Die Wirkungen des Pflege-Versicherungsgesetzes [1 ed.] 9783428485086, 9783428085088

Nach einer langen und kontrovers geführten Diskussion wurde das »Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegeb

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Die Wirkungen des Pflege-Versicherungsgesetzes [1 ed.]
 9783428485086, 9783428085088

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FACHINGER I ROTHGANG (Hrsg.)

Die Wirkungen des Pflege-Versicherungsgesetzes

Sozialpolitische Schriften Heft 68

Die Wirkungen des Pflege-Versicherungsgesetzes

Herausgegeben von

Uwe Fachinger und Heinz Rothgang

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Wirkungen des Pflege-Versicherungsgesetzes I hrsg. von Uwe Fachinger und Heinz Rothgang. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Sozialpolitische Schriften ; H. 68) ISBN 3-428-08508-6 NE: Fachinger, Uwe [Hrsg.]; GT

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-5998 ISBN 3-428-08508-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Vorwort Nach einer langen und kontrovers geführten Diskussion wurde das "Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit" verabschiedet und am 28. Mai 1994 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Ziel des vorliegenden Bandes ist eine "Standortbestimmung" bezüglich dieser neuen, fünften Säule der Sozialversicherung. Mit dem Sammelband soll ein Beitrag zu einer sachlichen und realitätsbezogenen Diskussion geleistet werden, die im Vorfeld allzuoft nicht stattgefunden hat. Grundgedanke der Beiträge ist es daher, das PfIege-Versicherungsgesetz als datum zu nehmen und seine erwartbaren Wirkungen und die sich daraus ergebenden sozial-, verteilungs- und wirtschaftspolitischen sowie sozialrechtIichen Handlungserfordernisse zu diskutieren und nicht über ideale Lösungen zur Absicherung des Pflegerisikos nachzudenken und dabei bereits "geschlagene Schlachten" wieder aufleben zu lassen. Ein Großteil der Texte basiert auf der Tagung "Auswirkungen der Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung", die am 13. und 14. Oktober 1994 im Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen durchgeführt wurde l . Um die Wirkungen des Gesetzes theoretisch fundiert, aber auch praktisch informiert erörtern zu können, wurden Theoretiker und Praktiker zusammengebracht. Dieser Ansatz erwies sich als überaus fruchtbar, haben doch alle vom Meinungs- und Erfahrungsaustausch gerade zwischen diesen beiden Gruppen profitiert, was sich auch in den hier vorliegenden Beiträgen widerspiegelt. Abschließend bleibt den Herausgebern die angenehme Pflicht der Danksagung. Unser Dank gebührt vor allem den Referenten der Tagung und den Autoren dieses Bandes sowie dem Verlag Duncker & Humblot und hier insbesondere Frau Müller, die diese Publikation betreut hat. Danken möchten wir weiterhin dem Zentrum für Sozialpolitik und der Universität Bremen, die die Tagung jeweils zu Teilen finanziert haben. Ein besonderer Dank gilt Prof. Winfried Schmähl, der es uns, seinen Mitarbeitern. ermöglichte, die Tagung zu organisieren und diesen Sammelband herauszugeben. Bremen, im Juli 1995

Uwe Fachinger und Heinz Rothgang

I Für einen Bericht über diese Tagung siehe Uwe Fac"ill!:e,.1 Heillz Rot"!:(III!: ( 1995): L>il! Aus· wirkungen der Einflihrung der gesetzlichen Pflegeversicherung. in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 75. S. 192-197.

Inhaltsverzeichnis Zur Einführung Heinz Rothgang

Konzeptionelle Überlegungen zur Evaluation des Pflege-Versicherungs gesetzes .............................................................................................................

11

Wirkungen auf der Angebotsseite Aloys Prinz

Die Auswirkungen des Gesetzes über die Ptlegeversicherung auf das Angebot an Pflegeleistungen . ...... .... ................ ...... ......... ... ................ ......... ............ ......

27

Thomas Klie

Auswirkungen des SGB Xl auf die Qualität der Pflegeleistungen....................

55

Wirkungen auf der Nachfrageseite Walburga

VOll

Zameck

Der Einfluß der Pflegeversicherung auf die Entwicklung des familialen Pflegepotentials und das Erwerbsverhalten von Frauen...................................

71

Frank Schulz-Nieswandt

Löst die gesetzliche Ptlegeversicherung einen "Heimsog-Effekt" aus? ......... ...

103

Hans-Christian Mager

Moral hazard in der (sozialen) Pflegeversicherung? ........................................

115

Ausgabenentwicklung und Verteilungswirkungen Stephan Winters

Die Kostenentwicklung in der niederländischen Pflegeversicherung - ein lehrreiches Beispiel? ................................................................................ ......

139

Heinz Rothgang und Winfried Schmäh I

Die langfristige Entwicklung von Ausgaben und Beitragssatz in der gesetzlichen Pflegeversicherung........................... ................ ......................................

155

8

Inhaltsverzeichnis

Jürgetl Allemeyer

Die Pflegeversicherung und das System der Sozialhilfe: Auswirkungen für Pflegebedürftige und Einrichtungen................................................................

177

Erik Gawel

Die Wirkungen des Pflege-Versicherungsgesetzes auf die institutionelle Verteilung......................................................................................................

197

Vwe Fachinger und Heinz Rothgang

Die Neustrukturierung der Finanzierung von Pflegeleistungen: Eine Analyse ihrer Wirkungen auf die personelle Einkommensverteilung ..................... .......

223

Würdigung des POege-Versicherungsgesetzes aus ökonomisch-sozialpolitischer und sozialrechtlicher Sicht Klaus Jacobs

Zur Kohärenz von gesetzlicher Pflegeversicherung und anderen Zweigen der Sozialversicherung .... .................... .................... ............ ................... ......... .....

245

Jürgen Wasem

Zwischen Sozialbindung und versicherungstechnischer Äquivalenz - Die private Krankenversicherung und die Pflege-Ptlichtversicherung ........................

263

Gerhard Igl

Zu einigen sozial rechtlichen und sozialpolitischen Problemen des neuen Pflegeversicherungsrechts ..... ...... ...................... ......... .... ................ ......................

279

Zum Abschluß Vwe FlIchillger. HeillZ Rothgllllg und V/rich Sclllleekloth

Resümee und Ausblick.................. .......... .......... ......................... ............... .....

297

Verzeichnis der Autoren........................ ...... .......... ............ ........... ..... .................

321

Zur Einführung

Konzeptionelle Überlegungen zur Evaluation des Pflege-Versicherungsgesetzes Von Heinz Rothgang* A. Einleitung Am 26. Mai 1994 ist das "Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Ptlegebedürftigkeit" (PtlegeVG) ausgefertigt und zwei Tage später im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden. Damit ist das zwanzigjährige Ringen um die Absicherung des Ptlegerisikos mit der Einführung einer neuen Sozialversicherung vorläufig zu Ende gegangen I. Da die Grundentscheidungen über die Form der Absicherung des Ptlegerisikos somit gefallen sind, ist die Fortführung der Debatte über die damit verbundenen Fragen zum jetzigen Zeitpunkt wenig sinnvoll. Erforderlich ist es vielmehr, die Auswirkungen des PtlegeVG in der vorliegenden Form zu diskutieren. Beim Versuch, dessen Wirkungen zu systematisieren und zu beurteilen, ist es nützlich, sich zuvor noch einmal zu vergegenwärtigen, welche Ziele mit dem PflegeVG eigentlich angestrebt werden. Diese Ziele bilden nämlich einen sehr sinnvollen Maßstab für die Beurteilung der Gesetzeswirkungen. Im folgenden wird daher zunächst versucht, die Ziele des PflegeVG zu benennen und unter Rückgriff auf seine Entstehungsgeschichte zu systematisieren (Abschnitt B). Anschließend wird der Zusammenhang von Zielen, Mitteln und Wirkungen diskutiert und an einem Beispiel illustriert (Abschnitt C), bevor schließlich die an den Zielen des PtlegeVG orientierte Konzeption dieses Bandes dargelegt wird (Abschnitt D). B. Ziele des Pflege-Versicherungsgesetzes Die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung (GPV) markiert einen deutlichen Einschnitt in der Geschichte der Sozialpolitik. Erstmals seit 1927,

*

tare.

Ich danke Andrea Wechsel berg, Uwe Fachinger und Stefan Pabst für ihre hilfreichen Kommen-

I Vgl. z. B. Hau!! I Rlllh!!an!! (1994), Göttin!! I Hinrichs oder I!!l ( 1994) flir eine Darstellung der verschiedenen Pha~en dieses Prozesses.

12

Heinz Rothgang

als die Arbeitslosenversicherung gegründet wurde, wird in Deutschland wieder eine neue Sozialversicherung etabliert, die sogenannte "fünfte Säule" des Sozialversicherungssystems. Angesichts dieser historischen Dimension, an die insbesondere der Bundesarbeitsminister und seine Mitarbeiter regelmäßig erinnern2 , könnte vermutet werden, daß dem Gesetz eine umfassende Gesamtkonzeption, ein in sich stimmiges, geschlossenes Paradigma zugrunde liegt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Zum einen ist der Gesetzestext mit der "heißen Nadel" gestrickt, so daß Sozialrechtier eine Reihe von gesetzgebungstechnischen Mängeln beklagen 3 . Wichtiger noch ist, daß auch auf konzeptioneller Ebene kein einheitliches Paradigma erkennbar ist. Das ist darauf zurückzuführen, daß viele Akteure mit eigenen Ziel systemen, die sich auf mehrere Zieldimensionen beziehen und nur partiell gleichgerichtet sind, auf die Ausgestaltung des Gesetzes Einfluß genommen haben. Die GPV ist daher das Ergebnis eines Kompromisses zwischen diesen Gruppierungen und den von ihnen vertretenen Zielen 4 . Um die Ziele des PfiegeVG zu erfassen, soll daher der Versuch unternommen werden, die erkennbaren Leitvorstellungen der an der Entstehung beteiligten Akteure - soweit sie Niederschlag im Gesetzeswerk gefunden haben - zu systematisieren und zu klassifizieren. I. Akteure und deren Zielvorstellungen

An der Debatte um die Absicherung des Pflegerisikos haben sich eine Vielzahl von Akteuren beteiligt, die im folgenden zu drei Akteursgruppen zusammengefaßt werden sollen: den ,,sozialpolitikern", den "Finanzpolitiker" und den "Ordnungspolitikern". Als ,,sozialpolitiker" werden hier alle die Akteure bezeichnet, die die Problemlage der betroffenen Pflegebedürftigen, also ein genuin sozialpolitisches Anliegen, zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen. Dies sind neben der Lobby der Pflegebedürftigen, insbesondere dem Kuratorium Deutsche AItershilfe (KDA), vor allem die Betroffenenverbände (wie Behindertenverbände und Verband der Kriegs- und Wehropfer, Behinderten und Sozialrentner Deutschland) sowie (partiell) die Wohlfahrtsverbände als Träger von Pflege-

2 Jung (1993), S. 632, sowie (1994), S. 16, zitiert sogar die sogenannte "kaiserliche Botschaft" vom 18. November 1883, um auf den historischen Stellenwert des Pflege-Versicherungsgesetzes hinzuweisen.

, Vgl. z. B. Ig/ (in diesem Band), Schulin. 4 Evas bezeichnet die Pflegeversicherung ob ihrer heterogenen Leitvorstellungen als "mixtum compositum".

Konzeptionelle Überlegungen zur Evaluation des PflegeVG

13

einrichtungen und die mit geriatrischer und gerontologischer Forschung befaßten Institutionen. Als erste Äußerung der "Sozialpolitiker" kann das Gutachten des KDA aus dem Jahr 1974 gelten, das die Debatte um die Absicherung des Ptlegerisikos ausgelöst hat. In diesem Gutachten wird Pflegebedürftigkeit als allgemeines Lebensrisiko gekennzeichnet. Daß Menschen nach "normalem" Verlauf ihrer Erwerbsbiographie im Alter aufgrund von Ptlegebedürftigkeit regelmäßig zu Sozialhilfeempfängern werden - so die Kritik des KDA - sei eines modernen Wohlfahrtsstaats unwürdig. Während zur Absicherung gegen andere allgemeine Lebensrisiken eigenständige Sicherungssysteme bestehen, gebe es - abgesehen von der Sozialhilfe - keine umfassende öffentliche Absicherung gegen Ptlegebedürftigkeit. Der Sozialstaat weise somit eine Lücke im Versorgungssystem auf, die es durch Schaffung eines neuen Sicherungssystems oder entsprechenden Ausbau bestehender Systeme zu beheben geltes. Nur so könne vermieden werden, daß aufgrund von Pflegebedürftigkeit regelmäßig ,,SozialhilJeabhängigkeit" auftrete. Mit dem Kampf gegen die in Folge von Pflegebedürftigkeit auftretende "Sozialhilfeabhängigkeit" ist das erste von den "Sozialpolitikern" verfolgte Ziel einer Neuregelung der finanziellen Absicherung von Ptlegebedürftigkeit genannt. Daneben haben die "Sozialpolitiker" im folgenden weitere Aspekte der Absicherung des Pflegerisikos thematisiert. So wurden erhebliche Defizite in der Versorgungsqualität, insbesondere in stationären Einrichtungen konstatiert, die vor allem auf die mangelnde finanzielle Ausstattung des Sektors zurückgeführt und mit Stichworten wie - ungenügende Personalausstattung, - Satt-und-Sauber Pflege bis hin zur gefährlichen Pflege, - einen im internationalen Vergleich hohen Anteil bettlägeriger Pflegebedürftiger und - fehlende Mobilisierung der Pflegebedürftigen gekennzeichnet wurden 6 . Auch hinsichtlich der Form der Versorgung wurden von den "Sozialpolitikern" Zielvorstellungen formuliert, die in dem Grundsatz "ambulant vor sta5 Im KDA-Gutachten wird zunächst gefordert, Leistungen bei Pflegebedürftigkeit in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung aufzunehmen, da Pflegebedürftigkeit regelmäßig eine Folge von Krankheit und eine Abgrenzung von Krankheit und Pflege daher immer willkürlich sei (vgl. Hall~ I R()th~an~ (1994), S. 2 ff.). Der Bezug auf die Argumentationsfigur der ..Sozialhilfeabhängigkeit" wird aber auch in der Folge beibehalten. wenn andere Lösungsformen (z. B. die Schaffung einer eigenständigen Pflegeversicherung) gefordert werden.

~ Vgl. z. B. Bäcker (1990). S. 50, und (1991). S. 95./~1 (1993). S. 32. Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie et a1.

Heinz Rothgang

14

tionär" gipfeln, der eine häusliche Versorgung solange als möglich fordert, da dies den Präferenzen der Pflegebedürftigen entspreche7 . Den "Sozialpolitikern" ist es zwar gelungen, eine Debatte anzustoßen. Die Absicherung des Pflegerisikos auf der Agenda der politisch zu bearbeitenden Themen zu verankern, gelang ihnen jedoch nicht. Dieser Schritt konnte nur deshalb vollzogen werden, weil ab Mitte der siebziger Jahre eine zweite Akteursgruppe ebenfalls Reformbedarf anmeldete: die "Finanzpolitiker". Zur Gruppe der "Finanzpolitiker" werden im folgenden alle Akteure gezählt, deren Ausgangspunkt nicht die Situation der Pflegebedürftigen, sondern die finanzielle Lage der Sozialhilfeträger ist. Damit sind vor allem die kommunalen Spitzenverbände als Vertreter der Kommunen und (ab den achtziger Jahren) die Vertreter der Bundesländer gemeint 8 . Insbesondere die Kommunen, die Pflegeleistungen als örtliche Sozialhilfeträger direkt finanzieren müssen und über die Umlage auch von Ausgabensteigerungen der überörtlichen Träger betroffen sind, beklagten, daß ihre finanziellen Spielräume erschöpft und sie nicht länger in der Lage seien, die immensen Ausgaben der Hilfe zur Pflege zu tragen 9 . Aus diesem Grund forderten sie die Übertragung der Finanzierungszuständigkeit bei Pflegebedürftigkeit auf einen anderen Akteur. Die Forderungen der "Finanzpolitiker" zielen somit nicht primär auf eine Verbesserung der individuellen Situation der Pflegebedürftigen ab, sondern auf eine Neuregelung der institutionellen Finanzierungszuständigkeit bei Pflegebedürftigkeit und eine Entlastung der Sozialhiljeträger. Daneben wurde von ihnen die Förderung der ambulanten Versorgung zu Lasten der stationären gefordert, da erstere als kostengünstiger angesehenen wurde lo . Die Auseinandersetzung um die sogenannte "duale Finanzierung" im Vermittlungsverfahren von Bundestag und Bundesrat machte zudem deutlich, daß zumindest die Länder noch eine weiteres Ziel verfolgen: die Aufrechterhaltung einer Länderkompetenz für die Steuerung des Angebotes an Pflegediensten und Einrichtungen 11.

7

Vgl. zu den geäußerten Wünschen von Pflegebedürftigen und deren Angehörigen Alber.

Beide Perspektiven, die sozialpolitische und die finanzpolitische, werden vom Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge gebündelt, in dem sowohl die Wohlfahrtsverbände als Leistungsanbieter als auch die kommunalen Spitzenverbände und die überörtlichen Sozialhilfeträger organisiert sind. M

9

Diese machen seit Mitte der 70er Jahre rund ein Drittel aller Sozialhilfeausgaben aus; vgl.

HUUK I RothKunK (1994), S. 5.

10 Vgl. hierzu insbesondere die Stellungnahme einer beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge eingesetzten Arbeitsgruppe. die diesen Gedankengang besonders betont hat; Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge. 11

Vgl. hierzu JunK (1994), S. \3, und Vollmer, 9 A 02.

Konzeptionelle Überlegungen zur Evaluation des PflegeVG

15

Mit den "Sozial-" und "Finanzpolitikern" sind die beiden Akteursgruppen benannt, die auf die Grundprobleme der bestehenden Regelungen hingewiesen und die Debatte um die Absicherung des Pflegerisikos damit vorangetrieben haben l2 . Um ihre jeweiligen Ziele zu verwirklichen, haben sie frühzeitig die Einführung einer Pflegeversicherung unter dem Dach der GKV gefordert I 3. Als es dann um die Ausgestaltung der Pflegeversicherung geht, treten sie dagegen in den Hintergrund, und die Debatte wird von einer dritten Gruppe dominiert, die im folgenden als "Ordnungspolitiker" gekennzeichnet wird. Unter die Kategorie "Ordnungspolitiker" sind zunächst der überwiegende Teil der FDP, die Arbeitgeberorganisationen, aber auch diverse wissenschaftliche Politikberatungsgremien (wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium) zu fassen, die zwar grundsätzlich die Notwendigkeit einer Neuordnung der Absicherung des Pflegerisikos sahen, eine Sozialversicherungslösung aber ablehnten I 4. Nachdem die Grundentscheidung für eine Sozialversicherungslösung in der vergangenen Legislaturperiode gefallen war, haben sie dann aber Einfluß auf die Ausgestaltung dieser Versicherung genommen und dabei versucht, ihrem Grundanliegen, einer Begrenzung des öffentlichen Sektors, Geltung zu verschaffen. In ihrem Bestreben, Wirtschaftlichkeit und Effizienz zu stärken, stimmen diese Skeptiker der Pflegeversicherung mit anderen Akteuren überein, die der Einführung einer Pflegeversicherung zwar positiv gegenüber gestanden, aber ebenfalls bestimmte Ausgestaltungsmerkmale in besonderem Maße thematisiert haben. Hiermit sind unabhängige Einzelpersonen, aber auch das Bundesarbeitsministerium gemeint ls . 12 Daß neben dem sozialpolitischen auch ein finanzpolitisches Begründungsmuster für eine Neuordnung der finanziellen Absicherung der Pflegebedürftigkeit angeführt werden konnte, muß als entscheidend dafür gelten, daß es gelingt, das Thema auf der politischen Agenda zu verankern. In diesem Sinne konstatiert Prinz, S. 280: "Pflegebedürftigkeit ist kein im eigentlichen Sinne sozialpolitisches Problem .... es geht um Finanzierungsfragen, welche die föderale Struktur der Bundesrepublik betreffen."

13 So im gemeinsamen Vorschlag der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände, der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Freien Wohlfahrtspflege, des Deutschen Vereins und des KDA, in dem sich die Reformbestrebungen der "Sozial-" und "Ordnungspolitiker" 1983 bündeln; siehe Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände et al. 14 Vgl. z. B. Babel. Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände et al.. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Finanzen sowie die bei Neseker. S. 154. zusamrnengefaßten, eine Pflegesozialversicherung ablehnenden Stellungnahmen von Arbeitgebern, Gewerkschaften. Ärzteschaft und Trägem der gesetzlichen Krankenversicherung.

15 Im "Bericht der Bundesregierung zu Fragen der Pflegebedürftigkeit" hat diese die Einführung einer eigenständigen Pflegeversicherung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung noch eindeutig abgelehnt; Bundestags-Drucksache 109/ 1943. S. 13. Auch Bundesarbeitsminister Blüm

16

Heinz Rothgang

Die Ziele der "Ordnungspolitiker" richten sich vor allem auf den Abbau von Rationalisierungsreserven, d. h. auf die Erhöhung der Effizienz der Leistungserbringung professioneller Leistungsanbieter, die Verhinderung eines "Heimsog-Effekts", also einen Aspekt der Inanspruchnahmestruktur, - die Verhinderung einer auch als "Mitnahmeeffekt" bezeichneten "moral hazard"-bedingten generellen "Über" -Inanspruchnahme von Leistungen, einen Aspekt des Inanspruchnahmevolumens, und eine generelle Ausgabenbegrenzung, insbesondere um damit weitere Erhöhungen der Abgabenquote zu vermeiden. In der Auseinandersetzung um die Frage, ob eine Sozialversicherung oder eine obligatorische Privatversicherung das geeignete Modell sei 16, wurde vom Arbeitsministerium zudem die sozialverträgliche Finanzierung der Pflegekosten als weiteres Ziel hervorgehoben l7 . 11. Ziele des PfIege-Versicherungsgesetzes im Überblick

Werden die im vorangegangenen Abschnitt angesprochenen Ziele hinsichtlich ihres Gegenstandes systematisiert, zeigt sich, daß sie sich auf die Angebotsseite des "Pflegemarktes··, - dessen Nachfrageseite und - Finanzierungsfragen beziehen. Eine Gegenüberstellung dieser Zieldimensionen und der genannten Akteure ergibt das in Tabelle 1 zusammengefaßte Bild der wichtigsten mit der Pflegeversicherung verfolgten Ziele, die alle - explizit oder implizit - Eingang in das PfiegeVG gefunden haben l8 . Werden diese Ziele zueinander in Beziehung gesetzt, ergeben sich erstaunliche (partielle) Zielkongruenzen, nur auf den zweiten Blick erkennbare (partielle) Inkongruenzen, aber auch direkte Zielkonflikte. sprach sich noch 1984 gegen eine Pflegesozialversicherung aus, da diese die Pflegewilligkeit der Familien systematisch untergrabe; siehe Handelsblatt vom 4. Januar 1984, S. 3. Erst seit seiner (für viele überraschenden) Rede auf dem Ersatzkassentag am 26. September 1990 kann Blüm und damit auch das Bundesarbeitsministerium (BMA) zu den Befürwonem einer Pflegeversicherung gezählt werden. In ihrer Argumentation für eine Pflegeversicherung führen Regierung und Ministerium zwar die von den "Sozial-" und "Finanzpolitikern" vorgetragenen Argumentationsmuster an. Der eigene Beitrag des BMA ist aber eher auf der ordnungspolitischen Ebene zu sehen. 16

Ygl. hierzu Schmäht.

17

Ygl. z. B. Blüm, S. 6 f.

IM

Ygl. zu einer Analyse der Ziele des Gesetzes HauK I RothKanK (1995).

17

Konzeptionelle Überlegungen zur Evaluation des PflegeVG Tabelle /

Systematisierung der hinsichtlich der Ahsicherung des Pflegerisikos vertretenen Ziele Akteure

Angebotsseite

Nachfrageseite

Finanzierung

"Sozialpolitiker"

Verbesserung der Qualität

ambulant vor stationär

Beendigung der SozialhiIfeabhängigkeit

"Finanzpolitiker"

Angebotssteuerung

ambulant vor stationär

Verringerung der Sozialhilfeausgaben

Verbesserung der Effizienz

Verhinderung einer Überinanspruchnabme und eines Heimsogs

Ausgabenbegrenzung, "soziale" Finanzierung

"Ordnungspolitiker"

Sowohl von den "Ordnungspolitikern" als auch von einem Teil der "Sozialpolitiker" wird auf der Angebotsseite "mehr Markt" gefordert; von ersteren, um die Effizienz der Leistungserstellung, von letzteren, um die Qualität der Pflegeleistungen zu verbessern l9 , Zumindest diese - von einer ungewohnten Allianz vertretene - primäre Strategie zur Steigerung von Effizienz und Qualität steht aber in Widerspruch zu der von den "Finanzpolitikern" angestrebten Angebotssteuerung, In diesem Zielkontlikt hat sich zwar die Förderung des Wettbewerbs als dominierende Orientierung im Gesetzestext weitgehend durchgesetzt 20 , Gleichwohl wurde den Ländern im Gesetz die Möglichkeit belassen, insbesondere über die Investitionsförderung weiterhin Einfluß auf die Angebotsstruktur zu nehmen und damit die Wirkung des Wettbewerbsprinzips einzuschränken, Insgesamt sind auf der Angebotsseite somit partiell kontligierende Ziele zu beobachten, Auf der Nachfrageseite stimmen "Sozial-", "Finanz-" und "Ordnungspolitiker" hinsichtlich des Vorrangs der ambulanten vor der stationären Versorgung überein, Erstere, weil sie glauben, damit den Wünschen der Pflegebedürftigen zu entsprechen, die beiden letztgenannten, weil sie sich von der vermeintlich "billigeren" ambulanten Versorgung Einsparungseffekte erhoffen 21 , Hier kann also eine Zielkongruenz konstatiert werden, Die "Ordnungspolitiker" wenden sich mit ihrer Forderung nach Vorrang der ambulanten Betreuung und Maßnahmen zur Verhinderung eines sogenannten "Heimsogs" vor allem gegen ein vermutetes "moral hazard"-Verhalten der Nachfrager22 , Diese Gefahr der Ausnutzung einer "sozialen" Pflegeversicherung sehen sie nicht 19 Vgl. z. B. Oberellder für die .. Ordnungs-" und Großjo/llll1n / KDA für die weubewerbsmientierten "Sozialpolitiker".

20 Vgl. in Deutscher Bundestag die amtliche Begründung zu § 81 Abs. 3 SGB XI. der § 72 Abs. 3 SGB XI des Geset7.es entspricht. 21

Beide Thesen sind jedoch nicht unumstritten. vgl.

22

Vgl. zur Darstellung und Kritik dieser These z. B Sclwlz-Nie.nmndf (1989) und (1990).

2 FaL"hil1p'('r/Rlllhgan~

l.

B W"J:l1er. S. 139, Dieck. S. 219.

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Heinz Rothgang

nur hinsichtlich der Inanspruchnahmestruktur, sondern auch bezüglich des Inanspruchnahmevolumens (sogenannte "Mitnahmeeffekte") als gegeben. Beide von den "Ordnungspolitikern" auf der Nachfrageseite verfolgten Ziele, die sich in entsprechenden Gesetzesnormen widerspiegeln, wurzeln somit in einer gemeinsamen Überlegung. Hinsichtlich ihrer auf die Finanzierung bezogenen Ziele stimmen "Sozial-" und "Finanzpolitiker" scheinbar überein. Erstere haben aber die Zahl der sozialhilfeabhängigen Pflegebedürftigen, letztere die Summe der Sozialhilfeausgaben im Visier. Da jede Ausgabenreduktion bei der Sozialhilfe dem Ziel der "Finanzpolitiker" dient, das Ziel der "Sozialpolitiker" aber nur erreicht wird, wenn gleichzeitig die Zahl der Sozialhilfeempfänger (und nicht nur die Ausgabensumme, die auf jeden einzelnen Leistungsempfänger entfällt) sinkt, handelt es sich hierbei um keine vollständige Zielkongruenz. Diese erst auf den zweiten Blick erkennbare Differenz kann für eine Beurteilung des Zielerreichungsgrades hinsichtlich der Sozialhilfefinanzierung entscheidend sein. Ein direkter Zielkontlikt zeigt sich dagegen zwischen "Sozial-" und "Finanzpolitikern" auf der einen und "Ordnungspolitikern" auf der anderen Seite. Jede Leistungs- und Ausgabenbegrenzung in der Pflegeversicherung birgt nämlich die Gefahr in sich, daß die davon betroffenen Pflegebedürftigen letztlich wieder auf die Sozialhilfe als Ausfallbürgen zurückgreifen (müssen). (Partielle) Zielkontlikte werden auch bei zeilenweiser Betrachtung der Tabelle I deutlich. So stehen das Ziel der Ausgabenbegrenzung und der Qualitätssteigerung zumindest partiell in Widerspruch zueinander. da aktivierende und mobilisierende Pflege. die zu einer Qualitätsverbesserung führen würde, insbesondere im stationären Sektor höhere Personalschlüssel erfordern, die aber erhöhte Kosten verursachen, die durch die GPV nicht gedeckt werden können. wenn diese das Ziel der Ausgabenbegrenzung verfolgt. Insgesamt erweist sich der dem PtlegeVG zugrunde liegende Zielkatalog damit als nicht frei von Zielkontlikten. Allein aufgrund der daraus resultierenden Dilemmata sind partielle Ziel verfehlungen deshalb unvermeidlich.

C. Der Zusammenhang von Zielen, Mitteln und Wirkungen I. Allgemeine Überlegungen

Mit der Identifikation der Ziele einer gesetzgeberischen Maßnahme ist nur der erste Schritt eines Evaluationsprozesses absolviert. Weiterhin ist zu prü-

Konzeptionelle Überlegungen zur Evaluation des PflegeVG

19

fen, auf weIche Weise die Ziele in konkrete Gesetzesnormen umgesetzt wurden und weIche Effekte die einzelnen Vorschriften auslösen, bevor diese Wirkungen mit den Zielen kontrastiert werden können. Bei der Wirkungsanalyse kann dabei zwischen intendierten und nicht-intendierten Effekten unterschieden werden (Abbildung 1): Effektivität hinsichtlich des angestrebten Ziels

--------·-i

-:nicht-intendiene Effekte"

Abbildung I: Der Zusarrunenhang von Zielen, Mitteln und Effekten

Zur Realisation der einzelnen Zielvorstellungen sind in das PflegeVG jeweils bestimmte Normen (Mittel) aufgenommen worden. Diese entfalten dann Wirkungen in verschiedene Richtungen. Werden diese Wirkungen evaluiert, kann zunächst die Effektivität, d. h. der Zielerreichungsgrad hinsichtlich des angestrebten Ziels, geprüft werden. Effekte sind möglicherweise aber auch hinsichtlich anderer Ziele oder in Dimensionen, die nicht zum Zielkatalog des Gesetzes zählen, beobachtbar (nicht-intendierte Wirkungen). Bei der Evaluation einer gesetzlichen Maßnahme ist deshalb immer sowohl zu prüfen, inwieweit die angestrebten Ziele erreicht werden, als auch nach nicht-intendierten Wirkungen des vorliegenden Gesetzeswerkes zu fragen. Die damit angesprochenen Zusammenhänge können gut am Beispiel der Finanzierung von vollstationären Pflegeeinrichtungen verdeutlicht werden. 11. Die "quintale Finanzierung" in der stationären Pflege

Hinsichtlich der Finanzierung von vollstationären Einrichtungen wurde ein als "pseudo-monistisch" bezeichnetes Finanzierungsverfahren im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens durch eine "unechte duale Finanzierung" ersetzt23 . Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß die Finanzierung der in Ptlege-

23 Junll (1994), S. 13.

2*

20

Heinz Rothgang

heimen erbrachten Leistungen nicht auf zwei, sondern auf fünf Kostenposten beruht, die von vier Trägern gedeckt werden (Tabelle 2)24. Tabelle 2 Finanzierung stationärer Pflegeeinrichtungen Budgetposten

(*

- pflegebedingte Leistungen 841V SGB XI) - "Hotelkosten U 87 SG XI) - Zusatzleistungen 88 SGB XI) -Investitionskosten 82111 und IV SGB XI) - ärztliche Behandlung etc. (SGB V)

(*

(* (*

Kostenträger - Pflegekasse I Pflegebedürftiger")b) - Pflegebedürftigerb1 - Pflegebedürftiger - Länder I Pflegebedürftigerb) - Krankenkasse

Die Pflegeka~sen übernehmen pflegebedingte Kosten nur bis zu einer vorgegebenen Höhe (.. Deckelung"). Darüber hinausgehende Kosten sind vom Pflegebedürftigen zu tragen. bl Ist der Pflegebedürftige nicht in der Lage. diese Kosten aus eigenem Einkommen und Vermögen zu tragen. so ist der zuständige Sozialhilfeträger zur Leistung verpflichtet.

u)

Diese "quintale Finanzierung" wurde eingeführt, um damit mindestens vier Ziele des PflegeVG zu fördern: die Beschränkung der Finanzierungszuständigkeit der Pflegeversicherung auf pflegebedingte Ausgaben und die Deckelung dieser Leistungen sollen dazu beitragen, die Ausgaben der Pflegeversicherung zu begrenzen, die Übertragung der Zuständigkeit zur Investitionskostenförderung auf die Länder ermöglicht diesen eine Angebotssteuerung, der explizite Ausschluß der "Hotel kosten" von öffentlicher Förderung, soll einem Heimsog entgegenwirken und gleichzeitig - dadurch daß Heimbewohner ebenso wie Pflegebedürftige in häuslicher Pflege selbst für Unterkunft und Verpflegung aufkommen müssen - einen Beitrag zur sozial ausgewogenen Finanzierung leisten 25 . In bezug auf diese Ziele erscheint dieser Finanzierungsmodus auf den ersten Blick nicht unplausibel. Um eine Bewertung der "quintalen Finanzierung" vorzunehmen, ist es aber nicht ausreichend zu fragen, welchen Beitrag sie zur Erreichung dieser Ziele leistet (Effektivität). Gleichzeitig müssen aber auch die nicht-intendierten Effekte geprüft werden. Dabei zeichnen sich insbesondere bezüglich der Sozialhilfeabhängigkeit und der Sozialhilfeausgaben negative Auswirkungen ab: Pflegebedürftige können nämlich sowohl zur Fi24 Vgl. Klie. S. 22 f.

