Die Wirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs im Vertragsverletzungsverfahren (Art. 169 ff. EWGV) [1 ed.] 9783428468812, 9783428068814

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Die Wirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs im Vertragsverletzungsverfahren (Art. 169 ff. EWGV) [1 ed.]
 9783428468812, 9783428068814

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DIMITRIOS TSIKRIKAS

Die Wirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs im Vertragsverletzungsverfahren (Art. 169 ff. EWGV)

Schriften zum Internationalen Recht Band 48

Die Wirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs im Vertragsverletzungsverfahren (Art. 169 ff. EWGV)

Von Dr. Dimitrios Tsikrikas

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Tsikrikas, Dimitrios:

Die Wirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs im Vertragsverletzungsverfahren (Art. 169 ff. EWGV) I von Dimitrios Tsikrikas.- Berlin: Duncker u. Humblot, 1990 (Schriften zum Internationalen Recht; Bd. 48) Zugl.: Konstanz, Univ., Diss., 1987 ISBN 3-428-06881-5 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübemahme: Hagedomsatz, Berlin 46 Druck: Alb. Sayffaerth- E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0720-7646 ISBN 3-428-06881-5

Meinen Eltern in Dankbarkeit

"Quand on veut etudier !es hommes, il faut regarder pres de soi. Quand on veut etudier l'homme, il faut apprendre a porter sa vue loin; il faut d'abord observer !es differents pour decouvrir !es proprietes." (Jean Jacques Rousseau, Essai sur l'origine des langues, in: Oeuvres completes, Band 4, I. Teil, Paris 1817, 516)

Vorwort Die Arbeit wurde im Wintersemester 1987 I 1988 dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Konstanz als Dissertation vorgelegt. Meinem verehrten Lehrer Herrn Professor Dr. Rolf Stürner bin ich für die wissenschaftliche und persönliche Unterstützung bei der Abfassung der Arbeit zu tiefem Dank verpflichtet. Herrn Professor Dr. Kay Hailbronner bin ich für die Erstellung des Zweitgutachtens und für manche Anregungen dankbar. An dieser Stelle möchte ich allen meinen Lehrern an der Universität Athen meinen herzlichen Dank aussprechen. Dies gilt insbesondere Herrn Professor Dr. Constantin Beys, Herrn Professor Dr. Constantin Kerameus und Herrn Professor Dr. Nikolaos Klamaris, für ihr Interesse und ihre vielseitige Unterstützung. Danken möche ich ferner den Freunden Frau Dr. Astrid Stadler und Herrn Dr. Joachim Münch, die zu einer sprachlichen und stilistischen Verbesserung meiner Arbeit beigetragen haben, sowie Frau Margret Jäger-Junge für ihren unermüdlichen Einsatz bei der Herstellung des Manuskripts. Mein Dank gilt endlich dem D.A.A.D. für die Gewährung eines Promotionsstipendiums und eines Druckkostenzuschusses, sowie der Athener Anwaltskammer, die mein Promotionsstudium in der Bundesrepublik Deutschland erleichtert hat. Konstanz, im Frühjahr 1989

Dimitrios Tsikrikas

Inhaltsverzeichnis § 1 Einleitung

21

§ 2 Über die Methode der Arbeit - Bildung von "allgemeinen Rechtsgrundsätzen"

23

I. Wesen und Funktion der "allgemeinen Rechtsgrundsätze" . . . . . . . .

23

1. Allgemeines

............................................

2. Der Begriff "allgemeine Rechtsgrundsätze"

..................

23 23

3. Der Legitimationsgrund für die Anwendung der rechtsvergleichenden Methode bzw. für die Bildung von "allgemeinen Rechtsgrundsätzen" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

4. Entscheidendes Merkmal eines "allgemeinen Rechtsgrundsatzes"

25

5. Charakter der "allgemeinen Rechtsgrundsätze" . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Rechtsprinzipien oder konkrete Rechtssätze Rechtsnormen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Normativer Charakter der "allgemeinen Rechtsgrundsätze"

27

6. Die Art der Feststellung der "allgemeinen Rechtsgrundsätze"

30

7. "Allgemeine Rechtsgrundsätze" und topisches Verfahren

30

II. "Allgemeine Rechtsgrundsätze" des europäischen Verfahrensrechts § 3 Untersuchung einzelner gemeineuropäischer Verfahrensgrundsätze und ihres

Verhältnisses zu den Urteilswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Dispositionsgrundsatz 1. Allgemeines

............... ........ ................

... ................. .......... ..............

2. Verfahrenseinleitung

27 29

32 33 33 33

. ................. .. .................

34

3. Verfahrensbeendigung .......... . .........................

35

4. Bindung an die Parteianträge . . .. . .. .. . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . .

35

5. Richterliche Hinweise

35

6. Verfahrensgestaltung

36

II. Verhandlungs- und Inquisitionsgrundsatz 1. Allgemeines

37

.. ............... .... ...... .......... .......

37

2. Geltung im Vertragsverletzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

3. Einfluß auf die Urteilswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

III. Verfahrensgrundsätze, die sich aus dem Gebot eines fairen Verfahrens ergeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

10

Inhaltsverzeichnis I. Rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

2. Öffentlichkeit

41

3. Mündlichkeit

41

4. Unmittelbarkeit

42 42

N. Ergebnis der Untersuchung § 4 MaterieDe Rechtskraft

. .. . .. . . ... .. . . .. . . . . . . .. . .. . . . .. . . .. . . . .. . ..

I. Begründung der materiellen Rechtskraft I. Vergleichende Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Absolute Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

b) Relative Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Intermediäre Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertragsverletzungsverfahren

44 44 44 44 44 45

..............................

46

II. Voraussetzung der materiellen Rechtskraft - Rechtskraftfähige Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

I. Vergleichende Untersuchung

47

2. Vertragsverletzungsverfahren

49

III. Wesen der Rechtskraft (Rechtskrafttheorien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

I. Vergleichende Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Materiellrechtliche und prozeßrechtliche Theorie b) Intermediäre Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 51 53

2. Vertragsverletzungsverfahren

..............................

54

3. Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

N . Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

...................................

56

2. Rechtskraft der Urteilsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vergleichende Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unterteilung der Urteilsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtskraftfähigkeit der verschiedenen Kategorien von Urteilsgründen . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Urteilsgründe, die die Gesetzesauslegung enthalten (b) Motifs decisoires . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Urteilsgründe zu präjudiziellen Rechtsverhältnissen (d) Motifs implicitements . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtskraftfähigkeit der verschiedenen Kategorien von Urteilsgründen im Vertragsverletzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Formelle Urteilsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Materielle Urteilsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1. Rechtskraft des Tenors

57 57 57 57 57 58

59

60 61 61 61

Inhaltsverzeichnis

11

(a) Urteilsgründe, die über die Hauptfrage oder über präjudizielle Rechtsverhältnisse entscheiden . . . . . . . . (b) Urteilsgründe, die sich aus bestimmten Entscheidungsteilen implizit ergeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Urteilsgründe, die das Gemeinschaftsrecht auslegen c) Folgen der Rechtskrafterstreckung auf die Urteilsgründe

63 64 65

V. Verhältnis objektiver Grenzen der materiellen Rechtskraft zum Streitgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

l. Struktur des Streit- und Entscheidungsgegenstandes . . . . . . . . . . a) Vergleichende Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die ursprüngliche materiellrechtliche Theorie . . . . . . . . bb) Die prozeßrechtlichen Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die neue materiellrechtliche Theorie- Streitgegenstandslehren in der Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertragsverletzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Prüfungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Zeitpunkt der endgültigen Bestimmung des Prüfungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Änderung des Prüfungsgegenstandes nach dem Schluß des Vorverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Minderung der Vertragswidrigkeit nach dem Schluß des Vorverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Anwendung derselben Kriterien auch im Fall der Änderung des Prüfungsmaßstabes . . . . . . . . . . . . . . cc) Bestimmung des Streitgegenstandes durch den Antragsteller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. Versuch einer Subjektivierung des Streit- und Entscheidungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtskrafterstreckung über den ursprünglichen Streitgegenstand hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtskrafterstreckung ohne ausdrücklichen Spruch des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtskrafterstreckung durch ausdrücklichen Spruch des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

66 66 66 66 68 69 69 73 73 74 74 75 77 77 77 78 78 80

VI. Subjektive Grenzen der materiellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

l. Rechtskraft fiir und gegen alle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die besondere Bedeutung des Vertragsverletzungsverfahrens b) Die Drittwiderspruchsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Geltung der Untersuchungsmaxime . . . . . . . . . . . . . . . . .

82 82 83 84

2. Rechtskraftwirkung gegenüber Gemeinschaftsorganen und Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

12

Inhaltsverzeichnis 3. Rechtskraftwirkung gegenüber Gemeinschaftsbürgern

92

93

VII. Zeitliche Grenzen der materiellen Rechtskraft .. . ................... .. ................. . . .

93

2. Der für die Rechtskraftwirkung maßgebliche Zeitpunkt ... . . . . . a) Der maßgebliche Zeitpunkt hinsichtlich der Feststellung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des mitgliedstaatliehen Verhaltens ... .................. ... ................ . . b) Hinsichtlich der Feststellung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer als rechtswidrig gerügten Verordnung

94

............. . . .. ................. .

98 98

1. Allgemeines

VIII. Präklusion alter Tatsachen 1. Allgemeines

95 97

2. Die von der Präklusion erfaßten Tatsachen ................. . 100 ................ . 100

3. Ist die Präklusion eine Rechtskraftwirkung?

a) Mitgliedstaatliche Ebene .......... ... ... . ...... . ..... . 100 b) Vertragsverletzungsverfahren 101 4. Die Behandlung neuer Tatsachen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

IX. Negative Wirkung der materiellen Rechtskraft

I. Allgemeines

104

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

2. Wiederholungs- oder Abweichungsverbot? . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertragsverletzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zulässigkeit einer auf die Verletzung von Art. 171 EWGV gestützten Feststellungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zulässigkeit einer Schadensersatzklage . . . . . . . . . . . . . . cc) Zulässigkeit einer Vorlage gemäß Art. 177 EWGV X. Positive Wirkung der materiellen Rechtskraft

109 111 111

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 ·

1. Allgemeines 2. Voraussetzungen

105 105 107

112 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

3. Fälle, in denen die materielle Rechtskraft präjudizielle Wirkung entfaltet . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Vergleichende Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 b) Vertragsverletzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4. Folgen der positiven Funktion der materiellen Rechtskraft . . . . . 115 XI. Behandlung der materiellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

1. Sind Vereinbarungen über die materielle Rechtskraft zulässig? . . 116 a) Die bejahende Antwort 116 b) Die verneinende Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Berücksichtigung der materiellen Rechtskraft

118

Inhaltsverzeichnis

13

a) Amtswegige Prüfung der materiellen Rechtskraft . . . . . . . . . . 118 b) Amtswegige Ermittlung der die materielle Rechtskraft begründenden Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3. Ausschluß jeder Umgehung des Dispositionsverbots . . . . . . . . . . 120 § 5 FonneUe Rechtskraft

122

I. Allgemeines

122

11. Vertragsverletzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Anwendung des Art. 65 VerfO hinsichtlich der formellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eintrittszeitpunkt der formellen Rechtskraft 3. Behandlung der formellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123 123 125 127

§ 6 Innerprozessuale Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

I. Allgemeines

128

II. Verhältnis der innerprozessualen Bindungswirkung zu der materiellen und formellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

lii. Keine Aufbebung der innerprozessualen Bindungswirkung durch die Auslegung oder Berichtigung des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 133

§ 7 Außerprozessuale Bindungswirkung

I. Analyse entsprechender Institute des innerstaatlichen Rechts 1. Charakter der außerprozessualen Bindungswirkung

133

. . . . . . . . . . . 133

a) Identität materieller Rechtskraft und außerprozessualer Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 b) Unabhängigkeit der außerprozessualen Bindungswirkung gegenüber der materiellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 c) Die vermittelnde Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2. Objektive Grenzen der außerprozessualen Bindungswirkung

135

a) Werden die tragenden Urteilsgründe in die außerprozessuale Bindungswirkung einbezogen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 b) Bestimmung der tragenden Urteilsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . 138 c) Beschränkung der tragenden Urteilsgründe, die in die außerprozessuale Bindungswirkung einbezogen werden können . . . . . 139 3. Subjektive Grenzen der außerprozessualen Bindungswirkung

139

4. Funktion der außerprozessualen Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . 140 a) Positive Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 b) Negative Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

14

Inhaltsverzeichnis II. Begründung der außerprozessualen Bindungswirkung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 1. Begründung mit Hilfe des Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 177 EWGV) .......... . ...................................................... 142 a) Ähnlichkeit der Vorabentscheidungen mit den Urteilen des Vertragsverletzungsverfahrens hinsichtlich der Auslegung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 b) Natur und Tragweite der Bindungswirkung der Vorabentscheidungen ........................................... .. 144 c) Möglichkeit der Übertragung der Bindungswirkung der Vorabentscheidungen auf die Urteile im Vertragsverletzungsverfahren ......... . ........... . .. . ....... . ....... ........... 147 d) Bindung aller staatlicher Organe ~ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. Weitere Punkte, welche die außerprozessuale Bindungswirkung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs stützen können . . . . . . . . 148 a) Das Gebot der rationellen Kompetenzverteilung

. . . . . . . . . . 148

b) Die besondere Bedeutung der Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 c) Die Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 d) Die einheitliche Auslegung und Konkretisierung unbestimmter Normen des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 e) Die Tatbestandswirkung der Urteile des Gerichtshofs im Vertragsverletzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 III. Natur der außerprozessualen Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 IV. Folgen der außerprozessualen Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 V. Zeitliche Grenzen der außerprozessualen Bindungswirkung . . . . . . . 151 § 8 Vertragskonforme Auslegung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

I. Allgemeines

153

II. Gebot einer vertragskonformen Auslegung? - Gründe . . . . . . . . . . . 153 111. Die vertragskonforme Auslegung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs - Arten der vertragskonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 IV. Grenzen der vertragskonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 1. Berücksichtigung des Wortlauts der Norm und des Streitgegenstandes ......... . ........ . ......... ....... ...... . .. .. ...... 156 2. Berücksichtigung der Gesetzeszwecke

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

V. Folgen der vertragskonformen Auslegung

158

VI. Die Bindung an die vertragskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . 158

15

Inhaltsverzeichnis 1. Aufgrund der materiellen Rechtskraft

158

2. Aufgrund der außerprozessualen Bindungswirkung VII. Vertrags- und verfassungsorientierte Auslegung 1. Allgemeines

. . . . . . . . . . . 159 160

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

2. Vertragsverletzungsverfahren

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

§ 9 Die sieb aus dem Urteil ergebenden Maßnahmen zur Beseitigung der Vertngsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

I. Keine unmittelbare Bestimmung der zu ergreifenden Maßnahmen im Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 II. Mittelbare Konkretisierung der zu ergreifenden Maßnahmen durch das Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 1. Tatbestandswirkung des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 a) Haupt- oder Nebenwirkung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 b) Erweiterung des Kreises der an das Urteil gebundenen Personen aufgrund der Tatbestandswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 2. Elemente, die die Maßnahmen konkretisieren

169

III. Charakter der Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I 71 1. Tun oder Unterlassen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

2. Rückwirkung? . . .. . . . . . .. . .. . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . 172 IV. Mitgliedstaatliche Autonomie bei der Durchsetzung der Maßnahmen 174 § 10 Vollzug des Urteils des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

I. Allgemeines

176

II. Durchsetzungsmittel

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

1. Fehlen vertraglich vorgesehener Durchsetzungsmittel 2. Gebrauch anderer Durchsetzungsmittel III. Abwehrmittel 1. Allgemeines

. . . . . . . . . 177

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

2. Abwehr mit Hilfe einer Einrede 3. Abwehr mit Hilfe einer Klage

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

§ 11 Folgen des Urteils bei inzidenter FeststeUung der Rechtswidrigkeit einer Verordnung oder verordnungsähnlichen Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

I. Allgemeines

184

II. Pflicht nur zur Unanwendbarkeit oder auch zur Aufhebung der rechtswidrigen Verordnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

16

Inhaltsverzeichnis III. Weitere Pflichten, die aus dem Urteil ergehen

186

IV. Durchsetzungsmittel

187

§ 12 Der Einnuß der Wirkungen des Urteils im Hauptverfahren auf das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (Art. 186 EWGV, 36 EuGH-Satzung, 83 ff VerfO) 188

I. Hinsichtlich der Möglichkeit des Erlasses einer einstweiligen Anordnung 188

II. Hinsichtlich der Natur der anzuordnenden einstweiligen Maßnahmen 189

III. Hinsichtlich des Charakters der Anordnung als sichemde oder regelnde Maßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 IV. Hinsichtlich der Befugnis der Gemeinschaftsbürger, den Erlaß von einstweiligen Maßnahmen zu beantragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 V. Hinsichtlich der Möglichkeit des Erlasses einer einstweiligen Anord192 nung im Rahmen eines erneuten Vertragsverletzungsverfahrens § 13 Beseitigung der Urteilswirkungen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

I. Wiederaufnahmeklage

194

II. Drittwiderspruchsklage

195

1. Beseitigung der Urtejlswirkungen durch stattgebende Drittwider-

spruchsklage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 a) Diskussionsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 b) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

2. Die klagebefugten Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 § 14 Exkurs: Entscheidungswirkungen im einstweiligen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . 200

I. Materielle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 1. Ist ein Beschluß des einstweiligen Verfahrens überhaupt rechtskraftfähig? ......... .... .. . .... .... . . .... ... ... . ........... ·.. 200

2. Gegenstand der materiellen Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 3. Keine Präjudizierung.des Hauptverfahrens

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

4. Negativer Aspekt der materiellen Rechtskraft

. . . . . . . . . . . . . . . . 202 5. Präjudizielle Wirkung hinsichtlich anderer einstweiliger Verfahren 203 6. Zeitliche Grenzen der materiellen Rechtskraft 203 II. Formelle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

III. Innerprozessuale Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 IV. Ausnahme : Keine Rechtskraft und innerprozessuale Bindungswirkung 205 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. ABL Abs. AcP AFDI al. AN Anm. AöR Art. Aufl. BAG BayVBl BayVHG Bd. BGH BGHZ BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BVerwGE

cc

CDE CE CECA CEE Ch.mixte Civ. CJCE Com. D. Dike Dikeosini Diss. DÖV DRiZ DVBl EEN EG 2 Tsikrikas

anderer Ansicht am angegebenen Ort Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz Archiv für die civilistische Praxis Annuaire Francais de Droit International alinea Archion Nomologias (Rechtsprechungsarchiv) Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Bundesarbeitsgericht Bayerische Verwaltungsblätter Verfassungsgerichtshof für den Freistaat Bayern Band Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen- amtliche Sammlung Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - amtliche Sammlung Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts - amtliche Sammlung Conseil Constitutionnel Cahiers de Droit Europeen Conseil d'Etat Communaute Europeenne du Charbon et de 1' Acier Communaute Economique Europeenne Cour de Cassation - chambre mixte Cour de Cassation - chambre civile Cour de Justice des Communautes Europeennes Cour de Cassation - chambre commercial Recueil Dalloz Griechische Zeitschrift für Prozeßrecht Elliniki Dikeosini (Griechische Justiz) Dissertation Die öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung Deutsches Verwaltungsblatt Ephimeris Ellinon Nomikon (Zeitung der griechischen Juristen) Europäische Gemeinschaften

18

Abkürzungsverzeichnis

Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Einführung Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht folgende Fußnote Festschrift Generalanwalt Gazette du Palais Grundgesetz griechisch Grundzüge Gedächtnisschrift informations rapides (Recueil Dalloz) Jurisclasseur periodique -Ia semaine juridique Journal du Droit International Jahrbuch des Internationalen Rechts Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristische Wochenschrift JW Juristenzeitung JZ Kapitel Kap. KG Kammergericht Kölner Schriften zum Europarecht KSE Konkurs-, Treuhand- und Schiedsgerichtswesen KTS La sem. jur. La semaine juridique- Jurisclasseur periodique LG Landgericht MDR Monatsschrift für Deutsches Recht n.c.p.c. nouveau code de procedure civile n.F. neue Fassung NJW Neue Juristische Wochenschrift NOB Nomikon Wima (Juristische Tribüne) Nr. Nummer Österreichische Juristische Blätter ÖJBI OLG Oberlandesgericht OVG Oberverwaltungsgericht Pan. Panorama dejurisprudence (Gazette du Palais) RabelsZ Raheis Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Revue critique de jurisprudence beige RCJB RDC (RTDC) Revue (Trimestrielle) de Droit Civil RDP Revue de Droit Public et de la science politique en France et ä l'etranger EGKS EGKSV Einf. EuGH EuGRZ EuR EWG EWGV FamRZ ff. Fn. FS GA Gaz.Pal. GG griech. Grundz. GS inf. rap. JcP JDI JIR JöR JR JuS

Abkürzungsverzeichnis Rec.

19

Recueil des decisions du Conseil d'Etat statuant aux contentieux et du Tribunal des conflicts et des jugements des tribunaux administratifs (Recueil Lebon) RheinZ Rheinische Zeitschrift für Zivil- und Prozeßrecht RIDC Revue International de Droit Compare Riv.Dir.Eur. Rivista di Diritto Europeo RIW I AWD Recht der Internationalen Wirtschaft I Außenwirtschaftsdienst des Betriebsberaters Rn. Randnummer Rs. Rechtssache (betrifft die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes) Revue Trimestrielle de Droit Europeen RTDE s. Seite Sociaal Economische Wetgeving SEW SJZ Schweizerische Juristenzeitung Slg. Amtliche Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften som. Recueil des sommaires (Gazette du Palais) Griechische juristische Zeitschrift Themis VerfO Verfahrensordnung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften VersR Versicherungsrecht Vgl. Vergleiche VVDSt.RL Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht WPM ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zivilprozeßordnung ZPO ZPR Zivilprozeßrecht ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZVerglRW Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft ZZP Zeitschrift für Zivilprozeß

2*

§ 1 Einleitung: Grund der Untersuchung Die Urteilswirkungen stellen einen Schwerpunktjedes Verfahrensrechts dar. Es handelt sich nicht nur um ein kompliziertes und schwieriges Gebiet, sondern auch um ein solches von besonderer Bedeutung. Das Urteil ist der Abschluß des gerichtlichen Verfahrens, es ist das Ergebnis, auf welches sich die übrigen Prozeßhandlungen richten 1 • Diese zentrale verfahrensrechtliche Stellung ist die Folge seiner- besonders bedeutsamen- Funktion. Auch wenn man die Lehre von der durch das gerichtliche Urteil erfolgenden Normsetzung 2 ablehnt, muß man doch seine Bedeutung für die Wahrung und Entwicklung des materiellen Rechts hervorheben. Wie der gesamte Prozeß stehen auch das gerichtlicheUrteil und seine Wirkungen im Dienste des materiellen Rechts. Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, das eine gegenüber der Völkerrechtsordnung und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten selbständige Rechtsordnung bildet3 , setzt wie alle anderen Rechtsordnungen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz voraus. Daher haben die Schöpfer besonders der römischen Verträge dem Gerichtshof eine zentrale Position innerhalb des institutionellen Systems der Gemeinschaft eingeräumt4 . Seine Aufgabe ist die Wahrung des Rechts 5 und die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft. Unentbehrliches Mittel zur Erfüllung dieser Aufgabe stellt das Vertragsverletzungsverfahren dar. Zweck der Urteile, die aufgrund dieses Verfahrens ergehen, ist die Beseitigung vertragswidriger Eingriffe in die Rechtsordnung der Gemeinschaft, die oft besonders schwerwiegende Folgen mit sich bringen6 • Aber nicht nur die für die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes besonders bedeutsame Funktion der Urteilswirkungen war Anlaß der Untersuchung. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften trägt durch seine Sprüche zur Verwirklichkung der europäischen Integration erheblich bei?. Besonders im Rahmen seiner Tätigkeit als Verfassungsgericht - auch das Vertragsverletzungsverfahren kann als Verfahren verfassungsrechtlicher Art eingeordnet werden - sind von seiner Rechtsprechung sehr wichtige Impulse für die 1 Vgl. Kisch, Beiträge zur Urteilslehre, 1903, S. 2; Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925, S. 151. 2 Vgl. Bülow, Gesetz und Richteramt 1885, S. 45; Merk!, Die Lehre von der Rechtskraft, 1923, S. 215/216,227. 3 Vgl. Rs 6 / 24, Slg 1964, 1251, 1269. 4 Dazu vgl. Kutscher, EuR 1981, 392fT. 5 Vgl. Art. 164 EWGV, 136 EAGV, 31 EGKSV. 6 Vgl. Rs 39 / 72, Slg 1973, 115. 7 Kutscher, EuR 1981, 400fT.; Schwarze, Abstraktion, S. 190fT.

22

§ 1 Einleitung: Grund der Untersuchung

Entwicklung des Gemeinschaftsrechts ausgegangen 8 • Die Verbindlichkeit seiner Urteile ist für die Wirksamkeit dieser Rechtsprechung unentbehrlich. Die bisherigen Beiträge zu der Problematik der Urteilswirkungen im Vertragsverletzungsverfahren haben sich klarer prozeßdogmatischer Fragestellung weniger unterzogen. Es soll daher Aufgabe der Arbeit sein, zur Bewältigung dieser Problematik einen Beitrag zu leisten und mit Hilfe der Rechtsvergleichung Ansätze zu einer verfahrensrechtlichen Dogmatik insoweit zu erarbeiten.

8 Vgl. Rs 26/62, Slg 1963, 1, 27; Rs 6/64, Slg 1964, 1145. Dazu Wägenbaur, FS Baur, S. 672fT.

§ 2 Über die Methode der Arbeit Bildung von "aUgemeinen Rechtsgrundsätzen" I. Wesen und Funktion der "allgemeinen Rechtsgrundsätze" 1. Allgemeines

Die vorliegende Schrift über die Wirkungen von Urteilen des EuGH im Vertragsverletzungsverfahren enthält einen relativ großen rechtsvergleichenden Teil. In jedem Kapitel werden zuerst Literatur und Rechtsprechung des deutschen, französischen und griechischen Rechts analysiert und danach wird der Versuch der Übertragung der innerstaatlichen Lösungen auf die Ebene des europäischen Verfahrensrechts unternommen. Dieser Weg- die rechtsvergleichende Ausarbeitung des Themas- ist nicht zufällig gewählt. Die Wissenschaft des europäischen Rechts benutzt häufig und insbesondere für die Bildung der sogenannten ·"allgemeinen Rechtsgrundsätze" die rechtsvergleichende Methode. Wir kommen also, soweit sich unsere Arbeit im Rahmen dieser rechtsvergleichenden Bildung von Grundsätzen bewegt, ausführlicher auf die "allgemeinen Rechtsgrundsätze" und ihre Funktion zu sprechen. Diese Analyse ist gleichzeitig der Versuch einer Berichterstattung über die in der Arbeit angewandte Methode und eine Darstellung der rechtsvergleichend gewonnenen Regeln und Prinzipien innerhalb des europäischen verfahrensrechtlichen Systems. 2. Der Begriff "allgemeine Rechtsgrundsätze"

Man soll immer zwischen den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts und den "allgemeinen Rechtsgrundsätzen" unterscheiden 1 , obwohl beide Kategorien dem ungeschriebenen Gemeinschaftsrecht angehören. Die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beziehen sich auf Probleme, die für das Gemeinschaftsrecht spezifisch sind, und darüber hinaus werden sie mit Hilfe nur gemeinschaftsinterner Mittel entwickelt. Ihnen fehlt der universelle Charakter. Sie sind "principes d'organisation de la technique juridique" 2 , deren Struktur von den Besonderheiten des eigenen Rechtssystems geprägt ist. Die "allgemeinen Rechtsgrundsätze" werden hauptsächlich mit Hilfe der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gebildet. Sie betreffen Probleme, die nicht nur auf dem Gebiet der Rechtsordnung der Gemeinschaft auftauchen, und darüber hinaus sind bei der Entwicklung solcher Grundsätze gemeinschaftsexterne 1 2

Daig in Groeben/Ehlermann, Art. 164, Rn. 39, 40. Vgl. Boulanger, Etudes offertes ä G . Ripert, I, 51 ff.

24

§ 2 Über die Methode der Arbeit

Erkenntnismittel von besonderer Bedeutung. Das Auftauchen des Problems, zu dessen Lösung die "allgemeinen Rechtsgrundsätze" erheblich beitragen, in mehreren Rechtsordnungen bedeutet nicht notwendig eine allgemeine, universelle Geltung dieser Rechtsgrundsätze. Einige von ihnen, die als "principes tin!s directement de l'idee du droit" 3 bezeichnet werden können, haben wirklich einen universellen Charakter. Daher ist die rechtsvergleichende Methode nicht für ihre Bildung- soweit sie als unmittelbare Ableitung aus der Rechtsidee, der Vernunft oder der Gleichheit verstanden werden -, sondern nur für ihre Konkretisierung und ihre inhaltliche Bereicherung erheblich. Andere dagegen, obwohl auch sie ein die Grenzen der eigenen Rechtsordnung überschreitendes Problem betreffen, sind von den Besonderheiten des gemeinschaftlichen Rechtssystems erheblich geprägt4 . Die gemeinschaftliche Rechtsordnung verlangt eine spezifische Lösung des Problems und dafür- ftir die Synthese der besonderen Lösung - ist die rechtsvergleichende Methode besonders bedeutsam. Sie soll die Ähnlichkeiten und Unterschiede der innerstaatlichen und gemeinschaftlichen Regelungen feststellen und dann den Grundsatz bilden, durch den das Problem oder die Probleme des Gemeinschaftsrechts gelöst werden können. Sie ist mehr eine konstitutive als eine deklaratorische Methode. Sie ist konstitutiv nicht nur bei der Bildung des Grundsatzes, sondern auch bei der Findung jeder nationalen Lösung, genauer gesagt der Gewinnung durch Berücksichtigung von Literatur und Rechtsprechung des Inhalts der nationalen Regelung, die zur Synthese des "allgemeinen Grundsatzes" beitragen kann. 3. Der Legitimationsgrund für die Anwendung der rechtsvergleicbenden Methode bzw. für die Bildung von "allgemeinen Rechtsgrundsätzen"

Es entspricht verbreitet der Meinung, aus Art. 164 EWGV, Art. 215 EWGV folge eine allgemeine Anweisung zur Anwendung der rechtsvergleichenden Methode 5 ; weiterhin, daß die Rechtsordnung der Gemeinschaft sich auf die mitgliedstaatliehen Rechtsordnungen und auf ihre Rechtsprinzipien stütze. Aus diesem Grund ist das Zurückgreifen auf diese Rechtsordnungen besonders geeignet6 , wenn eine geschriebeneNormdes Gemeinschaftsrechts einen Rechtsbegriff verwendet, der Bestandteil der mitgliedstaatliehen Rechtssysteme ist, Vgl. Verdross, Recueil des Cours 1935, II, 195fT. Auch sie können als principes d'organisation de la technique juridique bezeichnet werden. · 5 Art. 164 EWGV ordnet die Wahrung nicht nur des geschriebenen Gemeinschaftsrechts an, sondern auch der zwischen den Mitgliedstaaten gemeinsamen Rechtsgrundsätze (Pescatore, CDE 1968, 629). Die Verweisung Art. 215 EWGV auf die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen Rechtsgrundsätzen beschränkt sich nicht auf den Bereich der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft (lpsen, Gemeinschaftsrecht, s. 114). 6 Lecheler, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze, S. 166 / 167; Becking, Normaufbau, s. 339/340. 3

4

I. Wesen und Funktion der "allgemeinen Rechtsgrundsätze"

25

oder wenn keine Regelung für einen Tatsachenkomplex besteht, obwohl nach dem System und dem Plan des Gemeinschaftsrechts eine Regelung notwendig ist 7 • 4. Entscheidendes Merkmal eines "aUgemeinen Rechtsgrundsatzes"

In bezugauf die Merkmale, die eine rechtsvergleichende Synthese haben soll, damit sie als allgemeiner Grundsatz vom Rechtssystem der Gemeinschaft angenommen wird, sind folgende Varianten denkbar: a) Ein allgemeiner Grundsatz soll eine in allen Mitgliedstaaten inhaltlich übereinstimmende Lösung darstellen. b) Er soll die übereinstimmende Lösung in der relativen oder absoluten Mehrheit der Mitgliedstaaten sein. c) Er soll der Maximalstandard an Übereinstimmung zwischen unterschiedlichen mitgliedstaatliehen Lösungen - d.h. der gemeinsame Nenner der unterschiedlichen Lösungen in allen Mitgliedstaaten - sein. Hierzu ein hypothetisches Beispiel in bezug auf die subjektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft gegenüber Dritten: In einigen Staaten gilt die erga omnes Wirkung, in anderen die Wirkung gegenüber den Rechtsnachfolgern und in anderen die Wirkung nur gegenüber den Gesamtrechtsnachfolgern. Maximalstandard ist die Wirkung gegenüber den Gesamtrechtsnachfolgern. d) Er soll der Maximalstandard in der relativen 8 oder absoluten Mehrheit der Mitgliedstaaten sein. Dies kann geschehen, wenn nicht nur quantitative Unterschiede bestehen (Verhältnis Plus-Minus), sondern auch qualitative. Ein hypothetisches Beispiel in bezug auf die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft: In 5 Staaten wird eine Ausdehnung der materiellen Rechtskraft auf präjudizielle Rechtsverhältnisse angenommen. In 3 Staaten beschränkt sich die Ausdehnung nur auf die vom Kläger geltend gemachten Rechtsverhältnisse. In den übrigen 4 Staaten erstreckt sich .die materielle Rechtskraft nur auf die Urteilsgründe, die die Normauslegung enthalten. Maximalstandard in der absoluten Mehrheit der Mitgliedstaaten (8 Staaten) ist die Ausdehnung der materiellen Rechtskraft auf die vom Kläger geltend gemachten Rechtsverhältnisse. e) Die Lösung, die am besten dem Gemeinschaftsrecht entspricht, gleich ob sie von allen Mitgliedstaaten oder von ihrer Mehrheit angenommen wird.

Daig, Festschrift für Zweigert, S. 400 I 401. Ein Maximalstandard in der relativen Mehrheit der Mitgliedstaaten kann nur zur Bildung eines allg. Rechtsgrundsatzes führen, wenn eine qualitativ unterschiedliche Lösung nicht in der absoluten Mehrheit der Mitgliedstaaten gilt bzw. den Maximalstandard nicht übersteigt. Im letzteren Fall würde die in mehreren Staaten geltende Lösung den Vorrang haben. 7

8

26

§ 2 Über die Methode der Arbeit

Wenn man diese Varianten bewertet, dann kommt man zu folgendem Ergebnis: Die Variante a) wird nicht angenommen, weil eine Übereinstimmung aller Mitgliedstaaten in bezug auf die Lösung eines Problems sehr schwer und nur auf sehr abstrakter Ebene erreicht werden kann. Meistens wird es sich um "principes tires directement de l'idee de droit" handeln, die auch im Gemeinschaftsrecht gelten und für deren Bildung die Rechtsvergleichung fast unnötig ist. Im Fall, wo der Grundsatz nicht aus der Rechtsidee abgeleitet wird, ist allerdings seine Existenz von jedem Mitgliedstaat abhängig. Eine Änderung seiner Regelung führt zur Aufhebung der mitgliedstaatliehen Übereinstimmung und infolgedessen auch des allgemeinen Rechtsgrundsatzes 9 . Dasselbe Aufhebung der Übereinstimmung und des Grundsatzes- kann auch durch den Beitritt eines Staates, der den Fall unterschiedlich regelt, erfolgen 10 • Die Variante b) stellt, obwohl sie von einem strengen Universalitätsgebot losgelöst ist, wegen der Eigenartigkeit und der schnellen Entwicklung der Rechtsordnung der Gemeinschaft, die oftmals prototype und besonders fortschrittliche - und infolgedessen noch nicht von der Mehrheit der Mitgliedstaaten anerkannte Regelungen verlangen, keine befriedigende Lösung dar. Die Varianten c) und d) sind Lösungen mit rückschrittlichem Charakter und können sich daher hemmend auf die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts auswirken 11 . Deshalb ist die Variante e) vorzuziehen. Einen allgemeinen Rechtsgrundsatz kann nur die für die Rechtsordnung der Gemeinschaft "beste" Lösung darstellen 12 • Sie soll der Struktur der Gemeinschaft nicht fremd sein. Sie soll den "elements deterrninants" des europäischen Rechtssystems mindestens nicht widersprechen 13 • Weiterhin darf sie für die Verfolgung der Ziele der Gemeinschaft und die Durchsetzung der Interessen sowohl der Gemeinschaft als auch der Mitgliedstaaten und der Individuen nicht nur kein Hindernis sein, sondern sie soll sie am besten erleichtern 14 • Ferner ist die Realitätsbezogenheit und Praktikabilität der Lösung zu prüfen 15 • Eine leicht anwendbare Lösung, deren Anwendung die Entwicklung des Gemeinschaftslebens positiv beeinflußt, ist immer vorzuzieZieger, JöR 22, 345. Zieger, JöR 22, 345. 11 Heldrich, JZ 1960, 681 ff. 12 Constantinesco, Rechtsvergleichung, S. 403 I 404; Daig, Festschrift f. Zweigert, S. 408; Zweigert, Les Novelles, Rn. 1203; Guegan, Les methodes de Ia CJCE, II, S. 750; Meessen, JIR 1973, 301.; Becking, Normautbau, S. 369. Vgl. auch die im Bereich des IPR von Leflar (Calif. L. Rev. 54 (1966), 1584) entwickelte "better rule of law"-Lehre: Der Richter soll die "better rule" anwenden, die sich in einer der in Betracht kommenden Rechtsordnungen findet, wenn die anderen rechtswahlbestimmenden Faktoren Voraussehbarkeit des Ergebnisses, Aufrechterhaltung der internationalen Ordnung, Vereinfachung der Aufgabe des Richters, Durchsetzung der staatlichen Interessen des Forums- nicht zu einer bestimmten Lösung führen. Dazu vgl. auch Zweigert, RabelsZ 37 (1973), 441, 447; Juenger, NJW 1973, 1525. 13 Becking, Normautbau, S. 369; Daig, Festschrift für Zweigert, S. 408. 14 Ähnlich Zuleeg, EuR 1969, 103. 15 Zuleeg, a.a.O., S. 104. 9

10

I. Wesen und Funktion der "allgemeinen Rechtsgrundsätze"

27

hen. Auf diese Weise wird auch die Verwandschaft der rechtsvergleichenden Methode mit der teleologischen und systematischen Methode deutlich: Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz soll mit dem normativen System der Gemeinschaft vereinbar sein und die Verwirklichung ihrer Ziele und Interessen fördern. Sie hat darüber hinaus in hohem Maße wertenden Charakter - Bewertung jeder nationalen Lösung innerhalb des europäischen Rechtssystems - und kann als wertende Rechtsvergleichung ("comparaison critique") bezeichnet werden 16 , deren wichtigster Orientierungspunkt das Gebot des "effet utile" ist, d.h. das Gebot der Maximalisierung der Effektivität des europäischen Rechtssystems in einer Form, welche die Verwirklichung der Gemeinschaftsinteressen am besten fördert. Um Methode und Prozeß der Bildung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes vor einem Mißverständnis zu bewahren: es handelt sich nicht um die schlichte Sache der besten Lösung, sondern um ihre Synthese mit Hilfe der mitgliedstaatliehen Regelungen. In diesem Punkt - im Beitrag aller Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zur Bildung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes - liegt der Universalitätsaspekt der selektiven Methode, die auf diese Weise dem Gedanken der Verwurzelung der Gemeinschaftsrechtsordnung in den mitgliedstaatliehen Rechtsordnungen gerecht wird. 5. Charakter der "allgemeinen Rechtsgrundsätze"

a) Allgemeine Rechtsprinzipien oder konkrete Rechtssätze -

Rechtsnormen?

Auf rechtstheoretischer Ebene werden beide Meinungen vertreten. Nach der ersten Meinung hat zwar sowohl ein Grundsatz als auch eine Norm einen abstrakten und allgemeinen Charakter, sie unterscheiden sich aber hinsichtlich der Bestimmbarkeit der Fälle, auf die sie angewandt werden können. Eine Norm betreffe immer - obwohl sie abstrakt gefaßt sei - eine bestimmte Art von Lebenssachverhalten ("tels actes ou tels faits" 17). Die Anwendungsfalle eines Grundsatzes seien dagegen nicht nur unbestimmt 18 , sondern auch unbestimmbar19 ("le principe comporte une serie indefinie d'applications") 20 • Nach der zweiten Ansicht kann ein Grundsatz sowohl ein Rechtssatz mit unbestimmbaren Anwendungsmöglichkeiten als auch ein solcher mit bestimmtem Anwendungsbereich- das hat wiederum als Folge die Bestimmbarkeit der Anwendungsmöglichkeiten- sein 21 . 16 So Daig, Festschrift für Zweigert, S. 409; Meessen, JIR 1973, 301; Zweigert, RabelsZ 28 (1964), 611; vgl. auchRengeling, Rechtsgrundsätze, S. 77; vgl. auch Rs 11/70, Slg 1970, 1125. 17 Boulanger, Etudes offertes ä G . Ripert, S. 55156. 18 Nur die Anwendungsfalle eines konkreten Rechtssatzes (Urteil, Verwaltungsakt) sind bestimmt. 19 Esser, Grundsatz und Norm, S. 51 I 52. 20 Boulanger, a.a.O., S. 55 / 56.

28

§ 2 Über die Methode der Arbeit

Im Bereich des Gemeinschaftsrechts muß aber der Terminus "allgemeine Rechtsgrundsätze" sowohl Prinzipien als auch Normen umfassen. Artikel 215 EWGV, der als allgemeine Anweisung für die Bildung allgemeiner Rechtsgrundsätze verstanden wird 22 , betrifft den Bereich der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft. Würde er nur auf Prinzipien verweisen, dann wäre er ohne große praktische Bedeutung, weil das Recht der außervertraglichen Staatshaftung eine relativ festgelegte Materie darstellt, so daß die Möglichkeit der Bildung abstrakter allgemeiner Rechtsgrundsätze beschränkt ist. Darüber hinaus muß man also die sich aus ihm ergebende Aufforderung als eine Anweisung zur Bildung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen sowohl auf abstrakter als auch auf konkreter Ebene verstehen 23 • Weiterhin ist die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Grundsatz und Norm nicht über Zweifel erhaben. Das entscheidende Kriterium der Unterscheidung- die (Un)Bestimmbarkeit der Anwendungsfälle - scheint nicht ganz schlagend zu sein. Die Schlüsselfrage ist, wie ein Anwendungsfall eines Rechtssatzes individualisiert wird. Wenn für die Individualisierung des Falles Merkmale verwendet werden, die nicht von dem anzuwendenden Rechtssatz vorgegeben sind - sie können z.B. von einem anderen Rechtssatz vorgegeben werden- dann betrifft der Rechtssatz unbestimmbare Anwendungsfälle, falls er andere mehr abstrakte Merkmale vorsieht. Wenn aber der Anwendungsfall durch Merkmale individualisiert wird, die sich aus dem anzuwendenden Rechtssatz ergeben, dann betrifft er mehr oder weniger abstrakt formulierte - die Welt kann sowohl mit abstrakten als auch mit konkreten Begriffen beschrieben werden - aber ohnehin bestimmbare Akte und Ta,tsachenvorgänge. Beispiel: Art. 7 EWGV verbietetjede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Der Gleichheitssatz verbietet aber jede mögliche Art von Diskriminierung. Wenn die Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit als Fall angenommen wird, auf den sowohl Art. 7 EWGV als auch der Gleichheitssatz Anwendung finden können, ist Art. 7 EWGV sicher eine Norm und der Gleichheitssatz ein Grundsatz, weil er so formuliert ist, daß er nicht nur auf Diskriminierung aus Staatsangehörigkeitsgründen, sondern auf jede mögliche Art von Diskriminierung Anwendung findet. Wenn aber jede mögliche Art von Diskriminierung als eine durch abstrakte Merkmale individualisierte Verhaltensweise erfaßt wird, dann betrifft der Gleichheitssatz immer bestimmbare Fälle. Er findet auf jeden Fall Anwendung, der als diskriminierende Praxis bezeichnet werden kann. Die (potentiellen) Anwendungsfälle sind durch die Bezeichnung "diskriminierende Praxis" bestimmbar. Jeder Rechtssatz findet also immer auf - durch denselben Rechtssatz - bestimmbare Fälle Anwendung. Will man weiterhin auf der Unterscheidung zwischen Grundsatz und Norm, zwischen Unbestimmbarkeit und Bestimmbarkeit der Anwendungsfälle bestehen, dann sind Grenzen zwischen Grundsatz und Norm oftmals nicht 21 22 23

Canaris, Feststellung von Lücken, S. 94. So Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 114. Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 22.

I. Wesen und Funktion der "allgemeinen Rechtsgrundsätze"

29

klar zu ziehen. Auch die Diskriminierung von Art. 7 EWGV kann in u~be­ stimmbaren Diskriminierungsarten analysiert werden. Anwendungsfall von Art. 7 EWGV kann die Ablehnung der Krankenversicherung von Ausländern, die Gewährung von ermäßigten Fahrkarten nur für inländische Studenten, die Zahlung keines Arbeitslosengeldes an Ausländer usw. sein. Klarheit der Trennung würde nur in bezugauf sehr detaillierte Normen bestehen, die alle möglichen Verhaltensvarianten vorsehen. Grundsätze und Normen sind also keine streng getrennte Kategorien von Rechtssätzen. Es gibt nur mehr oder weniger abstrakte Normen bzw. mehr oder weniger abstrakte Grundsätze. Die Bildung detaillierterer allgemeiner 24 Rechtsgrundsätze kann keine besondere Schwierigkeit verursachen, weil erstens die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten relativ homogen sind und zweitens aufgrund der wertenden Rechtsvergleichung keine mitgliedstaatliche Übereinstimmung notwendig ist, die vielleicht nur auf abstrakter Ebene möglich wäre. b) Normativer Charakter der "allgemeinen Rechtsgrundsätze"

Stellen die allgemeinen Rechtsgrundsätze geltendes Gemeinschaftsrecht dar, oder sind sie nur "guides" für die Auslegung und die Anwendung des Gemeinschaftsrechts? Man muß unterscheiden: Das Recht der Mitgliedstaaten, das zur Bildung der allgemeinen Rechtsgrundsätze verwendet wird, hat keine normative Kraft innerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung. Die nationalen Regelungen sind kein geltendes Gemeinschaftsrecht Sie haben vorpositiven Charakter. Der gebildete allgemeine Rechtsgrundsatz ist aber Bestandteil des Rechtssystems der Gemeinschaft 25 • Das gilt nicht nur für die weniger abstrakten Grundsätze, unter die ein Sachverhalt unmittelbar subsumiert werden kann, sondern auch für die mehr abstrakten, die auf einen speziellen Fall erst nach einer langen Kette von Subsumtionen Anwendung finden können. Auch wenn sie keinen Anspruch begründen oder keine Sanktion vorsehen, reicht für ihren positiven Charakter die Eingliederung in eine normative Ordnung, welche die Durchsetzung ihrer Postulate garantiert 26 • Im übrigen sind aber die allgemeinen Rechtsgrundsätze auch von besonderer Bedeutung für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, indem sie bei systemkonformer Auslegung anderer Normen berücksichtigt werden 27 • 24 Ein Grundsatz ist allgemein, wenn er der Regelung allgemeiner rechtlicher Bedürfnisse dient (Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 22). 25 Vgl. auch Rengeling, Rechtsgrundsätze, S. 205f. 26 Vgl. auch Manessis, Festschrift für K. Tsatsos, S. 379. Der normative Charakter der allgemeinen Rechtsgrundsätze ergibt sich auch aus einer im Rahmen des Gemeinschaftsrechts herrschenden Auslegungsmethode: der systemkonformen Auslegung. Sie intendiert die Anpassung der sich ergebenden Lösungen an das geltende Rechtssystem und auf diese Weise die Sicherung seiner Geltung auf Dauer. Die den allgemeinen Rechtsgrundsätzen konforme Auslegung des geschriebenen Gemeinschaftsrechts beweist die normative Geltung der Grundsätze.

30

§ 2 Über die Methode der Arbeit

6. Die Art der Feststellung der "allgemeinen Rechtsgrundsätze"

Es ist gesagt worden, daß das nationale Recht keinen deontologischen, sondern nur ontologischen Charakter im gemeinschaftsrechtlichen Bereich habe. Es gehöre nicht dem Sollen, sondern dem Sein an. Zu prüfen ist, ob diese Annahme Bedeutung für das Verfahren hat, das zur Bildung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes führt. Wird das innerstaatliche Recht wie eine Tatsache oder wie ein normativer Komplex festgestellt? Wäre es als Tatsache festzustellend.h. als in einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit geltendes Recht-, dann wäre seine Auslegung durch die Rechtsprechung des jeweiligen Mitgliedstaates absolut bindend, weil nur auf diese Weise festgestellt werden könnte, was in einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit wirklich als Recht gilt. Ein solcher Weg würde aber zu unbefriedigenden Ergebnissen führen: die stark von den Besonderheiten der eigenen Rechtsordnung beeinflußte Rechtsprechung kann rechtliche Aspekte, die für das Gemeinschaftsrecht von besonderer Bedeutung sind, nicht hinreichend berücksichtigt haben, weil sie für die mitgliedstaatliche Rechtsordnung ohne großes praktisches Interesse sind. Deshalb muß das nationale Recht, obwohl es der Rechtsordnung der Gemeinschaft nicht angehört, als Sollen, wie ein normativer Komplex festgestellt werden. Das bedeutet, das nationale Recht ist ohne strenge Bindung an die innerstaatliche Rechtsprechung auszulegen. Die innerstaatliche Rechtsprechung wie auch die Literatur werden zwar berücksichtigt. Sie werden aber ebenso wie die innerstaatlichen Auslegungsmethoden- nur als Rechtsindizien verwendet. Das nationale Recht wird frei nach allen Richtungen erforscht, die für die Gemeinschaft von Interesse sind. Darüber hinaus wird deutlich, daß die Natur des innerstaatlichen Rechts keine Rolle für sein Feststellungsverfahren spielt28 • 7. "Allgemeine Rechtsgrundsätze" und topisches Verfahren

Die allgemeinen Rechtsgrundsätze gehören, wie schon gesagt, dem gemeinschaftlichen Rechtssystem an 29 • Aus einem Rechtsgrundsatz können weitere 27 Vgl. auch Bleckmann, NJW 1982, 1179; Pernice in Grabitz, Kommentar, Art. 164, Rn. 46. 28 Die Frage nach dem Verhältnis der Natur des ausländischen Rechts zu seinem Feststellungsverfahren taucht auch bei der Anwendung ausländischen Rechts vor einem nationalen Gericht auf. Das ausländische Recht hat in diesem Fall normative Kraft, es findet auf den konkreten Sachverhalt Anwendung. Es hat darüber hinaus deontologischen Charakter (Mitsopoulos, ZZP 81, 268ff.). Weiterhin wird darüber gestritten, ob es als Faktum oder als normativer Komplex festgestellt wird. Siehe darüber: Kegel, Internationales Privatrecht§ 15, Anm. III, S. 297; Batiffol/Lagarde, Droit international prive, I, 381 ff.; Maridakis, Internationales Privatrecht, I, S. 322- 324; Kerameus, ZZP 99, 178. 29 Was die Rangordnung der allgemeinen Rechtsgrundsätze betrifft, wird angenommen, daß sie nur gegenüber dem sekundären Gemeinschaftsrecht Vorrang haben. Ein Vorrang auch gegenüber dem primären Gemeinschaftsrecht wird verneint, weil die Grundsätze an dessen Struktur und Ziele angepaßt werden müssen. Das gilt auch für

I. Wesen und Funktion der ,.allgemeinen Rechtsgrundsätze"

31

Regeln abgeleitet werden, aus mehreren Grundsätzen können abstrakte Rechtssätze gebildet werden. Ihre Funktion im Rahmen axiomatischen Denkens (Reduktion, Deduktion) kann ihnen den Charakter axiomatischer Rechtsgrundsätze verleihen. Das erscheint aber nicht so eindeutig, wenn man das Verfahren ihrer Bildung betrachtet. Sie werden weder durch Reduktion noch durch Deduktion im Rahmen eines geschlossenen Rechtssystems, sondern durch Vergleichung zwischen den Regelungen der als offen betrachteten mitgliedstaatliehen Rechtssysteme gebildet. Die Lösungen, die die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen anbieten, sind die Topoi, mit deren Hilfe das Problem, das in dem Bereich des Gemeinschaftsrechts aufgetaucht ist, gelöst werden kann. Das Verfahren, das zur Bildung der allgemeinen Grundsätze führt, ist ein topisches Verfahren 30 • Es gibt die notwendige Problemorientierung; es fehlt die Beschränkung auf ein ausschließliches Rechtssystem; die innerstaatlichen Rechtsinstitute werden frei erforscht; die Notwendigkeit der Maximalisierung der Effektivität des gemeinschaftlichen Rechtssystems stellt nur einen wichtigen Topos dar. Infolgedessen wird der axiomatische Charakter der allgemeinen Rechtsgrundsätze erheblich relativiert. Sie sind zwar in dem gemeinschaftlichen Rechtssystem eingegliedert und funktionieren ausschließlich in seinem Rahmen, aber sie sind nicht durch ein Verfahren, das sich ausschließlich im Rahmen eines geschlossenen Systems entwickelt, entstanden. Ihre Verwurzelung in den mitgliedstaatliehen Rechtsordnungen bringt neue Elemente für das europäische Rechtssystem mit sich, und daher trägt sie erheblich zu seiner Erneuerung und Entwicklung bei.

elementare allgemeine Rechtsgrundsätze (z.B. Grundrechte), weil nach der Rechtsprechung des EuGH (Rs 11/70, Slg 12970, 1135; Rs 4j73, Slg 1974, 509) auch für sie Begrenzungen gelten, die dem Gemeinschaftswohl dienen. Darüber hinaus sind die allgemeinen Rechtsgrundsätze dem primären Gemeinschaftsrecht gleichrangig (Zieger, JöR 22, 354; Beutler in Groeben/Ehlermann, Grundrechtsschutz, Rn. 33). M.E. kann man aber für die Frage nach der Rangordnung der.allgemeinen Rechtsgrundsätze keine generelle Antwort finden. Die Rangstufe verschiedener rechtsvergleichend gewonnener Rechtssätze muß nicht dieselbe sein. Wenn der allgemeine Rechtsgrundsatz Lücken des primären Gemeinschaftsrechts füllt, dann gehört er auch dem primären Recht an. Wenn aber der Grundsatz eine besonders detaillierte Regelung enthält und das sekundäre Gemeinschaftsrecht vervollständigt, dann nimmt er auch seine Rangstufe ein. Ein Beispiel: Die Antwort auf die Frage, ob die Fortsetzungsfeststellungsklage zum Klageinstrumentarium der Beamtenstreitigkeiten (Art. 179 EWGV) zu rechnen ist, gehört dem primären Gemeinschaftsrecht an, weil nach der Systematik des europäischen Verfahrensrechts die Klagearten durch primäre Regeln (EWG-Vertrag, Satzung des EuGH) bestimmt werden. Dagegen gehört die Regelung des Anscheinsbeweises dem sekundären Gemeinschaftsrecht an, weil das Beweisverfahren hauptsächlich und detailliert in der VerfO des EuGH (sekundäres Recht) geregelt ist. 30 Ein Verfahren, das zur Lösung des Problems nicht induktiv oder deduktiv, sondern durch Betrachtung und Vergleichung verschiedener Lösungshinweise (Topoi) fUhrt und auf Aristoteles zurückgeht: (über jedes aufgestellte Problem aus meinungsmäßigen Sätzen Schlüsse bilden können (Topik, Buch I, Kap. 9, Abs. 1, S. 3)). Dazu siehe vor allem Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1974.

32

§ 2 Über die Methode der Arbeit

II. "Allgemeine Rechtsgrundsätze" des europäischen Verfahrensrechts Das europäische Verfahrensrecht ist besonders geeignet für die Bildung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Man kann sogar sagen, es bedarf der Bildung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Wegen der vielseitigen Aufgaben des Gerichtshofes- er wird als Verfassungs- 31 , Verwaltungs- 32 und Zivilgericht33 tätig- sind sowohl seine Satzung als auch seine Verfahrensordnung von einem Mangel an detaillierten Regelungen geprägt. Ihre Vorschriften müssen auf Rechtsstreitigkeiten angewandt werden, die einen zivil-, verwaltungs- oder verfassungsrechtlichen Charakter aufweisen können. Sowohl die Satzung und die Verfahrensordnung insgesamt als auch ihre einzelnen Vorschriften sollen flexibel sein. Diese Flexibilität wird durch die relativ abstrakte Formulierung der Verfahrensvorschriften erreicht. Abstrakte Vorschriften sind aber gleichzeitig inhaltsleere Vorschriften, die einer Konkretisierung bzw. inhaltlichen Anreicherung bedürfen. Für diese inhaltliche Anreicherung der verfahrensrechtlichen Institute ist der Beitrag der rechtsvergleichend gebildeten allgemeinen Rechtsgrundsätze von besonderer BedeutU;ng. Ware die verfahrensrechtliche Ordnung reich an detaillierten positiven Normen, dann könnte die Anwendung gemeinschaftsexterner Elemente zu einem Widerspruch zu diesen Normen des verfahrensrechtlichen Systems führen 34 ; so aber ist die Einführung und Anpassung exogener Elemente, die jeder allgemeine Rechtsgrundsatz mit sich bringt, erheblich leichter.

31 Organstreitigkeiten, Art. 173, 175 EWGV; Vertragsverletzungsverfahren, Art. 169fT. EWGV; Vorabentscheidungsverfahren, Art. 177 EWGV. 32 Klagen von natürlichen oder juristischen Personen gegen den Rat oder die Kommission, Art. 173, 175 EWGV. 33 Rechtsstreitigkeiten aus dem Bereich der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft, Art. 215, Abs. 2; 178 EWGV. Der Gerichshof fungiert ferner als Dienst- und Disziplinargericht, Art. 179 EWGV. Über die Palette der Zuständigkeiten des Gerichtshofes siehe statt aller Wägenbaur, Festschrift für Baur, S. 667ff. 34 Ähnlich Daig, Festschrift für Zweigert, S. 400.

§ 3 Untersuchung einzelner gemeineuropäischer Verfahrensgrundsätze und ihres Verhältnisses zu den Urteilswirkungen In den nationalen Rechtsordnungen entscheidet sich der Gesetzgeber für bestimmte Maximen 1 , die nach seiner Meinung das bestmögliche Verfahren gewährleisten. Diese Maximen prägen die Züge entweder des Prozesses insgesamt oder nur einiger Verfahrensteile oder einzelner Vorschriften. Sie manifestieren sich in Normen oder Normenkomplexenz und können aus ihnen abgeleitet werden 3 • Im Bereich des europäischen Verfahrensrechts ist gleichfalls von der verfahrensprägenden Kraft der Maximen auszugehen; die Bildung solcher Maximen ist dabei nicht nur eine rechtspolitische Entscheidung des Gemeinschaftsgesetzgebers4 , sondern auch das Ergebnis wertender Rechtsvergleichungdurch Wissenschaft und Judikative. Im Hinblick auf die Urteilswirkungen ist in diesem Kapitel vorab zu untersuchen, ob und wie die Maximen des europäischen Verfahrensrechts Wesen und Umfang der Urteilswirkungen beeinflussen. Bestimmen die Verfahrensmaximen im Vertragsverletzungsverfahren die Funktion, den objektiven und den subjektiven Umfang der Urteilswirkungen vor, oder stellen diese Maximen einfach die Grenzen des Spielraums dar, welcher der wertenden Rechtsvergleichung für die Findung der "better rule" zur Verfügung steht? I. Dispositionsgrundsatz 1. Allgemeines

Der Dispositionsgrundsatz bedeutet die Verfügungsbefugnis der Parteien über das "Ob" und "Worüber" des Verfahrens 5 • Er bezieht sich auf die Verfügungsmöglichkeiten der Parteien hinsichtlich der Verfahrenseinleitung, der Verfahrensbeendigung, der Bestimmung des Streitgegenstandes und der Gestaltung des Verfahrens 6 • Er entfließt dem Gebot der Gewährleistung 1 Vgl. Baur, ZPR, Rn. 10; Brüggemann,judex statutor undjudex investigator, S. 101; Menger, Allgemeine Prozeßrechtssätze, S. 433. Vgl. aber auch Larenz, Methodenlehre, S.458. 2 Brüggemann, a.a.O., S. 101. 3 Vgl. aber auch Esser, Grundsatz, S. 161 f. 4 Wie es in den nationalen Rechtsordnungen hinsichtlich des nationalen Gesetzgebers die Regel ist. Dazu vgl. Baur, a. a. 0., Rn. 10; Stümer, ZZP 99, 292; Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen, 1950, S. 20. 5 Stürner, Festschrift für Baur, S. 650.

3 Tsikrikas

34

§ 3 Untersuchung einzelner gemeineuropäischer Verfahrensgrundsätze

effektiven Rechtsschutzes iVm den Freiheitsrechten der Parteien 7 • Im Vertragsverletzungsverfahren könnte sich die Verfügungsbefugnis aus dem Prinzip der staatlichen Souveränität und aus der Stellung der Kommission als souveränes, eigenverantwortlich handelndes und sogar einziges klagebefugtes GerneiDschaftsorgan rechtfertigen. Ferner ergibt sich aus der ganzen Regelung des Vertragsverletzungsverfahrens die herrschende Rolle der Kommission in bezug auf das Verfahren 8 , ihr könnte auch eine Verfügungsbefugnis entsprechen. Aber der Dispositionsgrundsatz kann immer aufgrund öffentlichen Interesses beschränkt werden 9 , und im Vertragsverletzungsverfahren betrifft die Klage sowohl der Kommission als auch eines Mitgliedstaates das Interesse der ganzen Gemeinschaft. Was die Klage der Kommission angeht, sind es eben die herrschende Position der Kommission und ihre innerhalb der Gemeinschaftsorgane monopolisierte Klagebefugnis, die eine Beschränkung der Kommissionsherrschaft verlangen. Die besondere Stellung der Kommission ist eng mit ihrem Charakter als Hüterio des Vertrages 10 und der vom Vertrag geschützten Interessen verknüpft, so daß sich eine Beschränkung ihrer Verfügungsbefugnis als sinnvoll erweist. 2. Verfahrenseinleitung

Die Kommission ist grundsätzlich 11 zur Klageerhebung verpflichtet 12 . Die Mitgliedstaaten sind frei, zuerst die eigenen Interessen zu berücksichtigen, bevor sie über eine Klageerhebung entscheiden. Die Klageerhebung soll aber immer möglich sein, wenn sie wegen gemeinschaftlicher oder mitgliedstaatlicher Interessen als notwendig erscheint. Daher soll die materielle Rechtskraft auf den jeweiligen Kläger beschränkt sein und nicht auch gegenüber anderen Mitgliedstaaten oder der Kommission gelten, weil die materielle Rechtskraft durch ihre "ne bis in idem" Funktion die Möglichkeit weiterer Klageerhebung ausschließt. 6 Stümer, a.a.O., S. 650; Grunsky, Grundlagen, S. 24; Perrot, Droitjudiciaire, S. 312, 589 ff.; Julien, Encyclopedie Dalloz, Instruction des affaires, Anm. 4; Garsonnet 1Bru, Precis, S. 262; More!, Traite, S. 462. Nach Rosenberg/Schwab, § 79, Anm. I gehört aber das Ingangsetzen und Inganghalten eines Prozesses dem Prozeßbetrieb an. 7 Stümer, a.a.O., S. 651; Perrot, a.a.O., S. 287. Ähnlich Jauemig, ZPR, § 24, Anm. I; Rimmelspacher, Materiellrechtlicher Anspruch und Streitgegenstandsprobleme, 1970, S. 2. Vgl. aber auch Bötticher, ZZP 85, 27. 8 Vor jeder Klageerhebung -auch durch einen Mitgliedstaat- sieht der Vertrag den Einsatz der KommissiOn im Rahmen eines außergerichtlichen Schlichtungsverfahrens vor. Ihr Einsatz kann darüber hinaus zur Beseitigung der Vertragsverletzung und der Möglichkeit einer Einleitung des gerichtlichen Verfahrens führen. 9 Stümer, a. a. 0., S. 651. 10 Vgl. dazu Kovar, La Commission, Gardienne des Traites, S. 9 ff; H. Schmitt von Sydow in Groeben ; Ehlermann, Art. 155, Rn. 4ff. 11 Soweit es sich nicht um Bagatellfalle handelt oder Fälle, die mit politischen Mitteln besser gelöst werden können. 12 Wohlfahrt in Wohlfahrt / Sprung, Art. 169, Anm. 3; Daig in Groeben/Ehlermann, Art. 169, Rn. 53. Vgl. aber auch Ortlepp, Vertragsverletzungsverfahren, S. 751.

