d Huelgistas (1969) sind Fünfminutenspiele, die das Movement reflektieren, während mit No Saco Nada de la Escuela (1969), Vietnam Campesino (1970) u n d Soldado Razo (1971) Problemstücke geschaffen wurden, die den acto tendenziell bereits in die Komplexität Brechtscher Lehrstücke überführen. Alle drei verbindet das Problem des Krieges in Vietnam; No Saco Nada de la Escuela,9 mit Studentinnen in Fresno gespielt, handelt p r i m ä r von Schule u n d Ausbildung, von der Wirkung des militärisch-industriellen Komplexes auf das Erziehungssystem der USA und von der Diskriminierung ethnischer Minderheiten in ihm. Fünf Kinder, zwei Anglos, Flo u n d Abe, zwei Chicanos, Moctezuma u n d Francisco, und der schwarze Junge Malcolm werden in drei Szenen durch die aufeinanderfolgenden drei Ausbildungsphasen von der Grundschule zum College begleitet. Die Grundschullehrerin wettert gegen "bilingual education", zwingt die Schüler "to pledge alliance to the flag" u n d treibt einen Keil zwischen die Chicanos. Moctezuma erweist sich als der erfolgreiche zukünftige vendido, Francisco fällt durch die P r ü f u n g wegen mangelnder Englischkenntnisse u n d wird in der zweiten Szene, "High School" p r o m p t als die andere Alternative jugendlichen Chicanotums gezeigt, "knife in his h a n d " (75). Der Kampf mit Abe wird von den anderen noch rechtzeitig gestoppt. Die Lehrerin stellt eine neue Schülerin vor: TEACHER:

Now, class before we begin our high school reports, I'd like to introduce a new student. Her name is Esperanza Espinoza ... It sounds Italian, I know, but I think she's Mexican-American. Isn't that right, dear?

ESPERANZA:

...No, my parents were, but I'm Hawaian. And you can just call me Hopi. (78) Ihr N a m e ist, abgesehen von demjenigen des Indianerstamms, die Verballhornung der englischen Ubersetzung von Esperanza, "hope". Abe, der Sohn eines Ran9

Valdez et al., 1971, 66-94; der längste publizierte acto überhaupt.

61 chers, entwickelt sich immer mehr zu einer Art Nazirekrut; Francisco, zunächst als Baseball Player noch gelitten, wird schließlich zum Highschool Drop-out. Szene III, "State College", ist die längste und ausführlichste; Reflexion sicherlich von Valdez' Insiderkenntnissen des Fresno State College, wo er einen Lehrauftrag hatte. Auch konnten die studentischen Akteure am besten hier "sich selbst spielen". In sehr vereinfachter Form werden "Civil Rights" durchgesetzt. Malcolm erzwingt seinen Zugang zum College, Francisco folgt nach unter dem Leitwort "Chicano Power". Esperanza ist zunächst mit Abe verlobt, um sich durch den krasseren Gegensatz zu emanzipieren, als jener verkündet, nunmehr Präsident der "Future Farmers of America" zu sein. Hopi wird dann wieder Esperanza, bildet mit Francisco ein Pachuco-Pärchen. "At that point in the Chicano Movement the street youth were being romanticised as the real Chicanos, and this metamorphosis in Hopi was necessarily extreme. In reality there are few pachucos or pachucas in College." (Huerta, 132) Der Collegeprofessor wird plakativ als direkte Kreatur des Agribusiness gezeigt. Als Florence buchstabiert "A is for anti as in anti-war. B is for Berkeley as in anti-wax Berkeley. And C is for chick as in anti-war Berkeley chick", fordert Abe sofort: "And if you pass her, I'll have your job. Remember: you're working for my daddy!" (87) Sie kriegt eine zweite Chance und besteht die Prüfung. Mit Malcolm and Abe treten sich Black Panther Movement und militaristischer Imperialismus in dieser Farce der Graduierungsprüfung zugespitzt gegenüber: MALCOLM (Moves forward menacingly) A is for Afro, as in Afro-American. B is for Black, as in Afro-American Black Panther. And C is for Cleaver, Eldridge Cleaver (Gives Panther Salute) ... ABRAHAM He graduates? (He begins to pantomime different ways of killing Malcolm - Machine Gun, Grenades, Airplane and finally builds a rocket). A is for anti - (puts first stage of missile) B is for ballistic (builds second stage) And M is for missile ... ( 8 8 )