2~ Mit dieser Begriindung findet sich ein entsprechender Vorschlag schon im sogenannten "Dreiteilungsvorschlag" (Dreiteilung der Kosten zwischen Kommunen (Investitionskosten). Pflegebedürftigen (.. HotelkostenU) und Krankenka~sen (pflegebedingte Kosten) der Arbeiterwohlfahrt aus dem Jahre 1976: Bundesvorstand der Arbeiterwohlfahrt.

Konzeptionelle Überlegungen zur Evaluation des PflegeVG

21

nanzierung von pflegebedingten als auch zur Finanzierung der Investitionsund "Hotelkosten" herangezogen werden. Reicht deren Einkommen und Vermögen dazu nicht aus, sind die Sozialhilfeträger in der Pflicht. Nicht-intendierte Effekte im Sinne einer Inanspruchnahme der Sozialhilfe sind dabei vor allem aufgrund der beiden letztgenannten Kostenposten zu erwarten. Da dem Bund die notwendige Gesetzgebungskompetenz fehlt, konnte er die Länder im PflegeVG nicht zu einer rechtlich verbindlichen Übernahme der Investitionskosten verpflichten 26 . Der die Investitionskostenfinanzierung durch die Länder regelnde § 9 SGB XI hat daher nur appellativen Charakter. Die inzwischen vorliegenden Landespflegegesetze bzw. -gesetzesvorlagen27 zeigen vielmehr, daß mit einer vollständigen Übernahme der Investitionskosten durch die Länder keinesfalls gerechnet werden kann. Da eine Finanzierung über die Pflegekassen aber ausdrücklich ausgeschlossen ist (§ 82 Abs. 2 SGB XI), führt eine unvollständige Kostenübernahme der Länder dazu, daß die Pflegebedürftigen selbst zur Finanzierung der Investitionskosten herangezogen werden. Verfügen diese über kein ausreichendes Einkommen und Vermögen, obliegt die Finanzierung damit dem zuständigen Sozialhilfeträger. Die Gefahr einer weitgehenden Sozialhilfefinanzierung besteht neben den Investitionskosten auch für die sogenannten .,Hotelkosten" für Unterkunft und Verpflegung (§ 87 SGB XI). die grundsätzlich von den Pflegebedürftigen zu tragen sind. Da sie nur schwer von den "pflegebedingten Aufwendungen" zu trennen sind und vor allem Pflegekassen und Einrichtungen 28 über die Pflegesätze verhandeln, ist zu erwarten, daß starke Anreize bestehen, Verträge zu Lasten Dritter zu schließen und Ausgaben in den ,.Hotelkostenbereich" zu verschieben. Sind die Pflegebedürftigen einkommens- und vermögensschwach, kann es wiederum dazu kommen, daß ein beträchtlicher Teil der Kosten den Sozialhilfeträgern aufgebürdet wird. Im Ergebnis kann die Ausgestaltung der Finanzierung voll stationärer Pflege daher dazu beitragen, daß das Ziel einer deutlichen Reduktion der Sozialhilfeausgaben und insbesondere der Sozialhilfeabhängigkeit verfehlt wird. Das 26 Darin unterscheidet sich die ..duale Finanzierung" im Pflege- von der im Krankenhausbereich. Vor Verabschiedung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes (KHG) 1972 wurde nämlich 1969 zunächst da.~ Grundgesetz geändert und dem Bund die Kompetenz eingeräumt. die Länder im KHG zur Übernahme der Investitionskosten zu verpflichten. 27

Vgl. zum Stand der Umsetzung in Landesrecht V"lllller.

Der zuständige Sozialhilfeträger ist zwar an der Verhandlung beteiligt. verfügt aber über keine Veto-Position. da zum Zustandekommen einer Vergütungsvereinbarung - neben dem Plazet des Ein85 Abs. 4 Satz I SGB XI) richtungsträgres - nur die Zustimmung der "Mehrheit der Kostenträger" notwendig ist. diese aber regelmäßig allein durch die beteiligten Pflegeka.~sen sichergestellt werden kann. 2K

(*

22

Heinz Rothgang

Beispiel illustriert damit die Notwendigkeit bei einer Evaluation, neben einer Effektivitätsprüfung in bezug auf die mit einer Maßnahme angestrebten Ziele immer auch die nicht-intendierten Effekte zu berücksichtigen.

D. Konzeption dieses Bandes Die voran stehenden Überlegungen liegen auch der Konzeption des vorliegenden Bandes zugrunde, der den Versuch einer ersten vorläufigen Evaluation des Gesetzes in bezug auf die selbstgesteckten Ziele unternimmt. Dazu wurde in diesem Beitrag - unter Rückgriff auf die mehr als zwanzigjährige Debatte um die Absicherung des Pflegerisikos - eine Identifikation und Systematisierung der Ziele des PfiegeVG vorgenommen. Dabei zeigte sich, daß diese Ziele drei Zieldimensionen betreffen: die Angebotsseite des Pflegemarktes und dessen Nachfrageseite sowie Finanzierungsfragen. Jedem dieser drei Bereiche ist daher einer der drei folgenden Themenblöcke gewidmet, in dem die diesbezüglichen Wirkungen des Gesetzes - soweit sie derzeit erkennbar sind - erörtert werden: Hinsichtlich der Angebotsseite werden vor allem die Wirkungen des PflegeVG auf Effizienz der Leistungserbringung (Prinz) und der Qualität der Pflegeleistungen (Klie) erörtert. Bezüglich der Wirkungen auf der Nachfrageseite stehen die Reaktionen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen im Blickpunkt des Interesses. Dabei werden sowohl das Niveau (Mager) als auch die Struktur (von Zameck, Schulz-Nieswandt, Mager) der Inanspruchnahme thematisiert und u. a. die Plausibilität von "moral hazard"-Verhalten unter den Bedingungen der konkreten Regelungen des PfiegeVG untersucht (SchulzNieswandt, Mager). Während die bei den ersten Themenblöcke die Wirkungen des PfiegeVG auf die Versorgung thematisieren, werden im dritten Teil die monetären Wirkungen untersucht. Hierbei stehen die zu erwartende Ausgabenentwicklung (Winters, Rothgang / Schmäh!) sowie die Effekte auf institutionelle (Allemeyer, Gawel) und personelle Verteilung (Fachinger / Rothgang) im Vordergrund. Der vierte, ergänzende Abschnitt verläßt dann das durch die Ziele des Gesetzes vorgegebene Bewertungsraster und würdigt das PfiegeVG auf der Basis von allgemeinen sozialrechtlichen (rgl), sozialpolitischen und ökonomischen (Jacobs. Wasern) Kriterien. Im abschließenden ,,Resümee und Ausblick" (Fachinger et al.) wird schließlich auf der Basis der vielfältigen in den vorangegangenen Teilen dargelegten Wirkungsanalysen der Versuch unternommen, das Gesetz hinsichtlich der in diesem Beitrag genannten Ziele einer ersten vorläufigen Evaluation zu unterziehen.

Konzeptionelle Überlegungen zur Evaluation des PflegeVG

23

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Wirkungen auf der Angebotsseite

Die Auswirkungen des Gesetzes über die Pflegeversicherung auf das Angebot an Pflegeleistungen Von Aloys Prinz* A. Einleitung Die Diskussion über Probleme der Pflegebedürftigkeit erstreckt sich weitgehend auf Fragen der Finanzierung von und der möglichen Entwicklung der Nachfrage nach Pflegeleistungen. Ausgeblendet werden dabei Probleme, die sich auf der Angebotsseite von Pflegeleistungen ergeben. Solange die Sozialhilfe und Eigenmiuel der Pflegebedürftigen die hauptsächlichen Finanzierungsquellen für diese Leistungen waren, überließ man die Leistungsbereitstellung überwiegend der freien Wohlfahrtspflege und entlastete so die Kommunen, die ansonsten als Leistungsträger infrage gekommen wären. Nach der Verabschiedung des Gesetzes über die Pflegeversicherung wird sich die Nachfrage nach Pflegeleistungen vermutlich deutlich verändern. Diese Veränderungen werden Reaktionen auf der Angebotsseite hervorrufen, über die sehr wenig bekannt ist. Der Grund dafür ist, daß die Leistungserstellung von Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege dominiert wird. Die Leistungsabrechnung erfolgte bisher auf der Grundlage von KostenerstaUungen über Pflegesatzvereinbarungen zwischen den Leistungserbringern und den Sozialleistungsträgern. v. a. der Sozialhilfe. Die Preise für die Leistungen sind daher keine Marktpreise. Damit ist ein wesentliches Problem der Angebotsseite thematisiert. Wie wird sich das mengenmäßige Leistungsangebot in der ambulanten, teilstationären und stationären Altenpflege entwickeln, wenn die Preise für Pflegeleistungen keine Marktpreise sind? Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, daß die Abschätzung der Angebots- und Preisentwicklung so schwierig ist. Das liegt daran. daß die freie Wohlfahrtspflege sich wirtschaftlich anders als private Unternehmen verhält. Während private Anbieter unter Weubewerbsbedingungen entlang ihrer

* Ich danke Uwe Fachinger. Heinz ROlhgang und Hanno Beck für kritische Durchsicht und zahlreiche Verbesserungsvorschläge.

28

Aloys Prinz

Grenzkostenfunktionen Güter und Dienstleistungen anbieten, kann das von Trägern der freien Wohlfahrtspflege nicht erwartet werden. Die Frage ist nur, woran sich die Angebotsentscheidungen dann orientieren. Die Analyse von NonproJit-Unternehmen hat mehrere Zielformulierungen herausgearbeitet, ohne letztlich entscheiden zu können, welches Verhalten tatsächlich zu erwarten ist l . Auch diese Unsicherheit muß bei einer Abschätzung der Auswirkungen des PfIege-Versicherungsgesetzes (PflegeVG) auf das Angebot an Pflegeleistungen berücksichtigt werden. Die Vorgehensweise in diesem Beitrag kann wie folgt beschrieben werden: Zunächst werden an hand des elften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) diejenigen Passagen analysiert, die vermutlich einen Einfluß auf das Leistungsangebot haben werden. Daran anschließend soll herausgearbeitet werden, welche Problembereiche sich für das Angebot an Pflegeleistungen ergeben.

B. Angebotsrelevante Regelungen des Pflege-Versicherungsgesetzes I. Grundstruktur der Beziehungen zwischen Pflegekassen und Pflegeeinrichtungen

In § 8 Abs. 2 SGB XI wird klargestellt, welche Institutionen an der Absicherung des Pflegerisikos beteiligt sind: .. Die Länder. die Kommunen, die Pflegeeinrichtungen und die Pflegekassen wirken unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes eng zusammen, um eine leistungsfähige, regional gegliederte. ortsnahe und aufeinander abgestimmte ambulante und stationäre pflegerische Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten."

Die Länder sind gehalten, auf eine ausreichende pflegerische Infrastruktur hinzuwirken 2 . Diese Aufgabe wird dahingehend konkretisiert, daß die Länder die Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen fördern sollen; dazu " ... sollen Einsparungen eingesetzt werden, die den Trägern der Sozialhilfe durch die Einführung der Pflegeversicherung entstehen."3 Die Pflegekassen sind verpflichtet, für die Sicherstellung der Versorgung ihrer Versicherten zu sorgen (§ 12 und § 69 SGB XI). Insbesondere gehört zu 1

Vgl. dazu Prinz (1993), S. 25.

2 Vgl. die amtliche Begliindung zu ~ 8 SGB XI sowie § 9 SGB XI in Schmidbauer sowie Deutscher Bundestag.

3 §

9 SGB XI.

Auswirkungen auf das Angebot von Pflegeleistungen

29

ihren Aufgaben, mit allen Beteiligten zusammenzuarbeiten und darauf hinzuwirken, daß Mängel der pflegerischen Versorgung beseitigt werden 4 . Des weiteren sollen sie die für Pflegebedürftige zur Verfügung stehenden Hilfeleistungen koordinieren 5 . Diese Aufgabe ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung, da nur so verhindert werden kann, daß infolge unterschiedlicher Zuständigkeit der Kostenträger Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung nebeneinander herlaufen. Den Pflegeeinrichtungen fällt die Aufgabe zu, konkrete Pflegeleistungen für die Pflegebedürftigen zu erbringen. Sie " ... pflegen, versorgen und betreuen die Pflegebedürftigen, die ihre Leistungen in Anspruch nehmen, entsprechend dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse."6 Für die Pflegeeinrichtungen gilt der Grundsatz der Trägervielfalt (§ 11 Abs. 2 SGB XI). Damit ist gemeint, daß öffentliche, freigemeinnützige und private Träger zur Durchführung der Pflege herangezogen werden können. Außerdem soll " ... deren Selbständigkeit, Selbstverständnis und Unabhängigkeit ... " geachtet werden (§ 11 Abs.2 SGB XI). Betont wird im Gesetz der besondere "Auftrag" kirchlicher Träger und der freien Wohlfahrtspflege bezüglich der Betreuung von Pflegebedürftigen. dem laut Gesetz ..... Rechnung zu tragen ... " (§ 11 Abs. 2 Satz 2) ist. Ferner wurde im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens folgender Satz zusätzlich in den Gesetzestext aufgenommen (§ 11 Abs. 2 Satz 3)7: .. Freigemeinnützige und private Träger haben Vorrang gegenüber öffentlichen Trägem."

Damit Pflegeeinrichtungen für die Pflegekassen tätig werden können, muß ein Versorgungsvertrag mit den Landesverbänden der Pflegekassen bestehen (§ 72 Abs. 1 SGB XI). Allerdings hat dieser Vertrag nur rein "statusbegründende" Funktion. d. h. er ist kein Beschaffungsvertrag und er enthält keine Belegungs- und Preisabsprachen 8 . Entsprechend regelt § 72 Abs. 3 SGB XI, 4

Vgl. § 12 Abs. I SGB XI.

5

Vgl. § 12 Abs. 2 SGB XI.

6

§ ll Abs. I SGB XI.

Vgl. dazu § 10 des Entwurfs (Deutscher Bundestag) sowie dessen Begründung: .. Die Regierung macht deutlich. daß auch künftig der Beitrag der kirchlichen und der übrigen Träger der freien Wohlfahrt~pflege unverzichtbar bleibt." § 69 Satz 3 SGB XI lautet: .. Dabei (Abschluß der Versorgungs- und Vergütungsverträge, d. Verf.) sind die Vielfalt. die Unabhängigkeit und Selbständigkeit sowie das Selbstverständnis der Träger von Pflegeeinrichtungen in Zielsetzung und DurchfUhrung ihrer Aufgaben zu achten." In der amtlichen Begründung heißt es dazu: ..Satz 3 konkretisiert die in § ll Abs. 2 enthaltenen Grundsätze der Vielfalt der Träger von Pflegeeinrichtungen und der besonderen Stellung der jTeigemeinnützigen Träger IIn Rahmen dieser Vielfalt für da~ 7. Kapitel." (Hervorhebung durch den Verf.) 7

~ Vgl. die amtliche Begründung zu § 72 Abs. I SGB XI.

30

Aloys Prinz

daß alle Pflegeeinrichtungen, die die gesetzlichen Anforderungen erfüllen (leistungsfähige und wirtschaftliche pflegerische Versorgung), Anspruch auf Abschluß eines Versorgungsvertrags haben 9 . Dieser Versorgungsvertrag kann mit einjähriger Frist von beiden Seiten gekündigt werden, wobei für die Landesverbände der Pflegekassen aber gilt, daß eine Kündigung nur dann möglich ist, wenn eine zugelassene Pflegeeinrichtung nicht nur vorübergehend bestimmte Anforderungen, darunter insbesondere die Gewähr für eine leistungsfähige und wirtschaftliche pflegerische Versorgung, nicht mehr erfüllt (§ 74 Abs. 1 SGB XI). Diese Ausführungen zeigen, daß der Wirtschaftlichkeit zumindest im Gesetzestext eine wichtige Bedeutung zugemessen wird. Die Landesverbände der Pflegekassen können die Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit der Pflegeleistungen durch Sachverständige prüfen lassen (§ 79 Abs. I SGB XI). Allerdings muß vor der Bestellung der Sachverständigen der Träger der Pflegeeinrichtung gehört werden. Andererseits sind die Landesverbände zur Wirtschaftlichkeitsprüfung verpflichtet, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, daß Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der Pflegeleistungen nicht mehr gegeben sind. Auch wenn es nicht zu einer Kündigung der Zulassung kommt, ist aber in § 79 Abs. 3 SGB XI ausdrücklich geregelt, daß das Prüfungsergebnis bei der nächstmöglichen Vergütungsvereinbarung zu berücksichtigen ist. Ergänzend zur Wirtschaftlichkeitsprüfung ist vorgesehen. daß auf der Grundlage von einheitlichen Grundsätzen und Maßstäben die Qualität der Pflegeleistungen gesichert und geprüft wird 10 .

*

9 In der amtlichen Begründung zu 72 Abs. 3 SOB XI wird expre.uis verbis darauf hingewiesen, daß bei der Zulassung als Versorgungseinrichtung keine "Bedarfsprüfung" erfolgt, sondern auch über den aktuellen Bedarf hinaus Pflegeeinrichtungen zuzula.~sen sind. Insofern ist unverständlich, daß in 72 Abs. 3 Satz 2 SOB XI nochmals auf den Vorrang gemeinnütziger und privater Einrichtungen hingewiesen wird. Die Begründung "bei notwendiger Auswahl zwischen mehreren geeigneten Pflegeeinrichtungen" läßt völlig offen, um welche Fälle es sich dabei handeln soll. zumal doch gemde im selben Paragraphen ein RechtsllllSpruch auf Zula.~sung geeigneter Einrichtungen festgeschrieben ist. Der Vorrang frei gemeinnütziger und privater Einrichtungen kann unter diesen Bedingungen keine Rolle mehr spielen, es sei denn, man interpretiert ihn so, daß keine neuen Pflegeeinrichtungen in öffentlicher Trägerschaft mehr aufgebaut werden sollen.

*

IU Für den Krankenhausbereich existieren bereits derartige Regelungen, siehe buch Fünftes Buch (SOB V) und 16 Abs. 6 Bundespflegesatzverordnung 1985.

*

*113 Sozial gesetz-

Auswirkungen auf das Angebot von Pflegeleistungen

31

11. Pflegevergütung

Bisher spielte sowohl bei der Krankenhausfinanzierung über die gesetzlichen Krankenversicherung als auch bei der Finanzierung von Pflegeleistungen in Pflegeheimen über die Sozialhilfe das Selbstkostendeckungsprinzip die entscheidende Rolle: den Einrichtungen wurden von den jeweiligen Kostenträgern die Kosten erstattet (§§ 4 Satz 2 und 17 Abs. I Krankenhausfinanzierungsgesetz a. F. (1984) sowie § 93 Abs.2 Bundessozialhilfegesetz) I I. Für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung wurde dieses Prinzip durch das Gesundheitsstrukturgesetz vom 21. Dezember 1992 aufgehoben. Für die Pflegeversicherung schreibt § 84 Abs. 2 Satz I SGB XI leistungsgerechte Pflegesätze (d. h. Entgelte für die voll- oder teilstationären Pflegeleistungen eines Pflegeheims, § 84 Abs. I SGB XI) vor. In der amtlichen Begründung wird expressis verbis hervorgehoben, daß damit " ... eine klare Absage an jegliche Form der Kostenerstattung .... '12 erteilt wird l3 : "Der Pflegesatz, der hier vorgeschlagen wird, hat nicht mehr die Funktion, Kosten in weitgehender Abstraktion von erbrachten Leistungen zu ersetzen, sondern konkrete vollstationäre oder teilstationäre Pflegeleistungen zu vergüten, und zwar differenziert nach dem Versorgungsaufwand, den der Pflegebedürftige nach Art und Schwere seiner Pflegebedürftigkeit benötigt."

Um das zu gewährleisten, werden drei Pflegeklassen gebildet. denen die Pflegebedürftigen zugeordnet werden; für diese Zuordnung werden grundsätzlich die Pflegestufen des § 15 SGB XI zugrunde gelegt. Die Pflegesätze sollen nach § 84 Abs. 2 Satz 4 so bemessen sein, daß der Versorgungsauftrag bei wirtschaftlicher Betriebsführung erfüllt werden kann. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, daß für Pflegeheime die Möglichkeit eröffnet wird, Gewinne oder Verluste zu machen, die bei der jeweiligen Einrichtung verbleiben. Auf diese Weise sollen Anreize für eine wirtschaftliche Betriebsführung gesetzt werden l4 . Die Vergütung für Pflegeleistungen setzt sich zusammen aus der Vergütung für die allgemeinen Pflegeleistungen (Pflegevergütung) und einem angemessenen Entgelt für Unterkunft und Verpflegung sowie gegebenenfalls Vergütun11

Siehe die amtliche Begründung zu ~ 84 Abs. 2 SGB XI in Schmidbauer. S. 56.

12

Deutscher Bundestag; Begründung zu

IJ

Deutscher Bundestag; Begründung zu § 84 Abs. 2 SGB XI.

*84 Abs. 2 SGB XI. *

14 Vgl. Deutscher Bundestag; Begründung zu 84 Ab~. 2 SGB XI. - Werden aber Pflegesätze vereinbart. die die leistungsrechtlichen Obergrenzen der Pflegeka~sen übersteigen, dann kann der darüber hinausgehende Teil entweder dem Pflegebedürftigen oder dem zuständigen SoziaJhilfeträger in Rechnung gestellt werden: .. Denn kein Pflegeheim kann gezwungen werden, seine Leistungen unterhalb seiner 'Gestehungskosten' anzubieten." Deutscher Bundestag, Begnindung zu § 84 Abs. 4 SGB XI.

32

Aloys Prinz

gen für Behandlungspflege und Zusatzleistungen; die Pflegevergütung wird von den Pflegebedürftigen oder deren Kostenträgern, die Kosten für Unterkunft und Verpflegung von den Pflegebedürftigen allein getragen (§ 82 Abs. 1 SGB XI); die Behandlungspflege ist eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung und die Zusatzleistungen müssen von den Pflegebedürftigen selbst bezahlt werden. Weder bei der Pflegevergütung noch bei den Entgelten für Unterkunft und Verpflegung dürfen Investitionsaufwendungen, Grundstückskosten, Miete, Pacht u.ä. berücksichtigt werden (§ 82 Abs. 2 SGB XI)IS. Dafür aber sollen die Länder nach § 9 SGB XI die Investitionen der Pflegeeinrichtungen "fördern". Als Kernpunkte des Pflegesatzverfahrens gelten 16: - das Vereinbarungsprinzip, - die Konfliktlösung durch eine Schiedsstelle und - die prospektive Ausgestaltung der Pflegesätze. Die Vergütungsverträge werden zwischen den Trägern des Pflegeheims und den Pflegekassen sowie dem nach Landesrecht zuständigen Träger der Sozialhilfe auf freiwilliger Basis geschlossen. Die Landesverbände der Pflegeheime, der Pflegekassen und der Verband der privaten Krankenversicherung e. V. im Land können sich am Pflegesatzverfahren beteiligen (§ 85 Abs. 2 SGB XI). Die Pflegesatzvereinbarung kommt durch Einigung des Heimträgers mit der Mehrheit der Kostenträger, die an den Verhandlungen teilgenommen haben. zustande. Anstelle der einzelnen Heimträger können auch auf Landesebene Pflegesatzvereinbarungen mit Zustimmung der betroffenen Heimträger mit der Pflegesatzkommission geschlossen werden (§ 86 SGB XI). Hat eine Vertragspartei zu Pflegesatzverhandlungen aufgefordert und kommt eine Pflegesatzvereinbarung innerhalb von sechs Wochen nicht zustande, dann setzt eine Schiedsstelle auf Antrag einer Vertragspartei die Pflegesätze fest (§ 85 Abs. 5 SGB XI i. V. m. § 76 SGB XI). Dadurch soll erreicht werden, daß Pflegesatzverhandlungen zügig durchgeführt und aufkommende Konflikte gelöst werden. Die Pflegesätze müssen vor Beginn einer Wirtschaftsperiode festgelegt sein (prospektive Pflegesätze); ein rückwirkendes Inkrafttreten wird explizit ausgeschlossenJ 7 . Dadurch soll Druck auf die Einrichtungen ausgeübt werden, die 15 Lediglich Pflegeeinrichtungen. die nicht nach Landesrecht gefördert werden, können ihre Investitionsaufwendungen den Pflegebedürftigen gesondert berechnen (§ 82 Abs. 4 SGB XI). In

Vgl. Deutscher Bundestag; Begründung zu § 85 Abs. I SGB XI.

17

Bei Nichteinigung in Pflegesatzverhandlungen gelten die alten Sätze weiter. bis neue festgesetzt

sind.

Auswirkungen auf das Angebot von Pflegeleistungen

33

Vorgaben auch einzuhalten. Kostennachweise der Heime sind nicht erforderlich, aber Leistungsnachweise können angefordert werden (§ 85 Abs. 3 SGB XI). Neben den Pflegesätzen werden auch die Entgelte für Unterkunft und Verpflegung von den Pflegesatzparteien mit den Heimträgern vereinbart; die Entgelte müssen angemessen sein (§ 87 SGB XI)18. Für die Vergütung der ambulanten Pflegeleistungen gilt, daß das Bundesarbeitsministerium eine Gebührenordnung dafür erlassen kann. Daneben ist auch eine vertragliche Vereinbarung wie bei den Pflegesätzen möglich, aber die Gebührenordnung hat Vorrang, wenn es sie gibt (§ 90 Abs. I SGB XI). Der Aufbau soll analog zur Gebührenordnung für Ärzte erfolgen (Punkte für Leistungen, Vereinbarung eines Punktwertes), aber statt der EinzeIleistungsvergütung sollen Komplexgebühren eingeführt werden l9 . Abschließend ist noch zu bemerken, daß - wie in der gesetzlichen Krankenversicherung - der Grundsatz der Beitragssatzstabilität gelten soll. Demnach haben die Pflegekassen sicherzustellen, daß die Ausgaben die Beitragseinnahmen bei gegebenem Beitragssatz nicht übersteigen (§ 70 Abs. 1 SGB XI). Vergütungsvereinbarungen, die diesem Grundsatz widersprechen, werden für unwirksam erklärt (§ 70 Abs. 2 SGB XI). Damit wird allerdings nur die Preiskomponente reguliert. Bei der Mengenkomponente (Zahl und Schwere der Pflegefalle) ist das nicht so leicht möglich. Zwar kann über die Definition der Pflegestufen indirekt Einfluß darauf genommen werden (hier muß sich zeigen, welche Rolle der Medizinische Dienst der Krankenversicherung spielen kann), wenn aber die Definitionen einmal festliegen, bestimmen die demographische und die Morbiditätsentwicklung die Mengenkomponente.

IK Heime können mit den Pflegebedürftigen Zusatzleistungen vereinbaren, die über die im Versorgungsvertrag vereinbarten notwendigen Leistungen hinausgehen (Komfortleistungen bei Unterkunft und Verpflegung sowie zusätzliche pflegerisch-betreuende Leistungen) und von den Pflegebedürftigen bezahlt werden müssen (§ 88 SGB XI). 19 Kommt mit zugelassenen Einrichtungen eine Pflegesatzvereinbarung nicht zustande, kann der Preis für ambulante oder stationäre Leistungen mit den Pflegebedürftigen vereinbart werden. Diese Kosten können von den Pflegekassen bis zur Höhe von 80 % der vorgesehenen Leistungen des Pflege-VG in Abhängigkeit von Art und Schwere des Pflegefalls erstattet werden (§ 91 SGB XI).

3 Fuchingcr/Rolhgallg

34

A10ys Prinz

C. Auswirkungen der Regelungen auf das Angebot an Pflegeleistungen I. Duale Finanzierung der Pflegeeinrichtungen

Wirtschaftswissenschaftlich gesehen gilt die Grundregel, daß "diejenige Instanz, die über die Investitionen entscheidet und mithin das Investitionsrisiko trägt, ... auch die laufenden Kosten (Folgekosten) tragen,,20 soll. Der Grund dafür ist, daß der Träger der Investitionen ansonsten nur die Investitionskosten berücksichtigt, ohne die Betriebskosten in Betracht zu ziehen. Der Krankenhausbereich ist ein gutes Beispiel dafür, wie durch duale Finanzierung beträchtliche Ineffizienzen entstehen können; kritisiert werden21 : - verfehlte Bedarfsplanung, - Aufteilung der Finanzierungsverantwortung auf verschiedene Träger, - bürokratische Verfahren bei Bewilligung und Verwendungskontrollen der Investitionsmittel, - zeitliche Verzögerungen bei der baulichen und betrieblichen Weiterentwicklung der Krankenhäuser und - staatliche Reglementierung des Krankenhausgeschehens. Da diese Kritik der dualen Finanzierung seit langem bekannt ist, sah der Entwurf des PflegeVG auch eine monistische Finanzierung vor. Die tatsächliche Regelung im Pflege-Versicherungsgesetz läßt demgegenüber die Finanzierung der Investitionskosten offen. Es ist lediglich geregelt, daß betriebsnotwendige Investitionsaufwendungen nicht in der Pflegevergütung und in den Entgelten für Unterkunft und Verpflegung berücksichtigt werden dürfen, aber den Pflegebedürftigen unter bestimmten Voraussetzungen gesondert berechnet werden können (§ 82 Abs. 3 SGB XI). Daneben gibt es lediglich in § 9 SGB XI eine Aufforderung des Bundes an die Länder, die Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen finanziell zu fördern. Allerdings können sich die Länder der Finanzierung der Investitionskosten nach dieser Regelung nur insoweit entziehen, als die Pflegebedürftigen die ihnen übertragenen Anteile der Investitionskosten auch eigenständig bezahlen können. Ist das in großem Umfang nicht der Fall. fällt die Finanzierung über die Sozialhilfe wieder auf die Kommunen bzw. die Länder zurück. Diese Regelung unterscheidet sich beträchtlich von der ehemals geplanten. Die Investitionsfinanzierung sollte demgemäß über einen Investitionszuschlag

211

Prinz (1993). S. 23.

21 Vgl. die allgemeine Begründung des Pflege-Versicherungsgesetzentwurfs. abgedruckt in SchmiJbauer. hier S. 90. Siehe auch die Kritik aus Sicht der Wohlfahrtspflege bei Staiber I Kuhn. S.

67 ff.

Auswirkungen auf das Angebot von Pflegeleistungen

35

auf die Pflegevergütung erfolgen und von den Pflegekassen getragen werden 22 . Damit hätten die Investitionsentscheidungen allein in den Händen der Träger von Pflegeeinrichtungen gelegen und die o. g. Probleme der dualen Finanzierung wären vermieden worden. Dem steht auch nicht entgegen, daß im Entwurf ein Bundeszuschuß zur Investitionsfinanzierung (aus Einsparungen der Länder bei der Sozialhilfe) vorgesehen war23 , da die Investitionsentscheidung von den Pflegeeinrichtungen getroffen wird24 . In den kommenden Jahren wird damit gerechnet, daß pro Jahr etwa 3,6 Mrd. DM für Neubau, Erneuerung und Sanierung von Pflegeheimen und Sozialstationen aufgewendet werden müssen 25 . Die Länder könnten dafür einen Teil der Einsparungen bei der Sozialhilfe, die auf 7 bis 8 Mrd. DM geschätzt werden 26 , verwenden. Bei einer dualen Finanzierung der Pflegeeinrichtungen über die Investitionsförderung der Länder einerseits und über mit den Pflegekassen vereinbarten Pflegesätze andererseits ist eine direkte Kapazitätsbeeinflussung durch die Länder über die Vergabe von Investitionsfördermitteln möglich. Dieser Effekt kann sogar erwünscht sein, um v. a. die Heimkapazitäten knapp zu halten. Das ist dann erforderlich, wenn die Nachfrage nach Heimpflege infolge des Versicherungsschutzes preisunreagibel wird und bis zur Sättigungsgrenze expandiert. Ein Weg, die Kosten unter Kontrolle zu halten, besteht darin, die Kapazität der Pflegeheime über die Kürzung der Investitionsmittel zu beschränken. Es ist jedoch naheliegend, daß die Länder kein Interesse daran haben, die Heimkapazitäten - insbesondere bei unbefriedigter Nachfrage nach Heimplätzen - zu begrenzen. Es bietet sich vielmehr an, über eine Ausdehnung der Kapazitäten bis zur Sättigungsgrenze Wählerstimmen zu gewinnen. Auf diese Weise kann mittels der Bettenzahl in Pflegeheimen und der Zahl ambulanter Pflegestationen Landespolitik gemacht werden. ohne die Folgekosten (Betriebskosten der Einrichtungen) tragen zu müssen. Zumindest im Kranken-

*I()() Abs. 2.

22

Deutscher Bundestag,

23

Deutscher Bundestag, § 69.

24 Im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung wurde diese Finanzierungsform wegen des Bundeszuschusses als "pseudo-monistisch" bezeichnet; siehe Bericht, S. 24. Demnach könnte man die neue Finanzierung als "pseudo-dual" beschreiben, wenn sich die Länder möglicherweise nicht oder kaum an der Finanzierung beteiligen.

3*

25

Vgl. Bericht, S. 24.

26

Vgl. Rüdiger, S. 57.

36

A10ys Prinz

hausbereich hat diese Praxis zu Ineffizienzen bei der Leistungserbringung geführt 27 . Eine monistische Finanzierung demgegenüber sieht keine direkte staatliche Kontrolle der Kapazitäten bei Pflegeeinrichtungen vor. Investitionsentscheidungen werden den Trägern der Einrichtungen überlassen und erfolgen daher dezentral. Man könnte einwenden, daß gerade darin ein Nachteil der monistischen Finanzierung liegt, daß die Länder als für die Pflege-Infrastruktur verantwortlichen Instanzen keine Kapazitätskontrolle mehr ausüben können. Das ist insoweit richtig, als die Investitionsentscheidungen von den Trägern der Pflegeeinrichtungen getroffen werden. Allerdings erfolgt bei monistischer Finanzierung eine indirekte Kapazitätssteuerung über die globale Ausgabenbegrenzung für die Pflegekassen (Grundsatz der Beitragssatzstabilität). Nur diejenigen Mittel können für Investitionen verwendet werden, die nicht zur Finanzierung der laufenden Kosten gebraucht werden. Daraus ergibt sich eine indirekte Begrenzung der Zahl und Größe von Einrichtungen. Hier kann eher davon ausgegangen werden, daß die bereitgestellten Kapazitäten auch ausgelastet werden. Ein direkter staatlicher Einfluß auf die Kapazitäten ist dann nur noch durch die Vergabe von Subventionen für Investitionen möglich 28 . Inwieweit die gewählte Finanzierungsform für Investitionen von Nachteil sein wird, kann noch nicht abschließend beurteilt werden. Möglicherweise wird sich die gefundene Lösung sogar als günstig erweisen, v. a. wenn die Länder sich nicht oder kaum an der Investitionsfinanzierung beteiligen. Dann steigt der Selbstbehalt (bestehend aus "Hotelkosten" und Investitionskostenanteil) der Pflegebedürftigen insbesondere bei der Entscheidung für Pflege im Heim und dämpft die Nachfrage nach dieser Pflegeart. Dieser Effekt wäre identisch mit dem einer monistischen Finanzierung unter der Bedingung, daß die Obergrenzen für Leistungen der Pflegekassen gegenüber dem jetzigen Stand nicht verändert würden und eine Subventionierung der Investitionen unterbliebe.