I. Dispositionsgrundsatz

35

3. Verfahrensbeendigung

Was die Verfahrensbeendigung betrifft, schließt zwar Art. 77 § 2 VerfO die außergerichtliche Erledigung der Streitsache nur für die Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen (Art. 173, 175 EWGV) aus, es muß aber angenommen werden, daß dieselbe Regel auch für das bedeutsamere Vertragsverletzungsverfahren13 gilt (argumentum a minore ad majus). Aus Gründen des öffentlichen Interesses, das eine endgültige gerichtliche Klärung der Sache verlangt, ist auch die Klagerücknahme (Art. 78 VerfO) auszuschließen. Dieser Ausschluß soll nicht nur gegenüber der Kommission, sondern auch gegenüber den Mitgliedstaaten gelten, obwohlletztere bei der Verfahrenseinleitung absolut frei sind. Es können nicht dieselben Maßstäbe für die Verfahrenseinleitung und die Verfahrensbeendigung gelten. Wenn das Verfahren schon in Gang gesetzt ist, verlangen Prozeßökonomie und Rechtssicherheit eine endgültige und verbindliche Klärung des Rechtsstreites durch Urteil des Gerichtshofes 14 • 4. Bindung an die Parteianträge

Das öffentliche Interesse kann indessen ein Prozedieren des Gerichtshofes "ultra petita" nicht rechtfertigen 15 • Eine Prüfung "ultra petita partium", d.h. über die Parteianträge hinaus, ähnelt der amtswegigen Verfahrenseinleitung 16 , die dem Gerichtshofuntersagt ist. Außerdem ist im Vertragsverletzungsverfahren jede Überschreitung des im Vorverfahren festgesetzten Streitgegenstandes nicht erlaubt. Dieses Verbot bezweckt sowohl die Maximalisierung der Effektivität der Verteidigungsrechte des Beklagten in einem zweistufigen Verfahren 17 als auch die Gewährleistung einer konzentrierten und darüber hinaus mehr detaillierten und vollständigen Aufklärung der Sache. Daher ist eine Erstreckung der objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft, der innerprozessualen und außerprozessualen Bindungswirkung über den im Vorverfahren festgesetzten Streitgegenstand hinaus, die durch eine Prüfung "ultra petita" möglich wäre, ausgeschlossen. 5. Richterliche Hinweise

Aus demselben Grund ist auch eine Hinweismöglichkeit oder gar eine Hinweispflicht des Gerichtshofes auf Tatsachen abzulehnen, die außerhalb der Grenzen des Streitgegenstandes liegen. Die Hinweispflicht des Richters ergibt sich zwar aus dem Gebot des fairen Verfahrens 18 und dem Gebot der 13 14 15

16 17

3•

Ähnlich Korsch, KSE 1, S. 133. Siehe auch Stürner, a.a.O., S. 655; a.A. Ule, 46, DJT, I, Teil4, S. 78. Siehe auch Chapus, contentieux administratif, S. 381. Stürner, a.a.O., S. 654. Vgl. aber Daig in Groeben / Ehlerrnann, Art. 169, Rn. 10.

36

§ 3 Untersuchung einzelner gemeineuropäischer Verfahrensgrundsätze

Gewährleistung rechtlichen Gehörs 19 • Im Vertragsverletzungsverfahren aber, wo sowohl der Kläger als auch der Beklagte die Möglichkeit der Unterstützung durch hochqualifizierte Juristen hat, erscheint eine streiterweiternde Hinweispflicht keinesfalls rechtsstaatlich notwendig 20 . Man könnte weiterhin mit dem öffentlichen Interesse an einer durch die Hinweispflicht erfolgten vollständigen Aufklärung argumentieren. Aber das schon erwähnte Verbot der Überschreitung der Grenzen des Streitgegenstandes beschränkt die Möglichkeit einer vollständigen Aufklärung auf diese Grenzen. Das Gericht darf- oder ist sogar dazu verpflichtet- auf Tatsachen hinweisen, die innerhalb des im Vorverfahren festgesetzten Streitgegenstandes eine Rolle spielen, d.h. die als vertragswidrig gerügten mitgliedstaatliehen Handlungen und ihre Vertragswidrigkeit betreffen, ohne sich auf weitere Handlungen zu erstrecken. 6. Verfahrensgestaltung

Endlich haben die Parteien keine Befugnis freier Gestaltung des Verfahrens vor dem EuGH 21 • Das ergibt sich sowohl aus dem Gebot der Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit als auch aus dem Gebot der Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung22. Ein zusätzliches Argument gegen die freie Gestaltung des Verfahrens durch die Parteien kann aus der Monopolstellung des Gerichtshofes entnommen werden. Diese Monopolstellung - der EuGH ist ausschließlich zuständiges Gericht für Rechtsstreitigkeiten aufgrund der Verletzung des Vertrages- garantiert ein einheitliches, faires, besonders den Bedürfnissen des gemeinschaftlichen Rechtssystems entsprechendes Verfahren. Infolgedessen würde die freie Gestaltung des Verfahrens durch die Parteien dieser Monopolstellung widersprechen. Die fehlende Befugnis der Parteien, über Verfahrensnormen zu verfügen und darüber hinaus verfahrensrechtliche Institute frei zu gestalten, gilt auch für Wesen und Funktion der Urteilswirkungen. Die Parteien können die materielle und formelle Rechtskraft oder die Bindungswirkung weder beseitigen, noch sie beliebig gestalten.

18 Schneider, NJW 1986, S. 971; Karwacki, Der Anspruch der Parteien auf einen fairen Zivilprozeß, S. 70. Ähnlich Debbasch, contentieux, S. 507. 19 Stümer, a.a.O., S. 654; Arndt, NJW 1959, 6 ff; Winterfeld, NJW 1961, 849; a.A. Rosenberg/Schwab, § 85, Anm. III 3; St/J /Leipold, vor§ 128, Rn. 42. 20 Siehe auch Baur, Zeit-. und Geistesströmungen, öJB11970, S. 449; Stümer, a.a.O., S. 655; Karwacki, a.a.O., S. 71; a.A. Schneider, NJW 1986, 1317. 21 Dies gilt nicht nur, wenn der EuGH im Rahmen seiner obligatorischen Gerichtsbarkeit entscheidet, sondern auch wenn er als Schiedsgericht fungiert (Art. 181, 182 EWGV). Vgl. dazu Daig in Groeben/Ehlermann, Art. 181, Rn. 2; Grabitz, Kommentar, Art. 181, Rn. 3. 22 Stürner, a.a.O., S. 656.

II. Verhandlungs- und Inquisitionsgrundsatz

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II. Verhandlungs- und Inquisitionsgrundsatz I. Allgemeines

Verhandlungs- und Inquisitionsgrundsatz beschreiben die Beibringung des Tatsachenstoffes und der Beweismittel. Ist sie den Parteien übertragen, dann gilt der Verhandlungsgrundsatz. Gehört sie dagegen zu den Aufgaben des Gerichts, dann ist der Inquisitionsgrundsatz verwirklicht 23 • Argumente für die Geltung des Verhandlungsgrundsatzes endließen dem Gebot der richterlichen Neutralität und der Parteiautonomieu. Der Inquisitionsgrundsatz stützt sich dagegen auf das rechtsstaatliche Postulat der Findung materieller Wahrheit 25 , dessen Bedeutung im Rahmen von Verfahren besonders allgemeinen Interesses erheblich zunimmt. 2. Geltung im Vertragsverletzungsverfahren

Die Satzung und die Verfahrensordnung des Gerichtshofes enthalten Vorschriften, welche den Schluß sowohl auf den Verhandlungs- als auch auf den Inquisitionsgrundsatz zulassen 26 : Gemäß' Art. 38 § 1 VerfO muß die Klageschrift eine Darstellung des Streitgegenstandes und die Bezeichnung der Beweismittel enthalten. Entsprechend ordnet Art. 40 § 1 VerfO für die Klagebeantwortung die tatsächliche Begründung und die Bezeichnung der Beweismittel an. Aber gemäß Art. 45 § 1 VerfO bestimmt der Gerichtshof durch Beschluß die Beweismittel, ohne an die Beweisanträge der Parteien gebunden zu sein. Weiterhin gibt ihm Art. 21 Satzung die Möglichkeit, die Vorlage von Urkunden und die Erteilung von Auskünften zu verlangen. Gemäß Art. 22 Satzung und Art. 49 § 1 VerfO kann er die Erstattung eines Gutachtens anordnen und gemäß Art. 47 § 1 VerfO von Amts wegen Zeugen vernehmen. Art. 60 VerfO gibt dem Gerichtshof die Möglichkeit der amtswegigen Anordnung einer Beweisaufnahme und der Anordnung ihrer Wiederholung und Erweiterung. Gemäß Art. 94 § 2 VerfO prüft er vor dem Erlaß eines Versäumnisurteils nicht nur die Zulässigkeit und Schlüssigkeit der Klage, sondern auch ihre Begründetheit. Er kann auch Beweisaufnahme von Amts wegen anordnen, obwohl kein voller Beweis notwendig ist; es reicht, daß die Anträge des Klägers begründet erscheinen. Es wird vertreten 27 , Art. 42 § 2 VerfO beschränke die Anwendung 23

290.

Statt aller Rosenberg/Schwab, § 78, Anm. I, S. 433; Perrot, Droitjudiciaire, S. 285,

24 Stümer, a.a.O., S. 658; Ule, § 29, Anm. II. Vgl. aber auch Brüggemann, Judex statutor und judex investigator, S. 174, der den Verhandlungsgrundsatz auf den Wert der persönlichen Sphäre stützt. 25 Stümer, a.a.O., S. 658; Julien, lnstruction des affaires, Anm. 14 ff; Perrot, a.a.O., S. 285, 290. Vgl. aber auch§ 3, VII, tc. 26 Matthies, KSE 1, S. 137. 27 Ule, 46 DJT, I, Teil 4, S. 68; Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 758.

38

§ 3 Untersuchung einzelner gemeineuropäischer Verfahrensgrundsätze

des lnquisitionsgrundsatzes, der Gerichtshof könne hier auch von Amts wegen nur Tatsachen berücksichtigen, die bis zum Schluß des schriftlichen Verfahrens entstanden seien. Art. 42 § 2 VerfO spricht aber von Angriffs- und Verteidigungsmitteln, die vorgebracht werden können. Aus dem Wortlaut des Art. 42 § 2 VerfO ergibt sich also, daß er nur die von den Parteien vorgetragenen Tatsachen betrifft. Der Versuch einer analogen Anwendung auch auf die von Amts wegen zu berücksichtigenden Tatsachen würde der Systematik der VerfO widersprechen: Art. 42 § 2 VerfO folgt unmittelbar den Vorschriften, die das Parteivorbringen betreffen. Es ist konsequent anzunehmen, daß er nur regelt, bis zu welchem Zeitpunkt dieses Vorbringen zulässig ist, ohne die amtswegige Prüfung und Sachermittlung zu berühren. Weiterhin wäre bei Geltung des Art. 42 § 2 VerfO für amtswegige Tatsachenermittlung deren Bedeutung erheblich beschränkt, weil ihr Zweck in der Ausfüllung der Lücken liegt, die das Parteivorbringen gelassen hat und die nicht mehr nachträglich durch die Parteien ausgefüllt werden können. Art. 42 § 2 VerfO kann also nur im Rahmen des Verhandlungsgrundsatzes gelten 28 und darüber hinaus ist seine beschränkte Geltung ein Indiz für den Anwendungsbereich der Maxime im Verfahren vor dem EuGH. Wenn der Gerichtshof sich mit Rechtsstreitigkeiten beschäftigt, deren Bedeutung den Kreis der Parteien nicht überschreitet, dann ist hauptsächlich den Parteien die Aufklärung des Sachverhaltes zu überlassen. Wenn aber die Rechtssache auch die Interessen anderer Personen oder gar der Allgemeinheit betrifft, dann soll der Gerichtshof sich selbst um die vollständige Aufklärung der Sache in besonderer Weise kümmern. Die erwähnten Vorschriften geben dem EuGH die Möglichkeit der Anpassung des anzuwendenden Aufklärungsverfahrens an die Bedeutung und die Besonderheiten des jeweiligen Rechtsstreites. Der Inquisitionsgrundsatz soll infolgedessen im Vertragsverletzungsverfahren nicht nur wegen des besonderen Interesses der Allgemeinheit, das die zugehörigen Streitigkeiten kennzeichnet, sondern auch wegen der Kompliziertheit ihrer Materie 29 den Vorrang gegenüber dem Verhandlungsgrundsatz haben. Wenn also die mit Mittel der Parteien erreichte Aufklärung der Sache als ungenügend erscheint, dann soll der Gerichtshof nicht nur seine Hinweispflicht erfüllen kein "corps des muets" 30 mehr sein - , sondern von sich aus die Tatsachen ermitteln. 3. Einfluß auf die Urteilswirkungen

Die Geltung des Verhandlungs- oder Inquisitionsgrundsatzes kann für die Urteilswirkungen nicht ohne Bedeutung sein. Wenn die Chancen einer gründlicheren Sachverhaltsaufklärung und infolgedessen der Findung materieller Wahrheit zunehmen, dann kann das Urteil eher als Maßstab künftigen Verhaltens von Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorganen gelten. Außerdem 28 29 30

Vgl. auch WaelbroeckjVandersanden, Art. 188, Anm. 37. Bebr, KSE 1, S.118. Bezeichnung von Zwe1gert, KSE 1, S. 588.

III. Grundsätze aus dem Gebot eines fairen Verfahrens

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ist nach verbreiteter Ansicht 31 der subjektive Geltungsbereich eines Urteils auch von den Möglichkeiten des Einflusses der Parteien bzw. Prozeßbeteiligten auf die U rteilsfindung abhängig. Ist dieser Einfluß bei Anwendung des Inquisitionsgrundsatzes erheblich gemindert, dann kann das Urteil eher über den Kreis der Prozeßbeteiligten hinaus wirken. Die Geltung des Verhandlungs- oder Inquisitionsgrundsatzes beeinflußt schließlich den Entscheidungsgegenstand - beide Grundsätze betreffen den Lebensvorgang als das zweite Glied des zweigliedeigen Streit- und Entscheidungsgegenstandes - und infolgedessen die objektiven Grenzen der materiellen 32 Rechtskraft. 111. Verfahrensgrundsätze, die sich aus dem Gebot eines fairen Verfahrens ergeben Eine besondere Rolle für die Urteilswirkungen spielen die Verfahrensmaximen, die sich aus dem Gebot des fairen Verfahrens - der Verdichtung des Rechtsstaatsgedankens auf verfahrensrechtlicher Ebene - ergeben 33 • Das Ergebnis eines Verfahrens kann schon für die Verfahrensbeteiligten nicht bindend sein 34 , wenn das Verfahren Minimalforderungen der Rechtsstaatlichkeit nicht entspricht. Für die Erstreckung der Urteilswirkungen auf Personen, die am Prozeß nicht beteiligt waren, ist der hohe Rechtsstaatlichkeits- bzw. Fairneßgrad des gerichtlichen Verfahrens eine wichtige Voraussetzung. 1. Rechtliebes Gehör

Nach dem Gebot des rechtlichen Gehörs sollen alle Prozeßbeteiligten die Möglichkeit haben, sich zu allen Tat- und Rechtsfragen zu äußern 35 • Das 31 Bettermann, Die Vollstreckung des Zivilurteils, S. 99 1100; Brüggemann, a. a. 0., S. 108; Rosenberg/Schwab, § 157, Anm. I; a.A. Hellwig, Rechtskraft, S. 19; Calavros, Urteilswirkungen, S. 88/89. 32 Dazu Jauernig, Verhandlungsmaxime, Inquisitionsmaxime und Streitgegenstand, 1967, S. 6 und Calavros, Gegenstand, S. 413fT. 33 Für die Bildung dieser Maximen ist von erheblicher Bedeutung die EMRK. Obwohl keine förmliche Sukzession der Europäischen Gemeinschaften in die EMRK besteht, beeinflußt sie stark den Inhalt der in der Gemeinschaft geltenden Grundrechte und elementaren Rechtsgrundsätze. Dazu Beutler in Groeben / Ehlermann, Grundrechtsschutz, Rn. 48 / 49; auch die Rechtsprechung des EuGH (Rs 4/73, Slg 1974, S. 507; Rs 44/79, Slg 1979, S. 3745; Rs 136/79, Slg 1980 S. 2057). Für die Verfahrensmaximen ist Art. 6 EMRK maßgeblich. Er beschränkt sich nicht nur auf die Gewährleistung einzelner Verfahrensgarantien (Öffentlichkeit, rechtliches Gehör, Unabhängigkeit des Richters), sondern er begründet vielmehr das Recht auf effektives und faires Verfahren. Vgl. Peukert in Frowein / Peukert, EMRK, Art. 6, Rn. 1; Friesenhahn in Strupp/ Slochauer, Wörterbuch des Völkerrechts (Menschenrechte); Stürner, JZ 1986, 527. 34 Vgl. auch Gilles, Festschrift für Schiedermair, S. 199, speziell für die fehlerhaften Urteile. 35 Baur, AcP 153 (154), 410f.; Maunz in Maunz / Dürig, GG Komm., Art. 103, Abs. 1, Rn. 28; Debbasch, contentieux, S. 502.

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§ 3 Untersuchung einzelner gemeineuropäischer Verfahrensgrundsätze

Gericht darf keine Tatsache, kein Beweismittel berücksichtigen, ohne daß vorher jeder Prozeßbeteiligte sich dazu äußern konnte 36 • Insbesondere soll jedem Prozeßbeteiligten die Möglichkeit des Vorbringens vorteilhafter Tatsachen gewährleistet sein37 • Das Gebot des rechtlichen Gehörs garantiert das Recht auf Stellungnahme nicht nur hinsichtlich der Tatsachenfragen, sondern auch im Hinblick auf die Rechtsfragen 38 eines Rechtsstreites. Nur auf diese Weise wird für jeden Prozeßbeteiligten seine Stellung als Verfahrenssubjekt vollständig gesichert39 • Außerdem stellen die Rechtsfragen ein besonders bedeutsames Element des Rechtsstreites dar, weil von den als anwendbar in Betracht kommenden Normen die Entscheidungs- bzw. Beweiserheblichkeit der Tatsachen abhängt40 • Hat eine Partei nicht die Möglichkeit, auch zu den Auslegungs- und Subsumtionsfragen Stellung zu nehmen, d.h. ihre Einflußmöglichkeiten zur Bildung des Prozeßergebnisses41 auszuschöpfen, dann läßt sich schwer ihre Bindung an dieses Ergebnis begründen. Der Grundsatzjura novit curia widerspricht dieser Ansicht nicht, weil die amtswegige Berücksichtigung und Prüfung von Rechtsnormen -wie auch die amtswegige Tatsachenermittlung - die Parteiäußerung dazu nicht ausschließt. Der Entscheidungsgegenstand und infolgedessen auch die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft dürfen nicht über die Rechtsnormen hinaus reichen, die tatsächlich Gegenstand der Prüfung des Gerichtshofes und der Stellungnahmen der Prozeßbeteiligten waren. 36 Baur, a.a.O., S. 408; Maunz, a.a.O., Rn. 29; More!, Traite, S. 465; Perrot, a.a.O., S. 293 ff; Normand, Communication de pieces, Anm. 19 ff; Debbasch, contentieux, S. 466; Civ. 18.10.63, D 1963, 749; Civ. 10.10.73, D 1973, inf.rap. 238. 37 Baur, a.a.O., S. 410; Maunz, a.a.O., Rn. 30. 38 Man muß aber nach deutschem Verfahrensrecht zwischen dem Recht der Parteien, ihre Rechtsauffassung vor Gericht darzulegen, und der Pflicht des Gerichts, sein Urteil nur auf Rechtsnormen zu stützen, die Gegenstand einer Parteistellungnahme waren, unterscheiden. Eine solche Pflicht existiert nach h.M. nicht. Vgl. Baumbach/Hartmann, vor § 128, Anm. 4 A; Eyermann/Fröhler, § 86, Rn. 30; W. Wolf, JR 1965, 90; Röhl, NJW 1966, 630; a.A. Redeker /von Oertzen, § 108, Rn. 7; Deubner, Festschrift für Schiedermair, S. 85. Nur nach§ 278, Abs. 3 ZPO darf das Gericht seine Entscheidung nicht auf rechtliche Gesichtspunkte stützen, die eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, wenn es vorher keine Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat. Sog. Verbot der Überraschungsentscheidung. Dazu statt vieler Rosenberg/Schwab, § 78, Anm. III, 1 d. In Frankreich dagegen der Richter "ne peut fonder sa decision sur !es moyens de droit qu'il a releves d'office sans avoir au prealable invite !es parties a presenter leurs observations": Art. 16 Abs. 3 ncpc. Dazu Benabent, D 1982, Chr., S. 55. Vgl. aber auch die Rechtsprechung des Conseil d' Etat (C.E. 12.10.79, Rec., S. 370; C.E. 21.10.81, Rec., S. 383), die zwischen moy~ns qui Je juge a Ia faculte de relever d' officeund moyens qui le juge est tenu de relever d' office unterscheidet. Le principe du contradictoire soll nur für die erste Kategorie von moyens gelten. Dazu Normand, R.D.C. 1980, 598; Raynaud, Melanges Hebraud, S. 715; Viatte, Gaz.Pal. 1980, Doct. 21. 3 9 Maunz, a.a.O., Rn. 33-35. 40 Maunz, a. a. 0., Rn. 33'- 35. 41 Vgl. auch Pawlowski, ZZP 80, 388, der von dem Beitrag aller Prözeßbeteiligten zur Bildung der den konkreten Fall regelnden Norm spricht.

III. Grundsätze aus dem Gebot eines fairen Verfahrens

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2. Öffentlichkeit

Durch die Öffentlichkeit des Verfahrens wird die Kontrolle der Jurisdiktion42 und die Legitimation der gerichtlichen Entscheidungen43 bewirkt. Auch die wahrheitsfördernde Funktion der Öffentlichkeit soll nicht außer Betracht bleiben, obwohl sie sich hauptsächlich nur mittelbar, d.h. durch die Kontrolle der Beachtung anderer verfahrensrechtlicher Garantien und durch die enge Verbindung zwischen Öffentlichkeit und Mündlichkeit44 , verwirklicht. Die Geltung des Öffentlichkeitsgrundsatzes (Art. 54§ 1 VerfO) betont nicht nur die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens vor dem EuGH, sondern trägt zur unabdingbaren demokratischen Legitimation jeder verbindlichen Entscheidung des Gerichtshofes bei. Wenn das Demokratieprinzip als das legitimierende Element jeder verbindlichen staatlichen Handlung angesehen wird, dann ist das Gebot der Öffentlichkeit als Ableitung des Demokratieprinzips, vor allem auch angesichts der mangelnden demokratischen Legitimation der gemeinschaftlichen Gesetzgebung, wirklich eine besonders wichtige Voraussetzung für die bindende und freiheitsbeschränkende Wirkung der Entscheidungen des Gerichtshofes, so daß diese nicht nur "via facti", sondern "consensu populi" 45 gelten. 3. Miindlicbkeit

Mit der Öffentlichkeit des Verfahrens ist dessen Mündlichkeit eng verknüpft 45 a. Ohne Mündlichkeit würde die Öffentlichkeit nur den Zugang zu Protokollen und Akten gewährleisten und einen großen Teil ihrer kontrollierenden und legitimierenden Bedeutung verlieren. Weiterhin ist die wahrheitsfördernde Funktion der Mündlichkeit besonders zu betonen. "Die lebendigen Vorgänge, die mit der mündlichen Verhandlung verbunden sein können, sind wahrheitsfördernder als tote Protokolle und Akten" 46 • Das Mündlichkeitsprin42 Stümer, a . a. 0., S. 659; Walter, Beweiswürdigung, S. 344- 346; Engelmann, Prozeßgrundsätze, S. 491 50; Blomeyer, § 22, Perrot, a. a. 0., S. 321; Engelmann, Prozeßgrundsätze, S. 491 50; a.A. Luhmann, Legitimation, S. 124. 43 Nach Luhmann, a. a. 0., S. 122fT. ist Voraussetzung der Legitimation von gerichtlichen Entscheidungen ihre allgemeine Anerkennung als verbindlich. Eine solche Anerkennung besteht aber nur, wenn Konsens entweder in großem Umfang tatsächlich existiert oder durch die Nichtäußerung von Dissens vermutet wird. Um die Konsensvermutung zu erreichen, sollen die Nichtbeteiligten am Verfahren teilnehmen. Für diese Teilnahme genauer mehr für die Zugänglichkeil und weniger für die aktuelle Präsenz - ist der Grundsatz der Öffentlichkeit unentbehrlich. 44 Kern/Wolf,§ 25, Anm. II; Stümer, a.a.O., S. 661; Perrot, a.a.O., S. 320.. 45 Siehe Luhmann, a. a. 0., S. 122 ff. über die legitimierende Funktion des Konsens und darüber hinaus auch der Öffentlichkeit. 45 • Vgl. auch Engelmann, a.a.O., S. 52. 4ö Walter, a.a.O., S. 331; More), Traite, S. 466. Im Hmblick auf die das Verfahren beschleunigende Wirkung der Mündlichkeif vgl. Baur, JZ 1969, 482; Vollkommer, ZZP 81, 102; Arens, Mündlichkeilsprinzip und Prozeßbeschleunigung im Zivilprozeß, 1971.

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§ 3 Untersuchung einzelner gemeineuropäischer Verfahrensgrundsätze

zip erlaubt einerseits wegen seiner wahrheitsfördernden Funktion die Erweiterung des Kreises der Personen, denen gegenüber das Urteil wirken kann, es verlangt aber andererseits für die Maximalisierung dieser wahrheitsfördernden Funktion die Beteiligung aller vom Prozeßergebnis Betroffenen in der mündlichen Verhandlung oder ihren wahrheitsfördernden Beitrag im Rahmen einer späteren nochmaligen mündlichen Erörterung der Sache. Die letztere Möglichkeit setzt aber die Beschränkung der Urteilswirkung iSd "ne bis in idem"Funktion nur auf die Prozeßbeteiligte voraus, die die Möglichkeit der mündlichen Äußerung schon hatten, damit die Nichtbeteiligten die wiederholte mündliche Erörterung der Sache noch erreichen können. 4. Unmittelbarkeit

Zu dem Kreis der wahrheitsfördernden Grundsätze gehört auch der Unmittelbarkeitsgrundsatz. Ein Grundsatz aus dem Bereich der Beweisaufnahme, der bedeutet, daß das entscheidende Gericht in möglichst unmittelbarer eigener Wahrnehmung von den tatnahen Beweismitteln Kenntnis erlangen soll 47 • Was das Verfahren vor dem EuGH betrifft, ist aber eine strikte Anwendung dieses Grundsatzes nicht vorgesehen. Der Gerichtshofhat immer die Möglichkeit, eine Kammer (Art. 44 § 2 VerfO) oder den Berichterstatter (Art. 45 § 3 VerfO) mit der Durchführung der Beweisaufnahme zu beauftragen; er kann sogar die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen den innerstaatlichen Gerichten überlassen (Art. 52 VerfO). Man kann indessen schwerlich behaupten, daß diese Regelungen mit dem Gebot eines fairen Verfahrens unvereinbar seien. Fairneß und Rechtsstaatsgedanke verbieten nicht die Übernahme fremder richterlicher Überzeugung48 • Nicht gestattet ist das eigene Glaubwürdigkeitsurteil über die Aussagen von Zeugen, weil dem nicht vernehmenden Richter der persönliche Eindruck fehlt 49 • Es wäre allerdings erfreulich, wenn die Praxis des Gerichtshofes im Hinblick auf die große Bedeutung der Urteilswirkungen im Vertragsverletzungsverfahren Unmittelbarkeit besonders zu pflegen versuchte. IV. Ergebnis der Untersuchung Zusammenfassend kann man feststellen, daß die geprüften Grundsätze keine zwingenden Linien für den objektiven und subjektiven Umfang von Urteilswirkungen ergeben. Der Dispositionsgrundsatz widerspricht jeder amtswegigen Erweiterung des Streitgegenstandes bzw. der objektiven Grenzen der materiel47 Walter, a.a.O., S. 334. Vgl. auch Musielak/Stadler, Beweisrecht, § 3, Anm. I 1; Thomas/Putzo, § 355, Anm. 1; Eyermann/Fröhler, § 96, Rn. 1; Redekerfvon Oertzen, § 96, Anm.1. 48 Stümer, a. a. 0., S. 665. Vgl. auch das französische Institut der commission rogatoire (Art. 730ff. n.c.p.c.). Dazu Vincent, procedure, Anm. 705-710; Couchez, Encyclopedie Dalloz, procedure civile, commission rogatoire. 49 Stümer, a.a.O., S. 665; Ule, § 29, Anm. II; BGH, NJW 1982, 108.

IV. Ergebnis der Untersuchung

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len Rechtskraft. Der Inquisitionsgrundsatz verlangt dagegen die Ermittlung jeder entscheidungserheblichen Tatsache, obwohl das zur Erweiterung des Streitgegenstandes führen kann 50 • Die Maximen, die die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens stützen und die Wahrheitstindung erleichtern, erlauben eine erweiterte Bindungswirkung. Das rechtliche Gehör aber, das einerseits zu diesen rechtsstaatlich geprägten Grundsätzen gehört, widerspricht andererseits der Erstreckung von Urteilswirkungen auf Personen, die am Verfahren nicht teilgenommen haben, wenn diese Erstreckung die Unzulässigkeit des späteren Antrags des Nichtbeteiligten ("ne bis in idem") zur Folge hat; ähnlich liegen die Dinge beim Mündlichkeitsgrundsatz. Funktion und Umfang der Urteilswirkungen können nicht durch die Verfahrensmaximen genau vorbestimmt werden. Trotzdem darf der Wert des Maximendenkens weder allgemein 51 noch speziell im Hinblick auf die Urteilswirkungen bezweifelt werden. Die wechselseitige Ergänzung und Beschränkung der Verfahrensmaximen legt die Möglichkeiten einer Verfahrensgestaltung offen 52 und erlaubt ihre erste Bewertung. Die Verfahrensmaximen ermöglichen die Betrachtung und Beurteilung von Normen und Rechtsinstituten nicht als Einzelerscheinungen, sondern als Teile eines Ganzen, so daß bei der Auslegung und Fortbildung des Verfahrensrechts System- und Wertungswidersprüche vermieden werden 53 • Sie bilden schließlich den Rahmen, in dem sich der Prozeß abspielt, so daß der Gleichklang seines Verlaufs und die Gleichbehandlung der Parteien durch den Gerichtshof gesichert werden 54 •

50 Wenn die Vertragswidrigkeit der gerügten Handlungen von der Vertragswidrigkeit anderer Handlungen abhängt - Fall der abgeleiteten Vertragswidrigkeit - ,die aber nicht als vertragswidrig gerügt worden sind. 51 Vgl. auch Stümer, ZZP 99, 292. 52 Vgl. auch Larenz, Methodenlehre, S. 460; Stürner, ZZP 99, 292; Canaris, Systemdenken, S. 55. 53 Vgl. auch Hagen, Allgemeine Verfahrenslehre, 1971, S. 52; Esser, Grundsatz und Norm, S. 218; Larenz, a.a.O., S. 429; Canaris, a.a.O., S. 98; Stümer, ZZP94, 286; Berget, Theorie generat du droit, 1985, S. 103. 54 Vgl. auch Baur, ZZP 66, 210; Esser, a.a.O., S. 303.

§ 4 Materielle Rechtskraft I. Begründung der materiellen Rechtskraft 1. Vergleichende Untersuchung

Die Frage nach der Begründung der materiellen Rechtskraft wird unterschiedlich beantwortet. Man kann die Theorien in drei Gruppen einteilen: die absoluten, die relativen und die intermediären.

a) Absolute Theorien Nach den absoluten Theorien wird die Begründung der materiellen Rechtskraft von Kategorien geprägt, die einen interpositiven oder abstrakt positiven Charakter haben. Das Institut der Rechtskraft wird trotz seiner positiven Regelung und seiner sozialen Funktion überwiegend als Ableitung dieser Kategorien verstanden; der Gesetzgeber, das System des positiven Rechts und dessen Teleologie, der Zweck und die Funktion der Rechtskraft im Rechtsleben spielen keine Rolle. Savigny 1 hat die materielle Rechtskraft als Fiktion der Wahrheit gekennzeichnet 1 • . In demselben Rahmen bewegen sich Konzeptionen, die in Frankreich entwickelt worden sind, und die von "presomption legale de verite 2 " oder "verite legale3 " sprechen.

b) Relative Theorien Nach den relativen Theorien hat die Rechtskraft einen rein positiven Charakter und bewegt sich im Rahmenjuristischer und sozialer Teleologie. Wie das gesamte positive Recht und der Prozeß überhaupt, so wird auch die Rechtskraft aus der Sicht ihrer "relativen" Funktion begründet und verstanden, d.h. es bleibt die abstrakt-ideelle Ebene außer Betracht zugunsten einer Berücksichtigung der positivrechtlichen und sozialen Wirkungen. Man zählt zu diesen Wirkungen das Ende des Streites und die damit verbundene Durchsetzung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit\ die Savigny, System, S. 261fT. M. Pagenstecher, Zur Lehre von der materiellen Rechtskraft, S. 305, meint dagegen: Ist das, was der Richter deklariert, aber nicht die Wahrheit, so wird wahr, was er deklariert 2 More!, Traite, S. 600. Vgl. aber Liebmann, ZZP 91, 451; Couture, RIDC 1954, 697. 3 Chapus, Contentieux administratif, S. 429; Reiser, Contentieux administratif, S. 160. 1

1"

I. Begründung der materiellen Rechtskraft

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Vermeidung einander widersprechender Urteile und infolgedessen die Erhaltung des Ansehens der Gerichte 5 ; den Schutz der subjektiven Rechte 6 und darüber hinaus auch den Schutz des objektiven Rechts 7 und die Rechtsfortbildung8: allgemein überprozessuale Wirkungen des Verfahrensergebnisses 9 • Zu den Zwecken der materiellen Rechtskraft gehören nach diesen Theorien weiterhin die Erhaltung der Früchte des schon von Parteien und Gerichten geleisteten prozessualen Mühens und die Entlastung der Gerichte 10 • Bei Verwaltungsprozessen ist zusätzlich die Einbindung der Verwaltung im Rahmen der Legalität und Rechtssicherheit 11 zu erwähnen. c) Intermediäre Theorien

Nach den intermediären Theorien bleiben wie bei den abstrakten Theorien Wahrheit, Korrektheit ("presomption d'exactitude") und Richtigkeit Hauptbegründung der Rechtskraft. Als vermittelnde Elemente spielen aber der Wille des Gesetzgebers ("cette presomption d'exactitude s'absorbe simplement dans Ia volonte du legislateur") 12 , die Funktion und die Garantien des ganzen Verfahrensrechts ("l'essentiel n'est donc pas dans l'objet de Ia verification ... mais dans !es formes de cette verification")13 eine bedeutende Rolle. Weder wird der hohe interpositive oder positive Abstraktionsgrad der absoluten Theorien gepflogen, noch bleiben die Funktion und die Rolle der materiellen Rechtskraft im täglichen juristischen Leben ausreichend berücksichtigt.

4 Binder, Prozeß, S. 332; SteinfJonas/Schumann / Leipqld, § 322, Anm. III 4; Brox, JuS 1962, 121; RosenbergfSchwab, § 152, Anm. I; Thomas f Putzo, § 322 Anm. 1; Zeiss, § 70, Anm. I; Katenbach, AÖR 1955, 405; Lange, JuS 1978, 2; Rupp, Festschrift für Kern, S. 403; Perrot, lnstitutions, S. 562; derselbe, Droit judiciaire, S. 666; Beys, Kommentar, § 321, Anm. II; Rammos, Lehrbuch, S. 549fT.; Kondylis, Rechtskraft, S. 32fT.; BVerfG, NJW 1982, 2425; BSG, JZ 1961, 505. Vgl. aber Gaul, AcP 1968, 59; Stümer, DRiZ 1976, 203. 5 Rosenbergf Schwab, § 152, Anm. I; ThomasfPutzo, § 322, Anm. 1; Brox, Festschrift für Geiger, S. 814ff.; Kadenbach, AöR 1955, 405; Rammos, Lehrbuch, S. 549fT.; Kondylis, Rechtskraft, S. 32fT.; a.A. Stein/ Jonas/Schumann / Leipold, § 322, Anm. III 4. 6 Kondylis, Rechtskraft, S. 32ff.; Stein/ Jonas/Schumann / Leipold, § 322, Anm. III 4. Vgl. auch Koussoulis, Natur der Rechtskraft, S. 56, der die materielle Rechtskraft aus dem Anspruch der Parteien auf effektiven Rechtsschutz ableitet. 7 Vgl. Stürner, DRiZ 1976, 203. 8 SteinfJonas/Schumann/Leipold, § 322, Anm. III 4; BGHZ 36, 365 (367). 9 Wieczorek, § 322, Anm. A I. 10 Rammos, Lehrbuch, S. 549 ff. 11 Dagtoglou, S. 122. 12 Encyclopedie Dalloz, procedure civile, chose jugee, Anm. 4. 13 Hebraud, D 1946, 333; ähnlich Encyclopedie Dalloz, contentieux administratif, chose jugee, Anm. 3.

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§ 4 Materielle Rechtskraft

2. Vertragsverletzungsverfahren

Für die Urteile des Europäischen Gerichtshofs sind die relativen Theorien vorzuziehen; dies obwohl die Väter der Verträge und die Rechtssetzungsorgane sich um gerechte und richtige Lösungen bemüht haben und weiter bemühen und obwohl die hohe wissenschaftliche Qualität und juristische Fähigkeit der Richter (vgl. Art. 167 EWGV) und die Garantien der VerfO und Satzung des EuGH ein faires Verfahren versprechen. Das politische und wirtschaftliche Leben der Gemeinschaft ist so außergewöhnlich kompliziert, daß nur sehr selten die ebenso komplizierten Regeln - insbesondere des sekundären Gemeinschaftsrechts - einen allgemeingültigen Wahrspruch zulassen, der nicht bezweifelt werden kann und den Platz der "verite legale" für sich zu beanspruchen im Stande ist. Das an Garantien reiche, faire Verfahren kann nicht allein die materielle Rechtskraft begründen. Es kann nur erklären, warum der Rechtsfriede Vorrang gegenüber der materiellen Richtigkeit hat 14 . Die Rechtskraft ist aus ihrer positivrechtlichen Funktion zu begründen. Die Wahrung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit sind von besonderer Bedeutung15, weil die Vertragsverletzung und das Vertragsverletzungsverfahren negative Folgen für die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten mit den Organen der Gemeinschaft (Art. 6 EWGV) und allgemein für die Erfüllung der Pflichten der Mitgliedstaaten (Art. 5 EWGV) haben können. Der Meinung, die hier den Vorrang des Rechtsfriedens gegenüber der Richtigkeit der konkreten Entscheidung leugnet, weil Richtigkeit nicht nur durch das Interesse von Individuen, sondern auch durch das Interesse der gesamten Gemeinschaft gefordert sei 16 , ist entgegenzuhalten, daß die Betroffenheit der Gemeinschaft nicht ohne weiteres einen Vorrang des Richtigkeitsgebots rechtfertigt 17 . Das Gemeinschaftsrecht ist in vielen Fällen unmittelbar anwendbar und auf diese Weise begründet und schützt es Rechte auch von Individuen, so daß ein Vorrang des Richtigkeilsgebots wegen Betroffenheit gemeinschaftlicher Interessen abzulehnen ist. Außerdem müßte man bei wachsendem Gewicht des Richtigkeilsgebots auch wachsende Bedeutung der Rechtsfriedensfunktion annehmen, weil sie gleichermaßen gemeinschaftlichen Interessen dient. Die aus der Rechtsfriedensfunktion der Rechtskraft folgende Entlastung des EuGH hat erhebliche Folgen für die Verbesserung der Qualitäts- und Richtigkeitschancen seiner Urteile. Aufgrund der materiellen Rechtskraft wird außerdem die Durchsetzung des Urteils des Gerichtshofes erheblich erleichtert, nicht nur weil der vertragswidrig handelnde Mitgliedstaat sich nur in Befolgung des Urteils dem Vorwurf der Vertragsverletzung entziehen kann 18 , sondern auch 14 Rarnrnos, Lehrbuch, S. 549fT. 15 Andre, EuR 1967, 100. 16 Vgl. Kriele, Rechtsgewinnung, S. 296. 17 18

Vgl. auch Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 18fT. Gutsche, Bindungswirkung, S. 54.

II. Voraussetzung der materiellen Rechtskraft

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weil die Erfolgschancen der gegen das vertragswidrige Verhalten gerichteten Rechtsbehelfe wegen der positiven Funktion der materiellen Rechtskraft steigen. Rechtsfrieden, Rechtssicherheit und effektiver Rechtsschutz sind wesentliche Elemente des Rechtsstaatsprinzips 19 und damit eines fundamentalen Grundsatzes der europäischen Rechtsordnung. Die relative Theorie verkürzt also die Bedeutung der Rechtskraft nicht auf rein formale Kategorien. II. Voraussetzung der materiellen RechtskraftRechtskraftf"ähige Entscheidungen 1. Vergleichende Untersuchung

Eine gerichtliche Entscheidung muß folgende Voraussetzungen erfüllen, damit sie in Rechtskraft erwächst: a) Die Entscheidung soll einen rechtskraftfähigen Inhalt haben: einen Inhalt, der über den bestimmten Prozeß hinaus Wirkung entfaltet 1 , also eine Aussage über den Streitgegenstand 2 bzw. die beanspruchte Rechtsfolge 3 • b) Die Entscheidung soll endgültig4 und vorbehaltlos 5 sein. Charakter und Folgen des Urteils (ob es Feststellungs-, Leistungs- oder Gestaltungsurteil ist 6 ) wie auch der Grad seiner materiellen Richtigkeit 7 spielen für die Rechtskraftfähigkeit keine Rolle. So werden alle Endurteile ("jugements definitifs" 8 ) und alle Teilurteile rechtskräftig, ebenso Prozeßurteile9 ; die letzteren aber unter der 19 Vgl. auch Lange, JuS 1978, 2; Rupp, Festschrift für Kern, S. 406fT.; Maunz in Maunz/Ulsamer, BVerfGG, § 31, Rn. 8; BVerwGE 14, 359 (363). 1 Wenn man die Rechtsschöpfungstheorie von Bülow, Gesetz und Richteramt, S. 266fT., die gültige Vorschrift werde erst durch das Urteil geschaffen, außer acht läßt. 2 Kohler, Festgabe für F. Klein, S. 1 ff; Pagenstecher, Zur Lehre von der materiellen Rechtskraft, 1905; Neuner, ZZP 54, 217fT.. 3 ThomasjPutzo, § 322, Anm. 2. 4 SteinjJonasfSchumann/ Leipold, § 322, Anm. V; Rosenberg / Schwab, § 153, Anm. Ill; Baumbach/Hartmann, § 322, Anm. 1 AI; Blomeyer, § 88, Anm. IV 3; Grunsky, Grundlagen,§ 47, Anm. II 2; Thomasf Putzo, § 322, Anm. 2; Eyermann/ Fröhler, § 191, Rn. 5; Brox, Festschrift für Geiger, S. 816ff.; Rammos, Lehrbuch, S. 555; Kondylis, Rechtskraft, S. 87. 5 Vgl. aber auch Glasson/Tissier / Morel, Anm. 706; Vizioz, RIDC 1947, 82. 6 Tomasin, Essai, S. 103fT.; Beys, Kommentar,§ 321, Anm. Ill 5; Rammos, Lehrbuch, S. 558; Areopag, 274/70, NOB IH, S. 104. 7 Tomasin, Essai, S. 103fT.; Beys, Kommentar,§ 321, Anm. III 6; Rammos, Lehrbuch, s. 558. 8 Encyclopedie Dalloz, procl:dure civile, chose jugee, Anm. 44; Civ. 8 juillet 1981, D 1981, 349. 9 Stein j Jonas j Schumann/ Leipold, § 322, Anm. V; Baumbach/Hartmannn, § 322, Anm. 1 AI; Grunsky, Grundlagen,§ 47, Anm. II 1; Zöller j Vollkommer, § 322, Anm. I 1; Ule, §59, Anm. I 1; Tomasin, Essai, S. 103ff.; Beys, Kommentar,§ 321, Anm. Ill 5; Rammos, Lehrbuch, S. 559. Im Rahmen des Verwaltungsprozeßrechts existiert aber in

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§ 4 Materielle Rechtskraft

Voraussetzung, daß die materiellen Fragen unberührt von ihrer "Prozeßrechtskraft" bleiben 10 • Zwischenurteile ("jugements avant dire droit") erwachsen nicht in Rechtskraft 11 • c) Über die Frage, ob die formelle Rechtskraft (Unanfechtbarkeit, "force de chose jugee") Voraussetzung der materiellen Rechtskraft ist, gehen die Meinungen auseinander. In der Bundesrepublik Deutschland und in Griechenland ist die Unanfechtbarkeit Voraussetzung 12 der materiellen Rechtskraft, in Frankreich dagegen nicht 13 • d) In Frankreich ist außerdem nur ein streitiges Urteil der materiellen Rechtskraft fähig, so daß Urteile, die einen Vergleich der Parteien bestätigen ("contrats judiciaires"), und Verzichts-, oder Anerkenntnisurteile (,jugements donner acte") nicht in Rechtskraft erwachsen 14 • e) Es bleibt das Problem der Rechtskraftfähigkeit verfassungsgerichtlicher Entscheidungen zu erörtern. Der Meinungsstreit darüber ist für die materielle Rechtskraft der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs relevant, weil im Vertragsverletzungsverfahren der Gerichtshof als Verfassungsgericht fungiert. Es ist die Meinung vertreten worden, daß bei Verfassungsgerichtsentscheidungen die Wahrung der Einheit des durch viele Organe handelnden Staates eine besondere Bindung aller Staatsorgane verlange, die mit der materiellen Rechtskraft nicht identisch sein könne 15 • Nach anderer Ansicht führt die Rechtskraft verfassungsgerichtlicher Urteile zu einer Erstarrung des Verfassungsrechts und ist daher zu verneinen 16 • Auch für das Verfahren der Normenkontrolle (der Griechenland eine Ausnahme für Prozeßurteile, die aufgrundvon Anfechtungsklagen und einiger Kategorien von Verpflichtungsklagen erlassen worden sind. Dazu Dagtoglou, S.135. 10 Grunsky, Grundlagen,§ 47, Anm. li 1; Areopag 480/69, AN KA, 241. 11 So die Regel. Vgl. Stein/Jonas/Schumann/Leipold, § 322, Anm. V; Baumbach/Hartmann, § 322, Anm. 1 B I; Grunsky, Grundlagen, § 47, Anm. II 1; Ule, §59, Anm. I 1; Kopp,§ 121, Rn. 17; Perrot, Droitjudiciaire, S. 634/635; Civ.13 dec. 1983, D 1984, 60; Encyclopedie Dalloz, procedure civile, chose jugee, Anm. 57- 6o; Lacoste, De Ia chose jugee, S. 14ff.; In der BRD wird aber angenommen, daß Zwischenurteile gegenüber Dritten in materieller Rechtskraft erwachsen. Statt vieler Blomeyer, § 88 Anm. IV 3. 12 Vgl. Art. 321 griech. ZPO; auch Stein/Jonas/Schumann/Leipold, § 322, Anm. V; Baumbach/Hartmann, Einf. vor §§ 322-327, Anm. 1 A; Grunsky, Grundlagen, § 47, Anm. li 1; Ule, §59, Anm. I 1; Mitsopoulos, ZZP 91, 126; Rammos, Lehrbuch, S. 555, Kondylis, Rechtskraft, S. 96; OLG Athen, 10581/79, EEN 1980, 1020. 13 Encyclopedie Dalloz, procedure civile, chose jugee, Anm. 47; Perrot, Droitjudiciaire, S. 667, Civ. 17 juin 1922, D 1925, 214; 31 dec. 1935, D 1936, 117. 14 Perrot, Droitjudiciaire, S. 626, 628 I 629; Tomasin, Essai, S. 103 ff.; Civ. 13 dk 1983, D 1984, 60. 15 Geiger, NJW 1954, 1058. 16 ·Kriele, Rechtsgewinnung, S. 296fT.

II. Voraussetzung der materiellen Rechtskraft

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EuGH kann auch Gesetze prüfen) ist die Rechtskraft verneint worden, weil in diesen Fällen keine Subsumtion eines bestimmten Sachverhalts unter eine Norm stattfinde 17 • Weiterhin werde die "inter partes" wirkende Rechtskraft von der Gesetzeskraft, die "erga omnes" wirkt, überwölbt und verliere jede Bedeutung und jeden Existenzgrund im Verfahren der Normenkontrolle. Diesen Argumenten kann man nicht uneingeschränkt folgen. Wenn der besondere Charakter eines obersten Gerichts eine spezielle Bindung verlangt, so folgt daraus nicht, daß die materielle Rechtskraft ihre Existenzberechtigung verliert. Ein oberstes Gericht (auch der EuGH) bleibt immer Gericht, und materielle Rechtskraft ist unabdingbarer Bestandteil der Funktion jedes Gerichtes, damit das Urteil Rechtsfrieden, Rechtssicherheit und effektiven Rechtsschutz ermöglicht 18 • Materielle Rechtskraft und Bindung "sui generis" haben nicht denselben Existenzgrund 19 ; denn die spezielle verfassungsgerichtliche Bindung ersetzt die Funktion der Rechtskraft (positive, negative Funktion) nicht. Eine Erstarrung des Rechts kann sehr leicht vermieden werden, wenn die Rechtskraft sich auf den Tenor beschränkt20 und der Entscheidungsgegenstand genügend konkret und damit beschränkt bleibt 21 • Auch in Normenkontrollfällen wird eine Subsumtion vorgenommen; zwar nicht eines Sachverhaltes, wohl aber eines Gesetzes unter eine höherrangige Norm. Sie istjuristisch und logisch möglich 22 • Die Gesetzeskraft unterscheidet sich in Begründung und Funktion von der Rechtskraft; sie ist kein echtes prozessuales Institut. 2. Vertragsverletzungsverfahren

Speziell zur Rechtskraftfähigkeit der Urteile des EuGH und ihren Voraussetzungen bleibt hiernach zu bemerken: a) Voraussetzung der materiellen Rechtskraft ist eine Entscheidung, die über den bestimmten Prozeß hinaus negativ und positiv wirken und Rechtssicherheit BayVerfGHE 5, 166 (183); 25, 45 (48); Fragistas, EEN 1957, 295. Siehe § 4 I 2. 19 Siehe§ 7 Il1b) cc). 20 Sachs, Die Bindung des BVerfG, S.18ff. 21 Vogel, BVerfG und GG, S. 589fT. 22 Vgl. Brox, Festschrift für Geiger, S. 816. Die Rechtskraftfähigkeit verfassungsgerichtlicher Entscheidungen wird weiterhin von Kadenbach, AöR 1955, 405; Klein, NJW 1977, 697; Lange, JuS 1978, 2; Schlaich, S. 201; Stern, Staatsrecht, S. 1036; Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkung, S. 35; Luchaire, La Constitution, Art. 62, Al. 2, S. 763; Eisenmann/Hamon, S. 282; Favoreu, RDP 1975, 108; Franck, 123ff., der als Merkmale einer rechtsfahigen Entscheidung die "contestation", die "constatationdecision" und den "caracterejuridictionnel" nennt; Waline, RDP 1960, 1013, BVerfGE 4, 31 (38); 5, 34 (37); 10, 56 (86); 33, 199 (203); CC, 16 janvier 1962, Les grandes decisions du CC, S. 164 angenommen. Die Rechtskraftfahigkeit der Urteile des EuGH wird von Andre, EuR 1967, 97ff.; Matthies, Festschrift für Hallstein, S. 304ff.; Plouvier, Decisions, S. 43; Waelbroeck/Vandersanden, Art. 188, Anm. 87 bejaht. 17 18

4 Tsikrikas

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§ 4 Materielle Rechtskraft

in den Beziehungen der Mitgliedstaaten zueinander und zu der Gemeinschaft bewirken kann (inhaltliche Voraussetzung). Deshalb werden auch Teilurteile23 rechtskräftig, soweit sie teilweise den Prozeß zu Ende führen. b) Die Entscheidungen des EuGH sollen außerdem endgültig sein. Das Leben der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten in seiner wirtschaftlichen, sozialen und juristischen Komplexität verlangt Lösungen, die nicht "in suspenso" bestehen, sondern den Rechtsstreit endgültig erledigen. c) Auch Prozeßurteile des EuGH können in Rechtskraft erwachsen 24, weil auch diese Urteile von Bedeutung für die Verwirklichung der Rechtssicherheit sind, außerdem prozeßpädagogisch zum richtigen verfahrensgemäßen Verhalten anhalten und infolgedessen auch zu einem entsprechenden Ethos der Staaten und der Gemeinschaftsorgane führen können. Von besonderer Bedeutung ist die Rechtskraftfähigkeit bei Kompetenzfragen (z.B. ob der EuGH wegen Verletzung eines von der Gemeinschaft mit Drittstaaten geschlossenen Abkommens oder eines zwischen den Mitgliedstaaten geschlossenen Abkommens zuständig ist). Die Antwort des EuGH, die die Grenzen zwischen der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit und der nationalen Gerichtsbarkeit bestimmt, bindet die innerstaatlichen Gerichte für die weitere Fallbehandlung. d) Ist die formelle Rechtskraft von EuGH-Entscheidungen Voraussetzung für materielle Rechtskraft? Art. 65 VerfO des Europäischen Gerichtshofs bestimmt, daß die Urteile des EuGH mit dem Tage der Verkündung rechtskräftig werden, ohne zwischen materieller und formeller Rechtskraft zu unterscheiden. Verschieben die Rechtsbehelfe, die das EWG-Recht vorsieht (Einspruch, Art. 38 Satzung; Wiederaufnahmeklage, Art. 41 Satzung; Drittwiderspruchsklage, Art. 39 Satzung), den Eintrittszeitpunkt der formellen Rechtskraft, so daß materielle Rechtskraft unabhängig (nicht nur zeitlich) von formeller Rechtskraft anzunehmen wäre? Der Ausnahmecharakter der Wiederaufnahme und Drittwiderspruchsklage - sie werden sogar in der Verfahrensordnung als außerordentlich bezeichnet - spricht für die Abhängigkeit der materiellen Rechtskraft von der formellen 25 . Beim Einspruch ist anzunehmen, daß er den Eintritt der formellen Rechtskraft hindert. Die Wiederbelebung des Rechtsstreites aufgrund eines zulässigen Einspruchs als ordentlicher Rechtsbehelf ist mit grundsätzlicher Unanfechtbarkeit als Essentiale formeller Rechtskraft unvereinbar26. Da die formelle Rechtskraft die Festigkeit des Urteils sichert, die für die Entfaltung der Urteilswirkung der materiellen Rechtskraft unabdingbar ist, muß man ein Voraussetzungsverhältnis zwischen beiden Instituten annehmen. Vgl. Rs 45 ! 64, Slg XI, 1140. V gl. auch Art. 164 EWG V: "Der Gerichtshof sichert die Wahrung des Rechts ..." . Zu dem Recht, das durch den Gerichtshof gesichert werden soll, gehört auch das Verfahrensrecht. 25 Vgl. auch Bleckmann, Europarecht, S. 191; Gutsche, Bindungswirkung, S. 30. 26 Siehe auch § 5, II, 1. 23

24

III. Wesen der Rechtskraft (Rechtskrafttheorien)

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Die Einspruchsmöglichkeit hindert also auch - entgegen dem Wortlaut des Art. 65 VerfO- den Eintritt der materiellen Rechtskraft. Art. 65 VerfO findet darüber hinaus keine Anwendung auf Versäumnisurteile sowohl hinsichtlich ihrer materiellen als auch ihrer formellen Rechtskraft. e) Auch die Verzichts- und Anerkenntnisurteile erwachsen in Rechtskraft 27 • Für die Verzichtsurteile ergibt sich dies aus dem Interesse des verklagten Staates, daß seine Maßnahmen, die vitale Belange des staatlichen Lebens betreffen können, unberührt von neuen Klagen bleiben sollen. Für die Rechtskraft von Anerkenntnisurteilen spricht folgender Gedanke: Der Staat, der seine Vertragsverletzung anerkannt hat, soll das Urteil auch befolgen. Das rechtskräftige Urteil kann aber im Rahmen anderer Rechtsbehelfe und Schadensersatzklagen für den Fall seiner Nichtbefolgung präjudiziell sein und so die Erfolgschancen der gegen die vertragswidrigen Maßnahmen eingelegten Rechtsbehelfe vermehren, so daß die materielle Rechtskraft die Durchsetzung des Urteils des Gerichtshofes erleichtert. III. Wesen der Rechtskraft (Rechtskrafttheorien) 1. Vergleichende Untersuchung

Über das Wesen und den Charakter der Rechtskraft sind hauptsächlich 1 zwei Theorien entwickelt worden: die prozeßrechtliche und die materiellrechtliche Theorie. Es gibt aber auch Theorien, die einen intermediären Charakter haben und Elemente der beiden Haupttheorien zu kombinieren versuchen. a) Materiellrechtliche und prozeßrechtliche Theorie

Nach der materiellrechtlichen Theorie existiert keine Diskrepanz zwischen dem Urteilsinhalt und dem festgestellten Rechtsverhältnis. Das falsche Urteil begründet oder vernichtet den materiellen Anspruch, das richtige ist ein zusätzlicher Begründungs- oder Vernichtungstatbestand für ihn 2 • Teilweise wird auch vertreten, die materielle Rechtskraft stelle eine unwiderlegbare Vermutung aufl daß das festgestellte Rechtsverhältnis wirklich existiert3 • Nach der herr27 Wenn die Möglichkeit des Erlasses solcherUrteile überhaupt angenommen wird. Im Vertragsverletzungsverfahren ist der Dispositionsgrundsatz erheblich beschränkt (s. auch § 3 I 1), so daß einige Zweifel an der Zulässigkeit eines Klageverzichts oder Klageanerkenntnisses auftauchen könnten. 1 SteinjJonasjSchumann/Leipold, § 322, Anm. V; Blomeyer, § 88, Anm. V 3; RosenbergjSchwab, § 153, Anm. I, S. 931. 2 Grunsky, Grundlagen, § 47, Anm. II 1; Ule, §59, Anm. I 1; Perrot, Droitjudiciaire, s. 634/635. 3 Pohle, Gedächtnisschrift für Calamandrei, S. 379ff.; Blomeyer, JR 1968, 407 ff,; Kondylis, Rechtskraft, S. 127 ff.

4•

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§ 4 Materielle Rechtskraft

sehenden prozeßrechtlichen Theorie bewirkt dagegen das Urteil keine Änderung der materiellen Rechtslage, sondern nur unter bestimmten Voraussetzungen eine Bindung der Gerichte in künftigen Prozessen4 • Gegen die materiellrechtliche Theorie wird eingewandt, daß sie durch die weiten Rechtsschöpfungsmöglichkeiten des Richters, die sie begründet, das Gewaltenteilungsprinzip verletze 5 ; daß Zweck des Prozesses die Feststellung und nicht die Begründung von Ansprüchen sei und daß die Rechtsordnung die materielle Rechtskraft nicht als rechtsschöpferischen Tatbestand geschaffen habe 6 . Ferner sei eine solche Theorie nicht mit der "inter partes"-Wirkung der Rechtskraft vereinbar 7 und außerdem müßte auf dem Boden der materiellrechtlichen Theorie die materielle Rechtskraft nicht nur die Rechtsfolge decken, sondern auch die Tatsachen des Tatbestandes, von denen der Eintritt der Rechtsfolge abhängt 8 • Weiter wird der materiellrechtlichen Rechtskrafttheorie entgegengehalten, die absoluten Rechte könnten u. U. nicht mehr mit demselben Inhalt "erga omnes" wirken 9 , wenn sie enmal Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung waren, und die Rechtsnormen hätten vor Gericht anderen Inhalt 4 Hellwig, Rechtskraft, S. 7 fT (14); Bötticher, Kritische Beiträge, S. 97; Baumbach/Hartmann, Einf. vor §§ 322-327, Anm. 2 A b; Brox, JuS 1962, 121 ff; Jauemig, ZPR, S. 216ff.; Rosenberg j Schwab, § 152, Anm. III 1; ZöllerjVollkommer, Vor§ 322, Anm. III 3; Thomas/Putzo, § 322, Anm. 3; Eyennann/Fröhler, § 121 , Rn. 4; Kopp,§ 121, Rn. 2; Redeker jvon Oertzen, § 121, Rn. 4; Ule, §59, Anm. I 1; Teufel, S. 46; Kadenbach, AöR 1955, 405; Klein, NJW 1977, 697; Lange, JuS 1978, 2; Pestalozza, S. 168; Riem, Der Staat 13, 337; Vogel, BVerfG und GG, S. 584; Maunz in Maunz/ Ulsamer, BVerfGG, § 31, Rn. 8; Michelakis, Festschrift für Schima, S. 310/311; Rammos, Lehrbuch, S. 551 ff.; Sinaniotis, ZPO, § 32, Anm. II 1; BGHZ 34, 337 (339),; 36, 365{367); 45, 329 (331); BGH, NJW 1979, 1048; BGH, JZ 1983, 394 (395); BAG, DB 1976, 151; BVerwGE 14,.359 (363); OLG Patras 40of76, EEN 1976, 271. In Frankreich ist, obwohl dort kein großer Meinungsstreit mit genauer Analyse existiert, die prozessuale Theorie herrschend. Kategorisch für diese Theorie More!, Traite, S. 599: "il (Je jugement) n'attribute pas des droits nouveaux... Je jugement n'emporte pas novation"; Vincent f Guinchard, procedure civile, S. 116. Ebenso, zwar nicht ausdrücklich, aber schlüssig durch die Bezeichnung der Funktionen, die mit dem Wesen der Rechtskraft verknüpft sind, besonders der neg. Funktion ("ne bis in idem"): Lacoste, S. 303; Martin, La sem. jur. 1979, 2938; Encyclopedie Dalloz, procedure civile, chose jugee, Anm. 192; Perrot, Droitjudiciaire, S. 666; Tomasin, Essai, S. 219; Civ. 31 mai 1976, Gaz. Pa!. 1976, 778; CE 21 janvier 1955, 3 mai 1963, Recueil de Conseil d'Etat. 5 Rosenbergf Schwab, § 152, Anm.III 1. 6 Baumbach / Hartmann, Einf. vor§§ 322-327, Anm. 2 B; Jauemig, ZPR, S. 216fT.; Rosenberg/Schwab, § 152, Anm. III 1.; Michelakis, Festschrift für Schima, S.303ff.; Beys, Einführung, S. 274fT.; Rammos, Lehrbuch, S. 551ff.; Sinaniotis, ZPO, § 321, Anm. II 1; a.A. Kondylis, Rechtskraft, 127fT., der eine solche Funktion der Rechtskraft annimmt. 7 Baumbach j Hartmann, Einf. vor§§ 322-327, Anm. 2 B; Rosenberg/Schwab, § 152, Anm. 1111; Zeiss, § 70, Anm. I 2; Rammos, Lehrbuch, 551 ff.; a.A. Kondylis, Rechtskraft, s. 141. 8 Michelakis, Festschrift für Schima, S. 310. 9 Beys, Einführung, S. 275; Rammos, Lehrbuch, S. 552.