Als Malcolm ihn mit der Waffe bedroht, zieht er sich feige zurück: "A is for animal. B is for back off. And C is for coward, mama!" Diese Karikatur zeigt die begrenzte Zeitgültigkeit des plakativen Agitprop. Die Botschaft am Ende ist, daß man nicht in der Schule, sondern von "our own people" lernt. Auch durch den Schul-acio hindurch hat Valdez seine Grundkonstellation des vendido vs. pachuco vorangetrieben. Angesichts des Vietnamkrieges und atomaren Wettrüstens der USA wurde ein Ausschnitt der Studentenbewegung sichtbar, die mit " R O T C on Campus" die Speerspitze des Militarismus in den Hochschulen bekämpfte. "The war at home" findet im nächsten acto, Vietnam Campestno (Valdez et al., 1971, 104-130), seine außenpolitische Entsprechung. Dieses Stück hatte seine unmittelbare Basis im National Chicano Moratorium am 29. August 1970 in Los Angeles, wo Tausende von Chicanos gegen die "Verfeuerung" ihrer raza in diesem so fernen, ostasiatischen Konflikt protestierten.

62 Das Stück gehört jener Phase der Entwicklung des Teatro zu, die laut Valdez stärker im Rahmen eines gesamt-nordamerikanischen "theater of political change" eingesiedelt ist. So ist ein Ziel der Beschäftigung mit Vietnam "... to change America so that it is more human in relation to all of the races of the world, and to all of the cultures of the world, all of the peoples of the world" (Interview). Andererseits aber sind die Belange der mexikanischen Minderheit massiv betroffen: etwa 35 Prozent aller in Vietnam Gefallenen aus dem Südwesten der USA sind Chicanos. Insofern behandelt das Stück primär das Hineinreichen des mörderischen Krieges in den überschaubaren Mikrokosmos der "chicano community". Der acto gliedert sich in fünf Abschnitte, die jeweils epische Titel tragen: The Military-Agricultural Complex, Pesticides in the Fields, The Farm Worker and the Draft, Vietnam Campesinos, The Chicano at War. Teil I etabliert - gleichsam in Abwandlung des "Military-Industrial Complex", wie er beispielsweise in dem Agitationsstück The Big Top 10 als das aus der Ehe Government-Business hervorgegangene Kind Military allegorisch gefaßt ist - die Kollaboration von Rüstung und Landwirtschaft. General Defense und der Salatfarmer Butt Anglo vereinbaren die Lieferung der gesamten Kopfsalaternte an das Pentagon. Teil II zeigt die Besprühung der Salatfelder mit D D T - das Problem gesundheitlicher Gefährdung durch Umweltverschmutzung wird aufgegriffen. Im dritten Abschnitt ist der Vorgang des "drafting", des Rekrutierens für die amerikanische Armee, durch eine "tall figure with a death mask and ein American flag for a shroud" allegorisch konkretisiert. Als El Draft versehentlich den Sohn des Salatfarmers Butt Anglo einziehen will, weist ihn General Defense zurecht: "What's the matter with you, Draft? Go draft some Mexicans, some Indians, some Blacks, some Asians, some Puertoricans!" (117 f.) Mit IV tritt das Stück in die entscheidende Phase. Hauptziel muß sein, dem Arbeiter, dem Mexikaner zu zeigen, daß Vietnam nicht nur alle eingeht, sondern daß Vietnamesinnen und Mexikanerinnen gemeinsam Ausgebeutete der Dritten Welt, Objekte des amerikanischen Imperialismus nach innen wie nach außen sind. Dies wird verdeutlicht, indem ein vietnamesisches und ein mexikanisches Paar gemeinsam auf der Bühne sitzen.Die Fahne der Befreiungsfront und die Fahne der streikenden Campesinos werden zugleich geschwenkt: beide sind ein Volk von Bauern, beide bekämpfen im US-Imperialismus denselben mächtigen Feind. Die marionettenhafte Abhängigkeit des südvietnamesischen Regimes von Washington wird gezeigt: einer der Darsteller hält als Präsident Diem eine Rede, die der General Defense wörtlich souffliert. In V bleibt die Konstellation der beiden Elternpaare auf der Spielfläche unverändert. Der rekrutierte junge Chicano Hijo verbrennt auf Befehl des Generals ein symbolisches Papphäuschen der Vietnamesinnen, worauf ihn der alte Vietnamese erschießt. In dem alten Chicano, Hijos Vater, entbrennt der Haß auf das vietnamesische Volk; der General hat damit das Ziel seiner kleinen Inszenierung erreicht. Die Parallelität von Napalmbombardierung in Vietnam 1 0 Agitationsstück (Straßentheater) des People's Street Theater New York SDS (Xerox, New Liberation Service, ca. 1969)