27 Zum Zusammenhang von Krankenhausfinanzierung und Versorgungseffizienz vgl. z. B. Holler. Empirische Effizienzvergleiche sind nur indirekt über die Schätzung von Krankenhauskostenfunktionen möglich; vgl. Breyer I Zweifel. S. 30 I ff. Dabei ergibt sich für Deutschland. daß insbesondere öffentliche Krankenhäuser höhere Kosten aufweisen als andere Krankenhaustypen; vgl. Breyer I Zweite!. S.312. 2K Bei monistischer Finanzierung wäre eine Anschubfinanzierung von Investitionen erforderlich ge_ wesen. wie sie auch im Entwurf des PfIegeVG vorgesehen war.

Auswirkungen auf das Angebot von Pflegeleistungen

37

11. Pflegesatzverhandlung und Pflegevergütung

1. Abkehr vom Selbstkostenerstattungsprinzip

Das volkswirtschaftliche Oberziel im Rahmen der Pflegeversicherung ist die Versorgung der Bevölkerung mit Pflegeeinrichtungen zu den niedrigsten volkswirtschaftlichen Kosten (Allokationseffizienz). Das setzt zunächst einmal voraus, daß die bereitzustellenden Pflegeleistungen genau definiert sind. Nach dem PflegeVG erfolgt die Festlegung von Art, Inhalt und Umfang der allgemeinen Pflegeleistungen im Versorgungsvertrag zwischen Pflegeeinrichtung und Pflegekasse (§ 72 Abs. 1 SGB XI), wobei die notwendige räumliche, personelle und sachlich-technische Ausstattung festgelegt wird29 . Für die Leistungsbereitstellung äußerst wichtig ist der Verzicht auf das Prinzip der Selbstkostenerstattung. Dieses Prinzip führt dazu, daß jeder Anreiz zur Wirtschaftlichkeit entfällt. Jeder Leistungsanbieter kann bei dieser Regelung so viele Ressourcen verschwenden wie er will, ohne daß dadurch bei ihm selbst negative Folgen, also Verluste, auftreten können. Zwar kann der Leistungsträger qualitativ gute Leistungen erbringen, aber er wird dabei i. d. R. Inputfaktoren (Arbeit, technische Ausstattung, Sachmittel) im Überfluß und in einem ineffizienten Verhältnis zueinander einsetzen. Die einzigen Beschränkungen, die verhindern, daß die Verschwendung ins Unermeßliche steigt, sind Ressourcenbeschränkungen durch direkte staatliche Vorgaben (Personaleinsatz, Beschaffung von Technik etc.). Daher ist es außerordentlich wichtig, daß dem Selbstkostenerstattungsprinzip eine Absage erteilt wurde. Weiterhin erwähnenswert ist, daß gesetzlich zwingend prospektive Pflegesätze vorgeschrieben sind. Dadurch soll erreicht werden, daß für die Zukunft ein festes Budget vorgegeben wird, das nicht ohne negative Sanktionen überschritten werden darf. Allerdings sind die Auswirkungen gegenüber der Verwendung historischer Kosten nicht gravierend anders. Denn auch die Vorausschätzung der Kostenentwicklung wird sich an den Erfahrungen aus der Vergangenheit und an der erwarteten Kostenentwicklung orientieren. Die Leistungsträger werden somit ein Budget anstreben, das ihre Kosten deckt. Daher führt ein prospektives Budget an und für sich kaum zu effizienterem Wirtschaften als ein Budget, das sich an der Vergangenheit orientiert. Von entscheidender Bedeutung ist aber die Abkehr vom Kostenerstattungsprinzip.

29 Diese Regelungen können aber auch in Rahmenverträgen und Bundesempfehlungen vorgenommen werden (§ 72 Abs. 2 i. V. m. § 75 SGB XI).

38

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Problematisch ist dagegen, daß gemäß § 84 Abs. 4 SGB XI bei Pflegesätzen, die die Leistungsobergrenzen der Pflegekassen überschreiten, die nicht gedeckten Kosten auf die Pflegebedürftigen oder die Sozialhilfe überwälzt werden können. Diese Regelung kann dazu führen, daß defizitäre und unwirtschaftliche Pflegeeinrichtungen nicht vom Markt verschwinden müssen, sondern ihre Verluste finanzieren können 30 . Zwar wird damit die Kostenerstattung über die Pflegeversicherung vermieden, aber es bestehen weiterhin Ausweichmöglichkeiten statt der volkswirtschaftlich sinnvollen Konsequenzen, die Kosten zu senken oder aus dem Markt auszuscheiden. 2. Preisbildungsmechanismen für Pflegeleistungen

Die Kosten der (ambulanten und stationären) Pflegeleistungen ergeben sich durch die "Mengenkomponente" (die Zahl der Pflegeleistungen bzw. -bedürftigen nach Art und Schwere) und die "Preiskomponente", d. h. die Pflegesätze und die Vergütung für ambulante Pflege. Die Mengenkomponente kann von den Leistungsträgern nur insofern beeinflußt werden, als es um die Eingruppierung in die Pflegestufen bzw. Pflegeklassen geht31 . Somit kommt der Preiskomponente, also der Pflegevergütung, eine wichtige Rolle bei der Realisierung der Wirtschaftlichkeit der Leistungserstellung zu. In § 70 SGB XI wird als wichtiges Ziel die Beitragssatzstabilität postuliert. Dem wird dadurch Nachdruck verliehen, daß die Dynamisierung der Leistungen " ... im Rahmen des geltenden Beitragssatzes ... und der sich daraus ergebenden Einnahmenentwicklung ... "32 erfolgen soll. Ob es gelingen wird, dieses Ziel zu erreichen, oder ob mit eklatanten Fehlschlägen wie im Krankenversicherungsbereich zu rechnen ist, hängt nicht unwesentlich von der Ausgestaltung des Preisbildungsprozesses ab. Grundsätzlich stehen drei Preisbildungsmechanismen zur Verfügung 33 : - Marktpreise, - Verhandlungspreise und - administrierte Preise. Verhandlungspreise nehmen dabei eine mittlere Stellung zwischen Marktpreisen auf der einen und administrierten Preisen auf der anderen Seite ein. 30 Im Einzelfall wird dies davon abhängen. wie stark die Selbstzahler und die Sozialhilfeträger auf dadurch bedingte Preisunterschiede zwischen den Pflegeeinrichtungen reagieren. 31 Wieweit der Medizinische Dienst der Krankenversicherung hier seine "Türsteher"-Funktion erruHen kann, bleibt abzuwarten.

32 § 30 SGB XI. 33 Vgl.

Breyer I Zweif'el, S. 331 f.

Auswirkungen auf das Angebot von Pflegeleistungen

39

Marktpreise bilden sich am Markt durch das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage, Verhandlungspreise werden zwischen Vertretern der Nachfrage- und denen der Angebotsseite ausgehandelt und administrierte Preise werden von einer staatlichen Behörde oder einer hierfür beauftragten Institution vorgeschrieben. Bei der Pflegeversicherung spielen alle drei Mechanismen eine Rolle. Die Inputfaktoren sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Pflege (Pflegehilfsmittel etc.) werden von den Pflegeeinrichtungen i. d. R. am Markt zu Marktpreisen gekauft34 . Bei den Pflegesätzen für den stationären Bereich handelt es sich - wie bei der Krankenversicherung auch - um Verhandlungspreise. Administrierte Preise sind für die Vergütung ambulanter Pflegeleistungen vorgesehen und treten in Kraft, wenn die geplante Gebührenordnung (§ 90 SGB XI) vom Bundesarbeitsministerium erlassen wird. Andernfalls wird die Vergütung zwischen den Trägern des Pflegedienstes sowie den Pflegekassen und dem zuständigen Träger der Sozialhilfe (soweit auf den Kostenträger im Vorjahr mehr als fünf Prozent der vom Pflegedienst betreuten Pflegebedürftigen entfielen) vereinbart (§ 89 Abs. I und 2 SGB XI)35.

Im folgenden ist nun zu prüfen, ob Verhandlungspreise als beste ökonomische Lösung angesehen werden können. Damit eine effiziente Leistungserstellung erreicht wird, müssen auf der Angebotsseite folgende Bedingungen erfüllt sein36: - Die Preise müssen Knappheitsindikatoren sein. - Es darf keine Marktrnacht vorliegen, d. h. die einzelnen Anbieter dürfen keinen Einfluß auf die Preishöhe haben. Die Preise müssen für alle Anbieter gleich sein. Bei auf Märkten mit einer Vielzahl von Anbietern ohne Marktrnacht gehandelten Gütern und Dienstleistungen kann man i. d. R. davon ausgehen. daß die sich bildenden Marktpreise diese Bedingungen erfüllen. Damit aber der Preiswettbewerb sinnvoll sein kann, ist erforderlich. daß die Nachfrage überhaupt auf Preise reagiert. Für Pflegeleistungen nach dem PflegeVG ist diese Bedingung aber nur für die Kosten für Unterkunft und Verpflegung erfüllt, da die 34 Die Entlohnung des Pflegepersonals erfolgt zu zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelten Tarifen oder in Anlehnung an diese Tarife. Allerdings ist die Entlohnung von den Pflegeeinrichtungen kaum beeinflußbar und als exogen gegeben anzusehen.

3S

Bisher gibt es keine Anzeichen dafür. daß eine Gebührenordnung erlassen wird.

Vgl. Breyer. S. 35. - Sie stellen somit insgesamt gesehen nur notwendige. keine hinreichenden Bedingungen für Effizienz dar. 36

40

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Pflegeleistungen ansonsten von der Versicherung (bis zu einer Höchstgrenze) getragen werden. Damit aber führen Marktpreise für Pflegeleistungen nicht notwendigerweise zu effizienter Leistungsbereitstellung37 . Verhandlungspreise geben zwar auch Knappheitssignale und entsprechen insofern der ersten o. g. Bedingung, aber sie haben den großen Nachteil, daß die Leistungsanbieter selbst die Preise (Pflegevergütungen) beeinflussen können. Gerade dieser Einfluß beeinträchtigt die Effizienz; Ziel ist es ja, Leistungen zu möglichst niedrigen volkswirtschaftlichen Kosten bereitzustellen. Wenn die Anbieter wissen, daß ihre eigenen Kosten die Preise beeinflussen, besteht kein Anreiz mehr, die Kosten zu minimieren - sie können über die auszuhandelnden Preise wieder hereingeholt werden. Die Kostenträger haben in diesen Verhandlungen eine schlechte Position, da die Einrichtungen auf die Besonderheiten ihres Einzelfalls hinweisen und damit die Vergleichbarkeit mit anderen Einrichtungen bestreiten können. Dieser Effekt wird noch dadurch verstärkt, daß die Einrichtungen der freien Wohlfahrtsptlege kein Gewinninteresse haben. Die minimalen volkswirtschaftlichen Kosten der Bereitstellung können dann nur noch dadurch erreicht werden, daß die Pflegesätze als staatlich administrierte Preise vorgegeben werden und diese sich an den jeweils niedrigsten Kosten einer Pflegeeinrichtung orientieren 38 . Die Konsequenz daraus wäre aber, daß ein sehr großer Anteil von Einrichtungen Verluste machen würde. Somit wäre die Versorgung mit Pflegeleistungen zumindest kurzfristig gefährdet. Als Ausweg bietet es sich an, die Pflegesätze an den durchschnittlichen Kosten der Pflegeeinrichtungen zu orientieren 39 . In diesem Fall machen alle Einrichtungen mit höheren Kosten Verluste und müssen entweder aus dem Markt ausscheiden oder ihre Effizienz steigern. Über die Zeit käme es dann zu einem Absinken der Kosten in Richtung auf die minimalen volkswirtschaftlichen Kosten, da die jeweils über dem Durchschnitt liegenden Einrichtungen durch die Verluste gezwungen werden, sich an die Kosten des Durchschnitts anzupassen, die dadurch aber gesenkt werden. Hier zeigt sich auch die Bedeutung der dritten der o. g. Bedingungen, daß die Preise für die Anbieter identisch sein müssen. Schließlich sollen gerade diejenigen Anbieter aus dem Markt ausscheiden, die die Leistungen mit zu hohen Grenzkosten produzieren. Bei identischen Preisen ist gewährleistet, daß alle Anbieter auch an dem gleichen Kriterium gemessen werden.

37

Vgl. Breyer, S. 35. für den Krankenhausbereich.

3M

Vgl. dazu für die Krankenversicherung Breyer I Zweif'e/. S. 333 ff.

39

Vgl. Breyer I Zweifel. S. 333 ff.

Auswirkungen auf das Angebot von Pflegeleistungen

41

Ein weiterer Vorteil dabei ist, daß auch für die Einrichtungen mit durchschnittlichen Kosten ein Anreiz besteht, nach weiteren Kostensenkungsmaßnahmen zu suchen, da sie auf diese Weise Gewinne erzielen können. Dadurch wird das Kostenbewußtsein gestärkt. Voraussetzung dafür ist aber, daß die Einrichtungen bei der Gewinnverwendung nicht allzu sehr eingeschränkt sind, da ansonsten die Chance, Gewinne zu erzielen. keinen Anreiz für Kostensenkungen darstellt. Damit es in diesem Prozeß nicht zu Qualitätssenkungen kommt, ist die Vorgabe und Kontrolle der Leistungen und ihrer Qualität unerläßlich. Der Nachteil administrierter Preise besteht darin, daß sie nicht in jedem Fall den lokalen Knappheitsverhältnissen Rechnung tragen. Leider scheint es keinen Ausweg zu geben, der alle drei Bedingungen gleichzeitig erfüllen kann 40 . Es bleibt demnach ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen der Brauchbarkeit von Verhandlungspreisen, die Knappheitsindikatoren darstellen, aber von den Anbietern beeinflußt werden können, und administrierten Preisen, die von den Anbietern nicht beeinflußbar und für alle identisch sind (auch diese Bedingung ist bei Verhandlungspreisen i. d. R. nicht erfüllt), aber nicht in jedem Fall den Knappheitsverhältnissen entsprechen. Die hier vertretene Entscheidung gegen Verhandlungspreise basiert nicht zuletzt auf den schlechten Erfahrungen, die mit ihnen im Krankenhausbereich gemacht wurden. Gerade dort sieht das Gesundheitstrukturgesetz 1992 einen Übergang auf Fallpauschalen vor, die letzten Endes nichts anderes als administrierte Preise sind. Zumindest in der Praxis hat sich gezeigt, daß über Verhandlungspreise trotz der Möglichkeit von Krankenhausbetriebsvergleichen und Wirtschaftlichkeitsprüfungen nicht verhindert werden konnte, daß die Streuung der Kosten (und damit der Pflegesätze) zwischen den Krankenhäusem groß war und ineffiziente Einrichtungen weiterbestehen konnten. Administrierte Preise - z. B. als "Fallpauschalen für Pflegefallgruppen" können bei Kenntnis der Durchschnittskosten der (ambulanten und stationären) Einrichtungen ohne weiteres allein von einer Behörde festgesetzt werden 41 . Darin besteht gerade der Vorteil gegenüber einer Verhandlungslösung, in der die Einrichtungen mit ihren individuellen Kosten die Vergütung mitbestimmen. Für den Pflegebereich sollte man daher aus den Erfahrungen im Krankenhausbereich lernen und nicht bereits gescheiterte Methoden verwenden. 4n Vgl. dazu auch

Breyer, S. 36.

Die Durchschnittskosten sollten über die Daten der Sozialhilfeträger oder direkt bei den Einrichtungen ennittelbar sein. 41

42

Aloys Prinz

Im PflegeVG ist nur für den ambulanten Bereich die Möglichkeit einer staatlichen Vorgabe der Leistungsvergütung vorgesehen. Es ist zu empfehlen, eine solche Gebührenordnung zu erstellen und sie an den durchschnittlichen Kosten der Leistungserbringung zu orientieren. Für den Bereich der stationären Pflege sind, wie weiter oben ausgeführt, ausschließlich Verhandlungspreise in Form von Pflegesätzen vorgesehen. Das Allokationsergebnis hängt dann davon ab, wer sich in den Verhandlungen durchsetzen kann. Im Gesetz sind zwei alternative Verfahren für Pflegesatzvereinbarungen vorgegeben. Kommt es zu sog. kollektiven Pflegesatzverhandlungen in Pflegekommissionen auf Regional- oder Landesebene (§ 86 SGB XI), in denen die Einrichtungen durch Vereinigungen der Heimträger vertreten werden, kann erwartet werden, daß eine Orientierung an den regionalen Pflegekosten stattfindet, während bei individuellen Verhandlungen (§ 85 SGB XI) der Leistungsträger mit dem Träger des Pflegeheims eher davon auszugehen ist, daß man sich an den heimspezifischen Kosten orientiert. Beide Verfahren scheinen damit apriori gegenüber administrierten Preisen im Nachteil zu sein. Zu beachten ist auch, daß die Sozialhilfeträger zwar an den Pflegesatzverhandlungen teilnehmen, sich i. d. R. aber wohl gegenüber den Pflegekassen in der Minderheit befinden. Wenn eine exakte Kostenzurechnung zwischen Pflegeleistungen einerseits sowie "Hotelleistungen" (Unterbringung und Verpflegung) andererseits nicht möglich ist, kann es dazu kommen, daß sich ein Kostenanstieg bei den Pflegeleistungen in der Erhöhung der Kosten für Unterkunft und Verpflegung niederschlägt. Diese Möglichkeit zeigt einen strukturellen Mangel des Gesetzes auf, da die Kostenträger in unterschiedlichem Maße an den Pflegesatzverhandlungen beteiligt sind: Während alle Pflegekassen, mit denen mindestens fünf Prozent der Pflegetage des Pflegeheims abgerechnet werden, an den Verhandlungen teilnehmen, stehen ihnen ein Vertreter der Sozialhilfeträger und überhaupt kein Vertreter der Pflegebedürftigen gegenüber4 2 . Aus volkswirtschaftlicher Sicht wäre es besser, auf Landesebene würden die Pflegesätze administrativ an hand der Entwicklung der durchschnittlichen Kosten der Einrichtungen festgelegt43 .

42 Auch die Regelung in § 75 Abs. I und 2 SGB XI, nach der in Rahmenvenrägen eine Abgrenzung zwischen allgemeinen Pflegeleistungen, Leistungen bei Unterkunft und Verpflegung sowie Zusatzleistungen getroffen wird, kann dieses strukturelle Verhandlungsungleichgewicht nicht beheben, da die Zurechnung von Kosten damit noch nicht endgültig festliegt. Zudem werden die Rahmenverträge zwischen den Landesverbänden der Pflegekassen, den Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen im Land (unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes) und der (überörtlichen und der Arbeitsgemeinschaften der örtlichen) Sozialhilfeträger geschlossen.

43

Auswirkungen auf da~ Angebot von Pflegeleistungen

Wie die Erfahrungen der Sozialhilfe mit der stationären Pflege (Tabelle 1) zeigen, brachten die Verhandlungen mit den Leistungsträgern relativ hohe Pflegesatzsteigerungen mit sich. Bei der Hilfe zur Pflege innerhalb von Einrichtungen machen Steigerungen der Durchschnittskosten je Pflegefall - also die Preiskomponente - den größten Anteil der Ausgabensteigerungen aus 44 : Die Zahl der Empfänger/innen stieg zwischen 1963 und 1992 auf das 2.4faehe, während die realen Durchschnittskosten je Pflegefall auf das 3.9fache gestiegen sind. Tabelle I

Entwicklung der Hilfe zur Pflege in Einrichtungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) 1963-1992 Jahr

Ausgaben in Mill. DM·)

Index

Empfanger in Tsd.

Index

DMlEmr ranger"

Index

1963 1967 1970 1973 1977 1980 1983 1987 I990b) 1991 b) 1992b)

1057 1518 1944 2791 4395 5188 5859 7133 8207 8818 9868

100 144 184 264 416 491 554 675 776 834 934

124 157 166 188 226 237 243 266 277 288 296

100 127 134 152 182 191 196 214 223 231 238

8493 9639 11702 14835 19484 21921 24141 26844 29607 30629 33325

100 113 138 175 229 258 284 316 349 361 392

.) Reale Werte; Deflationierung erfolgte mit dem Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte (1985 = 100). b) Frtlheres Bundesgebiet. Quelle: Eigene Berechnungen auf der Grundlage Statistisches Bundesamt (1975) und Statistisches Bundesamt (1977, 1980, 1983, 1987, 1990, 1991, 1992) und Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Anhand von Tabelle 2 kann unmittelbar erkannt werden, daß bei der Hilfe zur Pflege außerhalb von Einrichtungen die Steigerungsraten der Zahl der Empfänger/innen höher waren als die der realen Kosten je Empfängerlin (Steigerungen auf das 5.6- bzw. 2.3fache des Wertes von 1963). Hierbei han43 Grundsätzlich kann aus Preissteigerungen zwar nicht auf lneffizienzen geschlossen werden, sie können aber auf Ineffizienzen beruhen. Zudem wird hier argumentiert, daß die Regelungen des Gesetzes bestimmte lneffizienzen nahelegen. - Generell ist davon auszugehen, daß Preissteigerungen unvermeidlich sind, zumindest in dem Maße, in dem sich die Löhne und Gehälter in anderen Bereichen entwickeln. Auf die "Kostenkrankheit" personengebundener Dienstleistungen hat bereits Baumo/ hingewiesen. 44

Vgl. auch Prinz (1987), S. 19 ff.

44

Aloys Prinz

delt es sich allerdings um Leistungen, deren Höhe exogen vorgegeben werden kann und nicht nach Bedarfsgrundsätzen oder dem Kostenerstattungsprinzip bestimmt wird. Tabelle 2

Entwicklung der Hilfe zur Pflege auBerhalb von Einrichtungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) 1963-1992 Jahr

Ausgaben in Mill. OMa)

Index

Empfanger in Tsd.

Index

DMlEmrfanger"

Index

1963 1967 1970 1973 1977 1980 1983 1987 I990b) 1991 b) 1992b)

85 134 252 371 689 854 813 1022 1282 1169 1107

100 158 296 436 811 1005 956 1202 1508 1375 1302

41 69 95 148 201 227 218 242 269 256 232

100 168 230 358 487 551 530 586 653 621 564

2054 1953 2661 2511 3440 3758 3726 4232 4766 4570 4768

100 95 130 122 167 183 181 206 232 222 232

a) Reale Werte; Deflationierung erfolgte mit dem Preisindex fLir die Lebenshaltung aller privaten Haushalte (1985 = 100). b) FlÜheres Bundesgebiet. Quelle: Eigene Berechnungen auf der Grundlage Statistisches Bundesamt (1975) und Statistisches Bundesamt (1977, 1980, 1983, 1987, 1990, 1991, 1992) und Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Möglicherweise wird die Beitragssatzstabilität (§ 70 i. V. m. § 30 SGB XI) bei der Pflegeversicherung eine größere Rolle spielen als bisher bei der Krankenversicherung. Gründe dafür sind, daß nach § 70 Abs. 2 SGB XI alle Vereinbarungen, die der Beitragssatzstabilität entgegen stehen, unwirksam sind und nach § 30 SGB XI die Leistungen nur im Rahmen der Einnahmenentwicklung bei konstantem Beitragssatz erhöht werden sollen. Zumindest können die Pflegekassen in Pflegesatzverhandlungen darauf verweisen und damit drohen, die Verhandlungen scheitern zu lassen. Auch in einem anschließenden Schiedsstellenverfahren bestünde die Chance, sich durchsetzen zu können, da auch diese Institution an das Gesetz gebunden ist. Voraussetzung dafür ist, daß diese Regelung von Anfang an eingehalten und nicht durchbrachen wird. Ob diese Chancen aber auch tatsächlich genutzt werden, ist fraglich, zumal nicht klar ist, ob für die Pflegekassen ein Anreiz vorhanden ist, auf wirtschaftliche Leistungserbringung hinzu wirken. Hier zeigt sich wiederum die Problematik von Verhandlungspreisen, die durch die Vorgabe administrierter Preise umgangen werden könnte.

Auswirkungen auf das Angebot von Pflegeleistungen

45

D. Problembereiche des Angebots an Pflegeleistungen I. Das Angebotsverhalten freigemeinnütziger Träger

Freigemeinnützige Einrichtungen gehören zu den sog. NonproJit-Unternehmen. Der Konstruktion nach ist diesen Unternehmen das Gewinnziel fremd. Damit aber stellt sich die Frage. nach welchen Kriterien die Angebotsentscheidung getroffen wird und ob die Dienstleistungen auch zu minimalen volkswirtschaftlichen Kosten erzeugt werden. Ein großes Problem besteht darin, daß es sehr wenig Informationen über die wirtschaftliche Tätigkeit der Unternehmen der freien Wohlfahrtspflege gibt45 . Daher bewegen sich die folgenden Überlegungen auf etwas unsicherer Datengrundlage. Nonprojit-Unternehmen können durch folgende Charakteristika von gewinnorientierten Unternehmen unterschieden werden 46 : Sie dürfen keine Gewinne an ihre Mitglieder und Beschäftigten ausschütten. Daraus ergibt sich auch unmittelbar eine Beschränkung für die Entlohnung des Managements. Wäre das nicht der Fall, könnten Gewinne erzielt und an das Management über die Entlohnung ausgeschüttet werden. Damit wäre aber der wichtigste Unterschied zu privaten Unternehmen hinfällig. In der Regel werden nicht alle Kosten bei der Aushandlung der Leistungspreise berücksichtigt. Offensichtlich soll der Gewinn bei der Angebotsentscheidung von NonproJit-Unternehmen keine Rolle spielen. Das hat aber eine wichtige Konsequenz: die Unternehmen haben keinen Anreiz, ihre Kosten zu minimieren47 . Das heißt die Dienstleistungsunternehmen der freien Wohlfahrtspflege produzieren vermutlich nicht mit der Minimalkostenkombination der Produktionsfaktoren und wären daher als produktions-ineffizienr4 8 zu bezeichnen49 .

45 Lediglich die Arbeit von GoLl enthält einiges an empirisch velWertbaren Daten. Allerdings zeigt diese Arbeit auch, wie wenig Ober diesen Bereich bekannt ist. 46

Vgl. Easley I

o'Ha ra und die Zusammenstellung in Prinz (1993), S. 26.

Technisch gesprochen ist Kostenminimierung das Dual zu Gewinnmaximierung. Wird keine Gewinnmaximierung angestrebt, dann werden auch die Kosten nicht minimiert. 47

4l!

Das Faktoreinsatzverhältnis ist nicht optimal.

49 Nonprofit-Untemehmen wie die freie Wohlfahrtspflege haben viele Ähnlichkeiten mit öffentlichen Unternehmen. Büs stellt eine Klassifizierung für die Ineffizienzen öffentlicher Unternehmen auf, der hier gefolgt wird.

46

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Ferner ist zu erwarten, daß zur Produktions-Ineffizienz die sog. X-IneJfizienz50 hinzukommt. X-Ineffizienz entsteht dadurch, daß die Aufsichtsgremien von Unternehmen nicht in der Lage sind, genau nachzuvollziehen, welche Aufwendungen zur Outputerstellung berechtigt sind und welche "reine Verschwendung" darstellen, also gar nichts zum Produktionsergebnis beisteuern (z. B. wenn Manager sich eine angenehme Arbeitsatmosphäre auf Kosten des Unternehmens verschaffen). Bei den Unternehmen der freien Wohlfahrtspflege wurde bisher vorgeschrieben, welche Kosten in Pflegesatzverhandlungen berücksichtigungsfähig waren. Damit wurde die X-Ineffizienz begrenzt. Recht schwierig zu beantworten ist die Frage, wonach sich Nonprofit-Unternehmen bei der Leistungserstellung überhaupt richten. Folgende Ziele werden in der Literatur genannt51 : - Kostendeckung (wobei Quantität und Qualität der Leistungen exogen, z. B. durch den Staat, vorgegeben werden), - Maximierung der erstellten Leistungen, - Maximierung der erstellten Leistungsqualität, - Nutzenmaximierung des Managements, d. h. die Personen in leitender Funktion bestimmen das Outputbündel mit denjenigen Inputs, die ihren eigenen Nutzen maximieren (hier ergibt sich eine unmittelbare Verknüpfung mit der X-Ineffizienz) und - Budgetmaximierung. Bei den Pflegeleistungen wird es voraussichtlich dazu kommen, daß von staatlichen Instanzen Quantität und Qualität der einzelnen Hilfeleistung - je nach Schweregrad des Pflegefalls - vorgegeben werden; im Gesetz sind jedenfalls die dazu erforderlichen Grundlagen schon geschaffen (insbesondere in § 72 Abs. I i. V. m. § 43 Abs. 2 SGB XI). Um sich am Markt behaupten zu können, werden die Einrichtungen (mindestens) Kostendeckung anstreben müssen, wobei noch einige Wege dazu offenstehen: Kostensenkung, höhere Vergütung oder Abwälzung der Kosten auf die Pflegebedürftigen bzw. die Sozialhilfe. Unabhängig davon, welche Strategie die Leistungsträger verfolgen, resultieren allokative Ineffizienzen. Diese entstehen dadurch, daß die NonproJit-Anbieter sich bei der Leistungserstellung nicht an den Grenzkosten orientieren, wie das bei gewinnorientierten Unternehmen erwartet werden kann.

50

Es werden bestimmte Faktormengen verschwendet.

Vgl. Rosko! Broyles, S. 107-129, sowie Rapoport et al., S. 220-248, und die Zusammenstellung in Prinz (1993), S. 25 . 51

Auswirkungen auf das Angebot von Pflegeleistungen

47

Zu fragen ist, ob sich an diesem Ergebnis etwas ändert, wenn NonprofitUnternehmen mit gewinnorientierten privaten Dienstleistungsunternehmen konkurrieren (müssen). Wenn - wie es im Gesetz vorgesehen ist - alle diejenigen Anbieter zugelassen werden, weIche die Voraussetzungen erfüllen, und keine Bedarfsprüfung zwischengeschaltet wird, muß es zu Wettbewerb zwischen den Anbietern kommen. Allerdings ist dabei zu beachten, daß die privaten Anbieter auf jeden Fall Kostennachteile haben, da sie besteuert werden und keine Zivildienstleistenden beschäftigen können. Außerdem ist bisher ungeklärt, ob und gegebenenfalls wie die Länder die Investitionsmittel auf die potentiellen Anbieter verteilen werden. Wenn die Länder tatsächlich Investitionsmittel zur Verfügung stellen würden, bestünde eine Möglichkeit der Mittelverteilung darin, analog zum Krankenhausbereich "Landespflegeeinrichtungspläne" aufzustellen, wobei nur diejenigen Anbieter Investitionsmittel erhalten würden, die in den Plan aufgenommen wurden. Die Aufnahme in diesen Plan könnte wiederum nach Bedarfskriterien erfolgen, da ansonsten die Mittel nicht ausreichen würden, um eine funktionsfähige Ptlegeinfrastruktur zu schaffen. Dadurch aber wäre über die duale Finanzierung die, wie weiter oben gezeigt, weitere Nachteile hat - das Bedarfsprinzip de facto wieder für das Angebot relevant. Es ist nicht auszuschließen, daß freigemeinnützige Institutionen mit Vorrang Investitionsmittel erhalten und die potentiellen privaten Anbieter auf den Kapitalmarkt verwiesen würden. Zwar könnten private Anbieter ihre Investitionskosten dadurch wieder refinanzieren, daß sie den Pflegebedürftigen diese Kosten gesondert in Rechnung stellen würden; die gesetzliche Grundlage dafür ist in § 82 Abs. 3 und 4 SGB XI gegeben; aber das würde die Wettbewerbsfähigkeit dieser Anbietergruppe weiter senken. Die Trägervielfalt wäre damit ad absurdum geführt. Angenommen, es käme zu einem "fairen" Wettbewerb zwischen frei gemeinnützigen und privaten AnbieternS2 . Wenn dann noch verhindert würde, daß überdurchschnittliche Kosten auf Dritte abgeschoben, über die Vergütung erstattet oder subventioniert werdenS3 , könnte damit gerechnet werden, daß der Wettbewerb unter den privaten Anbietern zu Produktionseffizienz führt, die auch von den freigemeinnützigen Trägern übernommen werden müßte, wenn diese Kostendeckung erzielen wollenS4 . Obwohl Nonprofit-Un52 Darunter ist zu verstehen, daß für private Anbieter gleiche Zugangsbedingungen zu Zivildienstleistenden und gleiche Chancen für Investitionsmittel geschaffen werden wie für freigemeinnützige oder öffentliche. 53 Diese Maßnahmen würden dann die fehlende Preiselastizität der Nachfrage ersetzen. 54 Zwar haben frei gemeinnützige Träger größere Möglichkeiten, Defizite über Spenden etc. zu decken, aber dauerhafte Verluste wären nur dadurch zu decken, daß der Staat in irgendeiner Form das Defizit übernimmt.

48

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ternehmen auf Gewinnanreize, wie sie im PfiegeVG vorgesehen sind, kaum reagieren, könnten sie durch den Wettbewerb mit privaten Anbietern dazu gezwungen werden, sich so zu verhalten, als ob sie Kosten minimieren bzw. den Gewinn maximieren würden. Aber die Auflistung der Bedingungen zeigt schon, daß es unwahrscheinlich ist, daß diese im gesetzlich vorgegebenen Rahmen erfüllt werden können. 11. Gibt es genug Pflegekräfte?

Ein weiteres Problem auf der Angebotsseite von Pflegeleistungen ist die Verfügbarkeit einer ausreichenden Zahl von Pflegekräften. In der ambulanten und stationären Pflege wird schon jetzt der Mangel an Pflegekräften und darunter v. a. an examinierten Pflegefachkräften (Krankenschwestern und -pflegern, Altenpflegerinnen und -pfleger) beklagt55 , obwohl daneben eine nicht unerhebliche Zahl an Hilfskräften (u. a. Zivildienstleistende) beschäftigt wird56 . Eine neuere Studie kommt zu dem Ergebnis, daß 35 % der Altenpflegeeinrichtungen in den alten und 23 % in den neuen Bundesländern über offene Stellen für Pflegefachkräfte verfügen 57 . Der Berufswechsel ist bei Kranken- und Altenpflegeberufen nicht so häufig wie bisher unterstellt. Wenn ein Wechsel stattfindet, verbleiben die meisten Umsteiger in Gesundheits- und sozialpflegerischen Berufen. Wenn ein Ausstieg erfolgt, dann entweder als Unterbrechung der Erwerbstätigkeit durch eine Familienphase oder die Berufstätigkeit wird aufgegeben 58 . Zumindest aus Sicht der Altenpflegeeinrichtungen besteht ein Teil der Probleme des Personals in der schlechten Bezahlung. Entsprechend steht eine höhere Entlohnung auf Platz zwei der Rangliste (hinter "Ansehen der Pflegeberufe in der Öffentlichkeit verbessern") von Verbesserungsvorschlägen aus der Perspektive der Einrichtungen59 .