III. Wesen der Rechtskraft (Rechtskrafttheorien)

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als im außergerichtlichen Bereich 10 • Endlich werde die Teilung zwischen Feststellungs-,_Leistungs- und Gestaltungsurteilen aufgehoben 11 , und es werde Unrecht zu Recht gemacht 12 • Gegen die prozeßrechtliche Theorie wird vorgebracht, daß sie zwei Rechtsordnungen begründe, die gerichtliche, in der die vom Gericht festgestellten Rechte auch mit dem von ihm festgestellten Inhalt gelten, und die außergerichtliche, in der dieselben Rechte mit davon abweichendem Inhalt gelten 13 • Auch eine fälschlicherweise festgestellte Forderung könne wirksam abgetreten werden, der materiellen Rechtskraft könne also eine gestaltende Wirkung nicht abgesprochen werden 14 • b) Intermediäre Theorien

Die intermediären Theorien stehen auf dem Standpunkt, daß die materielle Rechtskraft prozessuale und materielle Wirkung habe. Die materielle sei die bindende Feststellung der konkreten Rechtsfolge und die prozessuale die "ne bis in idem"-Wirkung. Wenn der Streitgegenstand des zweiten Prozesses und der Entscheidungsgegenstand des ersten unterschiedlich seien, dann habe die erste Wirkung den Vorrang, ansonsten die zweite 15• 16 . Es wird auch vertreten 17, das Urteil enthalte sowohl feststellende als auch gestaltende Elemente. Letztere bestünden nicht nur in der Bestimmung und Konkretisierung des Ereignisses, das unter die anzuwendende Rechtsnorm subsumiert werden soll, sondern auch in der rechtlichen Qualifikation dieses Ereignisses. Interessant erscheint schließlich die im Bereich des Verfassungsprozeßrechtes vertretene Meinung, die von einer "Art von Gestaltung" 18 spricht: das Urteil, das eineNorm für verfassungswidrig erklärt, bewirkt ihre absolute Unanwendbarkeit. Michelakis, Festschrift für Schima, S. 309. Sinaniotis, ZPO, § 321, Anm. II 1; Rammos, Lehrbuch, S. 552. 12 Goldschinidt, Prozeß, S. 211 ; BaumbachfHartmann, Einf. vor§§ 322-327, Anm. 2 B; Kondylis, Rechtskraft, S. 134. 13 Pohle, Gedächtnisschrift für Calamandrei, S. 394; Henckel, Prozeßrecht, S. 24; Beys, Einführung, S. 275; a.A. Michelakis, Festschrift für Schima, S. 312. 14 Neuner, ZZP 54, 245ff.; Beys, Einführung, S. 275; derselbe, Gerichtliche Entscheidung, S. 90; Kondylis, Rechtskraft, S. 135. 15 SteinjJonasfSchumannfLeipold, § 322, Anm. III 5 c. 16 Zu fragen ist noch, ob sich die materielle Rechtskraft auf den öffentlichrechtlichen Anspruch der Parteien auf Justizgewährung gestaltend auswirkt. In diese Richtung Beys, Kommentar, S. 1297ff.; Einführung, S. 276. Er nimmt weiterhin an, aufgrund dieser gestaltenden Wirkung im öffentlichrechtlichen Bereich- die Ausübung des Justizgewährungsanspruchs durch eine neue Klage könne nicht mehr zu einem abweichenden und der tatsächlichen Rechtslage entsprechenden Sachurteil führen- gebe es das Phänomen der unterschiedlichen Geltung der privatrechtliehen Rechtsverhältnisse zwischen den Parteien (gerichtliche und außergerichtliche Geltung der privatrechtliehen Rechtsverhältnisse). 17 Mitsopoulos, ZZP 91, 125. 18 Brox, Festschrift für Geiger, S. 819. 10 11

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§ 4 Materielle Rechtskraft

2. Vertragsverletzungsverfahren

Im Kompetenzbereich des EuGH schlie~t das Prinzip der beschränkten Einzelkompetenz (die Organe der Gemeinschaft haben nur die Kompetenzen, die ihnen das EG-Recht verleiht) jede von den Verträgen nicht geregelte Rechtssetzungsbefugnis aus. Außerdem würde eine weitgehende und in ihren Konturen schwer vorhersehbare Rechtssetzungskompetenz des EuGH das Gleichgewicht zwischen den Organen der Gemeinschaft stören. Obwohl das klassische Gewaltenteilungsprinzip innerhalb der gemeinschaftlichen Rechtsordnung keine gewichtige Rolle spielt 19 , steht es als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts einer ungeregelten rechtsschöpferischen Tätigkeit des EuGH entgegen. Daher erscheint eine echte materiellrechtliche Theorie unpassend. Andererseits kann man aber einem Vertragsverletzungsurteil nicht jede gestaltende Wirkung absprechen. Art. 171 EWGV bestimmt, daß nach Feststellung einer Vertragsverletzung der verletzende Staat die Maßnahmen, die sich aus dem Urteil ergeben, zu ergreifen verpflichtet ist. Der Gerichtshof darf diese Maßnahmen nicht vorschreiben, der Verstoß soll aber so klar bezeichnet sein, daß die Maßnahmen unmißverständlich erkennbar werden 20 • Diese Kennzeichnung kann entweder im Tenor oder in den Gründen geschehen 21 • Das Urteil mit diesem bestimmten Inhalt wird Tatbestandsmerkmal des Art. 171, einer Vorschrift, die eine Pflicht des vefletzenden Staates begründet- also Tatbestandsmerkmal einer Verhaltensnorm 22 • Auf diese Weise kann das Urteil gestaltend wirken 23 • Diese Wirkung ist keine Nebenwirkung 24, weil sie Charakter und Inhalt des Urteils prägt. Sie weist auf eine rechtsschöpferische Funktion des EuGH hin, die im Vertrag geregelt ist und daher das Prinzip der beschränkten Einzelkompetenz nicht verletzt. Art. 171 begründet eine sehr abstrakte Verpflichtung. Erst das Urteil führt in jedem Einzelfall durch die Präzisierung des Verstoßes und aller Umstände, die ihn betreffen, zur Konkretisierung der jeweiligen Pflicht25 , deren Erfüllung nachprüfbar ist. Das Urteil wirkt auf 19 Eine strenge Gewaltenteilung ist nicht normiert. Vgl. dazu Petzold, Gewaltenteilung, S. 235; FuB, NJW 1964, 329; Hamier in Groeben I Ehlermann, Vorb. zu den Art. 137-189, Rn. 6; Zuleeg in Groeben I Ehlermann, Art. 1, Rn. 49. Stattdessen besteht das Prinzip der beschränkten Kompetenz der Gemeinschaftsorgane (principe d'attribution des competences); vgl. auch Antoniou, S. 174. 20 Vgl. Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 888, Rasquin, S. 33; Cahier, CDE 1967, 123 ff.; Pescatore, Foro Padano 1972, 9fT., derselbe, Le droit de l'integration, S. 95,; Gutsche, Die Bindungswirkung, S. 38 139. 21 Bandell, S. 86. 22 Vgl. auch Blomeyer, § 88, Anm. III. 23 Vgl. auch Koussoulis, Natur der Rechtskraft, S. 116 ff., hinsichtlich des Zivilprozesses. 24 Vgl. aber Beys für einige parallelen Fälle des griechischen Rechts, Kommentar, S. 1297ff. Von Interesse ist auch die Theorie Koussoulis, a. a. 0., S. 126fT., von der Individualisierung der Rechtsnorm durch das rechtskräftige Urteil. 25 Allerdings für diese Konkretisierung ist die Hilfe des Staatshaftungsrechts des vertragswidrig handelnden Mitgliedstaates von besonderer Bedeutung. Dazu siehe§ 9 II 2.

III. Wesen der Rechtskraft (Rechtskrafttheorien)

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deskriptiver Ebene, indem es die zu ergreifenden Maßnahmen bestimmbar macht. Seine Wirkung auf normativer (materiellrechtlicher) Ebene liegt in der Pflichtbegründung. 3. Folgen

Nach herrschender Meinung führen die beiden Theorien nicht zu verschiedenen Folgen 26 • Sowohl für die subjektiven und objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft 27 als auch für die Rechtskraftfähigkeit der Prozeßurteile28 haben beide Theorien dieselben praktischen Konsequenzen. Dasselbe gilt auch für die Bindung der Gerichte anderer Gerichtsbarkeiten im Rahmen der präjudiziellen Wirkung der materiellen Rechtskraft. Im Vertragsverletzungsverfahren kann aber die materiellrechtliche Wirkung der materiellen Rechtskraft 29 Konsequenzen haben. Da für die Konkretisierung der Pflicht die Entscheidungsgründe oftmals unentbehrlich sind, müssen auch die Gründe insoweit in Rechtskraft erwachsen. Die rechtliche Existenz der Pflicht hängt von der Beständigkeit der Elemente des Urteils ab, die sie begründen und bestimmen, und die Rechtskraft kann bis zu einem bestimmten Grade den Bestand dieser relevanten Urteilselemente sichern ("ne bis in idem"). Die Konkretisierung der Pflicht sichert und erleichtert die Befolgung des Urteils (Erfüllung der Pflicht)3°. ·Der das Gemeinschaftsrecht verletzende Mitgliedstaat soll in einem Verfahren wegen Nichtbefolgung des Urteils nicht mit Erfolg behaupten können, daß für ihn die Pflicht unklar und unbestimmt war. Voraussetzung dafür ist immer eine relativ ausführliche und besonders korrekte und widerspruchsfreie Abfassung des Urteils. Auch der Charakter des Urteils wird von der gestaltenden materiellen Wirkung beeinflußt. Der EuGH stellt nicht nur die Vertragsverletzung fest, sondern auch die sich aus ihr ergebende Pflicht. P. Pescatore31 schreibt: "11 est concevable qu'un jour la Cour soit saisie ä n!connaitre ... certaines consequences qui pourraient en decouler, ä finde ce proeurer un titre judiciaire". Das Urteil hat so besehen eher den Charakter eines Verpflichtungsurteils32 als eines echten Feststellungsurteils33 - eine Folge der erwähnten materiell gestaltenden Funktion. Grunsky, Grundlagen, § 47, Anm. II 2, S. 494; a.A. Rammos, Lehrbuch, S. 552. Kondylis, Rechtskraft, S. 141 . 28 J. Blomeyer JR 1968, 407fT.; Kondylis, Rechtskraft, S. 141; vgl. aber Goldschmidt, Prozeß, S. 176; Hellwig, System, I, S. 781. 29 Kondylis, Rechtskraft, S. 141. 30 Amphoux, Les Novelles, S. 379fT. 31 Foro Padano 1972, 9fT.; ähnlich Plouvier, Decisions; Wohlfahrt in Wohlfahrt/Sprung, Art.171, Anm. 1, 2. 32 Cartou, S. 56f. spricht von einem "contentieux de pleinejuridiction". Wir brauchen aber einen entsprechenden Antrag des Klägers, dessen Zulässigkeit wegen des beschränkten Feststellungscharakters des Urteils (Art. 171 EWGV) problematisch ist. Oder kann der EuGH, wenn er es für nötig hält, "ultra petita" entscheiden und so zu einer "weiten" Tenorierung kommen? 26

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§ 4 Materielle Rechtskraft

IV. Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft 1. Rechtskraft des Tenors

Es ist allgemein anerkannt, daß der Urteilstenor in Rechtskraft erwächst 1 • Der Tenor enthält den Subsumtionsschluß des richterlichen Syllogismus, die Rechtsfolge der angewendeten Norm, die festgestellten Ansprüche, Herrschaftsoder Gestaltungsrechte, allgemein gesagt Rechtsverhältnisse 2 , d.h. den Komplex der Rechte und Pflichten, die sich aus einem Sachverhalt ergeben3 • Eine solche Feststellung existiert aber im Vertragsverletzungsverfahren nicht. Der Tenor stellt nur fest, daß ein bestimmter staatlicher Akt das Recht der Gemeinschaft (nicht) verletzt. Es liegt also kein klassisches Rechtsverhältnis vor. Diese Feststellung hat große Ähnlichkeit mit der nicht rechtskraftfähigen Feststellung einer rechtlichen Eigenschaft (z.B. diese Person ist geschäftsfähig). Auch im Vertragsverletzungsverfahren findet zwar ein juristischer Syllogismus statt; ein juristischer Syllogismus, der aber nicht zur Feststellung eines Rechtsverhältnisses führt. Dies entspricht dem Charakter der Normen des Gemeinschaftsrechtes. Sie sind Organisationsnormen ("lois d'organisation")\ Normen, die keine konkrete Pflicht des Mitgliedstaates und keine Sanktion für den Fall einer Vertragsverletzung vorsehen. Trotzdem wird aber durch die bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit des staatlichen Handeins Rechtsgewißheit geschaffen. Die Begründung der Pflicht und ihrer Konkretisierung zu Maßnahmen, die den Verstoß aufheben können, erfolgt unmittelbar und automatisch mit der Feststellung der Vertragswidrigkeit. Der vertragswidrig Handelnde weiß sehr genau, was er machen soll, um die rechtswidrige Situation zu beheben. Solche Rechtssicherheit wird sonst durch die bloße Feststellung normativer Merkmale nicht geschaffen. Man braucht vielmehr dann immer noch eine weitere Klage, die zur Feststellung eines Rechtsverhältnisses führt, um die Situation zu klären 5 • In unserem Fall ist dagegen eine neue Klage zur Feststellung der Pflicht nicht notwendig, vom Vertrag auch nicht vorges~hen, 33 Beys, Einführung, S. 111 nimmt im Fall der Feststellung einer Pflicht an, daß es sich um ein Verpflichtungsurteil handelt. 1 Vgl. Stein / JonasjSchumann/Leipold, § 322, Anm. VI; Jauernig, ZPR, S. 221 / 224; Rosenberg/Schwab, § 154, Anm. III 2; Redekerfvon Oertzen, § 121, Rn. 8; Brox, Festschrift fUr Geiger, S. 819; Lange, JuS 1978, 3; Motulsky, D 1960, 7; Perrot, Droit judiciaire, S. 667; Auby /Drago, Traite, S. 497; Luchaire, Le Conseil Constitutionnel, S. 46; Beys, Kommentar,§ 324 II 3; Sinaniotis, ZPO, § 322, Anm. I 3; Rammos, Lehrbuch, S. 571ff. 2 Furtner, Das Urteil, S. 11; RosenbergfSchwab, § 154, Anm. III 2; Blomeyer, § 89, Anm. I. 3 Larenz, Allg.Teil, § 12 I; von Thur, Allg.Teil, S. 123ff.; Beys, Kommentar, § 322, Anm. II 1, S. 1312. 4 Über die "lois d'organisation" siehe Louis Y. Lacambra, Festschrift für K. Tsatsos, s. 459. 5 Beys, Kommentar, § 324, Anm. II.

IV. Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft

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weil schon die Verletzungsklage genügend Rechtssicherheit schafft. Rechtsgewißheit ist aber gerade wesentliches Charakteristikum der materiellen Rechtskraft. Die Feststellung ist also geeignet, in Rechtskraft zu erwachsen; denn die Feststellung der Vertragsmäßigkeit oder der Vertragswirdrigkeit des mitgliedstaatlichen Handeins dient als Verhaltensrichtschnur für die Parteien 6 • 2. Rechtskraft der Urteilsgründe

a) Vergleichende Untersuchung

aa) Unterteilung der Urteilsgründe Die Urteilsgründe können in formelle und materielle unterschieden werden. Die formellen·enthalten und wiederholen den Subsumtionsschluß, die Entscheidung selbst'. Die materiellen können weiter unterteilt werden in die Gründe, die über die Hauptfrage ("motifs decisoires") oder über präjudizielle Rechtsverhältnisse (tragende Gründe, "motifs qui sont Je soutien necessaire du dispositif') entscheiden. Die letzteren werden nicht stets "expressis verbis" im Urteil erwähnt; oftmals werden sie bei der Entscheidung des Richters über bestimmte Punkte stillschweigend vorausgesetzt8 ("jugements implicitements"). Die tragenden Gründe enthalten auch die rechtliche Beurteilung (Gesetzesauslegung, rechtliche Qualifikation), die zur bestimmten Entscheidung geführt hat. Sie sind "Je fondement du dispositir'. Den Gegensatz bilden die obiter dicta 9 • bb) Rechtskraftfähigkeit der verschiedenen Kategorien von Urteilsgründen ( a) Urteilsgründe, die die Gesetzesauslegung enthalten

In Deutschland und in Griechenland erwächst nach herrschender Meinung diese Kategorie der tragenden Gründe nicht in Rechtskraft 10 • Hierfür werden 6 Nach Trzaskalik, Feststellungsklage, S. 167 ist eine Rechtsfrage feststellungsfähig und darüber hinaus rechtskraftfähig, wenn ihre Feststellung für das künftige Verhalten der Parteien praktische Relevanz hat. Zustimmend, Grunsky, AcP 1979, 411 I 412; Habscheid, ZZP 93, 230/231. 7 Lindacher, ZZP 88, 64 ff. 8 Vgl. auch Leipold, ZZP 81, 69f. 9 Dazu siehe Schlüter, Das obiter dictum, 1973. 10 Stein/JonasjSchumann/Leipold, § 322, Anm. VI 1; Baumbach/Hartmann, § 322, Anm. 2 A; Blomeyer, § 89, Anm. I; Henckel, Prozeßrecht, S 169; Jauernig, ZPR, S. 220; RosenbergjSchwab, § 154, Anm. III 2; Zeiss, § 71, Anm.II 1, Zöller fVollkommer, Vor § 322, Anm. V 2; Brox, Festschrift für Geiger, S. 819/820; Rupp, Festschrift für Kern, S. 413; Vogel, S. 602; Beys, Kommentar,§ 324, Anm. II 3; Rammos, Lehrbuch, S. 571 ff.; Dagtoglou, S. 125; BVerfGE 4, 31 (38); 5, 34 (37); 33, 199 (203); BVerwGE 29, 210 (212); a.A. BSG, DVB11959, 287; BVerwG, DVB11959, 398; Schwab, Festschrift für Bötticher, S. 321 ff., spricht aber von einer "relativen Rechtskraft" der rechtlichen Qualifikation. Für

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§ 4 Materielle Rechtskraft

angeführt: die schwierige Unterscheidung von tragenden Gründen und "obiter dicta", die die Rechtssicherheit bedrohe 11 .Die Bezogenheit der Entscheidung auf konkrete Streitfalle und die Schwierigkeit, diejenigen tragenden Gründe zu bestimmen, die auch für ähnliche, künftige Fälle Geltung haben werden; schließlich die Notwendigkeit der Bindung an alle Argumentationsmuster, die diese Gründe rechtfertigen 12 . Wäre der Mindermeinung zu folgen, nach der die gemäߧ 31 Abs. 1 BVerfGG eintretende Bindungswirkung der Entscheidungen des BVerfG eine rechtskraftähnliche Urteilswirkung ist 13 , dann könnte man gegen die Erstreckung einer solchen Wirkung auf die tragenden Urteilsgründe einwenden, sie führe zu einer Monopolisierung der verfassungsrechtlichen Reflexion, mit der Folge der Vermehrung von Hemmnissen gegen die Fortentwicklung des Rechts und derUmwandlungdes BVerfG in ein Rechtssetzungsorgan14. Demgegenüber wird in Frankreich eine Rechtskraft der tragenden Gründe des Conseil Constitutionnel angenommen 15 . Die Rechtskraft von Urteilsgründen des Conseil Constitutionnel beschränkt sich aber auf Gründe, die unmittelbar die konkrete Entscheidung stützen 16 . (b) Motifs decisoires

Zur Frage, ob die Rechtskraft auch die Gründe erfaßt, die über die Hauptfrage des Prozesses oder einen Teil dieser Hauptfrage entscheiden ("motifs decisoires"), sind zwei Kriterien entwickelt worden. Nach dem ersten, materiellen Kriterium ist nur der Inhalt der Entscheidungselemente von Bedeutung. Maßgebend ist, ob sie eine Antwort auf die Hauptfrage des Verfahrens enthalten, ob sie über den Streitgegenstand entscheiden. Es ist gleich, ob sich diese Antwort formalisiert im Tenor oder in den Gründen findet 17 . Die den Fall des§ 113, Abs. 4, S. 2 VwGO nehmen Kopp, § 113, Rn. 92 und Redeker / von Oertzen, § 121, Rn. 8 eine Rechtskraftwirkung der tragenden Gründe an. 11 Kadenbach, AöR 1955, S. 406/ 407; Riem, Der Staat, 13, 341 ff.; Schlaich, S. 904ff. 12 Riem, Der Staat 13, 341 ff. 13 Vgl. § 7 I 1a). Diese Ansicht ist aber zu verneinen. Vgl. § 4 II 1 e). 14 Vgl. auch Kriele, S.291ff.; Riem, a.a.O., 341ff.; Schlaich, S.204ff.; Kadenbach, AöR 1955, 405/407. Ihrer Argumentation ist aber nur beizupflichten, wenn angenommen wird, die Bindungswirkung gemäߧ 31 Abs. 1 BVerfGG unterscheide sich nicht von der materiellen Rechtskraft und daher sei aufgrund der U nzulässigkeit jedes neuen Antrags mit demselben Streitgegenstand (ne bis in idem) eine Änderung der Verfassungsauslegung durch das BVerfG unmöglich. 15 Collofong, Elemente, 159; Fromont, Gedächtnisschrift für Sasse, S. 803; Buerstedde, JöR 12, 171; Frank, S. 139; Favoreu, D 1986, J 286; Jean de Soto, RDP 1974, 894; Waline, RDP 1960, 1013; CC 16 janvier 1962, Les grandes decisions du CC, S. 161; vgl aber Luchaire, Constitution, Art. 62, Al. 2, S. 763. 16 Touffait, D. 1974, 274; Jean de Soto, RDP 1974, 894. 17 Stein/JonasfSchumann/Leipold, § 322, Anm. VI 1; Motulsky, D 1960, S. 7; Perrot, RDC 1975, 596ff.; Rammos, Lehrbuch, S. 573; Dagtoglou, S. 125; Civ. 17 octobre 1951, D. 1953, 145; Civ. 1 avril1981, La sem. jur. 1982, 19897; Areopag 190/74, NoB KB 1061; 224/70, NoB IH, 954; OLG Athen, 618/77, NoB 25,989.

IV. Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft

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Entscheidung ist jedoch ein einheitliches geistiges Werk des Richters. Die formelle Einbeziehung nur einiger Teile der Entscheidung in die materielle Rechtskraft führt zu einer problematischen Spaltung dieses Werkes 18 • Nach dem zweiten formellen Kriterium ist die Stellung des Entscheidungselements im Tenor die unabdingbare Voraussetzung für seine Rechtskraftfahigkeit 19 • Als Argument dafür wird die Rechtsklarheit angeführt, die mit diesem formellen Kriterium verwirklicht werde 20 • In Frankreich hat das formelle Kriterium auch den klaren Wortlaut des Art. 455 al. 2 n.c.p.c. 21 für sich. ( c) Urteilsgründe zu präjudiziellen Rechtsverhältnissen

Über die Einbeziehung der Urteilsgründe, die die Entscheidung über präjudizielle Rechtsverhältnisse enthalten, wird lebhaft diskutiert. In Griechenland ist aber diese Frage positivrechtlich geregelt (Art. 331 griech. ZP0)22 und die Diskussion beschränkt sich auf die Bestimmung der Voraussetzungen dieser Rechtskrafterstreckung 23 • Gegen die Rechtskraftfahigkeit der U rteilsgründe, die über präjudizielle Rechtsverhältnisse entscheiden, wird vorgebracht, sie führe zu Unsicherheit und beeinträchtige die Parteiinteressen. Eine solche Rechtskrafterstreckung sei unabsehbar. Die Parteien würden von einer unerwarteten Rechtskraft überrascht, vor allem nach einem unbedeutenden Prozeß, der mit gewisser Nachlässigkeit geführt war 24 • Außerdem existieren über solche Rechtsverhältnisse keine Anträge der Parteien25 - eine Bindung der Parteien an deren Feststellung verletze daher den Dispositionsgrundsatz. Auch bei Geltung des Untersuchungsgrundsatzes hänge die Entscheidung maßgeblich von der Mitwirkung der Parteien ab 26 • Nach alldem könne man eine Erstreckung der Rechtskraft weder aufbedingende Rechtsverhältnisse noch aufGegenrechte des Beklagten annehmen 27 • Hierfür sei stets eine Zwischenfeststellungsklage28 bzw. eine Widerklage 29 nötig. Perrot, Droit judiciaire, S. 667; a.A. Kerameus, Materielle Rechtskraft, S. 134. Vgl. auch Civ. 16-11-83, Gaz. Pal.1984, som. 72; Com. 9-7-85, Gaz. Pal.1985, pan. 326; a.A. Civ. 10-10-79, RDC 1980, 415. 20 Perrot, RDC 1975, 596; Encyclopedie Dalloz, procedure civile, chose jugee, Anm. 84; Civ. 11 avril1975, Gaz. Pa!. 1975, 615; Civ. 3 octobre 1984, La sem. jur. 1984, 334. 21 Art. 455 al. 2 n.c.p.c.: "Le jugement enonce Ia decision SOUS forme du dispositir' . Dazu siehe aber auch Puybusque, Gaz. Pa!. 1986, D. 133. 22 Nach ihm erfaßt die materielle Rechtskraft auch die inzident geprüften bedingenden Rechtsverhältnisse, wenn das Gericht für ihre Prüfung sachlich zuständig war. 23 Dazu siehe Kerameus, Materielle Rechtskraft, S. 134. 24 Grunsky, Grundlagen,§ 47, Anm. IV 2, S. 514; Jauernig, ZPR, S. 223; Zeiss, § 71, Anm. II 1; Teufel, S. 79fT.; vgl. auch Peetz, Einordnung, S. 20. 25 Teufel, S. 79fT.; Kerameus, Materielle Rechtskraft, S. 136. 26 Grunsky, Grundlagen,§ 47, Anm. IV 2, S. 519. 27 Vgl. Stein / Jonas/Schumann/Leipold, § 322, Anm. VI 1; Blomeyer, § 89, Anm. I; Brox, Festschrift für Geiger, S. 819; Jauernig, ZPR, S. 223; Thomas / Putzo, § 322, Anm. 6; 18

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§ 4 Materielle Rechtskraft

In einigen Fällen führt aber diese strenge Spaltung zwischen Tenor und Gründen zu unbefriedigenden Ergebnissen und zu trockener Begriffsjurisprudenz. Zu denken ist hier etwa an eine Schadensersatzklage nach der Feststellung der Rechtswidrigkeit des VA im Anfechtungsverfahren oder daran, daß nach seiner rechtskräftigen Verurteilung aus Kauf der Verkäufer die sich aus dem Kaufvertrag ergebenden Rechte geltend macht. Deshalb ist seit einigen Jahren der Versuch unternommen worden, dieses Prinzip der Rechtskraft nur des Tenors zu relativieren. Besonders im Rahmen des positiven Aspekts der Rechtskraft wird eine Bindung des Gerichts des zweiten Prozesses an die (rechtskräftige) Feststellung eines bedingenden Rechtsverhältnisses des ersten Prozesses angenommen, wenn der nachfolgende Rechtsstreit als inhaltliche Fortsetzung des rechtskräftig abgeschlossenen Vorprozesses erscheint und die Unangreifbarkeit der Vorentscheidungsgründe ein Mittel ist, um einen bestimmten vom objektiven Rech~ gegebenen Sinnzusammenhang zwischen dem rechtskräftig festgestellten und dem im neuen Prozeß in Frage stehenden Rechtsverhältnis zu wahren 30 . Dazu wird weiter ausgeführt, wo ein solcher enger Zusammenhang existiere, sei auch die Überraschungsgefahr gebannt 31 • ( d) Motifs implicitements

Was schließlich die nicht ausdrücklich erwähnten, aber bei der Entscheidung über eine bestimmte Frage stillschweigend vorausgesetzten Überlegungen des Gerichts angeht, so können diese in Rechtskraft nur erwachsen32 , wenn man das materielle Kriterium verwendet. Nur so würden sie als rechtskraftfahige Elemente des Urteils an der Rechtskraft des Tenors teilnehmen. Als Gegenargument wird auf den Mangel an Rechtsklarheit 33 und die Vermehrung der Möglichkeiten zur Einlegung sonst unzulässiger Rechtsrnittel 34 hingewiesen. Eyermann/Fröhler, § 121, Anm. II 1; Kopp, § 121, Rn. 18, Beys, Dike 14, 549; a.A. Sinaniotis, ZPO, § 322, Anm. I 3; Bruns, S. 369, BGH, NJW 1969, 1064; BGH, NJW 1976, 1095; BGH, JZ 1983, 394; BGH, WPM 1985, 1408; vgl. auch BVerwGE 26, 210; OLG Athen 10581 f79, EEN 1980, 1090 aber nur für bedingende Rechtsverhältnisse, nicht für Einreden; vgl. aber auch Ch. mixte 6-7-84, Gaz. Pa!. 1985, pan. 53; Civ. 15-1o-85, Gaz. Pa!. 1986, pan. 20. 28 Stein/ JonasfSchumann/Leipold, § 322, Anm. VI 1; Jauernig, ZPR, S. 223. 29 Stein/JonasjSchumannfLeipold, § 322, Anm. VI 1; Beys, Dike 14, 549. 30 Zeuner, S. 44; derselben Meinung Blomeyer, § 89, Anm. V 2; a.A. Stein/ Jonas / Schurnano / Leipold, § 322, Anm. IX 3, die die Kriterien Zeuners "rechtliche Sinnzusammenhänge" für sehr abstrakt und deshalb ungeeignet halten; vgl. auch Lent, ZZP 73, 316 tT.; Peters, ZZP 76, 229 tT.; Schwab, JZ 1959, 786f. und Zeuner, Festschrift für Zweigert, 618fT. 31 Grunsky, Grundlagen,§ 47, Anm. IV 2; S. 522. 32 So Motulsky, D 1960, S. 7; Kerameus, Materielle Rechtskraft, S. 104; Civ. 5-3-63, D 1963, 313; Civ. 20-3-78, Gaz. Pa!. 1978, som. 269; Cour d'Appel Douai, 2juin 1978, La sem. jur. 1978, 18993; CE 29 novembre 1974, Recueil1974, 601. 33 Stein/ JonasfSchumann/Leipold, § 322, Anm. VI 1; Perrot, RDC 1975, 596; Durry, RDC 1960, 5tT.

IV. Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft

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b) Rechtskraftfähigkeit der verschiedenen Kategorien von Urteilsgründen im Vertragsverletzungsverfahren

aa) Formelle Urteilsgründe Die formellen Gründe wiederholen und konkretisieren inhaltlich die Entscheidung und sind von besonderer Bedeutung, wenn sich der Tenor nur auf Klageabweisung beschränkt. Aufgrund des materiellen Kriteriums kann die Rechtskraftfähigkeit dieser Gründe wegen ihrer Kongruenz zum Tenor angenommen werden. bb) Materielle Urteilsgründe Diti materiellenUrteilsgründe können unterteilt werden in solche, die über die Hauptfrage entscheiden ("motifs decisoires") und in die tragenden Gründe. Die letzteren können entweder über präjudizielle Rechtsverhältnisse ausdrücklich entscheiden oder sich aus Entscheidungsteilen schlüssig ergeben ("motifs implicitements") oder letztlich die Auslegung des Gemeinschaftsrechts enthalten. Die tatsächlichen Feststellungen, die auch zu den Urteilsgründen gehören, sind unproblematisch, weil sie nicht rechtskraftfähig sind35 • Sie werden ohne richterlichen Syllogismus36 durch die Beweisaufnahme geliefert und bestätigt. Außerdem kann eine Ausdehnung der Rechtskraft über den Tenor hinaus nur auf ähnliche Elemente erfolgen, nicht aber von Rechtsverhältnissen auf bloße Tatsachen37 • (a) Die Urteilsgründe, die über die Hauptfrage oder über präjudizielle Rechtsverhältnisse entscheiden, können folgende Elemente enthalt7n: (1) Die Feststellung, daß neben der Verletzung einer oder mehrerer primärer Vorschriften des EWG-Rechts auch bestimmte Normen des sekundären Rechts verletzt worden sind. Die Feststellung der Verletzung auch primärer Normen kann allerdings unmittelbar (ausdrücklich erwähnt)38 oder mittelbar sein, d.h. sie ergibt sich aus der Einbeziehung der sekundären Normen in bestimmte normative Komplexe (z.B. sie sind Normen, die der Niederlassungsfreiheit dienen) und aus deren Charakter als Normen, die die dazugehörigen primären Normen konkretisieren. 39 Hebraud, RDC 1963, 141 ff. Stein/ Jonas/Schumann/Leipold, § 322, Anm. VI 3; RosenbergjSchwab, § 154, Anm. III; Zeiss, § 71 li 1; Kopp,§ 121, Rn. 18; Rammos, Lehrbuch, S. 571 ff.; Sinaniotis, ZPO, § 322, Anm. I 3. 36· Beys, Beiträge, S. 290, 294, 302. 37 Kerameus, Materielle Rechtskraft, S. 153. 38 Vgl. Rs 240/81, Slg ~982, 4005; Rs 155/82, Slg 1983,541 f.; Rs 90/82, Slg 1983, 2011; Rs 42/82, Slg 1983, 1039f.; Rs 169/ 82, Slg 1984, 1614. 34 35

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§ 4 Materielle Rechtskraft

(2) Die Feststellung aufgrund der Einrede der Rechtswidrigkeit, daß die sekundäre Norm (Verordnung) gegen höherrangiges Gemeinschaftsrecht verstößt (Art. 184 EWGV). (3) Die Feststellung, daß der Verstoß des staatlichen Aktes gegen bestimmte Vorschriften nach einer anderen Vorschrift des Gemeinschaftsrechts erlaubt ist (z.B. kann ein Verstoß gegen das Verbot mengenmäßiger Einfuhrbeschränkungen [Art. 30 EWGV] aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit [Art. 36 EWGV] erlaubt sein). (4) Antwort auf Prozeßfragen, besonders auf Zuständigkeitsfragen. Erwachsen alle diese Feststellungen in Rechtskraft40 oder können sie in einem späteren Prozeß wieder in Frage gestellt werden? Für die Rechtskraftfähigkeit dieser "Rechtsverhältnisse" spricht ihr Charakter. Die rechtlichen Vorfragen haben normalerweise keine andere Funktion im Rahmen eines bestimmten Prozesses als das Hauptrechtsverhältnis zu begründen. Die Entscheidung darüber ist nicht vollstreckbar41 • Sie hat auch keine Tatbestandswirkung. Die Feststellung der Verletzung einer sekundären Vorschrift kann dagegen besonders in Fällen, wo sich im Tenor nur die abstrakte Feststellung der Verletzung des EWG-Vertrags findet42 , ein Eigenleben von besonderer Bedeutung entwickeln. Sie begründet eine bestimmte Pflicht des verletzenden Staates43, sie konkretisiert die zu ergreifenden Maßnahmen, bestimmt also stark die Art und Weise der Durchsetzung des Urteils. Bei Feststellung des Verstoßes der sekundären Norm gegen das primäre Recht kann Art. 176 EWGV 44, der das zuständige Organ zum Ergreifen aller geeigneten Maßnahmen verpflichtet, 39 Vgl Rs 103/ 83, Slg 1984, 2858; Rs 49/82, Slg 1983, 1195; Rs 49/82, Slg 1983, 1203f.; Rs 324/82, Slg 1984, 1875; Rs 303 / 84, Urteil vom 20.3.86 (noch unveröffentlicht in der amtlichen Sammlung). In allen diesen Fällen wurde ein Verstoß nur gegen sekundäre Vorschriften festgestellt. 40 GARoemer, Rs 14/64, Slg 1965,4,18 undGAGand, Rs 58/69, Slg 1970,513 haben hinsichtlich eines Urteils, das über eine Anfechtungsklage entscheidet, die Rechtskraftfähigkeit von präjudiziellen Feststellungen angenommen. 41 Kerameus, Materielle Rechtskraft, S. 152. 42 Ohne konkrete primäre Normen zu erwähnen. Dazu siehe Fn. 39. 43 Vgl. Daig in Groeben/Ehlermann, Art. 171, Rn. 3. 44 Der EuGHhatin Rs 117/76 und 16j77, Slg 1977,1753 und in Rs 124/76und20j77, Slg 1977, 1795 die Anwendung von Art. 176 EWGV im Vorabentscheidungsverfahren angenommen, wenn die Ungültigkeit einer Norm festgestellt wird. Dasselbe wird auch für jedes Verfahren angenommen, wo der Einrede der Rechtswidrigkeit (Art. 184 EWGV) stattgegeben wird: Vgl. Wohlfahrt in Wohlfahrt/ Sprung, Art. 184, Anm. 5; WaelbroeckjVandersanden, Art. 184, Anm. 8; GA Roemer, Rs 9, 12/60, Slg 1961, 471; G.A. Lagrange, Rs 14, 16, 17, 20, 24, 26,27/60, Slg 1961, 371; Frowein, DöV 1971, 793fT. meint, daß die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Norm in den Gründen des Urteils im Rahmen des Bund-Länderstreits zu allen Ergebnissen einer Verfassungswidrigkeitsfeststellung führt.

IV. Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft

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Anwendung finden. Die verletzten primären Normen werden von den sekundären konkretisiert. Ohne die Verletzung der sekundären Normen ist die Verletzung der primären schwer denkbar. Die Feststellung des Verstoßes gegen die sekundäre Norm ist also "conditio sine qua non" für den rechtlichen Schluß der Urteilsformel45 • Sie bildet mit der Feststellung der Verletzung der primären Norm eine untrennbare Einheit. Derselbe Gedanke - Untrennbarkeit des Urteilstenors von bestimmten Urteilsgründen kann zu ihrer Einbeziehung in die materielle Rechtskraft führen - gilt auch für alle anderen erwähnten Feststellungen. Die Parteien haben oftmals zu diesen Feststellungen Anträge gestellt. Der Verstoß einer Verordnung gegen das primäre Recht, die Rechtfertigung des Verstoßes unter bestimmten Umständen, die Unzuständigkeit des EuGH können auch als Einreden vorgetragen werden. Sie stellen besonders wichtige Teile des Urteils in einem für das Leben sowohl der Gemeinschaft als auch der Mitgliedstaaten erheblichen Verfahren dar, so daß eine Überraschung der Parteienaufgrund der Einbeziehung in die materielle Rechtskraft völlig außer Betracht bleiben kann. Gemeinschaftsorgane, deren Akte von Parteien als vertragswidrig charakterisiert werden, können dem Verfahren beitreten ohne die Notwendigkeit, ein Rechtsschutzbedürfnis glaubhaft zu machen (Art. 37 Satzung EuGH), und auf diese Weise können sie für ihre Rechte und Interessen kämpfen. (b) Die Urteilsgründe, die sich aus bestimmten Entscheidungsteilen implizit ergeben ("jugements implicitements"), können folgende sein: (1) Wenn der EuGH der Klage stattgibt oder sie als unbegründet verwirft, bejaht er gleichzeitig- obwohl nichts darüber ausdrücklich gesagt worden ist - seine Zuständigkeit. (2) Aus der Verletzung sekundärer Normen bestimmten Charakters (z.B. Richtlinien, die der Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit dienen) ergibt sich, ohne ausdrücklich erwähnt zu sein, die Feststellung der Verletzung der entsprechenden primären Vorschriften, die durch die sekundären konkretisiert werden. Gegen die Rechtskrafterstreckung auf solche impliziten Gründe spricht die Tatsache, daß über diese "stillschweigenden" Feststellungen kein Antrag gestellt worden ist, kein Streit über sie stattgefunden hat und ihre bindende Wirkung wirklich unerwartet ist. Außerdem ist die inhaltliche Bestimmung solcher stillschweigenden Begründungen schwierig. Daher ist trotz der Inkorporation dieser Feststellungen in das gesamte Urteil ihre Rechtskraftflihigkeit abzulehnen. Für die Annahme einer Rechtskraftfähigkeit existiert kein praktischer Grund. Dem Argument, ohne die negative Funktion der Rechtskraft im Hinblick auf die implizite Feststellung der Verletzung der primären Norm sei eine neue, auf diese Verletzung gestützte Klage zulässig, ist entgegenzuhalten, es 45

Vgl. auch Bruns, S. 366f.

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§ 4 Materielle Rechtskraft

h+Indle sich um denselben Prüfungsmaßstab46 , wenn die Verletzung einer anderen, aber inhaltlich identischen Norm gerügt werde. Die neue Klage wird daher an der negativen Funktion der materiellen Rechtskraft des Urteils des Gerichtshofes scheitern. Es besteht also keine Notwendigkeit für eine Rechtskraftfähigkeitder impliziten Feststellung der Verletzung der primären Norm. Auch die Konsequenzen der impliziten Bejahung der Zuständigkeit des EuGH sind nicht von besonderer praktischer Relevanz. Eine neue Klage desselben Klägers über denselben Streitgegenstand vor einem nationalen Gericht wäre aufgrundder negativen Funktion der materiellen Rechtskraft ebenfalls unzulässig. (c) Zur Rechtskraftfähigkeit der tragenden Gründe, die das Gemeinschaftsrecht auslegen und darüber hinaus auch qie rechtliche Qualifikation der sekundären Vorschrift als unmittelbar anwendbar oder als Vorschrift enthalten, die bestimmten Zwecken (z.B. freier Warenverkehr) dient, ist folgendes zu bemerken: Obwohl man die Rechtskrafterstreckung auf diese Gründe nicht wegen der Gefahr der Erstarrung des Gemeinschaftsrechts - die Rechtskraft wirkt. grundsätzlich nicht "erga omnes"- kritisieren kann und obwohl die Form der Entscheidung die Bildung tragender Gründe zuläßt- es wird das Minderheitsvotum nicht veröffentlicht-, ist eine Rechtskrafterstreckung auf die tragenden Gründe abzulehnen. Der Grund ist folgender: Die Bindung an tragende Gründe entspricht dem Charakter des EuGH als Gemeinschaftsorgan, dessen Funktion die einheitliche Verwirklichung des EWG-Rechts für den ganzen Gemeinschaftsraum ist (vgl. auch Art. 177 EWGV). Eine solche Funktion verlangt darüber hinaus "erga omnes"-Bindung.Diese Bindung kann aber die Rechts\craft nicht leisten. Nicht nur wegen der Gefahr einer Zementierung der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts und der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör der am Prozeß Nichtbeteiligten. Der hauptsächliche Grund dafür ist, daß die Gewährleistung einheitlicher Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts außerhalb des Zweckes und der Funktion des Instituts der Rechtskraft liegt. Notwendig ist ein Institut, das die tragenden Gründe erfaßt, "erga omnes" wirkt, aber keine "ne bis in idem"-Funktion hat. Nur hinsichtlich der rechtlichen Qualifikation ist eine Rechtskraftwirkung erforderlich. Die Qualifikation der Norm als unmittelbar anwendbar hat große Bedeutung für Schadensersatzfälle47 • Ohne Bindung an ·diese Qualifikation bleibt die Bindung an die Feststellung der Verletzung der sekundären Vorschrift ohne die gewünschte Wirkung. Denn nur unmittelbar anwendbare Vorschriften begründen ein subjektives Recht des Gemeinschaftsbürgers, das von staatlichen Maßnahmen verletzt werden kann. Die Zweckdefinition der sekundären Vorschrift bestimmt bzw. individualisiert die entsprechende primäre Vorschrift 46

47

Vgl. § 4 V 1 b) bb) (e). Vgl. auch Bader, Tragweite, S. 23/24; Peetz, Einordnung, S. 3fT.

V. Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft

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mit praktischer Bedeutung für den Fall einer neuen Klage, die sich auf die Verletzung der primären Vorschriften stützt. Die Rechtskraft der rechtlichen Qualifikation kann aber nur "relativ"48 sein, d.h., die rechtliche Beurteilung bindet nur, wenn das ganze "Rechtsverhältnis" hinsichtlich eines neuen Prozesses präjudiziell wirken kann, so z.B. wenn die Verletzung der sekundären unmittelbaren Norm im Rahmen einer Schadensersatzklage vor einem staatlichen Gericht entscheidungserheblich ist, oder wenn Klage wegen Verletzung der individualisierten primären Vorschrift erhoben wird: der Kläger kann, um die "ne bis in idem" Wirkung der Rechtskraft zu vermeiden, nicht behaupten, daß die sekundären Vorschriften, deren Verletzung rechtskräftig festgestellt worden ist, einen anderen Zweck hätten als den vom EuGH festgesetzten.

c) Folgen der Rechtskrafterstreckung auf die Urteilsgründe Wie schon erwähnt, hat die Rechtskraft der Gründe große Bedeutung im Rahmen des positiven und negativen Aspekts der Rechtskraft. Aber auch für die Rechtsbehelfe, die der EwG-Vertrag zur Verfügung stellt (Einspruch, Art. 38 Satzung; Drittwiderspruchsklage, Art. 39 Satzung; Wiederaufnahmeklage, Art. 41 Satzung), ist die Rechtskraft der Urteilsgründe von praktischer Bedeutung. Eine Beeinträchtigung der Rechte der Parteien oder eines Dritten und damit die Begründung einer Beschwer (Rechtsmittelinteresses) kann nicht nur vom Tenor, sondern auch von den rechtskräftigen Gründen ausgehen49 • Art. 97 § 1 b VerfO, der die Angabe der drittbeeinträchtigenden Punkte durch den Drittwiderspruchskläger vorsieht, und Art. 99 § 1 b VerfO, der die Angabe der angefochtenen Punkte durch den Wiederaufnahmekläger anordnet, bedeuten "rechtskräftige" Punkte sowohl des Tenors als auch der Gründe. Punkte, die nicht in Rechtskraft erwachsen, können Parteien oder Dritte nicht beeinträchtigen, und deshalb ist deren Anfechtung unzulässig 5°. V. Verhältnis objektiver Grenzen der materiellen Rechtskraft zum Streitgegenstand Der Umfang der objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft ist nicht nur von den Urteilselementen abhängig, die in Rechtskraft erwachsen, sondern auch vom Streitgegenstand 1 • Rechtskräftig wird der Entscheidungsgegenstand, der Schwab, Festschrift für Bötticher, S. 321 ff. Däubler, RIW I AWD 1966, 173, scheint diese Möglichkeit zu bejahen. so Für die Drittwiderspruchslage K. Wolf in Groeben / Ehlermann, Art. 39 EuGHSatzung, Anm. 2. Im Fall einer Wiederaufnahmeklage prüft der EuGH welche Bedeutung die "neuen" Tatsachen fÜr die die Streitfrage betreffenden Entscheidungsgründe haben: Rs 28/64, Slg XIII, 192; a.A. K. Wolf in Groeben/Ehlermann, Art. 41 EuGH-Satzung, Anm. 1, der die Entscheidung in der Sache nur auf den Tenor beschränkt. 1 Vgl. auch BGH, NJW 1986, 1046. 48

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5 Tsikrikas

§ 4 Materielle Rechtskraft

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-obwohl er gegenüber dem Streitgegenstand unterschiedlichen Umfangs sein kann - mit ihm strukturell ähnlich ist. 1. Struktur des Streit- und Entscheidungsgegenstandes

a) Vergleichende Untersuchung

Für die Zivilgerichtsbarkeit sind zur Struktur des Streit- und Entscheidungsgegenstandes zwei Arten von Theorien entwickelt worden: Die materiellrechtlichen Theorien und die prozeßrechtlichen. aa) Die ursprüngliche materiellrechtliche Theorie Nach der ursprünglichen materiellrechtlichen Theorie ist Streitgegenstand der materiellrechtliche Anspruch, der mit der Klage geltend gemacht worden ist. Dieser Theorie wurden besondere Schwächen im Fall der Anspruchskonkurrenz vorgeworfen. Der Kläger könnte mehrmals dieselbe Leistung aufgrund verschiedener Ansprüche geltend machen, obwohl er sie nur einmal bekommen dürfte2 • Außerdem könnte im Fall der Häufung mehrerer Ansprüche, die dieselbe Leistung zum Gegenstand haben, ein Teilurteil hinsichtlich einiger Ansprüche ergehen, obwohl kein Raum mehr für das Schlußurteil existierte3 • bb) Die prozeßrechtlichen Theorien Die Schwierigkeiten der ursprünglichen materiellrechtlichen Theorie versuchten die prozeßrechtlichen Theorien zu vermeiden. Nach diesen Theorien ist der materielle Anspruch nicht mehr Streitgegenstand. Den Streitgegenstand bildet der prozessuale Anspruch, der sich aus dem Antrag des Klägers und dem von ihm vorgetragenen Sachverhalt (Tatsachenkomplex) ergibt (zweigliedrige Theorie) 4 • Aber diese Theorie führt wieder zu unbefriedigenden Ergebnissen, wenn aufgrund mehrerer Sachverhalte derselbe Prozeß verfolgt wird 5 • Nach einer anderen Ansicht ist deshalb nur der Antrag des Klägers von Bedeutung (eingliedrige Theorie) 6 • Der Sachverhalt ist lediglich zur Auslegung des Antrags heranzuziehen. Als Antrag werden entweder die Rechtsbehauptung 7 oder die Beys, Einführung, S. 119; derselbe, Kommentar,§ 324, Anm. III 2. Schwab, JuS 1965, 82; Rosenberg/Schwab, § 96, Anm. III 1. 4 Vgl. Rosenberg, § 88, Anm. II 3; Habscheid, Streitgegenstand, S. 221 IT.; Brox, JuS 1962, 121 IT.; Thomas/Putzo, § 322, Anm. 5; Zeiss, § 71, Anm. I 1; Kopp, § 121, Rn. 18; Kondylis, S. 195/196; BGHZ 45, 329 (331); BAG, NJW 1984, 1710; BGH, NJW 1986, 1046ff.; BGH, JZ 1988, 1035. s Rosenberg / Schwab, § 96, Anm. III 2; Beys, Einführung, S. 117fT. 6 Nikisch, Streitgegenstand, S. 91 IT.; Rosenberg/Schwab, § 96, Anm. III 3; Schwab, Streitgegenstand, S. 184; ähnlich auch SteinjJonasjSchumann/Leipold, § 322, Anm. VI 5; Blomeyer, § 89, Anm. III. 7 Schönke/Kuchinke, ZPR, § 32 II, Anm. II. 2

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V. Objektive Grenzen der materiellen Rechtskraft

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Rechtsbehauptung zusammen mit dem Rechtsschutzbegehrens (Feststellung, Verurteilung) definiert. Auch in Frankreich wird eine Art "zweigliedrige Theorie" vertreten. Man unterscheidet zwischen "objet" und "cause". "Objet" ist der Antrag, die Behauptung ("l'addition des pretentions des parties" 9 ) eines konkreten Rechtsverhältnisses ("un droit sur une chose"). Seine unabdingbaren Elemente sind das subjektive Recht und dessen materieller (körperlicher) Gegenstand 10 • "Cause" ist das Ereignis, das das subjective Recht begründet. Sie ist nicht nur das abstrakte Rechtsverhältnis (z.B. Kauf), sondern auch der konkrete Grund (Kaufvertrag), aus dem die Rechte und Pflichten der Parteien entstehen. Wie nach deutschem Recht liegt eine Kombination rechtlicher und tatsächlicher aber rechtlich relevanter - Elemente vor ("Le fondement juridique de la demande ...un "amalgame" de fait et de droit" 11 ). Man unterscheidet zwischen einer engeren ("etroite") und einer weiteren ("large") cause. Die engere ist das bestimmte Rechtsverhältnis (z.B. vente) und die weitere eine Kategorie von Rechtsverhältnissen oder Anfechtungsgründen (z.B. vices de forme et vices du consentement)l2 • 8 Gegen diese letztere Variante der prozeßrechtlichen Theorie wird eingewandt, sie könne zu widersprüchlichen Entscheidungen führen, wenn nach der Erhebung einer Feststellungsklage eine Leistungsklage erhoben werde (Beys, Einfürhung, S. 120). Wenn eine Leistungsklage möglich ist, dann ist aber eine Feststellungsklage wegen Mangels des rechtlichen Interesses unzulässig; dazu statt vieler Rosenberg/Schwab, § 94 III 1c. Die Gefahr der widersprüchlichen Entscheidungen besteht also nicht. 9 Martin, La sem. jur. 1979, 2938. 10 Encyclopedie Dalloz, procedure civile, chose jugee, Anm. 148; Perrot, Droit judiciaire, S. 671; Civ. 7 janvier 1982, La sem. jur. 1982, 104; Martin, La sem. jur. 1979, 2938. 11 Martin, La sem. jur. 1979, 2938; ebenfalls Lacoste, De Ia chose jugee, S. 145fT.; Motulsky, 1964, S. 235; Perrot, Droitjudiciaire, S. 672; Chapus, Contentieux administratif, s. 432. 12 Lacoste, De Ia chose jugee, S. 145fT.; Waline, RDP 1959, 108; Chapus, Contentieux administratif, S. 432; CE, RDP 1959, 120 nehmen eine relativ abstrakte cause zur besseren Prozeßökonomie an. Wird aber die "cause" als Rechtsverhältnis oder Kategorie von Rechtsverhältnissen definiert- d.h. ihre Abgrenzung erfolgt nicht nur durch den vorgetragenen Sachverhalt, sondern auch durch die vorgetragenen Normen - , dann ähnelt dieser zweigliedrige Streitgegenstand dem Streitgegenstand der deutschen materiellrechtlichen Theorien. Gegenstand des Streites und der Entscheidung ist ein materiellrechtlicher Anspruch, der ein bestimmtes Rechtsverhältnis als Entstehungsgrund hat. Im Fall einer "cause etroite" besteht eine Ähnlichkeit mit dem Streitgegenstand der ursprünglichen materiellrechtlichen Theorie. Eine "cause !arge" entspricht dagegen dem Streitgegenstandsbegriff der neuen materiellrechtlichen Theorie. Nur wenn die cause einfach durch den Lebenssachverhalt bestimmt wird, ist der französische Streitgegenstandsbegriff als zweigliedrig im deutschen Sinne zu bezeichnen. Über eine solche Bestimmung siehe Encyclopedie Dalloz, chose jugee, Anm. 181. Vgl. auch Cass. civ. 28-6-86, Ia sem. jur. 1986, 227. Interessant ist noch das Verhältnis zwischen Struktur undUmfangdes Streitgegenstandes und der Rechtskraftfähigkeit der in den Urteilsgründen stattfindenden Feststellung von bedingenden Rechtsverhältnissen. In Rechtskraft erwächst die Entscheidung über den

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§ 4 Materielle Rechtskraft

cc) Die neue materiellrechtliche Theorie- Streitgegenstandslehren in der Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit Die neue materiellrechtliche Theorie, die im Rahmen der Zivilverfahrenslehre entwickelt worden ist, versucht die Schwächen der ursprünglichen zu korrigieren. So wird ein materieller Anspruch angenommen, wenn aus demselben Sachverhalt mehrere Ansprüche entstehen 13 , oder wenn die Ansprüche einen Verfügungsgegenstand bilden 1\ oder wenn sie auf dieselbe Leistung gerichtet sind 15 • Im ·Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit wird darüber gestritten, ob Streitgegenstand nur die Rechtswidrigkeit bzw. Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes, oder der Anspruch des Klägers auf Aufhebung des Aktes 16 , oder sogar zusätzlich auch der Anspruch auf Unterlassung solcher Akte 17 , oder endlich sowohl die Rechtswidrigkeit des Aktes als auch die Feststellung der Verletzung der Rechte des Klägers 18 ist. Im Organstreitverfahren vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht wird als Streitgegenstand die Feststellung der (Nicht)Verletzung der Vorschriften des GG durch das Handeln des Antragsgegners angenommen. Diese Vorschriften begründen Rechte des Antragstellers 19 -nach anderer Ansicht 20 handelt es sich um Kompetenzen und Zuständigkeiten-, die verletzt worden sind. Dasselbe gilt auch beim BundLänderstreit (§ 69, 71, 72 BVerfGG) und bei Landesverfassungsstreitigkeiten aufgrund landesrechtlicher Zuweisung(§ 74 BVerfGG).

Streitgegenstand. Wenn Streitgegenstand der materiellrechtliche Anspruch ist, kann auch sein Entstehungsgrund in Rechtskraft erwachsen. Anders ist die Situation, wenn der Streitgegenstand vom Antrag und vom Lebenssachverhalt gebildet wird, der verschiedene Kategorien von materiellrechtlichen Ansprüchen umfassen kann. Gegenstand der Entscheidung ist dann kein konkretes bedingendes Rechtsverhältnis, dessen Feststellung rechtskräftig werden könnte. Diese Gedanken verwirklichen sowohl die französische als auch die deutsche Lehre konsequent. Nach französischer Auffassung wird der Streitgegenstand in erster Linie durch den relativ eng abgegrenzten Anspruchsgrund (cause) bestimmt, der auch in Rechtskraft erwächst (motifs qui sont le fondement du dispositif). In Deutschland besteht der Streitgegenstand nach herrschender Ansicht aus Antrag und Lebenssachverhalt und es existiert keine Rechtskraftfähigkeit der in den Urteilsgründen festgestellten bedingenden Rechtsverhältnisse. 13 Nikisch, AcP 154, 269ff.; Esser, AcP 162, 401. 14 Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand, 1961; vgl. auch Grunsky, Grundlagen, § 47, Anm. IV 1, S. 501; Baumgärtel, JuS 1974, 74. 15 Georgiades, Die Anspruchskonkurrenz im Zivilrecht und Zivilprozeßrecht, 1968. 16 Bettermann, DVB11953, 163ff. n Vgl. Lüke, JuS 1967, 1 ff. 18 Ule, § 59, Anm. II 2, S. 300; Redecker /von Oertzen, § 121 Rn. 7. 19 Lorenz, S. 258; Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 199. 20 Maunz in Maunz/Ulsamer, BVerfGG, § 64, Rn. 6; BK/Stern, Art. 93, Rn. 183; Goessl, S. 73.

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b) Vertragsverletzungsverfahren Es ist zwar von der Existenzzweier verschiedener Streit- und Entscheidungsgegenstände - eines Gegenstandes, den die Zulässigkeitsfragen bilden, und eines, den die materiellrechtlichen Fragen bilden - auszugehen 21 ; jedoch ist diese

Differenzierung für das Vertragsverletzungsverfahren des EuGH ohne besondere Bedeutung22 und deshalb bleibt die Auseinandersetzung mit ihr aus dieser Arbeit ausgeklammert. Es wird also nur der Streitgegenstand untersucht, der materiellrechtliche Elemente betrifft.

Da im Vertragsverletzungsverfahren kein "klassisches" Rechtsverhältnis existiert23 , kann man schwerlich eine materiellrechtliche Theorie befürworten. Es bleiben also nur die prozeßrechtlichen Theorien. Man kann der zweigliedrigen Theorie folgen, also eine Spaltung des Streitgegenstandes in "petitum" (Antrag bzw. Feststellungsantrag) und in "causa petendi" annehmen. Causa petendi ist der Verstoß des konkreten staatlichen Aktes gegen bestimmte Normen des Gemeinschaftsrechts 24 • Aber diese Spaltung scheint überflüssig zu sein. Denn der EuGH beschränkt sich darauf, nur die Vertragsverletzung festzustellen, ohne die Möglichkeit zu haben, die Pflicht des das Gemeinschaftsrecht verletzenden Staates festzuhalten, Maßnahmen zu ergreifen 25 • Der Antrag kann nur ein Feststellungsantrag sein. Nur wenn der EuGH die Möglichkeit des Erlasses sowohl eines Feststellungsurteils als auch eines Verpflichtungsurteils hätte, käme dem Antrag und dem Rechtsschutzbegehren Bedeutung zu und sie könnte dann bestimmendes Element des Streitgegenstandes sein. Da aber nur ein Antrag auf Feststellung der Vertragswidrigkeit des staatlichen Handeins zulässig ist, sind unentbehrliche Elemente des Streitgegenstandes lediglich die Normen des EWG-Rechts, die den Prüfungsmaßstab bilden, und die vertragswidrigen staatlichen Akte, die den Prüfungsgegenstand bilden. aa) Prüfungsmaßstab Es fragt sich, welche Normen den Prüfungsmaßstab bilden. Sind es die vorgetragenen konkreten Normen, eine erweiterte Kategorie von Normen oder das ganze EG-Recht? 21 Beys, Einführung, S. 123; Kerameus, ZPR, Bd. 2, S. 55; SteinfJonas/ Schumann/Leipold, § 322, Anm. VI 5; a.A. Kondylis, Rechtskraft, S. 193fT. Dazu kritisch Calavros, Gegenstand, S. 433 tT. 22 Auch über Zulässigkeitsfragen kann rechtskräftig entschieden werden; vgl. § 4 II 2 c). Die materielle Rechtskraft erstreckt sich dann nur auf diese Frage. Der Entscheidungsgegenstand, den die Zulässigkeitsfragen bilden, ist aber ohne Bedeutung für die positive und negative Funktion der materiellen Rechtskraft, wenn das Gericht über das materielle Rechtsverhältnis entschieden hat. Vgl. auch Calavros, a.a.O., S. 433/434. 23 Siehe§ 4 IV, 1. 24 Gutsche, Die Bindungswirkung, S. 35ff. 25 Siehe § 9 I.

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Es existieren folgende Möglichkeiten: (a) Prüfungsmaßstab ist das ganze Gemeinschaftsrecht. Eine solche Ansicht könnte sich auf den auch für den EuGH geltenden Satz "jura novit curia" und weiter auf die Pflicht des Gerichtshofes zur Wahrung des gesamten Gemeinschaftsrechts (vgl. Art. 164 EWGV) stützen. (b) Prüfungsmaßstab sind alle primären und sekundären Vorschriften, die demselben Normenkomplex (z.B. Vorschriften, die den freien Warenverkehr betreffen) wie die vorgetragenen primären Normen angehören, oder die primären Vorschriften, die durch die vorgetragenen sekundären Vorschriften konkretisiert werden. (c) Prüfungsmaßstab sind alle Vorschriften, die aufgrunddes Charakters des staatlichen Aktes in Betracht kommen (z.B. kann ein Gesetz, welches das Gebot der Gleichbehandlung von Männern und Frauen verletzt, gleichzeitig gegen die Niederlassungsfreiheit oder die Dienstleistungsfreiheit verstoßen, nie aber gegen den freien Warenverkehr). (d) Prüfungsmaßstab sind lediglich die vorgetragenen Vorschriften. Es ist sicher, daß der EuGH nicht an die vorgetragenen Vorschriften gebunden sein soll. Der objektive Charakter des Verfahrens (Wahrung nicht nur der Rechte des jeweiligen Antragstellers, sondern auch der Rechte der gesamten Gemeinschaft), den auch Art. 164 EWGV betont, begründet eine Pflicht zur umfassenden Prüfung der Rechtslage. Aber die Komplexität des EG-Rechts und die schnelle Vermehrung des sekundären Rechts infolge der Rechtssetzungskompetenz des Rates und der Kommission, machen eine Prüfung des ganzen Gemeinschaftsrechts besonders schwierig, wenn man auch die Geschäftsbelastung des EuGH in Betracht zieht. Der EWG-Vertrag, der ein Initiativmonopol der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten vorsieht und ihnen auf diese Weise die Möglichkeit der Bestimmung nicht nur des Prüfungsgegenstandes, sondern auch des Prüfungsmaßstabes gibt, erlaubt einen relativ abstrakten Prüfungsmaßstab: Prüfungsmaßstab sind nicht nur die konkret vorgetragenen Vorschriften, sondern alle Vorschriften, die aufgrunddes Charakters der vorgetragenen Normen oder des staatlichen Aktes in Betracht kommen (Kombinationen von b und c) 26 • Dieser Maßstab hält die Parteien an, den rechtlich relevanten Prozeßstoff richtig abzuschätzen und rechtzeitig vorzutragen, mit der Folge der Konzentration des Prozesses27 , der schnellen Aufklärung der Sache und endlich der Beschleunigung des Verfahrens und der Förderung der Prozeßökonomie27 •. 26 Vgl. auch Karpenstein in Grabitz, Art. 169, Rn. 37, 38; a.A. Daig in Groeben/Ehlermann, Art. 169, Rn. 12 und 19; Amphoux, Les Novelles, Anm. 1055. 27 Stein f JonasjSchumann/Leipold, § 322, Anm. VI 5. 27 • Auch im Rahmen des Art. 21 EuGVÜ wird für die Bestimmung des Begriffes der Rechtshängigkeit ein relativ abstrakter Streitgegenstand angenommen: Trotz der unterschiedlichen Klageanträge, die vor den Gerichten zweier Vertragsstaaten gestellt werden, besteht Identität der Streitgegenstände und infolgedessen wird der später gestellte Antrag

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Nunmehr ist noch zu prüfen, ob der Prüfungsmaßstab des Entscheidungsgegenstandes mit dem des Streitgegenstandes identisch ist 28 • Diese Prüfung hat davon auszugehen, daß der Entscheidungsgegenstand in Rechtskraft erwächst und daher jede neue Klage, soweit ihr Streitgegenstand vom alten Entscheidungsgegenstand gedeckt wird, unzulässig ist 29 • Für einen relativ oder gar gänzlich abstrakten Prüfungsmaßstab sprechen Prozeßökonomie und Sicherung des Rechtsfriedens. Eine neue Klage, die denselben erweiterten Entscheidungsgegenstand betrifft, ist unmöglich. Der Versuch, künftige voraussichtliche Rechtsstreitigkeiten über Fragen auszuschließen, die noch nicht explizit Gegenstand eines Streites waren, führt indessen zur Rechtsverweigerung. Der Prozeß sollte nicht nur als ein notwendiges Übel betrachtet werden, er ist auch ein institutionalisiertes Verfahren, dessen kontradiktorischer Charakter und andere Verfahrensgarantien den effektiven Rechtsschutz sichern. Daher erscheint beim Entscheidungsgegenstand die konkrete Bestimmung des Prüfungsmaßstabes erwägenswert: Prüfungsmaßstab sind nur die im Urteil festgestellten Normen des Gemeinschaftsrechts. Für eine solche Bestimmung sprechen: (a) Die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs 30 • Die Parteien haben ein Äußerungsrecht nicht nur hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen. Sie sollen auch die Möglichkeit haben, sich zur Bedeutung des juristischen Obersatzes und zu den Subsumtionsmöglichkeiten des konkreten Sachverhaltes zu äußem 31 • Würde der Entscheidungsgegenstand auch Normen umfassen, zu denen die Parteien keine Äußerungsmöglichkeit hatten, dann müßte diese als unzulässig zurückgewiesen, wenn sich beide Anträge auf dasselbe Vertragsverhältnis stützen. (Vgl. EuGH, Urteil vom 8.12.1987, Rs 144/ 86, RIW 1988, 818ff., dazu Kerameus/Kremlis/Tagaras, EuGVÜ, Art. 21, R. 5, 6; Corte d'appello di Milano, Urteil vom 26.1.1978, Il Foro Padano 1978, I, 393. Vgl. aber auch BGH, Urteil vom 9.10.1985, IPRaX 1987, 314ff.) Durch den weiten Umfang des für die Rechtshängigkeit maßgeblichen Streitgegenstandes wird die Gefahr einer Verweigerung der Anerkennung im Ausland einer in einem Vertragsstaat erlassenen Entscheidung vermieden, die aufgrund einer im Anerkennungsstaat vorliegenden, mit ihr unvereinbaren Entscheidung entstanden wäre. Dies hätte die Beeinträchtigung der Ziele des Übereinkommens zu Folge (vgl. auch Kaye, Civil Jurisdiction, S. 1219, EuGH, Urteil vom 8.12.1987, a. a. 0 ., 820), das aufdie Erleichterung der Freizügigkeit von Entscheidungen innerhalb der Gemeinschaft und die Verstärkung des Rechtsschutzes gerichtet ist. Es handelt sich also um einen Streitgegenstandsbegriff, der dem System und der Teleologie des EuGVÜ entspricht und ohne Einfluß für das Vertragsverletzungsverfahren ist, dessen relativ abstrakter Streitgegenstand die Konzentration des Prozeßmaterials und die Förderung der Prozeßökonomie als Ziele hat. 28 Für den Zivilprozeß wird die Ansicht vertreten, für die Bildung des Streitgegenstandes genüge der Klageantrag, für die des Entscheidungsgegenstandes sei aber auch der vom Gericht geprüfte Lebenssachverhalt unerläßlich. Daher ist der Streitgegenstand umfangreicher als der Entscheidungsgegenstand. Dazu vgl. Stein / Jonas/Pohle, Ein!. E III 2d; Lent, ZZP 72, 63ff.; Brox, JuS 1962, 124; Schwab, Streitgegenstand, S.161 / 162, 186, 190ff.; Motulsky, Ecrits, I, S. 201, 206, 226; Calavros, Gegenstand, S. 428. 29 Vgl. § 4 IX 2 b). 30 Über diesen Grundsatz vgl. Baur, AcP 153, 393; Zeuner, FS Nipperdey, 1013. 31 Siehe § 3 II 1.