63 u n d D D T - V e r g i f t u n g der F a r m a r b e i t e r i n n e n wird d u r c h das Bild einer S a l a t b o m b e symbolisiert, die der S o h n B u t t Anglos abwirft, u m - in den W o r t e n des Generals - "to save t h e c o u n t r y f r o m C o m m u n i s m - t o save t h e crop f r o m C o m m u n i s m " . D a s didaktische Schlußwort spricht der blutbefleckte Hijo: The war in Vietnam continues, asesinando families inocentes de campesinos. Los Chicanos mueren en la guerra, y los rancheros se hacen ricos, selling their scab products to the Pentagon. The fight is here, Raza! En AztlÄn. Mit d e m chorisch gesprochenen " E n A z t l a n " e r h e b e n sich die V i e t n a m e s e n u n d Chicanos u n d bedien die Faust zur revolutionären Geste. Luis Valdez h a t die Inszenierung der f ü n f t e n Szene u n d ihre W i r k u n g auf das P u b l i k u m im Interview erläutert: In 'Vietnam Campesino' there is a last scene where the soldier is covered with the American flag ... that scene has made people cry. Not because of the great acting in our theater, but because of the reality of the image. That image has been repeated thousands of times; because of the Vietnam war. And so for many people of the audience it's fresh, it reminds them of their sons, their brothers; so they weep, they cry. That's one of the tragic images, we don't have too many tragic images like that. But it has, I'd say, as much an affect as laughter has in communication... N e b e n der B e d e u t u n g des Lachens f ü r die I n t e r a k t i o n zwischen Darstellung u n d P u b l i k u m - u n d d a m i t der politischen Funktion des H u m o r s - wird das Weinen in seiner politischen Dimension der Tragik herausgestellt. Soldado Razo (Valdez et al., 1971, 131-145) setzt die T h e m a t i k u n m i t t e l b a r f o r t . Der "acto in t r a n s i t i o n " ( H u e r t a ) w u r d e auf d e m zweiten Chicano M o r a t o r i u m gegen den V i e t n a m - K r i e g (April 1971) in Fresno u r a u f g e f ü h r t . D u r c h die ständige P r ä s e n z des Todes (La M u e r t e ) als Erzähler u n d Stage M a n a g e r wird ein M o m e n t epischer Distanzierung eingeführt, weis nicht a u t o m a t i s c h die Ü b e r n a h m e Brechtscher Techniken 1 1 b e d e u t e t . Verfremdungstechniken im T e a t r o m ö g e n äußerlich bisweilen d e n e n Brechts gleichen, h a b e n a b e r nicht die u m f a s s e n d e dialektische F u n d i e r u n g , die sie zu vollgültigen Mitteln des epischen T h e a t e r s m a c h t , sind eher p r a g m a t i s c h aus der sozialen Lage u n d der komödiantischen Tradition Mexikos abgeleitet, wie Valdez 1983 im Rückblick auf die f r ü h e n actos a n m e r k t : With the Teatro, in the early days, we used to go to a labor camp, for instance, and not be allowed to perform in the grounds because the grower was just not going to let any organizer go in. But there is an area about twelve feet wide between any county road and private property. That area is public property and that is where all the picketing took place, in that twelve-foot strip. And that's where the early Teatro Campesino performances took place. We would drive up to the perimeter of a labor camp and set up our truck, with our loudspeakers and banners. And then when it got dark enough the people would come out of their shacks in the labor camp, they would come right out to the edge of the land, of the property, and see the show. It was not illegal; the growers did not own the air, you know. But it is interesting that the workers did wait until it was dark because they were 11