55 "Für Ptlegekräfte in Alten- und Pflegeheimen besteht bundesweit eine Mangelsituation. das gleiche gilt filr Krankenpflegefachkräfte mit Spezialfunktionen." Lüpke. S. 578. Für die zukünftige Entwicklung s. auch Der Bundesminister filr Arbeit und Sozialordnung. 56

Vgl. die Begründung in Schmidbauer. S. 78.

Vgl. Bundesministerium filr Arbeit und Sozialordnung. S. 279, sowie die detaillierten Angaben S.212ff. 57

58

Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, S. 300 ff.

59

Vgl. Bundesministerium filr Arbeit und Sozialordnung. S. 244 f.

49

Auswirkungen auf da~ Angebot von Pflegeleistungen

Nach der hedonic price theory müßte man erwarten, daß besonders unattraktive Berufe durch ein entsprechendes Gehalt kompensiert werden. Eine länger andauernde Knappheit in einem Berufszweig kann es in einer Marktwirtschaft eigentlich nicht geben. Wie kommt es dann dazu. daß ein Mangel an Fachkräften besteht? Die Beantwortung dieser Frage ist eine wichtige Voraussetzung dafür, daß die Funktionsweise dieses Teilarbeitsmarkts verstanden werden kann. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt für Pflegefachkräfte ergibt sich wie in Abbildung 1 dargestellt. Auf der Ordinate wird das Gehalt pro Beschäftigten, w, auf der Abszisse die Zahl der (Vollzeit-) Beschäftigten, Q, abgetragen. Mit N wird die Arbeitsnachfragefunktion der Pflege-Institutionen bezeichnet, die dem Grenzwertprodukt der Beschäftigten entspricht. Die Arbeitsangebotsfunktion wird mit A bezeichnet und steigt mit zunehmendem Gehalt an.

W1 I i

Wgl·

wnf I Abbildung I:

Q) Arbeit~markt

~

Qg

~

Q

für Pflegekräfte als Wettbewerbsmarkt

Das Gleichgewicht dieses Teilarbeitsmarktes wird erreicht. wo die Arbeitsangebotsfunktion A die Arbeitsnachfragefunktion N schneidet. Auf der Abszisse kann die Zahl der Beschäftigten abgelesen werden (Qg). Das Gehalt pro Beschäftigten ergibt sich als wg. Wenn die Beobachtung richtig ist, daß das Angebot an Pflegekräften geringer ist als die Nachfrage, so liegt offensichtlich kein Marktgleichgewicht vor. In Abbildung 1 ist eine solche Situation wiedergegeben. Das Angebot an Pflegekräften beträgt Qo, die Nachfrage Qp bei einem Gehalt von wo. Das würde bedeuten, daß das Gehalt zu niedrig ist. Wie kann sich eine solche Konstellation ergeben, wo doch die Beschäftigten meist nach dem Bundesangestelltentarif (BAT) bzw. analog zu BAT entiohnt werden? 4 F;'H.:hingcr/Rolhg.ang

50

Aloys Prinz

Eine Erklärung könnte darin bestehen. daß die Gewerkschaften für den öffentlichen Dienst als Ganzes Tarifverträge abschließen, die keine Rücksicht auf die Knappheitsverhältnisse an den einzelnen Teilarbeitsmärkten nehmen können. Unter diesen Umständen wäre es möglich, daß das Gehalt relativ zu niedrig angesetzt ist. Die Folge wäre, daß bei dem Gehalt Wo die Nachfrage größer ist als das Angebot. Als Ergebnis kann demnach festgehalten werden: Pflegekräfte wird es in ausreichender Zahl geben, wenn die Entlohnung korrigiert wird. Gehaltserhöhungen scheinen hier das geeignete Instrument zu sein. Damit wäre es sicherlich möglich, den Engpaß an Pflegekräften zu beheben. Dies würde aber implizieren. daß die Pflegekosten im ambulanten und stationären Bereich steigen und damit dies aus dem Pflegebudget finanzierbaren Leistungen reduziert werden. Zum Abschluß noch eine Anmerkung zur Beschäftigung von Zivildienstleistenden und anderen Personen mit sehr niedrigen Entgelten. Diese Praxis hat zwei Effekte60 : - Da die Kosten dieser Beschäftigten weitaus niedriger sind als ihr Grenzwertprodukt, ist die Nachfrage nach ihnen größer als ihr Angebot. - Gravierender ist aber ein anderer Effekt: Da diese Personen so kostengünstig verfügbar sind. werden sie gegen teurere, ausgebildete Kräfte substituiert. Es kommt zu einer Fehlsteuerung des Faktoreinsatzes: Hilfskräfte werden in zu großem Umfang, Fachkräfte und technische Hilfsmittel in zu geringem Umfang zur Erstellung der Dienstleistungen verwendet. Aus diesen Gründen sollte man überlegen, ob es wirklich hilfreich ist, Zivildienstleistende in so großer Zahl in diesem Sektor zu beschäftigen.

E. Abschließende Bemerkungen In dieser Arbeit wurde versucht, die angebotsrelevanten Bestimmungen des PfIegeVG herauszuarbeiten und aufzuzeigen. welche Folgewirkungen daraus resultieren (können) bzw. mit welchen zusätzlichen Problemen wahrscheinlich gerechnet werden muß. Natürlich haben die hier präsentierten Überlegungen bis zu einem bestimmten Grad spekulativen Charakter - nicht zuletzt durch die wenigen z. Zt. vorliegenden Untersuchungen über das Angebotsverhalten von Dienstleistungsunternehmen im Pflegebereich.

(,() Vgl. hierzu ausführlich Beck.

Auswirkungen auf das Angebot von Pflegeleistungen

51

Besonders betont wird im PflegeVG, daß eine leistungsgerechte Vergütung an die Stelle der bisherigen Erstattung der Selbstkosten treten soll, um die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung zu sichern und die erwartete Kostenentwicklung zu begrenzen. Bei der Analyse zeigen sich allerdings einige Mängel der gesetzlichen Regelungen. Zwar trägt die Regelung, Versorgungsverträge nicht an einen "Bedarf' zu binden, dazu bei, den Wettbewerb unter den Anbietern zu erhöhen - in die gleiche Richtung wirkt auch die Vorrangstellung für freigemeinnützige und private Träger -, aber dieser Wettbewerb wird möglicherweise dadurch verzerrt oder gar unterbunden, daß die Länder die Investitionen der Pflegeeinrichtungen "fördern" sollen und freigemeinnützige Träger subventioniert werden. Eine abschließende Beurteilung ist derzeit noch nicht möglich, da diese von den Investitionsentscheidungen der Länder abhängt. Falls diese sich nicht oder nur wenig an der Investitionsförderung beteiligen, wäre die "Wettbewerbsverzerrung" eher gering. Ein weiterer Mangel der gesetzlichen Regelungen, welche die angestrebte leistungsgerechte Vergütung der Pflegeleistungen bewirken sollen, liegt darin. daß sie Verhandlungspreise vorsehen. Bei deren Zustandekommen spielt die Verhandlungsposition der Beteiligten eine große Rolle. Wenn die Pflegeeinrichtungen stark sind, können sie eine de facto-Orientierung an den Gesamtkosten, die auch die Kosten für Unterkunft und Verpflegung enthalten, durchsetzen und damit die Forderung einer adäquaten Vergütung der Pflegeleistungen unterlaufen. Zudem können Verhandlungspreise dazu führen, daß für ein und dieselbe Leistung unterschiedliche Vergütungen gezahlt werden. Das würde aber u. a. heißen, daß gleiche Pflegeleistungen unterschiedlich entlohnt werden. Daher wäre es möglicherweise angebracht. administrierten Preisen ("Fallpauschalen für Gruppen von Pflegebedürftigen") den Vorzug zu geben. Die Wettbewerbswirkungen des Gesetzes hängen u. a. davon ab, welches Angebotsverhalten von den freigemeinnützigen Anbietern ausgeht. Gelingt es privaten Trägern, in den Pflegemarkt einzutreten, könnten durch diesen erhöhten Wettbewerbsdruck auch die freigemeinnützigen Träger gezwungen werden, ihr Angebot mit geringeren Kosten bereitzustellen. Somit wird deutlich, daß hinsichtlich der Auswirkungen des SGB XI auf das Angebot an Pflegeleistungen viel davon abhängen wird, ob und in welchem Maße private Dienstleistungsunternehmen in den Markt eindringen können. Es gibt zwar im ambulanten Pflegebereich einen gewissen Anteil privater Unternehmen. aber diese hatten es nicht immer einfach, in den Markt einzutreten. In dieser Arbeit wurden einige zentrale Punkte genannt, die selbst bei Zulassung privater Anbieter zu Wettbewerbsnachteilen für diese Unternehmen führen können. Die im Gesetz angesprochene Trägervielfalt scheint es m. E. aber zumindest prinzipiell zu ermöglichen, daß diejenigen Fehler vermieden werden kön4*

52

A10ys Prinz

nen, die sich im Bereich der häuslichen Krankenpflege und des Krankentransports ergeben haben. Die freie Wohlfahrtspflege wird vermutlich versuchen, ihren Marktanteil zu halten, und hat daher bereits den Vorentwurf des PflegeVG entsprechend kritisiert 61 . Man kann davon ausgehen, daß die Trägervielfalt auch eine wichtige Regelung in bezug auf neue Formen der Pflege ist. Wenn ein Ansturm auf die Pflegeheime vermieden werden soll, wird es erforderlich sein, flexiblere Pflegeformen zu finden, die das starre Schema von Pflege zu Hause und Pflege im Heim überwinden können. Im Gesetz sind dafür bereits einige Ansätze vorgesehen (teilstationäre und Kurzzeitpflege); für diese Pflegeformen muß es aber auch Anbieter geben.

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Vgl. Sans sowie für die gesamte Problematik auch Staiber 1 Kuhn.

Auswirkungen auf das Angebot von Pflegeleistungen

53

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Auswirkungen des SGB XI auf die Qualität von Pflegeleistungen Von Thomas Klie A. Einführung Das Thema Qualität der Pflegeleistungen und Qualitätssicherung hat durch die Diskussion um die Pflegeversicherung Konjunktur in der Altenhilfe erhalten I. Einerseits wird die Pflegeversicherung als Chance gesehen, nicht nur die Kostenträgerschaft für die Pflegeleistungen neu zu ordnen, sondern sie als zentralen Baustein für ein sozialpolitisches Gesamtkonzept zur quantitativen und qualitativen Verbesserung der pflegerischen Versorgung zu nutzen. Die lange Zeit einseitig finanzpolitisch geführte Diskussion um die Pflegeversicherung vernachlässigte diesen Aspekt allerdings 2 . Andererseits werden unter dem Gesichtspunkt der Qualität pflegerischer Leistungen erhebliche Befürchtungen mit der Einführung der Pflegeversicherung verbunden. Die Abkehr vom in der Alten- und Behindertenhilfe bislang geltenden Selbstkostendekkungsprinzip 3, die Beschränkung der Pflegeversicherung auf Leistungen der Pflege- und Hauswirtschaft, die Leistungsbegrenzung und ein heraufbeschworener Wettbewerb zu ..Dumpingpreisen" unter den Anbietern von Pflegeleistungen lassen sich als Hintergründe für die Sorge um die Qualität anführen. Gleichzeitig gilt es zu konstatieren, daß weder in der Behinderten- noch in der Altenhilfe die ..Dienstleistungserbringung" bislang konsequent unter Qualitäts- und Qualitätssicherungsgesichtspunkten betrachtet wurde. Hierzu zwingt nun die Pflegeversicherung. In diesem Beitrag soll sowohl in die Qualitätsdiskussion eingeführt als auch das ..Qualitätskonzept" der Pflegeversicherung und zu erwartende Auswirkungen auf unterschiedliche Leistungsbereiche dargestellt werden.

I

Vgl. Klie (1993).

2

So Bundeskonferenz Qualitätssicherung bei Pflegebedürftigkeit. S. 73-78.

3

Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

56

Thomas K1ie

B. Qualität und Qualitätssicherung Das elfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI), aber auch das Sozialhilfe- und Krankenkassenrecht, verlangen Festlegungen der Qualität der vom Vertragspartner zu erbringenden Leistungen gegenüber den Versicherten. Eine Qualitätsdefinition enthält das Sozialleistungsrecht nicht. Der Qualitätsbegriff ist seinerseits jedoch vieldeutig. Entsprechend unterschiedliche Qualitätsdefinitionen finden sich4 . Da es sich im Sozialleistungsrecht notwendigerweise um einen operationalen und meßbaren Qualitätsbegriff handeln muß - geht es doch um die Festlegung eines bestimmten, finanzierbaren Niveaus von "Qualität" der Dienstleistungen, das weder unterschritten noch ohne weiteres überschritten werden darf - eignet sich als Definition der "Qualität" die DIN ISO 9004/8402, nach der Qualität als die Gesamtheit von Eigenschaften und Merkmalen eines Produktes oder einer Dienstleistung verstanden wird, die sich auf deren Eignung zur Erfüllung festgelegter oder vorausgesetzter Erfordernisse bezieht5. Mit Hilfe dieses Qualitätsbegriffes lassen sich die im SGB XI niedergelegten "Erfordernisse" zur Bestimmung der Merkmale von Dienstleistungen verbindlich heranziehen. Gängigerweise wird in der Qualitätsdiskussion zwischen unterschiedlichen Dimensionen der Qualität unterschieden. Dies geschieht in Anlehnung an die von Donabedian entwickelte Unterscheidung von Struktur-, Prozeß- und Ergebnisqualität, die auch der Gesetzgeber aufgenommen hat6 (vgl. § 80 SGB XI). Unter Strukturqualität werden alle Voraussetzungen verstanden, die zur Erbringung einer Pflegeleistung notwendig sind. Gesellschafts- und sozialpolitische Grundsätze gehören hier ebenso dazu wie rechtliche Rahmenbedingungen und auf der institutionellen Ebene die Mittel und Ressourcen, die eine Organisation zur Verfügung stellt oder stellen muß, etwa räumliche, technische und personelle Ausstattung. Aber auch die Art der Aufbau- und Ablauforganisation gehört zur Strukturqualität. Im Rahmen der Prozeßqualität werden bezogen auf die Pflege alle Schritte des Pflegeprozesses, der "Durchführung" der Pflege erfaßt. Die Ergebnisqualität schließlich bezieht sich auf das Resultat der Pflege und beinhaltet das Befinden, die Zufriedenheit, die Kenntnisse und das Verhalten einer Person, die Erhaltung von Selbsthilfepotientialen und sozialen Netzen. Neben der Unterscheidung der Qualität in Dimensionen ist in der Qualitätsicherungsdiskussion die Unterscheidung unterschiedlicher Perspektiven, aus 4

Vgl. zum QuaJitätsbegriffund Definitionen Klie I Liircher. S. 9-17.

5

So auch Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge.

6

Vgl. Donabedian. S. 166 ff.

Auswirkungen des SGB XI auf die Qualität von Pflegeleistungen

57

denen Qualität zu beurteilen ist, eingeführt: Perspektiven der methodisch-technischen Durchführung von Pflege, der organisatorischen Gestaltung und der Haltung, mit der Pflegeleistungen von den Pflegepersonen erbracht werden 7 . Schließlich kann die Qualität pflegerischer Leistungen, gerade hinsichtlich der Ergebnisqualität, von unterschiedlichen Standpunkten aus betrachtet werden, vom Standpunkt des "Kunden", der Pflegewissenschaft, der Pflegeperson, der Angehörigen oder des Kostenträgers 8. Bei der Frage der Auswirkungen des Pflege-Versicherungsgesetzes auf die Qualität der Pflegeleistungen sind die benannten unterschiedlichen Dimensionen, Perspektiven und "Interessens-" Standpunkte zu berücksichtigen - eine einheitliche Beantwortung der Frage wird nicht möglich sein. Auch bei der Festlegung von Qualitätsniveaus ist entsprechend zu differenzieren. Bei der Qualitätssicherung geht es um die Kontrolle und Gewährleistung eines bestimmten Niveaus von pflegerischen Leistungen. Das Thema Qualitätssicherung ist für die Alten- und Behindertenhilfe aber auch für die Pflege in Deutschland recht neu. Von etablierten Programmen und verbreiteten Maßnahmen kann noch nicht gesprochen werden. In der Qualitätssicherungsdiskussion werden unterschiedliche Verfahren und Maßnahmen unterschieden: Interne und externe, zentrale und dezentrale. Nur ein Zusammenspiel von internen (betriebliche Maßnahmen wie Qualitätszirkel, Fortbildung) und externen (freiwillige oder obligatorische Kontrollen, Zertifizierung, TÜV, Heimaufsicht) garantiert ein hohes Qualitätsniveau9 . Voraussetzung für die Kontrolle der tatsächlich erreichten Qualität ist die Formulierung von Standards. Die Diskussion um Pflegestandards nimmt einen zentralen Platz in der Qualitätssicherungsdiskussion ein - sowohl in der "internen" als auch in der "externen". Standards werden definiert als "allgemeine Aussagen über das akzeptierbare Niveau von Dienstleistungen". Die meßbaren Elemente von Standards werden ihrerseits "Kriterien" genannt lO . Hinsichtlich ihres Geltungsanspruchs einerseits und Genauigkeit andererseits wird eine Hierarchie von Standards gebildet: Universalstandards (etwa: ethische Regeln der Pflege), Richtlinienstandards (etwa: Maßstäbe nach § 80 SGB XI), allgemeine Handlungsstandards (etwa: innerbetriebliche Standards für die Pflege, gegebenenfalls zusammengefaßt in einem Pflegelexikon) und spezielle Handlungsstandards (etwa: Pflegepläne für den einzelnen Patienten)ll. Die Stan7

Vgl. Giebing, S. 1010.

K

Vgl. zu dieser Unterscheidung Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG).

9

Einen Überblick über Qualitätssicherungsmaßnahmen geben Klie I Liircher.

III

Definition nach Giebing; zur Kontroverse um Standards vgl. Stiis.ver und Heil-Ferrari.

11

Vgl. ausführlich zu den unterschiedlichen Standards mit Beispielen Klie I Liircher, S. 17-21.

58

Thomas K1ie

dards können sich auf alle Dimensionen der Qualität beziehen, sie können prozeduraler Natur sein (etwa: bestimmte Verfahren werden vorgeschrieben), ziel orientiert (etwa: möglichst viel Selbständigkeit erhalten) oder methodischtechnisch orientiert sein (etwa: bei der Dekubitusprophylaxe ist wie folgt zu handeln: ... ). Die Pflegeversicherung verlangt von den Diensten und Einrichtungen die Beteiligung an Qualitätssicherungsmaßnahmen (§ 80 Abs.2 SGB XI). Um welche es sich dabei handeln kann oder muß, ist nicht näher festgelegt. Es muß sich jedoch bei den Qualitätssicherungsmaßnahmen vom Umfang und der Zielrichtung her um denen den Landesverbänden der Pflegekassen zustehenden Kontrollmöglichkeiten gleichwertige Maßnahmen handeln. Interne Maßnahmen reichen ebensowenig aus wie nur singuläre Qualitätsfragen berücksichtigende. Die nachfolgende Übersicht 1 veranschaulicht das Verhältnis von internen zu externen Qualitätssicherungsmaßnahmen und benennt Beispiele. Qualitiitssicherung intern

extern

1

QuCditätsmanaKement

Qualitätssicherungsmaßnahmen

ist verantwortlich

Qualitätssichenmg und -entwicklung

l

SChlie& unterschiedliche Maßnahmen ein

-

freiwillig

verpftichtend

- Zertifizierung - POB - Qualitätssicherungskonferenz

-

Qualitätszirkel Bewohnerbefragung Qualitäts beauftragte Standardentwicldung

Heimaufsicht Pflegekassen Krankenkassen SozialhiIfeträger

Quelle: K1ie / Lörcher, S. 33. Übersicht I

Weitergehend als die Qualitätssicherung, die sich im wesentlichen auf die Sicherung eines Niveaus bezieht, sind Strategien der Qualitätsentwicklung, die auf die Weiterentwicklung der Qualität zielen. Einen umfassenden Qualitätssicherungs- und -entwicklungsansatz enthält das Konzept des Total Quality Management l2 . Auf eine ständige Verbesserung der Qualität ausgerichtet ist der aus der japanischen Industrie stammende Ansatz des "Kaizen"I3, "Null-Fehler

Auswirkungen des SGB XI auf die Qualität von Pflegeleistungen

59

Programme" sind aus der Raumfahrtindustrie bekannt. Die Übertragung von Qualitätssicherungsprogrammen aus dem industriellen und Profitsektor auf den Nonprofitsektor, zu dem auch die Pflegeleistungen typischer Weise gehören, macht regelmäßig Schwierigkeiten, da Ziele und Erfolg von Pflegeleistungen stark abhängig sind vom individuell sehr unterschiedlichen Wertesystem des "Kunden" (Lebensqualität ist für jeden Menschen etwas anderes) und professionelle Pflege in ihren Entscheidungen und Deutungen die Autonomie der jeweiligen pflegebedürftigen Person zu achten hat l4 . Bei der Übertragung von Qualitätssicherungsprogrammen sind daher die Besonderheiten des Nonprofitsektors und der Dienstleistung Pflege zu beachten.

C. Qualität und Pflegeversicherung Die Pflegeversicherung enthält sowohl implizite als auch explizite Aussagen zu Qualität und Qualitätssicherung der im Rahmen des SGB XI zu erbringenden Dienstleistungen. Explizit überträgt sie (in durchaus korporatistischer Tradition) den Spitzen verbänden der Leistungsträger und den Bundesverbänden der Leistungserbringer die Festlegung von Grundsätzen und Maßstäben der Qualität der Pflegesachleistungen im Vereinbarungswege (§ 80 Abs. 1 SGB XI)15. Ebenso wird die Beteiligung von Diensten und Einrichtungen an Maßnahmen der Qualitätssicherung vorgeschrieben. Hierbei kann es sich nur um externe Qualitätssicherungsmaßnahmen handeln, da nur diese den Prüfungen der durch Landesverbände der Pflegekassen zu veranlassenden Kontrollen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen entsprechen, von denen der Gesetzgeber ausging l6 . Ähnlich, aber nicht in vergleichbarer Weise ausgestaltet, sind die Regelungen in § 132 Sozial gesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) und § 93 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) zur Qualität und Kontrolle der Qualität der "benachbarten" Leistungen der Krankenkassen und ergänzenden Leistungen der Sozialhilfe. Nur die Dienste, die die festgelegten Qualitätsmaßstäbe erreichen (können), haben Anspruch auf Zulassung gemäß § 72 SGB XI. Die Grundsätze und Maßstäbe zur Qualität müssen sich einerseits an das auch für das Sozialleistungsrecht verbindliche Ordnungs- und Berufsrecht halten,

12

Vgl. Hey.

13

Vgl./mai.

14

Vgl. DGGG, S. 9 f.

15

Vgl. zu den Entwürfen Klie (I995b), S. 81 ff.

16

Vgl. Bundesrat, S. 141.

60

Thomas KJie

soweit es für die Leistungen nach dem SGB XI relevant ist. Insbesondere zu nennen ist hier das Heimgesetz, das als "Bewohnerschutzgesetz" mit besonderen Qualitätssicherungsaufgaben ausgestattet ist 17. Im übrigen ergeben sich die "Erfordernisse" der "geeigneten" Pflege im Sinne des Qualitätsbegriffes nach DIN ISO 9004/8704 aus den im SGB XI niedergelegten allgemeinen Aussagen zum Standard der Pflege und den dort niedergelegten Zielen, die mit den Leistungen der Pflegeversicherung erreicht werden sollen. Zu den Erfordernissen in diesem Sinne gehört, daß die Pflegeleistungen - dem Pflegebedürftigen helfen sollen, ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, - sie darauf auszurichten sind, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte wiederzugewinnen und sie zu erhalten (aktivierende Pflege), - sie dazu dienen sollen, ein Leben und Sterben in Würde zu ermöglichen, - sie die Pflegebereitschaft von Angehörigen, Nachbarn, Ehrenamtlichen und Selbsthilfegruppen erhalten und fördern sollen, - sie koordiniert mit anderen Hilfen (hauswirtschaftliche Versorgung, ärztliche Heilbehandlung, rehabilitative Maßnahmen) zu erbringen sind, - ein möglichst langes Verbleiben der pflegebedürftigen Person in seiner vertrauten Umgebung ermöglichen sollen (ambulant vor stationär), - sich an dem jeweils allgemein anerkannten Stand der Pflege zu orientieren haben und - einen Beitrag leisten sollen zu Entwicklung einer neuen Kultur des Helfens. Diese hier nur unvollständig wiedergegebenen Vorgaben des Pflege-Versicherungsgesetzes bilden den verbindlichen Rahmen für die Maßstäbe der Qualität, die in den Vereinbarungen gemäß § 80 SGB XI auf der Ebene von Richtlinienstandards für alle Dienste und Einrichtungen verbindlich festgelegt werden und die in den Vereinbarungen nach § 75 SGB XI nochmals konkretisiert werden können. Sie bedürfen der Operationalisierung, sonst bleiben die Vorgaben globale und tatsächlich unverbindliche Ziel formulierungen. Hinzukommt, daß es leider gerade in der Pflege noch an einem Konsens über den allgemein anerkannten Stand der Pflege fehlt. Es kann nicht problemlos auf einen professionellen Kodex von Pflegestandards zurückgegriffen werden, der im übrigen anders als es die Formulierung in § 69 SGB XI nahelegt, eigenständig und nicht aus der Perspektive der Medizin formuliert werden muß. Trotz dieser eher ungünstigen "Startbedingungen" - die Qualitätssicherungsdiskussion im Rahmen der Pflegeversicherung kommt für die ,,Pflege" etwas zu früh - sollten die die Qualitätsentwicklung in Einrichtungen und Diensten fördernden Festlegungen in den Maßstäben nach § 80 SGB XI und

17

Ygl. zum Heimgesetz und Qualitätssicherung Klie I Titz.

Auswirkungen des 5GB XI auf die Qualität von Pflegeleistungen

61

den Rahmenverträgen nach § 75 SGB XI nicht unterschätzt werden. So kann die Vorhaltung eines betrieblichen Qualitätssicherungskonzeptes im Sinne interner Qualitätssicherungsprogramme ebenso in den Maßstäben gefordert werden wie Aussagen zur Qualifikation der Pflegekräfte (Strukturqualität), eine an einem Pflegemodell orientierten Pflegeanamnese und Pflegeprozeßplanung (Prozeßqualität) sowie der Evaluation unter Beteiligung der pflegebedürftigen Personen sowie ihrer Angehörigen in regelmäßigen Abständen (Ergebnisqualität). In den Maßstäben darf aber nicht mehr verlangt werden, als zur SichersteIlung der nach dem Pflege-Versicherungsgesetz geforderten Qualität erforderlich ist. So sind Anforderungen an Betriebsgrößen, Rechtsfonn etc. grundsätzlich nicht festlegbar. Es besteht im übrigen die Gefahr, mit Hilfe der "Maßstäbe" und Rahmenverträge bestimmte Typen von Diensten vom Markt fern zu halten - etwa durch die Anforderung, mindestens vier Fachkräfte als Angestellte zu beschäftigen (Domänesicherung). Nicht in vergleichbarer Weise streng regelt das SGB XI die Qualitätssicherung im Bereich familiärer Pflege. Hier kommt dem Medizinischen Dienst eine wichtige Aufgabe im Rahmen der Feststellung der Pflegebedürftigkeit und der Empfehlungen für einen Pflegeplan zu. Er hat zu prüfen, ob im Rahmen der Familienpflege oder anderer durch die Inanspruchnahme von Pflegegeld unterstützter Pflegearrangements die Pflege in einer Weise sichergestellt werden kann, die den Vorgaben des Pflege-Versicherungsgesetzes entspricht. Bei einer Quote von 80 % Pflegegeldanträgen zu 20 % Pflegesachleistung und einer hohen Dunkelziffer von Überforderungssituationen und nicht zu unterschätzendem Gewaltpotential in der familialen Pflege kommt den Feststellungen des Medizinischen Dienstes große Bedeutung zu ("Pflege TÜV")I8. Weicher sind die "Kontrollen" im Verlaufe des Pflegegeldbezugs durch die obligatorische Einschaltung von Pflegediensten in dem in § 37 Abs. 3 SGB XI vorgeschriebenen Turnus - ohne Informationsrecht des abgerufenen Dienstes gegenüber der Pflegekasse.

D. Tatsächliche Auswirkungen der Pflegeversicherung auf die Qualität der Pflegeleistungen Die Pflegedienste werden durch die Regelungen des SGB XI zur Qualität und Qualitätssicherung erheblich gefordert, wenn die Grundsätze und Maßstäbe gemäß § 80 SGB XI mit den Vorgaben des SGB XI ernst machen. Insofern kann von dem strategisch wichtigen Instrument der Qualitätssicherung, das

IR

Zur Problematik der Angehörigenpflege vgl. Klie (1994).5. 19-21.

62

Thomas Klie

der ,,zivilisierung" der nun offeneren Pflegemärkte dient l9 , auch ein Qualifizierungsschub für die Dienste und eine Unterstützung der Professionalisierung der Pflege20 erwartet werden. Dienste, die - wie in manchen Regionen noch bis zur Geltung der Pflegeversicherung üblich - keine Nacht- und Wochenenddienste anbieten, haben künftig keine Chance auf dem Pflegemarkt. Die Aufwertung der Pflegeberufe durch die Voraussetzung der ständigen Verantwortung einer Pflegekraft, die vorgesehene Verpflichtung zur Pflegeanamnese und Pflegeprozeßplanung und Evaluation wird trotz Unsicherheiten in bezug auf den allgemein anerkannten Stand der Pflege qualitätsentwickelnde Wirkung in den Diensten und Einrichtungen entfalten können. Für die Pflegeberufe mag die Qualitätssicherungsdiskussion eine Art Paradigmenwechsel in ihrer beruflichen Orientierung bedeuten. Stand doch gerade in der Pflege alter und behinderter Menschen die persönliche Motivation und Gestaltung der Pflege im Vordergrund - mit der Gefahr einer gewissen Beliebigkeit der Pflege. Die Qualitätssicherungsdiskussion verlangt nach stärkerer Bedarfsorientierung und Verständigung auf transparente Leistungen. Auch die durch die Begutachtungsanleitung vereinheitlichte Feststellung der Pflegebedürftigkeit kann trotz eines insgesamt fragwürdigen Pflegebedürftigkeitsbegriffs im SGB XI zu einer wesentlich qualifizierteren Einschätzung des Pflegebedarfes beitragen21 , auch wenn es wünschenswert wäre, daß bei Pflegesachleistungen den Pflegediensten ein größerer Einfluß auf die Feststellung der Pflegebedürftigkeit eingeräumt würde. Insbesondere ist zu hoffen, daß die häufig übersehenen Rehabilitationspotientiale pflegebedürftiger Personen besser erkannt und ausgeschöpft werden. Sonst bliebe der Grundsatz "Rehabilitation vor Pflege" eine Leerformel. Unter Qualitätssicherungsaspekten ist einem verantwortlichen Schnittstellenmanagement besondere Bedeutung beizumessen: Die mit den Änderungen im Krankenhausfinanzierungsgesetz erhofften und bezweckten Bettenreduzierungen im Krankenhausbereich setzen viele ältere Patienten der Gefahr aus, als sogenannte ,,Pflegefalle"22 ohne Sicherstellung einer verantwortlichen Nachsorge zu schnell aus dem Krankenhaus entlassen zu werden. Krankenhaussozialarbeit, der allgemeine Sozialdienst der Kommunen, Sozialdienst im Heim oder allgemein gesagt: Casemanagement, wird zum Garanten der Qualität des "Übergangs" von einem Versorgungssystem (Gesundheit) in das nächste (Pflege) und die Kooperation beider.

\9

Vgl. Klie (I995b), S. 81 f.

2U

Vgl. DGGG.

2\

Vgl. auch Beikireh, S.

22

Vgl. Kuratorium Deutsche Altershilfe.

22 ff.