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§ 4 Materielle Rechtskraft

Bestimmung des Entscheidungsgegenstandes das Gebot der Gewährleistung rechtlichen Gehörs verletzen. (b) Die sich aus dem Artikel 164 EWGV ergebende Vermutung, daß der EuGH alle gemeinschaftsrechtlichen Normen, die er prüft, und nur sie im Urteil erwähnt. Die Prüfung von Normen ohne deren unmittelbare oder mittelbare Erwähnung im Urteil ist mit der Pflicht des Gerichts zur umfassenden Wahrung des Gemeinschaftsrechts (Art. 164 EWGV) schwer vereinbar. Man könnte zwar behaupten, die Feststellung des Verstoßes nur gegen einige Vorschriften des Gemeinschaftsrechts bedeute e contrario diejenige der Nichtverletzung der anderen 32 - soweit sie dem relativ abstrakten Prüfungsmaßstab, der im Rahmen des Streitgegenstandes maßgeblich sei, angehören. Das ist aber wiederum mit dem Prinzip des rechtlichen Gehörs nur schwer vereinbar. Außerdem ist der Umkehrschluß bei der Feststellung der Vertragsmäßigkeit noch fragwürdiger. (c) Die Rechtsklarheit. Es ist schon erwähnt 33 , daßdie Konkretisierung der Pflicht des verletzenden Staates, Maßnahmen zu ergreifen, nicht nur von dem staatlichen Akt, sondern auch von den verletzten Vorschriften abhängt. Wenn aber diese Vorschriften und damit auch deren Charakter und Tragweite unklar bleiben, ist es unmöglich, diese Pflicht zu bestimmen bzw. zu konkretisieren. (d) Der zwischen Rechtsfolgen bestehende Zusammenhang. Der rechtliche Zusammenhang, der die präjudizielle Wirkung des Urteils begründet, setzt genauerechtliche Qualifikation der Prüfungsnormen voraus 34 • Nur unmittelbar anwendbare Vorschriften begründen z.B. die Schadensersatzklage des Gemeinschaftsbürgers vor den staatlichen Gerichten. Weiter verlangt der Zusammenhang zwischen Tenor und Urteilsgründen oder zwischen den verschiedenen Teilen der Urteilsgründe eine konkrete Bestimmung des Prüfungsmaßstabs (z.B. deckt die Einrede der öffentlichen Ordnung und Sicherheit [Art. 36 EWGV] nur Maßnahmen, die gegen die Art. 30-34 EWGV verstoßen). (e) Vermeidung einer unnötigen Belastung des vertragswidrig handelnden Mitgliedstaates. Wenn der Prüfungsmaßstab abstrakt ist, so ist der Wiedererlaß des angefochtenen Aktes ohne die Teile, die gegen die geprüften Normen verstoßen, besonders schwierig35 . Es ist aber möglich, daß dieser Akt vitale Interessen des Mitgliedstaates betrifft und sein Wiedererlaß von besonderer Bedeutung für sein Leben ist. (f) Das Gebot der speziellen Urteilsbegründung. 32 Umkehrschluß, der wieder in Artikel 164 EWGV seine Wurzel hat. Gegen den Umkehrschluß in ähnlichen Fällen Pohle ZZP 77, 98fT. 33 Siehe § 4 III 2, 3. 34 SteinfJonas/Schumann/Leipold, § 322, Anm. VI 6 b, . 35 Vgl. Kontogiorga-Theocharopoulou, Dike 14, 364fT.

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Der abstrakte Prüfungsmaßstab ist mit dem Gebot der speziellen Begründung der Urteile unvereinbar. Spezielle Begründung heißt ausführliche Bestimmung der Normen, die angewendet werden, und für die Durchsetzung des Urteils und seine präjudizielle Funktion von ganz besonderem Gewicht sind. Es ist also ein konkreter Prüfungsmaßstab zu befürworten; er wird durch die im Urteil als (nicht) verletzt festgestellten Vorschriften umschrieben 36 • Den Prüfungsmaßstab bilden unstreitig die Normen des primären (Vertragsvorschriften, allgemeine Rechtsgrundsätze) oder des sekundären (Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen) Gemeinschaftsrechts37 • Strittig ist die Einbeziehung von Verträgen in den Prüfungsmaßstab, die von den Mitgliedsstaaten zur Verwirklichung der Zwecke des EWG-Vertrages geschlossen worden sind (vgl. Art. 220 EWGV). Es wird behauptet, der enge Zusammenhang zwischen den verletzten Vorschriften und den Zielen des EWG-Vertrags könne eine Klage nach Art. 169fT. EWGV begründen 38 • Nach anderer Ansicht sind aber diese Verträge reine Verträge des Völkerrechts, so daß auf ihre Verletzung das Vertragsverletzungsverfahren nicht gestützt werden kann 39 • bb) Prüfungsgegenstand

( a) Allgemeines Der staatliche Akt, der das EG-Recht verletzt, kann positive Handlung ("comportement positif') oder Unterlassung ("abstention")40 sein. Die positive Handlung kann eine Handlung sowohl der Verwaltungs- und Gesetzgebungsorgane als auch der Gerichte sein41 • Die Unterlassung kann entweder in der Nichtumsetzung von Gemeinschaftsrecht (besonders Richtlinien) in innerstaatliches Recht oder in der Nichtaufhebung rechtswidriger staatlicher Akte (Verwaltungsakte, Gesetze) 42 bestehen. Die Qualität der innerstaatlichen Organe, die rechtswidrig handeln, spielt dabei keine Rolle - auch das Tun oder Unterlassen unabhängiger Organe kann eine Vertragsverletzung begründen43 • 36 So Gutsche, Bindungswirkung, S. 35fT.; Matthies, Festschrift für Hallstein, S. 318; a.A. Bleckmann, Europarecht, S. 191; vgl. auch Michelakis, EEN 19, 753fT.; Dagtoglou, S. 137; Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 199. 37 Joliet, S. 431; Daig in Groeben / Ehlermann, 169, Rn. 37. 38 Pescatore, SEW 1966, 583 I 584. 39 Schwarze, JDI 1978, 787. 40 Joliet, S. 25; Waelbroeck, RCJB 1971, 513; Waelbroeck/Vandersanden, Art. 169, Nr. 5. 41 Hermann,§ 111; Teitgen, S. 431;Joliet, S. 25fT.; Eynard, Riv. Dir. Eur.1970, 95fT.; Pescatore, Foro Padano 1972, 9fT.; Goffin, Melanges Dehousse II, S. 211 ff. Die Durchsetzung des Urteils kann aber bei richterlicher Unabhängigkeit des staatlichen Organs in Schwierigkeiten geraten. Dazu Ehlermann, Festschrift für Kutscher, S. 153; Karpenstein in Grabitz, Kommentar, Art. 169, Rn. 15. 42 Joliet, S. 25ff.

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§ 4 Materielle Rechtskraft

( b) Zeitpunkt der endgültigen Bestimmung des Prüfungsgegenstandes

Nach herrschender Meinung maßgeblich ist der Zeitpunkt der Beendigung des Vorverfahrens44 , also der Termin, in dem die Frist, die die Kommission dem Staat gesetzt hat, damit er ihrer Stellungnahme nachkomme (vgl. Art. 169 EWGV), fruchtlos verstrichen ist; nach anderer Ansicht aber der Zeitpunkt der Klageerhebung45 • Wenn der Staat nach diesem Zeitpunkt die vertragswidrigen Maßnahmen aufhebt, wird u.U. die (frühere) Vertragsverletzung trotzdem festgestellt46 . ( c) Änderung des Prüfungsgegenstandes nach dem Schluß des Vorverfahrens

Was geschieht aber, wenn der Staat den Akt nicht aufhebt, sondern nur ändert, ohne durch diese Änderung aber seinen vertragswidrigen Charakter zu beseitigen? Entsteht ein neuer Akt bzw. eine neue Vertragsverletzung und muß deshalb ein neues Verfahren in Gang gesetzt oder kann das schon anhängige Verfahren zu Ende gebracht werden? Im letzteren Fall stellt sich dann die weitere Frage, ob Prüfungsgegenstand der Akt in der Form zum Zeitpunkt des Endes des Vorverfahrens oder der Akt in der Form nach der Änderung ist. 43 Isaac, S. 271; Karpenstein in Grabitz, Kommentar, Art. 169, Rn. 12; Rs 8/70, Slg XVI, 961; Rs 77169, Slg XVI, 237; GA Reischl, Rs 44180, Slg 1981, 343. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes kann sich ein Mitgliedstaat nicht auf Bestimmungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen, um die Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts zu rechtfertigen. Dazu vgl. EuGH, Urteil v. 15.1.1987, Rs. 365 I 85; EuGH, Urteil v. 12.2.1987, Rs. 69186; EuGH, Urteil v. 12.3.1987, Rs. 9186. 44 Tizzano, CDE 1966, 431; Waelbroeck, RCJB 1971, 517; Rs 26169, Slg XVI, 565. 45 Rs 7169, Slg 1970, 565; GA Mayras, Rs 30172, Slg 1973, 179; GARoemer, Rs 79172, Slg 1973, 675. 46 Der maßgebliche Zeitpunkt für die endgültige Bestimmung des Streitgegenstandes hängt vom Zweck des Vertragsverletzungsverfahrens ab. Zweck des Vertragsverletzungsverfahrens ist sowohl die vollständige Beseitigung des konkreten Verstoßes als auch die Vermeidung künftiger Vertragsverletzungen. Deshalb besteht trotz der Beseitigung der vertragswidrigen Maßnahmen das Interesse der Gemeinschaft für ein klärendes und präjudiziell wirkendes Urteil fort, so daß eine Erledigung der Hauptsache zu verneinen ist. Die Beseitigung des Verstoßes nach dem Ende des Vorverfahrens bzw. im Zeitpunkt der Klageerhebung ist kein erledigendes Ereignis. Dazu Ehlermann, S. 23; Beutler I Streil, S. 207; Bandell, S. 80; Waelbroeck i Vandersanden, Art. 169, Anm. 14; Tizzano, CDE 1966, 431; Waelbroeck, RCJB 1971, 513; Rs 7/61, Slg 1961, 715; Rs 39172, Slg 1973, 112; Rs 167 I 73, Slg 1974, 359; Rs 69 I 77, Slg 1978, 1749; Rs 39 I 72, Slg 1973, 101; GA Verloren van Themaat, Rs 170/78, Slg 1983, 2265; GA Mayras, Rs 30172, Slg 1973, 161 ; GA Roemer, Rs 79172, Slg 1973, 667. Nach Daig fehlt aber (in GroebeniEhlermann, Art. 169, Rn. 29), wenn keine Wiederholungsgefahr mehr existiert, das Rechtsschutzbedürfnis für eine Weiterverfolgung der Klage. Vgl. auch Karpenstein in Grabitz, Kommentar, Art. 169, Rn. 18, 58; Kommission, ABI C 1976, 305121, die aber die Bedeutung des Prozesses für die Lösung einer Rechtsfrage für maßgeblich hält.

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Wenn der Akt inhaltlich47 derselbe bleibt und wenn infolge dieser inhaltlichen Ähnlichkeit keine Änderung der Subsumtionsmöglichkeiten unter die anzuwendende Gemeinschaftsnorm gegeben ist; wenn nicht andere Prüfungsmaßstäbe in Betracht kommen, die zu einer Überschreitung des relativ abstrakten Prüfungsmaßstabes führen, und wenn die Maßnahmen, die zu ergreifen sind, dieselben bleiben, dann ist kein neues Verfahren notwendig48 • Die Gewährleistung der Verteidigungsrechte des Beklagten ist gesichert49 • In diesen Fällen wird der Prüfungsgegenstand inhaltlich zum Zeitpunkt der Beendigung des Vorverfahrens oder der Klageerhebung festgelegt. Nur die genaueForm des Aktes wird erst im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bestimmt. ( d) Minderung der Vertragswidrigkeit nach dem Schluß des Vorverfahrens

Problematisch ist die Situation, wenn die Änderung der staatlichen Handlung eine Minderung der vertragswidrigen Folgen bedingt. Hier kann man mit Recht behaupten, daß nicht nur eine formelle Änderung, sondern auch eine inhaltliche Umgestaltung vorliegt. Ist nun wieder das ganze Verfahren in Gang zu setzen, um die neue Vertragsverletzung, genauer: die schwächere bzw. mindere Vertragsverletzung festzustellen? Der EuGH 50 hat diese Lösung mit der Begründung bejaht, daß wegen der Bedeutung, die das EWG-Recht der Klage beimesse, die Garantien des Vorverfahrens unabänderlich seien. Wegen der Änderung des Streitgegenstandes sei das neue Ingangsetzen des ganzen Verfahrens notwendig, weil nur auf diese Weise die Verteidigungsrechte des Beklagten 51 gewährleistet würden. 47 Für ein inhaltliches Kriterium Lüke, JuS 1967, 1 fT.; a.A. Andre, EuR 1967, 111. Vgl. auch Schubert, ZZP 85, 29fT., der meint, zum Streitgegenstand einer Unterlassungsklage gehörten nur die Nachahmungen des verbotenen Aktes. Seine Argumente, die sich hauptsächlich gegen die sogenannte "Kemtheorie" wenden, sind aber für das Vertragsverletzungsverfahren nicht stichhaltig, obwohl die Feststellung der Vertragswidrigkeit zur Pflicht der Unterlassung des vertragswidrigen Aktes führt (vgl. Art. 171 EWGV). Die einschlägigen Kriterien, welche die Notwendigkeit der Eröffnung eines neuen Prozesses bestimmen, dienen nicht nur der Prozeßökonomie, sondern garantieren auch einen erheblichen Grad von Rechtssicherheit Sie sind nur nicht einschlägig im Fall der absoluten Beschränkung des Angriffs auf eine konkrete Handlung; vgl. auch Rs 45 I 64, Slg 1965, 1125. 48 So Nass, DVBl 1970, 618; Daig in Groeben ( Ehlermann, Art. 169, Rn. 15; Waelbroeck/Vandersanden, Art. 169, Anm. 11b; Karpenstein in Grabitz, Kommentar, Art. 169, Rn. 42.. 49 Die Verteidigungsrechte des Beklagten sollen nicht nur im Rahmen des Hauptverfahrens, sondern auch im Rahmen des Vorverfahrens gesichert sein. Daher kann der Prüfungsgegenstand, wie er im Mahnschreiben der Kommission (Art. 169 Abs. 1 S. 2 EWGV) festgelegt worden ist, nicht mehr erweitert werden. Dazu Däubler, NJW 1968, 327; Ferriere, S. 42; Karpenstein in Grabitz, Kommentar, Art. 169, Rn. 39; Rs 211 / 81, Slg 1982, 4547; 133/80, Slg 1981, 3032. 50 Rs 7/69, Slg 1970, 111fT.; ähnlich Waelbroeck, RCJB 1971 , 513fT. und Waelbroeck/Vandersanden, Art. 169, Anm. 11b.

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Diese Lösung kann aber zu unbefriedigenden Folgen führen: Die Minderung der Vertragsverletzung macht das schon anhängige Verfahren nicht gegenstandslos. Wenn trotz der vollständigen Aufhebung der staatlichen Handlung immer die Möglichkeit des Erlasses eines die vergangene Vertragsverletzung feststellenden Urteils existiert 52 , muß konsequenterweise dasselbe auch für den vorliegenden Fall gelten. Nach der Meinung des EuGH soll aber wegen der Änderung eine neue Klage nach dem ersten Urteil bzw. während des ersten Verfahrens erfolgen können. Aufgrund des verschiedenen Streitgegenstandes kann die Einrede der Rechtshängigkeit oder der Rechtskraft nicht durchgreifen. Das aber führt zu einer unnötigen Belastung des Gerichtshofs-und erleichtert die Prozeßverschleppung durch den Beklagten. Er kann die Vertragsverletzung Stück für Stück zurücknehmen und auf diese Weise den Streit verewigen. Man hat daher zuerst zu prüfen, ob in diesen Fällen eine rechtlich relevante Änderung des Prüfungsgegenstandes vorliegt. Die Änderung ist dann ohne. Belang, wenn trotzder Schwächung der Vertragswidrigkeit der Prüfungsmaßstab, unter den der Prüfungsgegenstand subsumiert werden soll, sich nicht ändert; wenn weiter die Subsumtionsmöglichkeiten und Subsumtionsschwierigkeiten dieselben bleiben- das ist anzunehmen, falls nur einige vertragswidrige Folgen aufgehoben werden, es ist dagegen problematisch, falls eine starke Schwächung aller Folgen gegeben ist und sich die Handlung deshalb auf der Grenze zwischen Vertragswidrigkeit und Vertragsmäßigkeit bewegt-; und wenn sich schließlich die den Verstoß aufhebenden Maßnahmen nicht ändern. Wenn die Änderung bloß ein "minus" aber kein "aliud" ist, wird der·Prüfungsgegenstand von den schon vorgetragenen Verteidigungsmitteln gedeckt, der Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör ist also gesichert. In diesen Fällen, wo ein neues Verfahren keinen besonderen Legitimationsgrund hat, verbietet die Prozeßökonomie in Gestalt der Einrede der Rechtskraft oder der Rechtshängigkeit jede neue Klage 53 • In den anderen Fällen einer Verletzungsminderung, die zu einer qualitativen Änderung führt, ist dagegen eine neue Klage immer zulässig. Der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet weiterhin, den Parteien in diesen Fällen die Möglichkeit zu gewähren, ein Zwischenurteil (Art. 91, § 1 VerfO) zu beantragen, in dem festzustellen ist, ob ein neuer Prüfungsgegenstand anzunehmen ist, damit sie um die Zulässigkeit einer neuen Klage rechtzeitig wissen. Wenn kein neuer Prüfungsgegenstand vorliegt, stellt der Gerichtshof die ursprüngliche Vertragsverletzung fest 54 • Das entspricht auch dem effektiven Rechtsschutz der Gemeinschaftsbürger, die ein großes Interesse an der präjudiGA Roemer, Rs 7/69, Slg 1970, U9; Waelbroeck, RCJB 1971,517. Tizzano, CDE 1966, 431; Waelbroeck, RCJB 1971, 517; Rs 26/69, Slg XVI, 565. 53 Daig in Groeben/Ehlermann, Art. 169, Rn. 22, befürwortet aber im Falle der Teilaufhebung der vertragswidrigen Maßnahmen innerhalb der Frist die Zulässigkeit einer neuen Klage. Dasselbe sollte nach dieser Ansicht konsequenterweise auch im Fall der Teilaufhebung nach dem Fristablauf gelten, weil sich der Staat vor der Stellungnahme und der Fristsetzung über die Vertragswidrigkeit äußert. 54 Vgl. auch Becking, Normaufbau, S. 122. 51

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zieHen Wirkung der Feststellung der ursprünglichen, ihre Rechte berührenden Vertragsverletzung haben. Der Staat hat aber das Urteil nur teilweise zu befolgen, soweit ein Teil der ursprünglichen Vertragsverletzung schon aufgehoben ist. Diese Merkwürdigkeit ist durch den besonderen Charakter des Urteils zu erklären. Es ist ein Urteil, das der Aufhebung des Vertragsverstoßes, aber auch der Rechtsklarheit, der Vermeidung künftiger Vertragsverletzungen und dem effektiven Individualrechtsschutz dient. ( e) Anwendung derselben Kriterien auch im Fall der Äruierung des Prüfungsmaßstabes

Zur Frage der Änderung des Prüfungsmaßstabes- ein Problem, das bisher in der Rechtsprechung des EuGH noch nicht aufgetaucht ist - gelten ähnliche Überlegungen. Wenn nach dem Ende des Vorverfahrens die sekundäre Vorschrift aufgehoben wird, bietet sich die Analogie zur Lösung im Fall der Aufhebung des staatlichen Aktes an; die Möglichkeit der Feststellung vergangener Rechtswidrigkeit ist zu befürworten. Wenn aber die Vorschrift nur geändert wird und diese Änderung keine praktische Konsequenz verursacht - d.h. die zu ergreifenden Maßnahmen und die Subsumtionsschwierigkeiten bleiben dieselben -, ist das schon laufende Verfahren fortzusetzen. Wieder spielt die inhaltliche Ähnlichkeit die entscheidende Rolle. cc) Bestimmung des Streitgegenstandes durch den Antragsteller Prüfungsmaßstab und Prüfungsgegenstand werden hauptsächlich vom Antragsteller bestimmt. Der Antragsgegner 55 kann nur Gemeinschaftsnormen, die seine Einreden begründen, vortragen. Die Beigetretenen können Prüfungsmaßstab und Prüfungsgegenstand nicht beeinflussen. Da ihre Intervention nur Nebenintervention sein kann 56 , ist jeder Antrag auf Feststellung des Verstoßes gegen andere Vorschriften unzulässig. 2. Versuch einer Subjektivierung des Streit- und Entscheidungsgegenstandes

Im Organstreit und im Bund-Länderstreit vor dem Bundesverfassungsgericht wird angenommen, daß Vorschriften des GG, deren Verletzung gerügt wird, Rechte und Pflichten 57 (Kompetenzen, Zuständigkeiten) der Organe, des Bundes oder der Länder begründen. Auch auf der Ebene des Gemeinschafts55 Encyclopedie Dalloz, procedure civile, chose jugee, Anm. 170 und Auby: MeJanges Waline, S. 271 nehmen eine Bestimmung des Streitgegenstandes auch von Seiten des Beklagten an. 56 Vgl. Art. 37 S. 3 Satzung des Gerichtshofs. 57 Maunz/Uisamer, BVerfGG, § 64, Rn. 5; BK/Stern, Art. 93, Rn. 183; Goessl, Organstreitigkeiten, S. 73; Lorenz, S. 258; Pestalozza, S. 63.

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rechts kann man annehmen, daß seine Normen Rechte und Pflichten sowohl der Gemeinschaft als auch der Mitgliedstaaten begründen. Streit- und Entscheidungsgegenstand ist also die Feststellung der Verletzung nicht nur des objektiven Gemeinschaftsrechts, sondern auch der subjektiven Rechte der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten, die sich aus den verletzten Vorschriften ergeben. Allerdings werden keine Rechtsschutzbehauptung und kein Rechtsschutzbedürfnis als Zulässigkeitsvoraussetzung verlangt 58 ; dies, weil die Gefahr der Popularklage 59 nicht existiert: die Gemeinschaftsbürger könnenVertragsverletzungen nicht vor dem EuGH geltend machen. Das Gemeinschaftsrecht, das die Interessen der Gemeinschaft schützt und fördert, begründet einen Anspruch der Gemeinschaft auf eine dem Inhalt der Norm entsprechende positive Handlung oder Unterlassung. Gleich liegt der Fall, wenn Interessen der Mitgliedstaaten betroffen sind. Der objektive Charakter des Verfahrens ändert daran nichts 60 • Das Prozeßrecht kann das Verfahren den eigenen Bedürfnissen und der eigenen Systematik entsprechend gestalten. Der objektive Charakter des Verfahrens- d.h. der jeweilige Kläger erscheint nicht als Inhaber eigener Rechte, sondern als Funktionär des objektiven Gemeinschaftsrechts-will die Souveränität der Mitgliedstaaten 61 und die Zusammenarbeit zwischen ihnen und der Gemeinschaft schützen. Diesem objektiven Charakter entsprechen die Zulässigkeitsvoraussetzungen. Daher ist auch kein Rechtsschutzbedürfnis des jeweiligen Klägers notwendig. Das hindert aber die Annahme von Ansprüchen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten 62 im materiellen Gemeinschaftsrecht nicht. 3. Rechtskrafterstreckung über den ursprünglichen Streitgegenstand binaus

a) Rechtskrafterstreckung ohne ausdrücklichen Spruch des Gerichtshofs

Wenn nur ein Teil des Anspruchsgegenstandes geltend gemacht wird, kann nach verbreiteter Meinung auch der Rest unter bestimmten Voraussetzungen 58 Daig in Groeben(Ehlermann, Art. 169, Rn. 22; Waelbroeck(Vandersanden, Art. 169, Anm. 11a. 59 Wegen dieser Gefahr ist eine Rechtsschutzbehauptung im Organsteit notwendig. Vgl. Maunz/Uisamer, BVerfGG, § 64, Rn. 4. 60 Ähnlich Lorenz, S. 528 für den Fall des Organstreites. 61 Ähnlich Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 199, für den Organstreit 62 Art. 93, II EWGV, der als "Iex specialis" gegenüber Art. 169, 170 EWGV auch für das Vertragsverletzungsverfahren gilt, spricht von durch rechtswidrige Maßnahmen "betroffenen" Staaten. Dieselbe Betroffenheit durch Vertrag begründeter Rechte der Mitgliedstaaten kann aber auch in Verfahren nach Art. 169, 170 EWGV existieren. Ein Staat ist nie verpflichtet, im Gegensatz zu der Kommission, das Vertragsverletzungsverfahren in Gang zu setzen. (Vgl. Daig in Groeben / Ehlermann, Art. 169, Rn. 22). Niemand ist gezwungen, seine eigenen Rechte zu schützen. Wir haben eine Annäherung an den Grundsatz ,jus civile Vigilantibus scripturn est". Das ,jus civile" begründet subjektive Rechte.

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durch Urteil aberkannt werden. So wird vertreten, das teilweise stattgebende Urteil erkenne den Rest ab, weil der Kläger die Teilklage zu seinem eigenen Vorteil benutzt habe 63 (Minderung des Risikos und der Kosten). Nach anderer MeinungM verliert der Kläger nur alles, wenn die Klage ohne den Vorbehalt65 der Teilklage erhoben und als unbegründet abgewiesen wird; in diesem Fall werde der ganze Anspruch aberkannt. Nach herrschender Meinung wird aber nur rechtskräftig entschieden, was im Urteil Erwähnung gefunden hat 66 • Den verfahrensrechtlichen Konsequenzen, die eine Teilklage hat, entspricht die auf den vorgetragenen Anspruchsteil beschränkte Rechtskraft 67 • Der Richter kann etwas Nichtverlangtes nicht zuerkennen ("ne eat judex ultra petita partium") und konsequenterweise auch nicht aberkennen 68 • Der Dispositionsgrundsatz steht der gegenteiligen Ansicht entgegen. Die Aberkennung des Restes ergibt sich nicht notwendig aus der Zuerkennung eines Teils. Die Abhängigkeit der Rechtskrafterstreckung vom Mangel des Vorbehalts ist auch mit dem Gleichheitssatz schwer zu vereinbaren. Die Prozeßökonomie allein kann diese Rechtskrafterstreckung nicht rechtfertigen 69 • Eine solche Rechtskrafterstrekkung ist folglich auch für das Vertragsverletzungsverfahren zu verneinen. Der Grundsatz "ne eat judex ultra petita partium" gilt auch im Vertragsverletzungsverfahren. Das Gericht hat das Gebot der klaren Abfassung und der ausführlichen Begründung seinerUrteile zu beachten und deshalb sollte es zu jedem geprüften und entschiedenen Element im Urteil Stellung nehmen. Wenn also der EuGH nach dem Vorbild des Vorabentscheidungsverfahrens (hier kann er die Vorlagefrage umgestalten und sie statt als konkrete als abstrakte behandeln) den Antrag des Klägers nach dessen "richtigem" Willen 70 ändern und die falschlieherweise nicht vorgetragenen Teile der staatlichen Handlung in den Streit- und Entscheidungsgegenstand einbeziehen will, dann soll er mindestens das Ergebnis seiner Prüfung im Urteil klar erwähnen. Sonst bestehen erhebliche Probleme bei der Bestimmung des Inhalts stillschweigender Feststellung. Ist sie z.B. Vertragswidrigkeltsfeststellung oder Vertragsmäßigkeitsfeststellung? Soll Umkehrschluß oder Analogie angewandt werden? Werden nur einige Teile - wenn ja, welche? - oder die ganze staatliche Handlung von der Rechtskrafterstreckung erfaßt? Was wäre das maßgebliche Kriterium der Erstreckung? Wenn der rechtliche und Bruns, S. 327. Jauemig, ZPR, S. 221/222. 6s BGHZ, 34, 337 (341). 66 Rosenberg/Schwab, § 156, Anm. III; Thomas/Putzo, § 322, Anm. 6a; Eyermann/Fröhler, § 121, Rn. 45; BGH, VersR. 1978, 52. 67 Stein / Jonas/Schumann/Leipold, § 322, Anm. VI 8. 68 Grunsky, Grundlagen,§ 47, Anm. IV 1, S. 504. 69 Pohle, ZZP 77, 98 ff. 70 Eine solche Lösung für die Überschreitung schlagen vor: Auby, Melanges Waline, S. 267 ("interpretation extensive de volonte mal formulee des parties"); Gabolde, S. 407 ff. 63

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logische Zusammenhang zwischen den vorgetragenen und den nichtvorgetragenen Teilen dieses Kriterium darstellt, zwischen welchen Teilen besteht er? Es ergeben sich also mehr Unsicherheiten und offene Fragen als sichere und konkrete Lösungen, und daher ist eine stillschweigende Rechtskrafterstreckung abzulehnen. b) Rechtskrafterstreckung durch ausdrücklichen Spruch des Gerichtshofs

Im Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht besteht die Möglichkeit, nicht angegriffene Vorschriften eines Gesetzes für nichtig zu erklären, wenn sie aus denselben Gründen wie die angegriffenen verfassungswidrig sind(§ 78 S. 2 BVerfGG). Es gibt auch die Möglichkeit der Nichtigkeitserklärung nicht angegriffener Vorschriften, wenn sie bei Nichtigkeitserklärung der angegriffenen keine selbständige Bedeutung mehr haben oder wenn das ganze Gesetz eine untrennbare Einheit bildet (die Teilnichtigkeit würde Sinn und Tragweite des Gesetzes zerstören 71 ) oder wenn der Gesetzgeber das Gesetz ohne die für nichtig erklärten Normen nicht verabschiedet hätte 72 • Auch in Frankreich existiert die Möglichkeit der Nichtigkeitserklärung (im Bereich des contentieux administratif) oder Verfassungswidrigkeitserklärung (contentieux constitutionel) nicht angegriffener Vorschriften, wenn das Gesetz oder die VO eine untrennbare Einheit bilden 73 • Diese Möglichkeit der ultra-petita-Entscheidung wird - obwohl für ein Gericht die Bindung an die Anträge der Parteien mehr geeignet ist 74 - gerechtfertigt mit dem objektiven Charakter des Verfahrens 75 , der Rechtssicherheit und Prozeßökonomie76 und der Respektierung der Unabhängigkeit des Gesetzgebers 77 , die durch die Teilnichtigkeit und die nachfolgende Änderung des Sinnes und der Tragweite des Gesetzes in Gefahr sei. Obwohl Rechtssicherheit und Prozeßökonomie Orientierungspunkte des Verfahrens vor dem EuGH sind, sollte man gegenüber der Möglichkeit erweiterter Vertragswidrigkeitserklärung vorsichtig und zurückhaltend sein. An 71 Maunz/Uisamer, BVerfGG, §§ 78, Rn. 24; BK/Stern, Art. 93, Rn. 300, 301; Pestalozza, S. 71; BVerfGE 5, 25, (340); 8, 274 (301); 22, 134 (152); 32, 157 (167); 61,43 (68); 61, 149 (206). 72 BVerfGE 4, 219 (250); 38, 187 (205). 73 Auby, Melanges Waline, S. 267; Chapus, Contentieux administratif, S. 377fT.; Philip, RDP 1979, 474; CC, 11 aout 1960, Les grandes decisions du CC, S. 94; CC, 17 decembre 1973, RDP 1974, 545; CC, 19/20 janvier 1981, RDP 1981, 692; CC, 25 fevrier 1982, RDP 1982, 1290; CC, 19f20juillet 1983, Rec. CC,49; CC, 18janvier 1985,J0du201-85; CE, 19 juin 1981, Rec. CE, 271. 74 Philip, RDP 1979, 474; Waline, RDP 1960, 1020; CC, 9 juillet 1959, Les grandes decisions du CC, S. 53. Vgl. auch Favoreu, RDP 1967, 107; Touffait, D 1974, 274; Philip, RDP 1974, 539. 75 BK/Stern, Art. 93, Rn. 300, 301; Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 308. 76 Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 308; MaunzjUlsamer, BVerfGG, § 78, Rn. 25. 77 Haak, S. 303; BK/Stern, Art. 93, Rn. 305; Philip, RDP 1979, 474.

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sich nicht vertragswidrige Normen können trotz enger Verbindung nicht vom Gerichtshof für vertragswidrig erklärt werden, soweit sie nicht selbst einen vertragswidrigen Charakter haben oder ihre abgeleitete Vertragswidrigkeittrotz Aufhebung des vertragswidrigen Teils fortbesteht. Jede weitergehende Lösung würde nicht nur die Unabhängigkeit der Staaten, sondern auch die rechtsstaatliehe Struktur der Gemeinschaft schwer verletzen. Auch die Feststellung der Vertragswidrigkeit selbständig vertragswidriger, aber nicht angegriffener Vorschriften kannProblerne für die Gewährleistung der Verteidigungsrechte des Beklagten verursachen. Die Grenzen des Prüfungsgegenstandes, auf die sich die Verteidigungsmittel des Beklagten konzentrieren, werden im Vorverfahren durch die Stellungnahme der Kommission bestimmt 78 • Jede Erweiterung des Prüfungsgegenstandes im Rahmen des anhängigen Verfahrens ist unmöglich. Die Gewährleistung der Rechte des Beklagten durch die Garantien des Vorverfahrens und des schriftlichen Teils des Hauptverfahrens (vgl. Art. 37 ff. VerfO) muß gewahrt bleiben. Wenn indessen nicht nur eine enge Verbindung, sondern eine große Ähnlichkeit zwischen den angegriffenen und nicht angegriffenen Vorschriften besteht, so daß die schon vorgetragenen Argumente des Beklagten auch für die Verteidigung der nicht angegriffenen Vorschriften gelten könnten, dann kann eine Erstreckung der Vertragswidrigkeitserklärung zulässig sein. In solchen Fällen wird aber die Anfechtung nur eines Teils der Vorschriften nicht so häufig sein. Problematisch ist noch der Fall, daß zwei oder mehrere staatliche Akte existieren und eine oder einige Handlungen eine andere Handlung konkretisieren. Wenn nur der abgeleitete individuelle staatliche Akt angefochten worden ist, bleibt zu fragen, ob der zugrundeliegende allgemeine Akt (z.B. Gesetz) auch für vertragswidrig erklärt werden kann 79 • Die schnelle und effektive Beseitigung jeder Vertragswidrigkeit verlangt die Vertragswidrigkeitserklärung auch des zugrundeliegenden Aktes, z.B. des Gesetzes, weil, solange das Gesetz existiert, es immer neue vertragswidrige individuelle Akte begründen kann. Jedoch machen die erwähnten Grundsätze zur Beeinträchtigung der Rechte des Beklagten und die Rechtsprechung des EuGH zur Erweiterung des Prüfungsgegenstandes eine solche Erstreckung der Vertragswidrigkeitserklärung unmöglich. Wenn aber umgekehrt nur der allgemeine Akt angefochten wird, können dann auch die Einzelmaßnahmen für vertragswidrig erklärt werden? In diesem Fall erscheint eine Erstreckung der Vertragswidrigkeitserklärung nicht notwendig, obwohl die Auslegung nach dem "richtigen" Willen des Klägers ergeben müßte, daß der Antrag stillschweigend auch die erlassenen Einzelmaßnahmen einschließt. Wenn die Einzelmaßnahmen f"ür vertragswidrig erklärt würden, hätte der Staat Rs 124/81; Slg 1983, 203; Rs 145 / 82, Slg 1983,711. § 95 III BVerfGG sieht die Möglichkeit der Nichtigkeitserklärung eines nichtangefochtenen Gesetzes vor, obwohl nur eine auf das Gesetz gestützte Einzelmaßnahme durch die Verfassungsbeschwerde angefochten worden ist. Diese Möglichkeit wird auch mit dem objektiven Charakter des Verfahrens begründet; dazu Fröhlinger, S. 209. 78 79

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die Pflicht, sie aufzuheben. Dieselbe Pflicht existiert aber schon bei Vertragswidrigkeitserklärung nur des Gesetzes. Der Staat muß dann nicht nur das Gesetz außer Kraft setzen, sondern auch die darauf gestützten Einzelmaßnahmen. Wenn dies nicht geschieht, wird dann der Einzelakt wegen Vertragswidrigkeit seiner rechtlichen Grundlage von den staatlichen Gerichten aufgehoben. Dasselbe würde auch im Fall seiner Vertragswidrigkeitserklärung geschehen. Nur wäre der Grund dann gesondert festgestellte Vertragswidrigkeit Dieser Unterschied ist aber unerheblich, weil in beiden Fällen die staatlichen Gerichte an die Feststellung der Vertragswidrigkeit des begründenden Aktes gebunden sind und infolgedessen auch die Einzelmaßnahmen aufheben müssen 80 • Eine Erweiterung des Entscheidungsgegenstandes zur Vertragswidrigkeitserklärung auch der abgeleiteten individuellen Maßnahmen scheitert also an mangelnder praktischer Bedeutung. VI. Subjektive Grenzen der materieDen Rechtskraft 1. Rechtskraft flir und gegen alle

Zum Teil wird vertreten, ein Urteil des EuGH im Vertragsverletzungsverfahren werde gegenüber allen ("erga omnes") rechtskräftig 1 . Für diese Ansicht sprechen folgende Argumente: a) Die besondere Bedeutung des Vertragsverletzungsverfahrens

Die Vertragsverletzung beschränkt sich nicht nur auf das Verhältnis des Klägers - sei es die Kommission oder ein Mitgliedstaat - zu dem Beklagten, sondern sie beeinflußt stark das Leben und die weitere Entwicklung der Gemeinschaft, sie betrifft die Interessen der Gemeinschaftsorgane, der Mitgliedstaaten und aller Gemeinschaftsbürger bzw. Individuen. Dieser Bedeutung entspricht auch das System der Klagebefugnis. Nicht nur die Popularklage Klage eines jeden, der sich als Wächter des Gemeinschaftsinteresses fühlt; Klage "cujus libet ex populo" - ist ausgeschlossen, vielmehr sind auch die in ihren Rechten verletzten Gemeinschaftsbürger vor dem Europäischen Gerichtshof nicht klagebefugt Als Kläger fungieren nur die Kommission und die Mitgliedstaaten. Diese haben entweder zur Aufgabe die Bewahrung des Gemeinschaftsrechts und sind zu diesem Zweck mit besonderen Zuständigkeiten ausgestattet 2 (Kommission), oder sie haben ein besonderes Interesse am reibungslosen Funktionieren der Gemeinschaft und sind gleichzeitig verpflichtet, hierzu so Siehe§ 4 VI 3. 1 Plouvier, Decisions, S. 217; Vandersanden(Barav, S. 124; Bülow, AWD 1963, 163fT.; Kroustalakis, Dikeosini 1988, 1027. 2 Nach Art. 213 EWGV kann die Kommission zur Erfüllung der ihr übertragenen Aufgaben alle erforderlichen Auskünfte einholen.

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beizutragen (Mitgliedstaaten)3. Sie sind am besten geeignet, einen Prozeß zu führen, der von großer Bedeutung für die Allgemeinheit ist4 • Sie sind die "legitimi contradictores", deren Prozeßführung zu - für jedermann bindenden Ergebnissen führen darf. Eine Rechtskraftwirkung "erga omnes" dient weiter der Prozeßökonomie und der Rechtssicherheits. Außerdem werden auch einander widersprechende Urteile vermieden. Eine solche Funktion der Rechtskraft wäre von besonderer Bedeutung, weil im Vertragsverletzungsverfahren keine Frist für die Klageerhebung besteht. Gegen eine Rechtskraftwirkung "erga omnes" steht aber das Gebot der Gewährleistung rechtlichen Gehörs 5 8 • Dritte, die an das rechtskräftige Urteil gebunden wären, ohne ihre Argumente vortragen zu können, würden aufgrund der Rechtskraftwirkung die Möglichkeit des Gehörs verlieren 6 ; auch ihre Klage wäre unzulässig ("ne bis in idem"). Wenn das vertragswidrige Verhalten eines Mitgliedstaates viele verschiedene Interessen beeinträchtigen kann, ist die Möglichkeit für jeden Träger des beeinträchtigten Interesses, für sich selbst zu jedem beliebigen Zeitpunkt- es besteht keine Frist für die KlageerhebungRechtsschutz zu beanspruchen, die konsequentere Folge 7 • Endlich wäre der Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit unzutreffend gelöst. Die allgemeine Bindung an ein falsches Urteil wäre so unerträglich, daß das Gebot der Rechtssicherheit sie nicht mehr rechtfertigen kann. b) Die Drittwiderspruchsklage

Man kann weiter für eine "erga omnes" Wirkung mit dem Institut der Drittwiderspruchsklage (Art. 39 Satzung EuGH) argumentieren: Ein "inter partes"-Rechtskraft bewirkendesUrteil könnte Rechte Dritter nicht beeinträchArt. 5 EWGV. Aufgrunddessen nehmen Bleckmann, Les recours des individus, S.115 und VandersandenjBarav, S. 124 eine "erga omnes" Rechtskraftwirkung an. 5 Vgl. Baumbach/Hartmann, § 325, Anm. 1. Es wird aber auch vertreten, daß nach einer Vertragswidrigkeitsfeststellung auch die neue Klage eines Dritten wegen Fehlens des Rechtsschutzbedürfnisses für eine neue Feststellung als unzulässig abzuweisen sei. Eine Rechtskraftwirkung "erga omnes" sei deshalb überflüssig; Gutsche, Die Bindungswirkung, S, 43. Der Druck, der durch eine neue Klage auf die vertragswidrig handelnden Mitgliedstaaten ausgeübt wird, sollte aber nicht übersehen werden. Außerdem kann im Rahmen des Vorverfahrens, das vor einer Klageerhebung stattfindet, durch den Meinungs- und Argumentationsaustausch zwischen Kommission und Staat eine Beseitigung des Verstoßes erreicht werden. Ein Rechtsschutzinteresse dürfte folglich immer gegeben sein. 5 " Dagegen meint Jauemig, ZZP 101, 361 ff., 376ff., das Gebot der Gewährleistung rechtlichen Gehörs verlange lediglich einen besonderen Legitimationsgrund für die Rechtskrafterstreckung gegenüber Nichtbeteiligten. 6 Baumbach I Hartmann, § 325, Anm. 1; Lacoste, De Ia chose jugee, S. 301: "ce serait Ia violation pure et simple des droits de Ia defense"; Beys, Einführung, S. 281 ff.; derselbe, Dike 14, 555ff.; Andre, EuR 1967, 97ff. 7 Vgl. auch Calavros, Urteilswirkungen, S. 175. 3

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tigen. Ein Dritter, der durch Rechtskraft nicht gebunden wäre, könnte neue Klage erheben und die Feststellung des kontradiktorischen Gegenteils beantragen. Die Drittwiderspruchsklage wäre also überflüssig. Persönlicher Umfang der Rechtskraft und Beeinträchtigung Dritter fallen aber nicht zusammen. Im Vertragsverletzungsverfahren kann die allgemeinverbindliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts 8 Rechte Dritter beeinträchtigen und so eine Drittwiderspruchsklage rechtfertigen, deren Ergebnisse durch eine neue Klage unerreichbar wären 9 . Außerdem ist die Klagebefugnis des nicht rechtskräftig gebundenen Dritten nicht immer gegeben: Individuen können vor dem EuGH keine Klage erheben und z.B. die Feststellung des Gegenteils beantragen, sie haben nach einer m.E. zweifelhaften Ansicht 10 nur die Möglichkeit der Drittwiderspruchsklage. Letzten Endes widerspricht die Möglichkeit einer nur auf die Beeinträchtigung von Rechten gestützten Drittwiderspruchsklage der Annahme einer "erga omnes" wirkenden Rechtskraft. Die "ne bis in idem"-Funktion gegenüber dem Dritten wird aufgehoben, wenn eine Drittwiderspruchsklage unter der einfachen Voraussetzung einer beeinträchtigenden Rechtskraftwirkung gegen den Dritten gegeben ist. Deshalb spricht die Existenz der Drittwiderspruchsklage eher für eine Rechtskraftwirkung "inter partes" 11 . c) Die Geltung der Untersuchungsmaxime

Häufig wird vertreten, die "inter partes"-Rechtskraftwirkung sei Folge der Sie gibt den Parteien besondere Möglichkeiten, das Ergebnis des Prozesses zu beeinflussen, und deshalb ist es konsequent, daß dieses Ergebnis nur die Personen bindet, die es herbeigeführt haben 12 • So bleiben Verhandlungsma~ime.

Siehe § 7 III. Siehe § 13 II 2. 10 Wolf in Groeben/Ehlennann, Art. 39 Satzung EuGH und Gleiß/Kleinmann, NJW 1966, 278 nehmen die Möglichkeit einer Drittwiderspruchsklage auch nichtklagebefugter Personen an. Das kann aber zu einer Umgehung der Vorschriften des EWG-Vertrages, die die Klagebefugnis regeln, führen. Eine Drittwiderspruchsklage eröffnet den Dritten wieder den Weg zum Gericht, der schon vor der Rechtskraft existierte und aufgrund Rechtskraft verschlossen ist. Die Drittwiderspruchsklage erweitert nicht die schon gegebenen Klagemöglichkeiten. Art. 39 EuGH-Satzung eröffnet aber nach dieser Ansicht die Drittwiderspruchsmöglichkeit den Individuen ohne Vorbehalt. Siehe auch § 13 II 2. 11 In Frankreich gilt die Rechtskraft nicht gegenüber Dritten, die trotzdem eine Drittwiderspruchsklage erheben können. In Griechenland steht die Drittwiderspruchsklage nur unter strengen Voraussetzungen (z.B. Absicht der Parteien, die Rechte des Dritten zu beeinträchtigen) den Personen zur Verfügung, die an die materielle Rechtskraft gebunden sind. (Art. 586 Abs. 2 gr. ZPO). 12 Rosenberg / Schwab, § 157, Anm. I; Blomeyer, § 91 , Anm. II; Bettennann, Vollstreckung, S. 80fT.; Rosenberg, § 151 , Anm. II 1; Baumbach fHartmann, § 325, Anm. 1; Encyclopedie Dalloz, procedure civile, chose jugee, Anm. 108; "La verite judiciaire est une verite contingente qui est fonction des elements de preuve et des arguments soumis au juge par chacune des parties en cause": Perrot, Institutions, S. 564; OL.G Athen, 140/ 1987, Dikeosini 1988, 146fT. 8

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Dritte von rechtsbeeinträchtigenden Manipulationen des Prozeßergebnisses durch die Parteien unberührt. Wo dagegen der Untersuchungsgrundsatz herrscht, kann man eine allgemeinverbindliche Rechtskraftwirkung leichter bejahen. Die weiten Ermittlungsmöglichkeiten, die der Richter nach diesem Grundsatz besitzt, können erheblich die Findung der materiellen Wahrheit fördern, die Basis für eine "erga omnes" Wirkung ist 13 . Für das Vertragsverletzungsverfahren wird überwiegend angenommen 14, daß wegen der großen Bedeutung dieses Verfahrens für die Allgemeinheit die Untersuchungsmaxime gilt 15 • Es ist aber fraglich, ob aus der Geltung der Untersuchungsmaxime eine allgemeinverbindliche Rechtskraftwirkung folgt. Der Richter ist zwar in bezugauf die Tatsachenermittlung freier, diese Freiheit garantiert aber nicht die absolute Wahrheitsfindung. Der Richter kann sowohl bei der Bewertung von Beweismitteln als auch bei der Normauslegung und der Subsumtion Fehler machen. Diese Gefahr ist insbesondere angesichts der komplizierten und aufeinander bezogenen primären und sekundären Gemeinschaftsnormen nicht zu unterschätzen. So aber werden die Chancen einer Urteilsfindung, die der "verite legale" entspricht und wie die Wahrheit eine unbeschränkte Geltung verlangt 16 , verringert. Man soll weiter die Bedeutung des kontradiktorischen Verfahrens zwischen den Parteien für die innere Begründung der Rechtskraftwirkung nicht übersehen. Einmal wird gerade durch die dialektische Gestaltung des Verfahrens die Wahrheitsfindung17 gefördert. Zum anderen gewährleistet die Möglichkeit durch Erwiderung oder Gegenerwiderung, Replik oder Duplik alle Angriffs- und Verteidigungsmöglichkeiten voll auszuschöpfen, die Stellung als Subjekt des Verfahrens. Der Dritte hat aber seine Argumente nicht vortragen und am Verfahren nicht teilnehmen können. Wie kann also eine Rechtskraftbindung auch für ihn erwachsen? Es ist letzten Endes Gebot der Menschenwürde und des Gleichheitsgrundsatzes, daß eine Bindung an das Prozeßergebnis nur dann erfolgen darf, wenn alle gebundenen Personen die Möglichkeit hatten, für oder gegen dieses Ergebnis zu kämpfen 18 • So Bleckmann, Les recours des individus, S. 115. Siehe auch§ 3 II 2. Siehe § 3 II 2. 15 Korsch, KSE 1, S. 123. 16 Encyclopedie Dalloz, procedure civile, chose jugee, Anm. 108; Kondylis, Rechtskraft, S. 295. 17 Martens, ZZP, 79, 429; Kondylis, Rechtskraft, S. 307; nach Perrot, Institutions, S. 564ff. und Tomasin, Essai, S. 204 ist das kontradiktorische Verfahren für die Begründung der Rechtskraft besonders ausschlaggebend. 18 Vgl. auch Koussoulis, Natur der Rechtskraft, S. 28. In Frankreich wird eine Rechtskraftwirkung "erga omnes" aufgrund dieses Kontradiktionsmangels zwar verneint, es wird aber eine andere "erga omnes"-Wirkung des Urteils konstruiert. Ein Urteil ist wie ein Vertrag ein Faktum und infolgedessen wirkt das festgestellte Rechtsverhältnis "erga omnes". Der Dritte hat aber die Möglichkeit, Drittwiderspruchsklage zu erheben: "Au meme titre que Je contrat, Je jugement est un fait, et en tant que fait, l'existence de Ia 13

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§ 4 Materielle Rechtskraft

Nach der Verneinung einer in personaler Hinsicht unbeschränkten Rechtskraftwirkung19 ist nunmehr zu prüfen, ob es eine Rechtskraftwirkung gegenüber bestimmten Subjekten der EWG-Rechtsordnung, d.h. Gemeinschaftsorganen, Mitgliedstaaten und Individuen, in bestimmten Fallkonstellationen geben kann. 2. Rechtskraftwirkung gegenüber Gemeinschaftsorganen und Mitgliedstaaten

a) Rechtskraftwirkung hinsichtlich der Feststellung der Vertragswidrigkeit oder der Vertragsmäßigkeit staatlichen Handeins kann gegenüber der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten in Schadensersatzfällen von besonderer Bedeutung sein. Es ist also zu fragen, ob das im Vertragsverletzungsverfahren erlassene Urteil präjudiziell für den Prozeß sein kann, in dem die Kommission im Interesse der Gemeinschaft oder ein Mitgliedstaat gegen den vertragswidrig handelnden Mitgliedstaat Schadensersatzklage erhebt. Man hat zu unterscheiden: situationjuridique reconnee par Je jugement est opposable aux tiers, mais ils ont Ia faculte d'exercer Ia tierce opposition": Perrot, Institutions, 564fT.; ähnlich Tomasin, Essai, S. 76. Der letztere, S. 78, äußert aber einige Zweifel daran, ob der Vergleich desUrteilsmit einem Vertrag ohne weiteres möglich ist, weil "le contrat est le plus simple instrument du commerce juridique, mais le jugement a pour but de mettre fin ä un litige". Man kann aber auch die allgemeinbindende Wirkung eines Urteilsaufgrund seiner Existenz als Faktum in Frage stellen. Man sollte zwischen dem Urteilserlaß und der Existenz des Urteils als "une feuille de papier", die nur ontologische Bedeutung haben, und dem Urteilsinhalt, der eine deontologische Bedeutung hat- er besteht in der Feststellung von Rechten und Pflichten, allgemein gesagt von Rechtsverhältnissen, die einen normativen Charakter haben unterscheiden. Was für das Urteil als Faktum gilt- es ist sinnlich wahrnehmbar und infolgedessen für jeden existent - kann nicht auch für seinen Inhalt gelten. Eine "erga omnes"-Wirkung ("opposabilite ä tous"), die mit der Rechtskraftwirkung des Urteils nicht identisch ist, wird weiter durch eine Analyse des Urteilsinhalts angenommen. Es wird ein Feststellungsaspekt ("force probante") und ein Gestaltungsoder Verpflichtungsaspekt ("force obligatoire") unterschieden. Der erste Aspekt besteht in der Feststellung des Rechtsverhältnisses, das der Streitgegenstand ist; der zweite besteht in der Konkretisierung dieses Rechtsverhältnisses, oder in der Verurteilung des Beklagten bzw. in der Klageabweisung. Der zweite Aspekt ("force obligatoire") wirkt nur für und gegen die Parteien, der erste dagegen entfaltet gegenüber den Parteien eine Wirkung ,juris et dejure", gegenüber aber Dritten eine Wirkung ,juris tantum", d.h. die Dritten können sie durch Drittwiderspruchsklage widerlegen, (H. Roland, Chosejugee, S. 87fT.). Würde diese Meinung für die Wirkung der Urteile des EuGH angenommen, dann hätten wir wieder eine schwere Beeinträchtigung des rechtlichen Gehörs. Die Frist für die Erhebung einer Drittwiderspruchsklage ist so kurz (zwei Monate nach Erlaß des Urteils (Art. 97, § 1 VerfO), daß praktisch jeder Dritte die Rechtsprechung des EuGH ununterbrochen berücksichtigen müßte, damit er die Möglichkeit einer fristgemäßen Drittwiderspruchsklage nicht verpaßt Im Bereich einer "opposabilite ä tous" nimmt auch Rammos (Lehrbuch, S. 368) eine "erga omnes" Beweiskraft(?) der materiellen Rechtskraft an. Er zögert aber, die Argumentation weiter zu entwickeln, weil sich das griechische Recht gegen jede unbeschränkte Rechtskraftwirkung entschieden hat. 19 So auch Gutsche, Bindungswirkung, S. 41; Daig in Groeben/Ehlermann Art. 171 , Rn.10.

VI. Subjektive Grenzen der materiellen Rechtskraft

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(a) Wenn im ersten Urteil die Vertragsmäßigkeit des staatlichen Handeins festgestellt worden ist, dann wären die klagenden Dritten an eine für sie ungünstige Feststellung gebunden, obwohl sie ihre Argumente nicht vorgebracht haben. Das Gebot des rechtlichen Gehörs steht- wie erörtert -einer solchen Rechtskrafterstreckung entgegen 20 . (b) Wenn aber die Vertragswidrigkeit der Handlung des Mitgliedstaates festgestellt wird, dann wären die Kommission und die anderen Mitgliedstaaten durch die Präjudizialitätswirkung dieser Feststellung nur bevorzugt. Der verklagte Staat kann zwar im nachfolgenden Schadensersatzprozeß nichts gegen die Vertragswidrigkeitsfeststellung einwenden, aber er hatte ja schon die Einwendungsmöglichkeit im Vertragsverletzungsverfahren. Sein Recht auf rechtliches Gehör scheinttrotzder Rechtskrafterstreckung unberührt zu sein 21 . Aber man darf nicht übersehen, daß immer nur zwischen bestimmten Personen prozessiert wird und daß die vorgetragenen Argumente konkret auf die Argumente des Gegners Bezug nehmen. Das ist die Folge der kontradiktorischen Gestaltung des Verfahrens (Erwiderung - Gegenerwiderung). Das Ergebnis des Prozesses hängt von diesem kontradiktorischen Austausch von aufeinander bezogenen Argumenten ab. Es wäre vielleicht anders, wenn der Kläger auch ein anderer wäre. Es ist also konsequent, daß dem Beklagten eine Verteidigungsmöglichkeit auch bezüglich der Vertragsverletzung eingeräumt bleibt22 . Es hat aber jetzt nicht mehr der Kläger die Vertragswidrigkeit zu behaupten und zu beweisen, sondern der Beklagte muß das Gegenteil oder eine mindere Vertragsverletzung behaupten und beweisen. Aus Gründen der Prozeßökonomie23 und im Einklang mit dem Gleichheitssatz - der Beklagte hatte schon, wenn auch nicht gegen denselben Kläger, eine Verteidigungsmöglichkeit -erfolgt eine Umkehr der Behauptungs- und Beweislast. b) Die Feststellung der Vertragswidrigkeit oder Vertragsmäßigkeit der sekundären.Gemeinschaftsnorm (Verordnung), die aufgrund der Einrede der Rechtswidrigkeit im Urteil (in den rechtskräftigen Gründen 24) erfolgen kann, scheint nicht geeignet, eine Rechtskraftwirkung zu entfalten, die über den Kreis der am Verfahren Beteiligten hinausgeht 25 . Zwar existiert eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Urteil, das aufgrund einer Anfechtungsklage erlassen wird: in 20 Schwab (ZZP 77, 124 ff.; Lehrbuch, § 157 II) spricht demgegenüber von der sog. "Drittwirkung" der Rechtskraft. Gegen sie gelten die gleichen Argumente wie gegen eine "Erstreckung". Vgl. aber auch Jauernig, ZZP 101, 361 ff., 376ff. 21 Bettermann, Die Vollstreckung, S. SOff.; Beys, Einführung, S. 281 ff. 22 "Si Jes parties peuvent discuter entre elles du contenu de l'acte juridictionnel ... elles ne peuvent, lorsque Je jugement est passe en force de chose jugee, se defendre contre un tiers qui Jeur opposerait": Tomasin, Essai, S. 79. 23 Beys, Dike 14, 455. 24 Siehe § 4, IV, 2b) bb) zur Rechtskraftfähigkeit der Urteilsgründe, die über präjudizielle Rechtsverhältnisse entscheiden. 25 WaelbroeckjVandersanden, Art. 184, Anm. 8; Daig in Groeben / Ehlermann Art. 184, Rn. 15; Grabitz, Kommentar, Art. 184, Rn. 19.

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beiden Fällen wird die Vertragswidrigkeit oder Vertragsmäßigkeit einer sekundären Norm festgestellt; Art. 176 EWGV, der das Organ, welches die für nichtig erklärte Vorschrift erlassen hat, zum Ergreifen aller sich aus dem Urteil ergebenden Maßnahmen verpflichtet, findet auch im Fall der Feststellung der Vertragswidrigkeit einer Verordnung Anwendung 26 • Jedoch unterliegt die Anfechtungsklage nach 173 EWGV einer sehr kurzen Zweimonatsfrist, die Einrede der Rechtswidrigkeit dagegen kann ohne Fristbeschränkung geltend gemacht werden. Eine beschränkte Rechtskraftwirkung dieser inzidenten Feststellung entspricht also der Rechtssicherheit Die Rechtskraftwirkung einer einige Jahre nach dem Erlaß der Verordnung erfolgenden Vertragswidrigkeitsfeststellung, die über die Parteien des konkreten Prozesses hinausginge, würde für das schon auf diese Verordnung gestützte und aus ihr entwickelte Leben der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten nicht hinnehmbare Konsequenzen haben 27 • Eine große Ähnlichkeit besteht auch zur Feststellung der Vertragswidrigkeit oder Vertragsmäßigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane aufgrundder Vorlage eines innerstaatlichen Gerichts 28 (Art. 177 Abs.1 b). Sie spricht für die analoge Übertragung der gegenüber allen staatlichen Gerichten und den betroffenen Gemeinschaftsorganen bestehenden Bindungswirkung, nicht aber für Rechtskraftwirkung 29 • Eine erweiterte Rechtskraftwirkung würde wieder mit dem Gebot der Gewährung des rechtlichen Gehörs kollidieren. Nur wenn in Analogie zum Vorabentscheidungsverfahren die Mitgliedstaaten und das betroffene Organ beigeladen werden können (Art. 20 EuGHSatzung), wäre eine Rechtskrafterstreckung auf sie denkbar 30 • 31 . 26 Siehe§ 4 IV 2b) bb) zur Rechtskraftfähigkeit der U rteilsgründe, die über präjudizielle Rechtsverhältnisse entscheiden. 27 Die Mitgliedstaaten z.B. müßten alle Durchführungsmaßnahmen aufheben und den rechtmäßigen Zustand ex tune wiederherstellen, da die innerstaatlichen Rechtsbehelfe wegen der Bindung der nationalen Gerichte Erfolg haben würden. - Die "inter partes"Wirkung der materiellen Rechtskraft verliert aber einen großen Teil ihrer Bedeutung, weil praktisch die Feststellungen des Urteils von allen beachtet werden. Der EuGH wird künftig von der Rechtswidrigkeit der Verordnung ausgehen. Die Mitgliedstaaten werden sie nicht anwenden, damit sie Klagen wegen Vertragsverletzung vermeiden. Auch die Gemeinschaftsorgane werden aus demselben Grund die Verordnung nicht mehr anwenden. 28 Daig in Groeben/Ehlermann, Art. 177, Rn. 25: Gültigkeit heißt Rechtmäßigkeit; ebenfalls Waelbroeck/Vandersanden, Art. 184, Anm. 8. 29 Für die Feststellung der Gültigkeit (Vertragsmäßigkeit) der sekundären Vorschrift wird eine Bindung aller staatlichen Gerichte und des betroffenen Gemeinschaftsorganes angenommen. Immer aber existiert im Gegensatz zu einer Rechtskraftwirkung die Möglichkeit einer neuen Vorlage. Daig in Groeben / Ehlermann, Art. 177, Rn 50; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 836. In bezug aber auf die Ungültigkeitsfeststellung ist eine neue Vorlage unzulässig; Draig in Groeben/ Ehlermann, Art. 177, Rn. 32; Baron, S. 30; J oliet, S. 216. 30 Vgl. auch BVerfGE 60, 7, 15. 31 Eine Rechtskrafterstreckung gegenüber dem betroffenen Organ könnte mit Hilfe der Tatbestandswirkung des Urteils begründet werden. Das Urteil, das die Vertragswidrigkeit

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c) Eine Beiladung würde zur Rechtskrafterstreckung auch auf den oder die Beigeladenen 32 führen. Nach Artikel 20 Abs. 1 S. 2 EuGH-Satzung obliegt es dem Kanzler des Gerichtshofes, im Vorabentscheidungsverfahren den Parteien des Ausgangsverfahrens, den Mitgliedstaaten und der Kommission die Vorlageentscheidung des innerstaatlichen Gerichts zuzustellen. Diese Personen können infolgedessen beim Gerichtshof Schriftsätze einreichen, oder schriftliche Erklärungen abgeben (Art. 20 Abs. 2 EuGH-Satzung). Es stellt sich nun die Frage, ob man Art. 20 EuGH-Satzung auch im Vertragsverletzungsverfahren als Basis für eine Beiladungsmöglichkeit und sogar für eine Beiladungspflicht heranziehen kann. Es wird angenommen, daß eine Beiladung nicht möglich ist, wenn der Prozeß nicht die Interessen bestimmter Personen, sondern nur die der Allgemeinheit betrifft33 • Im letzteren Fall wäre es unmöglich, die Menge der vom Prozeß und nachfolgenden Urteil betroffenen Personen beizuladen. Im Vertragsverletzungsverfahren betrifft aber die inzidente Feststellung der Vertragswidrigkeit oder Vertragsmäßigkeit einer Verordnung hauptsächlich 34 nur das die Verordnung erlassende Organ. Seine Beiladung wäre immer möglich. Bei Feststellung der Vertragsverletzung durch einen Mitgliedstaat könnten die betroffenen anderen Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft (vertreten durch die Kommission) beigeladen werden. Die Individuen, wiewohl oftmals betroffen, können dagegen nie beigeladen werden, weil sie ja nicht klagebefugt sind. Die Einführung einer Beiladung kraft Analogie würde indessen der Struktur des EuGH-Verfahrensrechts widersprechen. Artikel 20 EuGH-Satzung ist auf das nichtstreitige Vorabentscheidungsverfahren beschränkt, weil in diesem Fall die Möglichkeit der Nebenintervention mangels Parteien überhaupt nicht existiert35 • Art. 37 Abs. 1 EuGH-Satzung siehtjedoch eine Nebeninterventionsmöglichkeit der Mitgliedstaaten und Organe der Gemeinschaft bei einem vor der Verordnung inzidenter feststellt, wird Tatbestandsmerkmal des Art. 176 EWGV. Wenn das Gemeinschaftsorgan, das durch Art. 176 verpflichtet wird, die Möglichkeit hätte, das Urteil bzw. die Feststellung der Vertragswidrigkeit zu bezweifeln, dann würde die Anwendung von Art. 176 EWGV sehr schwer. Ähnlich Schwab, ZZP 77, 124ff. Wieder aber tauchen Probleme wegen der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs aufl 32 Ule, § 22, Anm. III; Eyermann f Fröhler § 65, Rn. 41 ; Redekerfvon Oertzen § 65, Rn. 20; Encyclopedie Dalloz, procedure civile, intervention forcee, Anm. 19; Perrot, Droit judiciaire, S. 572; Chapus, Contentieux administratif, S. 303; Auby f Drago, Traite I, S. 980fT.; Savignat, RDP 1970, 17; im griechischen Zivilprozeßrecht führt die Beiladung des notwendigen Streitgenossen (Art. 86, 87 griech. ZPO) zu dessen Bindung an die Rechtskraft; dazu ·Beys, Einführung, S. 180; derselbe, Kommentar, § 89, Anm. III 4; Rammos, Lehrbuch, S. 561. Im Verfahren vor dem griechischen Staatsrat kann der Berichterstatter einem Dritten eine Ausfertigung des Klageantrags zustellen. In diesem Fall verliert der Dritte die Möglichkeit einer Drittwiderspruchsklage (AN 170 f73, Art. 51 § 2). 33 Ule, § 22, Anm. I 4. 34 Sie kann mittelbar auch Organe betreffen, deren Handlungen die Verordnung konkretisieren und gegebenenfalls ohne rechtmäßige Basis blieben. 35 Vgl. auch Rs 6/64, Slg 1964, 1253.