Inwieweit Momente Brechtscher Technik ins Chicano-Theater Eingang gefunden haben, vgl. Goldsmith, 1979, 167-175, und Broyles, 1983, 33-44.

64 afraid to be recognized. And yet we'd get a crowd of 200 to 300 people out there. That always created an automatic alienation effect, if you will; just that division between our being on public property and their being on private property, divided by darkness, and divided by the political urgency of the moment: that they came to see and hear what we had to perform, but they had not yet made up their minds. And the reality always forced them to think about what they were seeing. And it required a sense of commitment. And that is what the alienation effect asks really of an audience: to put forth some kind of commitment. 'Don't just sit there and be entertained. Change consciously.' (zit. bei Broyles, 1983, 41) Eine sehr konkrete, lebensnahe Sinngebung des Verfremdungsbegriffs! La M u e r t e in Soldado Razo hat sicherlich eine verfremdende, weil antiillusionistische aufklärerische Funktion, ist jedoch zunächst die zynische calavera aus der Tradition mexikanischer Maskenspiele. Die Skelettmaske sollte in der weiteren Arbeit des Teat r o zur "Dauereinrichtung" werden. Der "acto in transition" (Ubergang zu den zukünftigen P h a s e n der "Evolution" des Teatro) verwendet mit der Ersteinführung der Totenmaske zugleich durchgängig das code-switching, etwa gleichviel Spanisch wie Englisch, wobei die Familienszenen zumeist in Spanisch sind, die K o m m e n t a r e von Muerte u n d Johnnys Monologe überwiegend Englisch. La M u e r t e erzählt Johnnys Geschichte als Rückblende, das Publikum weiß von Anbeginn, daß der "Held" in Vietnam gefallen ist. Johnny hat Träume, daß er verwundet und als Held gefeiert zurückkehrt: Maybe I'll get wounded and come back con un chingatal de medals. I wonder how the vatos around here are going to think about that? Pinche barrio - I've lived here all my life. Now I'm going to Vietnam. (133) Offensichtlich wird das Problem der Ausbeutung der Chicanos durch den militaristischen US-Imperialismus konterkariert mit der Sehnsucht nach "Heldentum"; " J o h n n y is as much a victim of Mechicano attitudes about m a n h o o d , machismo a n d the need to assert one's masculinity as he is a tool of the war machine." (Huerta, 92) Es könnte sein, daß der traditionelle mexikanische machismo u n d die Aufnahmebereitschaft f ü r eine publizistische Manipulation seitens der Kriegsmaschinerie Hand in Hand gehen. Die 6arrio-Situationen vor Abreise ("One way ticket to V i e t n a m " ) sind bewußt stereotyp gesetzt: die Angst der Mutter, der Stolz des Vaters, die Gewinnung der "war bride" u n d der tränenreiche Abschied a m Greyhound Bus Depot. Mit den Klischees kontrastiert die antiillusionistische Schminktechnik La Muertes: J o h n n y wird im Fortgang der Handlung immer weißer gefärbt. Erst die Schlußszene, die bewußt die Konstellation von Vietnam Campesino wiederaufnimmt, erlaubt die emotionale Identifikation des Tragischen; einer Tragik freilich, die nicht schicksalhaft unvermeidlich k o m m t , sondern verursacht ist vom System u n d dessen fanatischem Antikommunismus. " J o h n n y and La M a m a enter at opposite sides of the stage. J o h n n y is in full battle gear. His face is now a skull." (144) Wie schon in Vietnam Campesino arrangiert das Teatro den vietnamesischen u n d amerikanischen Schauplatz zugleich. J o h n n y schreibt einen Brief u n d die M u t t e r antwortet. J o h n n y berichtet "a lot happening