Auswirkungen des SGB XI auf die Qualität von Pflegeleistungen

63

Diese optimistischen Einschätzungen bleiben aber im System und den Grenzen der Leistungen und Verfahren des SGB XI "gefangen". Natürlich dient jedes Qualitätssicherungssystem und jede gesetzliche Qualitätssicherungsverpflichtung der Effektivitätssteigerung und der Kostenreduzierung. Zu dem hängt die Qualität der Pflegeleistungen von dem Entgeltsystem und der Entgelthöhe ab: Ermöglichen die weitgehend diktierten Entgelte den Einsatz qualifizierter Pflegekräfte - zumindest im Bereich der Vorbehaltsaufgaben Pflegeanamnese, Pflegeplanung und Kontrolle? Manche befürchten durch die Pflegeversicherung eine Dequalifizierung der Pflege, da der Einsatz von PfIegefachkräften "zu teuer" werde. Ganz anders die Befürchtungen im Behindertenbereich: Hier wird zum einen die Autonomie der nicht selten als Arbeitgeber fungierenden Pflegeabhängigen durch die Dominanz des Sachleistungsprinzips und der Diskriminierung der Geldleistungen in Frage gestellt. Zum anderen werden bisher in der Behindertenarbeit etablierte Berufsgruppen durch die Dominanz der Pflege diskriminert und ihre bisher zentrale Rolle gefährdet. Heilerziehungspfleger oder Sozialarbeiter etwa, die bislang die Verantwortung in Wohngruppen für Behinderte trugen, sollen nicht ohne weiteres als "Pflegefachkräfte" im Sinne des § 71 SGB XI anerkannt werden. Damit blieben entweder die Behinderten von den Leistungen des SGB XI ausgeschlossen oder aber es müßte ein neues professionelles ,,Regime" eingeführt werden. Die im SGB XI verbindlich und ehern niedergelegten Leistungsgrenzen begrenzen in jedem Fall die Menge der möglicherweise zu beanspruchenden Pflegeleistungen. Im Bereich der Sachleistungen wird die Menge immer kleiner je höher die "Preise" bzw. Entgelte für die Pflegesachleistung steigen, die bei dem notwendigen Abbau bzw. der erforderlichen Einstellung der Subventionen deutlich steigen werden, etwa von 25,- DM auf 70,- DM bei annähernd kostendeckenden Stundensätzen im ambulanten Bereich. Damit würden die Sachleistungen hinsichtlich ihrer Qualität zwar möglicherweise besser, ihr möglicher Umfang jedoch sehr gering, so daß nur ein mehr oder weniger kleiner Beitrag zum Gesamtpflegebedarf im Rahmen der Pflegesachleistungen erbracht werden kann. Den Pflegesachleistungen käme dann in einem sehr viel größerem Umfang die Aufgabe zu, soziale Netze für die Pflege, soweit möglich, mit einzubeziehen. Ob es aber gelingt, alte und neuer Formen gegenseitiger Unterstützung zu fördern ("Neue Kultur der Hilfe"), scheint angesichts der Vernachlässigung bzw. der unsicheren Finanzierung der Sozialarbeit sehr ungewiß, zumal sich die Kreise und Kommunen unberechtigterweise aus der Verantwortung für die Sicherstellung der Pflege zurückziehen (möchten). Qualitätsrelevant ist aber auch das durch das Entgeltniveau ausgelöste "Wahlverhalten" der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen, die gegebenenfalls mit dem Pflegegeld auf einem "Zweiten Pflegemarkt" billige Pflege-

Thomas K1ie

64

kräfte besorgen, die in einem quantitativ größerem Umfang für das geringere Pflegegeld für die Pflege zur Verfügung stehen und leichter und günstiger über den durch das Pflegegeld zu finanzierenden Umfang hinaus privat bezahlt werden können 23 . Zukauf im "offiziellen" Sachleistungsbereich wird für die Privathaushalte schnell zu teuer. Für den sozialhilfeberechtigten Personenkreis kommt es auf die Entscheidungspraxis der Sozial ämter an, die bei zulässigem Kostenvergleich schnell zum Urteil der unverhältnismäßigen Mehrkosten gemäß § 3 Abs. 2 BSHG gelangen können - eine gerade für den Behindertenbereich bisherige Leistungspakete in Frage stellende Perspektive. Relativ schnell kann trotz der Vorgabe ambulant vor stationär die stationäre Versorgung billiger werden als die ambulante, da sich im stationären Bereich die Kosten eher begrenzen lassen als bei einer individuellen Leistungsgewährung im ambulanten Bereich24 . Die Qualität der Pflegeleistungen hängt darüber hinaus davon ab, wie komplementäre und ergänzende Leistungen anderer Sozialleistungsträger auch künftig gewährleistet werden können, etwa Leistungen der Krankenkassen und Sozial ämter. Dies gilt auch für den stationären Bereich25 . Da sich die Pflegeversicherung nur auf pflege- und hauswirtschaftliehe Leistungen bezieht, sind soziale Betreuungs- und Beratungsaufgaben dann gefährdet, wenn es nicht gelingt, diese als Querschnittsaufgaben oder / und als besondere Betreuungsleistungen sozialleistungsrechtlich abzusichern. Schließlich hängt unter Aspekten der Strukturqualität hinsichtlich einer ortsnahen und bedarfsgerechten Versorgung der pflegebedürftigen Bevölkerung sehr viel davon ab, wie die Länder und Kommunen sich an den Investitionskosten für Dienste und Einrichtungen beteiligen - die einzige Möglichkeit der Bedarfsteuerung und -planung mit monetären Mitteln. Je nachdem wird sich für nicht zuzahlungsbereite oder -fähige Pflegebedürftige insbesondere im stationären Sektor das Angebot von Heimplätzen mittelfristig deutlich begrenzen und der Markt differenzieren. Fraglich ist je nach Entscheidungspraxis der Sozialhilfeträger die hinsichtlich der Strukturqualität angesichts der Leistungsbegrenzung der Pflegekassen die besonders schwierige Aufgaben der Sicherstellung eines verträglichen Niveaus von Pflegeleistungen zu bewältigen haben -, ob etwa Einzelzimmer angesichts der höheren Investitionskosten für Sozialhilfeberechtigte weiterhin in Betracht kommen oder nicht.

23 Vgl. hier die interessanten Erfahrungen aus dem Projekt Patientenbudget in den Niederlanden in Millenburg, S. 149-156. 24

Zum Verhältnis Pflegeversicherung zum BSHG vgl. Hesse-Schiller I Schmel/er. S. 449 ff.

25

Zur Bedeutung der Krankenkassenleistungen im Heim vgl. Klie (1995a), S. 76.

Auswirkungen des SGB XI auf die Qualität von Pflegeleistungen

65

Wie sich die Qualität der Pflege in Familien "unter" der Pflegeversicherung entwickeln wird, läßt sich schwer allgemein voraussagen. Zu erwarten ist sicher, daß die von der Höhe her interessanten Geldleistungen für manche Familien ökonomisch interessant sind, so daß Anreize bestehen, auf professionelle Hilfe oder gar Heimpflege zu verzichten. Dies gilt insbesondere dort, wo die private Haushaltsökonomie Probleme bereitet oder drohender Sozialhilfebezug Vermögen gefährdet. Die Pflege in Familien kann ohne entsprechende professionelle Begleitung unter Qualitätsgesichtspunkten "gefährlich" werden 26 . Inwieweit der Medizinische Dienst in der Lage sein wird, im Rahmen des Begutachtungsverfahrens nach § 18 SGB XI präventiv diagnostisch Gefährdungspotentiale auszumachen, hängt von seiner Kompetenz und seinen Ressourcen ab. Auch die Pflegedienste, die gemäß § 37 Abs. 3 SGB XI regelmäßig abgerufen werden müssen, haben qualitätssichernden Einfluß durch "weiche" Interventionen (Beratung, Hilfestellung), wenngleich auch hier die Frage nach der Kompetenz für die Diagnostik von und die "Intervention" in komplizierte Familiendynamiken gestellt werden muß. Insofern begegnet die Regelung des § 37 Abs. 3 SGB XI fachlichen Bedenken, die sich allerdings nicht prinzipiell gegen die obligatorische Begleitung pflegender Familien richten.

E. Schlußbemerkung Das SGB XI enthält ein recht weitgehendes Instrumentarium zur Festlegung der Qualität von Pflegeleistungen und Implementierung von Qualitätssicherungsmaßnahmen. Damit kann innerhalb der Dienste und Einrichtungen ein Qualifizierungsschub ausgelöst und die Professionalisierung der Pflege unterstützt werden. Ganz im Widerspruch zu den inhaltlich recht weitgehenden Vorgaben und vorgesehenen Instrumenten zur Qualitätssicherung steht die Leistungsbegrenzung der Pflegeversicherung. Die Leistungen sind in der Höhe unabhängig vom Bedarf der Betroffenen begrenzt. Weiterhin wird auch sachlich nur ein Teil des im Zusammenhang mit der Pflegebedürftigkeit entstehenden Bedarfs an Hilfen gedeckt. Dies führt zu "Lücken" und Begrenzungen in der Versorgung, wenn nicht andere Leistungsträger ihren ergänzenden Verpflichtungen nachkommen. Hinter diesen Fragen müssen Erwartungen auf Effekte eines Qualitätswettbewerbs miteinander in Konkurrenz stehender Dienste zurückstehen, wenngleich solche Entwicklungen gerade im ambulanten Bereich schon jetzt zu beobachten sind. Das Nebeneinander von Sachleistungen und Geldleistungen führt potentiell bei hohen Entgelten für die Sachleistung Pflege trotz Diskriminierung der Geldleistung gegebenenfalls zur "Flucht" vieler in einen zweiten billigeren Pflegemarkt, der kaum der Über26 VgI.

Wetzeis u. a.

5 Fachingcr/Rolhgang

66

Thomas Klie

prüfung der Qualität zugänglich ist, der nicht notwendig - vor allem aus der Perspektive der pflegebedürftigen Personen - "schlechter" sein muß, aber unkontrolliert bleibt, inklusive vieler ungesicherter Arbeitsverhältnisse. Auch sind die finanziellen Anreize für Pflege in Familien nicht zu unterschätzen, die die Inanspruchnahme professioneller Hilfen "gefährden" können. Diese möglichen Entwicklungen unterstreichen die Forderungen nach Ausbau begleitender, koordinierender und vernetzender Hilfen und ihrer verbindlichen Etablierung (Casemanagement). Im stationären wie im ambulanten Bereich wird die Qualität der Leistungen im übrigen entscheidend davon abhängen, ob und inwieweit andere Leistungsträger (Krankenkassen und Sozialhilfeträger) für ihren "Zuständigkeitsbereich" zusätzlich bzw. ergänzend Leistungen erbringen. Diese mögliche Entwicklung unterstreicht die Erforderlichkeit verbindlicher Etablierung von Casemanagement im Zusammenhang mit der Feststellung der Pflegebedürftigkeit und bei der Begleitung Pflegebedürftiger27 . Die Pflegeversicherung sichert nicht die Pflege umfassend; insofern können ihre Auswirkungen auf die Qualität nicht unabhängig von den Leistungen der Krankenkassen, Sozialhilfeträger und Länder und den gesellschaftlichen Bemühungen um neue und alte Formen bürgerschaftlicher Hilfe eingeschätzt werden. Nur, die in § 8 SGB XI proklamierte gemeinsame Verantwortung für die Sicherung der Pflege wird von den "Mitspielern" überwiegend (noch) nicht in ausreichendem Umfang erkannt, da die Pflegeversicherung in ihrem entund nicht in ihrem verpflichtenden Anteil gesehen wurde.

F. Literatur Beikireh. Elisabeth (1994): Aspekte der Qualitätssicherung im Bereich Pflege. in: Medizinischer Dienst der Krankenversicherung Baden-Wüntemberg (Hrsg.): Pflegeversicherung. Neue Aufgaben rur den Medizinischen Dienst. S. 22 - 26. Bundeskonferenz Qualitätssicherung bei Pflegebedürftigkeit (1994): Memorandum. in: Zeitschrift rur Gerontologie 27. S. 73-78. Bundesministerium für Familie. Senioren. Frauen und Jugend (1994): Prospektive Pflegesätze im Bundessozialhilfegesetz. Stullgan u. a. 0.: Kohlhammer. Bundesrat (Hrsg.) (1993): Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (PfIege-Versicherungsgesetz - PfIegeVG). Drucksache 505/93. Bonn. Deutsche Gesellschaft rur Gerontologie und Geriatrie. Fachbereich IV (1995): Professionelle Pflege alter Menschen. Positions papier. Freiburg: Eigenverlag. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (1994): Empfehlungen zur Qualitätssicherung der Altenhilfe (Entwurf Nov. 1994). Frankfun: Eigenverlag.

1:1

Vgl. Wendl.

Auswirkungen des SGB XI auf die Qualität von Pßegeleistungen

67

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(1994): Pflegende Angehörige und Pßegeversicherung, in: Evangelische Impulse 16, S. 19-2 I.

-

(l995a): Krankenkassenleistungen im Heim, in: Das Altenheim 34, S. 16-83.

-

(I 995b): Zivilisierung des Pßegemarktes? in: Häusliche Pflege 4, S. 81-84.

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5'

Wirkungen auf der Nachfrageseite

Der Einfluß der Pflegeversicherung auf die Entwicklung des familialen Pflegepotentials und das Erwerbsverhalten von Frauen Von Walburga von Zameck A. Einführung Der zunehmende Anteil alter Menschen an der Bevölkerung der Bundesrepublik und die damit verbundene Prognose einer steigenden Zahl von Pflegebedürftigen lieferte den Anstoß für die Debatte um die Absicherung im Pflegefall!. Die als Ergebnis der Diskussion zum 1. Januar 1995 eingeführte Pflegeversicherung soll vorrangig die Lösung der Pflegeaufgabe in den privaten Haushalten unterstützen 2 und damit öffentlichen Pflegeeinrichtungen eine subsidiäre Rolle zuweisen. Hintergrund für diese Intention sind zum einen die explodierenden Kosten im öffentlichen Pflegewesen, denen geringere Kosten bei der Pflege in Privathaushalten gegenüberstehen3. Angesichts derartiger Kostenunterschiede muß der Staat nicht zuletzt wegen der offenkundigen Legitimierungsprobleme einer steigenden Abgabenlast gegenüber den Bürgern bestrebt sein, bestehende Kostenvorteile bei der Pflege zu nutzen. Zum anderen spielen beim Vorrang der häuslichen Pflege gegenüber der stationären Versorgung in Heimen humanitäre Erwägungen eine Rolle, da die Pflege im vertrauten Familienkreis menschenwürdiger erscheint als die Versorgung in anonymen Heimen. Diese von der Bundesregierung wiederholt vertretene Auffassung findet einen breiten gesellschaftlichen Konsens4 . Wenn die Pflegeversicherung ihre Intention verwirklichen soll, muß sie in die Entscheidungskalküle der privaten Haushalte eingreifen. Die Entscheidungen von Familienangehörigen und / oder Freunden von Pflegebedürftigen I

Als Initiator der Diskussion vgl. Kuratorium Deutsche A!tershilfe (1974).

2

Explizit findet sich diese Zielsetzung im § 3 SGB XI (Vorrang der häuslichen Pflege).

3

Zur Problematik der Abschätzung der Kostenvorteile vgl. Prinz. S. 23.

In einer reprä...entativen Umfrage sprachen sich !989 je nach Klassifizierung zwei Dritte! bis drei Viertel der Befragten dafür aus. Pflegebedürftige im Kreis der Familie unterzubringen. Vgl. dazu Al4

her.

72

Walburga von Zameck

müssen durch die Leistungen des elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) so verändert werden, daß ihre individuellen Verhaltensweisen zu einer Erfüllung der Zielvorstellungen führen. Da gegenwärtig der überwiegende Teil der häuslichen Pflegeleistungen von Frauen erbracht wird5 , stellt sich insbesondere die Frage, wie die Leistungen der Pflegeversicherung auf die Zeitallokationsentscheidung von Frauen wirken.

B. Das Fürsorgemodell Da pflegende Personen finanzielle Ressourcen und Zeit für die Pflege einsetzen, kann davon ausgegangen werden, daß sie Nutzen aus der Pflegetätigkeit ziehen. Wäre dies nicht der Fall, dann würde der nur in begrenzter Menge zur Verfügung stehende Ressourcenvorrat an finanziellen Mitteln und Zeit nicht zur Pflege verwendet werden, da sein Einsatz bei der Pflege den Verzicht auf Nutzen aus Gütern kostet, die den eigenen Lebensstandard ausmachen 6 . Die nutzenstiftende Fürsorge für eine pflegebedürftige Person läßt sich auf höchst unterschiedliche Motivationen zurückführen. Sie kann aus psychischen Faktoren wie einer positiven emotionalen Bindung an die pflegebedürftige Person resultieren. Gesellschaftliche Normen können die Präferenzen so geprägt haben, daß die Pflegetätigkeit als eine zu erfüllende Verpflichtung begriffen wird 7 . Materielle Faktoren wie die Aussicht auf ein Erbe oder ein an die Pflegeverpflichtung gekoppeltes Wohnrecht können jedoch ebenfalls Beweggründe für eine Pflegetätigkeit sein. Das Entscheidungskalkül einer fürsorgenden rationalen Person läßt sich durch die Maximierung ihres von der Fürsorge (F) und vom eigenen Lebensstandard (XL) abhängigen Nutzens beschrei ben: (1)

max! U = U(F,X L )

F : Fürsorge XL: Güter des eigenen Lebensstandards

Da beide nutzenstiftenden Komponenten in Konkurrenz um die knappen Ressourcen der fürsorgenden Person stehen, bedeutet die Durchführung von 5 Rund 80 % der Personen, die Pflegebedürftige mit regelmäßigem Pflegebedarf betreuen. sind Frauen. Bei Pflegebedürftigen mit unregelmäßigem Pflegebedarf wird die Versorgung zu rund 70% von Frauen wahrgenommen. Vgl. dazu Schneeklo/h I Pot/hoft:

6 Soziologen fassen den Umstand. daß Pflegetätigkeit Nutzen erbringt, in den Satz, daß Pflege Abhängiger nicht nur Arbeit bedeutet, sondern mit Herrschaft verbunden ist. Vgl. Alber, S. 214. 7

Zum Konfliktpotential der normativen Ebene für Frauen vgl. Dallinger.

Der Einfluß der Pflegeversicherung auf das familiale Pflegepotential

73

Fürsorge den Verzicht auf Güter des eigenen Lebensstandards. Sind Lebensstandard und Fürsorge periphere Substitute, können einander also bei konstantem Nutzenniveau in Grenzen ersetzen, so ist ein bestimmtes Nutzenniveau mit unterschiedlichen Kombinationen von Lebensstandard und Fürsorge realisierbar. Wie eng diese Grenzen sind, wird durch die Präferenzen der fürsorgenden Person bestimmt. Sie spiegeln sich wider in der Bereitschaft, eigenen Lebensstandard aufzugeben, um Fürsorge realisieren zu können. Diese Bereitschaft der Aufgabe von eigenem Lebensstandard zugunsten von mehr Fürsorge wird mit steigendem Fürsorgeniveau abnehmen, da gleichzeitig der Lebensstandard absinkt und damit relativ kostbarer wird. Dies reduziert die Bereitschaft zur Aufgabe von Lebensstandard für eine zusätzliche Fürsorgeeinheit. Die abnehmende Zahlungsbereitschaft für Fürsorge in Form eines Verzichts auf Güter des eigenen Lebensstandards läßt sich bei gegebenem Nutzenniveau am fallenden Verlauf der Indifferenzkurve (vgl. Abbildung 1) ablesen. Die Steigung der Indifferenzkurve, die Grenzrate der Substitution (GdS), nimmt mit steigendem Fürsorgeniveau ab. Die individuell unterschiedliche Zahlungsbereitschaft für Fürsorge bei konstantem Nutzenniveau drückt sich in der Menge von Lebensstandard aus, die eine fürsorgende Person bereit ist aufzugeben, um eine zusätzliche Einheit Fürsorge realisieren zu können. Eine starke soziale Prägung auf Fürsorge hin, wie sie sich verbreitet bei Frauen findet, führt dazu, daß die Präferenzen fürsorgeintensiv gestaltet sind. Für eine zusätzliche Fürsorgeeinheit besteht die Bereitschaft, relativ viel Lebensstandard aufzugeben, so daß die Indifferenzkurve steil verläuft, solange nicht ein hohes Fürsorgeniveau erreicht ist (vgl. Abbildung 1 a)). Wird dagegen der eigene Lebensstandard relativ stark gewichtet, so verläuft die Indifferenzkurve schon bei geringen Fürsorgeniveaus flacher, da die Fürsorgeperson nur bereit ist, geringe Mengen der Güter des eigenen Lebensstandards für mehr Fürsorge aufzugeben (vgl. Abbildung 1 b)). Daher ist bei einem identischen Fürsorgeniveau (Fd = F6) die Zahlungswilligkeit bei lebensstandardintensiven Präferenzen kleiner als bei fürsorgeintensiven Präferenzen (GdSl < GdS!) bzw. eine identische Zahlungsbereitschaft (GdS! = GdSt) impliziert bei lebensstandardintensiven Präferenzen ein gerin-

geres Fürsorgeniveau (Fi} < Fd)· Das Nutzenmaximum und damit das optimale Fürsorgeniveau ist realisiert, wenn die ZahlungswiIligkeit für eine zusätzliche Einheit Fürsorge dem Preis entspricht, der für die Fürsorge in Form von Güterverzicht aus dem eigenen Lebensstandard zu zahlen ist. Da Fürsorge und Lebensstandard über die Konkurrenz um die knappen Ressourcen der fürsorgenden Person miteinander ver-

74

Walburga von Zameck

bunden sind, ergeben sich die Opportunitätskosten der Fürsorge aus dieser Konkurrenz.

Xl

L_~=====

__ F

------F

L . . - -_ _

Fl4

a) Fürsorgeintensive Präferenzen

b) Lebenstandardintensive Präferenzen

Abbildung I: Fürsorgeintensive und lebensstandardintensive Präferenzen

I. Das Nutzenmaximum einer erwerbstätigen Fürsorgeperson

Der Ressourcenvorrat, aus dem Fund L gespeist werden, entspricht dem begrenzten Zeitvorrat, der einer fürsorgenden Person zur Verfügung steht. Zur Realisierung des eigenen Lebensstandards sind Güter erforderlich8, die über den Ertrag der Erwerbsarbeit am Markt erworben werden können9 . Da auch die Fürsorge Zeit erfordert, bedeutet die Realisierung von Fürsorge den Verzicht auf Zeiteinsatz zur Erlangung von Gütern für den eigenen Lebensstandard. Pro Zeiteinheit Erwerbsarbeit lassen sich Güter des eigenen Lebensstandards in Höhe des spezifischen Reallohns wXL erwerben, der sich aus dem Quotienten von erzielbarem Nominallohn und Preis des Gutes XL ergibt. Wird die gesamte Zeit T für die Gewinnung von XL eingesetzt, so läßt sich mit der Marktarbeit für Güter des eigenen Lebensstandards (MAL) der maxiK

Von Freizeit wird hier aus Vereinfachungsgründen abstraltiert.

Ohne aktuellen Zeiteinsatz lassen sich Güter für den Lebensstandard aus Vennögen oder anderen zeitunabhängigen Einkommensquellen finanzieren, wie z. B. aus Ruhestandsbezügen. 9

75

Der Einfluß der Pflegeversicherung auf das familiale Pflegepotential

male Lebensstandard xiax realisieren. Jeder Abzug von Zeit aus dieser Verwendung bedeutet eine Einbuße an Gütern des eigenen Lebensstandards und ermöglicht damit nur einen Lebensstandard, der hinter xiax zurückbleibt. Diesen Zusammenhang zeigt die Gerade XL(MA L ) im IV. Quadranten der Abbildung 2. F I

F(FZ)

Zeit für XL

XL----f-:=-:---+-:::::----:-~=;;:;::;:;;;::::=~~=~=7...... Zeit

Xl ,," ""

XL'4r

Fürsorgezeit

T

"

"

45°

" ""

""

""

""

""

"

,r--------""

~-------------------

HI

IV

Abbildung 2: Die nutzenmaximierende Kombination von Fürsorge und Lebensstandard bei erwerbstätigen Fürsorgepersonen

Wird dagegen die gesamte zur Verfügung stehende Zeit T für die Fürsorge verwendet, so läßt sich mit der Fürsorgezeit (FZ) das maximale Fürsorgeniveau F max erreichen. Wird weniger als die Gesamtzeit für Fürsorge eingesetzt, so bleibt das realisierbare Fürsorgeniveau hinter dem maximalen zurück. Die Fürsorge läßt sich damit als steigende Funktion der für die Fürsorge ver-

76

Walburga von Zameck

wendeten Zeit darstellen und ist im I. Quadranten der Abbildung 2 durch die Funktion F(FZ) abgebildet IO . Aus F(FZ) und XL(MA L ) läßt sich nun im 11. Quadranten der Abbildung ax ) hinsichtlich der bei gegebener Zeitausdie Budgetbeschränkung (F max

Xr

stattung T maximal erreichbaren Kombinationen von Gütern des Lebensstandards und Fürsorgeniveaus gewinnen. Die optimale XL/F-Kombination ist erreicht, wenn die Menge an XL' die die Fürsorgeperson bereit ist für eine Einheit Fürsorge aufzugeben (angegeben durch die Steigung der Uo(XL ,F)-Indifferenzkurve) der Menge an XL entspricht, die es kostet, durch Zeitumdispositi on eine zusätzliche Einheit F zu erlangen (Anstieg der Budgetgeraden). Diese Tangentiallösung EO führt zur Erreichung des höchsten Nutzenniveaus, das bei gegebener Zeitausstattung möglich ist. Die Fürsorgeperson konsumiert Güund Fürsorge in Höhe von FO• ter des Lebensstandards in Höhe von

x2

11. Die Fürsorgezeitstruktur einer pflegenden erwerbstätigen Fürsorgeperson

Zur Realisierung der Fürsorge können Kommunikationszeit (K) und Güter eingesetzt werden:

(XF )

K : Kommunikationszeit X F : Fürsorgegüter

(2)

Die Kommunikationszeit soll jede Zeitverwendung erfassen, die über die rein versorgungstechnische Pflegetätigkeit hinausgeht. Sie repräsentiert die Komponente der Fürsorge, die sich als menschliche Zuwendung und Unterstützung der zu Pflegenden bei den Aktivitäten ihres Lebens beschreiben läßt ll . Die bei der Fürsorge verwendeten Güter (XF ) lassen sich zum einen am Markt erwerben oder zum anderen durch die Fürsorgeperson selbst produzieren:

\0

Der lineare Verlauf ist nicht zwingend, sondern wird aus Vereinfachungsgrunden unterstellt.

11

Vgl. dazu z. B den Beitrag von Schulz-Nieswandt (in diesem Band).

Der Einfluß der Pflegeversicherung auf das familiale Pflegepotential

77

x:t: Marktkomponente der Fürsorgegüter

(3)

xff: durch die Fürsorgeperson erstellte Komponente der Fürsorgegüter

Die Marktkomponente der Fürsorgegüter (X:t) erfaßt z.B. eine bezahlte ambulante Pflegekraft, während die durch die fürsorgende Person erstellte Komponente (X die häusliche Pflege repräsentiert. Es wird vereinfachend unterstellt, daß beide Güterkomponenten vollständig gegeneinander substituierbar sind. Damit wird angenommen, daß es für die Qualität der rein technischen Pflegetätigkeit unerheblich ist, ob diese von der Fürsorgeperson selbst oder von einer bezahlten Pflegekraft geleistet wird.

ff)

Der Einsatz von Marktgütern bei der Fürsorge erfordert Zeit, da über den Einsatz von Zeit am Arbeitsmarkt Einkommen erzielt wird, um diese Güter erdurchführen zu können, ist werben zu können. Um die häusliche Pflege der Einsatz von Pflegezeit (H) aus dem begrenzten Zeitvorrat erforderlich.

xff

Die fürsorgende Person muß also bei der Realisierung eines Fürsorgeniveaus nicht nur ein Zeitallokationsproblem lösen, das sich auf das Zeitniveau für die Fürsorge bezieht. Sie hat auch ein Zeitallokationsproblem lösen, das sich auf die Struktur der bei der Fürsorge eingesetzten Zeit bezieht. Diese Aufteilung der bei der Fürsorge verwendeten Zeit in Kommunikationszeit, Marktarbeit für Fürsorgegüter und häusliche Pflegezeit richtet sich nach den Erträgen, die sich mit den einzelnen Zeitverwendungen erzielen lassen. Der Ertrag der Erwerbsarbeit bei der Fürsorge MA F entspricht dem spezifischen Reallohn W xt! also dem Quotienten aus Nominallohn und Marktpreis

xtf.

der Fürsorgegüter Der Ertrag der Pflegezeit H pro Stunde entspricht dem erziel baren Grenzprodukt dieser Zeitverwendung. Dieses wird als positiv, aber abnehmend unterstellt l2 . Sein Verlauf ist in der Abbildung 3 durch die Kurve f dargestellt. Die Abbildung zeigt auf der Abszisse den gesamten Fürsorgezeitvorrat der Fürsorgeperson (FZo), wobei der Zeiteinsatz für Pflege von rechts nach links abgetragen ist. Der Einsatz der ersten Zeiteinheit für Pflege beim Punkt B erbringt das höchste Grenzprodukt. Jede weitere Zeiteinheit der Pflege führt zu einem geringeren Grenzprodukt, so daß die Kurve f vom Punkt B aus einen fallenden Verlauf aufweist.

12

Aus Vereinfachungsgrtinden wird von einem linearen Verlauf ausgegangen.

78

Walburga von Zarneck

f'

B

K-+

Ko

Ho

+-H

gesamte Fürsorgezeit (FZo) Abbildung 3: Das optimale Zeitmix beim nutzenmaximierenden Fürsorgeniveau einer pflegenden erwerbstätigen Fürsorgeperson

Wenn mit Pflegezeit und Marktarbeit Güter für die Fürsorge bereitgestellt werden können, dann erfordert der Einsatz von Kommunikationszeit bei der Fürsorge einen Verzicht auf Pflegegüter XF . Je nach der Substitutionsmöglichkeit zwischen XF und K bei konstantem Fürsorgeniveau besteht die Möglichkeit, weniger Güter aber mehr Kommunikationszeit zur Realisierung eines konstanten Fürsorgeniveaus (F) zu verwenden. Diese Substitutionsmöglichkeit von Fürsorgegütern durch Kommunikationszeit läßt sich durch die Grenzrate der technischen Substitution zwischen XF und K (GdtSXFK(FQ» ausdrücken. Sie gibt an, auf wieviel Einheiten von X bei der Fürsorge maximal verzichtet werden kann, um durch den zusätzlichen Einsatz einer weiteren Kommunikationszeiteinheit ein konstantes Fürsorgeniveau aufrecht erhalten zu können. Die GdtSXFK(FQ) nimmt mit zunehmendem Einsatz von Kommunikationszeit ab. Dies zeigt, daß mit steigendem Einsatz von Kommunikationszeit die Effektivität des weiteren Mehreinsatzes von K absinkt. Mit steigendem K ist eine zusätzliche Einheit Kommunikationszeit nur noch in der Lage, eine immer kleiner werdende Menge von Fürsorgegütern so zu ersetzen, daß das Fürsorgeniveau konstant bleibt. Daher verläuft in der Abbildung 3, in der die Kommunikationszeit von links nach rechts abgetragen ist, die GdtSXFK(FQ) -Kurve mit negativer Steigung.

Der Einfluß der Pflegeversicherung auf das familiale Pflegepotential

79

Da jede Einheit Kommunikationszeit bei der Fürsorge alternativ zur Erlangung von Fürsorgegütern über Erwerbsarbeit oder Pflegezeit verwendet werden kann, muß für die Festlegung der optimalen Kommunikationszeit die Produktivität der Zeiteinheiten in alternativen Verwendungsmöglichkeiten miteinander verglichen werden. Dieser Vergleich erfolgt durch die Gegenüberstellung derjenigen Gütermenge, die eine Zeiteinheit in der Verwendungsform Kommunikationszeit bei konstantem Fürsorgeniveau erspart, mit derjenigen Gütermenge, die eine Alternativverwendung der Zeit in Form von Erwerbsarbeit bzw. Pflegezeit liefert. Stimmen ersparte Gütermenge und Güterertrag einer Zeiteinheit überein, so ist das optimale Niveau der Kommunikationszeit erreicht. Dies ist in der Abbildung 3 beim Schnittpunkt C von w x ;" dem Ertrag der Erwerbsarbeit für marktliche Fürsorgegüter, mit GdtSxFK(Po) und der Kommunikationszeit Ko der Fan 13. Eine Reduktion der Kommunikationszeit auf ein geringeres Niveau (K< Ko) würde den Einsatz einer größeren Menge an Fürsorgegütern zur Realisierung von Po erforderlich machen, als sich mit der Verwendung der aus der Kommunikationszeit abgezogenen Zeiteinheiten über den Ertrag der Erwerbsarbeit kaufen lassen. Das optimale Fürsorgeniveau Po erfordert daher mehr Kommunikationszeit. Ein höheres Niveau an Kommunikationszeit (K> Ko) dagegen erspart eine geringere Gütermenge als sich bei Zeitverwendung am Arbeitsmarkt kaufen läßt. Daher ist eine über Ko hinausgehende Nutzung der Zeit als Kommunikationszeit nicht optimal, da ab Ko die Zeitverwendung Erwerbsarbeit effektiver ist. Bei Punkt C mit der Kommunikationszeit Ko wird daher diese Zeitverwendung abgebrochen und die erste Zeiteinheit für Erwerbsarbeit zum Kauf von Fürsorgegütern eingesetzt. Die optimale Länge dieser Zeitverwendung ist erreicht, wenn eine zusätzliche Zeiteinheit Erwerbsarbeit dieselbe Gütermenge erbringt wie eine Einheit Pflegezeit. Dies ist im Punkt D der Fall. Jede weitere Zeiteinheit Erwerbsarbeit (MA > MA F U ) erbringt einen geringeren zusätzlichen Fürsorgegüterertrag als häusliche Pflegezeit (w < f), so daß nun die Verwendung von Pflegezeit lohnend wird. Daher wird ab D beginnend der restliche Zeitvorrat für Pflegezeit verwendet. Diese Zeitaufteilung mit Erwerbsarbeit und häuslicher Pflege wird in der Bundesrepublik von 22,3 % der Pflegenden getroffen, die eine pflegebedürftige Person mit regelmäßigem Pflegebedarf betreuen l4 .

cr

13 Da der Ertrag der Pflegezeit bei Ku geringer ist als der Reallohnsatz < W). erbringt jede erste Einheit Erwerbsarbeit einen höheren Ertrag als Pflegezeit. so daß hier nur die Erträge von Kommunikationszeit und Erwerbsarbeit miteinander zu vergleichen sind. 14

Vgl. Schneek/oth I Pottht!ff.

80

Walburga von Zameck

III. Das Nutzenmaximum einer nichterwerbstätigen Fürsorgeperson

Finanziert eine Fürsorgeperson ihren Lebensstandard aus Einkornrnensquellen, die keinen aktuellen Einsatz von Zeit erfordern, wie z.B. Vermögen oder Ruhestandsgehalt, so stehen Lebensstandard und Fürsorge nicht in einer Zeitkonkurrenz zueinander. Die Konkurrenz von Fürsorge und Lebensstandard ergibt sich nun über die mögliche alternative Verwendung dieser ,,Renteneinkornrnen" (R) für XL und Xp. Die gesamte Zeit wird ausschließlich für die Fürsorge eingesetzt, so daß sich ohne jeglichen Einsatz des Renteneinkommens R für die Fürsorge das Fürsorgeniveau FFZ in Abbildung 4 realisieren läßt. Würde zusätzlich das gesamte Renteneinkommen für die Fürsorge verwendet werden, dann ließe sich das Fürsorgeniveau auf das maximale Niveau F~a:.R steigern, da dann zusätzlich zur eigenen Zeit Marktgüter bei der Fürsorge eingesetzt werden könnten. F

F(FZ)

--_>--~------"'------------+-

T

Zeit

Abbildung 4: Die nutzenmaximierende Kombination von Fürsorge und Lebensstandard bei Nichterwerbstätigkeit der Fürsorgeperson

Wird das gesamte Renteneinkommen dagegen für Güter des eigenen Lebensstandards verwendet. so läßt sich der maximal mögliche Lebensstandard xfmax bei gleichzeitigem Konsum des lediglich mit eigener Zeit erstellten Fürsorgeniveaus FFZ realisieren. Die Verbindung dieser möglichen Kombination von Lebensstandard und Fürsorge mit dem maximal möglichen Fürsorgeniveau F/Pza:.R ergibt im linken Teil der Abbildung 4 die Budgetbeschrän-

Der Einfluß der Pflegeversicherung auf das familiale Pflegepotential

81

kung als Menge aller Kombinationen von XL und F, die sich maximal erreichen lassen. Gewählt wird nun wieder die optimale Kombination, die sich durch den Tangentialpunkt Eo der Budgetgeraden mit der höchstmöglichen Indifferenzkurve Uo(Xv F) ergibt. In der Abbildung 4 ist die Optimalkombination dadurch gekennzeichnet, daß die Fürsorgeperson auf die Realisierung des maximal möglichen Lebensstandards zugunsten der Realisierung des Fürsorgeniveaus ~ verzichtet und damit ein Teil des Renteneinkommens für den verwendet. Erwerb von

Xp

Zu bestimmen bleibt das optimale Zeitmix von Kommunikationszeit und Pflegezeit bei der Fürsorge. Dieses richtet sich nach der Substitutionsmöglichkeit von XF und K bei der Fürsorge und nach dem Grenzprodukt der Pflegetätigkeit. Die optimale Zeitaufteilung ist realisiert, wenn die GdtSXFK und das Grenzprodukt der Pflege einander entsprechen. In der Abbildung 5 führt dies zur optimalen Kommunikationszeit Ko und zur optimalen Pflegezeit von Ho.

f'

B

K-+

Ko

Ho

~H

Abbildung 5: Das optimale Zeitmix beim nutzenmaximierenden Fürsorgeniveau einer nichterwerbstätigen Fürsorgeperson

Eine derartige Zeitaufteilung mit vollständigem Verzicht auf Erwerbsarbeit findet sich in der Bundesrepublik bei 77,4 % der Pflegenden, die eine pflegebedürftige Person mit regelmäßigem Pflegebedarf betreuen 15.