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dem Gerichtshof anhängigen Rechtsstreit vor 36 • Eine Beiladung erscheint also, soweit sie nach der Systematik der EuGH-Satzung als Interventionsersatz anzusehen ist, im streitigen und interventionsfähigen Vertragsverletzungsverfahren ausgeschlossen 37 • d) Rechtskrafterstreckung wäre auch dann gegeben, wenn im Fall der Nebenintervention die Intervenienten notwendige Streitgenossen der unterstützten Partei wären. Voraussetzung der notwendigen Streitgenossenschaft ist, daß das Urteil nur einheitlich gegenüber den Streitgenossen ergehen kann 38 • Man könnte behaupten, daß die Bindung aller staatlichen Organe an die im Urteil enthaltene Auslegung des Gemeinschaftsrechts39 diese Voraussetzung erfüllt. Das Urteil kann dann nur einheitlich ergehen. Hätten wir eine zulässige Nebenintervention dieses notwendigen Streitgenossen, dann wäre eine Rechtskrafterstreckungauf ihn also eine konsequente Folge40 • Es darf dabei aber nicht übersehen werden, daß die Bindung an die Auslegung des Gemeinschaftsrechts etwas völlig anderes als die Rechtskraft ist41 • Es ist nicht zu erklären, weshalb die Bindung, die eine "ne bis in idem"-Funktion gerade nicht hat, zur Rechtskraftwirkung mit dieser Funktion führen soll. Weiter ist zu bezweifeln, ob eine notwendige Streitgenossenschaft zur Sicherung eines einheitlich gegenüber allen Prozeßteilnehmern ergehenden Urteils überhaupt notwendig ist. In Fällen, die für das Interesse der Gemeinschaft von großer Bedeutung sind und in denen die spätere Aufbebung des Vertragsverstoßes nicht zur Erledigung des Rechtsstreites führt 42 , ist konsequenterweise eine Minderung des Einflusses der Parteien auf die Entwicklung des Prozesses und auf die Urteilstindung - Vorrang der Offizial- und Untersuchungsmaxime gegenüber dem Dispositions- und Verhandlungsgrundsatz - anzunehmen. Die Handlungen der intervenierenden Streitgenossen können infolgedessen das einheitliche Ergehen des Urteils nicht wesentlich beeinträchtigen. Im Vertragsverletzungsverfahren reicht sonach gewöhnliche Nebenintervention, die aber trotzdem zur Rechtskrafterstreckung führen kann. Berücksichtigt man sowohl die besondere Bedeutung des Vertragsverletzungsverfahrens für die Interessen von Gemeinschaft und MitgliedstaaDazu siehe Vandersanden, RTDE 1969, 1fT. Im griechischen Zivilprozeßrecht existiert dagegen die Möglichkeit sowohl einer Nebenintervention (Art. SOff. griech. ZPO) als auch einer Beiladung (Art. 86fT. griech. ZPO). Dasselbe gilt auch im französischen Recht. Im deutschen Zivilprozeßrecht existiert aber nur die Interventionsmöglichkeit (§ 62 ZPO), im Verwaltungsprozeßrecht nur Beiladungsmöglichkeit (§ 65 VwGO). 38 Art. 76, Abs. 1, S. 1 griech. ZPO; Rosenberg / Schwab, §50, Anm. II; Baumbach/Hartmann, § 62, Anm. 2; Blomeyer, § 109, Anm. III; Calavros, Urteilswirkungen, S.113 / 114. 39 Siehe§ 7, II, 1b). 40 Vgl. auch Beys, Einführung, S. 179. 41 Siehe§ 7, II, 1b). 42 Siehe § 4, V, 1b), bb) (b) zum Zeitpunkt der endgültigen Bestimmung des Prüfungsgegenstandes. 36 37

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ten43 als auch die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs, dessen Verletzung das größte Hindernis für die Annahme einer Rechtskraftwirkung gegenüber Dritten ist, dann ist eine Rechtskrafterstreckung auf die Beigetretenen anzunehmen44 • e) Mitgliedstaaten nehmen neben Eigeninteressen u.U. Interessen der Gemeinschaft wahr45 • Auch die Tätigkeit der Kommission dient nicht nur Interessen der Gemeinschaft, sondern gleichermaßen auch Interessen der Mitgliedstaaten. Man könnte also argumentieren, in beiden Fällen existiere eine Prozeßstandschaft, die zur Rechtskraft gegenüber Gemeinschaft und Mitgliedstaaten als Interessenträger führe. Es besteht aber keine ausschließliche Klagebefugnis des "Prozeßstandschafters", die aufgrund des überwiegenden Interesses des Prozeßgegners an der Rechtskraftbindung des Interessenträgers4ö und angesichts des Fehlens einer Beeinträchtigung rechtlichen Gehörs des Interessenträgers47 eine Rechtskraftwirkung gegenüber dem Interessenträger begründen könnte. Sowohl die Gemeinschaft in Gestalt der Kommission als auch die Mitgliedstaaten sind klagebefugt. Eine Bindung der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten an einen vom Prozeßstandschafter schlecht oder mindestens nicht mit der Erfolgschance eigener Prozeßführung geführten Prozeß und sein Prozeßergebnis würde ihre Rechte beeinträchtigen48 • Der Prozeßgegner führt auch bei Fehlen der Bindung des Interessenträgers den Prozeß nicht umsonst49 , weil immer eine Bindung des Klägers zwar nicht als Prozeßstandschafter 50 , aber doch als Partei im eigenen Interesse besteht. Der Prozeßgegner hat also die Bindung wenigstens eines Interessenträgers an das Urteil erreicht. Die Echtheit der Prozeßstandschaft kann man im übrigen füglieh bezweifeln. Die Mitgliedstaaten sind nicht verpflichtet, Klage wegen einer Vertragsverletzung zu erheben. Sie können im Gegensatz zu der Kommission, die echte Vertreterio der Gemeinschaftsinteressen ist (Art. 155 EWGV), immer ihre eigenen Interessen Siehe§ 4 VII 1a). Für eine Rechtskraftwirkung gegenüber den Beigetretenen siehe Daig in Groeben/Ehlermann, Art.171, Rn. 10. Auch in Frankreich ist der Beigetretene an die Rechtskraft gebunden. Dazu Encyclopedie Dalloz, procedure civile, intervention forcee, Anm. 119; Perrot, Droit judiciaire, 572. 45 Daig in Groeben/Ehlermann, Art. 169, Rn. 26; Bleckmann, EuR, 1980, 155; Beutler I Streil, S. 207. 46 Sinaniotis, ZZP 77, 78fT. für die Bindung des Rechtsträgers in Fällen ausschließlicher Klagebefugnis des Prozeßstandschafters; vgl. auch Rosenberg/Schwab, § 46, Anm. 2; Kondylis, Rechtskraft, S. 329 47 Wenn er nicht klagebefugt ist, hat er kein Recht auf rechtliches Gehör, das durch die Rechtskrafterstreckung ("ne bis idem") verletzt werden könnte; das gilt aber nur unter der Voraussetzung, daß der Rechts- und Interessenträger nicht später klagebefugt werden kann. 48 Beys, Einführung, S. 282. 49 Für eine Rechtskrafterstreckung aufgrund eines überwiegenden Interesses des Prozeßgegners Blomeyer, § 91 , Anm. I 50 Henckel, ZZP 70, 448; Grunsky, Grundlagen,§ 47, Anm. VI 2, S. 539 verneinen aber eine Bindung des Prozeßstandschafters. 43

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mit in Betracht ziehen, bevor sie sich zu einer Klageerhebung entschließen. Die Berücksichtigung der Interessen der Gerneinschaft ist erwünscht, aber es gibt keine entsprechende konkrete Pflicht51 • Die Klage eines Mitgliedstaates dient zwar auch dem Gerneinschaftsinteresse, die Wahrnehmung der Interessen der Gerneinschaft ist aber eine Nebenwirkung der Wahrnehmung eigener staatlicher Interessen. Die Mitgliedstaaten werden, wenn sie überhaupt Klage erheben 52 , hauptsächlich im eigenen Interesse tätig. Dasselbe gilt umgekehrt für die Klagen der Kommission. Sie klagt hauptsächlich im Interesse der Gemeinschaft 53 ; der Schutz der "in stricto sensu" staatlichen Interessen ist eine Folge des Schutzes der Gemeinschaftsinteressen und der engen Verbindung zwischen beiden-oft künstlich getrennten - Interessenkreisen. Auf diese Weise wird auch die Verdoppelung der Chancen des Rechtsträgers erklärt, Rechtsschutz für seine Interessen zu erreichen. Es wäre also inkonsequent, eine Bindung der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten an das Ergebnis eines Prozesses anzunehmen, der in Wahrnehmung "fremder" Interessen geführt wurde 54 • Außerdem kann der frühere Kläger nicht nochmals Klage mit der Behauptung erheben, er klage jetzt als Prozeßstandschafter - es besteht keine "echte" Prozeßstandschaft oder er klage erst jetzt im eigenen Interesse - er hat es schon im Erstprozeß getan. 3. Rechtskraftwirkung gegenüber Gemeinschaftsbürgern

Auch die Gemeinschaftsbürger sind von der Feststellung der Vertragswidrigkeil oder Vertragsmäßigkeit des staatlichen Handeins betroffen. Sie können durch staatliche Maßnahmen in ihren Rechten verletzt sein oder es können ihre Interessen durch solche Maßnahmen geschützt und gefördert werden. Vor den Gerichten des verletzenden Staates können Rechtsbehelfe der Gemeinschaftsbürger anhängig sein. Das Problem der Rechtskrafterstreckung auf die Gemeinschaftsbürger ist also von besonderer Bedeutung. Rechtskraftwirkungkraft Prozeßstandschaft scheitert aus den schon erwähnten Gründen. Die Interessen der Gemeinschaftsbürger werden zwar durch das Tätigwerden der Kornmission geschützt, aber wieder ist dieser Schutz nur Nebenfolge 5 5 • Außerdem könnte der Prozeßstandschaftsgedanke nicht allgemein gelten. Die Kornmission klagt z.B. sicher nicht im Interesse der Personen, 51 Sonst würde eine Vertragsverletzung zu weiteren Vertragsverletzungen aufgrundder Nichterhebung der Klage führen und weiter zu einer Überschwemmung des Gerichtshofes durch Klagen der Mitgliedstaaten gegeneinander, wenn sie später ihre Pflicht zur Verfolgung jeder Vertragsverletzung erfüllen wollten. 52 Die bisherige Erfahrung hat gezeigt, daß fast ausschließlich die Kommission im Interesse der Gemeinschaft tätig wird. 53 So Karpenstein, DVBl1977, 61. 54 Es ist Nebenintervention notwendig; ähnlich Beys, Kommentar,§ 325, Anm. III 4; Sinaniotis, ZZP 77, 78 ff. 55 Siehe § 4 VI 2e).

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deren Rechte durch rechtswidrige staatliche Maßnahmen gefördert werden. Nebenintervention im Vertragsverletzungsverfahren ist für Individuen ausgeschlossen (Art. 37 Abs. 2 S. 2 EuGH-Satzung). Die Rechtskraft eines EuGH-Urteils kann sieb also nicht gegen Gemeinscbaftsbürger erstrecken. Aber Gemeinschaftsbürger können durch innerstaatliche Rechtsbebelfe trotzdem eine dem Urteil des EuGH widersprechende Entscheidung nicht erreichen 55 " . Denn die Organe des verletzenden Mitgliedstaates sind an das Urteil des EuGH gebunden- der Staat war Partei im Prozeß, und dessen Bindung bedeutet die Bindung aller seiner Organe 56 , weil der Vertragsverstoß nur durch die staatlieben Organe aufgehoben werden kann 57 und können von ihm nicht abweichen. Es ist zwar richtig, daß der Anspruch auf rechtliebes Gehör der vom Urteil betroffenen Personen auch durch diese Bindung beeinträchtigt ist, aber ohne die Bindung der staatlieben Organe an das Urteil wären seine Durcbsetzungschancen fast gleich null. Das wiederum würde eine schwere Beeinträchtigung der Funktion des Gerichtshofes als Rechtsschutzorgan bedeuten und infolgedessen eine Mißachtung verfassungsrechtlicher Vorschriften, die eine Zuständigkeitsübertragung an Organe zwischenstaatlicher Einrichtungen - auch der Europäischen Gemeinschaft - vorseben 58. VII. Zeitliche Grenzen der materiellen Rechtskraft 1. Allgemeines

Die Feststellung des Rechtsverhältnisses, die das Urteil enthält, ist die Folge der Subsumtion von Tatsachen unter eine Rechtsnorm. Rechtsnormen und Tatsachen können sich im Laufe der Zeit ändern, der Richter berücksichtigt solche, die zum Zeitpunkt der Ausübung seiner Jurisdiktion existieren. Das Urteil ist an der gegenwärtigen Situation orientiert. Das Urteil schafft Rechtsfrieden in der Gegenwart; es regelt die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse der Parteien. Die Regelung künftiger Rechtsverhältnisse oder in der Zukunft fortdauernder Rechtsverhältnisse kann aufgrund der Ungewißheit, die die Zukunft mit sich bringt, durch die reale Entwicklung der Rechts- und Tatsachenlage überholt werden. Deshalb ist in den Fällen, wo es notwendig ist, eine Möglichkeit für die Beseitigung der Diskrepanz zwischen realer und hypothetischer Entwicklung vorgesehen 1 • Die Grundregel aber bleibt: das Vgl. auch Kroustalakis, Dikeosini 1988, 1027. Karpenstein in Grabitz, Kommentar, Art.171, Rn. 8; Cahier, CDE 1974, 32; Pescatore, CDE 1971, 577 und Bleckmann, Les recours des individus, S. 112 nehmen ebenfalls eine Bindung aller Organe des verletzenden Staates an; aA Däubler, NJW 1968, 330. 57 Gern. Art. 171 EWGV obliegt es jedem staatlichen Organ, die Vertragsverletzung zu beseitigen; dazu Daig in Groeben/Ehlermann, Art. 171, Rn. 5 58 Vgl. Art. 24 Abs. 1 GG; Art. 28 griech. Verfassung. 1 Abänderungsklage (§ 323 ZPO, Art. 334 griech. ZPO) 55 •

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Gericht judiziert "sub praesenti tempore" und nicht "sub specie aetemitatis". Wenn indessen sich das festgestellte Rechtsverhältnis aufgrund der Änderung seiner rechtlichen oder tatsächlichen Voraussetzungen ebenfalls ändert 2 , verstößt der Fortbestand der gerichtlichen Feststellung, der durch die Rechtskraft gesichert ist, gegen das Gleichheitsprinzip, weil nach diesem Prinzip Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist. Es existiert dann die gleiche Regelung (das Urteil mit dem unveränderten Inhalt) für zwei ungleiche Phänomene (Rechtsverhältnis vor und Rechtsverhältnis nach der Änderung). Es muß also die Möglichkeit existieren, die ungerechte Feststellung zu beseitigen. Eine neue Klage, die zu einer der neuen Situation entsprechenden Feststellung führt, darf nicht durch die negative Funktion der materiellen Rechtskraft ausgeschlossen sein. Die Rechtskraft muß "in tempore" begrenzt sein. Eine neue Klage kann nicht an der "ne bis in idem" Funktion der materiellen Rechtskraft scheitern, wenn nach dem für die gerichtliche Beurteilung und für die Rechtskraftwirkung maßgeblichen Zeitpunkt eine Änderung der Rechts- und Tatsachenlage eingetreten ist. 2. Der f"ür die Rechtskraftwirkung maßgebliche Zeitpunkt

Die Antwort auf die Frage nach dem für die Rechts- und Sachlage einer Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt kann nicht generell gegeben werden. Dieser Zeitpunkt hängt sowohl von der Funktion jeder Klageart wie auch vom Ziel des konkreten Klageantrags ab. Leistungsklagen-dazu werden auch die Verpflichtungsklagen des Verwaltungsprozesses gezählt 3 - sind in der Regel4 auf die Gegenwart gerichtet. Der Kläger will durch die Leistung des Beklagten die Befriedigung seines Anspruchs hic et nunc erreichen. Daher ist für die Rechtskraftwirkung der Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung vor Gerichts maßgeblich 6 • Die Bedeutung der Klagefunktion tritt besonders deutlich am Beispiel der Anfechtungsklagen gegen VA hervor. Nimmt man an, die Anfechtungsklage diene nur oder hauptsächlich der Kontrolle der Verwaltungsbehörde, so daß die Prüfung der Vereinbarkeit des Bruns, S. 378. Vgl. Ule, §57, Anm. II 1. 4 Es sei denn, daß der Kläger den rückwirkenden Erlaß eines begünstigenden VAs begehrt. In diesem Fall können einzelne Zeitabschnitte einer unterschiedlichen rechtlichen und tatsächlichen Beurteilung unterliegen. Dazu vgl. Bähr, Maßgebliche Rechts- und Sachlage, S. 12. 5 Dieser Zeitpunkt ist für die Rechts- und Sachlage nicht derselbe. Rechtsänderungen können auch vom Revisionsgericht berücksichtigt werden. Neue Tatsachen dagegen nur in beschränktem Maße. Dazu vgl. statt vieler Gottwald, Die Revisionsinstanz als Tatsacheninstanz, 1975, S. 245fT., 306fT.; Bore, La Cassation en matiere civile, 1980, S. 758fT. 6 Vgl. Ule, §57, Anm. II 1; Redekerfvon Oertzen, VwGO, § 108, Rn. 22, 27; BVerwGE, 1, 291; 25, 358; 31, 171; 48, 314; 51, 25; 62, 90; BVerwG, DVB11982, 302; a.A. Kopp, VwGO, § 113, Rn. 95. 2

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VAs mit dem objektiven Recht ihr (Haupt)Gegenstand ist\ dann muß diese Kontrolle und Prüfung nach den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen stattfinden, die zur Zeit des Erlasses des angefochtenen VAs bzw. Widerspruchsbescheids gegolten haben 8 . Handelt es sich um einen VA mit Dauerwirkung, dann ist auch seine nachträglich eingetretene Rechtswidrigkeit von Interesse. In diesem Fall bestimmt der Kläger durch seinen Antrag, welcher Zeitpunkt für die Rechts- und Sachlage entscheidungserheblich sein soll9 • Nimmt man dagegen an, Anfechtungsklagen dienten hauptsächlich dem Schutz subjektiver Rechte 10 , dann soll dieser Schutz hic et nunc gewährleistet werden. Maßgeblich ist dann der Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung 11 • a) Der maßgebliche Zeitpunkt hinsichtlich der Feststellung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des mitgliedstaatliehen Verhaltens

Z. T. wird vertreten, Streitgegenstand im Vertragsverletzungsverfahren könne nur das in der Kommissionsstellungnahme (Art. 169 Abs. 1 EWGV) konkretisierte Verhalten eines Mitgliedstaates sein 12 • Jede weitere Entwicklung sowohl auf rechtlicher als auch auf tatsächlicher Ebene bleibe unberücksichtigt. Diese 7 So die französische Lehre, vgl. Auby/Drago, contentieux, Il, S. 135fT.; Debbasch, contentieux, S. 703; Sandevoir, Encyclopedie Dalloz, contentieux administratif, recours de pleine juridiction, Anm. 10; Waline, RDP 1935, 205 und ein Teil des deutschen Schrifttums. Vgl. Ule, § 35, Anm. II 3; Niese, JZ 1952, 353ff. 8 Vgl. Ule, §57, Anm. II 2; Redekerfvon Oertzen, VwGO, § 108, Rn. 17; Schweiger, DVB11964, 210; BVerwGE, 1, 35; 11, 335; 34, 155; 48, 309; 56, 121; 61,209. A.A. Bähr, a.a.O., S.16; Bettermann, DVB11953, 202, die aber von einer abweichenden Definition des Streitgegenstandes der Anfechtungsklage ausgehen. 9 Vgl. Bachof, JZ 1966, 141, 398. 10 So Bettermann, DVB11953, 202; Bähr, a.a.O., S. 138. 11 Vgl. Bähr, a.a.O., S. 16. Dasselbe soll auch bezüglich der zivilrechtliehen Gestaltungsklagen gelten. Es kann dahingestellt bleiben, ob einer solchen Klage nur ein öffentlichrechtliches Recht des Klägers gegenüber dem Staat auf Vollziehung der Rechtsänderung rugrundeliegt (Schlosser, Gestaltungsklagen und Gestaltungsurteile, 1966, S. 366; SteinjJonasjSchumann j Leipold, Vor§ 253, Anm. II 3b und c), oder ob daneben auch ein privatrechtliches Gestaltungsrecht des Klägers existiert (Bötticher, FS für Dölle, I, S. 91; Blomeyer, § 38, Anm. III; Rosenberg / Schwab, § 95, Anm. I 2). Von Bedeutung ist, daß durch die Gestaltungsklagen subjektiven Rechten (öffentlichrechtlichen oder privatrechtliehen Charakters) zur Durchsetzung verholfen wird. Auch für Gilles, nach dessen Meinung die Rechtsmittel Klagen auf Aufhebung des angefochtenen Urteils sind (Rechtsmittel im Zivilprozeß, 1972, S. 13fT.; ZZP 91, 138fT.), istder Zeitpunkt des Schlusses der letzten Verhandlung vor dem Rechtsmittelgericht maßgeblich. Er begründet seine Meinung mit der Annahme, die Rechtsmittel führten nicht bloß zu einer Rechtmäßigkeitsprüfung, sondern ru einer Richtigkeitsprüfung des angefochtenen Urteils (Rechtsmittel, S. 63), die nach den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen im Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung vor dem Rechtsmittelgericht stattfinden soll. Zu dieser Einstellung von Gilles kritisch Bettermann, ZZP 88, 371. 12 Vgl. Däubler, NJW 1968, 325, 328; Millarg, EuR 1973, 226, 232; GA Roemer, Rs 7/69, Slg 1970, S. 119, 121.

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§ 4 Materielle Rechtskraft

Ansicht hätte im Fall der Beseitigung des Vertragsverstoßes nach dem Ende des außergerichtlichen Vorverfahrens die Nichterledigung des Rechtsstreites zur Konsequenz. Der Gerichtshof müßte immer die ursprüngliche Rechtswidrigkeit der mitgliedstaatliehen Maßnahmen feststellen. Dies könnte aber mit dem Ziel des Vertragsverletzungsverfahrens unvereinbar sein. Ziel dieses Verfahrens ist die Beseitigung einer fortdauernden Vertragsverletzung (Art. 171 EWGV). Eine Erledigung des Rechtsstreites kann deshalb nicht generell abgelehnt werden, wenn die rechtswidrigen mitgliedstaatliehen Maßnahmen schon aufgehoben worden sind. Für die Beurteilung des mitgliedstaatliehen Verhaltens ist daher die Rechts- und Sachlage zum Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof als maßgeblich anzunehmen. Dies bedeutet aber nicht, daß die nach dem Ende des außergerichtlichen Vorverfahrens erfolgte Aufbebung des Verstoßes gegen das EG-Recht immer zur Streiterledigung führt. Eine Feststellung der ursprünglichen Rechtswidrigkeit des mitgliedstaatlichen Verhaltens ist immer möglich 13 , wenn die akute Gefahr des Wiedererlasses der aufgehobenen Maßnahmen besteht 14, oder wenn das Urteil des Gerichtshofes zur Klärung von für das Gemeinschaftsleben besonders bedeutsamen Fragen beitragen kann 15 • Umstritten ist dagegen, ob eine solche Feststellung auch zum Zwecke der Erleichterung künftiger Schadensersatzklagen erfolg~n darfl6 • Ist das ursprünglich vertragsmäßige Verhalten des Mitgliedstaates wegen Änderung der rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse nachträglich vertragswidrig geworden, dann kann diese Vertragswidrigkeit nicht festgestellt werden, obwohl sie vor dem Schluß der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof eingetreten ist. Eine Feststellung wäre unzulässig, weil die Vertragswidrigkeit nicht Gegenstand des für eine Feststellung der Vertragsverletzung unentbehrlichen außergerichtlichen Vorverfahrens war 17 • In diesem Fall ist die Klage als unbegründet abzuweisen. Der Kläger kann aber - eine auf die neuen Tatsachen gestützte - neue Klage erheben.

13 Vgl. auch das Institut der Fortsetzungsfeststellungsklage des deutschen Verwalt-. ungsprozeßrechts. Dazu statt vieler Ule, § 45, Anm. I 2. 14 Vgl. Daig in Groeben/Ehlermann, Art. 169, Rn. 29; Karpenstein in Grabitz, Kommentar, Art. 169, Rn. 58; Nass, DVB11970, 617; Rs 26/ 69, Slg 1970, 577; Rs 69 f77, Slg 1978, 1756; GA Reischl, Rs 16/73, Slg 1974, 375. Dasselbe gilt auch bezüglich der Fortsetzungsfeststellungsklage. Vgl. Eyermann/Fröhler, VwGO, § 113, Rn. 41; Tietgen, DVB11960, 262; Becker, MDR 1972, 921; Ule, § 45, Anm. I 2a. 15 Vgl. Nass, DVB11970, 617; Karpenstein, a.a.O., Rn. 58; Kommission, AB11977, Nr. C 305/22. Dazu kritisch Daig, a.a.O., Rn. 29. 16 Bejahend EuGH Rs 39/72, Slg 1973, 112. Ablehnend Kommission, AB11977, Nr. C 191/25. Bezüglich der Fortsetzungsfeststellungsklage vgl. Tietgen, DVBl 1960, 265fT.; Becker, MDR 1972,921 /922; Ule, § 45 Anm. I 2a, BVerwG, NJW 1961, 1942; DöV 1964, 171; DVB11969, 68; DöV 1980, 917f. 17 Vgl. auch Ortlepp, Vertragsverletzungsverfahren, S. 67; Daig, a.a.O., Rn. 10.

VII. Zeitliche Grenzen der materiellen Rechtskraft

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b) Hinsichtlich der Feststellung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer als rechtswidrig gerügten Verordnung

Außer der Feststellung der Vertragswidrigkeit oder Vertragsmäßigkeit einer staatlichen Handlung erwächst auch die sich in den Urteilsgründen findende Feststellung der Rechtswidrigkeit oder Rechtmäßigkeit einer Verordnung des Rates oder der Kommission in Rechtskraft 18 • Was ist die für diese rechtskräftige Feststellung maßgebliche Zeit? Der Beklagte macht die Rechtswidrigkeit der Verordnung geltend, damit er die Feststellung des Verstoßes seiner Handlung gegen diese Verordnung entkräftet. Eine rechtswidrige Norm des Gemeinschaftsrechts kann keinen Verstoß der staatlichen Handlung gegen den Vertrag begründen, auch wenn sie vom Staat mißachtet worden ist. Maßgeblich ist also der Zeitraum, in dem die staatliche Maßnahme mit der Verordnung unvereinbar ist. Nur wenn der Beklagte seine Einrede zeitlich beschränkt (z.B. die mengenmäßige Einfuhrbeschränkung wird vom Zeitpunkt X bis Y durch Art. 36 EWGV erlaubt und für den üblichen Zeitraum ist die Verordnung, die eine solche Beschränkung verbietet, vertragswidrig), könnte man sagen, maßgeblich sei der durch den Beklagten beschränkte Zeitraum. Die Rechtswidrigkeitder Verordnung wird aber vom EuGH nicht nur aufEinrede berücksichtigt, sondern auch von Amts wegen 19 • Der Gerichtshof ist folglich nicht an die zeitliche Beschränkung des Beklagtengebunden. Er kann also die Rechtswidrigkeit der Verordnung zu jedem Zeitpunkt prüfen, zu dem die staatliche Maßnahme mit ihr unvereinbar ist. Es bleibt noch zu überlegen, ob nicht der Zeitraum zwischen dem Erlaß der Verordnung und dem Schluß der mündlichen Verhandlung für die Rechtskraftwirkung der Normprüfung von Bedeutung ist. Man könnte diese Frage mit folgendem Argument bejahen: wenn die Anwendung des Art. 176 EWGV, der das vertragswidrig handelnde Gemeinschaftsorgan verpflichtet, alle sich aus der Feststellung der Vertragswidrigkeit seiner Handlung ergebenden Maßnahmen zu ergreifen, auch auf Einrede der Rechtswidrigkeit (Art. 184 EWGV) und allgemein bei inzidenter Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Verordnung zu befürworten ist 20 , dann hat diese Feststellung Bedeutung nicht nur im Rahmen des konkreten Falles, sondern sie dient darüber hinaus der Beseitigung aller durch den Erlaß der rechtswidrigen Verordnung verursachten negativen Folgen. 18 Siehe§ 4 IV 2b) bb) zur Rechtskraftfähigkeit der U rteilsgründe, die über präjudizielle Rechtsverhältnisse entscheiden. 19 Daig in Groeben/Ehlerrnann, Art. 184, Rn. 4. Er beschränkt zwar, ohne es ausdrücklich zu sagen, die Möglichkeit der Prüfung von Amts wegen auf das Gebiet der Nichtigkeitsklage: Das Gericht kann Mängel des angefochtenen Aktes, auch seine Begründung durch eine rechtswidrige Verordnung, von Amts wegen berücksichtigen. Die Amtswegige Berücksichtigung muß aber auch im Vertragsverletzungsverfahren gelten, weil der EuGH weite Ermittlungs- und Prüfungsmöglichkeiten wegen der großen Bedeutung des Verfahrens besitzt. Siehe auch § 4 VI 1c). 20 Siehe§ 4 IV 2b) zur Rechtskraftfähigkeit der Urteilsgründe, die über präjudizielle Rechtsverhältnisse entscheiden.

7 Tsikrikas

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§ 4 Materielle Rechtskraft

Sie hat eine allgemeine Wiedergutmachungsfunktion und deshalb ist der Zeitraum zwischen Erlaß der Verordnung und mündlicher Verhandlung maßgeblich. Die Funktion der Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Verordnung aufgrundeiner Klage gemäß Art. 173 EWGV unterscheidet sich indessen von der Funktion der inzidenten Feststellung. Im ersten Fall ist Zweck der Klage nicht nur die Aufhebung der Verordnung, sondern auch die Beseitigungjederauch vergangeneo - negativen Folge; der Zeitraum zwischen Erlaß der Verordnung und mündlicher Verhandlung muß also maßgeblich sein. Die Situation ist aber anders, wenn es um die inzidente Feststellung der Rechtswidrigkeit der Verordnung im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens geht. Diese Feststellung intendiert als Hauptfolge die Unanwendbarkeit der Verordnung im konkreten Fall. Die Pflicht zur Wiedergutmachung, die der analog anwendbare Art. 176 EWGV vorsieht, ist jetzt nur Nebenfolge. Die Prüfung der Rechtswidrigkeit der Verordnung muß also auch unter dem Gesichtspunkt der Wiedergutmachung nicht über die Zeit hinausgehen, die für die Erfüllung der Hauptfunktion der Feststellung, der Unanwendbarkeit der Verordnung im konkreten Fall, notwendigerweise zu erfassen ist. Diese Zeit ist aber der Zeitraum, in dem die staatliche Maßnahme mit der Verordnung unvereinbar ist21 • VIII. Präklusion alter Tatsachen 1. Allgemeines

Die Bestimmung der zeitlichen Grenzen der Rechtskraft ist eng mit der Präklusion alter Tatsachen verbunden. Tatsachen, die schon vorgetragen worden sind, aber auch solche, die vor dem für die Rechtskraftwirkung maßgeblichen Zeitpunkt existierten und nicht vorgetragen waren, können keine zulässige neue Klage mit demselben Antrag begründen 1 . Es kommt nicht auf die 21 Wenn man eine weitergehende Prüfung der Verordnung und infolgedessen eine allumfassende Wiedergutmachungspflicht annehmen würde, dann hätten wir eine große Annäherung der Einrede der Rechtswidrigkeit an die Anfechtungsklage hinsichtlich der Ergebnisse. Das ist aber nicht zu befürworten, weil es für die Anfechtungsklage die kurze (zweimonatige) Frist gibt, für die Einrede dagegen keine. 1 In Griechenland fehlt eine allgemeine Vorschrift, die die Präklusion regelt. Art. 330 griech. ZPO schließt zwar die Geltendmachung sowohl der vorgetragenen als auch der nicht vorgetragenen Einreden aus, soweit diese auf Tatsachen, die vor der letzten mündlichen Verhandlung entstanden sind, beruhen. Man könnte meinen, diese Vorschrift regele die Präklusion alter Tatsachen. Daher soll geprüft werden, ob Art. 330 griech. ZPO sich nur auf das einredeweise Vorbringen der Tatsachen beschränkt oder ob er auch die im Rahmen einer neuen Klage vorgetragenen Tatsachen betrifft. Von Beys, Einführung, S. 280, wird die Meinung vertreten, daß die Vorschrift sowohl die einredeweise als auch die klageweise vorgebrachten Tatsachen betreffe, aber nur im Hinblick auf den Schuldner. Der Gläubiger sei von der Vorschrift nicht betroffen. Für ihn werde die Präklusion von Art. 324 griech. ZPO geregelt, nach dem nur in einem Prozeß schon vorgetragene Tatsachen ausgeschlossen sind. Die nicht vorgetragenen alten Tatsachen würden dagegen

VIII. Präklusion alter Tatsachen

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Möglichkeit der Parteien an, diese Tatsachen vorzutragen, sondern allein auf deren Entstehenszeitpunkt 2 • Anders ausgedrückt: Änderungen der rechtlichen und tatsächlichen Situation, die vor dem für die Rechtskraftwirkung maßgeblichen Zeitpunkt eingetreten sind, können nachträglich nicht mehr berücksichtigt werden. Es fragt sich, ob eine solche Präklusion im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof von Bedeutung sein kann. Art. 41 EuGH-Satzung sieht die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens vor, wenn dem Gerichtshof und der die Wiederaufnahme beantragenden Partei unbekannte Tatsachen nach der Urteilsverkündung bekannt werden. Welche Bedeutung hätte die Unzulässigkeit einerneuen Klage, wenn die Partei jede aufgrundihrer Unkenntnis nicht vorgetragene Tatsache im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens vorbringen könnte? Diese Auslegung, wie sie dem Wortlaut des Art. 41 EuGH-Satzung entspricht, kann nicht richtig sein, weil sie praktisch zur Aufhebung der materiellen Rechtskraft (Art. 65 EuGH-VerfO) der Urteile des EuGH führt. Art. 41 sollte vielmehr restriktiv ausgelegt werden. Nicht präkludiert können nur die unbekannten Tatsachen sein, von denen die Partei keine Kenntnis nehmen konnte. Die anderen, schuldhaft unbekannt gebliebenen Tatsachen können nicht mehr vorgetragen werden 3 : "Nemo auditur suam negligenciam allegans". Im Verfahren mit Untersuchungsmaxime- ein solches ist auch das Vertragsverletzungsverfahren4 - wird der Kreis der präkludierten Tatsachen außerdem durch die amtswegige Ermittlung erweitert, weil auf diese Weise auch nicht vorgetragene Tatsachen dem Gerichtshof bekannt werden können 5 • Die Präklusion von Tatsachen kann also nicht durch die Wiederaufnahme des Verfahrens völlig ausgehöhlt werden. nicht präkludiert. Diese Ansicht läßt aber einige Fragen offen. Warum soll eine unterschiedliche Behandlung von Gläubigern und Schuldnern richtig sein, wenn sie als Kläger auftreten. Auch Art. 324 griech. ZPO kann diese Unterscheidung nicht rechtfertigen. Er regelt die Voraussetzungen der negativen Funktion der Rechtskraft, und deshalb bezieht er sich allgemein auf den jeweiligen Kläger, sei es der Gläubiger, sei es der Schuldner bei einer negativen Feststellungsklage. Auch wenn Art. 330 griech. ZPO als "Iex specialis" Vorrang gegenüber Art. 324 griech. ZPO in bezugauf den Schuldner hat, kann Art. 324 griech. ZPO den verschiedenen Umfang der Präklusion nicht erklären. Er spricht nicht von vorgetragenen Tatsachen, sondern vom Lebenssachverhalt. Der Begriff des Lebenssachverhaltes kann aber so ausgelegt werden, daß er nicht nur die vorgetragenen Tatsachen sondern auch diejenigen umfaßt, die den vorgetragenen Prozeßstoff ergänzen (vgl. auch Habscheid, Streitgegenstand, S. 217). Art. 324 griech. ZPO sollte auf diese Weise ausgelegt werden, weil nur diese Auslegung mit dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebot (Art. 4 griech. Verfassung) vereinbar ist. Eine andere Lösung wäre es, Art. 330 griech. ZPO auf die Einreden zu beschränken und dem Art. 324 griech. ZPO die Präklusion im Rahmen einerneuen Klage zu überlassen (Kondylis, Rechtskraft, S. 284 begründet aber eine allgemeine Präklusion auch nicht vorgetragener Tatsachen durch Art. 330 griech. ZPO). 2 Zeiss, § 73, Anm. III; Baur/ Stürner, § 43, Rn. 748; Stein / Jonas/Schumann / Leipold, § 322, Anm. X 2; Teufel, S. 48. 3 Rs 56/70, Slg XVII 1. 4 Siehe § 3 II 2. 7*

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§ 4 Materielle Rechtskraft

2. Die von der Präklusion erlaBten Tatsachen

Die Präklusion erfaßt Tatsachen, die sich gegen die festgestellte Rechtsfolge richten und dem alten Sachverhalt widersprechen 6 , oder den schon vorgetragenen Prozeßstoff ergänzen 7 • Das heißt, es werden alle Tatsachen ausgeschlossen, die die Feststellung der (Un-)Vereinbarkeit der staatlichen Maßnahme mit dem Gemeinschaftsrecht - mit den festgestellten konkreten Normen - betreffen. 3. Ist die Präklusion eine Rechtskraftwirkung?

Es ist noch zu prüfen, welchen Charakter und welche Funktion die Präklusion hat. Handelt es sich um ein rechtskraftfremdes Phänomen oder um eine Wirkung der materiellen Rechtskraft? Im letzteren Fall kann sie entweder Ausfluß der "ne bis in idem" Wirkung sein, oder sie ist eine selbständige Rechtskraftwirkung. a) Mitgliedstaatliche Ebene

Es wird auf nationaler Ebene die Ansicht vertreten, daß nur die Präklusion schon vorgetragener Tatsachen eine Rechtskraftwirkung sei. Die Präklusion nicht vorgetragener Tatsachen sei rechtskraftfremd 8 , weil diese Tatsachen nicht dem Streitgegenstand angehörten 9 und darüber noch nicht entschieden worden sei. Wenn man dieser Ansicht konsequent folgt, dann handelt es sich bei den zum ersten Mal neu vorgetragenen Tatsachen um einen neuen Streitgegenstand und infolgedessen greift die "ne bis in idem"-Wirkung der Rechtskraft nicht ein. Eine abweichende neue Entscheidung ist dann aus Gründen der Rechtskraft zulässig; dem steht dann aber die rechtskraftfremde Präklusion entgegen. Die Tatsachen werden ausgeschlossen und zurückgewiesen; es wird dem Kläger versagt, mit ihnen einen neuen Streitgegenstand zu bilden, eine neue Klage zu begründen, welche die "ne bis in idem"-Schranke überwinden könnte. Die Funktion der 5 Art. 41 EuGH·Satzung bestimmt als maßgeblichen Zeitpunkt für die Kenntnis die Urteilsverkündung. Tatsachen können aber nur bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung berücksichtigt werden und der EuGH kann in komplizierten Fällen des Vertragsver· letzungsverfahrens kein "Stuhlurteil" erlassen. Wenn sich nach dem Schluß der mündli· chen Verhandlung neue Tatsachen ergeben, dann kann zwar der EuGH sie von Amts wegen berücksichtigen (Untersuchungsgrundsatz), er soll aber auch die mündliche Verhandlung wieder eröffnen, damit die Parteien die Möglichkeit haben, sich über diese Tatsachen zu äußern. Maßgeblich ist also der Zeitpunkt des Endes der letzten mündlichen Verhandlung. 6 Grunsky, Grundlagen,§ 47 IV 1, S. 506; Jauemig, ZPR, S. 219; Schwab, Festschrift für Bötticher, S. 326; ThomasjPutzo, § 322, Anm. 7c; BVerWGE 14, 359 (362); OVG Münster, DVBl 1964, 157; Areopag 41 I 1987, Dikeosini 1988, 122fT. 7 Stein/ JonasjSchumann/Leipold, § 322, Anm. X 2; Sinaniotis, ZPO, § 322, Anm. III. 8 Rosenberg, P.räklusionswirkung, S. 313 ff; Habscheid, Streitgegenstand, S. 291 ff. 9 Habscheid, FamRZ 1966, 486fT.

VIII. Präklusion alter Tatsachen

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Präklusion ist dieselbe, wenn sie als selbständige Wirkung der materiellen Rechtskraft gegenüber der "ne bis in idem"-Wirkung charakterisiert wird 10 • Wenn der Richter die Voraussetzungen der "ne bis in idem" Wirkung prüft, vergleicht er den neuen Streitgegenstand nicht mit dem alten, sondern mit dem Entscheidungsgegenstand. Der Entscheidungsgegenstand enthält aber nicht nur die Feststellung der (Nicht)Existenz der vorgetragenen und dem Streitgegenstand zugehörigen Tatsachen. Er impliziert auch die Feststellung, daß jedes Ereignis, das der tatsächlichen Feststellung zuwiderläuft, bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung nicht eingetreten ist. Es wird die Nichtexistenz des kontradiktorischen Gegenteils nicht nur des festgestellten Rechtsverhältnisses, sondern auch der festgestellten Rechts- und Tatsachenlage implizit festgestellt. Wenn der Klage stattgegeben wird, ist mit logischer Notwendigkeit- obwohl im Urteil nicht ausdrücklich erwähnt- auch festgestellt, daß Tatsachen, die die klagebegründende Rechts- und Tatsachenlage ändern oder beseitigen, nicht bis zum Schluß der letzten mündlichen Verhandlung eingetreten sind. Die Abweisung der Klage als unbegründet stützt sich auf die implizite Feststellung, daß auch andere als die vorgetragenen, die Klage begründenden Tatsachen nicht vorgelegen haben. Wenn aber die zum ersten Mal im zweiten Prozeß vorgetragenen Tatsachen zum Entscheidungsgegenstand des ersten Prozesses gehören, dann kann die neue Klage nicht das Hindernis der "ne bis in idem"-Wirkung überwinden und zu einem abweichenden Urteil führen. Die Tatsachen bleiben im neuen Prozeß unberücksichtigt, weil die neue Klage unzulässig ist 11 • Die Präklusion ist also keine selbständige, neben der "ne bis in idem"-Funktion bestehende Wirkung der materiellen Rechtskraft. Sie ist Element dieser Funktion. b) Vertragsverletzungsverfahren

Im Vertragsverletzungsverfahren gehört der Lebenssachverhalt nicht dem Entscheidungsgegenstand an 12 . Deshalb sind entsprechende Tatsachen nicht in der Lage, einen Streitgegenstand zu bilden, der den alten Entscheidungsgegenstand neu aufrollt. Änderungen, die den Prüfungsmaßstab betreffen, können nicht die Grenzen des Entscheidungsgegenstandes überschreiten, weil auch die Nichtexistenz jeder Änderung stillschweigend festgestellt worden ist. Man 10 Beys, Einführung, S. 274; Calavros, Gegenstand, S. 395. Siehe auch Schwab, Streitgegenstand, S. 169, der zwischen Entscheidungswirkung (Präklusion vorgetragener Tatsachen) und Ausschlußwirkung (Präklusion nicht vorgetragener Tatsachen) unterscheidet. 11 Qtto, Präklusion, S. 128 nimmt eine ähnliche Präklusion an, obwohl er den Streitgegenstand des zweiten Prozesses mit dem des ersten vergleicht. Man sollte weiter im Auge behalten, daß die Präklusion auch in den Präjudizialitätsfällen Anwendung findet. In diesem Fall hindert die "ne bis in idem"-Funktion der materiellen Rechtskraft eine vom alten Urteil abweichende Entscheidung hinsichtlich des präjudiziellen Rechtsverhältnisses. Die Tatsachen, die sich gegen die alte Feststellung richten, bleiben unberücksichtigt. 12 Siehe§ 4 V 1b).

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§ 4 Materielle Rechtskraft

könnte behaupten, dasselbe gelte für Änderungen des Prüfungsgegenstandes. Aber diese Änderungen können nach der Rechtsprechung des EuGH nicht mehr berücksichtigt werden, wenn sie nach dem Ende des Vorverfahrens entstanden sind 13 • Sie gehören also insoweit nicht dem Entscheidungsgegenstand an. Eine Präklusionkraft "ne bis in idem"-Wirkung bei Rechtskraftpräklusion ist nicht möglich. Eine rechtskraftfremde Präklusion würde den Justizgewährungsanspruch der Parteien verletzen, weil sie überhaupt nicht imstande waren, diese Änderungen vorzutragen. Dabei geht es nicht um subjektive Unmöglichkeit, die für die Präklusion keine Rolle spielt, sondern um das Verbot, diese Änderungen vorzutragen. Es wäre ein schwerer Verstoß gegen die Rechte der Parteien und würde der Rechtsstaatlichkeit der europäischen Rechtsordnung widersprechen, wenn es den Parteien sowohl während des Prozesses als auch im Rahmen eines anderen Prozesses verboten wäre, diese Tatsachen vorzutragen und auf diese Weise Rechtsschutzanträge zu begründen. Tatsachen, die mit dem festgestellten Prozeßstoff nichts zu tun haben 14, die einen völlig unabhängigen Antrag stützen 15 und die Feststellung der (Un)Vereinbarkeit der staatlichen Handlung mit konkreten Normen des Gemeinschaftsrechts nicht berühren, werden nicht ausgeschlossen, weil sie sich auf einen Streitgegenstand beziehen, der nicht nur die Grenzen des Entscheidungsgegenstandes überschreitet, aber teilweise mit ihm ähnlich ist - Präjudizüllitätsfälle -, sondern ihm ganz unabhängig und ohne Überschneidungspunkte gegenübersteht. Wenn im Urteil die Vertragswidrigkeit der staatlichen Handlung X festgestellt worden ist, betreffen die Tatsachen, die die Vertragswidrigkeit der Handlung Y begründen, einen gegenüber dem Entscheidungsgegenstand unabhängigen Streitgegenstand. 4. Die Behandlung neuer Tatsachen

Für manche Tatsachen ist ihr Entstehungsmoment ganz gleich, weil sie immer, auch wenn sie vor dem Ende der letzten mündlichen Verhandlung entstanden wären, einen neuen Streitgegenstand bilden, der nicht unter den Entscheidungsgegenstand fällt 16 • Sie können daher ohne Präklusionsgefahr vorgetragen werden 17 • Andere Tatsachen aber könnten, wenn sie vor dem für die Rechts13 Weil das Vorverfahren für die Gewährung der Verteidigungsrechte des Beklagten unabänderlich ist. Dazu EuGH, Rs 7/ 69, Slg 1970, 111 ff. Ähnlich Waelbroeck, RCJB 1977, S. 17. Siehe auch§ 4 V 1b), bb), (b)zum Zeitpunkt derendgültigen Bestimmungdes Prüfungsgegenstandes. 14 Rosenberg/Schwab, § 156, Anm. II. 15 Otto, Präklusion, S. 107. 16 In Frankreich wird aufgrund neuer Tatsachen ein unabhängiger Streitgegenstand angenommen, wenn sie eine Änderung entweder des "objet" oder der "cause" mit sich bringen: Encyclopedie Dalloz, procedure civile, chose jugee, Anm. 157; Tomasin, Essai, S. 232; Cass. soc. 13 -11 -85, Ia sem. jur. 1986, 38.

VIII. Präklusion alter Tatsachen

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kraftwirkung maßgeblichen Zeitpunkt entstanden wären, dem Entscheidungsgegenstand angehören, weil sie der tatsächlichen Feststellung des Urteils widersprechen. Sie würden unter das stillschweigend als nicht existent festgestellte kontradiktorische Gegenteil fallen. Für sie ist ihre Entstehung nach dem Schluß der letzten mündlichen Verhandlung von Bedeutung, da nur sie ihre Zugehörigkeit zum Entscheidungsgegenstand ausschließt. Solche neuen Tatsachen konnten weder ausdrücklich noch stillschweigend festgestellt werden, weil sie nach dem für ihre Berücksichtigung maßgeblichen Zeitpunkt entstanden sind. Sie bilden deshalb einen Streitgegenstand, der vorn Entscheidungsgegenstand nicht erfaßt werden kann und infolgedessen werden sie durch die "ne bis in idern"-Wirkung der Rechtskraft nicht ausgeschlossen. Im Vertragsverletzungsverfahren ist es fraglich, ob die Änderung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die einen schon rechtskräftig gelösten Fall betrifft und nach dem Schluß der letzten mündlichen Verhandlung eintritt, als neue Tatsache betrachtet werden kann 18 • Wenn man die Bindung aller staatlichen Organe an eine das Gemeinschaftsrecht auslegende Entscheidung des EuGH berücksichtigt 19 , sollte diese Frage bejaht werden. Wie alle staatlichen Organe sollen auch die Organe des Staates, dessen Handeln nach der alten Rechtsprechung vertragsmäßig war, jetzt der neuen Ansicht des EuGH genügen. Wenn sie dies nicht tun, kann das alte, die Vertragsmäßigkeit des staatlichen Handeins feststellende Urteil kein Hindernis für eine neue Klage sein. Das würde dem nach der neuen Rechtsprechung vertragswidrig handelnden Staat helfen, sich der Erfüllung seiner Pflichten zu entziehen 20 • 17 BGH, NJW 1981, 2306. Dagegen scheint das BAG, NJW 1984, 1710 dies zu verkennen, soweit es verlangt, daß die neuen Tatsachen einen "selbständigen Sachverhalt" ergeben müssen. 18 Aufnationaler Ebene verneinen Stein/ Jonas/Schumann/Leipold, § 322, Anm. X 2; Kondylis, Rechtskraft, S. 375; Grunsky, Grundlagen, § 47 IV 1, 511 ff.; Kopp, § 121, Rn. 29einesolche Möglichkeit; aA Eyermann/Fröhler, § 121 , Rn. 27-30a; BVerWGE 35, 234 (237). Nach BVerwGE 17, 256 (261) bildet die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung einen neuen rechtlichen Gesichtspunkt, weil sie mit der authentischen Interpretation ähnlich ist. 19 Siehe § 7 II 1 b. 20 Es ist aber fraglich, ob die Änderung der Rechtsprechung die Vorschriften betreffen muß, die unmittelbar auf den konkreten Fall Anwendung finden, oder ob sie auch Vorschriften betreffen kann, die aufgrundder - im Gemeinschaftsrecht herrschenden ~ systemkonformen und teleologischen Interpretation mittelbar eine Änderung der Auslegung der unmittelbar augewandten Vorschriften verursachen kann (z.B. Änderung der Rechtsprechung, die sich auf einen der Grundsätze des EWG-Vertrags [Art. 1- 8] bezieht). Nur wenn eine solche Rechtsprechungsänderung notwendigerweise zur Änderung der Auslegung der unmittelbar augewandten Vorschriften führt undjeden Beurteilungsspielraum des staatlichen Organs ausschließt- das kann aber sehr schwer geschehen-, kann sie als neue Tatsache gelten. Ein anderer Fallliegt vor, wenn durch die extensive Auslegung einer anderen als der bisherangewandten Norm die staatliche Maßnahme von dieser Auslegung erfaßt wird und infolgedessen ihr vertragswidriger Charakter gegeben ist. In diesem Fall ist eine neue Klage immer möglich, weil ein unabhängiger Priifungsmaßstab bzw. Streitgegenstand besteht.

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§ 4 Materielle Rechtskraft

IX. Negative Wirkung der materieDen Rechtskraft 1. Allgemeines

Negative Wirkung der materiellen Rechtskraft bedeutet, daß nach einer rechtskräftigen Entscheidung ein neuer oder mindestens ein neuer abweichender richterlicher Spruch über die schon entschiedene und gerichtlich gelöste Streitfrage unmöglich ist. Die negative Wirkung hat folgende Voraussetzungen: a) Die Identität der Streitgegenstände 1 , genauer gesagt: die Identität des Entscheidungsgegenstandes des schon rechtskräftig abgeschlossenen Prozesses mit dem Streitgegenstand des neuen Prozesses 2 • Es ist von einem Vergleich des Streitgegenstandes des neuen Prozesses mit dem Entscheidungsgegenstand und nicht mit dem Streitgegenstand des alten Prozesses auszugehen, weil nur ein solcher Vergleich dem Gebot der Einmaligkeit des Rechtsschutzes, an das die negative Funktion der materiellen Rechtskraft sich anknüpft, entspricht. Die negative Funktion der materiellen Rechtskraft schließt ein neues Rechtsschutzersuchen nur aus, wenn schon Rechtsschutz hinsichtlich des vorgetragenen Streitgegenstandes gewährt ist. Es ist z.B. möglich, daß das Gericht nicht zu einer Prüfung des materiellrechtlichen Streitgegenstandes gekommen ist, weil die Klage unzulässig war; dann war kein Rechtsschutz im Hinblick auf diesen Streitgegenstand gewährt. Das kann aber nur durch eine Prüfung des Entscheidungsgegenstandes festgestellt werden. Deshalb ist nur der Vergleich zwischen Entscheidungsgegenstand und Streitgegenstand maßgeblich. Ein unzulässiges Rechtsschutzbegehren liegt nicht nur vor, wenn der prozessuale Anspruch des ersten Prozesses, oder ein Teil dieses Anspruchs 3 geltend gemacht wird, sondern auch, wenn das kontradiktorische Gegenteil der rechtskräftigen Feststellung gefordert wird4 • Ein Feststellungsantrag, der zwar nicht ausdrücklich das kontradiktorische Gegenteil darstellt, aber mit der ersten Feststellung durchaus 1 SteinfJonasfSchumannfLeipold, § 322, Anm. III Sb; Baumbach/Hartmann, Einf. vor§§ 322-327, Anm. 3A; Blomeyer, § 88, Anm. III, S. 443; Grunsky, Grundlagen,§ 47, Anm. III 2; Jauemig, ZPR, S. 217; Maunz/Ulsamer, BverfGG, § 31, Rn. 14; Pestalozza, S. 169; More!, Traite, S. 600; Motulsky, D. 1968, 1 ff; Perrot, Institutions, S. 562; Tomasin, Essai, S. 224ff.; Chapus, Contentieux administratif, S. 435; Waline, RDP 1959, 108; Beys, Kommentar, S. 1296; Sinaniotis, ZPO,§ 321, Anm. II 2; Areopag 205 / 70, NoB IH, 941 (e contrario); Areopag 946/74 NoB KT, 595 (e contrario). 2 Martin, La sem. jur. 1979, 2938; Motulsky, D 1968, 1ff. In Frankreich wird von "identite d'objet" oder "identite de chose demandee" und von "identite de cause" gesprochen: Civ., 3 janvier 1982, La sem. jur. 1982, 104; Civ., 1 dk 1982, La sem. jur. 1983, 54; Civ., 9 mars 1982, La sem. jur. 1982, 154; CE, 29 juin 1950, RDP 1959, 119; CE, 21 janvier 1955, Recueil1955, 40; CE, 8 mars 1963, Recueil1963, 263; CE, 17 juin 1974, Recueil1974, 344. Identität der cause existiert bei: Identität "des moyens de fait" und "des moyens de droit". Dazu Martin, La sem. jur. 1979, 2938; Civ., Caz. Pal. 1976, 778. 3 Kondylis, Rechtskraft, S. 115. 4 SteinfJonasfSchumannfLeipold, § 322, Anm. IX 1; RosenbergfSchwab, § 155, Anm. II; Zöllerf Vollkommer, vor§ 322, Anm. IV 1; Morel, Traite, S. 600; Kondylis, Rechtskraft, S. 116; BGH, NJW 1983, 2032.

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unvereinbar ist - z.B. wird im Prozeß des A gegen B festgestellt, A sei Eigentümer einer Sache, B begehrt mit einerneuen Klage nicht die Feststellung, A sei nicht Eigentümer, sondern die Feststellung, B sei Eigentümer- bereitet nur bei oberflächlicher Sicht Einordnungsschwierigkeiten. Die Feststellung, welche die Existenz nur des Eigentums des A betrifft, scheint das Begehren des B - Feststellung, daß er Eigentümer ist - nicht zu erfassen. Würde aber infolgedessen die negative Wirkung der Rechtskraft verneint, dann müßte ein neues Verfahren stattfinden, obwohl dem B schon einmal Rechtsschutz gewährt worden ist. Er hatte schon die Möglichkeit, seine Anträge und Argumente zugunsten seines Eigentums im Rahmen der Verteidigung gegen A vorzutragen; (Allein-)Eigentümer kann immer nur einer sein. Durch das erste Urteil ist auch implizit festgestellt 5 , daß die Sache niemand anderem- einschließlich des Bals dem A angehört. Diese implizite Feststellung ist das kontradiktorische Gegenteil dessen, was B jetzt begehrt. Aus diesem Grunde greift die negative Wirkung der materiellen Rechtskraft 6 . Auch in diesem Fall führt also der Vergleich zwischen dem Entscheidungsgegenstand des alten Prozesses und dem Streitgegenstand des neuen zu befriedigenden Ergebnissen. b) Die Beteiligung der von der Rechtskraft des Vorprozesses gebundenen Personen als Parteien am Folgeprozeß 7 • 2. Wiederbolungs- oder Abweichungsverbot?

a) Allgemeines

Die negative Funktion der materiellen Rechtskraft kann entweder als Wiederholungs- oder als Abweichungsverbot verstanden werden. Nach der Wiederholungsverbotstheorie verhindert die Rechtskraft nicht nur eine andere abweichende Entscheidung, sondern macht die neue Klage unzulässig 8 ("ne bis Vgl. auch Koussoulis, Beiträge, S. 202. Vgl. auch Rosenberg/Schwab, § 155, Anm. II; Kondylis, Rechtskraft, S. 116, BGHZ 83, 278, (280). 7 Martin, La sem.jur.1979, 2938; More!, Traite, S. 600; Motulsky, D 1968,1 ff.; Perrot, Droit judiciaire, S. 669; Tomasin, Essai, S. 224fT.; Chapus, Contentieux administratif, S. 435; Gabolde, S. 416; Beys, Kommentar, S. 1296; Civ., 24 janvier, 1984, La sem. jur., 1984, tableaux 102; CE, 21 janvier 1955, Rec. CE 1955, 40. 8 Stein/Jonas/Schumann/Leipold, § 322, Anm. III 4b; Baumbach/Hartmann, Einf. vor §§ 322-327, Anm. 3A; Jauemig, ZPR, S. 218; Thomas/Putzo, § 322, Anm. 4b; Wieczorek, § 322, Anm. B I a; Zeiss, ZPR, § 70, Anm. II 1; Eyermann/Fröhler, § 121, Rn. 3; Klein, NJW 1977, 697; Rupp, Festschrift für Kern, S. 404; Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 34, 195, 215; Vogel, S. 584; Zuck, NJW 1975, 907; Maunz/Ulsamer, BVerfGG, § 31, Rn. 14; Lacoste, De Ia chose jugee, 302ff.; Martin, La sem. jur. 1979, 2938; More!, Traite, S. 600; Perrot, Droit judiciaire, S. 669; Tomasin, Essai, S. 180, 224fT.; Gabolde, S. 416; Beys, Kommentar, S. 1296; derselbe, Einführung, S. 274; Sinaniotis, ZPO, § 321, Anm. II 2; Kondylis, Rechtskraft, S. 121; BGHZ 36, 365 (367); BGHZ 45, 329 (331); BGH, NJW 1979, 1408; BAG, DB 1976, 151; BVerWGE 14, 352 (362); BVerfGE 20, 56 5

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in idem","bis de eadem re ne sit actio"). Die Rechtskraft als negative Sachurteilsvoraussetzung ("fin de non recevoir") hat hierdurch rein prozessualen Charakter9 , der am besten den Anforderungen der Rechtssicherheit entspricht 10 • Anders die Abweichungsverbotstheorie. Nach ihr ist eine neue Klage nicht unzulässig, die Rechtskraft verhindert aber eine abweichende Entscheidung 11 ; sie betrifft die Begründetheit der neuen Klage 12 • Das Gericht soll das alte Urteil ohne neue mündliche Verhandlung und Beweisaufnahme der neuen Entscheidung zugrundelegen. Für die Abweichungsverbotstheorie wird vorgebracht, nur wenn die neue Klage zulässig sei, könne das Gericht überhaupt prüfen, ob die materielle Rechtskraft eingreife 13 oder ob sich die Sachlage erheblich geändert habe 14 • Weiter könne die Prüfung der Identität des Streitund Entscheidungsgegenstandes besonders schwierig sein und Mühe kosten, obwohl oft eindeutig sei, daß der alte und der neue Prozeß nur zu demselben Ergebnis führen könnten 15 • Im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit 16 wird die Abweichungsverbotstheorie befürwortet, weil nur so die Prüfung und Anfechtung eines mit dem schon angefochtenen VA ähnlichen Wiederholungsaktes möglich ist. Diese Auffassung setzt Identität des Streitgegenstandes bei inhaltlicher Ähnlichkeit der zwei Akte voraus. Einige Vertreter 17 der Abweichungsverbotstheorie kommen zu demselben Ergebnis (Unzulässigkeit der neuen Klage) wie die Wiederholungsverbotstheorie, weil sie das Fehlen des Rechtsschutzbedürfnisses für eine Klage mit demselben Streitgegenstand annehmen. Auch im Rahmen der Wiederholungsverbotstheorie wird gelehrt, daß die neue Klage immer zulässig ist, wenn ein besonderes Rechtsschutzinteresse für eine neue Klage existiert (z.B. bei zweifel(86); BVerfGE 22,387 (405); BVerfGE 33, 199 (202); CE 20 juin 1958, RDP 1959, 119; CE 8 mai 1963, Rec. CE 1965, 263; OLG Patras 40oj76, EEN 1977, 271. 9 Beys, Kommentar, S. 1297; Stein / Jonas/Schumann / Leipold, § 322, Anm. III 5b. 10 Vgl. Habscheid, Festschrift ffir Nipperdey, S. 896fT.; Koussoulis, Beiträge, S. 221 ff. 11 Pohle, Gedächtnisschrift für Calamandrei, S. 401; Hellwig, Rechtskraft, S. 164fT.; Grunsky, Grundlagen,§ 47, Anm. III 2; A. Blomeyer, § 88, Anm. III, S. 443; J. Blomeyer, JR 1968, 407fT.; Brox, Festschrift für Geiger, 1974, S. 812; Kopp,§ 121, Rn. 9; Schneider, DVB11954, 184; Wischermann, S. 37; Michelakis, EEN 19, 767; Fragistas, Themis 54, 144; Rammos, Lehrbuch, S. 549; BSG, JZ 1961, 504; BVerwGE 5, 34 (38); 35, 234 (236). 12 Stein/ Jonas/Schumann/Leipold, § 322, Anm. III Sb; Kondylis, S. 117; Koussoulis, Beiträge, S. 203. 13 Vgl. Grunsky, Grundlagen,§ 34, Anm. III 2. 14 J. Blomeyer, JR 1968, 407fT. 15 Vgl. Grunsky, Grundlagen,§ 34, Anm. III 2. 16 Vgl. Redecker /von Oertzen, § 121, Rn. 5; Ule, §59, Anm. I 1. 17 Pohle, Gedächtnisschrift für Calamandrei, S. 401; Hellwig, Klagerecht, S. 71; Areopag, 1015/76, NoB 25, 371. Sie werden von Bötticher, Kritische Beiträge, S. 207fT.; Sinaniotis, ZPO, § 321, Anm. II 2; Kondylis, Rechtskraft, S. 120 mit dem Argument kritisiert, daß das Rechtsschutzbedürfnis nur bei Stattgabe der ersten Klage im Fall einer neuen Klageerhebung fehlen kann, und daß es außerdem nicht von den Erfolgschancen der neuen Klage abhängt.