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here t h a t I didn't know about before." Bei einem Angriff auf ein Dorf werden Kinder u n d Alte getötet. Fassungslos steht er dabei, als der Sergeant ihm befiehlt, das Feuer zu eröffnen. "I think I did. May God forgive m e for what I did, but I never wanted to come over here. They say we have to do it t o defend our country." (145) Die machistische Heldentumsideologie wird also gründlich destruiert. Als er noch von einem T r a u m berichtet, in dem von ihm erschossene Menschen plötzlich wie M a m a , P a p a u n d bester Freund aussahen, erschießt ihn Muerte mitten im Satz u n d schließt militärisch förmlich u n d bürokratisch den acto: Johnny was killed in action November, 1965 at Chuy Lai. His b o d y lay in the field for two days and then it was taken to the beach and placed in a freezer, a converted portable food locker. Two weeks later he was shipped home for burial. (145)

Alle Personen bilden einen Kreis u m die Leiche. H u e r t a weist auf die große zeitgenössische Bedeutung des acto f ü r ein mexikanisches Publikum hin: "Inevitably there were m e m b e r s of the audience who h a d suffered the loss of a family m e m b e r in the wax, and this poignant reminder touched emotional wounds that were still fresh ..." (95) Sympathie solle ebenso wie Wut erzeugt werden, denn "the vast majority of working-class Mechicanos shared the m a j o r i t y opinion that 'Uncle Sam' knew what he was doing and t h a t communism h a d to be stopped no m a t t e r what the cost." (ebd.) Innerhalb von weniger als sechs J a h r e n hat El Teatro Campesino eine beträchtliche Strecke Weges zurückgelegt, von den ersten schüchternen Versuchen der streikenden Campesinos "in the little pink house" bis zum international belobigten Friedensdrama. When we started out to do the Teatro Campesino - and this may be Brechtian just portraying the growers in a certain way on the stage was enough to release till of the people that were watching; to release them from the bondage of a certain kind of reality. People would turn around and laugh at it. This is very simple and yet very powerful theater. And I always saw it as lancing boils. It was going around and just sticking a little pin in a putrified boil so that the pus could run. And that's what an ado was. An acto was a little pin with which we went around lancing all these boils upon the body politic of the farmworker. (Broyles, 1983, 44)

Die 1983er Reminiszenz Valdez' über den emotionalen Katharsiseffekt, den die Darstellung des Ranchers auslöste, mag im Sinne der Dialektik des Lachens u n d Weinens auch auf den Schlußeffekt von Soldado Razo ausgedehnt werden. Die Katharsis der Trauer erzeugt Wut und Protest. Die Chicano Community befreit sich im Lachen wie Weinen zur Aktion. Agribusiness u n d Kriegsmaschinerie (die Parallele wurde in Vietnam Campesino sehr deutlich gemacht) sind Facetten ein u n d desselben umfassenden sozio-ökonomischen Systems, das es zu bekämpfen galt.