IS

Vgl. Schneekloth I Potthof):

6 Fnchingcl'/Rothgang

82

Walburga von Zarneck

IV. Fürsorgezeitstruktur ohne häusliche Pflege

Ein dritter Fall der Fürsorgezeitstruktur stellt sich ein, wenn die fürsorgende Person einen höheren Reallohn als den bisher betrachteten erzielen kann und / oder einen anderen Verlauf der Grenzproduktivität bei der Pflege aufweist. Die Maximierung des Nutzens kann dann dazu führen, daß auf jegliche häusliche Pflegetätigkeit verzichtet wird. Das ist immer dann der Fall, wenn die Zeitverwendung Erwerbsarbeit stets ein höheres Gütervolumen ermöglicht als die häusliche Pflege, wenn also der erzielbare Lohnsatz immer über dem Grenzprodukt der Pflegetätigkeit liegt (vgl. Abbildung 6). Die Fürsorge wird dann nur mit Einsatz von Kommunikationszeit und Marktgütern durchgeführt. Dies ist der Fall der stationären Pflege oder der Beschäftigung einer Pflegeperson im Haushalt der pflegebedürftigen Person oder im Haushalt der Fürsorgeperson, die die Pflegetätigkeit gegen Bezahlung durchführt.

f'

B

K-+

Ko

MAFO

+-H

Abbildung 6: Das optimale Zeitmix beim nutzenmaximierenden Fürsorgeniveau einer nichtpflegenden erwerbstätigen Fürsorgeperson

Dieser Fall ohne jegliche häusliche Pflege liefert einen Hinweis darauf, warum häusliche Pflege Frauenarbeit ist. Wenn Frauen im Vergleich zu Männern mehr Zeit für die häusliche Pflege einsetzen, dann müssen sich beide Gruppen hinsichtlich ihrer Erträge bei denjenigen Zeitverwendungen unterscheiden. die Güter ermöglichen. Da Frauen im Durchschnitt am Arbeitsmarkt nur einen geringeren Verdienst erzielen als Männer, können sie mit dem Ertrag ihrer Erwerbstätigkeit auch nur weniger Güter für die Fürsorge erwerben. Bei gleicher Produktivität beider Gruppen hinsichtlich der Pflegetätigkeit ist daher zu erwarten, daß Frauen eher in den Bereich gelangen, in dem die Produktivität der Erwerbstätigkeit kleiner ist als die der häuslichen Pflegetätig-

Der Einfluß der Pflegeversicherung auf das familiale Pflegepotential

83

keit. Sie werden also mehr Zeit bei der Pflege und weniger Zeit am Arbeitsmarkt verbringen, da sich mit häuslicher Pflege mehr Güter pro Zeiteinheit für die Fürsorge erzielen lassen als durch Berufstätigkeit. Diese weibliche Pflegetendenz wird noch durch Produktivitätsunterschiede zwischen Männern und Frauen bei der Pflegetätigkeit verstärkt. Werden Mädchen von frühen Jahren an intensiv mit häuslichen Tätigkeiten vertraut gemacht, während Knaben entgegengesetzt erzogen werden, so ist zu erwarten, daß Frauen im Vergleich zu Männern über eine höhere Produktivität bei der häuslichen Pflege verfügen. Dies würde selbst bei identischem Ertrag aus der Berufstätigkeit dazu führen, daß Frauen mehr häusliche Pflege leisten als Männer. C. Wirkungen der Leistungen des Pflege-Versicherungsgesetzes Wie wirken nun die Leistungen des SGB XI auf die Zeitallokation einer fürsorgenden Person? Von den im SGB XI vorgesehenen Leistungen werden hier zwei ausgewählte Maßnahmen mit ihren Wirkungen betrachtet: - das Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegekräfte nach § 37 SGB XI und - die Pflegesachleistung (häusliche Pflegehilfe ) nach § 36 SGB XI. I. Auswirkungen des Pflegegeldes (§ 378GB XI)

Der § 37 SGB XI regelt die Möglichkeit der (ersatzweisen) Inanspruchnahme eines Pflegegeldes für eine selbst beschaffte Pflegehilfe durch einen Pflegebedürftigen. Je nach der Pflegestufe beträgt das Pflegegeld 400, 800 oder 1.300 DM. Für all diejenigen Personen, die bereits bisher eine häusliche Pflegetätigkeit durchgeführt haben, wird sich der gesamte Budgetspielraum erweitern, wenn sie dieses Pflegegeld für ihre häusliche Pflege erhalten, da sich ihr Einkommen erhöht. Mit dem zusätzlichen Einkommen läßt sich bei jedem Zeiteinsatz für die Fürsorge durch den zusätzlich möglichen Erwerb von Fürsorgegütern das erreichbare Fürsorgeniveau erhöhen.

Xp

6*

84

Walburga von Zameck

1. Auswirkungen auf erwerbstätige pflegende Fürsorgepersonen

In der Abbildung 7. die den Fall einer Fürsorgeperson mit Erwerbstätigkeit und häuslicher Pflege abbildet. zeigt FGL dasjenige Fürsorgeniveau, das allein durch die Inanspruchnahme des Pflegegeldes möglich wird. Das maximal erreichbare Fürsorgeniveau läßt sich durch das Pflegegeld auf FtJZX erhöhen. Da sich bei jedem Fürsorgezeitniveau durch das Pflegegeld eine höheres Fürsorgeniveau erreichen läßt, verschiebt sich durch die mit dem Pflegegeld zusätzlich erwerbbaren marktlichen Fürsorgegüter im I. Quadranten die F(FZ)Kurve nach oben zu FGL (FZ). F

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F(FZ)

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XL--:~~-:!=--::;+-~--*=;;;;;===:jF==:::===:;~ Zeit

XLjCiL X'r" Xl: Xl

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1 1 1

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: J VS. Wird die Versicherungssumme (VS) auf eine Einheit Pflegeleistungen (X) bezogen, ergeben sich für die Nachfrager jeweils alternative Nettopreise (PN ): PN = 0, für P:S; VS* und PN = P - VS* für P > VS*; . ·1s mIt . VS* =VS Jewel -. X Im Vergleich zur Situation ohne Pflegeversicherung wird eine neue Nachfragefunktion N2 aktuell (vgl. Abbildung 2)16. Sie schneidet die Mengenabszisse in X v' das ist die für die jeweilige Pflegestufe und bei gegebenem Preis pro Pflegestunde maximale Menge an Pflegesachleistungen, die durch die Pflegeversicherung finanziert werden. Dabei ergibt sich Xv (gemessen in Stunden) als Quotient aus der gesetzlich fixierten Versicherungssumme VS und dem von den Pflegekassen mit den Pflegeleistungsanbietern ausgehandelten Festpreise P pro Pflegestunde (Xv = VS/P). Das Leistungsvolumen bzw. die Versicherungssumme VS ergibt sich als Produkt der vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) als "angemessen" und notwendig begutachteten Pflegesachleistung (in Stunden) und dem (fixen) Verhandlungspreis, der von den Pflegekassen mit den Pflegeleistungsanbietern ausgehandelt ist (Xv ·P). Weiter verläuft N2 bis zur Höhe der Versicherungssumme VS* parallel zur Ordinate bzw. parallel zur Nachfragekurve NI bei Voll(ver)sicherung. Bei höheren Preisen, bzw. bei 15 Mit Ausnahme nachgewiesener Bedürftigkeit - hier leistet weiterhin die Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). 16 Zur Vereinfachung bezieht sich die Darstellung in diesem Abschnitt lediglich auf den Bezug von Pflegesachleistungen.

Moral hazard in der (sozialen) Pflegeversicherung?

123

einem Bedarf an Pflegeleistungen, die die Versicherungssumme übersteigen. verläuft N2 parallel zur originären Nachfragefunktion No. Der genaue Verlauf der Strecke (ab) ist aber unbestimmt. da in diesem Bereich mit einer Änderung der Preiselastizität gerechnet werden kann. N2 verläuft links von der Nachfragekurve bei Voll(ver)sicherung NI' worin sich der Budgetierungseffekt ausdrückt - die Pflegeversicherung bietet lediglich eine Grundversorgung, die Sättigungsmenge X wird prinzipiell nicht vorgehalten. Nur bei einem Pflegebedarf, der über die Menge Xv hinausgeht, wird der Abschnitt (eX) der originären N.achfragefunktion No relevant, da die Pflegebedürftigen individuell zu Marktpreisen hinzukaufen müssen. p

vs *

N ()

-+--------------~----------~------x

xv

x

Abbildung 2

E. Instrumente der Nachfragesteuerung I. Staatlich-dirigistische Budgetierung

Als wesentliches Instrument zur Steuerung der Nachfrage- und damit der Kostenentwicklung wird in der Pflegeversicherung, erstmals in der deutschen Sozialversicherung, das Verfahren der administrativen Budgetierung konsequent angewendetI? Budgetierung sei hier als Zuweisung von Beitragseinnahmen zu bestimmten (Pflege-) Ausgabenkategorien pro Periode definiert, wobei der ex ante (per Gesetz) festgelegte Finanzierungsmodus das Ausgabenvolumen determiniert. Dieses wird in der Praxis nach den im SGB XI näher be17 Vgl. hierzu Rothgang, der die Realisation des Budgetprinzips im Rahmen der Pflegeversicherung als Konsequenz fortgesetzter Rationierungsbemühungen im Gesundheitsbereich interpretiert.

124

Hans-Christian Mager

stimmten Kriterien und Distributionsrichtlinien auf die Nachfrager und Anbieter von Pflegeleistungen verteilt. In § 70 Abs. 1 SGB XI heißt es: "Die Pflegeka~sen stellen in den Verträgen mit den Leistungserbringem ... sicher. daß ihre Leistungsausgaben die Beitragseinnahmen nicht überschreiten ......

Da Höhe und Struktur der Pflegeleistungen nicht den Mustern subjektiv-individueller Pflegebedarfslagen. sondern der Höhe der Beitragseinnahmen angepaßt werden, ergibt sich ein Rationierungseffekt. Strategische Bedeutung kommt dabei dem Postulat der Beitragssatzstabilität zu. das die Budgetierung konkretisiert und den Rationierungseffekt explizit auch für die Zukunft vorschreibt. Damit die nachfragebeschränkende Budgetierung über die Zeit erhalten bleiben kann ist im SGB XI die Prozedur der Beitragserhöhung besonders geregelt. Während in der GKV Beitragserhöhungen diskretionär durch die zuständigen Gremien der Selbstverwaltung beschlossen werden. erfolgen sie im SGB XI ausschließlich durch die Legislative (§ 55 SGB XI). Staatlich-administrative Budgetierung stellt hinsichtlich des Ziels der Nachfragebeschränkung und Kostendämpfung ein effektives Instrumentarium dar. Daß durch die Limitierung des Leistungsprogramms der Effekt einer Ausgabenbegrenzung realisiert wird. kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß im Rahmen des Budgets die Verhaltensmuster der Nachfrager grundlegend unbeeinflußt bleiben l8 . Konkret auf die Pflegeversicherung bezogen, resultiert zudem aus der Budgetierung ein versorgungspolitisches Problem: Die Pflegekassen haben sicherzustellen. daß die Regelung, wonach im Einzelfall monatlich max. 3.300 DM für stationäre Pflege ausgegeben werden können, nur für höchstens 5 % der Schwerstpflegebedürftigen zutrifft (§ 43 Abs. 2 SGB XI). Unter Rücksichtnahme auf den politisch vorgegebenen Finanzrahmen, "darf' es per gesetzlichem Dekret nur 5 % Ausnahmefälle geben 19. Hier zeigt sich deutlich die besondere Problematik globaler Deckelungsmechanismen bzw. deren Inflexibilität hinsichtlich individueller Pflegebedarfslagen.

18 Prinzipielle Vorbehalte gegen Budgetierung werden speziell aus ordnungspolitischer Sicht formuliert. Danach stimmen zentralistische Budgetvorgaben mit den individuellen Präferenzen und Kosten-Nutzen-Kalkülen der Nachfrager nur bedingt überein. so daß sich Ineffizienzen ergeben müssen. Siehe z. B. Metze fLir Details. 19 Eine analoge Härtefallregelung existiert im Rahmen häuslicher Pflege bei Pflegestufe 111 (§ 36 Abs.4 SGB XI).

Moral hazard in der (sozialen) Pflegeversicherung?

125

11. Administrative Bedarfsprüfung

Die im SGB XI bei häuslicher Pflege vorgesehene Staffelung der Leistungsabgabe gemäß dreier Pflegestufen setzt sowohl Anreize zur Simulation eines höheren Pflegegrades (Phänotypen Nr. 4, 5 und 6 in Tabelle 1), da über eine höhere Einstufung mehr Sach- und I oder Geldleistungen erreicht werden können, als auch Anreize zur Vortäuschung von Pflegebedürftigkeit (Phänotyp Nr. 3 in Tabelle 1). "Gerade bzgl. der Pflegestufe I besteht die Gefahr, daß der "Hilfebedarf' konstruiert wird"20 und es zu moral hazard induzierten "Über"Nachfrageeffekten kommt, wie sie in Tabelle 1 skizziert wurden. Um dies zu vermeiden, ist als weiteres administrativ-regulatives Instrument im SGB XI eine generelle Anspruchsprüfung für Pflegeleistungen vorgesehen, die über das Definitionsmonopol des MDK organisiert ist (§ 18 SGB XI). Der MDK nimmt die Stufen-Kategorisierung von Pflegebedürftigkeit durch Einzelfallbegutachtung vor, hat Rehabilitationsleistungen sowie die Notwendigkeit der Versorgung mit Pflegehilfsmiueln und technischen Hilfen zu prüfen und ist an der Erarbeitung von Richtlinien der Pflegekassen zur näheren begrifflichen Abgrenzung von Pflegebedürftigkeit beteiligt (§§ 15 und 17 SGB XI). Damit kommt dem MDK als ,,Monitoring Instanz" zentrale Bedeutung im Rahmen des Sicherstellungsauftrages der Pflegekassen zu. Er fungiert als "gate-keeper" der einzelnen Leistungsarten einschließlich der Heiminanspruchnahme und besitzt damit nicht nur Definitionsmacht bei der Feststellung von Pflegebedürftigkeit, sondern auch Distributionsmacht im Sinne der Zuteilung materieller und immaterieller Pflegeleistungsniveaus 21 . Entscheidend für die Verminderung oder Vermeidung von Wohlfahrtsverlusten infolge moral hazard induzierter "Über"-Nachfrage ist die Möglichkeit, individuelle Bedarfslagen Pflegebedürftiger "objektiv" festzustellen. Ob ein sozialmedizinisches Monitoring in diesem Sinne kompetent und auch versorgungspolitisch zufriedenstellend gelingt, ist dabei von mehreren Faktoren abhängig. Der MDK darf weder als willfähriger Agent der Interessen von Pflegebedürftigen oder der Pflegekassen agieren, noch im (Eigen-) Interesse einer maximalen Kompetenz- und Leistungsausweitung. Zudem muß die PersonalausstaUung des MDK dem Kapazitätsproblem angesichts der erwarteten Begut-

2U

Spitzenverbände der Krankenka~sen.

Die Entscheidung über die Lcistungsgewährung bleibt fonnal bei den zuständigen Gremien der Die zentrale Bedeutung des MDK wird dadurch aber nicht relativien, da die relevanten (und einzigen) Entscheidungsgrundlagen der Pflegeka~sen da~ Gutachten des MDK und die von ihm fonnuliene Empfehlung hinsichtlich der notwendigen Lcistungsart sowie des Leistungsvolumens sind. 21

Pflegeka~sen.

Hans-Christian Mager

126

achtungsfälle gewachsen sein 22 . Zentrale Bedeutung aber kommt dem anzuwendenden Verfahren bei der Objektivierung individueller Pflegebedarfslagen zu. Dazu muß der MDK über eine spezielle "Monitoring Technology" im Sinne eines detaillierten Indikatorentableaus verfügen 23 . Dabei könnte das ADL / iADL-Konzept als Basis für eine solche Technologie dienen. Bei dem ADL / iADL-Konzept handelt es sich um die Klassifikation basaler (ADL) und instrumenteller (iADL) Lebensaktivitäten als Raster für eine Qualifizierung des individuellen Pflegebedarfs. Tabelle 2 zeigt den in § 14 SGB XI fixierten Katalog "gewöhnlicher und wiederkehrender Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens", der aber vergleichsweise wenig detailliert ist24 . In der Tabelle 2 wurde eine, so im Gesetz nicht formulierte, Differenzierung in ADL und iADL vorgenommen 25 . Tabelle 2 Klassifikation der Lebensaktivitäten gemäß § 14 SGB XI nach dem ADL I iADL Konzept Activities of Daily Living (ADL)

instrumental Activities of Daily Living (iADL)

- Körperpflege (Duschen, Waschen, Ba- - Haushaltsführung (Einkaufen, Reinigen der Wohden, Toilettenbenutzung, Känunen, Ranung, Spülen, Waschen der Wäsche und Kleidung, sieren, Zahnpflege) Beheizen) - Nahrungsaufnahme - Nahrungszubereitung - Mobilität (Aufstehen, Gehen, Stehen, An- und Auskleiden, Treppensteigen, Zu-Bett-Gehen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung)

Eine mögliche Vorgehensweise, die auch bereits im Rahmen der Sozialhilfe und der GKV angewendet worden ist (§ 69 Abs. 3 Bundessozialhilfegesetz, § 53 Abs. 1 SGB V), besteht in einer Punktbewertung jener basalen und instrumentellen Lebensaktivitäten, die eine Person nicht ohne fremde Hilfe ausführen kann. Die Summe der Punkte determiniert dann den jeweiligen Grad an Pflegebedürftigkeit und ist Basis für die Entscheidung über individuelle Leistungsansprüche. 22 Jürgen Spinnarke, Leiter der MDK Hauptverwaltung Hessen schätzt allein für 1995 über 830.000 Erst- und 350.000 Wiederholungsbegutachtungen. Davon entfallen über 670.000 Begutachtungen auf Ärzte des MDK, über 230.000 auf externe Ärzte und 280.000 auf Pflegefachkräfte.

23 Vgl. Prinz, S. 112. 24 Es gibt eine Reihe, sich zum Teil nur geringfügig unterscheidende ADL I iADL-Konzeptionen, siehe z. B. ulWton I Brody oder Schneekloth I Potthoff

25 Das SGB XI enthält über diese Katalogisierung hinaus nur wenig konkrete Angaben über das vom MDK anzuwendende Fest~tel1ungsverfahren. Hier müssen die von den Pflegekassen unter Beteiligung des MDK zu erarbeitenden Richtlinien abgewartet werden.

Moral hazard in der (sozialen) Pflegeversicherung?

127

Das oben beschriebene Verfahren hat im Vergleich zur üblichen Zertifikatsmethode eindeutige Vorteile. Bei der Zertifikatsmethode bescheinigt ein Arzt, meistens der Hausarzt, die Pflegebedürftigkeit nach einer eingehenden Untersuchung und einer "qualitativen Einschätzung der Gesamtumstände des Einzelfalles ... , die notwendigerweise subjektiv ist"26. Das Punktebewertungsverfahren ist dagegen stärker objektivierbar - die Gefahr eines "Gefälligkeitsgutachtens" geringer. In methodisch-praktischer Hinsicht ergeben sich bei diesem standardisierten ,,Bedarfs-Monitoring" aber immer noch subjektive Bewertungsspielräume. Die im Hinblick auf die Konstruktion eines Gesamtindikators notwendige Gewichtung singulär festgestellter Pflegebedarfe impliziert eine Rangskala, die sozialmedizinisch nicht apriori Gültigkeit besitzen kann und somit auch (tendenziell) subjektiv determiniert ist27 . Subjektive Bewertungsspielräume ergeben sich insbesondere hinsichtlich der Frage, welchem Punktwertniveau bestimmte Pflegebedürftigkeitsgrade und damit auch Leistungsansprüche zugeordnet werden. Genau hier liegen die immanenten Grenzen einer "Objektivierung" individueller Pflegebedarfslagen. Weiter besteht, wie bei allen administrativ-dirigistischen Rationierungsverfahren die Problematik, daß die Pflegestandards sozialpolitisch-wirtschaftlichen Konjunkturzyklen unterworfen und / oder den Budgetrestriktionen der Pflegekassen untergeordnet werden. Letzteres ist in der Pflegeversicherung ja eindeutig der Fall, wie das Beispiel der Härtefallregelungen bei Pflegestufe III in Zusammenhang mit der generellen Budgetierung (s.o.) gezeigt hat. Für die Steuerung der Nachfrage hinsichtlich der Verhinderung von ("vermeidbaren") Institutionalisierungen ist prinzipiell entscheidend, ob der MDK bei der Bedarfsprüfung seinen Entscheidungsspielraum entsprechend der expliziten Ziel vorgabe "Vorrang der häuslichen Pflege" nutzen wird, wie es der Gesetzgeber fordert. Die administrative Bedarfsprüfung durch den MDK hat aber nicht nur Steuerungseffekte auf der Nachfrage-, sondern auch auf der Angebotsseite. Sie vermeidet kostentreibende Effekte einer angebotsinduzierten Nachfrageexpansion analog der Situation in der GKV, die sich dadurch ergeben, daß die Feststellung leistungsauslösender Tatbestände den Leistungserbringern (hier den Ärzten) obliegt, so daß Spielräume für einkommensmaximierendes Verhalten bestehen. In der Pflegeversicherung wird ein solcher Effekt durch das Monitoringmonopol des MDK verhindert. Die Anbieter von Pflegeleistungen sind an der Definition des Pflegebedarfs und der FestIegung des Pflegeumfanges nicht beteiligt.

26 Wasem, S. rT

362.

Vgl. WUfem, S.

363.

Hans-Christian Mager

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III. Selbstbehalt und Pflegegeld

Die verschiedenen Leistungen der Pflegeversicherung sind jeweils durch Versicherungssummen begrenzt (vgl. Abschnitt D). Diese Deckelung, die in unterschiedlicher Höhe für alle Leistungsformen und -stufen gilt, kann als spezielle Form des Selbstbehalts interpretiert werden. Da die Pflegeversicherung bei notwendiger stationärer Pflege lediglich die Kosten der "Grundpflege" übernimmt, die sogenannten "Hotel kosten" (für Unterbringung und Verpflegung) aber individuell gezahlt werden müssen, ist hier (angesichts der hohen Kosten für einen Heimplatz) der Selbstbehalt besonders hoch (§ 4 Abs. 2 SGB XI). Die "Hotelkosten" dürften in der Mehrzahl der Fälle die Miet- und Lebenshaltungskosten bei häuslicher Pflege übersteigen. Ob mit dieser Art von Selbstbehalt ein pretialer marktwirtschaftlicher Lenkungsmechanismus in die Pflegeversicherung eingeführt werden sollte, oder ob die Notwendigkeit des individuellen Zukaufs von Pflegeleistungen eher Ausdruck der vom Gesetzgeber beabsichtigten Grundversorgung ist, kann dabei dahingestellt bleiben. Wie in Partialanalysen formal nachgewiesen werden kann, wirkt eine generelle Leistungsbegrenzung (Deckelung, Selbstbehalte), sofern sich die Grenzkosten der Leistungsinanspruchnahme für die Nachfrager erhöhen, in Richtung einer Nachfragebeschränkung und damit Kostendämpfung 28 . Selbstbehalte sollen bei den Nachfragern mit der Fiktion des "Nulltarifs" von Versicherungsleistungen brechen, d. h. das Kostenbewußtsein individuell stärken und darüber die Wirksamkeit preislicher Allokationsmechanismen befördern 29 . Wirkliche Innovation des SGB XI ist weniger die Einführung der Wahlfreiheit zwischen Geld- und Sachleistungen 30 , als die Möglichkeit ihrer Kombination (Kombinationsleistung) nach § 38 SGB XI. Im Bereich der häuslichen Pflege können Pflegebedürftige alternativ Sachleistungen oder Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen beziehen (§§ 37 und 38 SGB XI). Daß das Pflegegeld als Mittel zur Stärkung der Konsumentensouveränität und der Herstellung marktkonformer Produzenten-Konsumenten-Beziehungen im Pflegebereich dienen kann, wird aber schon im Ansatz durch die Bemessung der Leistungshöhe und durch die enge Zweckbindung erheblich behindert. Um mögliche Trends von Mitnahmeeffekten zu begrenzen. erreichen die Barleistungen durchschnittlich nur weniger als die Hälfte des Betrages, der für Sachleistun2&

Vgl. z. B. Knappe et a1. oder Schulenburg.

29 Zu den allokations- und verteilungspolitischen Implikationen verschiedener Fonnen von Selbst-

behalten im Bereich des

Gesundheil~systems;

vgl. Schulenburg.

30 Für eine grundlegende Analyse ..monetärer versus realer Sozialtransfers" als Problem der Lei-

stungsstruktur in der Sozialpolitik siehe Eisen (1981).

Moral hazard in der (sozialen) Pflegeversicherung?

129

gen aufgewendet wird. Die enge Zweckbindung besteht in der Verpflichtung, regelmäßig professionelle Pflegeeinsätze abzurufen 3l . Zudem ist das Pflegegeld nicht primär zum Kauf professioneller Pflegedienste, sondern als Gratifikation oder Anerkennung familiärer Pflegepersonen gedacht und somit faktisch Sachleistungssurrogat und keine wirkliche Geldleistung (§ 37 SGB XI)32.

IV. Kontra Heimsogeffekte durch Förderung der häuslichen Pflege

Im letzten Unterabschnitt wird versucht, aus dem gesamten Leistungskanon des SGB XI jene Leistungen zu identifizieren, die bei gegebener Pflegedisposition der informellen Pflegepersonen, die Opportunitätskosten informeller Pflege (tendenziell) verändern (können) und über die sich so ergebende Stabilisierung oder Destabilisierung häuslicher Pflege auf die Nachfrageentwicklung nach stationärer Pflege wirken. Wie unter C. erwähnt, sind nicht nur die Pflegebedürftigen relevante Akteure, sondern auch die informellen Pflegepersonen (Familienmitglieder, Angehörige), die über die jeweils "optimale" Pflegestrategie (mit)entscheiden. Im Rahmen einer ökonomisch orientierten Analyse sind dann die im SGB XI enthaltenen Anreizmechanismen hinsichtlich alternativer Pflegeformen im Kontext des (komplexen) intrafamiliären .,Pflegeproduktions- und Entscheidungsprozesses" zu analysieren 33 . Aus der Perspektive ökonomischer Mikrotheorie (mit den traditionellen Annahmen des Eigennutzaxioms und der Nutzenmaximierung als handlungsleitender Maxime) können intrafamiliäre Pflegesituationen (auch) als Austauschbeziehungen interpretiert werden. in denen finanzielle Anreize eine wesentliche Rolle spielen (können)34. In diesem Sinne können informeIIe Pflegepersonen von den Pflegebedürftigen selbst. von den von Pflegeleistungen entbundenen Angehörigen über Seitenzahlungen oder über Leistungen z. B. einer Pfle31 Bei Pflegestufe I und 11 mindestens einmal halbjährlich, bei Pflegestufe 111 mindestens einmal vierteljährlich (§ 37 SGB XI). Zudem hat der MDK bei Erst- und Wiederholungsbegutachtungen die zweckgemäße Verwendung der Barleistung zu prufen. 32

Vgl. Rothgang, S. 172-173.

Im beschränkten Rahmen dieses Beitrags kann dies natürlich nicht geleistet werden. Siehe dazu Eisen / Mager, die dieses komplexe inter- und intragenerutionelle Entscheidungsproblem in einem zwei stufigen. spieltheoretischen Ansatz modellieren. 33

34 Gary Stanley Becker geht in seinem "rotten kid-theorem" sogar davon aus, daß die Eltern ein "pflegewilliges" Verhalten ihrer "kids" durch die Anpassung von Trunsferzahlungen generieren könn· ten; vgl. Gary Stanley Becker.

9 Fachingcr/Rolhgang

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Hans-Christian Mager

geversicherung (Pflegegeld) "entlohnt" werden 35 . Vor diesem Hintergrund wird die Institutionalisierungswahrscheinlichkeit ceteris paribus steigen, wenn Mühen und Opportunitätskosten häuslicher Pflege nicht oder nicht mehr adäquat (durch intrafamiliäre Transfers) kompensiert werden 36 . Dieser Effekt läßt sich auch graphisch veranschaulichen (vgl. Abbildung 3). Ausgehend von der originären Nachfragefunktion No wirken die Leistungen des SGB XI bei notwendiger stationärer Pflege wie eine Preissenkung (P I ~ P 2). Für die Nachfrager ergibt sich ein neuer Nettopreis (P N =P 2) - die nachgefragte Menge an stationären Pflegeleistungen steigt von Xl auf X2 - die nun aktuelle Nachfragefunktion ist NI' Genau diesen Effekt unterstellen implizit die Vertreter der (moral hazard induzierten) "Heimsog"-These in ihrer Argumentation. Die Steigerung der Institutionalisierungsraten könnte dabei konträr zum Postulat des Vorrangs der häuslichen Pflege stehen.

x Abbildung 3

Tatsächlich können im Rahmen des SGB XI "Entlastungseffekte" identifiziert werden. die die ökonomische Motivlage informeller Pflegepersonen beeinflussen, d. h. die häusliche Pflegesituation destabilisieren bzw. ihre Substitution durch stationäre Pflege fördern. Es ergeben sich Entlastungseffekte, - durch die Begrenzung von Zuzahlungen bei notwendiger stationärer Pflege in Höhe der im SGB XI festgeschriebenen Leistungen;

35 Die .. Entlohnung" kann dabei final als Erbe und/oder laufend in Form regelmäßiger Übenragungen erfolgen. 30

Vgl. Eisen I Mager.

Moral hazard in der (sozialen) Pflegeversicherung?

131

- durch die Schonung des Vermögens des pflegebedürftigen Erblassers in Höhe der Leistungen bei stationärer Pflege und indirekt durch die Möglichkeit zur Erzielung von (zusätzlichen) Markteinkommen, wenn häusliche Pflege durch (teil-)stationäre Pflege substituiert wird. Auf der anderen Seite ist die (Re-) Privatisierung von Pflegesicherungsarrangements im Sinne der Stärkung informeller Pflegepotentiale explizit formuliertes Ziel der Pflegeversicherung: "Die Pflegeversicherung soll ... vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen .... Leistungen der teil stationären Pflege und der Kurzzeitpflege gehen den Leistungen der vollstationären Pflege vor." § 3 SGB XI.

Entsprechend dieser Vorgabe zielt der überwiegende Teil des Ausgabenvolumens der Pflegeversicherung in erster Linie in den häuslichen und den teilstationären Pflegebereich. Speziell hinsichtlich der Förderung und Stabilisierung häuslicher Pflegepotentiale (sollen) wirken: Die ßarleistungen in Form von Pflegegeld für selbstbeschaffte Pflegehilfen als Alternative zu Sachleistungen als häusliche Pflegehilfe (§ 37 SGß XI). Die Leistungen bei Verhinderung informeller Pflegepersonen (§ 39 SGß XI). Die Leistungen zur sozialen Sicherung informeller Pflegepersonen (§ 44 SGß XI). Die Leistungen bei erforderlicher Tages- oder Nachtpflege, wenn häusliche Pflege nicht in ausreichendem Umfang geleistet werden kann sowie unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit der Kurzzeitpflege (§§ 41 und 42 SGß XI). Der "Selbstbehalt" in Form der selbst zu zahlenden "Hotel kosten" bei stationärer Heimpflege. Das relativ umfangreiche Leistungsprogramm bei häuslicher Pflege legt die Vermutung nahe, daß eher die relativen Preise zu Gunsten dieser Pflegeform verändert werden. Zumindest erscheint es wahrscheinlich, daß die Nachfrage nach stationärer Pflege nicht nur durch Rationierung, sondern auch durch die Stärkung informeller Pflegepotentiale gedämpft werden kann 3? Die Wirkungsrichtungen der einzelnen Leistungen für bestimmte Pflegeformen sind allerdings nicht genau abzuschätzen. Es können sich gegenläufige 37 Es sei hier ausdrücklich betont, daß hinsichtlich der Wirkungen der Pflegeversicherung auf die Institutionalisierung sicher nicht ausschließlich unter Rekurs auf ökonomische Handlungsmotivationen und Restriktionen argumentiert werden kann. Der gesamte Pflegeproduktions- und Entscheidungsprozeß ist hoch komplex und multifaktoriell determiniert. Neben ökonomischen constrainl~ spielen objektive Lebenslagen eine wesentliche Rolle, wie z. B. Schulz-Nieswandt (in diesem Band) hervorhebt.

9*

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Hans-Christian Mager

Einkommens- und Substitutionseffekte ergeben, so daß der Nettoeffekt ex ante unbestimmt ist. Zudem sind auch die Entwicklungen auf der Angebotsseite zu beachten. Ob eine verstärkte Nachfrage nach stationärer Pflege überhaupt realisiert werden kann, hängt nicht zuletzt davon ab, ob ein mengenmäßig entsprechendes Angebot vorgehalten wird bzw. ob sich ein angebotsseitiger Rationierungseffekt ergibt. Von zentraler Bedeutung ist hier aber wieder die Praxis der administrativen Bedarfsprüfung durch den MDK, der unter den Bedingungen des tatsächlich für stationäre Pflege verfügbaren Budgets erfolgt.