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haftem Inhalt oder Verlust des alten Urteils, so daß die Zwangsvollstreckung unmöglich ist 18 ; oder bei neuer Klage zur Unterbrechung der Verjährung des Anspruchs 19• 20 • Das Gericht darf in diesem Fall nicht von dem alten Urteil abweichen. Es besteht also insoweit eine Annäherung beider Theorien. b) Vertragsverletzungsverfahren

Im Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH mögen Zweifel bestehen, ob die Abweichungsverbotstheorie zu befriedigenden Ergebnissen führen kann. Die Kommission und die Mitgliedsstaaten sind auch in Fällen aktiv legitimiert, wo keine Verletzung ihrer Rechte vorliegt 21 . Infolgedessen hängt ihre Klagebefugnis nicht von der Behauptung eines eigenen Rechtsschutzinteresses ab. Wie kann also die Abweichungsverbotstheorie, soweit sie die Unzulässigkeit der Klage mangels Rechtsschutzinteresses annimmt, für das Vertragsverletzungsverfahren passen, wenn Rechtsschutzinteresse überhaupt nicht notwendig ist? Die Kommission und die Mitgliedsstaaten brauchen indessen kein eigenes Rechtsschutzbedürfnis geltend zu machen, weil sie im Interesse der Gemeinschaft22 und der Gemeinschaftsbürger 23 tätig werden. Das Rechtsschutzinteresse der Gemeinschaft und der Individuen kann aber sehr wohl fehlen, wenn schon ein rechtskräftiges Urteil existiert. Die Unzulässigkeit der neuen Klage kann Folge des Mangels dieses Rechtsschutzinteresses sein. Beide Theorien unterscheiden sich zunächst kaum hinsichtlich ihrer praktischen Ergebnisse. Man kann letzten Endes daran zweifeln, ob ein qualitativer Unterschied zwischen der Wiederholungsverbots- und der Abweichungsverbotstheorie besteht. Beide Theorien verwirklichen die "ne bis in idem"-Wirkung der materiellen Rechtskraft. Das einmal festgestellte Rechtsverhältnis soll unangetastet bleiben. Der Unterschied scheint überwiegend quantitativ zu sein: bei Geltung des Wiederholungsverbots ist die neue Klage unzulässig, bei der Geltung des Abweichungsverbots ist dagegen nur das neue Vorbringen des Klägers unzulässig. Man könnte argumentieren, bei Geltung der WiederhoStümerinBaur /Stümer,§ 11, Rn. 156, 158;Roseoberg/ Schwab,§ 152, Anrn. IV 1b. Rosenberg / Schwab, § 152, Anm. IV 1b. 20 Diese Ansicht wird aber mit dem Argument kritisiert, daß die Berücksichtigung einer negativen Sachurteilsvoraussetzung (Rechtskraft) nicht von der Existenz einer anderen Sachurteilsvoraussetzung (Rechtsschutzbedürfnis) abhängen könne. (Bötticher, Kritische Beiträge, S. 228; Kondylis, Rechtskraft, S. 120). Weiter wendet sich Koussoulis, Beiträge, S. 210fT. gegen diese Ansicht mit dem Argument, in diesen beiden Fällen existiere keine Ausnahme des Wiederholungsverbots, weil keine Identität des Streit- und Entscheidungsgegenstandes bestehe. 21 WaelbroeckfVandersanden, Art. 169, Anm. 1; "La procedure revet un caractere largement objectir'. Vgl. auch Bleckmann, Europarecht, S. 155 22 Vgl. Daig in Groeben/Ehlerrnann, Art. 169, Rn. 26; Bleckmann, Europarecht, S. 155; Beutler / Streil, S. 246. 23 Vgl. Herrnann, Rn.110; Schmitt von Sydow in Groeben/Ehlerrnann, Art.155, Rn.17; Rs 9/60 und 12/60; Slg 1961, 427fT., 467fT. 18

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lungsverbotstheorie erfolge die Prüfung der materiellen Rechtskraft im Rahmen der Sachurteilsvoraussetzungen, bei Geltung der Abweichungsverbotstheorie gehöre sie dagegen zur Begründetheitsprüfung, die Prüfung als Sachurteilsvoraussetzung bedeute aber eine Einsparung erheblichen prozessualen Aufwands. Diese Argumentation kann aber nicht unbedenklich übernommen . werden. Obwohl eine voll fundierte Stellungnahme zu dem Problem der Reihenfolge von Sachurteils- und Begründetheitsvoraussetzungen 24 die Grenzen dieser Arbeit überschreitet, muß doch speziell zum Standort der Prüfung der materiellen Rechtskraft Stellung bezogen werden: Oftmals- besonders im Gemeinschaftsrecht, wo sowohlNormen als auch Sachverhalte hoch komplex sind- ist für die Feststellung der Identität des Streitgegenstandes der neuen Klage mit dem Entscheidungsgegenstand des alten Prozesses eine weitgehende Begründetheitsprüfung erforderlich. Wie bereits gezeigt 25 sind für die Bestimmung des Streitgegenstandes allein inhaltliche Kriterien maßgeblich. Dabei kommt es entscheidend darauf an, ob die Maßnahmen, die der vertragswidrig handelnde Mitgliedstaat gemäß Art. 171 EWGV ergreifen muß, auch im Rahmen des neuen Verfahrens dieselben bleiben. Diese Feststellung setzt aber eine Begründetheilsprüfung voraus. Die Einbindung der Prüfung der materiellen Rechtskraft in die Begründetheilsprüfung ist für die Prüfungsreihenfolge eine Vorgabe, die weder das besondere Interesse der Allgemeinheit an entgegenstehender materieller Rechtskraft als Sachurteilsvoraussetzung26 noch der Gedanke beseitigen kann, die Sachurteilsvoraussetzungen - infolgedessen auch die materielle Rechtskraft im Rahmen ihrer negativen Funktion - stellten eine Grenze zur mißbräuchlichen Ausübung des Justizgewährungsanspruchs dar27 und seien daher vorrangig zu prüfen 28 • Die Prüfung der Identität von Streit- und Entscheidungsgegenstand im Rahmen der Begründetheitsprüfung erleichtert erheblich die Feststellung dieser Identität und fördert damit einerseits die Begrenzung der mißbräuchlichen Ausübung des Justizgewährungsanspruchs, sie entspricht aber auch andererseits sehr wohl dem besonderen Allgemeininteresse, das eine gründliche Prüfung der Voraussetzungen der negativen Funktion der materiellen Rechtskraft verlangt. Man kann also nicht die vorrangige Prüfung der negativen Funktion der materiellen Rechtskraft sowohl gegenüber Begründetheilsvoraussetzungen als auch anderen Sachurteilsvoraussetzungen vertreten. Richtiger erscheint eher, daß die Prüfung der negativen Wirkung der materiellen Rechtskraft überhaupt keinen festen Platz hat. Sie schließt eine neue 24 Dazu vgl. Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozeß, S. 109ff.; A. Blomeyer, § 39, Anm. II 4; Stein / Jonas/Schumann, Ein!., Rn. 326; Grunsky, ZZP 80, 55ff.; Pohle, ZZP 81, 161 ff.; Harms, ZZP 83, 167ff.; Wieser, ZZP 84, 304ff.; Rimmelspacher, ZZP 88, 245ff.; Lindacher, NJW 1967,1389f.; Jauernig, Festschrift für Schiedermair, 289ff. 25 Siehe§ 4, V 1b) bb) (c). 26 Vgl. Grunsky, Grundlagen,§ 34, Anm. III 2. 27 Vgl. Beys, Einführung, S. 50; Klamaris, Rechtsausübung, S. 316/317. 28 Vgl. Koussoulis, Beiträge, S. 243.

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Entscheidung über eine schon geprüfte Sachurteilsvoraussetzung oder über den gleichen materiellrechtlichen Streitgegenstand aus. Sie wird jedoch mit dieser Sachurteilsvoraussetzung oder mit dem Streitgegenstand zusammen geprüft. Die Prüfung des Streitgegenstandes ist aber eine Begründetheitsprüfung. Wenn man auf den Unterschied zwischen Abweichungs- und Wiederholungsverbot zurückkommt, ist die Wiederholungsverbotstheorie trotzdem vorzuziehen. Die Unklarheit im Rahmen der Abweichungsverbotstheorie, ob immer ein Rechtsschutzinteresse fehlt oder nur im Fall der Klagestattgabe; aber auch die Betonung der Unzulässigkeit der neuen Klage ("absolutio ab instantia") als unmittelbare Folge der Rechtskraft 29 durch die Wiederholungsverbotstheorie und die hieraus folgende Offenlegung der Parallelität von Funktion und Zweck von Rechtskraft und Rechtshängigkeit30 geben ni.E. den Ausschlag für die Wiederholungsverbotstheorie31 • Eine neue Klage des ursprünglichen Klägers oder eine negative Feststellungsklage32 des das Gemeinschaftsrecht verletzenden Staates, die von dem alten Entscheidungsgegenstand erfaßt sind, sollen unzulässig sein. Auch wenn nach der Feststellung der Vertragswidrigkeit der staatlichen Handlung der Beklagte eine Handlung gleichen Inhalts in neuer äußerer Form wiederholt, ist eine Klage unzulässig. Die inhaltliche Identität des alten und des neuen Prüfungsgegenstandes soll auch hier das entscheidende Kriterium sein 33 • Eine Klage wegen Verletzung des Art. 171 EWGV, der die Befolgung des Urteils gebietet, ist hier die richtige Lösung. aa) Zulässigkeit einer auf die Verletzung von Art. 171 EWGV gestützten Feststellungsklage Anlaß für eine solche Klage ist die Nichtbefolgung des die Vertragsverletzung feststellenden Urteils des Gerichtshofs, d.h. der Nichterlaß der für die vollständige Aufhebung der Vertragsverletzung geeigneten Maßnahmen oder die Wiederholung derselben vertragswidrigen Handlung nach vorläufiger Befolgung des Urteils. Obwohl in ihr übereinstimmend die unproblematische Reaktion auf die weitergehende Vertragsverletzung gesehen wird 34, könnte man Bedenken in bezugauf ihre Zulässigkeit äußern. Ein Urteil, das den Verstoß gegen Art. 171 EWGV feststellt, kann die Pflicht des verletzenden Staates zu weitergehenden Maßnahmen, als zu denen, die sich schon aus dem alten Urteil ergeben, nicht begründen. Das ergibt sich aus der materiellrechtlichen Funktion Stein/ JonasjSchumannjLeipold, § 322, Anm. III 5b. Vgl. Koussoulis, Beiträge, S. 225. 31 So auch Bleckmann, Europarecht, S. 191. 32 Siehe § 10, III 3. 33 Siehe auch§ 4, V 1b) bb) (c). 34 Vgl. Constantinesco, Das Rechtder Europäischen Gemeinschaften, S. 889; Ferril.~re, Contröle, S. 57; Rasquin, Manquements, S. 33/34; Amphoux, Les Novelles, Anm. 1087; Gutsche, Die Bindungswirkung, S. 48; WaelbroeckjVandersanden, Art. 171, Anm. 5. 29

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des Artikels 171 EWGV. Nach diesem Artikel obliegt es dem Staat, alle Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs und aus dem Staatshaftungsrecht des jeweiligen Mitgliedstaates 35 ergeben und die geeignet sind, den Vertragsverstoß zu beseitigen. Dieselbe Pflicht ergibt sich auch aus Artikel 5 EWGV, der die Mitgliedstaaten zur Erfüllung der Ziele des Vertrags verpflichtet 36 • Wenn der Kläger im Vertragsverletzungsverfahren obsiegt, ist der Beklagte aufgrund Art. 171 oder Art. 5 EWGV- Art. 171 EWGV betrifft speziell das Vertragsverletzungsverfahren und hat als "Iex specialis" gegenüber Art. 5 EWGV Vorrang (Gesetzeskonkurrenz) - verpflichtet, das Urteil zu befolgen bzw. den Verstoß zu beseitigen. Wenn im Fall der Nichtbefolgung des Urteils wegen Verletzung des Art. 171 EWGV erneut geklagt wird und der Kläger wieder obsiegt, ist der Beklagte wiederum aus Art. 171 EWGV verpflichtet, das neue Urteil zu befolgen. Aber Befolgung des neuen Urteils bedeutet notwendigerweise Befolgung des alten, weil der Grund der neuen Vertragsverletzung die Nichtbefolgung des alten Urteils war. Das Endergebnis ist dasselbe- der Staat wird nochmals zum Ergreifen derjenigen Maßnahmen verpflichtet, die sich aus dem alten Urteil ergeben. Mit der zweiten Klage hat der Kläger keinen neuen oder erweiterten Rechtsschutz erreicht. Dies widerspreche, so könnte man gegen die Zulässigkeit dieser neuen Klage einwenden, dem Gedanken der Verneinung eines Rechtsschutzes "bis in idem", der hinter dem negativen Aspekt der Rechtskraft stecke. Wenn man die Zulässigkeit dieser Klage verneint, kommt man konsequenterweise zu der Frage, ob Art. 171 EWGV als Vorschrift, die Rechtsschutz nicht gewährleisten kann, d.h. als "Iex imperfecta", überhaupt einen Existenzgrund hat. Die Eigenartigkeit und die Bedürfnisse des Vertragsverletzungsverfahrens sprechen für die Zulässigkeit einer solchen Klage. Das Vertragsverletzungsverfahren kennt entsprechend der "sui generis"-Rechtsnatur der Gemeinschaft keine echten Zwangs- und VollstreckungsmitteL Diese Lücke versucht man mit den Schadensersatzklagen und mit der Klage wegen Verletzung des Art. 171 EWGV auszufüllen 37 • Wenn der verletzende Staat nach einer zweiten Feststellung der Vertragsverletzung, d.h. praktisch nach der Bestätigung des ersten Urteils, das vertragswidrige Verhalten fortsetzt, nähert er sich der Grenze des gemeinschaftsrechtlichen Ungehorsams. Das ist für einen Mitgliedstaat, der am gemeinschaftlichen Leben teilnehmen und die Vorteile des gemeinsamen Marktes genießen will, ein folgenschwerer Schritt. Man wird nicht einfach die Gemeinschaft durch ständige Mißachtung der gemeinschaftlichen Gerichtsbarkeit zu einer institutionellen Krise 38 führen, wenn diese Krise auch eigene Interessen gefahrdet. Die Klage wegen Verletzung Art. 171 EWGV kann also Siehe § 9, II 2. Siehe Entschließung des Europäischen Parlaments zur Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Anwendung und Wahrung des Gemeinschaftsrechts (ABI Nr. 6 C 68 / 32). 37 Siehe § 10, III 3. 38 So Lecourt, Le juge, S. 37. 35

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IX. Negative Wirkung der materiellen Rechtskraft

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durchaus ein erfolgreiches DruckmitteP9 sein. Wenn ein neues Vertragsverletzungsverfahren eröffnet wird, können Kommission und vertragswidrig handelnder Staat im Rahmen des Vorverfahrens (Art. 169 Abs. 1 EWGV) außerdem durch weitere Klärung der rechtlichen und tatsächlichen Lage den Vertragsverstoß ausräumen40 , soweit es an willentlicher Mißachtung fehlt. Auch ist es möglich, daß die Nichtbefolgung des Urteils auf dessen zweifelhaftem Inhalt beruht. Ein neues Urteil kann die Pflicht des Mitgliedstaates genauer und widerspruchsfrei bestimmen41 • Daher ist also das Rechtsschutzbedürfnis für eine neue, auf Verletzung des Art. 171 EWGV gestützte Klage zu bejahen. bb) Zulässigkeit einer Schadensersatzklage Zulässigkeitsprobleme könnten auch bei einer Schadensersatzklage42 des alten Klägers auftauchen. Das wäre aber nur denkbar, wenn sich das Urteil des EuGH nicht nur auf die einfache Feststellung der Vertragswidrigkeit der staatlichen Handlung beschränken würde, sondern den Staat auch zum Ergreifen konkreter Maßnahmen und zur Zahlung von Schadensersatz verurteilen43 würde, was gerade nicht der Fall ist. cc) Zulässigkeit einer Vorlage gemäß Art. 177 EWGV Der Möglichkeit einer Vorlage (Art. 177 EWGV) mit der Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift stehen aufgrund der negativen Wirkung der materiellen Rechtskraft keine Hindernisse entgegen, auch wenn schon der Charakter der Vorschrift als unmittelbar anwendbar inzident im Vertragsverletzungsverfahren festgestellt worden ist. Wie schon erwähnt44 erwächst diese Feststellung nur in "relative" Rechtskraft. Sie kann zwar Präjudizialität, aber nicht negative Funktion entwickeln. Nur 39 Baron, S. 17, bezweifelt den Erfolg dieser zweiten Klage. Er meint, daß "le seul resultat aurait ete de repousser le probleme". 40 Klärende Funktion des Vorverfahrens: Daig in Groeben/Ehlerrnann, Art. 169, Rn. 10; Bleckmann, Europarecht, S. 152; Ferriere, Contröle, S. 25; Rasquin, Manquements, S. 28. Amphoux, S. 379 schreibt aber, daß die neue Klage " ...n'aurait d'effet utile que si le different portait sur Ia nature ou l'etendue des mesures" . 41 In Deutschland ist eine neue Klage bei zweifelhaftem bzw. unklarem Urteilstenor immer zulässig, weil in diesen Fällen ein Rechtsschutzbedürfnis existiert. Statt vieler Stürner in Baur/ Stürner, § 11, Rn. 156. 42 Kommission und Mitgliedstaaten können nach h.M. eine Schadensersatzklage vor dem EuGH gemäß Art.169 und 170 EWGV (Vertragsverletzungsverfahren) erheben. Ehlerrnann, Festschrift für Kutscher, S. 135fT.; Schulze-Eggert, S. 72fT.; Paulin, S. 59; Schwarze, EuR 1983, 1fT.; a.A. Daig, AöR 1958, 132ff. 43 Wohlfahrt in Wohlfahrt/Sprung, Art. 171, Anm. 2 behauptet, daß der EugH die Maßnahmen vorschreiben kann. Pescatore, Foro Padano 1972, 9ff.·schließt eine solche Möglichkeit - zumindest in der Zukunft - nicht aus. 44 Siehe§ 4, IV 2b) bb) (c).

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§ 4 Materielle Rechtskraft

wenn die Streitgegenstände der zwei Prozesse identisch sind, ist eine abweichende Feststellung wegen Unzulässigkeit der neuen Klage auch hinsichtlich dieser Frage unmöglich. Die Vorlage aber, die nur diese Frage betrifft, ist immer zulässig (kein Wiederholungsverbot). Weiterhin ist der EuGH nicht an seine frühere Entscheidung gebunden 45 (kein Abweichungsverbot). X. Positive Wirkung der materiellen Rechtskraft 1. Allgemeines

Die positive Wirkung der materiellen Rechtskraft besteht in der Bindung an die rechtskräftige Feststellung eines Rechtsverhältnisses, das in einem neuen Prozeß von präjudizieller Bedeutung ist. Sie ist die prozessuale Folge der Abhängigkeit eines Rechtsverhältnisses von anderen Rechtsverhältnissen 1 und deren Konkretisierung in Gestalt bestimmter Rechte und Pflichten (z.B. aus dem Kaufvertrag entsteht der Anspruch des Käufers auf die Leistung und des Verkäufers auf die Gegenleistung). Tatbestandsmerkmale einer Norm können nicht nur Tatsachen und einfache Rechtsbegriffe, sondern auch Rechtsverhältnisse sein 2 • Wenn es in einem neuen Prozeß um die Feststellung einer durch bestimmte Rechtsverhältnisse bedingten Rechtsfolge geht, ist das Gericht an die rechtskräftige Feststellung der bedingenden Rechtsverhältnisse gebunden. Es ist über sie keine mündliche Verhandlung und keine neue Beweisaufnahme zulässig; das Gericht muß die alte Entscheidung zugrundelegen 3 . Man könnte 45 In diesen Fällen fungiert das Urteil des Gerichtshofs auch als Vorabentscheidung: Joliet, S. 43. Nach h.M. ist aber eine neue Vorlage nach einer Vorabentscheidung möglich. Der EuGH ist an seine frühere Meinung nicht gebunden: Joliet, S. 212; Daig in Groeben/Ehlermann,Art. 177, Rn. 47,49; Trabucchi, RTDE 1974, 56ff.; GA Warner, Rs 112/76 Slg 1977, 1662. Für die Zulässigkeit einer Vorlage nach einem Urteil des Vertragsverletzungsverfahrens, das auch als Vorabentscheidung fungiert: Waelbroeck/Vandersanden, Art. 171 , Anm. 5. 1 "Ils (!es rapportsjuridiques) sont subordonnes !es uns aux autres . .. et souvent meme se conditionnent": Tomasin, Essai, S. 182; ähnlich Kondylis, Rechtskraft, S. 126; Koussoulis, Beiträge, S. 230. 2 Kerameus, Materielle Rechtskraft, S. 61, betont, daß hierdurch der Gesetzgeber die unnötige Wiederholung des Tatbestandes anderer Normen vermeidet und die Anpassung an die Besonderheiten eines anderen Teils der Rechtsordnung erreicht. 3 SteinjJonasjSchumann/Leipold, § 322, Anm. IX 2b; Blomeyer, § 89, Anm. V, S. 458; Jauemig, ZPR, S. 218; Rosenberg/Schwab, § 155; Anm. III; Thomas/ Putzo, § 322, Anm. 4a; Kopp,§ 121, Rn. 11; Klein, NJW 1977, 697ff.; Sachs, Die Bindung des BverfG, S. 34, 195, 214; Vogel, S. 584; More!, Traite, S. 600; Encyclopedie Dalloz, procedure civile, chose jugee, Anm. 1; Perrot, Institutions S. 562; Tomasin, Essai, S. 182; Mitsopoulos, Feststellungsklage; S. 182; Michelakis, EEN 19, 761, 763; Beys, Kommentar, S. 1296; Rammos, Lehrbuch, S. 559; BGH, NJW 19179, 1046; BGH, NJW 1981, 1517; BGH, NJW 1983, 2032; BGHZ 35, 338 (341); BVerwGE 14, 359{362); CE, 23 octobre 1970, Recueil 1970, 618; OLG Athen 10581/79, EEN 47, 1020; OLG Athen 8007 / 80, Dike 14, 37; OLG Athen 4478/82 Anm. 1983, 131; Areopag 1036/ 82, Dike 14, 454; Areopag 211/83, Dike 15, 140.

X. Positive Wirkung der materiellen Rechtskraft

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sagen, daß auch in diesen Fällen eine "ne bis in idem" Wirkung besteht4 • Das Gericht darf nicht mehr (~e) zum zweiten Mal (bis) die schon entschiedene Frage (in idem) prüfen. 2. Voraussetzungen

Voraussetzung der positiven Wirkung der materiellen Rechtskraft sind: a) die Streitgegenstände des alten und des neuen Prozesses müssen verschieden sein 5 , b) der neue Prozeß findet zwischen Personen statt, die an die Rechtskraft des alten Prozesses gebunden sind 6 • 3. Fälle, in denen die materielle Rechtskraft präjudizielle Wirkung entfaltet

a) Vergleichende Untersuchung

aa) Wenn nach einem Urteil, das den Beklagten zur Unterlassung verurteilt, der Kläger Schadensersatzklage erhebt, ist das Gericht an die Feststellung der Unterlassungspflicht gebunden 7 ; dies, obwohl Unterlassungs- und Schadensersatzpflicht selbständig nebeneinander stehen, weil die Rechtsfolge des Schadensersatzes als Sanktion eingreift, wenn die Rechtspflicht verletzt wird 8 • bb) Wenn die Klage mangels Fälligkeit der Forderung als "derzeit unbegründet" abgewiesen wird und der Kläger nach dem Eintritt der Fälligkeit wieder Klage erhebt, ist das Gericht an die rechtskräftige Feststellung der Existenz der Forderung und der Wirksamkeit des die Forderung begründenden Vertrags gebunden 9 • 4 Beys, Kommentar, S. 1297; Jauernig, ZPR, S. 218; Koussoulis, Beiträge, S. 235; a. A. Kondylis, Rechtskraft, S. 126. 5 So Stein i JonasiSchumanniLeipold, § 322, Anm. IX 2b; Baumbach i Hartmann, § 322, Anm. 4B; Blomeyer, § 89, Anm. V, S. 458; Zeuner, JuS 1964, 147ff.; Klein, NJW 1977, 697ff.; Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 584; Beys, Kommentar, S. 1296; Mitsopoulos, Feststellungsklage, S. 182; Kondylis, Rechtskraft; S. 126; OLG Athen 6681182, Dike 13, 733; Areopag 1036182, Dike 14,454. In Frankreich wird allerdings die "identite d'objet" auch in Präjudizialitätsfällen vertreten: Lacoste, De Ia chose jugee, S. 303. Encyclopedie Dalloz, procedure civile, chose jugee, Anm. 7; Perrot, Institutions, S. 562 sprechen von "triple identite", die die Identität des Streitgegenstands (objet et cause) einschließt. Tomasin, Essai, S. 182ff. spricht aber von einer "relativen" identite d'objet. Es handelt sich nicht um die "eadem res", sondern um die "eadem quaestio". Auch in Griechenland scheint Rammos, Lehrbuch, S. 559 einer solchen Meinung (derselbe Streitgegenstand auch in Präjudizialitätsfällen) zu sein; gleich Matthias, Dike 4, 605. Er behauptet, daß der neue Gegenstand dem alten potentiell angehört. Vgl. auch Areopag 385166 NoB 15, 141; Areopag 310163 NoB 11, 1201; OLG Athen 4478182, Arm 1983,

131.

6 Encyclopedie Dalloz, procedure civile, chose jugee, Anm. 7, 108; Perrot, Institutions, S. 562; CE 13. 3.62, Rec. CE 1962, 182. 7 Stein 1Jonas I Schurnano I Leipold, § 322, Anm. IX 2 a; Baumbach I Hartmann, § 322, Anm. 4B; Blomeyer, § 89, Anm. V. S. 459. 8 Zeuner, JuS 1966, 147ff.

8 Tsikrikas

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§ 4 Materielle Rechtskraft

cc) Nach der Anfechtung des rechtswidrigen Verwaltungsaktes ist das Gericht im Arntshaftungsprozeß an die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Aktes gebunden 10 • dd) Wenn nach der Anfechtung eines Verwaltungsaktes derselbe Akt wiederholt und neue Anfechtungsklage gegen ihn erhoben wird, ist das Gericht an die Feststellung gebunden, daß ein Akt mit dem Inhalt des schon angefochtenen rechtswidrig ist 11 • b) Vertragsverletzungsverfahren

Im Vertragsverletzungsverfahren kann die durch die Rechtskraft mit der unwiderlegbaren (soweit das Urteil durch Rechtsmittel unanfechtbar ist) Vermutung der Richtigkeit 12 ausgestattete Feststellung der (Nicht)Vertragsverletzung präjudiziell in folgenden Fällen sein: aa) Der Kläger des Vertragsverletzungsverfahrens - Mitgliedstaat oder Kommission -erhebt Klage auf Schadensersatz wegen der durch die vertragswidrige Handlung verursachten Verletzung seiner Rechte 13 • Die Kommission erhebt dabei Klage als Vertretetin der Gemeinschaft (Art. 211 EWGV) bb) Gemeinschaftsbürger, die in ihren Rechten durch vertragswidrige Maßnahmen betroffen sind, erheben Klage auf Aufhebung 14 dieser Maßnahmen oder Schadensersatzklage 15 vor den Gerichten des verletzenden Mitgliedstaates. Grunsky, Grundlagen, § 47, Anm. V 1, S. 529. Kopp, § 113, Rn. 8; Teufel, S. 90. 11 Kopp,§ 121, Rn. 11; a.A. Ule, §59, Anm. I 1; Redecker jvon Oertzen, § 121, Rn. 5; Andre, EuR 1967, 112. 12 Vgl. Beys, Kommentar, S. 1296; derselbe, Einführung, S. 273. 13 Vgl. Rs 39 / 72, Slg 1973, 112. Problematisch ist aber sowohl die materiellrechtliche Begründung als auch die prozessuale Geltendmachung. Die Pflicht zur Wiedergutmachung und zum Schadensersatz kann aus Art. 171 oder Art. 5 EWGV immer mit Hilfe des Staatshaftungsrechts des vertragswidrig handelnden Mitgliedstaates und des Urteils (siehe § 9, II 2) begründet werden. Man kann dabei sagen, daß Art. 171 als "Iex specialis" den Vorrang gegenüber Art. 5 EWGV hat (Gesetzeskonkurrenz). Die Zuständigkeit entweder des EuGH oder nationaler Gerichte für diese Klage ist umstritten; vgl. Ehlermann, Festschrift für Kutscher, S. 135ff.; Schwarze, BuR 1983, 1 ff.; Daig, AöR 1958, 132fT. 14 Kann die Gemeinschaft durch ihre Organe (in erster Linie Kommission) Anfechtungsklage vor den nationalen Gerichten erheben? Die Gemeinschaft besitzt in jedem Mitgliedstaat die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit, die juristischen Personen nach dessen Rechtsvorschriften zuerkannt ist. Sie kann vor Gericht stehen (Art. 211 EWGV). Aber in diesem Vorgehen läge eine Umgehung des Vertragsverletzungsverfahrens. Nach dem EWGV ist der EuGH für die Verfolgung vertragswidriger staatlicher Handlungen durch die Kommission oder andere Mitgliedstaaten ausschließlich zuständig; dies, weil die Verletzung der gemeinschaftlichen Rechtsordnung die Feststellung durch ein unabhängiges Gemeinschaftsorgan in einem Verfahren fordert, das die vollständige Klärung der rechtlichen und tatsächlichen Situation garantiert, und in einem Urteil, dessen Charakter die Unabhängigkeit der Staaten nicht berührt. 15 Vgl. Rs 39/72, Slg 1973, 101. 9

10

X. Positive Wirkung der materiellen Rechtskraft

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Die präjudizielle Wirkung der materiellen Rechtskraft ist auch von Bedeutung, wenn sie sich im Rahmen eines Anfechtungsverfahrens gegen weitere Maßnahmen, die auf der vertragsverletzenden Handlung beruhen, auf die Vertragswidrigkeit dieser Handlung berufen 16 • cc) Die Kommission klagt im Fall der Nichtbefolgung des Urteils wegen Verletzung des Art. 171 EWGV. dd) Angenommen, Beschränkungen, die gegen Art. 30-34 EWGV verstoßen, sind aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit gerechtfertigt (Art. 36 EWGV). Eine Klage wird folglich trotz der Feststellung des Verstoßes gegen Art. 30-34 EWGV aufgrund der Einrede aus Art. 36 EWGV abgewiesen. Wenn nun nach Ablauf dieser Gründe die Beschränkungen weiter in Kraft bleiben und die Kommission wieder Klage erhebt, ist der Gerichtshof an die rechtskräftige Feststellung des Verstoßes gegen Art. 30-34 EWGV gebunden. ee) Die Kommission reagiert auf vertragswidriges Handeln eines Mitgliedstaates nicht. Wegen dieses Unterlassens wird Untätigkeitsklage (Art. 175 EWGV) gegen die Kommission 17 und später Amtshaftungsklage gegen die Gemeinschaft (Art. 215 EWGV) 18 erhoben. Die Kommission bzw. die Gemeinschaft können das vertragswidrige Verhalten des Mitgliedstaates nicht bestreiten, das ihre Pflicht begründet. 4. Folgen der positiven Funktion der materiellen Rechtskraft

Die Bindung staatlicher Gerichte an die Feststellung der Vertragswidrigkeit mitgliedstaatliehen Handeins verbessert sicher den Schutz dieser Interessen der Gemeinschaft 19 • Trotz des Fehlensechter Vollstreckungsmittel kann das Urteil mittelbar- d.h. durch die Erhöhung der Erfolgschancen weiterer RechtsbehelVgl. Rs 314-316/81 und 83/82, Slg 1982,4361. Diese Möglichkeit ist aber sehr umstritten; vgl. Wohlfahrt in Wohlfahrt / Sprung, Art.169; Anm. 3; Daig in Groeben / Ehlermann, Art. 175, Rn. 35; Waelbroeck/ Vandersanden, Art. 175, Anm. 6; Vandersanden/Barav, S. 117, Fn. 101. 18 Karpenstein in Grabitz, Kommentar, Art. 169, Rn. 27 behauptet aber, eine solche Klage sei wegen des Eingriffs in den Ermessensspielraum der Kommission und der Subsidiarität der Gemeinschaftshaftung besonders zweifelhaft. Dagegen könnte man einwenden, der Ermessensspielraum der Kommission könne unter besonderen Umständen - schwerwiegende Verstöße, die das sofortige Einschreiten der Kommission nötig machen - erheblich beschränkt sein. Das Subsidiaritätsargument greift überhaupt nicht, wenn keine Möglichkeit einer Schadensersatzklage gegen den Mitgliedstaat besteht; z.B. die Frist für eine solche Klage ist vor dem Erlaß des Urteils des EuGH abgelaufen und der Gemeinschaftsbürger hat ohne Schuld keine Klage erhoben. Die Rechtsprechung des EuGH scheint aber trotzdem nicht besonders positiv zu solchen Klagen zu stehen; vgl. Rs. 4/69, Slg 1971, 325; 9/75, Slg 1975, 1171; 40/75, Slg 1976, 1. 19 Cahier, CDE 1974, 26fT.; Plouvier, Decisions, S. 200f.; Goffin, Melanges Dehousse, Il, S. 211 ff.; Kovar, Les recours des individus, S. 245; Pescatore, CDE 1975, 561 ff. 16

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§ 4 Materielle Rechtskraft

fe - zur Beseitigung der vertragswidrigen Maßnahmen und jedes weiteren Schadens führen. Wichtig ist der Schutz der Interessen der einfachen Gemeinschaftsbürger, die von den vertragswidrigen Maßnahmen betroffen sind. Die Feststellung der Vertragswidrigkeit beschleunigt das Verfahren vor den nationalen Gerichten, insbesondere soweit eine neue mündliche Verhandlung und Beweisaufnahme vermieden wird 20 . Verfahrensunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, die die Einheitlichkeit und Effektivität des Rechtsschutzes in Frage stellen können, werden bei Feststellung der Vertragswidrigkeit bedeutungslos. Das Ergebnis eines Verfahrens, in dem Kläger nicht eine natürliche Person mit beschränkten finanziellen und juristischen Möglichkeiten, sondern ein Mitgliedstaat oder die Kommission war, die finanziell mächtig und ständig von spezialisierten Juristen beraten sind, steht dem einfachen Gemeinschaftsbürger zur Verfügung. Der effektive Rechtsschutz der Individuen, den also mittelbar die positive Funktion der Rechtskraft gewährleistet 21 , kann man folglich nicht aus der Zwecksetzung des Vertragsverletzungsverfahrens und der Urteile des Gerichtshofs ausklammern 22 • XI. Behandlung der materiellen Rechtskraft 1. Sind Vereinbarungen über die materieUe Rechtskraft zulässig?

a) Die bejahende Antwort Nach verbreiteter Auffassung dient die materielle Rechtskraft überwiegend privaten Interessen - Parteiinteressen 1 • Sie wird als Vorteil für die vom Urteil Tomasin, Essai, S. 182fT. WaelbroeckjVandersanden, Art. 171, Anm. 4; Louis, Miscellanea Ganshofvan der Meersch, II, S. 225; Plouvier, Decisions, S. 200ff.; Goffin, Melanges Dehousse, II, S. 211 ff.; Kovar, JDI 1973, 281 ff.; Beutler jStreil, S. 251 22 Vgl. Hennann; § 110; Rs 9, 12/60, Slg 1961, 427fT., 467fT. Man könnte argumentieren, daß ohne den durch die positive Funktion der Rechtskraft erreichten Rechtsschutz der Sinn und Zweck des Urteils teilweise verlorengehe. RosenbergjSchwab, § 155, Anm. III 2 befürworten die Präjudizialitätswirkung, wenn ein zweites logisch widersprüchliches Urteil die Existenz und die Folgen des ersten in Frage stellt. Auch in Frankreich findet sich die Auffassung, daß das essentielle Element des "effet positir' in der erfolgreichen Verfolgung und Durchsetzung des festgestellten Rechtes besteht (vgl. More!, Traite, S. 600; Encyclopedie Dalloz, procedure civile, chose jugee, Anm. 1). Dieser Rechtsschutz kann besser erreicht werden, wenn die innerstaatlichen Gerichte das Verfahren, in dem die vertragswidrigen Maßnahmen geprüft werden, bis zum Erlaß des Urteils des EuGH aussetzen. So können Rechtsmittel erspart werden, die im Fall eines Urteils des EuGH, das dem innerstaatlichen Urteil widerspricht, mit Sicherheit eingelegt würden. Die Prozeßökonomie, die so gefördert würde, dient ebenfalls dem effektiven Rechtsschutz. Eine Aussetzungspflicht kann durch teleologische Auslegung des Art. 5 EWGV begründet werden. Art. 5 EWGV verfolgt als Zweck den Schutz der Interessen nicht nur der Gemeinschaft, sondern auch der Individuen. Die Aussetzung des Verfahrens vor den innerstaatlichen Gerichten ist ein Mittel zur Durchsetzung dieses Individualrechtsschutzes. 20 21

XI. Behandlung der materiellen Rechtskraft

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begünstigte Partei betrachtet: "L'immutabilite de chose jugee est une garantie accordee au beneficiaire d'un jugement" 2 • Deshalb können die Parteien eines Prozesses auf die materielle Rechtskraft verzichten bzw. sie durch Vereinbarung beseitigen 3 . Als stillschweigende Vereinbarung bzw. Verfügung über die materielle Rechtskraft werden neue Klageerhebungen bzw. Versäumnis der Einrede der Rechtskraft ("exceptio rei judicatae") angesehen4 • Das neue Sachurteil, dessen Erlaß durch die Beseitigung der negativen Sachurteilsvoraussetzung der Rechtskraft möglich geworden ist, entspricht dem Parteiwillen und ist deshalb gerechter als das alte, jetzt unerwünschte U rteiJS. Eine Beseitigung durch Vereinbarung ist aber ausgeschlossen, wenn der Streitgegenstand über Parteiinteressen hinausgeht und deshalb der Verfügungsmacht der Parteien nicht unterliegt 6 . b) Die verneinende Antwort

Nach anderer, anzunehmender Ansicht ist jede Vereinbarung über die materielle Rechtskraft ausgeschlossen, weil die Rechtskraft hauptsächlich dem öffentlichen Interesse dient. Der Rechtsfriede\ die Rechtssicherheit 8 , die Entlastung der Gerichte mit der Folge der Erhöhung ihrer Leistungsfähigkeit, die den Interessen aller Rechtssuchenden dient 9 , begründen das durch die Rechtskraft gesicherte Gebot der Einmaligkeit des Rechtsschutzes, das der Verfügungsmacht der Prozeßparteien nicht unterliegt 10 • Wäre die Rechtskraft frei disponibel, dann könnte das Gebot der Einmaligkeit nach Belieben der Parteien beseitigt werden. Außerdem spricht für die Unverfügbarkeit der materiellen Rechtskraft der Urteile des EuGH der besondere Charakter seiner Gerichtsbarkeit im Vergleich zur internationalen Gerichtsbarkeit. Die internationale Gerichtsbarkeit (Gerichtsbarkeit des Raager Gerichtshofes) beruht auf 1 Lacoste, De Ia chose jugee, S. 304fT.; Normand, RDC 1976, 820; Encyclopedie Dalloz, Procedure civile, chose jugee, Anm. 210; Tomasin, Essai, S. 226; Reiser, S. 142. 2 Tomasin, Essai, S. 226. 3 Lacoste, De Ia chose jugee, S. 304fT.; Normand, RDC 1976, 820; Tomasin, Essai, s. 226. 4 Lacoste, De Ia chose jugee, S. 304ff.; Normand, RDC 1976, 820. s Tomasin, Essai, S. 228; Schlosser, Parteihandeln, S. 12 hält Geltung der Rechtskraftdisposition und gleichzeitige Prüfung von Amts wegen bei nicht beseitigter Rechtskraft für möglich. 6 Lacoste, De Ia chose jugee, S. 304ff.; Encyclopedie Dalloz, procedure civile, chose jugee, Anm. 210. 7 Sinaniotis, ZPO, § 321, Anm. II 2. 8 SteiniJonasiSchumanniLeipold, § 322, Anm. IX 4, 5. 9 Grunsky, Grundlagen,§ 47, Anm. III 4. 10 Gegen eine Dispositionsmöglichkeit Sinaniotis, ZPO, § 321, Anm. II 2; Stein I Jonas I Schumann I Leipold, § 322, Anm. 4, 5; Grunsky, Grundlagen,§ 47, Anm. III 4; Rosenbergi Schwab, § 152, Anm. V 2; EyermanniFröhler, § 121, Rn. 4; Perrot, JCP 1952, II, 6806; More!, Traite, S. 600.

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§ 4 Materielle Rechtskraft

einem internationalen Vertrag, der abgeändert werden kann. Das bedeutet, daß auch die Rechtskraft durch Vereinbarung beseitigt werden und ein Streit, der bereits rechtskräftig entschieden worden ist, einem anderen Gericht vorgelegt werden kann 11 • Die Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofes wird zwar auch durch einen internationalen Vertrag (EWGV) begründet. Dieser Vertrag gilt aber für unbegrenzte Zeit und enthält keinen Kündigungsgrund 12 • Nur durch die Vereinbarung aller Mitgliedstaaten kann er geändert werden (Art. 236 EWGV). Soweit aber keine allseitige vertragliche Änderung-hinsichtlich der Gerichtsbarkeit des EuGH vorliegt, ist sie -abgesehen von den Fällen der Artikel181 und 182 EWGV- obligatorische Gerichtsbarkeit 13 ; das heißt, ihre Begründung ist einer zweiseitigen Parteivereinbarung entzogen. Konsequenterweise verbietet der obligatorische Charakter der EuGH-Gerichtsbarkeit auch eine Beseitigung der materiellen Rechtskraft durch Vereinbarung der Parteien. Es hätte unter diesem Aspekt keine Bedeutung, daß die neue Klage nach der Beseitigung der Rechtskraft wieder vor dem Europäischen Gerichtshof erhoben würde 14 • Der siegreiche Kläger könnte wieder Klage erheben, damit er - mit dem Beklagten gemeinsam - durch Erklärung der Erledigung der Hauptsache (Art. 77 EuGH-VerfO) oder durch Klagerücknahme (Art. 78 EuGH-VerfO) die Situation den heutigen Parteiwünschen entsprechend gestaltet. So würde aber das Urteil des EuGH praktisch aufgehoben. Was wäre vom obligatorischen Charakter der EuGH-Gerichtsbarkeit geblieben, wenn die Urteile des Gerichtshofes nicht nur das Leben der Parteien zwingend zu steuern unfahig wären, sondern ihre Existenz der freien Parteienverfügung unterliegen würde? Letztlich muß jede Verfügungsmöglichkeit über die materielle Rechtskraft durch Parteivereinbarungen ausgeschlossen sein, weil das Vertragsverletzungsverfahren nicht nur die Interessen der Parteien schützt, sondern auch die der Gemeinschaft, der Mitgliedstaaten und der Individuen. 2. Berücksichtigung der materieDen Rechtskraft

a) Amtswegige Prüfung der materiellen Rechtskraft

Kann die materielle Rechtskraft vom EuGH von Amts wegen geprüft werden oder müssen die Parteien sich auf sie berufen? Wenn man die Disposition der Parteien über die Rechtskraft verneint, ist sinnvollerweise eine von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Rechtskraft zu befürworten 15 , sonst können die Vgl. Gutsche, Bindungswirkung, S. 51 ff. Gutsche, Bindungswirkung, S. 51 ff. 13 Gutsche, Bindungswirkung, S. 51 ff.; WaelbroeckjVandersanden, Art. 164, Anm. 6; Hasford, Jurisdiktion, S. 95; Joliet, S. 20ff. 14 Die Gerichtsbarkeit des EuGH ist ausschließlich. Die Fälle, für die der EuGH zuständig ist, sind jedem anderen Gericht entzogen. Siehe§ 4 XI 3. 15 Nach der Ansicht Schlossers, Parteihandeln, S. 12, gilt aber der umgekehrte Schluß bei der Möglichkeit einer Disposition über die Rechtskraft nicht. Für eine von Amts wegen 11

12

XI. Behandlung der materiellen Rechtskraft

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Parteien durch die Versäumnis der Berufung auf die Rechtskraft praktisch ihre freie Disposition erreichen. Also ist im Vertragsverletzungsverfahren die amtswegige Prüfung der materiellen Rechtskraft vorzuziehen.

b) Amtswegige Ermittlung der die materielle Rechtskraft begründenden Tatsachen Es ist weiter zu prüfen, ob die von Amts wegen eingeleitete Prüfung der materiellen Rechtskraft nur den von Parteien vorgetragenen Tatsachen gilt, oder ob der Gerichtshofvon sich aus alle Tatsachen ermitteln soll. Existiert neben der amtswegigen Prüfung der Rechtskraft auch eine amtswegige Ermittlung der sie begründenden Tatsachen? Nach einer ersten Meinung gibt es keine von Amts wegen vorzunehmende Ermittlung der die Rechtskraft begründenden Tatsachen16. Nach einer zweiten Auffassung soll das Gericht diese Tatsachen von Amts wegen ermitteln 17 . Nach einer dritten Ansicht ist das Gericht zur Beweiserhebung berechtigt, nie aber dazu verpflichtet 18 . Art. 94 § 2 EuGHVerfO sieht die Möglichkeit der gerichtlichen Ermittlung aller Tatsachen vor, die für die von Amts wegen zu prüfenden Zulässigkeitsvoraussetzungen bei Erlaß eines Versäumnisurteils erheblich sind. Man kann aus diesem Paragraphen folgenden Schluß ziehen: Der Europäische Gerichtshof kann, wenn er von Amts wegen eine Verfahrensvoraussetzung prüft, auf die Beweisaufnahme verzichten, wenn er alle für seine Prüfung notwendigen Informationen aus den Schriftsätzen der Parteien und den beigefügten Urkunden hat. Wenn aber Informationen über diese Tatsachen fehlen, soll er eine Beweisaufnahme anordnen; sonst würde die praktische Bedeutung der amtswegigen Prüfung erheblich gemindert werden. Die Parteien könnten durch die Versäumnis des Vortrags der notwendigen Tatsachen erreichen, was das Gebot der Prüfung von Amts wegen zu vermeiden versucht (in unserem Fall die Verfügung über die materielle Rechtskraft). Die Tatsachen, welche die materielle Rechtskraft begründen- in EuGH-Fällen praktisch nur die Existenz des Urteils, weil es mit seiner Verkündung rechtskräftig wird (Art. 65 EuGH-VerfO) - sollen also, soweit sie sich nicht aus Prüfung der Rechtskraft: Sinaniotis, ZPO, § 321, Anm. II 2; Stein/ JonasjSchumann j Leipold, § 322, Anm. IX 4, 5; Grunsky, Grundlagen,§ 47, Anm. III 4; Rosenberg / Schwab, § 152, Anm. V 2; Perrot, JCP 1952, II, 6806; More!, Traite, S. 600; ebenfalls Thomas/Putzo, § 322, Anm. 4; BaumbachjHartmann, Einf. vor§§ 322-327, Anm. 5; Eyermann/Fröhler, § 121, Rn. 4; Redekerfvon Oertzen, § 121, Rn. 9; Kopp,§ 121, Rn. 3; Rupp, Festschrift für Kern, S. 404; Klein, NJW 1977,697 ff.; Maunz/Ulsamer, BVerfGG, § 31, Rn.13; Michelakis, EEN 19, 768; Beys, Einführung, S. 233-234; Rammos, Lehrbuch, S. 577; Dagtoglou, S. 123; Kondylis, Rechtskraft, S. 176fT.; BGH, NJW 1979, 1408ff.; BGH, ZZP 1976, 330fT.; BVerwGE 17, 256 (259); BVerwGE 35, 234 (236). 16 Rammos, Lehrbuch, S. 577. Nach Beys Ansicht, Kommentar, S. 1343, kann das Gericht die die Rechtskraft begründenden Tatsachen nicht nur aus den Schriftsätzen der Parteien, sondern aus jeder Prozeßurkunde heranziehen (Dike 2, 437). 17 Grunsky, Grundlagen,§ 47, Anm. III 4. 18 SteinjJonasjSchumann/ Leipold, § 322, Anm. IX 4, 5.

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§ 4 Materielle Rechtskraft

Schriftsätzen oder Prozeßurkunden ergeben, von Amts wegen ermittelt werden. Aber letzten Endes scheint die Anordnung einer Beweisaufnahme selten oder nie notwendig zu sein. Die Existenz des alten EuGH-Urteils ist eine gerichtskundige Tatsache, weil sie sich aus den Akten des Gerichtshofs ergibt 19 • Für gerichtskundige Tatsachen bedarf es aber keiner Beweisaufnahme; die Existenz des alten Urteils sollte also ohne Beweisaufnahme berücksichtigt werden. 3. Ausschluß jeder Umgehung des Dispositionsverbots

Sollte der frühere Kläger eine Klage vor einem dritten Gericht (innerstaatliches Gericht, Schiedsgericht, Raager internationaler Gerichtshof) erheben, um eine ihm günstigere Feststellung zu erreichen, dann sollte seine Klage als unzulässig abgewiesen werden. Die Gerichtsbarkeit des EuGH ist nicht nur obligatorisch, sie ist auch ausschließlich; das heißt, bei Zuständigkeit des EuGH bleibt die Zuständigkeit jedes anderen Gerichts ausgeschlossen 20 • Die neue Klage vor einem anderen Gericht muß wegen U nzulässigkeit des Rechtsweges abgewiesen werden, weil das Gericht an die rechtskräftige implizite Feststellung der Zuständigkeit des EuGH bzw. der Unzuständigkeitjedes anderen Gerichts gebunden ist. Die neue Klage ist außerdem unzulässig wegen der "ne bis in idem"-Wirkung des rechtskräftigen Urteils des Europäischen Gerichtshofs, die auch gegenüber anderen Gerichten gilt 21 • Eine neue rechtskräftige Feststellung, 19 Kondylis, Rechtskraft, S. 176fT.; Areopag 333/77, NoB 25, 1344; a.A. Beys, Kommentar, S. 1405. 20 Nach Art. 219 EWGV verpflichten sich die Mitgliedstaaten, die Entscheidung von Streitigkeiten, für die nach dem Vertrag der EuGH zuständig ist, nicht auf andere Gerichte (innerstaatliche Gerichte, internationale Gerichte, Schiedsgerichte) zu übertragen. Dazu Thiesing in Groeben/Ehlerrnann, Art. 219, Rn. 4; Joliet, S. 20fT. Auch aus Art. 183 EWGV ergibt sich die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs, weil die wahlweise Zuständigkeit des EuGH und anderer Gerichte die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und die Rechtssicherheit gefahrden würde. Vgl. Daig in Groeben/Ehlermann, Art. 183, Rn. 2. 21 Die "ne bis in idem"-Wirkung der Rechtskraft ist aber nicht besonders hilfreich -es spielt dann die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofes die Hauptrolle in Fällen, in denen Rechtskraft nur aufgrund Einrede berücksichtigt werden kann. So ist es in Frankreich: Lacoste, De Ia chose jugee, S. 304ff.; Normand, RDC 1976, 820; Tomasin, Essai, S. 226. Es wird aber auch angenommen, daß in Fällen, wo die Parteien über den Streitgegenstand nicht verfügen können, die Rechtskraft von Amts wegen berücksichtigt wird. Das ist dann aber beim Vertragsverletzungsverfahren der Fall, wo der Streitgegenstand über die Interessen der Parteien und infolgedessen über ihre Verfügungsmacht hinausgeht. Man kann weiterhin bezweifeln, ob ein Schiedsgericht die Rechtskraft des Urteils des EuGH von Amts wegen berücksichtigen muß. In diesem Fall bewirkt die Rechtskraft nicht die Entlastung der staatlichen Gerichte bzw. des EuGH und dient infolgedessen nicht der Erhaltung ihrer Arbeitsfähigkeit. Auch besteht keine Gefahr widersprechender Urteile von staatlichen Gerichten, die zur Minderung ihres Ansehens führen würde. Der subjektive Rechtsfriede kann von den Parteien frei disponiert werden. Die Verletzung des objektiven Rechtsfriedens stört nur, wenn der neue und der alte Prozeß mit demselben Streitgegenstand vor staatlichen Gerichten laufen. Das wird dadurch

XI. Behandlung der materiellen Rechtskraft

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die mit der rechtskräftigen Feststellung des EuGH kollidieren und Vorrang gegenüber der EuGH-Feststellung, d.h. praktisch die Aufhebung ihrer Rechtskraftwirkung, beanspruchen würde, kann also nicht erreicht werden.

bestätigt, daß die rechtskraftähnliche Wirkung eines Schiedsspruchs nur aufgrund Einrede berücksichtigt werden kann (Baumbach/Schwab, Schiedsgerichtsbarkeit, § 18, Anm. F III b); RosenbergjSchwab, § 177, Anm. I, 7; Stein/JonasjSchlosser, § 1040; Anm. III 3; a.A. Lindacher, KTS 1966, 153ff.; Beitzke, ZZP 60, 319. Es hat keine Bedeutung, daß in unseren Fällen zuerst ein Urteil des EuGH besteht und nicht ein Urteil eines durch Vertrag begründeten Schiedsgerichts. Auch im zweiten Fall kann, wenn die Einrede der Rechtskraft vor einem staatlichen Gericht nicht erhoben wird, ein Widerspruch zwischen Schiedsspruch und staatlichem Urteil entstehen. Außerdem wird mit der Nichterhebung der Einrede der Rechtskraft der durch den Schiedsspruch verwirklichte Rechtsfriede verletzt. Die Verletzung des Rechtsfriedens scheint aber ohne große Bedeutung zu sein, soweit die Parteien nach einem Schiedsspruch den Streit wieder eröffnen. Oder es tritt der Rechtsfriede hinter dem Wunsch der Parteien, ihr Rechtsverhältnis anders konkret zu regeln, zurück, wenn man auch berücksichtigen muß, daß eine Gefahr widersprechender staatlicher Urteile und Belastung der staatlichen Gerichte nicht besteht. Dieselbe Argumentation gilt auch für unsere Fälle, wenn nach dem Urteil des EuGH einem Schiedsgericht der Streit vorgelegt wird. Gegen die Behauptung, in diesem Fall verfügten die Parteien nicht über einen Schiedsspruch, sondern über einen Akt öffentlicher Gewalt, kan man einwenden, daß auch das letztere möglich sein soll, soweit kein erhebliches öffentliches Interesse entgegensteht; "in dubio pro libertate" (siehe auch Schlosser, Parteihandeln, S. 8ff.). Die Lösung in diesen Fällen ergibt sich also aus der ausschließlichen Zuständigkeit des EuGH. Ein Schiedsvertrag ist unwirksam undkahndie Zuständigkeit eines Schiedsgerichts nicht begründen, weil er gegen Artikel 219 EWGV verstößt.

§ 5 Formelle Rechtskraft I. Allgemeines Formelle Rechtskraft 1 ("force de chose jugee") bedeutet die Unanfechtbarkeit der gerichtlichen Entscheidung. In Deutschland tritt Unanfechtbarkeit ein, wenn weder Einspruch noch RechtsmitteP (Berufung, Revision, Beschwerde gegen Beschlüsse, die formell rechtskräftig werden) möglich sind. In Frankreich und in Griechenland tritt Unanfechtbarkeit ein, wenn ordentliche Rechtsmittel ("voies de recours ordinaires"), d.h. Berufung ("appel") und Einspruch ("opposition") 3 nicht mehr möglich sind. Die Möglichkeit der Anfechtung des Urteils durch Nichtigkeits- oder Restitutionsklage oder der Aufhebung des Vorbehaltsurteils im Nachverfahren beeinflußt den Eintritt der formellen Rechtskraft nicht4 • Die formelle Rechtskraft wird als Eigenschaft des Urteils bezeichnet 5 , die den Bestand des Urteils betrifft, während die materielle Rechtskraft sich an den Urteilsinhalt knüpft 6 • Die formelle Rechtskraft sichert die Festigkeit des 1 Auch äußere Rechtskraft genannt: Blomeyer, § 88, Anm. I; Baumbach/ Hartmann, § 705, Anm. 1 A; ThomasjPutzo, § 705, Anm. 1; Bötticher, Kritische Beiträge, S. 67. 2 RosenbergjSchwab,§ 150,Anm. 1;Blomeyer,§ 88,Anm. I;Stein/Jonas/Münzberg, § 705, Rn. 1; Bötticher, Kritische Beiträge, S. 67; Gilles, Rechtsmittel, S. 162. 3 Tomasin, Essai, S. 131; More!, Traite, S. 602; Chapus, Contentieux administratif, S. 428; Art. 321 griech. ZPO. Dazu Kondylis, Rechtskraft, S. 145; Rammos, Lehrbuch, s. 555. 4 Rosenberg j Schwab, § 151; Anm. II; SteinjJonas/Münzberg, § 705, Rn. 2. Vgl. aber auch Tiedemann, ZZP 93, 23 hinsichtlich der Vorbehaltsurteile. 5 Rosenberg / Schwab, § 150, Anm. 2; Jauemig, Zivilurteil, S. 104; Gilles, Rechtsmittel, S. 161; Klamaris, Anschlußberufung, S. 99, Fn. 88; Kondylis, Rechtskraft, S. 147; a.A. Beys, Kommentar, S. 1295; Koussoulis, Beiträge, S. 16, der behauptet, die formelle Rechtskraft könne keine Eigenschaft des Tatbestandes der Entscheidung und mithin ein Sein darstellen, weil aus dem Sein kein Sollen, d.h. die materielle Rechtskraft abgeleitet werden könne. Gegen diese Ansicht kann aber eingewandt werden, die Bezeichnung der formellen Rechtskraft als Eigenschaft des Urteils - nicht des Urteilstatbestandes bedeute keinesfalls die Ableitung der materiellen Rechtskraft aus der formellen. Es handele sich einfach um folgendes: Die materielle Rechtskraft stelle die Rechtsfolge einer Norm und die formelle Rechtskraft als Vorausetzung der materiellen eines ihrer Tatbestandsmerkmale dar. Genauer gesagt sei die formelle Rechtskraft Eigenschaft des Tatbestandsmerkmals "formell rechtskräftiges Urteil", dessen Erfüllung die materiellrechtliche Rechtsfolge "materielle Rechtskraft" begründe. Es gehe also nicht um Ableitung, sondern um einen typischen Fall der Begründung einer Rechtsfolge, für die hauptsächlich Seinselemente unabänderlich seien. 6 Bötticher, Kritische Beiträge, S. 92; Kondylis, Rechtskraft, S. 147.

II. Vertragsverletzungsverfahren

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Urteils, die für die Entfaltung der Urteilswirkung der materiellen Rechtskraft unabänderlich ist. Die Unanfechtbarkeit ist also Voraussetzung der durch die materielle Rechtskraft verursachten Bindung des Richters in künftigen Prozessen7 • An dieses Voraussetzungsverhältnis zwischen den beiden Instituten knüpft sich der Terminus "formelle Rechtskraft" 8 • Wie die Erfüllung der Formvoraussetzungen manchmal unabdingbar für eine Änderung der Rechtslage ist, ebenso notwendig ist auch die Unanfechtbarkeit für das Entstehen der materiellen Rechtskraft 9 • Weiterhin wie die Form den Bestand einer Rechtshandlung sichert, sichert ähnlich die Unanfechtbarkeit (abgesehen von der Möglichkeit einer Wiederaufnahme) den Bestand und die Geltung des Urteils. II. Vertragsverletzungsverfahren 1. Die Anwendung des Art. 65 VerfO binsichtlich der formellen Rechtskraft

Sowohl die Satzung als auch die Verfahrensordnung des EuGH sehen gegen dessen kontradiktorische Urteile kein Rechtsmittel vor. Die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens durch eine Restitutionsklage (Art. 41 EuGHSatzung, 98 ff. VerfO) kann den Eintritt der formellen Rechtskraft nicht verhindern. Darüber hinaus betrifft Art. 65 VerfO, nach dem das Urteil des Gerichtshofes mit seiner Verkündung rechtskräftig wird, nicht nur die materielle, sondern auch die formelle Rechtskraft. Das Urteil wird mit seinem Erlaß gleichzeitig- auf diese Weise offenbart sich das Voraussetzungsverhältnisformell und materiell rechtskräftig 10 • Was geschieht aber mit den Versäumnisurteilen? Art. 38 EuGH-Satzung und Art. 94, Abs. 4 VerfO sehen den Rechtsbehelf des Einspruchs (Art. 94, Abs. 4 VerfO spricht von Widerspruch 11 ) gegen solche Urteile vor. Andererseits unterscheidet aber Art. 65 VerfO nicht zwischen kontradiktorischen und Versäumnisurteilen. Auch die Jetzteren sollen mit ihrer Verkündung formell rechtskräftig werden. Aber die Möglichkeit der Einlegung eines Einspruchs gegen ein formell rechtskräftigesUrteil widerspricht dem Sinn und der Funktion der formellen Rechtskraft. Ein nur zulässiger Einspruch eröffnet wieder die mündliche Verhandlung vor dem EuGH und die Sache wird nochmals diskutiert. Wie die materielle Rechtskraft soll auch die formelle die Durchsetzung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit 12 fördern. Diesem Zweck Mitsopoulos, ZZP 91, S. 126. Bötticher, Kritische Beiträge, S. 68. 9 Kondylis, Rechtskraft, S. 147, Fn. 8. 10 Vgl. auch Wohlfahrt in Grabitz, Kommentar, Art. 165, Rn. 29. 11 Obwohl nach Art. 94, Abs. 1, S. 2 VerfO eine mündliche Verhandlung immer stattfindet. 12 Vgl. Engisch, Festschrift für F. v. Hippe!, 72. 7

8

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§ 5 Formelle Rechtskraft

widerspricht die Neueröffnung des Rechtsstreites wegen des Einspruchs. Deshalb ist Art. 65 VerfO restriktiv auszulegen: Er kann nur die kontradiktorischen Urteile des Gerichtshofes betreffen wie auch die zweiten Versäunmisurteile, gegen die ein Einspruch nicht mehr möglich ist (Art. 94, Abs. 6 VerfO). Alle anderen Versäumnisurteile können nicht mit ihrer Verkündung formell rechtskräftig werden, sondern erst mit dem Ablauf der Einspruchsfrist oder dem Verzicht auf den Einspruch. Diese Ansicht- Unanwendbarkeit des Art. 65 VerfO aufVersäumnisurteile - könnte aber wegen des Instituts der Restitutionsklage (Art. 41 EuGHSatzung, 98ff. VerfO) als problematisch erscheinen. Wenn diese Klage sofort nach der Verkündung des Versäumnisurteils zulässig wäre 13 , dann hätten wir eine Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Eintritt der formellen Rechtskraft. Das paßt aber nicht zu dem Zweck der Restitutionsklage, der die Beseitigung der formellen und materiellen Rechtskraft ist 14 . Diesem Zweck der Klage- Beseitigung der dem Rechtsfrieden dienenden Rechtskraft- entspricht auch ihr außerordentlicher Charakter: Die Rechtskraft des Urteils kann - wegen der Gefährdung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit - nur aufgehoben werden, wenn Tatsachen von entscheidender Bedeutung bekannt werden, die vor der Verkündung 15 des Urteils unbekannt waren (Art. 41 EuGHSatzung), d.h. wenn dem Urteil eine wichtige Stütze entzogen wird. Die Möglichkeit einer Restitutionsklage vor dem Eintritt der formellen (auch der materiellen) Rechtskraft ist mit dieser strengen Wiederaufnahmevoraussetzung unvereinbar. Im Fall eines Versäumnisurteils soll also die Wiederaufnahme nur nach dem Eintritt der formellen Rechtskraft möglich sein. Diese Ansicht wird dadurch bestärkt, daß der Einspruch ein spezieller Rechtsbehelf gegenüber der Restitutionsklage ist- er betrifft nur die Versäumnisurteile -, und infolgedessen ist letztere nur möglich, wenn der Einspruch nicht mehr in Betracht kommt. Außerdem würde die säumige Partei immer den Einspruch bevorzugen, auch wenn beide Rechtsbehelfe nebeneinander stünden und sie die Wahlmöglichkeit zwischen ihnen hätte: Ein nur zulässiger Einspruch könnte das Verfahren wieder eröffnen, in dem auch der Vortrag der Tatsachen, die den Wiederaufnahmeantrag begründen könnten, möglich wäre, während die Wiederaufnahme des Verfahrens von der Feststellung der "neuen" bedeutenden Tatsachen abhängig wäre (Art. 41 EuGH-Satzung). 13 Nach der Regelung in der Satzung und der VerfO kann sie innerhalb von drei Monaten nach dem Tag der Kenntnisnahme der ihren Antrag stützenden Tatsache gegen jede Art von Endurteilen erhoben werden (vgl. Art. 98 VerfO). 14 Rosenberg j Schwab, § 160, Anm. I; Blomeyer, § 106, Anm. I; Baumbach/ Hartmann, Grundz. § 578, Anm. 1 A. 15 Trotz des Wortlauts des Art. 41 EuGH-Satzung soll aber angenommen werden, daß maßgeblich der Zeitpunkt des Schlusses der letzten mündlichen Verhandlung ist. Der Gerichtshof kann zwar im Vertragsverletzungsverfahren Tatsachen von Amts wegen berücksichtigen. Er soll aber den Parteien eine Äußerungsmöglichkeit geben, d.h. er soll die schon beendete mündliche Verhandlung wieder eröffnen (Art. 61 VerfO).

li. Vertragsverletzungsverfahren

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Darüber hinaus soll angenommen werden, daß wegen der Subsidiarität der Restitutionsklage ihre dreimonatige Erhebungsfrist (Art. 98 VerfO) nur nach dem Eintritt der formellen Rechtskraft laufen kann. Andernfalls könnte durch den Ablauf der Frist während der Dauer des durch den Einspruch eröffneten Verfahrens der Partei die Möglichkeit des Vorbringens der später bekannt gewordenen Tatsachen entzogen werden. Gegen diese Annahme könnte man einwenden, daß- soweit die Tatsachen während der Dauer des Einspruchsverfahrens der Partei bekannt werden-, sie immer im Rahmen dieses VerfahrC?ns vorgetragen werden können. Das ist aber unmöglich, wenn es nicht schon in der Einspruchsschrift geschehen ist. Art. 94, Abs. 5, S. 1 VerfO gibt nur der Gegenpartei die Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme. Ferner verweist Art. 94, Abs. 5, S. 2 VerfO für das weitere Verfahren auf die Art. 44fT. VerfO, und auf diese Weise wird Art. 42, Abs. 2, S. 1 VerfO ausgeschlossen, nach dem eine beschränkte Möglichkeit 16 zulässigen Vortrages später entstandener Angriffs- und Verteidigungsmitel vorgesehen ist. Darüber hinaus verliert die Partei jede Möglichkeit - soweit die Frist der Restitutionsklage verstrichen ist -, diese später bekannt gewordenen :ratsachen vor Gericht zu bringen. Deshalb soll der Lauf der für die Erhebung der Restitutionsklage vorgesehenen Frist nach Eintritt der formellen Rechtskraft anfangen. 2. Eintrittszeitpunkt der formellen Rechtskraft

Im Fall eines Versäumnisurteils kann die formelle Rechtskraft mit dem Ablauf der Einspruchsfrist (Art. 38 EuGH-Satzung) eintreten, wenn inzwischen der Einspruch nicht eingelegt, oder eingelegt, aber als unzulässig verworfen, oder letztlich zurückgenommen ist 17 • Für die Möglichkeit einer Rücknahme des Einspruchs können aber einige Zweifel auftauchen. Zwar kann Art. 78 VerfO, der die Klagerücknahme regelt, auch auf die Rücknahme des Einspruchs analoge Anwendung finden 18 , das Vertragsverletzungsverfahren scheint aber der Disposition der Parteien nicht zugänglich zu sein 19 : weil dieses Verfahren nicht nur die Interessen von Kläger und Beklagten betrifft, sondern allgemein für das innergemeinschaftliche Leben und das Verhalten auch der anderen Mitgliedstaaten große Bedeutung hat, ist die Möglichkeit der Disposition über das weitere Verfahren durch eine Rücknahme des Einspruchs fragwürdig.