66 El Teatro Campesino: mito, corrido, historia - von Bernabé bis Zoot Suit. But above all to be Chicano is to LOVE GOD For I have never read a single poem by an Azteca, Tolteca, Maya or Yaqui ATHEIST Todos los indios creen en Dios. In order to fully EVOLVE (evolutionär con la serpiente) the Chicano Movement must MOVE con el MOVEMENT of the cosmos with the NAHUI OLLIN el quinto sol SOL DE MOVIMENTO It must move with the EARTH, LA TIERRA It must move with the MORNING STAR, VENUS Quetzalcoatl, Jesucristo It must move with GOD. (Valdez, 1973, 6) Dieses poetische Credo oder rhythmisierte Manifest reflektiert die Wegstrecke, die Valdez innerhalb des Chicano Movement nahm. Während noch in Fresno die ausgereifteren actos entstanden, arbeitete der Dramatiker bereits am Konzept der mito», die nach Valdez eine dialektische Einheit bilden, "cuates that complement and balance each other as day goes into night, el sol - la sombra, la vida - la muerte, el pájaro — la serpiente: thus, los actos y los mitos are two visions of a universal reality; one through the eyes of man, the other through the eyes of God." (Valdez et al., 1985, 12) Valdez ging nicht nur den Weg des Kulturnationalismus zu den Azteken, er ging gleich zu den Mayas, und durch sie hindurch zur Dreieinigkeit des christlichen Gottes. Die Konsequenz, mit der Valdez dem Movement vorauseilte, war bereits bei der Entwicklung der actos vom Campesino-Agitprop zum Friedensdrama erkennbar; sie wird auch den weiteren Weg der 70er und 80er Jahre kennzeichnen. Der Weg zu den Mayas war notwendig, um eine non-europäische/mestizo-Version Gottes zu erfassen: "Did you know the Mayas described God as zero? Only it is

67 n o t t h e zero of t h e white m a n . It is t h e zero of infinite p o t e n t i a l . T h e G r e a t NoT h i n g f r o m which every o t h e r thing springs. A great circle, a spherical f u l l - e m p t y p l e n u m , u n a t r e m e n d a m a t r i z cósmica!" 1 An a n d e r e r Stelle des Briefes stellt er die Frage, ob wir (die Chicanos) d e n n alle Atheisten sein m ü ß t e n u m Revolutionäre zu w e r d e n , "just because some E u r o p e a n said t h a t was t h e t h i n g t o d o ? " Gleichzeitig m i t der A u s a r b e i t u n g der mtío-Konzeption f ü r s T e a t r o verlief Vald e z ' persönliche F a m i l i e n g r ü n d u n g (er h a t t e L u p e 1968 geheiratet). D a s in der M u t t e r C r u z in The Shrunken Head of Pancho Villa bereits v o r h a n d e n e Bild der Familie als Kernzelle menschlicher V e r ä n d e r u n g wird n u n i m Lichte der MayaF o r m e l "IN L A K ' E C H : T u Eres Mi O t r o Yo" (du bist m e i n zweites Ich) als in menschliche F o r m umgegossene göttliche Energie z u m Prinzip a u c h der kollektiven O r g a n i s a t i o n des T e a t r o selbst e r h o b e n : " A n a so La Familia is Love, A m o r , C a r i ñ o , R e s p e t o . It is Cosmic Energy." 2 Liebe als göttliches Prinzip stellt sich i h m m i t wissenschaftlicher Genauigkeit d a r ü b e r die m a t h e m a t i s c h e n B e r e c h n u n gen der M a y a s ; 3 Einsteins Formel der Relativitätstheorie "simply means/ that Love is stronger t h a n H a t e / T h a t t h e Universe is one b i g / YES!" (Valdez, 1973, 12) " L a familia" ist die Kleinfamilie ebenso wie das a r b e i t e n d e Kollektiv, e b e n s o wie die Gesellschaft einer N a t i o n wie die Menschheit schlechthin, " b e c a u s e we h a v e a C o m m o n F a t h e r " , von d e m ein göttlicher G e s a m t p l a n s t a m m t : " T h e Divine P l a n calls for J u s t i c e on E a r t h , P e a c e on E a r t h , Love on E a r t h between t h e races of m a n k i n d , t h e n a t i o n s of m a n k i n d , t h e m e n a n d t h e w o m e n of m a n k i n d . " ( " C r e d o . La Familia"). I m mito vereinigten sich f ü r Valdez d a h e r Maya-Philosophie u n d christliche Nächstenliebe, Diesseits u n d Jenseits, der Zyklus des A u s t a u s c h e s zwischen Mensch u n d G o t t . So wird sich auch die Arbeit des T e a t r o zyklisch e n t f a l t e n . " T h e s e r p e n t continues t o crawl out of its own dead skin, a n d t h a t - according t o t h e M a y a n p e r c e p t i o n of life - is good. All living things evolve a n d c h a n g e . " 4 Die Unken Krit i k e r i n n e n der m»'