F. Fazit Die voranstehende Analyse, die sich primär auf den informellen Pflegesektor bezog, hat gezeigt, daß moral hazard induzierte Verhaltensmuster im Sinne einer Beeinflussung der Eintrittswahrscheinlichkeit von Pflegebedürftigkeit von geringer Bedeutung sind. Präferenztheoretisch plausibel ist dagegen die ex post ~ariante einer ..Über"-Nachfrage bei manifester Pflegebedürftigkeit. Zur Zurückdrängung dieser kostensteigernden Verhaltensmuster, wie sie etwa im Bereich der GKV bestehen, enthält das SGB XI verschiedene Steuerungsmechanismen. Der Gesetzgeber hat dabei in erster Linie auf die Rationierungswirkungen administrativ-dirigistischer Instrumente gesetzt. Im SGB XI wird, erstmals in der deutschen Sozialversicherung, Budgetierung für einen gesamten Leistungsbereich konsequent angewendet. In Verbindung mit der postulierten Beitragssatzstabilität wird ein Rationierungseffekt im Sinne einer generellen Ausgaben- und Leistungsbegrenzung erzeugt. Durch die klare Entscheidung gegen das Bedarfs- und für das Budgetprinzip und in Verbindung mit einer administrativen Bedarfsprüfung des MDK wird der Handlungsspielraum für "Über"-Nachfrager in erheblichem Maße verringert. Besonders hier werden die Unterschiede der institutionellen Arrangements von Pflegeversicherung und GKV sehr deutlich. Insofern sind die Befürchtungen einer moral hazard induzierten Nachfrageexpansion (analog der GKV) unbegründet. Allerdings, durch die Budetierung in Verbindung mit der gesetzlich fixierten Beitragssatzstabilität kann zwar das Ziel einer generellen Ausgabenbeschränkung und Kostenkontrolle realisiert werden, das prinzipielle Problem der Generierung von Bedarfsmustern, die mit den durch den MDK gesetzten Pflegestandards kompatibel sind, kann auf diesem Wege aber nicht erreicht werden. Für die Wirksamkeit der administrativen Bedarfsprüfung durch den MDK im Sinne der Minimierung oder gar Verhinderung moral hazard induzierter ..Über"-Nachfragen ist entscheidend. ob und wie der MDK seinen Entschei-

Moral hazard in der (sozialen) Pflegeversicherung?

133

dungsspielraum gemäß der gesetzlichen Zielvorgabe "Vorrang der häuslichen Pflege" nutzt. Die prinzipielle Eignung der dabei anzuwendenden "Monitoring-Technologie" und die Bewältigung des Kapazitätsproblems vorausgesetzt, kann davon ausgegangen werden, daß eine Nachfragesteuerung entsprechend der gesetzlichen Zielvorgaben gelingen wird. Im Gegensatz zu staatlich-dirigistischen, sind marktwirtschaftliche Instrumente, die eine Nachfragesteuerung über die Stärkung der Konsumentensouveränität und des individuellen Kostenbewußtseins zu erreichen suchen, im SGB XI nur rudimentär verwirklicht. Die Eröffnung einer Wahlmöglichkeit für Geld- oder Sachleistungen zur Realisation individueller Pflegearrangements und marktgerechter Produzenten-Konsumenten-Beziehungen wird durch die relativ geringe Leistungshöhe und die enge Zweckbindung der Geldleistungen erheblich eingeschränkt. Aufschlüsse über die Wirkungen der institutionellen Ausgestaltung des SGB XI auf die Entwicklung der Institutionalisierungsraten sind letztlich nur durch empirische Repräsentativanalysen zu erhalten. Eindeutig ist nur, daß das relativ großzügige Leistungsprogramm bei familiär-häuslicher Pflege stabilisierend auf informelle Pflegesicherungsarrangements wirken wird. Um so mehr diese Stabilisierung den individuellen Pflegebedarfen der Pflegebedürftigen und den Präferenzen der Pflegepersonen entspricht, um so weniger wahrscheinlich ist das extreme Szenario eines moral hazard induzierten "Heimsogs". Wie bei allen Leistungsformen des SGB XI ist aber auch bei den stationären Pflegeleistungen zu beachten, daß (im Rahmen des SGB XI) eine autonome Nachfrageentwicklung durch Bedarfsprüfung und Budgetierung verhindert wird.

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Ausgabenentwicklung und Verteilungswirkungen

Die Kostenentwicklung in der niederländischen Pflegeversicherung - ein lehrreiches Beispiel? Von Stephan Winters A. Einleitung Es empfiehlt sich, vorab klarzustellen, was von diesem Beitrag nicht erwartet werden kann: Es ist dies die empirische Bestimmung eines mehr oder weniger allgemeingültigen Kosteneffekts, der der Einrichtung einer kollektiven Pflegeversicherung zuzuschreiben wäre und es daher an hand der niederländischen Erfahrungen erlauben würde, eine brauchbare Prognose für die künftig in Deutschland zu erwartende Kostenentwicklung aufzustellen. Dieser Hinweis dient nicht nur der Vermeidung von Frustrationen auf seiten der Leserinnen und Leser, sondern erscheint mir auch deshalb geboten, weil die damit zurückgewiesene Denkfigur - mehr oder weniger explizit und ausführlich vorgetragen - in der deutschen Rezeption der niederländischen Ergebnisse recht verbreitet ist. Auf diesem Weg gewonnene "Vorhersagen" sind regelmäßig unhaltbar und gelegentlich absurd I. Ein Hauptgrund für die Unmöglichkeit einer solch schlichten Übertragung ist die "Zeitverschiebung" von gut 25 Jahren zwischen dem Inkrafttreten der heiden hier behandelten Systeme. In keiner Weise ist die Ende der 60er Jahre in den Niederlanden herrschende Ausgangslage mit der heutigen hierzulande vergleichbar. Im übrigen zeigen sich bei einer Gegenüberstellung der Versicherungsarrangements ganz grundsätzliche konzeptionelle Unterschiede, die jeden Kurz-Schluß vom einen auf das andere verbieten. Gleichwohl ist ein Blick ins Nachbarland die Mühe wert. Als europaweit einziges Sozialversicherungssystem für die Pflege ist das niederländische Beispiel zwangsläufig das den deutschen Absichten nächstliegende. Wenn sich also überhaupt "lehrreiche" Erfahrungen auffinden lassen, dann dort. Im übrigen kann gerade eine Untersuchung der Unterschiede, an denen eine Direktübertragung dieser Erfahrungen auf die Bundesrepublik scheitert, in einem an-

J

Ein schlagendes, aber keineswegs das jüngste Beispiel liefert Schülke.

140

Stephan Winters

deren Sinne fruchtbar sein: Eine "Synopse" bei der Lösungen ist geeignet, einige der in Deutschland vorgesehenen Gestaltungsmerkmale der Pflegeversicherung in ein kritisches Licht zu rücken und von Fall zu Fall Alternativen anzudeuten. Dabei handelt es sich m. E. nicht bloß um ein "Nachkarten" von bloß akademischem Wert. Vielmehr legen mehrere der in diesem Band versammelten kritischen Beiträge2 ebenso wie die fortgesetzte und von vielerlei Unsicherheiten gekennzeichnete öffentliche Debatte die Vermutung nahe, daß mit der nun beschlossenen gesetzlichen Regelung das letzte Wort in der Pflegefrage noch längst nicht gesprochen ist. In diesem Sinn mag sich die niederländische Pflegeversicherung am Ende doch noch als "lehrreiches Beispiel" erweisen. Zunächst aber ist es erforderlich, die gesetzliche Pflegeversicherung in den Niederlanden in groben Zügen zu skizzieren und die in deren Rahmen eingetretenen Kostenverläufe insoweit darzustel1en und zu analysieren, wie es die mir zugänglichen Daten erlauben. Daß diese Arbeitsschritte relativ viel Raum einnehmen, ist unvermeidlich. Die Pflegeversicherung und ihre Resultate sind nur dann richtig zu verstehen und für Vergleichszwecke nutzbar, wenn sie zusammenhängend und einigermaßen vollständig erläutert werden; das Herausgreifen einzelner Daten oder Regelungselementen führt zumeist in die Irre. B. Das Regelwerk der niederländischen Pflegeversicherung im Überblick Seit 1968 ist das Pflegerisiko in den Niederlanden als Teil einer gesetzlichen Versicherung gegen "Besondere Krankheitskosten" kollektiv abgedeckt. Zur Finanzierung tragen alle Bevölkerungsgruppen nach Maßgabe des jeweiligen Einkommens bei. Die Bemessungsgrundlage der proportionalen Beiträge umfaßt demgemäß die gesamten steuerpflichtigen Einkünfte aller Art bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Diese ist identisch mit der Oberkante der unteren Stufe des Einkommensteuertarifs und lag 1990 bei rd. 42.000 hfl 3 im Jahr. Der Grundfreibetrag der Einkommensteuer (rd. 4.500 hfl) gilt auch für die Beitragsberechnung. Die Leistungen der Pflegeversicherung haben durchweg Sachform, Geldleistungen werden nicht gewährt. Zu unterscheiden ist zwischen dem stationären (einschließlich des teilstationären) und dem ambulanten Sektor, der wiederum in zwei Teilbereiche zerfällt:

2

Zum Beispiel diejenigen von Allemeyer und von Jacobs (in diesem Band).

I htl entspricht etwa DM 0,90. Bei Vergleichen mit deutschen Daten ist dieser Kurs auch zur Umrechnung angewandt worden. 3

Die niederländische Pßegeversicherung - ein lehrreiches Beispiel?

141

- die häusliche Pflege im engeren Sinn und die Hilfe bei der Haushaltsführung. Im Fall der stationären Pflege trägt die Versicherung im Prinzip die gesamten Heimkosten, von denen sie aber einen Teil an den Heimbewohner überwälzt. Dieser Selbstbehalt richtet sich - unabhängig vom Pflegesatz - allein nach dem Einkommen der Betroffenen und beträgt im Höchstfall 2.200 hfl 4 . So wird ausgeschlossen, daß im Pflegefall zur Deckung der damit verbundenen Kosten auf das Vermögen oder auf Sozialhilfe zurückgegriffen werden muß. Andererseits ist die Regelung so ausgestaltet, daß im Bereich "normaler" Alterseinkommen der weitaus größere Teil davon eingezogen wird 5 . Um einen Heimpflegeplatz einnehmen zu können, bedarf es zunächst einer entsprechenden Indikation, für deren Erteilung eine lokale Fachkommission zuständig ist. Diese Bedarfsbescheinigung eröffnet aber nicht immer unmittelbar den Zugang ins Heim. Vielmehr führt eine zentrale Steuerung der stationären Kapazitäten zum Entstehen von Wartelisten 6 . Ähnlich wie die voll stationäre Pflege geregelt und relativ weit verbreitet ist in den Niederlanden die Tagesbetreuung im Heim. Teil des ambulanten Leistungswesens ist die qualifizierte häusliche Pflege durch die gemeinnützige Vereinigung "Kruiswerk". Ihr Umfang beträgt maximal 2,5 Stunden pro Tag und wird im Einzelfall nach dem konkret feststell baren Bedarf bemessen. Daneben spielen aber auch hier zentral gesteuerte Kapazitätsgrenzen eine Rolle. Ein Eigenbeitrag der Leistungsempfänger wird bislang i. d. R. nicht erhoben. Stattdessen zahlen die Niederländer in ihrer großen Mehrheit als Mitglieder der Vereinigung einen geringfügigen lahresbeitrag. Einen konzeptionell wichtigen Sonderfall ambulanter Betreuung stellt die ,Jntensive häusliche Pflege" dar, die das "Kruiswerk" unter Einbeziehung anderer Träger koordiniert. Bei ihr ist das Stundenmaximum aufgehoben, so daß für eine beinahe pausenlose Begleitung gesorgt werden kann. Insbesondere Sterbenden soll dadurch die Möglichkeit eröffnet werden, in ihrer vertrauten Umgebung zu bleiben7 . Es ist ohne weiteres anzunehmen, daß diese Regelung nicht nur für die Betroffenen und ihre Angehörigen, sondern auch für die Bewohner, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der dadurch entlasteten Heime von größter Bedeutung ist. 4

Siehe _ auch für die Details der Regelung - Inforrnatiecentrum Zorg en Welzijn.

Das gilt uneingeschränkt allerdings nur dann. wenn nach dem Einzug ins Pßegeheim kein eigener Haushalt mehr fortbesteht. Bleibt ein Partner dort zurück oder besteht eine Aussicht auf Rückkehr. so wird der Eigenbeitrag zu den Heimkosten stark reduziert. 5

6 Zur Kritik an dieser unvollständigen Einlösung anerkannter Leistungsansprüche siehe Laurs I Teuben. 7

Vgl. Tweede Kamer, S. 99.

Stephan Winters

142

Den zweiten Pfeiler des ambulanten Sektors stellt die Hilfe bei der Haushaltsführung dar, die in den Niederlanden unter dem Titel "Familienhilfe" firmiert und auch einfachere Pflegetätigkeiten umfaßt. Auch hier wird der Bedarf individuell ermittelt, wobei nicht allein die Verfassung des Leistungsempfängers selbst, sondern auch die Einsatzfähigkeit der Menschen in Betracht gezogen wird, mit denen er im gleichen Haushalt zusammenlebt8 . Hierin äußert sich eine auf die konkrete Situation bezogene Variante des Subsidiaritätsgedankens9 . Im Durchschnitt beträgt der Leistungsumfang derzeit etwa 4,3 Stunden pro Woche lO ; der Eigenbeitrag von rund 10 hfl pro Stunde ist an monatliche Höchstbeträge gebunden, die wiederum einkommensabhängig sind. C. Die Kosten und ihre Bestimmungsfaktoren I. Die aktuelle Kostenstruktur im Überblick

Für das Jahr 1992 stellt sich die Verteilung der von der Versicherung getragenen Kosten auf die genannten Pflegebereiche wie in Abbildung 1 angegeben dar. Die Summe von 6,73 Mrd. hfl entspricht - zuzüglich der VerwaItungskosten und der nicht eigens betrachteten Aufwendungen für Hilfsmittel - einem Beitragssatz von rd. 2,45 Prozent. Der in der Debatte hierzulande gelegentlich genannte Beitragssatz von 7,3 % erklärt sich daraus, daß die für die Pflege zuständige Volksversicherung auch andere Leistungsbereiche wie die allgemeine Psychiatrie und sogar die Arzneimittelversorgung umfaßt ll . Als Abschrekkungsargument in der Debatte um die Pflegeversicherung ist er irreführend l2 . Hinsichtlich der Anteile ist in den letzten Jahren eine leichte Verschiebung aus dem voll stationären Sektor in die übrigen Bereiche zu beobachten, von denen die teil stationäre Pflege relativ am schnellsten wächst. Der Deckungsgrad der angegebenen Versicherungsleistungen, also ihr Anteil an den jeweiligen 8

Vgl. Landelijke Vereniging voor Thuiszorg (1990), S. 5.

Zum Kontrast: Auf einem eher abstrakten Verständnis von Subsidiarität fußt die von Thiede vorgeschlagene Regelung, die Leistungen (wie die Beiträge) einer Pflegeversicherung nach der Kinderzahl des Betroffenen zu staffeln, ohne den Wohnort und die Lebensverhältnisse der Kinder zu berücksichtigen. 9

IU

Tweede Karner, S. 107.

Siehe flir eine vollständige Liste und als Berechnungsbasis flir den hier angegebenen pflegebewgenen Beitragsanteil Stichting Centraal Administratie Kontoor Algemene Wet Bijzondere Ziektekosten (CAK-A WBZ) (1993), S. 52 f. 11

12 Als Beispiel flir solche Irreflihrung siehe die Äußerungen des Arbeitgeberpräsidenten Murmann 11. HANDELSBLA TI vom 31.03.1994: .. Der Gesetzentwurf der Pflegeversicherung hat seine Geschäftsgrundlage verloren".

Die niederländische Pflegeversicherung - ein lehrreiches Beispiel?

143

Gesamtkosten 1992: 6,732 Mrd. hfl Hilfe in Haushalten 1,640 Mrd.

ambulant 2,534 Mrd.

stationär 4,057 Mrd.

häusliche Pflege 0,894 Mrd.

teilstationär 0,141 Mrd. Quelle: Eigene Darstellung anhand von Angaben bei CAK-A WBZ (1993), S. 52. Abbildung I: Kostenstruktur der niederländischen Pflegeversicherung

Gesamtkosten des Sektors, liegt sowohl bei der stationären als auch bei der ambulanten Pflege oberhalb von 80 %: Die Eigenbeiträge der Versicherten machen in der Summe bei der stationären Pflege rd. 11 %, bei der ambulanten knapp ein Fünftel der Gesamtkosten aus 13.

11. Entwicklung und Stand der Kosten, Fallzahlen und Versorgungsgrade Ein lückenloses und systematisches Gesamtbild kann hier mangels verfügbarer Daten nicht vermittelt werden und ist im übrigen auch nicht intendiert. Vielmehr beschränkt sich die Darstellung im Interesse der Lesbarkeit auf wesentliche und wenigstens im Ansatz interpretationsfähige Kennzahlen. Dieses bewußt selektive Vorgehen hat auch zur Folge, daß die auf die einzelnen Leistungsformen bezogenen Abschnitte nicht analog aufgebaut sind, sondern unterschiedliche Schwerpunkte haben.

13 Eigene Berechnungen anhand von CAK-AWBZ (1993), S. 51 f., bzw. Landelijke Vereniging voor Thuiszorg (1993), S. 25.

Stephan Winters

144

J. Stationärer Sektor

Anders als die ambulanten Dienste, die lange aus Steuermitteln finanziert bzw. bezuschußt worden sind, ist die Heimpflege von Beginn an Gegenstand der Volks versicherung gewesen. Daher existieren für dieses Segment auch lange Reihen vergleichbarer Kosten- und Mengendaten, die für den Zeitraum von 1972 bis 1989 in einer Arbeit von Groenen und v. d. Wouden gründlich aufbereitet worden sind. Abbildung 2 zeigt ihren Befund im Überblick. Kostenanstieg im stationären Sektor zwischen 1972 und 1989 (real) _ _ _ _ _ _ 124% _ _ _ _ _ _ Menge in Pflegetagen 73%

Preis pro Pflegetag 29%

darunter Anzahl vollstationärer Betten

/52%~ Anzahl der über 65jährigen 25%

Heimquote 20%

darunter Personalkosten pro Pflegetag

/41%~ Lohnsatz 29%

Personaistärke 9%

Anm.: Die an den Gabelungen genannten Raten sind jeweils das Produkt der Steigerungen an den Ästen in Indexform. Bsp.: 1,73 (Menge) x 1,29 (Preis) =2,24 (Kosten). Quelle: Eigene Darstellung anhand von Groenen I Van der Wouden, bereits enthalten in Winters (1994). Abbildung 2: Kostenanstieg im stationären Sektor

Danach ist für den Beobachtungszeitraum im Durchschnitt ein realer Anstieg der Gesamtkosten um rd. 4,85 % jährlich zu verzeichnen gewesen. Die Entwicklung der Leistungsmenge schlägt dabei deutlich stärker zu Buche als die reale, also um den Anstieg im allgemeinen Preisindex der Lebenshaltung bereinigte Steigerung der Pflegesätze. Während die letztere Komponente erwartungsgemäß von der Entwicklung der Personalkosten geprägt ist l4, wirkt sich hinsichtlich der Menge die Erhöhung des Versorgungsgrades annähernd ebenso stark aus wie das Wachstum der Bevölkerung in den hohen Altersklassen. Vorschnell wäre es jedoch, angesichts dessen einen "Heimsog" als Folge versicherungsbedingter "Fehl anreize" zu konstatieren. Vielmehr war es ein erklärtes Ziel der Pflegeversicherung, der Ende der 60er Jahre erst in Ansätzen vorhandenen stationären Infrastruktur zu einem kräftigen Wachstumsschub zu

14

Die sonstige Kosten haben nur um 9 % zugenommen.

145

Die niederländische Pflegeversicherung - ein lehrreiches Beispiel?

verhelfen l5 . Erst Anfang der 80er Jahre wurde dies Versorgungsziel als erreicht betrachtet und eine Akzentverschiebung in Richtung auf ambulante Alternativen zur Heimpflege eingeleitet. Am Verlauf der oben nur summarisch abgebildeten Kennwerte ist das deutlich ablesbar: In den 80er Jahren wächst die Heimkapazität nunmehr langsamer als die AItersbevölkerung, die Heimquote geht folglich zurück. Etwa gleichzeitig macht sich die Umstellung von der herkömmlichen Kostenerstattung auf ein Budgetierungsverfahren bemerkbar, das erstmals einen Anreiz zu wirtschaftlichem Verhalten schuf; bei den sächlichen Kosten wird dadurch zeitweilig ein realer Rückgang bewirkt. Der Einfluß dieser Maßnahme auf die Gesamtkosten bleibt freilich begrenzt, da der Effekt von Tariflohnsteigerungen außerhalb des Budgets ausgeglichen wird l6 . Es ist daher eher ein Zufall I7 , daß zwischen 1980 und 1985 auch die Personalkosten pro Patient und damit die realen Pflegesätze insgesamt rückläufig sind. Tabelle 1 zeigt die Verläufe der Kostenindizes im Überblick. Tabelle I

Reale Kostenindizes 1972 -1989 (1972 =100) Jahr

1980

1985

Anzahl Pflegetage

152

166

173

131

125

129

138 118

131 114

141 109

Pflegesatz darunter - Lohnkosten pro Patient - Sonstige Kosten pro Patient

1989

Quelle: Groenen I Van der Wouden, S. 111 f.

Im übrigen scheint die Entwicklung nach 1989 18 darauf hinzudeuten, daß die Spiel räume zur Kostendämpfung sowohl bei den Pflegesätzen als auch im Hinblick auf die Senkung der Heimquote erschöpft sind: Bis 1992 sind die Pflegesätze wieder um jährlich 1,7 % rascher gestiegen als die Lebenshaltungskosten. Ist in diesem Zeitraum die Entwicklung der Kapazität immer noch schwächer als die der Anzahl alter Menschen, so kündigt sich neuerdings auch hier eine Wende an: Im Gegensatz zu der noch Ende der 80er Jah15

Siehe dazu etwa B/ommestijn, Kap. 7.

16

Vgl. Groenen I Van der Wouden, S. 113.

Dahinter steckt eine Verlängerung der Ausbildungszeit für Pflegekräfte, siehe Groenen I Van der Wouden, S. 113 f. 17

IR Die folgenden Aussagen rekurrieren auf eigene Berechnungen anhand von CAK-AWBZ (versch. Jahrgänge) und Centraal Bureau voor de Statistiek (1991 und 1993). 10 Fachingcr/Rothgang

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146

re herrschenden Vorstellung, man könne die Heimpflege zugunsten ambulanter Dienste noch viel weiter zurückdrängen, wird nunmehr zum Abbau der Wartelisten eine beschleunigte Aufstockung der Bettenzahl für notwendig gehalten und alimentiert l9 . Der im Jahre 1992 erreichte Stand der Pflegesätze im stationären Sektor beträgt durchschnittlich 7.350 hfl im Monat. Eine vergleichende Bewertung dieser Zahl wird im Abschnitt Derfolgen.

2. Ambulanter Sektor Eine Analyse bisheriger Entwicklungen über einen längeren Zeitraum ist mit den mir vorliegenden Daten nicht möglich. Auch die gegenwärtigen Kosten pro Leistungseinheit lassen sich nur auf Umwegen und daher ohne Anspruch auf Präzision ermitteln. Bei der häuslichen Pflege im engeren Sinn betragen sie demnach umgerechnet etwa 61 hfl pro Einsatz und sind in den vergangenen Jahren (1987-1991) real leicht gesunken 20. Eine der Heimplatzzahl vergleichbare Größe, also die Anzahl der Klientinnen und Klienten zu einem Zeitpunkt, wird in diesem Bereich nicht erfaßt, stattdessen die Anzahl der im Laufe eines Jahres betreuten Personen im Verhältnis zur jeweiligen Altersgruppe. Die entsprechende Quote beträgt bei den 70-79jährigen gut 15 %, für die noch Älteren sogar über 35 %21. Die sehr geringe Anzahl der Besuche pro Kopf und Jahr22 deutet aber darauf hin, daß sich hinter diesen "Reichweiten pro Jahr" eine sehr starke Fluktuation verbirgt, so daß der Anteil der zu einem Zeitpunkt in Betreuung befindlichen Personen erheblich geringer sein dürfte. Im Segment der Hilfe bei der Haushaltsführung betrugen die Kosten 1991 berechnet etwa 37,5 hfl pro Stunde und sind - auch dies im Gegensatz zur ambulanten Pflege i. e. S. - in den letzten Jahren mit real 3 % p. a. recht deutlich angestiegen. Zu erklären ist dies bei steigenden Klientenzahlen wohl mit einem gewissen Fixkostenelement pro Betreuungsfall und mit zunehmenden Problemen bei der Rekrutierung von Personal 23 , die überproportionale Lohn19

Siehe Tweede Kamer, S. 13 f. und S. 91 f.

Errechnet auf Ba~is von Nationale Kruisverenigung, S. 14, bzw. Landelijke Vereniging voor Thuiszorg (1993), S. 39. 20

21

Tweede Kamer, S. 108.

Für 1991 werden im Durchschnitt bei den 70-79jtihrigen 23,S Besuche im Jahr, bei den noch Älteren 32,5 angegeben (Landelijke Vereniging voor Thuiszorg (1993), S. 40). 22

Die niederländische Pflegeversicherung - ein lehrreiches Beispiel?

147

steigerungen erzwingen. Genauer als im Bereich der häuslichen Pflege kann für die haus wirtschaftliche Hilfe die Reichweite des Angebots bestimmt werden: Zuletzt wurden in einem Vier-Wochen Zeitraum, in dem die Fluktuation nur eine geringe Rolle spielen dürfte, 226.000 betreute Personen gezählt, von denen über 80 % älter als 65 Jahre waren. Demnach erreicht diese Betreuungsform etwa 9,5 % der Altersbevölkerung. Nur näherungsweise können anhand der verfügbaren Daten aus einer Zusammenführung bei der Teilsektoren die Gesamtkosten der ambulanten Betreuung pro Fall bestimmt werden: Die Division der insgesamt zu Lasten der Versicherung im Jahr 1992 abgerechneten Kosten durch die Klientenzahl der Hauswirtschaftshilfe ergibt einen monatlichen Satz von rd. 935 hfl. Er basiert auf der - durchaus fragwürdigen - Annahme, daß niemand häusliche Pflege erhält, der nicht auch Haushaltshilfe in Anspruch nimmt. Andernfalls läge der durchschnittliche Kostensatz niedriger. Angesichts dieser Zahl läßt sich zusammenfassend sagen, daß die Kosten des ambulanten Sektors - ganz anders als in der Heimpflege - das Produkt einer relativ großen Reichweite und - aufgrund restriktiver Bemessung der Leistungsmengen - relativ geringer Fallkosten sind. Die folgende Gegenüberstellung mit der Bundesrepublik wird dies noch verdeutlichen.

D. Sind ähnliche Ergebnisse für die Bundesrepublik zu erwarten?Einige kostenrelevante Unterschiede In Deutschland leben rd. sechsmal so viele alte Menschen wie in den Niederlanden. Umgerechnet allein anhand dieser Proportion 24 , würde eine Pflegeversicherung nach niederländischem Muster in Deutschland etwa 36,5 Mrd. DM pro Jahr erfordern. Dies entspräche einem Beitragssatz von gut 2, I %25. Bei der Bewertung dieser Größe ist in Rechnung zu stellen, daß in den Niederlanden keine Zusatzbelastung bei der Sozialhilfe entsteht. Es versteht sich, daß das Ergebnis einer solchen mechanischen Umrechnung nicht als Prognose für die mittelfristige Entwicklung in Deutschland 2.1

Vgl. Landelijke Vereniging voor Thuiszorg (1993). S. 30 f.

24

Also 6.73 Mrd. hfl (siehe oben) multipliziert mit 6.02 multipliziert mit Wechselkurs.

25 Zufällig entspricht dies recht genau dem oben für die Niederlande abgeleiteten Satz. Eine Reihe in ihren Effekten gegenläufiger Unterschiede heben sich offenbar auf. Während die hierzulande deutlich höhere Bemessungsgrenze zu einem niedrigeren Beitragssatz führen müßte. wirken die ungünstigere Altersstruktur und die fehlende Einbeziehung aller Einkommensbezieher und Einkunftsarten entgegengesetzt. Überdies sind freilich die Erwerbsquoten und die Einkommensstrukturen relevant.

10*

148

Stephan Winters

taugt. Bevor die Regelungen in bezug auf die Leistungsarten im einzelnen verglichen werden, ist auf drei grundsätzliche Systemunterschiede hinzuweisen: Erstens entstehen in den Niederlanden keine Kosten aus der Absicherung von Pflegepersonen in der gesetzlichen Rentenversicherung wie sie in der Bundesrepublik vorgesehen ist. Eine solche Regelung erübrigt sich, da in den Niederlanden anstelle der beitrags bezogenen Rente eine einheitliche Grundrente gewährt wird. Zum zweiten ist das niederländische System, wie schon erwähnt, von einer zentralen Steuerung der Pflegekapazitäten gekennzeichnet. Ein Verzicht auf dieses in Deutschland nicht vorgesehene Instrument würde ceteris paribus - das heißt ohne Berücksichtigung eventueller Preiseffekte - in den Niederlanden über den Abbau der Wartelisten zu einem Anstieg der Kosten führen müssen. Schließlich ist zu vennuten, daß die Gewährung von Geldleistungen in der Bundesrepublik Mitnahmeeffekte durch solche Personen auslöst, die Sachleistungen nicht in Anspruch nehmen würden. Ob dieses Phänomen eine für die Gesamtkosten relevante Größenordnung annimmt, sei dahingestellt. Führen die bisher genannten Unterschiede tendenziell zu Mehrkosten auf deutschen Seite, so wirken die Unterschiede in der eigentlichen Leistungsordnung - stets unter Vernachlässigung ihrer ,,Folgekosten" bei der deutschen Sozialhilfe - in der Mehrzahl eher entgegengesetzt: Im stationären Sektor fällt dabei zunächst der bereits genannte Pflegesatz ins Auge: Mit umgerechnet durchschnittlich über 6.600 DM pro Monat im Jahre 1992 werden die deutschen Vergleichswerte26 erheblich überschritten. Die wesentliche Erklärung dafür liegt in der rund doppelt so reichlichen Personalausstattung 27 niederländischer Heime, die mit einem ebenfalls spürbaren Unterschied in der Qualität der Pflege einhergehen dürfte 28 . Daß der hohe 26 Der Landschaftsverband Rheinland gibt für Deutschland einen durchschnittlichen Pflegesatz von monatlich DM 4.350 für den Fall der "Schwerpflegebedürftigkeit" an. Siehe Hamburger Abendblatt vom 3. August 1994. 27 Siehe für eine kleine tabellarische Gegenüberstellung Winters, S. 20. Die dort benutzten Angaben aus dem Jahr 1990 erscheinen mir nicht sehr revisionsbedUrftig. Die von Allemeyer, S. 496 f., genannten Stellenschlüssel (Pflegeplätze pro beschäftigte Pflegekraft) unterschreiten in keinem Bundesland und für keine Pflegestufe den Wert 2. In niederländischen Pflegeheimen entfallen hingegen auf eine Vollzeit-PfIegekraft nur rd. 1,2 Patientinnen. 28 Es versteht sich, daß eine gute Personalausstattung keine hinreichende Bedingung für Qualität ist, notwendig ist sie aber auf jeden Fall. Ansätze zu einem deutsch-niederländischen Qualitätsvergleich hat das Kuratorium Deutsche Altershilfe 1980 unternommen und dabei z. B. einen signifikanten Unterschied bei der Vermeidung von Bettlägerigkeit festgestellt (siehe Kuratorium Deutsche Altershilfe (1980), S. 6 und 8). Eindringliche Klagen über die Folgen unzureichender Personal ausstattung in deutschen Heimen sind auch heute noch zu vernehmen. Siehe etwa Süddeutsche Zeitung Nr. 21411994: "Pflegeheime werden zu Sterbeheimen".

Die niederländische Pflegeversicherung - ein lehrreiches Beispiel?

149

Personal besatz im übrigen auch mit einer im Durchschnitt ausgeprägteren Pflegebedürftigkeit niederländischer Heimbewohner zu tun haben könnte, läßt ein Blick auf die Heimquoten beider Länder vermuten. Im Widerspruch zur gerade für die Niederlande vielfach geltend gemachten These vom "Heimsog"29 sind sie in den Niederlanden deutlich geringer als hierzulande (siehe Tabelle 2)30. Tabelle 2 Heimquoten 1989 besetzte Pflegebenen (vollstationär) insgesamt pro I ()() Einwohner ab 65 pro I ()() Einwohner ab 80

Deutschland (West)

Niederlande

361.489 3,76 15,11

50.066 2,63 11,70

Quelle: Krug I Reh, Nationaal Ziekenhuisinstituut und eigene Berechnungen.

Was nun die Kosten der Versicherung betrifft, so ist zu beachten, daß neben dem Pflegesatz selbst hierzulande auch der Anteil davon geringer ist. den die Pflegeversicherung übernimmt. Die Leistungen sind hier auf 2.800 DM im Monat begrenzt, wobei 2.500 DM im Durchschnitt nicht überschritten werden dürfen. Im Nachbarland werden hingegen selbst im Fall höchster Selbstbeteiligung noch über 4.600 DM, im Durchschnitt sogar 5.850 DM fällig 31 . Ein Teil dieses - zulasten der finanziellen Schutzwirkung und der Pflegequalität erzielten - "Kostenvorteils" auf deutscher Seite wird freilich durch die relativ hohe Heimquote aufgezehrt. Ob diese im Gefolge der Versicherung dem niederländischen Niveau angenähert werden kann, ist nicht absehbar und dürfte in erster Linie von der quantitativen wie auch von der inhaltlichen Entwicklung der ambulanten Angebotsstruktur abhängen. Im ambulanten Bereich sind die Kosten in den Niederlanden unter großzügigen Annahmen auf 935 hfl oder 842 DM pro Fall und Monat geschätzt worden. Die von der Versicherung zu tragenden Kosten pro Fall sind in Deutsch29 Aus theoretischen Blickwinkeln kritisch beleuchtet wird diese These in den Beiträgen von Schulz-Nieswandt und Mager (in diesem Band). 30 Die Tabelle ist aus Winters, S.14, entnommen, wo auch einigen möglichen Einwänden gegen die Vergleichbarkeit der Werte nachgegangen wird. Insbesondere wird gezeigt, daß die Warte listen der niederländischen Pflegeheime keineswegs so lang sind, daß sie die Diskrepanz zu erklären vermöchten. 31 Im Durchschnitt beträgt die Selbstbeteiligung niederländischer Heimbewohnerinnen und -bewohner knapp 850 hfl im Monat. Siehe CAK-AWBZ (1993), S. 51.