16 Gemäß Art. 42, Abs. 2, S. 1 VerfO sollen die rechtlichen und tatsächlichen Gründe, die die Angriffs- und Verteidigungsmittel stützen, während des schriftlichen Verfahrens entstanden sein. Später entstandene Gründe bleiben unberücksichtigt. 17 Vgl. Blomeyer, § 88, Anm. I; Rosenberg/Schwab, § 151 , Anm. U1; Thomas j Putzo, § 705, Anm. 3; Stümer in Baur/Stümer, Rn. 163; Klamaris, Die Regel, S. 290ff.; siehe aber auch Samuel, Berufung, § 86. 18 Gemäß Art. 299 griech. ZPO gelten die Vorschriften, die die Klagerücknahme betreffen, auch für die Rücknahme der Rechtsmittel. 19 Siehe auch§ 3 I 3.

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§ 5 Formelle Rechtskraft

Die formelle Rechtskraft kann weiter durch einen Verzicht auf den Einspruch eintreten20 • Wenn man die schon erwähnten Zweifel an der Disposition des Verfahrens, die auch hinsichtlich eines Verzichtes gelten, beiseite läßt, ist folgendes zu bemerken: Art. 77, Abs. 1 VerfO sieht die Möglichkeit eines Verzichts der Parteien auf die weitere Geltendmachung ihrer Ansprüche vor. Obwohl im Fall des Verzichts auf den Einspruch es sieb um den Verzicht auf einen prozessualen Rechtsbehelf-denAnspruch aufEinspruchseinlegung und infolgedessen auf eine erneute Nachprüfung der Rechtssache 21 -und nicht auf einen materiellrechtlichen Anspruch wie im Fall des Art. 77 VerfO handelt, weist Art. 77 VerfO auf die Möglichkeit einer Disposition über das Verfahren durch Prozeßhandlung der Parteien hin. Wenn auch im Vertragsverletzungsverfahren die unbeschränkte Geltung der Dispositionsmaxime angenommen wird, was wie gesagt fragwürdig ist, dann sollte auch ein Verzicht auf den Rechtsbehelf des Einspruchs durch Erklärung des säumigen Beklagten 22 möglich sein. Wenn letztlich der fristgemäß eingelegte Einspruch nach dem Ablauf seiner Frist aus anderen Gründen als unzulässig verworfen wird, kann zweifelhaft sein, ob die formelle Rechtskraft zum Zeitpunkt des Fristablaufs rückwirkend oder zum Zeitpunkt der Verwerfung eintritt. Zur Begründung der ersten Möglichkeit wird behauptet, die Einlegung eines Rechtsmittels oder Rechtsbehelfes hemme zwar den Eintritt der formellen Rechtskraft in dem Sinne, daß die Ausstellung eines Rechtskraftzeugnisses unerlaubt ist, aber mit der Verwerfung wegen Unzulässigkeil sei nachträglich nachgewiesen, daß dieser Suspensiveffekt nicht eingetreten war23 • Weiter sei ein als unzulässig verworfener Rechtsbehelf so entkräftet, daß die Rückdatierung des Eintritts der formellen Rechtskraft unvermeidlich wird 24 • Gegen diese These wird mit Recht eingewandt, die Zulässigkeil eines Rechtsbehelfes sei- wenn die Fälle des Fristablaufs und des Verzichts außer Betracht bleiben- keine Voraussetzung der Hemmung des Eintritts der formellen Rechtskraft 25 • Deshalb könne auch ein unzulässiger Rechtsbehelf den Eintritt hemmen. Diese Hemmung bestehe bis zur Verwerfung des Rechtsbehelfes, genauer gesagt bis zum Rechtskrafteintritt des den Rechtsbehelf verwerfenden Urteils 26 , also im Vertragsverletzungsverfahren bis zur Verkündung des den Einspruch verwerfenden Urteils 27 • Weiter kann der rückwirkende Eintritt der formellen Rechtskraft unter bestimmten VoraussetVgl. Blomeyer, § 88, Anm. I. Vgl. Habscheid, NJW 1965, 2370. 22 Art. 38 EuGH-Satzung und 94, Abs. 1, S. 1 VerfO sehen nur im Fall der nicht formund fristgerechten Klagebeantwortung des Beklagten die Möglichkeit des Erlasses eines Versäumnisurteils vor. 23 Stein/Jonas/Grunsky, § 519 b, Rn. 14. 24 Bötticher, JZ 1952, 426. 25 Münzberg, NJW 1977, 2058. 26 Stein/ Jonas/Münzberg, § 705, Rn. 7. 27 Vgl. Art. 65 EuGH-VerfO. 20 21

Il. Vertragsverletzungsverfahren

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zungenzur Aufbebung der Möglichkeit einer Restitutionsklage (Art. 41 EuGHSatzung) führen. Die dreimonatige Frist der Restitutionsklage (Art. 98 VerfO) kann, wie schon erwähnt, nicht vor dem Eintritt der formellen Rechtskraft laufen. Wenn zwischen dem Tag des Ablaufs der Einspruchsfrist - Zeitpunkt des rückwirkenden Eintritts der formellen Rechtskraft -'- und dem Tag der Verwerfung des Einspruchs als unzulässig die dreimonatige Frist schon abgelaufen ist - das setzt einerseits die Kenntnis der die Restitutionsklage begründenden Tatsachen und andererseits die große Verspätung der Prüfung der Zulässigkeit des Einspruchs voraus-, verliert die säumige Partei die Möglichkeit der Erhebung einer Restitutionsklage 28 • Maßgeblich soll also der Zeitpunkt des Rechtskrafteintritts des den Einspruch verwerfenden Urteils sein. 3. Behandlung der formellen Rechtskraft

Die formelle Rechtskraft setzt die Unzulässigkeit des Einspruchs voraus (Fristablauf, Verzicht) und ist eng an die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Restitutionsklage geknüpft (Voraussetzung des Ablaufs ihrer Frist). Es wäre also konsequent zu denken, das habe die amtswegige Prüfung der formellen Rechtskraft zur Folge29 • Weder die Satzung noch die Verfahrensordnung des Gerichtshofes bestimmen aber, welche Zulässigkeitsvoraussetzungen von Amts wegen zu prüfen (Art 92 Verf0)3° und welche nur auf Prozeßeinrede zu berücksichtigen sind (Art. 91, Abs. 1 VerfO). Die formelle Rechtskraft ist aber Voraussetzung auch der materiellen Rechtskraft, die von Amts wegen geprüft wird 31 • Infolgedessen sollte auch die formelle Rechtskraft auf dieselbe Weise geprüft und berücksichtigt werden 32 •

28 Eine Lösung in diesem Falle könnte allerdings die Erhebung einer Restitutionsklage unter der aufschiebenden Bedingung der Verwerfung des Einspruchs als unzulässig sein. 29 So Kondylis, Rechtskraft, S. 109. 30 Ule, 46 JT, I, Teil 4, S. 73 meint, daß die Statthaftigkeit und die fristgemäße Einlegung des Rechtsmittels von Amts wegen zu prüfen sind. 31 Siehe § 4, XI 2. 32 Habscheid, NJW 1965, 2372; Kondylis, Rechtskraft, S. 109.

§ 6 Innerprozessuale Bindungswirkung I. Allgemeines Innerprozessuale Bindungswirkung bedeutet die Bindung des Gerichts selbst an seine Entscheidungen 1 • Diese Bindung hat zwei Aspekte: Einen negativen und einen positiven. Den negativen stellt das Verbot einer Aufhebung oder Abänderung der Entscheidung dar2 . In Frankreich3 wird er hinsichtlich der Endurteile als Folge des lnstitüts "dessaisissement" verstanden: Mit dem Erlaß des Endurteils werden die Zuständigkeiten des Richters in bezug auf den konkreten Fall ausgeschöpft ("lata sententia judex desinit esse judex"). Darüber hinaus kann sich der Richter nicht weiter mit der Sache beschäftigen und infolgedessen ist ihm die Möglichkeit einer Aufhebung oder Abänderung der Entscheidung entzogen4 • Der negative Aspekt, oder anders gesagt die Unwider~ ruflichkeit der Entscheidung, beschränkt sich aber nicht auf Endurteile: auch die Zwischenurteile werden mit ihrem Erlaß unwiderruflich, aber nicht aufgrund des "dessaisissement" 5 • Aufgrund des positiven Aspekts der Bindungswirkung ist das Gericht verpflichtet, seine Entscheidung dem künftigen Verfahren zugrunde.zulegen und neues Parteivorbringen, das die schon entschiedenen Punkte betrifft, unberücksichtigt zu lassen 6 • 1 Unter anderen Blomeyer, § 87, Anm. I;. Thomas/Putzo, § 318, Anm. 1; Rammos, Lehrbuch, S. 595; Kondylis, Rechtskraft, S.165. 2 RosenbergjSchwab, § 60, Anm. I 1; Blomeyer, § 87, Anm. I; Bötticher, Kritische Beiträge, S. 73; Jauemig, MDR 1982, 286; Götz, JZ 1959, 682; Eyermann/Fröhler,§ 118, Rn. 1; Perrot, Droit judiciaire, S. 661; Morel, Traite, S. 579 - 580; Encyclopedie Dalloz, procedurecivile,jugement, Anm. 475; Rammos, Lehrbuch, S. 595; Kondylis, Rechtskraft, S.165. 3 Auch Rammos, Lehrbuch, S. 542, scheint einer ähnlichen Meinung zu sein, soweit er das "dessaisissement" als Merkmal der Endurteile annimt. 4 Perrot, Droit judiciaire, S. 660; Morel, Traite, S. 579-580; Encyclopedie Dalloz, procedure civile, jugement, Anm. 474-475. ·s Art. 318 ZPO macht keine Unterscheidung zwischen End- und Zwischenurteilen. Ebenfalls das deutsche Schrifttum: Baumbach/Hartmann, § 318, Anm. 1 A; Rosenberg/Schwab,§ 60, Anm. I 1; Blomeyer, § 87, AniD. I; Götz, JZ 1959, 682; Tiedtke, ZZP 89, 73. In Frankreich verweigert zwar Art. 483 n.c.p.c. das "dessaisissement" in bezug auf die ,jugements avant dire droit". Aber es wird weiter angenommen, daß auch diese Urteile den Richter binden, wenn keine Änderung der das Urteil stützenden Tatsachen vorliegt: Morel, Traite, S. 580. In Griechenland ordnet aber Art. 309 ZPO ausdrücklich an, daß Zwischenurteile frei aufgehoben oder abgeändert werden können. 6 Rosenberg / Schwab, § 60, Anm. I 1; Götz, JZ 1959, 682; Jauernig, MDR 1982, 286; aA Kondylis, Rechtskraft, S. 166.

II. Verhältnis zu der materiellen und formellen Rechtskraft

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ll. Verhältnis der innerprozessualen Bindungswirkung zu der materiellen und formellen Rechtskraft

Weder die Satzung noch die Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofes enthalten eine Vorschrift, die ausdrücklich die innerprozessuale Bindungswirkung betrifft. Art. 65 VerfO (in seiner deutschen Fassung) ordnet nur an, daß die Urteile des Gerichtshofes mit dem Tag ihrer Verkündung rechtskräftig werden. Kann dieser Artikel auch die innerprozessuale Bindungswirkung umfassen? Die Antwort hängt vom Verhältnis der Bindungswirkung zu der materiellen oder der formellen Rechtskraft ab: Wie die materielle und die formelle Rechtskraft dient auch die innerprozessuale Bindungswirkung dem Rechtsfrieden und der RechtssicherheiC. Sie tritt aber immer mit der Verkündung des Urteils auch vor dem Eintritt der materiellen und formellen Rechtskraft ein. Sie ähnelt der formellen Rechtskraft, weil sie den Bestand8 der Entscheidung durch das Widerrufsverbot im Rahmen desselben Prozesses9 sichert. Beide Rechtsinstitute unterscheiden sich aber, weil die formelle Rechtskraft den Bestand der Entscheidung gegenüber Angriffen durch Rechtsmittel sichert, die innerprozessuale Bindungswirkung dagegen gegenüber einer amtswegigen oder aufgrund eines Parteiantrags erfolgenden Aufhebung oder Abänderung. Die Ähnlichkeit mit der materiellen Rechtskraft besteht darin, daß beide Institute denselben objektiven Umfang haben 10 • Sie erfassen grundsätzlich nur den Tenor der Entscheidung und nicht ihre Gründe. Weiter gleichen sich der positive Aspekt der Bindungswirkung und der positive Aspekt der materiellen Rechtskraft. In beiden Fällen handelt es sich nicht um die Sicherung des Bestandes der Entscheidung, nicht um ein "Abschneiden des Rückzugs" 11 , sondern um eine "Vorsorge für das Kommende" 12 • Es wird ein der schon getroffenen Entscheidung widersprechendes gerichtliches Handeln- auch eine widersprechende Entscheidung - verhindert. Es geht nicht um Widerruf sondern um Widerspruch 13 • Was aber den negativen Aspekt der Bindungswirkung betrifft, wird jede Ähnlichkeit mit dem negativen Aspekt der materiellen Rechtskraft verneint. Die letztere sichere durch ihren negativen Aspekt nicht den Bestand der Entscheidung sondern ihren Inhalt. Sie verhindere eine neue inhaltlich widersprechende Entscheidung. Die Bindungswirkung sichere dage7 Götz, JZ 1959, 681, nennt aber als Hauptgrund der Geltung der innerprozessualen Bindungswirkung das Verbot des "venire contra factum proprium" . Die Prozeßökonomie sei nur ein Nebengrund. 8 Siehe auch Bötticher, Kritische Beiträge, S. 76. 9 Die Ähnlichkeit beider Institute miteinander wegen der Entfaltung ihrer Wirkung im Rahmen desselben Prozesses betont besonders Rammos, Lehrbuch, S. 595. 10 Baumbach/Hartmann, § 318, Anm. 1 A a; Götz, JZ 1959, 685; Zeuner, Die objektiven Grenzen, S. 65; Jauemig, MDR 1982, S. 286; Grunsky, Grundlagen, §50; Stein/ ~onas, § 322, Anm. II 2. 11 Bötticher, a.a. O., S. 76 12 Bötticher, a. a. 0., S. 76. 13 Bötticher, a.a.O., S. 76.

9 Tsikrikas

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§ 6 Innerprozessuale Bindungswirkung

gen durch ihren negativen Aspekt den Bestand der Entscheidung 14 • Sie verhindere ihre Aufhebung oder Änderung. Diese Ansicht ist aber nur richtig, insoweit sie die Aufhebung oder Änderung der Entscheidung betrifft. Es ist aber auch möglich, daß eine Partei nicht mit einer neuen Klage wiederkommt, sondern mit einem Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens. Im Vertragsverletzungsverfahren kann z.B. eine Partei den Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung (Art. 61 VerfO) stellen. Der Antrag, der als unzulässig wegen der innerprozessualen Bindungswirkung abgewiesen wird, bezweckt nicht die formelle Aufhebung oder Änderung der Entscheidung. Er kann aber durch die Fortsetzung des Verfahrens zu einer widersprechenden Entscheidung führen. Der negative Aspekt der innerprozessualen Bindungswirkung kann also auch den Entscheidungsinhalt sichern. Dasselbe geschieht auch im Fall eines nicht materiellrechtskräftigen Beschlusses (76 § 3 VerfO, 93 § 3 Verf0)1 5 , wenn ein neuer Antrag mit demselben Gegenstand erfolgt. Er soll wegen der innerprozessualen Bindungswirkung als unzulässig abgewiesen werden 16 . Die Bindungswirkung in diesem Fall übernimmt die Funktion der fehlenden materiellen Rechtskraft. Es ist also davon auszugehen, daß die innerprozessuale Bindungswirkung eine große Ähnlichkeit sowohl mit der formellen aber besonders mit der materiellen Rechtskraft hat 17 . Bötticher, a.a.O., S. 76. Sowohl dem Beschluß über die Bewilligung des Armenrechts (Art. 76, Abs. 3 VerfO) als auch dem Beschluß über den Antrag auf Zulassung als Streithelfer (Art. 93, Abs. 3 VerfO) soll die Wirkung der materiellen Rechtskraft versagt werden, weil in beiden Fällen keine über den Prozeß hinaus wirkende Feststellung in Betracht kommt. Vgl. auch Blomeyer, § 88, Anm. IV 2; Rosenberg/Schwab, § 153, Anm. I 16 Zwar entfalten nicht alle Beschlüsse eine innerprozessuale Bindungswirkung. Diese Wirkung haben Beschlüsse, die durch die sofortige Beschwerde oder einen anderen Rechtsbehelf anfechtbar sind (Thomas/ Putzo, § 329, Anm. 4; Rosenberg/Schwab, § 60, Anm. II; Blomeyer, § 29, Anm.lll). Art. 76, Abs. 3 VerfO bestimmt zwar ausdrücklich, daß der Beschluß unanfechtbar ist, aber in§ 4 desselben Artikels wird eine Aufhebung des das Armenrecht bewilligenden Beschlusses nur unter einer Änderung der den Beschluß stützenden Voraussetzungen zugelassen. Diese Regelung stellt eine Bestätigung der Geltung der innerprozessualen Bindungswirkung dar. - Art. 93, Abs. 3 VerfO bestimmt nicht, ob der Beschluß angefochten werden kann oder nicht. Auch wenn die Unanfechtbarkeit des Beschlusses angenommen wird, bedeutet es nicht notwendig die Vemeinung der innerprozessualen Bindungswirkung: Die spätere Aufhebung des Beschlusses, um die Nebenintervention für unzulässig zu erklären, kann den oftmals starken Einfluß des Nebenintervenienten auf das schon vergangene Verfahren nicht beseitigen. Dementsprechend kann eine verspätete Zulassung der Intervention den Ausgang des Prozesses nicht erheblich beeinflussen. Der Streithelfer soll den Streit in der Lage annehmen, in der dieser sich zur Zeit der Intervention befindet (Art. 93, § 5 VerfO). Die Zulässigkeit oder die Unzulässigkeit der Nebenintervention soll daher schnell endgültig geklärt werden. Das wird auch aus§ 71, Abs. 2 ZPO deutlich, nach dem gegen das Zwischenurteil über die Nebenintervention nur die sofortige Beschwerde zulässig ist. Deshalb ist eine - auch zeitlich - unbeschränkte Aufhebungs- oder Änderungsmöglichkeit des Beschlusses über die Nebenintervention nicht anzunehmen. 17 Eine große Ähnlichkeit zwischen materieller Rechtskraft und innerprozessualer Bindungswirkung wird von: Götz, JZ 1959,685 (Er spricht sogar von einer Wesensgleich14

15

III. Keine Aufhebung durch die Auslegung oder Berichtigung des Urteils

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Darüber hinaus kann die Bindungswirkung auch von der deutschen Fassung des Art. 65 VerfO umfaßt sein 18 • Es muß letztlich berücksichtigt werden, daß die französische Fassung desselben Artikels nicht von Rechtskraft spricht, sondern von "force obligatoire". Dieser Wortlaut kann mit Sicherheit auch die innerprozessuale Bindungswirkung erfassen, weil sie einen obligatorischen Charakter hat. Zwar wird vertreten 19 , der Gesichtspunkt der Prozeßökonomie trete bei der Durchbrechung der innerprozessualen Bindungswirkung stärker zurück als bei der Durchbrechung der materiellen Rechtskraft, weil im letzteren Fall das ganze Verfahren neu in Gang gesetzt werde, und infolgedessen sei unter bestimmten Voraussetzungen ein beiderseitiger Parteiverzicht auf die Bindungswirkung möglich. Dieser Ansicht kann aber, nicht nur im Vertragsverletzungsverfahren, sehr schwer gefolgt werden. Grund ist das Voraussetzungsverhältnis zwischen innerprozessualer Bindungswirkung und der materiellen Rechtskraft. Die Bindungswirkung ist genauso wie die formelle Rechtskraft, soweit sie den Bestand der Entscheidung durch das Aufhebungs- und Abänderungsverbot schützt, Voraussetzung der materiellen Rechtskraft. Die Bindung des Richters in künftigen Prozessen setzt nicht nur die Unanfechtbarkeit (formelle Rechtskraft) der Entscheidung, sondern auch ihre Unwiderruflichkeit (Aspekt der innerprozessualen Bindungswirkung) voraus. Wenn aber die materielle Rechtskraft durch Parteihandlungen nicht beseitigt werden kann 20 , sollte dasselbe ebenfalls für ihre Voraussetzungen gelten. Darüber hinaus ist die innerprozessuale Bindungswirkung, genauso wie die materielle Rechtskraft, von Amts wegen zu berücksichtigen.

m. Keine Aufhebung der innerprozessualen Bindungswirkung durch die Auslegung oder Berichtigung des Urteils

Weder die Auslegung des Urteils (Art. 40 EuGH-Satzung) noch die Berichtigung von Schreib- und Rechenfehlern oder offenbaren Unrichtigkeiten (Art. 66 VerfO) können die innerprozessuale Bindungswirkung beseitigen. Die Urteilsauslegung beseitigt nur Zweifel über den Sinn und die Tragweite eines Urteils des Gerichtshofes (Art. 40 EuGH-Satzung). Sie darf nicht zu einer Änderung des Urteilsinhalts führen 21 • Im Gegenteil sichert sie durch die Klärung des Sinnes und der Tragweite des Urteils seinen Inhalt noch stärker: Unzweideutiges Urteil heit); Tiedke, ZZP 89, 73; SteinjJonasjSchumannfLeipold, § 322, Anm. Il 2; More!, Traite, S. 596 angenommen. Nach Jauernig, MDR 1982, 286 funktioniert die Bindungswirkung eines nicht rechtskräftigen Beschlusses in bezug auf die Zulässigkeit einer neuen Klage ähnlich wie die materielle Rechtskraft. Gegen eine solche Ähnlichkeit: Grunsky, Grundlagen,§ 50; Zeuner, DÖV 1955, 335; Vizioz, RTDC 1947, 83. 18 Ebenfalls Gutsche, Bindungswirkung, S. 16; Basse, Verhältrus, S. 351 ff.; Degenhardt, Auslegung und Berichtigung, S. 71. 19 Schlosser, Parteihandeln, S. 17 I 18. 2o Siehe§ 4 XI 1b). 21 Plouvier, Decisions, S. 84. 9*

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§ 6 Innerprozessuale Bindungswirkung

bedeutet auch unzweideutiger Entscheidungsgegenstand und dadurch wird die Prüfung der Zulässigkeit der neuen Klage in bezugaufdie materielle Rechtskraft - es wird der Entscheidungsgegenstand mit dem Streitgegenstand der neuen Klage verglichen - erheblich erleichtert. Die Chancen der Annahme einer Klage als zulässig wegen der Unklarheit des Entscheidungsgegenstandes, die zu einer widersprüchlichen Entscheidung führen kann, werden gemindert. Andererseits beschränkt sich die Berichtigung auf formelle Fehler, d.h. auf Fehler im Ausdruck des Willens und nicht in der Willensbildung22 • Infolgedessen ist die Möglichkeit einer Änderung des Urteilsinhalts ausgeschlossen. Wäre eine Revision des Urteils möglich, dann müßte das normale kontradiktorische und öffentliche Verfahren und nicht das in Art. 66 §§ 2fT. VerfO geregelte besondere Verfahren gelten, das ein nichtöffentliches Verfahren mit beschränkten Äußerungsmöglichkeiten der Parteien ist 23·• Die Urteilsauslegung und die Berichtigung von Fehlern und offenbaren Unrichtigkeiten stellt eine Ausnahme vom Grundsatz des "dessaisissement" dar 24 • Obwohl die Kompetenzen des Richters in bezugauf den konkreten Fall ausgeschöpft worden sind, kann er sich wieder mit der Sache beschäftigen im Sinne der Auslegung oder der Berichtigung des erlassenen Urteils.

22 Plouvier, Decisions, S. 77; Degenhardt, Auslegung und Berichtigung, S. 108fT.; WaelbroeckfVandersanden, Art. 188, Anm. 114; ebenfalls für das deutsche Zivilprozeßrecht Rosenberg/Schwab, § 60, Anm. I 3a; Blomeyer, § 87, Anm. II 1a; Thomas/ Putzo, § 319, Anm. 2; a.A. Baumbach/Hartmann, § 319, Anm. 2 A. Für das französische Prozeßrecht: Morel, Traite, S. 597; Encyclopedie Dalloz, procedure civile, jugement, Anm. 549; Chapus, Contentieux administratif, S. 559. 23 Degenhardt, Auslegung und Berichtigung, 108fT. 24 So werden auch in Frankreich "le recours en interpretation" und "le recours en rectification d'erreur materielle" verstanden (Encyclopedie Dalloz, procedure civile, jugement, Anm. 482).

§ 7 Außerprozessuale Bindungswirkung I. Analyse entsprechender Institute des innerstaatlichen Rechts Sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in Frankreich ist eine Bindung staatlicher Organe (außerprozessuale Bindungswirkung) an die Entscheidungen des Verfassungsgerichts (Bundesverfassungsgericht, Conseil Constitutionnel) bekannt und sogar gesetzlich geregelt 1 • Sehr umstritten sind aber der rechtliche Charakter und die objektiven Grenzen dieser Bindung. 1. Charakter der außerprozessualen Bindungswirkung

a) Identität materieller Rechtskraft und außerprozessualer Bindungswirkung

Nach einer ersten, besonders verbreiteten 2 Meinung ist die außerprozessuale Bindungswirkung nur eine Erweiterung der materiellen Rechtskraft in subjektiver Hinsicht. Sie ist eine Erstreckung ihrer subjektiven Grenzen auf Verfassungsorgane, staatliche Behörden und Gerichte, allgemein gesagt auf die staatliche Gewalt. Diese qualitative Ähnlichkeit mit der materiellen Rechtskraft wird überwiegend mit dem gerichtlichen Charakter3 des Bundesverfassungsgerichts und des französischen Verfassungsrates begründet. Ihr Charakter als oberstes Verfassungsorgan wird auch berücksichtigt\ spielt aber für die inhaltliche Bestimmung der Bindungswirkung keine entscheidende Rolle.

1 § 31, Abs. 1 BVerfGG: "Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden"; Art. 62, Abs. 2, S. 2 des französischen GG: "Elles (les decisions du Conseil Constitutionnel) s'imposent aux pouvoirs publies et a toutes !es autorites administratives et juridictionnelles." 2 Brox, Festschrift für Geiger, S. 814; Kadenbach, AöR 1955, 411; Lange, JuS 1978, 1; Pestalozza, S.169ff.; Scheuner, NJW 1954, 641fT.; Stein / Jonas/Schumann/ Leipold, § 322, Anm. XII 6. In Frankreich wird allgemein von "autorite de chose jugee" (materielle Rechtskraft) gesprochen, von einer Rechtskraft, die "erga omnes" wirkt. Dazu Buerstedde, JöR, 12, 171 ff.; Luchaire, Constitution, S. 760 ff; derselbe, Le Conseil Constitutionnel, S. 45; Eisenmann/Hamon, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 282; Favoreu, RDP 1967, 108/109; derselbe, Melanges Waline, S. 429fT.; RDP 1986, 425; Franck, S. 135. 3 Buerstedde, JöR 12, S. 171; Luchaire, Constitution, S. 760fT. 4 Pestalloza, S. 169ff.; Franck, S. 135.

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§ 7 Außerprozessuale Bindungswirkung

b) Unabhängigkeit der außerprozessualen Bindungswirkung gegenüber der materiellen Rechtskraft Nach einer zweiten, weniger verbreiteten Meinung erschöpft sich der Unterschied zwischen Bindungswirkung und Rechtskraft nicht nur in verschiedenen subjektiven Grenzen. Die Bindungswirkung unterscheidet sich qualitativ von der Rechtskraft. Sie ist nicht nur ein "plus", sondern ein "aliud" 5 • Der Charakter eines Verfassungsgerichts als oberstes Verfassungsorgan und seine besondere Funktion, die sich von der Funktion eines einfachen Gerichts unterscheidet, begründen diese "sui generis"-Bindung. Ein Verfassungsgericht dient nicht nur der Einheit der Rechtsprechung 6 • Es gewähleistet, besonders in Organstreitigkeiten, die friedliche Einheit des durch viele verschiedene Organe handelnden Staates 7 • Diese Vereinheitlichungs- und Befriedungsfunktion vollzieht sich zunächst einmal im Rahmen des konkreten Rechtsstreites. Sie soll aber auch in die Zukunft durch die Vermeidung potentieller Streitigkeiten wirken 8 • In der Klärung künftiger Fälle erweist sich ihr stark präventiver Charakter. Das Verfassungsgericht ist der Hüter und der authentische Interpret der Verfassung9 • Damit ein Verfassungsgericht diese Aufgaben erfüllen kann und gleichzeitig die freie Entwicklung des Verfassungslebens nicht hindert 10 , ist eine Bindung notwendig, die andersartige Merkmale und Funktionen hat als die materielle Rechtskraft 11 . c) Die vermittelnde Ansicht Eine dritte, vermittelnde Meinung mit verschiedenen Varianten versucht Rechtskraftwirkung und "sui generis"-Wirkung als Elemente einer außerprozessualen Bindungswirkung zu kombinieren. Nach einer ersten Variante besteht echte Rechtskraftwirkung nur hinsichtlich des Entscheidungstenors. Die Wirkung der (tragenden) Entscheidungsgründe sei anderer QualitätlZ: keine 5 Geiger, NJW 1954, 1057; Maassen, NJW 1975, 1343ff.; Schneider, DVBI 1954, 184fT., der die Bindungswirkung als Tatbestandswirkung bezeichnet; Zuck, NJW 1975, 907; Schick, NJW 1975, 2169ff.; MaunzfUlsamer, BVerfGG,§ 31, Rn. 15; die Rechtsprechung des BVerfG: BVerfGE 4, 31 (38); BVerfGE 19, 377 (322); BVerfGE 20, 56 (87). Hinsichtlich des Conseil Constitutionnel: Goose, Normenkontrolle, S. 163. 6 Franck, S. 149. 7 Geiger, NJW 1954, 1057; Rupp, Festschrift für Kern, S. 403fT. 8 Geiger, NJW 1954, 1057; derselbe, Kommentar,§ 31 , Anm. 1; Maassen, NJW 1975, 1343ff. 9 Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 84; Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkung, S. 40; BVerfGE 53, 336 (348). 10 Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 131. 11 Goose, Normenkontrolle, S. 163, begründet diese qualitativ von der Rechtskraft unterschiedliche Bindung der Urteile des Conseil Constitutionnel mit der Behauptung, daß sonst Art. 62, Abs. 2, S. 2 der französischen Verfassung kaum verständlich wäre, wenn sie nur die materielle Rechtskraft normierte. Um diese Wirkung anzunehmen, sei keine besondere Regelung notwendig.

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Selbstbindung des Gerichts und keine negative Wirkung 13 existiere im Hinblick auf diese Urteilsgründe. Eine andere Variante 14 unterscheidet zwischen der Einzelfallentscheidung und der den Einzelfall überschreitenden Entscheidung eines Judikats. Im Rahmen der ersten Entscheidung bestehe Rechtskraftwirkung15, wenn das Urteil staatliche Organe betreffe, die ihre durch das GG begründeten Rechte vor dem BVerfG geltend machen können. In diesem Fall könne das Urteil entweder eine neue Klage unzulässig machen oder präjudiziell für eine künftige Feststellung sein. Negativer Aspekt und Präjudizialität seien die Hauptfunktionen der materiellen Rechtskraft. In den Fällen, wo staatliche Organe betroffen seien, die niemals Parteien vor dem BVerfG sein können, existiere eine Inter-Organ-Bindung 16. Für diese den Einzelfall überschreitende Entscheidung wird eine Präjudizienbindung im Sinne einer widerlegbaren Richtigkeitsvermutung angenommen: Staatliche Behörden und Gerichte sind durch die Rechtsannahme des BVerfG gebunden, soweit sie nicht durch bessere, überlegene Argumente diese Annahme widerlegen können 17 . Endlich befürwortet eine letzte Variante eine "objektive Rechtskraft": Die Bindung der staatlichen Organe führe zu der Möglichkeit der Individuen, sich auf diese Bindung zu berufen, obwohl sie von ihr nicht unmittelbar betroffen sind 18 . 2. Objektive Grenzen der außerprozessualen Bindungswirkung

a) Werden die tragenden Urteilsgründe in die außerprozessuale Bindungswirkung einbezogen?

Die Einbeziehung der tragenden Gründe wird mit folgendem Argument befürwortet: Ein Verfassungsgericht kann seine Aufgaben- dazu zählt nicht Lechner, NJW 1956, 441 ff. Klein, NJW 1977, 697fT. 14 Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 84; Stern, Staatsrecht, S. 1036ff. 15 Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 90; Stern, Staatsrecht, S. 1036ff. 16 Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 76; Stern, Staatsrecht, S. 1036ff. 17 Stern, Staatsrecht, S. 1036ff. Diese Präjudizienbindung wird faktisch begründet (Autorität, Funktion des BVerfG, widerlegbare Richtigkeitsvermutung). Ihre Regelung durch § 31, Abs. 1 BVerfGG stelle nur ihre rechtliche Begründung dar, die aber nicht überflüssig sei, weil sie Sicherheit und Klarheit schaffe; vgl. Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 118fT. 18 Vogel, BVerfG und GG, S. 598fT. (603), meint, die Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG gewähre sowohl in subjektiver als auch in objektiver Hinsicht nichts Neues: Der Bund und die Länder seien interventionsfähig und würden deshalb durch die Rechtskraft gebunden. Ihre Bindung führe weiter zur Bindung ihrer Organe. Diese Bindungswirkung habe aber keine "ne bis in idem" Funktion. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang die zivilprozessualen Theorien Böttichers, (Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des deutschen Juristentages, S. 511 ff.) und Schwabs (ZZP 77, 124fT.) über die Drittwirkung der Rechtskraft. Dritte können sich vor anderen Gerichten auf die rechtskräftige Feststellung berufen; es handelt sich um keine Rechtskrafterstreckung, weil kein negativer Aspekt existiert. 12

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§ 7 Außerprozessuale Bindungswirkung

nur die Erledigung der konkreten Streitsache, sondern auch die Klärung künftiger Fälle und infolgedessen die Vermeidung der Wiederholung verfassungswidriger Akte 19 - durch die verbindliche Auslegung des Grundgesetzes effizient nur dann wahrnehmen, wenn die tragenden Gründe bindend sind 20 • Diese Meinung stößt aber auf erhebliche Einwände: Die Einbeziehung der tragenden Gründe in die Bindungswirkung kann zu einer Monopolisierung der verfassungsrechtlichen Reflexion durch das Verfassungsgericht führen 21 • Der Beitrag der anderen Gerichte 22 zur verfassungsrechtlichen Diskussion wird nachhaltig beeinträchtigt, wenn sie an die Meinung des Verfassungsgerichts gebunden sind. Dieser Mangel an Rechtsprechungspluralismus kann dann zu einer "Zementierung" und Erstarrung des Verfassungsrechts führen 23 • Das Verfassungsrecht verliert seine Beweglichkeit und seine Überlebensfahigkeit; denn je detaillierter und unflexibler eine Verfassung ist, desto weniger Chancen hat sie, über die Jahrzehnte weiter zu bestehen 24 • Zudem verliert das Verfassungsgericht selbst die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit den Argumenten bzw. der Rechtsprechung anderer Gerichte. Diese Auseinandersetzung gibt aber die Möglichkeit einer Erneuerung und infolgedessen einer Steigerung der 19 Die Bindungswirkung, die sich auf die tragenden Gründe erstreckt, enthält die Feststellung, daß jeder Akt, der dem als verfassungswidrig festgestellten ähnlich ist, gegen das Grundgesetz verstößt. Sie enthält die sogenannte konkrete Entscheidungsnorm, die Rechtsannahme, die in übereinstimmenden Fällen zu ähnlicher Entscheidung führt. (Vogel, BVerfG und GG, S. 598fT.). 20 Die Befürworter einer Bindungswirkung, die sich von der Rechtskraft qualitativ unterscheidet, vertreten auch die Meinung, daß diese Bindungswirkung auf die tragenden Gründe erstreckt werden muß. Das ist leicht zu erklären: Nur so kann die Bindungswirkung von der auf den Tenor beschränkten Rechtskraft unterschieden werden. Außerdem kann sie nur mit dieser Erstreckung ihre besondere Funktion wahrnehmen, aufgrund derer sie eine selbständige Rolle neben der Rechtskraft beanspruchen kann. Vgl. Achterberg, DÖV 1977, 657; Frowein, DÖV 1971, 793fT.; Geiger, NJW 1954, 1057; derselbe, Kommentar, § 31, Anm. 6; Lange, JuS 1978, 1; Maassen, NJW 1975, 1343; Rupp, Festschrift flir Kern, S. 403fT.; Stern, Staatsrecht, t036ff.; Wilke/ Koch, JZ 1975, 234; Maunz/ Ulsamer, BVerfGG, § 31, Rn. 16; BVerfGE 1, 14 (15); BVerfGE 19, 377 (392); BVerfGE 20,56 (87), BVerfGE 40,83 (93/94). In Frankreich wird die Bindung an die "motifs qui sont Je soutien necessaire du dispositir' der Urteile des Conseil Constitutionnel angenommen. Vgl. Buerstedde, JöR 12, 171; Collofong, Elemente, S. 159; Favoreu, RDP 1967, 108; Franck, S. 136; Fromont, Gedächtnisschrift für Sasse, S. 803; Luchaire, Le Conseil Constitutionnel, S. 47; Jean de Soto, RDP 1974, 894. Aber diese Bindung wird als materielle Rechtskraft (autorite de chose jugee) bezeichnet. Vgl. Luchaire, Le Conseil Constitutionnel, S. 46; Buerstedde, JöR 12, 171; Waline, RDP 1967, 108. 21 Kriele, Rechtsgewinnung, S. 291; Riem, Der Staat 13, 335fT. Vgl. aber auch Zeidler, EuGRZ 1988, 215. 22 Nach Riem, Der Staat 13, 335 f. können die einfachen Gerichte besser die außerrechtlichen Faktoren, die eine Urteilstindung beeinflussen, berücksichtigen, und daher ist ihre Erfahrung für die Lösung konkreter Streitfälle durch das BVerfG sehr nützlich. 23 Riem, Der Staat 13, 335fT.; Scheuner, NJW 1954, 641 ff.; Schlaich, S. 207. 24 Vogel, BVerfG und GG, S. 577.

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Qualität und der Überzeugungskraft der eigenen Rechtsprechung 25 .Die Rechtsanwendung wird nicht nur vom Rechtsstoff, sondern auch von außerrechtlichen Faktoren beeinflußt. Da diese Faktoren Bezug auf den konkreten Fall haben, sollte die Entscheidung nicht über die Erledigung des konkreten Konflikts hinausgehen 26 • Es ist für den Richter sehr schwer, alle künftigen Fälle zu prognostizieren und in dasUrteil einzubeziehen. Die Bestimmung der tragenden Gründe ist nicht einfach 27 • Tragend können nicht nur rechtliche, sondern auch außerrechtliche Elemente sein. Werden sie auch in die Bindungswirkung einbezogen?28 • Die Bindung an die tragenden Gründe stößt weiter auf staatsrechtliche Bedenken: sie führt zu einer Kanonisierung der U rteilsgründe 29 • Das Verfassungsgericht wird authentischer Interpret der Verfassung, obwohl nur der Verfassungsgesetzgeber die Verfassung authentisch interpretieren kann30 • Es wandelt sich sogar ohne demokratische Legitimation31 zum Verfassungsgesetzgeber, soweit es bindende Regeln aufverfassungsrechtlicher Ebene aufstellt. Ein Verfassungsgericht sollte aber nicht die Verfassung durch abstrakte Auslegungssätze fortbilden, sondern nur durch die Erledigung konkreter Konflikte die Achtung der Verfassungssätze sichern 32 • Endlich kann die Bindung an die tragenden Gründe Probleme für den Willensbildungsprozeß des Verfassungsgerichts verursachen. Die Richter können sich u. U. über das Ergebnis einig sein, ohne in der Begründung dieses Ergebnisses übereinzustimmen. Dann aber beharren die Richter auf ihrer Auffassung zur Begründung, weil auch dieser richterlichen Willensäußerung rechtliche Bindung zukommen kann, und die Willensbildung wird infolgedessen besonders schwer. Wenn dagegen die Richter zu einem Begründungskompromiß kommen, wird die Begründung leicht 25 Schlaich, S. 208, nennt die Möglichkeit dieser Auseinandersetzung und Selbstprüfung "Lebenselixier" für das BVerfG. Es ist aber folgendes zu beachten: Es wird von Erstarrung des Verfassungsrechts und von mangelnder Beweglichkeit der Rechtsprechung des BVerfG gesprochen, weil die Bindungswirkung aus der Sicht der materiellen Rechtskraft betrachtet wird. Wenn aber eine Bindungwirkung zugrundegelegt wird, die von der Rechtskraft unabhängig ist und keine "ne bis in idem"-Funktion hat, dann ist immer ein neuer Antrag oder eine neue Vorlage zulässig, und infolgedessen bleibt die Beweglichkeit der Rechtsprechung des BVerfG gesichert. 26 Riem, Der Staat 13, 335 ff. 27 Schlaich, S. 206; Kadenbach, AöR 1955, 415. 28 Wenn sie nicht einbezogen werden, obwohl sie doch tragend sind, besteht die Gefahr der Bindung an eine einseitige und verfälschte Begründung, nämlich an eine Begründung, die nur aus rechtlichen Elementen besteht. Vgl. Riem, Der Staat 13, 335fT. 29 Schlaich, S. 208, meint, daß diese Kanonisierung stärker wird, wenn das BVerfG mit übergreifenden Rechtsvorstellungen statt mit einzelnen Verfassungsnormen arbeitet. 30 Schlaich, S. 205. 31 Kadenbach, AöR 1955, 414. Es wird auch betont, daß durch die Bindung an die tragenden Gründe, das BVerfG als Verfassungsgesetzgeber aufgrund der Legitimation einereinfachen Norm, nämlichdes § 31, Abs. 1 BVerfGG, fungiert. Vgl. Schneider, DVBl 1954, 184fT. 32 Scheuner, NJW 1954, 641 ff.

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§ 7 Außerprozessuale Bindungswirkung

verfalscht; die sich aus einem Kompromiß ergebenden Gründe sind in Wirklichkeit nicht "tragend" 33 • b) Bestimmung der tragenden Urteilsgründe

Unsicherheit besteht in bezugauf die Bestimmung der tragenden Gründe. Nach einer Ansicht sind die Gründe tragend, die in einem engen und notwendigen Zusammenhang34 mit dem Tenor stehen. Der Tenor könnte nicht aufrechterhalten werden, wenn einer dieser Gründe wegfiele 35 • Die Frage nach der Bestimmung der tragenden Gründe ist danach eine Frage der Logik 36 • Nach anderer Ansicht sind die Gründe tragend, die das Verfassungsgericht für tragend hält 36 a und die es deshalb überlegt formuliert. Die Bestimmung ist hier eine Frage der Wertung 37 • Ähnlich ist die Meinung, die bei der Ermittlung der tragenden Gründe den vom Gericht gebildeten Leitsätzen eine besondere Bedeutung zumißt 38 • 33 Riem, Der Staat 13, 335 !T. Weitere Argumente gegen die Bindung des BVerfG an die tragenden Gründe: Es ist inkonsequent, eine weitere Bindung der Nichtbeteiligten als der Beteiligten (Bindung nur durch die materielle Rechtskraft, die sich auf den Urteilstenor beschränkt) anzunehmen (Schneider, DVBl 1954, 184fT.). - §§ 67, S. 3; 95 I, S. 2 BVerfGG, Art. 100, Abs. 3 GG sehen die Möglichkeit einer Bindung an die Auslegung des GG durch das BVerfG vor. Mit dem Umkehrschluß ("argumentum e contrario") wird jede solche Bindung in anderen Fällen ausgeschlossen (Kadenbach, AöR 1955, S. 416; Schneider, DVB11954, 184fT.). 34 Geiger, Kommentar,§ 31, Anm. 6. 35 Lange, JuS 1978, 1fT.; Rupp, Festschrift für Kern, 403fT.; Maunz/ Ulsamer, BVerfGG, § 31, Rn. 16. Vgl. auch BVerfG, NJW 1988, 249. 36 Schlaich, S. 206. Zu im wesentlichen gleichen Ergebnissen gelangt Stern, Staatsrecht, S. 1036!T., wenn er die Bestimmung der tragenden Gründe aus ihrem Gesamtzusammenhang vornimmt. Dagegen beurteilt Sachs, a.a.O., S. 134, das logische Kriterium des denknotwendigen Zusammenhangs als unzureichend und nimmt eine Bindung an alle Ausführungen, die das Gericht f"Ur die konkrete Fallösung benutzt hat. Für Kriele, Rechtsgewinnung, S. 300, ist eine logische Bestimmung der tragenden Gründe ungeeignet für die Bestimmung des Umfangs der Bindungswirkung (für ihn ist sie Präjudizienbindung). Er meint, alle Gründe seien austauschbar, aber nur insoweit der Austausch nicht zu einer Änderung des Tenors führe. 36 " Das BVerfG hat in einer den Grundlagenvertrag mit der DDR betreffenden Entscheidung sogar alle Ausführungen seiner Urteilsbegründung als tragend bezeichnet (BVerfGE 36, 1 [36]). 37 Schlaich, S. 206. 38 Schick, NJW 1975, 2169ff.; Maunz/Ulsamer, BVerfGG, § 31, Rn. 16; Rupp, Festschrift für Kern, S. 403 ff., nehmen, obwohl sie das logische Kriterium befürworten, gleichzeitig eine klärende Funktion der Leitsätze in bezug auf die Bestimmung der tragenden Gründe an. Dagegen wendet Schlaich, S. 207, ein, das BverfG habe es dann in der Hand, durch die gesetzlich nicht geregelte Formulierung von Leitsätzen Verfassungsrechtssätze zu schaffen. Außerdem seien Leitsätze die allgemein relevanten Begründungen, aber die tragenden Gründe seien die für die konkrete Entscheidung erheblichen Begründungselemente. Ebenfalls gegen die beliebige Qualifikation tragender Gründe durch die Leitsätze Lange, JuS 1978, 1 ff.

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c) Beschränkung der tragenden Urtei/sgründe, die in die außerprozessuale Bindungswirkung einbezogen werden können. Nicht alle tragenden Gründe sind geeignet, an der außerprozessualen Bindungswirkung teilzunehmen. Nur die Gründe, die die Auslegung der Verfassung betreffen, werden in diese Bindung einbezogen. Ein Verfassungsgericht ist die maßgebliche Instanz für die Auslegung und Wahrung des Verfassungsrechts 39 • Die Bindung, die die tragenden Gründe umfaßt, beruht auf der Sonderstellung des Verfassungsgerichts als Hüter und Interpret der Verfassung40. Wenn einfachrechtliche Annahmen bindend wären, dann würde ein Verfassungsgericht auch insoweit als Superrevisionsinstanz fungieren 41 • 3. Subjektive Grenzen der außerprozessualen Bindungswirkung

Die außerprozessuale Bindungswirkung erstreckt sich nach der gesetzlichen Regelung nur auf staatliche Organe. § 31 Abs. 1 BVerfGG bestimmt: "Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden"42 • Ähnlich lautet Artikel 62, Abs. 2, S. 2 der französischen Verfassung: Die Urteile des Conseil Constitutionnel "s'imposent aux pouvoirs publies et a toutes les autorites administratives et juridictionnelles" 43 • Also bezieht sich im Gegensatz zu der materiellen Rechtskraft, die sich auf die Verfahrensbeteiligten beschränkt, die Bindungswirkung auch auf staatliche Organe, die am Rechtsstreit nicht beteiligt waren44 • Natürliche Personen und Lange, JuS 1978, 1 ff.; Geiger, NJW 1954, 1057; Rupp, Festschrift für Kern, S. 403 ff. Maunz/Ulsamer, BVerfGG, § 31, Rn. 17; BVerfGE 40, 83 (93, 94). 41 Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 136. Er bringt noch folgende Argumente für die Bindung nur an die Auslegung des GG durch das BVerfG: Die Bildung des Gemeinsamen Senats der Bundesgerichte für die einheitliche Auslegung des einfachen Rechts und die Möglichkeit der einfachen Gerichte, selbst über die Entscheidungserheblichkeit eines einfachen Gesetzes zu entscheiden (Art. 100 Abs. 1 GG), sprechen für eine Bindung nur an die verfassungsrechtliche Auslegung. § 67, S. 3 BverfGG beschränkt sich nur auf die Verfassungsauslegung, und Art. 100, Abs. 3 GG sieht eine Vorlagepflicht der Landesverfassungsgerichte nur dann vor, wenn sie von einer Entscheidung des BVerfG bei Auslegung des Grundgesetzes abweichen wollen. Es wird aber immer eine Ausnahme für die verfassungskonforme Auslegung gemacht: die verfassungskonforme Auslegung des einfachen Gesetzes wird in die außerprozessuale Bindungswirkung einbezogen. Vgl. Maunz/Ulsamer, BVerfGG, § 31, Rn. 17; Rupp, Festschrift für Kern, S. 403fT. 42 Vgl. auch Geiger, Kommentar, § 31, Anm. 6; Maassen, NJW 1975, 1343ff.; Pestalozza, S. 169fT.; Schlaich, S. 204; BVerfGE 1, 14 (15); BVerfGE 19, 377 (322). 43 So auch Buerstedde, JöR 12, 171fT., Collofong, S.159; Luchaire, Constitution, S. 760fT.; Favoreu, RDP 1967, 108; C.E. 20-12-85, D. 1986, J. 283. 44 Vogel, BVerfG und GG, 598, meint allerdings, daß im Bund-Länderstreit alle Länder interventionsfähig seien. Deshalb würden sie an die Rechtskraft gebunden. Die Rechtskraft erstrecke sich weiter aufgrund der Bindung jeden Landes auf dessen Organe. Infolgedessen bringe die Bindungswirkung bezüglich der Bindung staatlicher Organe 39

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§ 7 Außerprozessuale Bindungswirkung

juristische Personen des Privatrechts scheinen zunächst von der Bindung nicht erfaßt zu sein45 • Es fragt sich aber, ob es nicht doch eine Ausdehnung der Bindungswirkung, obwohl gesetzlich nicht vorgesehen, auch auf die Individuen gibt. Die Bindung aller staatlichen Organe an die Auffassung des Verfassungsgerichts führt notwendigerweise auch zur Bindung des Einzelnen, weil er niemals eine widersprechende Entscheidung staatlicher Organe erreichen kann46 • Man könnte behaupten, es existiere eine Erstreckung der Bindungswirkung faktischer Natur auf nichtbeteiligte Individuen47 • 4. Funktion der außerprozessualen Bindungswirkung

a) Positive Funktion Alle Verfassungsorgane, Gerichte und Behörden dürfen von der Meinung des Verfassungsgerichts nicht abweichen48 • Sie sollen die sich aus der Entscheidung ergebenden Grundsätze49 bei jeder künftigen Handlung zugrunde legen 50 • Nach der Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes darf ein ähnliches nichts Neues. Im Fall des Organstreites sei die Bindung der nicht interventionsfahigen Behörden und Gerichte Folge der Tatbestandswirkung des Urteils des BVerfG, also wieder keine Erweiterung des Kreises der Gebundenen durch die Bindungswirkung. 45 Rupp, Festschrift für Kern, S. 403ff.; Scheuner, NJW 1954, 641 ff., schließen ausdrücklich eine Bindung des Einzelnen aus. 46 Vgl. Kadenbach, AöR 1955, 411. Interessant ist aber auch die Meinung Vogels, BVerfG und GG, 603, der von einer objektiv "erga omnes" wirkenden Rechtskraft spricht. Die Individuen können sich im Rahmen künftiger Fälle auf die Entscheidung des BverfG berufen.- Von Bedeutung ist auch die Lehre von Bötticher und Schwab (siehe oben Fn. 18) -, obwohl sie nicht das BVerfG betrifft. Sie spricht von einer "Drittwirkung" der Rechtskraft. Diese Drittwirkung besteht in der Möglichkeit der Nichtbeteiligten, sich auf das rechtskräftige Urteil zu berufen. In diesen Fällen schafft die Möglichkeit, sich auf das Urteil zu berufen, eine Ausdehnung seiner Rechtskraftwirkung auf Personen, die dem gesetzlichen Kreis der Rechtskraftbetroffenen nicht angehören. 47 Brox, Festschrift für Geiger, S. 814 und Stein/Jonasf Schumann/Leipold, § 322, Anm. XII 6, sprechen von einer "erga omnes"-Wirkung. Auch in Frankreich wird eine ähnliche Meinung ("autorite absolue" der Urteile des Conseil Constitutionnel) vertreten. Sie wird auf das Fehlen von Parteien ("absence des parties") und auf den objektiven Charakter des Verfahrens gestützt. Die Antragsteller werden als Hüter des objektiven Rechts tätig: "Les procureurs de la Constitution charges de saisir Je Conseil non pas en invoquant un interet propre mais de faire respecter Je droit objectir'). 48 Lange, JuS 1978, 1 ff.; BverfG, NJW 1988, 249. 49 Vogel, BVerfG und GG, S. 590 spricht von einer konkreten Entscheidungsnorm. Sie ist die Rechtsannahme, die nicht nur zur konkreten Entscheidung, sondern auch zu einer übereinstimmenden Entscheidung in ähnlichen Fällen führt. 50 Rupp, Festschrift für Kern, S. 403fT.; Goose, S. 163; Maassen, NJW 1975, 1343ff.; BVerfGE 19, 377 (392); BVerfGE 40, 83, (93). Maunz in Maunz f Ulsamer, BVerfGG, § 31, Rn. 23 meint sogar, daß sich die Bindung auf das Gesamtverhalten der Organe beziehe. Auch die einfache Äußerung, eine bestimmte Entscheidung des BVerfG sei falsch, sei bedenklich, weil sie als Appell an die anderen Organe, die Entscheidung nicht zu befolgen, betrachtet werden könne.

I. Analyse entsprechender Institute des innerstaatlichen Rechts

141

Gesetz nicht mehr erlassen werden. Ein schon erlassenes ähnliches Gesetz darf nicht mehr angewendet werden. Es soll sogar aufgehoben werden 51 • Diese Konsequenzen gelten in Deutschland auch für die sogenannten "Parallelnormen". Erklärt das BVerfG eine Norm des Landes A für verfassungswidrig, dann dürfen ähnliche Normen in den Ländern B und C nicht mehr angewendet werden 52 • b) Negative Funktion

Die Frage nach der negativen Funktion ("ne bis in idem") der außerprozessualen Bindungswirkung ist stark von der Diskussion über ihren Charakter geprägt. Die Auffassung, welche die Bindungswirkung für eine subjektive Erweiterung der materiellen Rechtskraft hält, kann eine "ne bis idem"-Funktion gar nicht bezweifeln 53 • Für die Meinung, welche die Institute der materiellen Rechtskraft und der Bindungswirkung durch ein qualitatives Kriterium trennt, scheint eine solche Funktion ausgeschlossen zu sein 54 • Aber das Problem ist mit der Vemeinung der Funktion der Bindungswirkung als negative Sachurteilsvoraussetzung nicht endgültig gelöst. Wenn nämlich das Verfassungsgericht an seine früheren Rechtsauffassungen gebunden wäre, dann käme man praktisch zum selben Ergebnis: Unmöglichkeit einer abweichenden Entscheidung; und wenn eine abweichende Entscheidung unmöglich wäre, dann fehlte das Rechtsschutzbedürfnis für einen neuen Antrag. Der neue Antrag wäre wiederum unzulässig. Die Bindungswirkung fungierte auf diese Weise als mittelbare negative Sachurteilsvoraussetzung 55 • Eine Selbstbindung des Verfasssungsgerichts wird aber mit folgenden Argumenten verneint: aa) Beim Fehlen einer Selbstbindung erfüllt ein Verfassungsgericht besser seine Funktion als Hüter der Verfassung, weil die Verfassung wandelbar ist 56 • Die Annahme, daß die Bindungswirkung Selbstbindung bedeute und infolgedessen eine negative Funktion entfalte, könnte zu einer Erstarrung des Verfassungsrechts führen 57 •

51 Klein, NJW 1977, 697ff.; Pestalozza, S. 169fT.; Maunz/ Ulsamer, BVerfGG, § 31, Rn. 24; Collofong, S. 159; Favoreu, RDP 1967, 108; BVerfGE 1, 14 (15). 52 Pestalozza, S. 169fT.; Maunz/Ulsamer, BVerfGG, § 31 , Rn. 25. 53 Vgl. Brox, Festschrift für Geiger, S. 819; Frowein, DÖV 1971, 793fT.; Klein, NJW 1977, 697fT. Ein neuer Antrag ist nur zulässig, wenn die Lebensverhältnisse und die Rechtsauffassung sich ändern. Vgl. Zuck, NJW 1975, 907; Klein, NJW 1977, 697ff. 54 Geiger, Kommentar,§ 31, Rn. 6; Sachs, Die Bindung des BverfG, S. 83; Engelmann, Prozeßgrundsätze, S. 89. 55 Die außerprozessuale Bindungswirkung hat dieselbe negative Funktion wie die materielle Rechtskraft im Rahmen der Abweichungsverbotstheorie. 56 Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 100. Vgl. auch Zeidler, EuGRz 1988, 216. 57 Lechner, NJW 1956, 441 tT.; Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 95; Luchaire, Le Conseil Constitutionnel, S. 50.

142

§ 7 Außerprozessuale Bindungswirkung

bb) Der Konflikt zwischen Rechtssicherheit und materieller Richtigkeit soll anders als bei der Rechtskraft - d. h. zugunsten der materiellen Richtigkeitgelöst werden, wenn eine Bindung auch für künftige Fälle existiert 58 • cc) Eine Fremdbindung (Bindung aller anderen staatlichen Organe) setzt eine Selbstbindung nicht voraus 59 • ll. Begründung der außerprozessualen Bindungswirkung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs 1. Begründung mit Hilfe des Vorabentscheidungsverfahrens (Art.l77 EWGV)

a) Ähnlichkeit der Vorabentscheidungen mit den Urteilen des Vertragsverletzungsverfahrens hinsichtlich der Auslegung des Gemeinschaftsrechts

Die Urteile des Gerichtshofs im Vertragsverletzungsverfahren ähneln hinsichtlich ihrer Rechtsannahme (Die naationalen Handlungen mit den X, Y, ZMerkmalen oder die Handlungen, die X, Y, Z-Wirkungen haben, unter den A, B, C-Umständen verletzen (nicht) K (primäre oder sekundäre) gemeinschaftsrechtliche Norm) einer bestimmten Kategorie von Vorabentscheidungen. Wenn aufgrundeiner Vertragsverletzung ein Gemeinschaftsbürger Schadensersatzklage vor einem innerstaatlichen Gericht erhebt und das Gericht den EuGH um eine Vorabentscheidung bezüglich der Auslegung der verletzten gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift ersucht (Art. 177 EWGV), ist der EuGH in seiner Entscheidung am Einzelfall orientiert. Seine Antwort lautet: Die K-Norm des Gemeinschaftsrechts verbietet (nicht) unter den A, B, C-Umständen die innerstaatlichen Maßnahmen, die die X, Y, Z-Wirkungen haben 60 • Nur wenn die Antwort am konkreten Fall orientiert ist, kann sie für den nationalen Richter Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 93. Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 104. Stern, Staatsrecht, S. 1036fT., äußert aber seine Zweifel, ob Fremdbindung mit fehlender Selbstbindung vereinbar ist. Luchaire, Le Conseil Constitutionnel, S. 50 verneint eine Selbstbindung, aber gleichzeitig auch eine Fremdbindung. Weitere Argumente gegen eine Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts: dd) Das Bundesverfassungsgericht ist nicht Bindungsadressat, obwohl es auch ein Verfassungsorgan ist (Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 104); ee) § 16 BVerfGG erlaubt die Abweichung von der eigenen Rechtsauffassung (Sachs, a.a.O., S. 103); ff) Art.100, Abs. 3 GG erlaubt immer eine Vorlage durch eine Landesverfassungsgericht. Das wäre unnötig, wenn eine Bindung des BVerfG an seine frühere Meinung existierte. BVerfGE 39, 169 (182) hält allerdings eine neue Vorlage für unzulässig, soweit ein Wandel der Auslegung der Norm nicht vorliegt. Es entspricht h.M., daß das BVerfG bei sogenannten Appell-Urteilen später an seine Rechtsauffassung gebunden ist; vgl. Maassen, NJW 1975, 1343fT. 60 Rs 154/77, Slg 1978, 1583; Rs 1 / 81, Slg 1981, 2928; Rs 4/81, Slg 1981, 2852; Rs 229/83, EuR 1985, 158fT. Vgl. auch Teitgen, Droit institutionnell, S. 508: "Elle (die Vorabentscheidung) degage !es hypotheses dans lesquelles Je traite pourrait etre viole". 58

59

II. Begründung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs

143

nützlich sein 61 • Eine absolut abstrakte Antwort ohne Bezogenheit auf den Einzelfall würde dem nationalen Richter "Steine statt Brot" geben 62 • Eine Auslegung, die sich auf derselben abstrakten Ebene wie die auszulegende Norm bewegt, schafft keine große Klarheit darüber, wie die Norm auf den konkreten Fall angewendet werden soll. Außerdem sind die regelungsbedürftigen Sachverhalte so kompliziert geworden, daß es sehr schwer geworden ist, die Auswirkungen der Vorabentscheidungen sowohl auf gemeinschaftlicher als auch auf innerstaatlicher Ebene vorauszusehen 63 • Wenn der Gerichtshof Gerechtigkeit wahren will, muß er deshalb immer den Ausgangsfall berücksichtigenM. Deshalb verlangt der EuGH, daß der nationale Richter schildert, innerhalb welchen rechtlichen Rahmens die Auslegung erfolgen solle65 • Er betont auch, eine Vorlage sei nützlicher, wenn das Gericht des Ausgangsverfahrens zuerst die Sachlage völlig aufkläre 66 , damit alle notwendigen Informationen für eine aufklärende Antwort zur Verfügung des EuGH stünden 67 • Wenn eine konkrete Frage vorgelegt wird, wird sie nicht als unzulässig verworfen. Der Gerichtshof zieht vielmehr die Umstände des konkreten Falles in Betracht und gibt eine relativ abstrakte Antwort, wie sie dem Einzelfall entspricht68 • Wenn man diese Ähnlichkeit der Urteile des Vertragsverletzungsverfahrens mit den Urteilen des Vorabentscheidungsverfahrens hinsichtlich der Auslegung des Gemeinschaftsrechts berücksichtigt, scheint eine Übertragung der Bindungswirkung der Vorabentscheidungen auf den die Auslegung des Gemeinschaftsrechts enthaltenden Teil der Urteile im Vertragsverletzungsverfahren naheliegend.