150

Stephan Winters

land selbst dann höher, wenn die Leistungsempfänger in großer Mehrheit die - vergleichsweise niedrigen - Pflegegelder präferieren, wie sie es unter den Bedingungen der bisherigen Krankenkassenregelung getan haben 32 . In der Tat sind es auch in bezug auf das Elfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) nach einer ersten Bilanz des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung sogar "weniger als 20 % der Fälle", in denen die Sachleistung gewählt wird33 . An gleicher Stelle wird die bisherige Verteilung der Bewilligungen auf die Pflegestufen wie folgt angegeben: - Stufe I: 38,3 %, - Stufe 11: 43,0 %, - Stufe III: 18,7 %. Die nach dieser Antragslage und bei einem Verhältnis von genau 4:1 zugunsten der Geldleistung zu erwartenden monatlichen Durchschnittsleistungen für ambulante Pflege - exklusive der Beihilfen für Sachmittel, Wohnungsumbau u. ä. - belaufen sich auf knapp 910 DM und überschreiten damit den niederländischen Vergleichswert geringfügig. Tabelle 3 illustriert anhand einiger Konstellationen, wie dieser Mittelwert auf Veränderungen in der Verteilung der Fälle nach Leistungsstufen und Leistungsform reagiert. Tabelle 3

Durchschnittliche Leistung der deutschen Pflegeversicherung pro Fallambulanter Sektor, in DM pro Monat Verhältnis Geld-/Sachleistung

Stufenverhältnis

1111/111

75:25

80:20

85:15

35:40:25 40:40:20 40:45:15

1009 950 919

964 908 878

919 866 837

Quelle: Eigene Berechnungen anhand des SGB XI.

Vermutlich muß also trotz starker Neigung zur kostengünstigen Geldleistung in Deutschland im Durchschnitt pro Fall mehr aufgewandt werden als in den Niederlanden. Dieser Befund ist zunächst erstaunlich, da in den Niederlanden zumindest der Anspruch gilt, den tatsächlichen Bedarf im Einzelfall voll abzudecken, während doch die deutsche Regelung systematisch Versor32 Das Verhältnis der Fallzahlen betrug 1992 - bei gegenüber dem Vorjahr rückläufiger Tendenznoch 4: I zugunsten der Geldleistung. Vgl. Deutscher Bundestag, S. 70. 33 Siehe HANDELSBLATT vom 10. Februar 1995: "Blüm: Notfalls weniger Geld".

Die niederländische Pflegeversicherung - ein lehrreiches Beispiel?

151

gungslücken läßt34 . Das Geheimnis dieser anscheinend höheren ,,Effizienz" der niederländischen Lösung liegt zum einen darin, daß sie im Wege der einzelfallbezogenen Leistungszumessung weitaus stärker differenziert als das deutsche Stufenschema. (Inwieweit allerdings das Ergebnis solcher Feinsteuerung bei generell knappen Kapazitäten auch in jedem Fall tatsächlich als "bedarfsgerecht" gelten kann und empfunden wird, steht auf einem anderen Blatt.) Zum anderen wirkt sich hier wohl auch die Tatsache aus, daß die Leistungen in den Niederlanden breiter gestreut sind und daher auch weniger schwere Fälle betreffen. In Hinblick auf die Zahl der ambulant versorgten Fälle nämlich ist die deutsche Lösung recht eindeutig die restriktivere - und insofern wiederum billigere. Selbst unter Vernachlässigung der mittlerweile vom BMA durchgesetzten ,,90-Minuten-Klausel"35, also allein nach den Bestimmungen des Gesetzes ist festzustellen: Es werden bestenfalls alle diejenigen Anspruch auf Leistungen haben, bei denen ein ,,regelmäßiger Pflegebedarf' im Sinne der InfratestStudie vorliegt 36 . (Vergleicht man die dortige Definition mit dem Wortlaut der entsprechenden Bestimmung des § 15 Abs. 1 Ziffer 1 SGB XI, so ist die letztere sogar eher noch enger gefaßt.) "Regelmäßig pflegebedürftig" sind von den über 65jährigen laut Infratest in Deutschland 6,7 %37. Wenn also in den Niederlanden mindestens 9,5 % der Altersbevölkerung im Rahmen der Versicherung ambulant betreut werden, so ist die faktische Zugangsschwelle dort höchstwahrscheinlich38 bedeutend niedriger als hierzulande vorgesehen und wird vielfach auch von solchen Personen überschritten, denen die InfratestStudie allein "Hilfebedürftigkeit" attestiert. E. Kostenexplosion versos Leistungsimplosion Überlegungen zum Schluß Eine umfassende Quantifizierung und Saldierung der im vorigen Abschnitt besprochenen kostenrelevanten Unterschiede zwischen den Systemen ist nicht möglich. Und wäre sie es, so stünde eine so fundierte Kostenprognose immer 34

Siehe den Beitrag von Al/emeyer in diesem Band.

35 Leistungen (gemäß Stufe I) können nur dann beansprucht werden. wenn die täglich benötigte Pflege einen Zeitaufwand von minimal 90 Minuten erfordert; siehe PfIegebedürftigkeits-Richtlinien, Nr.4.1.1. 36

Schneekloth I PouhojJ, S. 53 ff.

Errechnet nach den Angaben aus Schneek/oth I Pouhojj; S. 105 f. Bei der Angabe Seite I 04 handelt es sich um einen Tippfehler. 37

.,7,6 %" auf

38 Unterschiede im Bedürftigkeitsprofil zwischen den Bevölkerungen bei der Länder können nicht ausgeschlossen werden, sind aber in signifikantem Umfang kaum plausibel.

152

Stephan Winters

noch unter dem Vorbehalt der in meinen Augen völlig unsicheren Entwicklung des politischen Umgangs mit der Pflegeversicherung. Letztlich entscheidet sich die Kostenentwicklung der deutschen Pflegeversicherung wesentlich an der künftigen Auslegung der Klausel von der "Beitragssatzstabilität" und damit an einer Frage, die sich jeder ökonomischen und zahlenmäßigen Analogiebildung entzieht. Wichtig für die spezielle Ausgangslage in diesem absehbaren Dauerstreit ist der Umstand, daß das System durch den Universaldeckel des Beitragsvolumens in Verbindung mit den einzelnen Leistungsdeckeln im technischen Sinn gegen autonome Preis- und Nachfragebewegungen weitgehend immunisiert ist. In Anerkennung dieses Sachverhalts bleibt mir nichts anderes übrig, als abschließend einige tentative Überlegungen grundsätzlicher Art zur Diskussion zu stellen, die von den beschriebenen Erfahrungen mit der niederländischen Pflegeversicherung und ihrer Gegenüberstellung mit dem künftigen deutschen Pendant inspiriert sind. Zunächst hat sich gezeigt, daß die Pflegeversicherung in Holland zwei Extremphasen durchlaufen hat, die beide nach jeweils rund einem Jahrzehnt ein wohl unabwendbares Ende gefunden haben: Stand in der Gründungsphase das Motiv der raschen und umfassenden Bedarfsdeckung um nahezu jeden Preis im Vordergrund, so hat die dadurch erzeugte Kostendynamik anschließend zu einem Umschlag ins Gegenteil geführt. Dabei war der Tritt auf die Kostenbremse sozialpolitisch von der Vorstellung flankiert, daß der relative Abbau von Heimkapazitäten zugunsten einer verstärkten Förderung ambulanter Dienste auch im Interesse der Betroffenen liege. Dieser Ansatz ist im Sinne einer mehr oder weniger verträglichen Senkung der Heimquote durchaus erfolgreich gewesen, bis er Anfang der 90er Jahre ebenfalls an Grenzen stieß. Zwar gilt die Substitution stationärer durch ambulante Pflege bzw. die Auflockerung der Grenze zwischen beiden Formen auch heute noch als Ziel bild, an dessen Umsetzung ..auf Mikro-Niveau" gearbeitet wird. Als Zauberformel zur gleichermaßen kostengünstigen und fortschrittlichen Bewältigung des Kostenproblems hingegen hat sie erkennbar ausgedient. Da auch die (verbliebenen) Rationalisierungsspielräume bei der Erstellung von Pflegeleistungen als klein gelten, wenn die Qualität gewahrt bleiben so1l39, scheinen moderate, 39 Ausgeklammert bleibt hier die Diskussion um die möglicherweise günstigen Folgen von (mehr) Wettbewerb zwischen Versicherungsträgern bzw. Anbietem von Pflegeleistungen. Auch die Niederlande bemühen sich auf der Ebene des Krankenversicherungswesens insgesamt seit Jahren um eine entsprechende Reform. die allerdings bislang aufgrund vielfliltiger Widerstände nicht zum Durchbruch gekommen zu sein scheint. Unabhängig von den generellen Unklarheiten ist strittig, ob der Pflegebereich, der als besonders sensibel gilt, von den Reformmaßnahmen ausgenommen werden soll. Zu den Problemen einer solchen gespaltenen Lösung siehe den Beitrag von Jacobs in diesem Band.

Die niederländische Pflegeversicherung - ein lehrreiches Beispiel?

153

aber anhaltende Kostensteigerungen als Folge des Wachstums der Altersbevölkerung und der Pflegelöhne nunmehr akzeptiert zu werden. Nach meinem Eindruck hat sich also ein - sicher nur halbwegs stabiles - Gleichgewicht herausgebildet, das zwischen der höchstens akzeptierten Beitragslast und dem mindestens erforderlichen Versorgungs- und Versicherungsstandard die Balance hält. -

Im Ergebnis zeigt sich ein Arrangement, das Verarmung als Folge des Pflegefalls verhindert, eine hohe Qualität insbesondere der Heimpflege gewährleistet, die Leistungsvoraussetzungen nicht zu restriktiv formuliert und ein recht breites und differenziertes Spektrum von Leistungen bereithält.

Zur Eindämmung der Gesamtkosten dienen dabei - ein im Sinne der "Substitution" leistungsstarker ambulanter Sektor, - die Beschränkung der Leistungen auf das im Einzelfall Erforderliche und in Verbindung damit - das recht strikte Knapphalten der Kapazitäten sowie schließlich - die einkommensabhängige Selbstbeteiligung. Es wäre nun sicher unangebracht, das "niederländische Modell" in all seinen Merkmalen zum alleingültigen Leitbild zu erheben. Dennoch scheint mir, daß auch hierzulande ein ähnlich strukturiertes Gleichgewicht gefunden werden muß, wenn die Pflegeversicherung auf Dauer politisch lebensfähig sein soll. Die äußerst verbissenen Diskussionen im Vorfeld haben dafür nicht gerade die besten Voraussetzungen geschaffen. Mit dem Dogma eines konstanten (und niedrigen) Beitragssatzes ist die unausweichliche Gratwanderung nämlich ebensowenig zu bestehen wie mit geriatrisch bzw. sozialversicherungspolitisch fundierten Idealvorstellungen. Und eine ,,Leistungsimplosion" ist für die "Akzeptanz" der Pflegeversicherung nicht weniger bedrohlich als die vielbeschworene "Kostenexplosion". Leider findet der in den deutschen Debatten vielfach beobachtbare Starrsinn in manchen Regelungen der "Komprornißlösung" eine Entsprechung, indem auch sie - vom Finanzierungsrahmen bis zu den Leistungsstufen - recht starr ausgefallen sind. Es bleibt zu hoffen. daß mit dem Inkrafttreten der Versicherung der Prinzipienstreit abflaut und Raum für konstruktive Korrekturen entsteht.

F. Literatur Allemeyer, Jürgen (1994): Die Chance zu Refonnen - Personalstandards und Strukturentwicklungen. in: Das Altenheim 33. S. 490-499. B/ommestijn, P. J. (I 990):'Ouderenbeleid in Nederland van 1955 tot 1985, Enschede.

154

Stephan Winters

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Die langfristige Entwicklung von Ausgaben und Beitragssatz in der gesetzlichen Pflegeversicherung Von Heinz Rothgang und Winfried Schmähl * A. Einleitung

Eines der wichtigsten gegen die Einführung einer Pflegesozialversicherung gerichteten Argumente war die Befürchtung einer damit verbundenen Ausgaben- und Beitragssatzexplosion I. Um die Berechtigung dieser Befürchtungen zu prüfen, wird in diesem Beitrag der Versuch unternommen, die Ausgabenund Beitragssatzentwicklung in der gesetzlichen Pflegeversicherung (GPV) auf der Basis des derzeitigen Kenntnisstandes szenarienhaft abzuschätzen. Dazu werden zunächst die Determinanten der Ausgabenentwicklung erörtert, die die Grundlage für die Konstruktion eines einfachen Simulationsmodells bilden (Abschnitt B). Unter Zugrundelegung eines demographischen Szenarios sowie von Status quo-Annahmen über Pflegefallwahrscheinlichkeiten und Leistungshöhen nach dem Pflege-Versicherungsgesetz (PflegeVG), wird dann im Rahmen dieses Modells die zukünftige Ausgabenentwicklung abgeschätzt (Abschnitt C). Während die Ausgabenentwicklung in Abschnitt C auf der Basis konstanter Leistungshöhen errechnet wird, wird in Abschnitt D auch die Dynarnisierung der Leistungen in Form verschiedener Szenarien berücksichtigt. Außerdem wird zusätzlich die Einnahmeseite der Pflegeversicherung in die Betrachtung einbezogen, so daß auch Aussagen über die Beitragssatzentwicklung möglich werden. In Abschnitt E werden die wichtigsten Ergebnisse der Modellrechnungen zusammengefaßt.

* Wir danken Andrea Wechselberg und Uwe Fachinger für die konstruktive Kritik zu vorläufigen Fassungen dieses Beitrages. I

et aI.

Vgl. z. B. Felderer, Dinkel, Ruf sowie Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände

156

Heinz Rothgang und Winfried Schmäh)

B. Determinanten der Ausgabenentwicklung

Die Ausgabenentwicklung der GPV hängt von vielen Faktoren ab, deren wichtigste Zusammenhänge und Wechselwirkungen in Abbildung 1 dargestellt sind.

D ß!cht systematisch berücksichtigte ParMtleter

o

systematisch bertlcksichtigte Parameter

[2] systematisch berücksichtigte Parameter, deren Ausprägungen im Modell variiert werden

o

Modellergebnis

Anmerkung: Die Abbildung ist eine modifizierte Version der in Schmäh) (1992), S. 2), verwendeten Graphik. Abbildung I: Determinanten der Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen Pflegeversicherung

In Modellrechnungen können diese Zusammenhänge auf der Basis des derzeitigen Wissensstandes nur unvollkommen abgebildet werden. In Abbildung 1 sind daher die Determinanten, deren Entwicklung systematisch integriert ist, und diejenigen, deren Ausprägungen szenarienhaft variiert werden, jeweils gesondert gekennzeichnet.

· Ausgaben- und Beitragssatzentwicklung

157

c. Ausgabenentwicklung bei unveränderter Leistungshöhe Die Ausgaben der GPV ergeben sich als Produkt aus der Zahl der leistungsberechtigten Pflegebedürftigen und den durchschnittlichen Ausgaben pro leistungs berechtigtem Pflegebedürftigen. Im folgenden wird zunächst die Entwicklung der Fallzahlen diskutiert, bevor auf die Ausgaben pro Leistungsfall eingegangen wird, um schließlich durch Zusammenführung bei der Faktoren Aussagen über die Ausgabenentwicklung abzuleiten. Dabei wird in diesem Abschnitt unterstellt, daß die im Gesetz festgesetzten Leistungshöhen im Zeitverlauf unverändert bleiben2 . I. Entwicklung der Fallzahlen

Wie Abbildung 1 zeigt, hängt die Entwicklung der Fallzahlen - neben der hier als konstant unterstellten gesetzlichen Normierung der Voraussetzung für einen Leistungsanspruch (§§ 14f. SGB XI) - von der demographischen Entwicklung und den alters- und geschlechtsspezifischen PflegefallwahrscheinIichkeiten ab. Hinsichtlich der demographischen Entwicklung basiert die Simulationsrechnung auf der 7. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes 3 . Die Pflegefallwahrscheinlichkeiten werden für die häusliche und die stationäre Pflege jeweils getrennt angesetzt. Da das InstitutionaIisierungsrisiko positiv mit dem Alter der Pflegebedürftigen korreliert4 , werden auf diese Weise auch rein demographisch bedingte Verschiebungen zwischen den Anteilen der ambulant und stationär betreuten Pflegebedürftigen berücksichtigt. Als Schätzgröße für die Pflegefallwahrscheinlichkeiten für häusliche Pflege werden die nach Alter, Geschlecht, West- /Ostdeutschland und Pflegestufe differenzierten relativen Häufigkeiten einer von Infratest Sozial forschung durchgeführten Repräsentativerhebung herangezogen5 . Die als Schätzgröße 2 Alternativ können die hier präsentierten Ergebnisse auch derart interpretiert werden, daß die Leistungshöhen paral\el zur allgemeinen Preissteigerungsrate dynamisiert werden, die Ausgabenbeträge aber mit eben diesem Preisindex deflationiert werden, so daß es sich bei den Ergebnissen der Berechnung dann um reale, d. h. inflationsbereinigte Größen handelt.

3 Vgl. 4

Bretz und Sommer.

vgl. Fachinger et a1. (in diesem Band).

5 Schneekloth / Potthoff. Die Berechnungen basieren auf gegenüber dem Infratest-Bericht noch weiter differenzierten Häufigkeiten, die uns der zuständige Infratest-Projektleiter, Ulrich Schneekloth, freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Diese Häufigkeiten sind - ebenso wie die Häufigkeiten

158

Heinz Rothgang und Winfried Schmähl

für stationäre Pflege verwendeten, lediglich nach Altersklassen differenzierten Häufigkeiten entstammen einer ebenfalls vom Bundesministerium für Familie und Senioren in Auftrag gegebenen Studie (Krug / Reh). In der Literatur werden verschiedene Ansichten über mögliche Veränderungen der altersspezifischen Pflegefallwahrscheinlichkeiten im Zeitverlauf, insbesondere bei steigender Lebenserwartung, vertreten. Da aber weder über Richtung noch über Ausmaß möglicher Verschiebungen Einigkeit besteht6 , werden in diesem Beitrag - ebenso wie in einer Vielzahl ähnlicher Arbeiten 7 im Zeitablauf konstante altersspezijische Pflegefallwahrscheinlichkeiten unterstellt. Aus der Verknüpfung dieser Pflegefallwahrscheinlichkeiten mit der demographischen Entwicklung, die sich auf Basis der 7. koordinierten Bevölkerungsvorausschätzung ergibt, resultiert die in Abbildung 2 dargestellte Entwicklung der Fallzahlen.

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ambulant: Stufe I

0

ambulant: Stufe 11

0

ambulant: Stufe 111

0

stationär

Abbildung 2: Pflegebedürftige Personen mit Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung

filr stationäre Pflege - in Rothgang I Schmähl, S. 44 f., veröffentlicht. Die gesetzliche Definition der Pflegebedürftigkeit ist zwar in Anlehnung an das von Infratest entwickelte "Pflege-Intervallmodell" entstanden, im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens und in den am 7. November 1994 verabschiedeten Pflegebedürftigkeits-Richtlinien nach § 17 SGB XI dann aber modifiziert worden. Daraus ist abgeleitet worden, daß die Infratest-Häufigkeiten die tatsächliche Zahl der anspruchsberechtigten Pflegebedürftigen überschätzen (PfajJ, S. 724). Wie eine Neuabgrenzung der Infratest-Daten anhand des PfIegeVG jedoch zeigt, sind die tatsächlichen Unterschiede zwischen der ursprilnglichen Definition und dem Gesetzestext in Wirklichkeit gering; Fachinger et al. (in diesem Band). 6 Vgl. z. B. 7

Robine I Camboi.v; Deutscher Bundestag (1994), S. 495-498.

Vgl. z. B. Dinkel, S. 39, Felderer, S. 12, PjajJ, S. 728, oder Prognos (1995a), S. 173.

Ausgaben- und Beitragssatzentwicklung

159

Dieser Modellrechnung zufolge steigt die Zahl der Pflegebedürftigen in häuslicher Pflege von 1995 bis ins Jahr 2030 von 1,111 Mill. auf 1,403 MilI., d. h. um 26,4 % des Ausgangswertes, während die Zahl der Pflegebedürftigen in stationärer Pflege im gleichen Zeitraum von 425.000 auf 612.000 und somit um 43,9 % des Ausgangswertes steigt. Allein aus demographischen Gründen kommt es also - ceteris pari bus - zu einer Verschiebung der Anteile vom ambulanten in den stationären Sektor. Die ~samtzahl aller Pflegebedürftigen mit Anspruch auf Leistungen der GPV erhöht sich im genannten Zeitraum von 1,536 Mill. auf 2,105 MilI., d. h. um 31,1 %.

11. Ausgaben pro Leistungsberechtigtem

Das PfIegeVG sieht eine Reihe von Leistungen vor, die teils additiv wahrgenommen werden können, teils aber auch in Konkurrenz zueinander stehen (vgl. §§ 36 bis 45 SGB XI). Um die Ausgaben pro Leistungsberechtigtem abschätzen zu können, ist es notwendig, die einzelnen Ausgabenposten zunächst getrennt zu betrachten.

1. Pflegegeld und Pflegesachleistungen bei häuslicher Pflege Pflegebedürftige in häuslicher Pflege können zwischen Pflegesachleistungen (§ 36 SGB XI) und Pflegegeld für eine selbst beschaffte Pflegeperson (§ 37 SGB XI) sowie einer Kombination von beiden (§ 38 SGB XI) wählen8. Die jeweiligen monatlichen Leistungshöhen betragen dabei - in Stufe I: 750 DM (Pflegesachleistung) bzw. 400 DM (Geldleistung), - in Stufe 11: 1800 DM (Pflegesachleistung) bzw. 800 DM (Geldleistung), - in Stufe III: 2800 DM (Pflegesachleistung) bzw. 1300 DM (Geldleistung). Die Inanspruchnahme von Sachleistungen reduziert den Anspruch auf Geldleistungen anteilig, d. h. wenn der Sachleistungsanspruch zu x % genutzt wird, beträgt der Geldleistungsanspruch (loo-x) % der in der jeweiligen PfIegestufe vorgesehenen Leistungshöhe.

K ßei Ptlegesachleistungen handelt es sich um Pflegeleistungen, die von einer Pflegeeinrichtung erbracht werden, mit der die Pflegekasse einen Versorgungsveruag (§§ 72 ff. SGB XI) abgeschlossen hat. Die volle Leistungshöhe nach § 37 SGß XI wird dabei nur gewährt, wenn diese Einrichtung auch einen VergUtungsvertrag (§ 89 SGß XI) mit der Pflegekasse vereinbart hat. Die in § 91 SGß XI ebenfaUs vorgesehene Möglichkeit der reduzierten Kostenerstattung für Leistungen die von Einrichtungen erbracht wurden, mit denen keine Vergütungsvereinbarung bestehen, wird hier nicht berücksichtigt.

160

Heinz Rothgang und Winfried Schmähl

Aufgrund der unterschiedlichen Leistungshöhen für Geld- und Sachleistungen hängt die Höhe der durchschnittlichen Ausgaben pro Pflegefall davon ab, in welchem Ausmaß die verschiedenen Leistungsarten von den Pflegebedürftigen in Anspruch genommen werden. Gestützt auf Erfahrungen mit den Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung bei Schwerpflegebedürftigkeit 9, hat das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) bei seinen Finanzierungsrechnungen unterstellt, daß 80 % der Pflegebedürftigen Geld- und nur 20 % Sachleistungen wählen lO . Wie die bisher bekannt gewordenen ersten Auswertungen der Anträge auf Leistungen der GPV zeigen, stimmt das tatsächliche Inanspruchnahmeverhalten weitgehend mit diesen Anteilswerten überein 11. Fraglich erscheint dagegen, ob auch in Zukunft mit einem solchen Wahlverhalten zu rechnen ist. Schon rein demographisch bedingt verschlechtert sich nämlich die Relation von potentiellen familialen Pflegepersonen zu Pflegebedürftigen kontinuierlich l2 . Zudem tragen sozialstrukturelle Faktoren wie die unter dem Stichwort "Singularisierung" diskutierte Haushaltsstrukturentwicklung und eine zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen zu einem abnehmenden familialen Pflegepotential bei 13. Mittel- und langfristig ist zudem nicht auszuschließen, daß die "Pflicht zu Pflegen", der sich zur Zeit vor allem noch Frauen ausgesetzt sehen, an normativer Kraft verlieren wird. Insgesamt ist daher eher damit zu rechnen, daß familiale Pflege zunehmend durch professionelle Pflege ersetzt wird und entsprechend der Anteil der Pflegebedürftigen in häuslicher Pflege, der Sachleistungen in Anspruch nimmt, steigt. Diese Tendenz dürfte noch durch Einzelregelungen im PflegeVG verstärkt werden. So werden alle Pflegebedürftigen in privaten Haushalten gezwungen, einmal im halben Jahr (Pflegebedürftige der Stufen I und 11) bzw. im Vierteljahr (Pflegebedürftige der Stufe III) eine Pflegesachleistung eines professionellen Pflegedienstes in Anspruch zu nehmen (§ 37 Abs. 3 SGB XI). Damit bietet 9 Seit 1991 können gesetzlich krankenversicherte Schwerpflegebedürftige zwischen einem m0natlichen Pflegegeld in Höhe von 400 DM und Sachleistungen in Höhe von 750 DM wählen. Mehr als 80 % aller Leistungsberechtigten haben sich dabei rur das Pflegegeld entschieden; vgl. z. B. Deutscher Bundestag (1993), S. 187, Sinha, S. 345. 10

Jung, S. 622 ff.

11 Nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung betrug das Verhältnis von Geld- zu Sachleistungen bzw. Kombinationsleistungen bei den Anträgen, die bis zum 31. März 1995 bearbeitet waren, 82 zu 18; Bundesministerium rur Arbeit und Sozialordnung, S. 8. 12

Rückert, S. 52-56.

So gehen entsprechende Projektionen davon aus, daß sich der Anteil der Pflegebedürftigen, die in Einpersonenhaushalten leben, im Zeitraum von 1991 bis 2030 kontinuierlich von 20 % auf 30 % erhöhen wird (Bundesinstitut rur Bevölkerungsforschung, S. 96). Gerade in Einpersonenhaushalten ist da.~ familiale Pflegepotential aber naturgemäß gering. 13

Ausgaben- und Beitragssatzentwicklung

161

sich den Leistungsanbietern eine einzigartige Möglichkeit, durch offensives Marketing auf die Entscheidung der Pflegebedürftigen bzw. deren Familie Einfluß zu nehmen. Davon werden diese um so eher Gebrauch machen, als im PfIegeVG keine Bedarfsplanung vorgesehen ist (§ 72 SGB XI)14 und das wirtschaftliche Überleben für den einzelnen Leistungsanbieter angesichts des dadurch ausgelösten Wettbewerbs unmittelbar davon abhängt, daß er eine hinreichende Nachfrage auf sich ziehen kann. Um die Bedeutung des Inanspruchnahmeverhaltens hinsichtlich der Wahl von Geld- und Sachleistungen und den Effekt einer möglichen Verhaltensänderung abschätzen zu können, werden in den folgenden Modellrechnungen vier Szenarien unterschieden: - Szenario 1 unterstel1t die ausschließliche Inanspruchnahme von Geldleistungen, - Szenario 2 geht von der ausschließlichen Inanspruchnahme von Sachleistungen aus, während - Szenario 3 die derzeitigen Inanspruchnahmequoten von 80 % (Geldleistungen) zu 20 % (Sachleistungen) als konstant fortschreibt und - Szenario 4 - ausgehend von der 80 !20-Relation - eine jährliche Erhöhung des Sachleistungsanteils um einen Prozentpunkt postuliert, so daß im Jahre 2030 ein Verhältnis von 45 % (Geldleistungen) zu 55 % (Sachleistungen) erreicht wird. Die beiden ersten Szenarien stecken als Unter- und Obergrenze den Korridor ab, in dem sich die Entwicklung bewegen wird. Szenario 3 operiert mit einer starren Status quo-Annahme, während Szenario 4 den Versuch darstellt, die - angesichts der angesprochenen sozialstrukturellen Entwicklung als plausibel erscheinenden - Änderung der Verhaltensweisen abzubilden. 2. Stationäre Pflege

Die pflegebedingten Aufwendungen bei Pflege in vol1stationären Einrichtungen werden von der zuständigen Pflegekasse bis zu einer Höhe von 2.800 DM pro Monat übernommen (§ 43 SGB XI)15. Die jährlichen Aufwendungen dürfen dabei aber "im Durchschnitt 30.000 Deutsche Mark je Pflegebedürftigen nicht übersteigen" (§ 43 Abs. 2 Satz I, Halbsatz 2 SGB XI). Den Model1rechnungen wird daher ein Betrag von 2.500 DM pro Monat und Fal1 zugrunde gelegt. 14

Vgl. hierzu auch Deutscher Bundestag (1993), S. 136.

15 Eine Härtefallklausel (§ 43 Abs. 2 Satz 4 SGB XI) erlaubt für bis zu 5 % aller Pflegebedürftigen in Stufe 111 monatliche Leistungen bis zu einer Höhe von insgesamt 3.300 DM. 11

Fw.:hin~cr/Rothg;'lI1g

Heinz Rothgang und Winfried Schmähl

162

3. Sonstige Ausgaben Zusätzlich zu den Ausgaben für Pflegegeld und Pflegesachleistungen bei häuslicher Pflege (§§ 36 bis 38 SGB XI) sowie für stationäre Pflege (§ 43 SGB XI) sind weitere, von ihrem Volumen her allerdings nachrangige Kategorien zu berücksichtigen. Dies sind die Ausgaben für - Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung (§ 44 SGB XI i. V. m. §§ 3, 141, 166 und 170 SGB VI)16, - häusliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson (Verhinderungspflege) (§ 39 SGB XI), - Pflegehilfsmittel und technische Hilfen (§ 40 SGB XI), Tages- und Nachtpflege (§ 41 SGB XI), Kurzzeitpflege (§ 42 SGB XI), - Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen (§ 45 SGB XI) sowie Verwaltungskosten. Die auf ein Jahr bezogenen jeweiligen Ausgabensummen und durchschnittlichen Ausgaben pro Pflegefall sind in der folgenden Tabelle I wiedergegeben l7 . Tabelle I

Weitere Ausgabenposten Ausgabensummen in Mrd. DM pro Jahr")

Ausgaben pro Fall in DM pro Jahr 275,48

Verhinderungspflege

0,30

Pflegehilfsminel und technische Hilfen

0,10

91,83

Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege

0,70

642,79

Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung für Stufe I Stufe II Stufe III

2,05

Pflegekurse

-

Verwaltungsausgaben ambulanter Bereich stationärer Bereich

0,90 0,60

Summe

4.65

a)

1.054,49 2.108,98 3.163,47

-

826,45 1.445,78 abhängig von der Pflegestufenstruktur

Die Ausgabensummen beziehen sich auf die Fallzahlen des Jahres 1995 bei vollem Leistungsrecht über da~ ganze Jahr. 16

Vgl. Krallthausen I Schmidt für Details.

17

Siehe für die Ableitung dieser Wene RtJtlt/:an/: I Schmäht. S. 20-25.

163

Ausgaben- und Beitragssatzentwicklung

111. Gesamtausgabenentwicklung

Werden die in Abschnitt C.II erörterten Ausgaben pro Fall - unter Berücksichtigung der vier Szenarien für die häusliche Pflege - mit der in Abschnitt C.I diskutierten Entwicklung der Fallzahlen verknüpft, so ergibt sich die in Abbildung 3 angegebene Ausgabenentwicklung.

55

~ 50

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21m

2005

2010

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2015

2020

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2025

2030

Jahr

.. . . ... Szenario I: nur Geldleistungen

- - Szenario 2: nur Sachleistungen

Szenario 3: - - - - Szenario 4: konstante variable Quote Quote 80120

Abbildung 3: Gesamtausgaben der gesetzlichen Pflegeversicherung

In den Szenarien I (nur Geldleistungen), 2 (nur Sachleistungen) und 3 (konstante Quote 80 I 20) beruht die Ausgabendynamik ausschließlich auf dem demographischen Effekt, der sich vor allem in einer Steigerung der Fallzahlen, aber auch in einer Erhöhung des Anteils der stationär versorgten Pflegebedürftigen niederschlägt. Aufgrund des letztgenannten Effekts liegen die Wachstumsraten der Ausgaben mit 34,4 % (Szenario I), 31,6 % (Szenario 2) und 33,7 % (Szenario 3) etwas oberhalb der Steigerungsrate der Fallzahlen l8 . Insgesamt erscheint die allein demographisch bedingte Ausgabensteigerung für sich genommen jedoch keineswegs als so dramatisch, daß sie die Befürchtungen hinsichtlich einer Ausgabenexplosion rechtfertigt. Bei ähnlicher Steigerungsrate unterscheiden sich diese Szenarien allerdings im Niveau der Ausgaben erheblich. Die Spannweite des von den Szenarien I IK Die Erhöhung des Anteils der stationär versorgten Pflegebedürftigen schlägt sich tß der Ausgabenentwicklung um so stärker nieder. je niedriger die angesetzten Ausgaben pro Fall in häuslicher Pflege. d. h. desto höher der zugrunde gelegte Geldleistungsanteil ist.

11*

164

Heinz Rothgang und Winfried Schmähl

und 2 markierten Korridors weist nachdrücklich auf die Bedeutung des Inanspruchnahmeverhaltens für die Ausgabenentwicklung hin. Dies unterstreicht auch Szenario 4, das neben dem demographischen Effekt eine - angesichts der in Abschnitt C.II diskutierten Entwicklungen als durchaus plausibel anzusehende - Änderung des Inanspruchnahmeverhaltens abbildet. Es weist eine Ausgabensteigerung von insgesamt 49,9 % des Ausgangswertes auf, die um 15 bis 20 Prozentpunkte oberhalb der ausschließlich demographisch bedingte Rate in den Szenarien 1 bis 3 liegt und damit noch einmal die Bedeutung des Inanspruchnahmeverhaltens für die Ausgabenentwicklung unterstreicht. D. Die Entwicklung von Ausgaben und Beitragssatz sowie der Kaufkraft der Versicherungsleistungen bei Dynamisierung der Leistungshöhen Um neben der Ausgaben- auch die Beitragssatzentwicklung berücksichtigen zu können, ist es notwendig, sich zunächst über die Determinanten von Einnahmt

Tarif nach neuem Recht

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