61 Kovar, AFDI 1966, 539, Fn. 99; Ch. de Visscher, Problemes, S. 27; Daig in Groeben I Ehlermann, Art. 177, Rn. 20; Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 185. Vgl. auch GA Trabucchi, Rs 63/74, Slg 1975, 293; Everling, Der Gerichtshofals Entscheidungsinstanz, S. 144 f; vgl. auch van Themaat, BayVBI. 1986, 481. 62 Schwarze, Abstraktion, S. 119. 63 Schwarze, Abstraktion, s. 119. 64 Everling, a.a.O., S.144ff. Er hält für weitere Ursachen der Fallbezogenheit der Vorabentscheidungen den wachsenden Pragmatismus der jüngeren Richter und der Richter aus dem case law Kreis und den Verzicht auf große Integrationssprünge zugunsten mühevoller kleiner Schritte auf der Integrationsstraße. 65 Rs 12/71, Slg 1971, 750ff.; 83/78, Slg 1978, 2368; auch WaelbroeckiVandersanden, Art. 177, Anm. 29. 66 Rs 36, 71 180, Slg 1981, 735ff.; ebenfalls Daig in GroebeniEhlermann, Art.177, Rn.36. 67 "La Cour de Justice doit connaitre les faits ... pour apprecier l'interet de Ia reponse qui a motive Je juge a quo" (Trabucchi, RTDE 1974, 56ff.). Vgl. auch Waelbroecki Vandersanden, Art. 177, Anm. 29: "La cour souhaite etre informee de fa~on aussi complete que possible du cadre concret". 68 Rs 13161, Slg VIII, 99; Rs 10ol 63, Slg X, 1215; Rs 20164, SlgXI, 3 I 1. Auch wird der Streitstoff des Ausgangsfalls in den Entscheidungsgründen und nicht im Tatbestand des Urteils geschildert, Rs 127/73, Slg XX 316; Rs 9/74, Slg XX, 778.

144

§ 7 Außerprozessuale Bindungswirkung

b) Natur und Tragweite der Bindungswirkung der Vorabentscheidungen

Über die Natur und Tragweite der Bindungswirkung der Vorabentscheidungen, die das Gemeinschaftsrecht auslegen, sind folgende Meinungen entwickelt worden: aa) Es existiert eine Wirkung "erga omnes", die jede neue Vorlage über dieselbe Frage ausschließt ("autorite absolue"). Die Bindungswirkung wird als Rechtskraftwirkung (" a son egard chose jugee") 69 verstanden und wirkt "erga omnes" aufgrunddes Zwecks und der Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens 70 • Da jeder nationale Richter gleichzeitig Gemeinschaftsrichter ist und er auch Gemeinschaftsrecht auslegen und anwenden darf, besteht besonders wegen der unterschiedlichen Rechtstradition der Mitgliedstaaten die Gefahr der uneinheitlichen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts71 • Die Beseitigung dieser Gefahr bzw. die Wahrung der einheitlichen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten ist der Hauptzweck des Vorabentscheidungsverfahrens72 • Die Einheit der Auslegung und Anwendung des positiven Rechts ist ein ständiges "desideratum" jeder Rechtsordnung, weil so einheitlicher effektiver Rechtsschutz und der Gleichheitsgrundsatz gewährleistet werden. Außerdem wird die "erga omnes"-Wirkung mit dem Gedanken beg~ndet, die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH sei eine authentische Interpretation 73 , sie werde in den ausgelegten Text inkorporiert ("l'interpretation fait corps avec le texte interprete" 74) und habe infolgedessen dieselbe Tragweite wie er. Gegen diese "erga omnes"-Bindungswirkung mit Rechtskraftcharakter wird aber eingewandt, sie führe zu einer ständigen Bindung an eine bestimmte Auslegung, die vielleicht nicht mehr den schon veränderten Umständen entspreche und die sogar der EuGH selbst nicht mehr für richtig halte 75 , weil eine Änderung wegen des Verbots jeder neuen Vorlage unmöglich sei. Mit Recht wird bemerkt, eine Bindung an die konkrete Entscheidung diene dem Rechtsfrieden, eine Bindung an die Rechtsauslegung sei aber qualitativ etwas anderes 76 und führe zur Hemmung der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts 77 und des Teitgen, Droit institutionnel, S. 508. Teitgen, Droit institutionnel, S. 508. 71 Trabucchi, RTDE 1974, 56fT. 72 Teitgen, Droit institutionnel, S. 508. 73 Bemerkungen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften in Rs 66, 127 und 128/79, Slg 1980, 1237ff. 74 Jeantet, JCP 1966, Anm. 1987; Jean de Richemont, L'integration, S. 124; Baron, 27. 75 Jean de Richemont, L'integration, S. 124. 76 Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 189. 77 Baron, S. 27; Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 188; Delikostopoulos, S. 121; GA Lagrange, Rs 28, 30/62, Slg 1963, 91. 69

70

s.

II. Begründung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs

145

Gemeinschaftslebens. Weiter werde durch diese "erga omnes"-Wirkung das Primat der "inter partes"-Wirkung der materiellen Rechtskraft überspielt 78 und der Gerichtshof verwandle sich in eine oberste Instanz für die innerstaatlichen Gerichte 79 , so daß die Grenzen zwischen den beiderseitigen Zuständigkeiten verwischt würden 80 • bb) Eine zweite Ansicht geht davon aus, die Respektierung innerstaatlicher Zuständigkeit werde ebenso wie die Fortbildung der Rechtsprechung des EuGH und infolgedessen des Gemeinschaftsrechts durch eine "inter partes"Rechtskraftwirkung81 ("autorite relative") gewährleistet, die Befolgung der Entscheidung des Gerichtshofs durch andere als die an die Rechtskraft gebundenen Personen stütze sich einfach auf die Überzeugungskraft ("autorite morale") 82 • Der EuGH habe immer die Möglichkeit, aufgrund einer neuen Vorlage seine eigene Rechtsprechung neu zu prüfen und sie mit Hilfe auch der Argumente der innerstaatlichen Gerichte zu verbessem83 • Jedoch kann man dagegen vorbringen, durch die bloße "inter partes"-Wirkung der Vorabentscheidungen werde die Funktion des EuGH, nämlich die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten, in weitem Maße geschwächt84 • cc) Eine dritte Ansicht versucht, die Vorteile der schon erwähnten Meinungen zu erhalten, aber gleichzeitig ihre Nachteile zu vermeiden. Nach dieser herrschenden Ansicht sind alle staatlichen Gerichte an die das Gemeinschaftsrecht auslegende Entscheidung des EuGH gebunden. Sie können von seiner Meinung nicht abweichen. Wenn sie aber meinen, daß die Rechtsansicht des EuGH nicht (mehr) richtig ist, können sie erneut dem Gerichtshof eine Frage und ihre Argumente vorlegen, damit er seine Meinung wieder prüfe und ändere 85 . Diese Entscheidungswirkung ist dann keine Rechtskraftwirkung. Im GA Lagrange, Rs da Costa, D 63, 641. Baron, S. 27; Teitgen, Droit institutionnel, S. 510. 80 Baron, S. 28; Teitgen, Droit institutionnel, S. 510. 81 GA Lagrange, Rs28, 30/62, Slg 1963,91. Vgl. auchC.E., RTDE 1986, 533; BVerfG, EuR 1987, 334fT. 82 GA Lagrange, Rs 28,30/62, Slg 1963, 91; Baron, S. 28; Teitgen, Droit institutionnel, 78

79

s.1o.

GA Lagrange, Rs 28, 30/62, Slg 1963, 91; Baron, S. 28. GA Wamer, Rs 112/76, Slg 1977, 1662ff.; Baron, S. 28; GA Wamer, a.a.O., 1662, meint weiter, die Stellungnahme der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsorgane (Art. 20, Abs. 2 Satzung) sei überflüssig, wenn eine Wirkung nur "inter partes" existiere. 85 Hermann, Rn. 105, 106; Matthies, Festschrift für Hallstein, S. 304fT.; Jean de Richemont, L'integration, S. 125; Trabucchi, RTDE 1974, 56fT.; Baron, S. 29; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 835; Daig in Groeben / Ehlermann, Art. 177, Rn. 49; Waelbroeck f Vandersanden, Art.177, Anm. 29; Schwarze, Abstraktion, S. 132; Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 191; Rs 28, 30 I 62, Slg 1963, 81; GA Wamer, Rs 112/76, Slg 1977, 1662ff.; BVerfG, Beschluß v. 8.4.1987, EuR 1987, 333fT.; Beschluß v. 9.11.1987, EuR 1988, 190fT. Aber es existiert kein Vorlagerecht des 83

84

10 Tsikrikas

146

§ 7 Außerprozessuale Bindungswirkung

Vorabentscheidungsverfahren geht es nicht um die Wahrung des Rechtsfriedens durch eine "ne bis in idem"-Funktion, sondern hauptsächlich um die Gewährleistung der einheitlichen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch ein objektives- also ohne Parteien durchzuführendes- Verfahren 86 . Die Entscheidungswirkung stellt ein "Mehr" hinsichtlich der subjektiven Grenzen der Rechtskraft dar, aber ein "Minus", was die negative "ne bis in idem"-Funktion anbetrifft 87 • Angesichts fehlender instanzieller Unterordnung nationaler Gerichte, die eine Bindung an die Rechtsannahmen des obersten Gerichts leichter begründen könnte 88 , ist diese Bindungswirkung ganz auf den Charakter und die Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens gestützt: die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts gebietet eine "erga omnes"-Wirkung89 • Die Möglichkeit der Stellungnahme (Art. 20, Abs. 2 Satzung EuGH) durch die Gemeinschaftsorgane und die Mitgliedstaaten ist für die Bedeutung charakteristisch, die eine Vorabentscheidung außerhalb des Ausgangsverfahrens hat90 • Zwar besteht auch die Möglichkeit der Stellungnahme durch die Parteien des Ausgangsprozesses, aber ihre Argumente werden regelmäßig durch die Argumente und Bemerkungen der Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorgane überspielt 91 • Außerdem haben die Parteien kein Vorlagerecht, nur die innerstaatlichen Gerichte besitzen ein Initiativmonopol 92 • Diese über den konkreten Fall hinausgehende Bedeutung wird praktisch völlig mißachtet, wenn die Entscheidung nur innerhalb des Ausgangsprozesses wirkt und nur seine Parteien bindet. Es wird zwar gegen eine umfassende Bindung eingewandt, es existiere in der Gemeinschaft kein Gesetzgeber mit umfassenden Rechtssetzungskompetenzen, der in der Lage sei, einen voraussichtlich falschen, aber allgemeinverbindlichen Kurs des Gerichtshofs zu korrigieren 93 • Dieser Mangel eines "starken" Rechtssetzungsorgans- oftmals scheitern Rechtssetzungsinitiativen an politischen Kontroversen im Ministerrat und regelungsbedürftige Materie bleibt ungeregelt wegen des für Gemeinschaftsorgane geltenden Prinzips der beschränkten Einzelkompetenz ("principe d'attribution des competences") - hat aber umgekehrt negative Folgen für die Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts und seine Anpassung an veränderte Umstände. Diese Aufgabe der Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts kann gerade der Geerstinstanzliehen Gerichts, wenn schon das letztinstanzliehe vorgelegt hat (EuGH, Rs 166/73, Slg XX, 38fT.). 86 Trabucchi, RTDE 1974, 71; Joliet, S. 212; Waelbroeck/Vandersanden, Art.177, Anm.29. 87 Trabucchi, RTDE 1974, 83. 88 Lechner, NJW 1956, 441 ff. 89 Trabucchi, RTDE 1974, 77; Schwarze, Abstraktion, 8. 131. 90 Trabucchi, RTDE 1974, 78. 91 Trabucchi, RTDE 1974, 80. 92 Trabucchi, RTDE 1974, 80. 93 Steindorff, Nichtigkeitsklage, S. 116fT.

II. Begründung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs

147

richtshof erfüllen, er kann "viva vox juris" sein. Sein Hauptinstrument ist das Vorlageverfahren und dabei besonders die "erga omnes"-wirkende Vorabentscheidung, die aber eine neue Vorlage derselben Frage nicht hindert. So hat der Gerichtshof die Möglichkeit, seine eigene Rechtsprechung zu verfeinern, das Gemeinschaftsrecht fortzubilden und auf seine Art - also nicht politisch, sondern juristisch - die europäische Integration zu fördern. c) Möglichkeit der Übertragung der Bindungswirkung der Vorabentscheidungen auf die Urteile im Vertragsverletzungsverfahren

Ist nun eine Übertragung der Bindungswirkung der Vorabentscheidungen auf die Urteile des Vertragsverletzungsverfahrens bezüglich der Auslegung des Gemeinschaftsrechts möglich? Beim Vertragsverletzungsverfahrenn handelt es sich schließlich um ein kontradiktorisches Verfahren, während das Vorabentscheidungsverfahren keine Parteien kennt, Die Existenz von Parteien ist jedoch für die Bindung an die abstrakte Rechtsannahme des Gerichtshofes irrelevant. Wie schon erwähnt, ist die Bindungswirkung keine Rechtskraftwirkung, sondern ein Institut, mit dem die einheitliche Auslegung und die Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts erreicht wird. Nichtbeteiligte werden nicht in ihren Rechten -besonders ihrem Recht auf rechtliches Gehör -verletzt, weil immer die Möglichkeit einerneuen Vorlage derselben Rechtsfrage besteht. Auch im Vorabentscheidungsverfahren existiert der konkrete Ausgangsfall, der Anlaß für die Vorlage war, die Wirkung der Vorabentscheidung beschränkt sich aber nicht auf ihn. Außerdem wird der Kläger im Vertragsverletzungsverfahren oftmals im Interesse der Gemeinschaft tätig94, die Interessen der Gemeinschaft werden mindestens inzidenter geschützt95 und dem Verfahren können immer Organe der Gemeinschaft und Mitgliedstaaten ohne die besondere Voraussetzung berechtigten Interesses beitreten (Art. 37 Satzung EuGH). Die Bedeutung des Urteils überschreitet also die Grenzen des konkreten Streites. Auch nach der Gestaltung des Verfahrens ist das Urteil geeignet, eine "erga omnes"-Wirkung zu entfalten: Während im Vorabentscheidungsverfahren die Sache meist nur unvollkommen erörtert werden kann, weil alle Beteiligten ihre Argumente gleichzeitig dem Gerichtshof vorlegen, ohne die der anderen Seite näher zu kennen 96 (vgl. Art. 20, Abs. 2 Satzung EuGH), bietet das Vertragsverletzungsverfahren ein zweistufiges Vorverfahren (Art. 169, 170 EWGV) und ein kontradiktorisches Hauptverfahren, in dem der rechtliche und tatsächliche Streitgegenstand - der letztere ist von besonderer Bedeutung, weil - wie schon gesagt- eine Vorab- oder ähnliche Entscheidung auch am konkreten Fall orientiert ist - aufgrund Klagebeantwortung, Erwiderung und Gegenerwide94 95

96

to•

Bleckmann, Europarecht, S. 192. Siehe § 4, VI, 2 e. Vgl. auch GA Mayras, Rs 140/79, Slg 1981, 20.

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§ 7 Außerprozessuale Bindungswirkung

rung bestens zu klären ist 97 • Die Annahme einer der Vorabentscheidung ähnlichen Wirkung 98 der Urteile im Vertragsverletzungsverfahren wird die Rolle des Gerichtshofs für Einheit und Fortbildung des Rechts erheblich verstärkt. In heiklen Vertragsverletzungsfällen, wo das Kooperationsbewußtsein des nationalen Richters vielleicht hinter einer weniger europafreundlichen, aber dem Interesse des Staates entsprechenden Motivation zur Lösung zurücktritt und die Vorlage mit der "acte clair"-Begründung verneint wird, bildet die im Vertragsverletzungsverfahren gewonnene Auslegung des Gemeinschaftsrechts einen sicheren Maßstab für künftige Fälle vor nationalen Gerichten. d) Bindung aller staatlichen Organe

Es stellt sich letztlich die Frage, ob nur Gerichte oder alle staatlichen Organe an die Auslegung des Gemeinschaftsrechts gebunden sind. Wenn die materiellrechtliche Norm, die ausgelegt wird, alle zuständigen staatlichen Organe ohne Ausnahme verpflichtet99 , ist es konsequent anzunehmen, daß die Entscheidung, die ihre Auslegung enthält, dieselben Adressaten hat. 2. Weitere Punkte, welche die außerprozessuale Bindungswirkung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs stützen können

Eine allgemeine Biodung bezüglich der Auslegung des Gemeinschaftsrechts läßt sich auf folgende weitere Gründe stützen: a) Das Gebot der rationellen Kompetenzverteilung

Es ist mit dem Gebot der Verteilung der Entscheidungsbefugnisse nicht nach Beliebigkeit, sondern nach Sachverstand und Sachnähe nicht vereinbar, wenn das sachfremdere Organ die Entscheidung des sachnähereo ignoriertHx>. Der monopolisierten Zuständigkeit des Gerichtshofs, die sich nicht nur auf Sachnähe und reiche Verfahrensgarantien stützt, sondern besonders auch auf seiner 97 Ehlermann, Festschrift für Kutscher, 135 ff.; Ebke, RTDE 1986, 220 j 221; Everling, EuR 1983, 101. Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 178, meint aber, das objektive Vorabentscheidungsverfahren sei für die Wahrheitstindung mehr geeignet, weil es nicht der Parteiherrschaft unterliege. Der Parteiherrschaft unterliegt aber trotzdem der Ausgangsprozeß, dessen Streitstoffvon besonderer Bedeutung für die Vorabentscheidung ist. 98 Plouvier, Decisions, S. 217; Waelbroeck/Vandersanden, Art.171 , Anm. 4; Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 191. 99 Daig in Groeben/Ehlermann, Art. 171, Rn. 5. Ebenso sind die Gemeinschaftsorgane an die Rechtsannahme des EuGH nach Einrede der Rechtswidrigkeit (Art. 184 EWGV: Die Verordnung mit den X, Y, Z-Merkmalen ist mit der K-primären Norm unvereinbar) gebunden. Sie sind die Adressaten der primären Norm und infolgedessen sind sie auch an ihre Auslegung gebunden. 100 Knöpfle, BayVB11982, 225ff.

II. Begründung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs

149

Rolle als maßgeblicher Hüter und Interpret des Gemeinschaftsrechts beruht, entspricht eine umfangreiche Bindung aller staatlichen Stellen101 • b) Die besondere Bedeutung der Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof

In Verfassungsstreitigkeiten sind Auslegungsfragen von besonderer Bedeutung. Der konkrete Fall ist oftmals nur Anlaß für die Auslegung und Fortbildung des Verfassungsrechts durch das Verfassungsgericht 102 • Im Vertragsverletzungsverfahren fungiert der EuGH wie ein Verfassungsgericht 103 , so daß eine Bindung der staatlichen Organe an die Auslegung des EWG-Vertrags -die Klärung der Zuständigkeitsfragen zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten soll einheitlich erfolgen 1()4. - besonders wünschenswert erscheint. c) Die Rechtssicherheit

Die allgemeinverbindliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts bietet den Mitgliedstaaten eine sichere Kalkulationsgrundlage für ihr Verhalten im besonders komplizierten und risikobelasteten wirtschaftlichen und industriellen Sektor an 105 • d) Die einheitliche Auslegung und Konkretisierung unbestimmter Normen des Gemeinschaftsrechts

VieleNormen des EWG-Vertrags sind deshalb besonders abstrakt formuliert, weil eine präzisere Fassung Erfahrung, Vorhersehbarkeit und politischen Einigungswillen voraussetzt, die zum Zeitpunkt des Zustandekoromens des Vertrages nicht existierten 106 • Aufgabe des Gerichtshofs ist es, diese Normen entsprechend gewonnener Erfahrung, besser bestimmbarer Vorhersehbarkeit und existierendem Integrations- und Einigungswillen einheitlich für den gesamten Gemeinschaftsbereich zu konkretisieren. e) Die Tatbestandswirkung der Urteile des Gerichtshofs im Vertragsverletzungsverfahren 107

Das Urteil, das eine Vertragsverletzung feststellt, wird Tatbestandsmerkmal des Artikels 171 EWGV, der den vertragsverletzenden Mitgliedstaat zum Matthies, Festschrift für Hallstein, S. 305 ff. Matthies, Festschrift für Hallstein, S. 305 ff. 103 Vgl. Catalano, Manuel, S. 73; Constantinesco, Das Recht der europäischen Gemeinschaften, S. 841. 104 Matthies, Festschrift für Hallstein, S. 305ff. 105 Schwarze, Abstraktion, S. 140. 106 Schwarze, Abstraktion, S. 152. 101

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§ 7 Außerprozessuale Bindungswirkung

Ergreifen aller zur Beseitigung des Verstoßes notwendigen Maßnahmen verpflichtet. Wenn auf Einrede ("exception d'illegalite") die Rechts(Vertrags)widrigkeit einer Verordnung festgestellt wird, wird das Urteil Tatbestandsmerkmal des Artikels 176 EWGV, der das Gemeinschaftsorgan, dem die als vertragswidrig festgestellte Verordnung zur Last fällt, zur Beseitigung der Vertragswidrigkeit verpflichtet. Diese Tatbestandswirkung führt zur Bindung der Adressaten der materiellrechtlichen Norm an den Inhalt des Urteils, das Tatbestandsmerkmal dieser Norm ist. Wenn der Gesetzgeber ein Urteil zum Tatbestandsmerkmal einer Norm gemacht hat, hat er damit gleichzeitig die Bindung der Normadressaten an das Urteil ausgesprochen. Die Befolgung der materiellrechtlichen Norm wäre in Frage gestellt, wenn der Normadressat einwenden könnte, das Urteil sei unrichtig und deshalb ergebe sich aus der Norm keine Pflicht 108 • Es existiert also eine Bindung aller staatlichen Organe an die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, die das Urteil- Tatbestandsmerkmal des Artikels 171 EWGV - enthält. Artikel 171 EWGV benennt für die Feststellung der konkreten Vertragsverletzung als Adressat zwar nur die Organe des verletzenden Staates 109 ; soweit aber die Auslegung des Gemeinschaftsrechts in Frage steht (die K-Norm verbietet Handlungen mit den Merkmalen X, Y, Z), kommen als Adressaten die Organe aller Mitgliedstaaten in Betracht, die potentielle oder schon wirkliche, aber noch nicht festgestellte VertragsverletzeT sind. Dasselbe gilt bei Artikel176 EWGV. Die Rechtsannahme, die Verordnung mit den Merkmalen X, Y, Z sei mit der Norm K des primären Rechts unvereinbar, bindet auch alle Gemeinschaftsorgane, die eine solche Verordnung erlassen können oder schon erlassen haben. ill. Natur der außerprozessualen Bindungswirkung

Die so begründete außerprozessuale Bindungswirkung ist - wie schon erwähnt - keine Erscheinungsform der Rechtskraft. Die erarbeitete Begründung ist eine andere als die für die materielle Rechtskraft 110 • Eine negative, "ne bis in idem"-Funktion könnte - wie schon ausgeführt - zu einer Erstarrung des Gemeinschaftsrechts führen. Außerdem ist für staatliche Organe, die nicht Gerichte sind, eine Vorlagemöglichkeit ausgeschlossen, so daß für sie die "ne bis in idem"-Funktion überhaupt nicht in Betracht kommen kann 111 •

Siehe § 9, Il, 1. Vgl. auch Schwab, ZZP 77, 124 IT. 109 Daig in Groeben/Ehlermann, Art. 171 , Rn. 5. 110 Siehe § 4, I, 2. 111 Wegen der besonderen Natur und Funktion der außerprozessualen Bindungswirkung wird die inter partes wirkende Rechtskraft nicht durch die "erga omnes"Bindungswirkung überspielt. Ähnlich Knöpfle, BayVBl 1982, 225fT. 107

108

V. Zeitliche Grenzen der außerprozessualen Bindungswirkung

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IV. Folgen der außerprozessualen Bindungswirkung Die außerprozessuale Bindungswirkung hat erhebliche Konsequenzen nicht nur für die einheitliche Auslegung und Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts, sondern auch für den durch den EuGH gewährleisteten Rechtsschutz. Die Organe der Mitgliedstaaten, deren vertragswidriges Handeln vom EuGH (noch) nicht festgestellt worden ist, sind aus Art. 5 EWGV verpflichtet, den vertragswidrigen Zustand zu beseitigen und künftig keinen solchen zu schaffen. Sie können sich der Erfüllung ihrer Pflicht nicht mit der Behauptung entziehen, ihre Maßnahmen seien mit der materiellrechtlichen Norm vereinbar; denn sie sind an die Auslegung der Norm gebunden. Das Ergebnis ist ähnlich bei Anwendung des Art. 171 EWGV, dessen Tatbestandsmerkmal das die Vertragsverletzung feststellende Urteil ist. Er verpflichtet alle staatlichen Organe, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus der Auslegung der materiellrechtlichen Norm ergeben. Das bedeutet, daß jeder mit der materiellrechtlichen Norm unvereinbare Zustand zu beseitigen ist, und rechtswidrige Maßnahmen nicht mehr erlassen werden dürfen. So gewinnt Artikel 171 EWGV, besonders aufgrund seiner präventiven Funktion, eine Bedeutung, die die Grenzen des konkreten Falles überschreitet und umfassendem Rechtsschutz dient. Außerdem sind auch alle innerstaatlichen Gerichte an die Auslegung des Gemeinschaftsrechts gebunden. Das hat eine Erhöhung der Erfolgschancen von Rechtsbehelfen zur Folge, die nach innerstaatlichem Recht gegen die vertragswidrigen Maßnahmen eingelegt worden sind. Auf diese Weise wird aber Rechtsschutz nicht nur für die Individuen, welche die Rechtsbehelfe eingelegt haben, sondern auch für die Gemeinschaft wirksam, weil die eingelegten Rechtsbehelfe auch zu ihren Gunsten wirken, soweit sie zur Beseitigung von Vertragsverstößen auch vor Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens führen können. V. Zeitliche Grenzen der außerprozessualen Bindungswirkung Hier stellt sich die Frage, ob die in den Urteilsgründen enthaltene Auslegung des Gemeinschaftsrechts "ex nunc" oder "ex tune" wirkt. Für die Vorabentscheidungen wird eine "ex tunc"-Wirkung angenommen 112 • Sie beruht aufdem Gedanken, eine "ex nunc" wirkende Auslegung würde zu einer zeitlichen Spaltung des Sinnes und der Bedeutung der materiellrechtlichen Norm führen 113 • Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß eine Norm über längere zeitliche Distanz nicht denselben Sinn und dieselbe Bedeutung haben muß. Beide sind von einer mehrdimensionalen (wirtschaftlichen, politischen, juristischen usw.) 112 Trabucchi, RTDE 1974, 63; Joliet, S. 219; Wohlfahrt in Grabitz, Kommentar, Art. 177, Rn. 75; Rs 61/79, Slg 1980; Rs 66, 127, 128/79; Slg 1980, 1237ff. Vgl. aber auch Rs43j75, Slg 1976, 455; 145/79, Slg 1980, 2517; Schwarze, EuR 1977, 44; Stocker, CDE 1977, 118; Labayle, RTDE 1982, 484. 113 Bemerkungen der Kommission in Rs 66, 127, 128 /79, Slg 1980, 1237 ff.

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§ 7 Außerprozessuale Bindungswirkung

und wandelbaren Realität abhängig. Die Änderung dieser Realität kann auch zur Änderung von Sinn und Bedeutung der Norm führen. Der EuGH kann also nur eine den heutigen, und - soweit Vorhersehbarkeit gegeben ist - den künftigen Umständen entsprechende Auslegung des Gemeinschaftsrechts geben. Dasselbe ist auch für das Vertragsverletzungsverfahren richtig. Auch hier ist eine "ex nunc" wirkende außerprozessuale Bindungswirkung vorzuziehen. Daher kann die Änderung seiner Auffassung die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens nicht ermöglichen 114 • Wenn einUrteil eines innerstaatlichen Gerichts auf einer Rechtsauffassung des EuGH beruht und mit einer Vorabentscheidung oder einem neuen Urteil des EuGH diese Rechtsauffassung beseitigt wird, kann aber u.U. dies im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens geltend gemacht werden 115 •

Vgl. auch Trabucchi, RTDE 1974, 63; Joliet, S. 219. § 767 ZPO; Art. 567, 607 a .c.p.c.; Art. 933 griech. ZPO: Einwendungen gegen den titulierten Anspruch. Da die außerprozessuale Bindungswirkung "ex nunc" wirkt, besteht kein Bedürfnis für die Zulassung der Restitutionsklage (vgl. § 580 Nr. 6 ZPO, Art. 595 Nr. 3 n.c.p.c., Art. 544 Nr. 8 griech. ZPO); hier hat sich die materielle Rechtslage nachträglich geändert, womit durch die Möglichkeit der Geltendmachung materiellrechtlicher Einwendungen in der Zwangsvollstreckung den Interessen des Beklagten ausreichend Rechnung getragen wird. 114 115

§ 8 Vertragskonforme Auslegung I. Allgemeines

Wenn der Wortlaut eines Gesetzes, das den Prüfungsgegenstand einer Normenkontrolle darstellt, mehrere Interpretationen zuläßt 1 und nur eine von ihnen mit der Verfassung vereinbar ist, dann stellt das Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes in dieser Interpretation fest und schließt zugleich die anderen Interpretationen als verfassungswidrig aus 2 • Die Möglichkeit verfassungskonformer Interpretation vermeidet also die Notwendigkeit, das ganze Gesetz für verfassungswidrig zu erklären 3 • Im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens ist es möglich, daß innerstaatliche Gesetze geprüft werden können, die sowohl vertragswidrige als auch vertragsmäßige Deutungen zulassen. In diesen Fällen lautet die Frage: Ist der Europäische Gerichthof zur vertragskonformen Auslegung berechtigt oder sogar verpflichtet? ß. Gebot einer vertragskonformen Auslegung? - Gründe

Auf innerstaatlicher Ebene wird vom Gebot der verfassungskonformen Auslegung gesprochen4 • Dieses Gebot ergibt sich nach einer Ansicht 5 aus der Vermutung der Vereinbarkeit des Gesetzes mit der Verfassung. Die Vermutung stützt sich auf den Gedanken, es sei höchst unwahrscheinlich, daß der 1 Maunz/Ulsamer, BVerfGG § 78, Rn. 36; Simon, EuGRZ 1974, S. 86; Michel, JuS 1961, 277; Larenz, Methodenlehre, S. 325/326; Bogs, Verfassungskonforme Auslegung, S. 26/27; BVerfGE 49, 148 (157); 63, 131 (148); 64, 229 (242). 2 MaunzfUisamer, BVerfGG,§ 78, Rn. 36; Simon, EuGRZ 1974, S. 86; Vogel, BVerfG und GG, S. 607/608. Aber Stern, BK, Art. 93, Rn. 323 und Sachs, Die Bindung des BVerfG, S. 316 meinen, im Fall einer verfassungskonformen Auslegung werde nicht über die anderen Interpretationsvarianten entschieden. 3 Obwohl es in Frankreich keine breite Diskussion über die verfassungskonforme Auslegung gibt, ist sie dem Conseil Constitutionnel nicht unbekannt. Das zeigen einige seiner Urteile, in denen Gesetze für verfassungsmäßig erklärt sind, aber "sous reserve" oder "sous le bl:nefice" einer bestimmten Interpretation. Vgl. CC 17, 18, 24/6 / 1959, Les grandes decisions, S. 37; CC 1017/1962, Rec. 1962, S. 17; CC 2/6/1976, RDP 1977, 489; CC 30/12/76, RDP 1977, 175. Vgl. auch CC 15/7/76, Rec. 1976, S. 35; CC 25/ 7/79, Journal Ofliciel du 27 f7 /19, 1953. Dazu siehe Goose, Die Normenkontrolle, S.171 ff.; Lebreton, RDP 1983, 472; Vier, RDP 1972, 191/192. 4 Pestalozza, S.10; Simon a.a.O, 86; Spanner, AöR 1966, 507; Michel, a.a.O., 276; Engisch, Einführung, S. 241; BVerfGE 2, 267 (282). 5 Spanner, a.a.O., 506; BVerfGE 2, 267 (282). Vgl. aber auch Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung, S. 24/25.

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§ 8 Vertragskonforme Auslegung

Gesetzgeber ein verfassungswidriges Gesetz erlassen wollte 6 • Dies mag für das Verhältnis eines innerstaatlichen Gesetzes zu der innerstaatlichen Verfassung richtig sein, aber im Hinblick auf das Verhältnis innerstaatlichen Rechtes zum Gemeinschaftsrecht sind ernste Zweifel angebracht. Niemand kann das bewußte vertragswidrige Handeln des nationalen Gesetzgebers ausschließen, wenn es zur Förderung der eigenen Interessen notwendig erscheint. Außerdem kann diese Ansicht für Gesetze, die vor dem Gemeinschaftsbeitritt desjeweiligen Mitgliedstaates erlassen worden sind, überhaupt nicht zutreffen 7 • Weiter bezieht sich eine Vermutung nur auf Tatsachen. Rechtsfragen wie die Vertragsmäßigkeit oder die Vertraswidrigkeit einer Norm können nicht durch eine Vermutung Beantwortung finden 8 • Ihre Beantwortung setzt einen juristischen Syllogismus voraus. Die Tatsachen des Untersatzes können vermutet werden, nicht aber die Schlußfolgerung, d.h. die Antwort auf die Vertragsmäßigkeitsfrage. Nach anderer Ansicht 9 ist die verfassungskonforme Auslegung ein Erfordernis der Einheit der Rechtsordnung und besonders ihres stufenweisen Aufbaus 10 • Die höherrangigen Normen bestimmen inhaltlich die nachrangigen, sie werden von ihnen konkretisiert und die nachrangigen Normen sollen in Einklang mit den höherrangigen gebracht werdenn. Obwohl man nicht von einer Einheit der gemeinschaftlichen Rechtsordnung mit den mitgliedstaatliehen Rechtsordnungen sprechen kann, ist für die vertragskonforme Auslegung dieser Ansicht zuzustimmen, wenn man die Notwendigkeit häufiger Konkretisierung der gemeinschaftlichen Postulate durch nationale Normen berücksichtigt. Diese Konkretisierung, die unabdingbare Voraussetzung für die Effektivität des gemeinschaftlichen Rechtssystems ist, kann nur durch gültige Normen erfolgen und daher ist die Aufrechterhaltung einerNormauch mit nur einer vertragskonformen Normdeutung von besonderer Bedeutung. Außerdem wirkt sich die vertragskonforme Auslegung auch auf die mitgliedstaatliehen Rechtssysteme positiv aus. Eine nationale Norm kann besonders wichtige Interessen des Mitgliedstaates betreffen und infolgedessen ist ihre Fortgeltung- wenn auch nur in einer vertragsmäßigen Interpretation- für den Mitgliedstaat sicher nicht gleichgültig. Oftmals kann die Entwicklung der Gemeinschaft Reformen der mitgliedstaatliehen Rechtssysteme verlangen, die der nationale Gesetzgeber nur schrittweise vollziehen kann. In diesen Fällen, wo eine Teilregelung der Nichtregelung vorzuziehen ist, offenbart sich die positive Funktion der vertragskonformen Auslegung. Sie führt praktisch zu einer Art ÜbergangsregeSpanner, a.a.O., 506. Ähnlich Bender, MDR 1959, 442 für die vorkonstitutionellen Gesetze. 8 Michel, JuS 1961, 274. 9 Simon, a.a.O., 86; Michel, a.a.O., 276; Engisch, a.a.O., S. 241, Zippelius, BVerfGG und GG, S. 109. Vgl. aber auch Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung, S. 25/26. 10 Bogs, a.a.O., S. 25/26 und Eckardt, Die verfassungskonforme Gesetzesauslegung, S. 14, halten die verfassungskonforme Auslegung für einen Unterfall der systemkonformen Auslegung. 11 Michel, a.a.O., 276; Zippelius, a.a.O., S.109. 6

7

III. Die vertragskonforme Auslegung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs 155

lung für die Zeit bis zu einer neuen vertragsmäßigen gesetzgebensehen Lösung. Sie nimmt von den Schultern des nationalen Gesetzgebers die Last einer möglichst schnellen Ausfüllung der durch die Vertragswidrigkeilserklärung entstehenden Lücke und gibt ihm Zeit und Ruhe für eine vertragsmäßige, aber auch innerstaatliche Interessen möglichst optimal berücksichtigende Regelung. ill. Die vertragskonforme Auslegung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs - Arten der vertragskonformen Auslegung

Für die weitere Behandlung der Problematik kann die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hilfreich sein. In der Rechtssache 7/68 12 hat der Gerichtshof festgestellt, ein italienisches Gesetz verstoße gegen das Gemeinschaftsrecht, soweit es durch eine progressive Abgabe die Ausfuhr von Gegenständen künstlerischen, geschichtlichen, archäologischen oder ethnographischen Interesses in andere Mitgliedstaaten behindere. In der Rechtssache 167/73 13 wurde festgestellt, eine bestimmte Vorschrift des französischen Code du travail maritime verstoße gegen den Vertrag, soweit sie auch gegenüber Angehörigen der übrigen Mitgliedstaaten gelte. In der Rechtssache 95 f 81 14 erklärte der Gerichtshof, eine italienische Regelung sei vertragswidrig, soweit der Begriff "Vorausbezahlung" nicht nur Zahlungen in spekulativer Absicht, sondern auch normale Zahlungen erfaße. In den beiden ersten Fällen wäre es möglich, die Norm durch Reduktion vertragskonform auszulegen: Die X Norm sei zulässig, soweit sie sich auf die Ausfuhr in Drittstaaten (für den ersten Fall) oder auf die Angehörigen von Drittstaaten (für den zweiten Fall) beschränke. Diese Auslegungsmöglichkeit hatte aber der Kläger durch seinen Antrag ausgeschlossen; der Klageantrag beschränkte sich auf die vertragswidrige Deutung der Norm 15 • Der vom Kläger bestimmte Streitgegenstand ließe daher keine vertragskonforme Deutung zu; sie hätte zur Abweisung einer in allen Punkten begründeten Klage führen müssen. Im dritten Falllagen die Dinge aber anders. Der Streitgegenstand enthielt sowohl eine vertragswidrige Deutung die Norm bezieht sich auf nicht spekulative Zahlungen - als auch eine vertragsmäßige- die Norm bezieht sich auf spekulative Zahlungen 16 • Eine vertragskonforme Auslegung wäre zwar möglich gewesen, der Gerichtshof ist aber nicht dazu gekommen, sondern er hat nur die Vertragswidrigkeit der Norm in ihrer vertragswidrigen Auslegung ausdrücklich festgestellt. Er hat dabei aber gleichzeitig auch die vertragsmäßige Interpretation festgelegt 17 • Wie bei der Slg 1968, 645. Slg 1974, 373. 14 Slg 1982, 2205. 15 Siehe die Klageanträge, Slg 1968, 638; Slg 1974, 367. 16 Siehe den Klageantrag, Slg 1982, 2191, 2197 / 2198. 17 "Wobei der Begriff ... nicht nur Zahlungen in spekulativer Absicht, sondern auch ... ", Slg 1982, 2205. Vgl. auch EuGH, Urteil v. 4.12.1986, Rs 205/84, RTDE 1987, 207ff. 12

13

156

§ 8 Vertragskonforme Auslegung

Feststellung der Vertragsmäßigkeit der Norm in einer bestimmten Deutung, besteht auch in diesem Fall ähnlich eine Trennung des Entscheidungsgegenstandes in zwei Teile, die Vertragswidrigkeitsfeststellung und die - konkludenteVertragsmäßigkeitsfeststellung. Die Entscheidung gibt konkludente Klarheit über die vertragskonforme Interpretation; sie ist zwar nicht unmittelbar, aber trotzdem mittelbar durch den Gerichtshof festgelegt. Durch diese Technik der mittelbaren vertragskonformen Auslegung wird die Effektivität der Rechtssysteme sowohl der Gemeinschaft als auch der Mitgliedstaaten ebenfalls gefördert, weil auch auf diese Weise die durch Vertragswidrigkeitserklärung entstehende Lücke vermieden wird. Beide Arten der vertragskonformen Auslegungunmittelbare und mittelbare - sind gleich zu behandeln. IV. Grenzen der vertragskonformen Auslegung Die vertragskonforme Auslegung muß zunächst einmal anhand der in dem jeweils betroffenen Mitgliedstaat anerkannten 18 Auslegungsmethoden möglich sein. Die Palette der anwendbaren Auslegungsmethoden wird aber zusätzlich durch zwei Kriterien beschränkt. 1. Berücksichtigung des Wortlauts der Norm und des Streitgegenstandes

Die vertragskonforme Auslegung darf nicht gegen den Wortlaut der Norm verstoßen. Der Wortlaut muß die als vertragsmäßig bezeichnete Auslegung erlauben 19 • Der vom Kläger bestimmte Streitgegenstand darf diese Auslegung nicht hindern 20 • Der Streitgegenstand kann enger als der Wortlaut der Norm sein; wenn nur einige Anwendungsmöglichkeiten als vertragswidrig gerügt werden (so die beiden ersten schon erwähnten Fälle aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes); er kann denselben Umfang wie der Streitgegenstand haben (dritter Fall aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes); der Streitgegenstand kann den Wortlaut überschreiten; wenn nämlich eine analoge Anwendung der Norm als vertragswidrig angegriffen wird. Beispiel: Die Vorschrift X, die bestimmte Qualifikationserfordernisse für die Berufsgruppe C vorsieht, wird analog auch auf Ausländer der Gruppe D angewandt. Falls diese Anwendung wegen Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 7 EWGV)- soweit sie nicht auch die Inländer der Berufsgruppe D erfaßt - gerügt wird, ist die 18 Nur anerkannte und nicht herrschende Methoden, weil bei Zulässigkeit nur der herrschenden Auslegungsmethoden - wenn auch die anderen Schranken berücksichtigt werden - die vertragskonforme Auslegung sehr schwierig wäre. 19 Prümm, JuS 1975, 302; Spanner, a.a.O., 512; Schack, JuS 1961, 273/274; Larenz, a.a.O., S. 329; Zippelius, a.a.O., S. 110; BVerfGE 9, 194(200); 11, 126, (130/ 131); 19, 242 (247); 54, 277 (299); Zeidler, EuGRZ 1988, 210. 20 Siehe Rs 7 / 68, Slg 1968, 645, Rs 167 J73, Slg 1974, 373 und Rs 427/85, EuR 1988, 180, wo die vertragskonforme Auslegung durch den Antrag des Klägers ausgeschlossen ist.

IV. Grenzen der vertragskonformen Auslegung

157

Beseitigung der Vertragswidrigkeit durch eine Auslegung, die zur analogen Anwendung auch auf die Inländer der Gruppe D führen würde, ausgeschlossen. Der Kläger hat die Beschränkung der Anwendung (Diskriminierung) auf Ausländer der Gruppe D als vertragswidrig angegriffen. Eine vertragskonforme "Auslegung" 21 würde zur Abweisung der Klage führen, obwohl sie inhaltlich voll begründet ist. In diesem Fall stellt neben dem Wortlaut - die Analogie überschreitet den Wortlaut - der Streitgegenstand ein Hindernis für die vertragskonforme Auslegung dar. Wenn dieselbe analoge Anwendung wegen Verletzung der Dienstleistungsfreiheit (Art. 59 ff. EWGV)- durch die Qualifikationserfordernisse wird die Zulassung der mitgliedstaatliehen Ausländer für die Berufsgruppe D erheblich erschwert - gerügt wird, dann kann die Anwendung der Norm nicht durch eine vertragskonforme Auslegung nur auf die Gruppe C- gemäß dem Wortlaut der Norm- beschränkt werden, weil Streitgegenstand genau die Nichtbeschränkung der Norm auf die Gruppe C ist. 2. Berücksichtigung der Gesetzeszwecke

Ob Zwecke gemeint sind, die der historische Gesetzgeber gesetzt hat (subjektive Theorie), oder die dem Gesetz selbst innewohnenden Zwecke (objektive Theorie), hängt von der in jedem Mitgliedstaat herrschenden Lehre ab 22 • Es verdient aber Erwähnung, daß die Geltung der subjektiven Theorie bei alten Gesetzen erheblich mehr Freiheit gewährt. Sowohl die Schwierigkeit der Feststellung des gesetzgebensehen Willens als auch die zunehmende Wahrscheinlichkeit der Überholung - die schnelle gemeinschaftliche Entwicklung läßt die Berücksichtigung der historischen gesetzgebensehen Zwecke als rechtsund entwicklungshemmend erscheinen - können Gründe für Abweichungen sein. Aufgrund der erarbeiteten Kriterien- Streitgegenstand wie auch Wortlaut und Zweck des Gesetzes- werden also Auslegungsmethoden nicht angewandt, soweit sie zu Ergebnissen führen, die entweder mit dem Wortlaut und mit den Zielen der Norm unvereinbar sind oder die Grenzen des Streitgegenstandes überschreiten.

21 Nach Larenz, a.a.O., S. 309 ist eine Interpretation, die nicht mehr im Bereich des Wortlauts liegt, nicht mehr Auslegung, sondern Umdeutung. 22 Über die subjektive und objektive Theorie siehe statt vieler Larenz, a. a. 0 ., S. 302ff. Bei der verfassungskonformen Auslegung durch das BVerfG ·wird angenommen, daß immer der gesetzgebensehe Wille berücksichtigt werden soll. Dazu Prümm, a. a.O., 302; Schlaich, S. 190; Simon, a.a.O., 89 / 90; Spanner, a.a.O., 511; Bender, a.a.O., 447; Schack, a.a.O., 273 /274; Zippelius, a.a. 0., S. 117. Aber dieser Wille wird nicht als Wille des historischen Gesetzgebers, sondern als der sich aus dem Gesetz ergebende objektivierte Wille des Gesetzgebers verstanden. Siehe auch BVerfGE 11 , 126 (130/ 131); 54,277 (283).

158

§ 8 Vertragskonforme Auslegung

V. Folgen der vertragskonformen Auslegung

Die Norm in ihrer als vertragswidrig festgestellte Deutung darf nicht mehr angewendet werden 23 ; aus der Sicht sowohl des Streitgegenstandes als auch des abstrakten Anwendungsbereiches einer Norm, führt verfassungskonforme Auslegung also zur Teilunanwendbarkeit24 • VI. Die Bindung an die vertragskonforme Auslegung 1. Aufgrund der materiellen Rechtskraft

Wenn man als Streitgegenstand die abstrakte Norm und nicht eine konkrete Normdeutung annimmt, dann ist die vertragskonforme Auslegung eine Vorfrage. Die Entscheidung über diese Vorfrage kann aber nicht in materielle Rechtskraft erwachsen. Im Vertragsverletzungsverfahren nimmt die innerstaatliche Norm den Platz des Sachverhalts ein und soll unter die höherrangige Gemeinschaftsnorm subsumiert werden. Ihre Auslegung - Feststellung ihres Inhalts- entspricht der Feststellung des Sachverhalts durch die Beweisaufnahme und infolgedessen kann sie an der Wirkung der materiellen Rechtskraft nicht teilhaben. Sie beschränkt sich auf den Untersatz des juristischen Syllogismus, dessen Glieder (Obersatz, Untersatz) selbständig25 in materielle Rechtskraft nicht erwachsen. Es hat keine Bedeutung, daß die Urteilsgründe, denen die vertragskonforme Auslegung angehört, den Urteilstenor tragen - was allerdings nur der Fall ist, wenn aufgrundder Auslegung die Vertragsmäßigkeit der Norm festgestellt wird. Auch tatsächliche Feststellungen können den Urteilstenor tragen - die Feststellung der Tatsachen, die z.B. zur Klageabweisung führen-, und trotzdem werden diese Festellungen nicht rechtskräftig. Voraussetzung für die Teilhabe der vertragskonformen Auslegung an der materiellen Rechtskraft ist ihre Aufnahme in den Urteilstenor entweder direkt- d.h. durch die Feststellung, die Norm sei vertragsmäßig, soweit sie die A Deutung enthält Siehe § 9 III 1. Es würde die Möglichkeit einer Erweiterung des Anwendungsbereichs der Norm durch Analogie existieren, wenn der Gerichthof von Amts wegen den Prüfungsmaßstab ändern dürfte. Beispiel: In dem schon erwähnten Beispiel der analogen Anwendung der Norm auf Ausländer der Berufsgruppe C wird diese Anwendung als Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit gerügt. Der Gerichthof stellt aber die Konformität dieser Praxis mit dem Postulat der Dienstleistungsfreiheit fest und prüft weiterhin von Amts wegen die Vereinbarkeit dieser analogen Anwendung mit dem Diskriminierungsverbot In diesem Fall könnte er die Vertragswidrigkeit durch eine Auslegung der Norm beseitigen, die zur Anwendung der Norm auch auf Inländer der Berufsgruppe C führt. Alles das aber nur unter der- unzutreffenden- Voraussetzung, daß die Schranke des Wortlauts, die einer Analogie entgegensteht, unberücksichtigt bleibt. 25 Nur der ganze juristische Syllogismus erwächst in Rechtskraft und nicht seine einzelnen Glieder getrennt. Vgl. Zeuner, Objektive Grenzen, S. 7; Schwab, Festschrift für Bötticher, S. 323, 326; Beys, Kommentar, S. 1321. 23

24

VI. Die Bindung an die vertragskonforme Auslegung

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- oder indirekt- z.B. die Norm sei in der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung vertragsmäßig 26 • Wenn man aber als Streitgegenstand nicht die abstrakte Norm, sondern eine konkrete Normdeutung annimmt, wie dies vorzuziehen ist, dann bildet die vertragskonforme Deutung den Gegenstand des Prozesses und der Entscheidung. Dies kann allerdings stets durch eine Änderung des ursprünglichen Streitgegenstandes -jede vertragskonforme Auslegung stellt gleichzeitig eine amtswegige Klageänderung 27 dar- erreicht werden und infolgedessen kann die vertragskonforme Auslegung in materielle Rechtskraft erwachsen. Es spielt dann keine Rolle, daß sie sich u.U. in den Urteilsgründen befindet. Wie schon dargelegt 28 , erwächst in materielle Rechtskraft jede Entscheidung über den Streitgegenstand, gleich ob sie dem Urteilstenor oder den Urteilsgründen angehört (materielles Kriterium). 2. Aufgrund der außerprozessualen Bindungswirkung

Die Auslegung der Gemeinschaftsnorm - die X Gemeinschaftsnorm widerspricht innerstaatlichen Vorschriften in der P Deutung nicht - erwächst in außerprozessuale Bindungswirkung. Auf diese Weise werden die Organe nicht nur der Mitgliedstaaten, die am Prozeß beteiligt waren, sondern die aller Mitgliedstaaten an diese Auslegung und darüber hinaus an die Feststellung der Vertragsmäßigkeit der Normdeutung gebunden; eine Bindung, die wie die Bindung aufgrund der materiellen Rechtskraft nicht ganz unbedenklich ist, soweit sie den freien Beurteilungsspielraum der nationalen Gerichte beschränkt29. Diese Beschränkung nationalen Beurteilungsspielraums ist aber angesichtsder Vorteile der vertragskonformen Auslegung- positive Auswirkungen auf die Rechtsordnungen sowohl der Gemeinschaft als auch der Mitgliedstaaten - ohne ausschlaggebendes Gewicht. Außerdem kann ein nationales Gericht dem EuGH die Frage der Vereinbarkeil der Normdeutung mit dem Gemeinschaftsrecht immer erneut vorlegen - die außerprozessuale Bindungswirkung hat keine negative Wirkung - und sich durch seine Argumentation um eine Änderung der Meinung des Europäischen Gerichtshofes bemühen.

26

Ähnlich BVerfGE 49, 148; 64, 229.

27 Diese amtswegige Klageänderung, die die Dispositionsfreiheit der Parteien beein-

trächtigt, kann die vertragskonforme Auslegung problematisch erscheinen lassen, falls man nicht den Vorrang der Rechtskontinuität und anderer Vorteile der vertragskonformen Auslegung gegenüber der Dispositionsfreiheit der Parteien anerkennt. 28 Siehe§ 4, IV, 2b, bb. 29 Simon, a .a.O., 87.

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§ 8 Vertragskonforme Auslegung

VII. Vertrags- und verfassungsorientierte Auslegung 1. Allgemeines

Von der verfassungskonformen Auslegung ist die verfassungsorientierte Auslegung zu unterscheiden. Sie bedeutet, daß bei der Auslegung von Normen die Grundentscheidungen der Verfassung Beachtung finden sollen30 , insbesondere daß bei mehreren möglichen Interpretationen einer Norm die mit der Verfassung am besten zu vereinbarende Interpretation vorzuziehen ist. Wie die verfassungskonforme Auslegung 31 ist auch sie eine Art der systematischen Interpretation, die auf der Einheit der Rechtsordnung und ihrem stufenweisen Aufbau beruht. Anders als bei verfassungskonformer Auslegung stellen aber bei verfassungsorientierter Auslegung die Verfassungsnormen nicht den Prüfungsmaßstab in einem Normenkontrollverfahren, sondern Auslegungsrichtlinien dar. 2. Vertragsverletzungsverfahren Innerhalb der Rechtsordnung der Gemeinschaft und darüber hinaus auch im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens ist eine vertragsorientierte Auslegung des sekundären Gemeinschaftsrechts geboten. Das sekundäre Recht konkretisiert nur die Vertragspostulate und soll daher immer in Einklang mit den höherrangigen vertraglichen Bestimmungen gebracht werden 32 . Neben dieser vertragsorientierten Auslegung ist aber auch die Notwendigkeit einer an den Verfassungen der Mitgliedstaaten orientierten Auslegung vertreten worden 33 : Bei der Auslegung des- sowohl primären als auch sekundärenGemeinschaftsrechts sei immer die mit den mitgliedstaatliehen verfassungsrechtlichen Regelungen vereinbarte Interpretation vorzuziehen. Diese Ansicht stützt sich auf die Behauptung34 , die Rechtsordnung der Gemeinschaft beruhe auf den mitgliedstaatliehen Rechtsordnungen und daher dürften ihre Normen nicht in einer Weise ausgelegt werden, die diesem Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten nicht gerecht wäre. Weiterhin würde eine Handhabung der Normen des Gemeinschaftsrechts, die den mitgliedstaatliehen Verfassungen widerspräche, zur Verfassungswidrigkeit der Zustimmungsgesetze führen35. 30

31 32

2735.

Schlaich, S. 187. Vgl. auch Bleckmann, NJW 1982, 1179. Vgl. Beys, a.a.O., S. 25/26; Eckardt, a.a.O., S. 14. Vgl. auch Rs 78/74, Slg 1975, 421; 130/75, Slg 1976, 1589; 212-217/80, Slg 1981,

Friauf, AöR 1960, 224fT. Friauf, a. a. 0., 232. 35 Friauf, a.a.O., 232. Siehe auch Friesenhahn, VVDStRL 18, S.106/107. Feige, Gleichheitssatz, S. 86 I 87 stützt die Notwendigkeit verfassungskonformer Auslegung auf die Binnenwirkung des Gemeinschaftsrechts, die einen staatlichen Anwendungsbefehl voraussetze. Dieser Befehl werde aber nur bei Verfassungsmäßigkeit der Gemeinschaftsakte gegeben. Er lehnt dann aber letztlich (S. 88) die Möglichkeit einer verfassungskonfor33

:M

VII. Vertrags- und verfassungsorientierte Auslegung

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Die Ergebnisse dieser Ansicht sind jedoch unbefriedigend. Wegen der unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Regelungen hätte das Gebot einer mit allen mitgliedstaatliehen Verfassungen übereinstimmenden Lösung eine sehr enge Auslegung des Gemeinschaftsrechts und eine Beschränkung der Handlungsfreiheit der Gemeinschaftsorgane zur Folge, die nach dieser Ansicht allerdings in Kauf genommen werden muß 36 • Eine Verfassungsänderung sollkaum überzeugend - unberücksichtigt bleiben, damit eine Änderung der Auslegung der Verträge aufgrund einer mitgliedstaatliehen Verfassungsänderung vermieden wird 37 -ein Mitgliedstaat kann nicht allein den Inhalt des Vertrages ändern; Auslegungsrichtlinie stelle nur die zur Zeit des Abschlusses der Verträge bzw. des staatlichen Beitritts geltende Verfassung dar. Sowohl die mit dieser Auffassung verbundene enge Auslegung des Gemeinschaftsrechts als auch die Nichtberücksichtigung einer Verfassungsänderung können sich hemmend auf die Entwicklung der Gemeinschaft auswirken 38 • Die Notwendigkeit der Übereinstimmung der Interpretation des Gemeinschaftsrechts mit allen mitgliedstaatliehen Verfassungen ist ein erheblicher Unsicherheitsfaktor, weil sich durch den Beitritt neuer Staaten die Interpretation ändern kann 39 • Wäre nur eine Übereinstimmung mit dem gemeinsamen Nenner der verfassungsrechtlichen Regelungen geboten, dann könnte sowohl eine zu enge Auslegung des Gemeinschaftsrechts und die Notwendigkeit der Nichtberücksichtigung einer mitgliedstaatliehen Verfassungsänderung als auch die Gefahr der Auslegungsänderung wegen eines Beitritts vermieden werden. Eine Übereinstimmung mit dem gemeinsamen Nenner befreit die Interpretation von der Notwendigkeit der Bindung an die Regelungen jedes Mitgliedstaates. Die Fortentwicklung der Gemeinschaft hinge aber weithin von der Entwicklung dieses "gemeinsamen Nenners" ab, und es ist offenbar, daß eine Fortentwicklung in diesem Fall progressive Regelungen in allen Mitgliedstaaten voraussetzt- und das ist nicht so leicht zu erreichen. Daher kann das Gebot der verfassungsorientierten Auslegung im Bereich des Gemeinschaftsrechts nichts anderes bedeuten als die Notwendigkeit der Einbeziehung der mitgliedstaatliehen verfassungsrechtlichen Postulate in das Verfahren der Bildung der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts40 , die nicht nur einen normativen Charakter haben, men Auslegung für den EWG-Bereich mit der Begründung ab, im Fall einer Auslegung, die mit der strengsten nationalen Verfassung vereinbar sein solle, würden die Mitgliedstaaten, die eine mildere Regelung hätten, gezwungen, einer Auslegung zu folgen, die sie gar nicht wollen. Nach Antoniou, Europäische Integration, S. 106, ergibt sich das Gebot der verfassungskonformen Auslegung aus dem Geltungsgrund der Europäischen Gemeinschaften, der sich in den nationalen Verfassungen finde. 36 Friauf, a .a.O., 233/234. 37 Friauf, a.a.O., 234/235. 38 Vgl. Antoniou, a.a.O., S. 109; Rabe, Verordnungsrecht, 8.128/129. 39 Rabe, a. a. 0 ., S. 129. 40 Ähnlich auch Rabe, a.a.O., S. 129; Zuleeg, EuR 1969, 106/107; Beutler, RIW/AWD 1982, 824; Schwarze, EuGRZ 1983, 122, 123; Antoniou, a.a.O., 8.110. II Tsikrikas

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§ 8 Vertragskonforme Auslegung

sondern auch als Auslegungsrichtlinien verwendet werden können41 . Diese Betrachtung verfassungsorientierter Auslegung - Beitrag zur Bildung von Regelungen, die am besten der Dynamik der gemeinschaftlichen Rechtsordnung entsprechen42 - hemmt die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts nicht. Sie macht außerdem gleichzeitig das Verhältnis mitgliedstaatlicher und gemeinschaftlicher Rechtsordnung deutlich: die Rechtsordnung der Gemeinschaft und die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sind zwar eigenständige Rechtsordnungen, aber nicht voneinander getrennt. Sie sind "in vielfältiger Weise aufeinander bezogen, miteinander verschränkt und wechselseitigen Einwirkungen geöffnet" 43 •

41 Siehe § 2, I, 5b. Durch die Auslegung des geschriebenen Gemeinschaftsrechts im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze wird die Gefahr der Beeinträchtigung der nationalen Verfassungen, die nach Antoniou a.a.O., S. 52, 106 den Geltungsgrund der Europäischen Gemeinschaften darstellen, erheblich gemindert. 42 Diese Regelungen stellen die allgemeinen Rechtsgrundsätze dar. Siehe§ 2, I, 4. 43 BVerfGE 52, 187 (200); ähnlich Zuleeg in Groeben / Ehlermann, Art. 1, Rn. 42; Carstens, KSE 24, S. 144-148.

§ 9 Die sich aus dem Urteil ergebenden Maßnahmen zur Beseitigung der Vertragsverletzung

I. Keine unmittelbare Bestimmung der zu ergreifenden Maßnahmen im Urteil

Das der Klage der Kommission oder eines Mitgliedstaates stattgebendeUrteil ist ein echtes Feststellungsurteil ("L'arret a un caractere purement declaratoire" 1 ). Es stellt nur die Verletzung des Gemeinschaftsrechts fest. Es darf weder die rechtswidrigen staatlichen Maßnahmen aufheben, noch sie für nichtig erklären2 • Man fragt sich aber, ob es die Maßnahmen vorschreiben kann, die zur vollständigen Beseitigung des Vertragsverstoßes notwendig sind. Es wird vertreten, der Europäische Gerichtshof habe eine solche Befugnis zur unmittelbaren Bestimmung der vom vertragswidrig handelnden Staat zu ergreifenden Maßnahmen. Diese Meinung beruft sich auf den als "weit" 3 charakterisierten Wortlaut des Artikels 171 EWGV, nach dem der Staat die Maßnahmen ergreifen soll, "die sich aus demUrteil des Gerichtshofes ergeben". Außerdem lasse sich nur bei einer konkreten Beschreibung der anzuwendenden Maßnahmen der rechtmäßige Zustand so wiederherstellen, als ob der Verstoß nie existierte4 • Ferner wird mit Beispielen aus der bisherigen Praxis des Gerichtshofes argumentiert. Man beruft sich auf das Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache 70 I 72 5 • In diesem Fall hatte die Kommission beantragt, es solle die Pflicht der Beklagten zum Ergreifen bestimmter Maßnahmen festgestellt werden. Der Gerichtshof habe - immer nach der erwähnten Ansicht - die Zulässigkeit dieses Antrags bzw. die Möglichkeit des Erlasses6 einer dem Antrag entsprechenden Entscheidung bejaht. Auch das Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache 39/727, in dem ausgesprochen ist, die Feststellung der (vergangenen) Vertragsverletzung könne die Grundlage für die Begründung der Haftung des Beklagten gegenüber der Gemeinschaft, den anderen Mitgliedstaaten und 1 Ehlermann, Les effets des di:cisions, S. 24. Ebenfalls Rasquin, Manquements, S. 33, Waelbroeck/Vandersanden, Art. 171, Anm. 1; Gutsche, Bindungswirkung, S. 36; Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 888; Eynard, Riv.Dir. Eur. 1970, 121. 2 Daig in Groeben/Ehlermann, Art.171, Rn. 3; Ehlermann, Les effetsdes decisions, S. 24; Plouvier, Decisions, 203; Waelbroeck/Vandersanden, Art. 171, Anm. 1. 3 Wohlfahrt in Wohlfahrt/Sprung, Art. 171, Anm. 3. 4 Wohlfahrt in Wohlfahrt/Sprung, Art.171, Anm. 3. 5 Vandersanden/Barav, S. 125; Pescatore, Cour de Justice, S. 55; Joliet, S. 44; Cahier, CDE 1974, 29. 6 Ein solches Urteil erging aber nicht, weil die Klage unbegründet war: Slg 1973, 829. 7 Slg 1973, 101 ff.

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§ 9 Maßnahmen zur Beseitigung der Vertragsverletzung

den Gemeinschaftsbürgern darstellen, wird zur Unterstützung der geschilderten Ansicht herangezogen 8 • Man argumentiert weiter9 mit dem Beschluß des EuGH in der Rechtssache 61/77 10 • Nach einem AntragderKommission auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegen den rechtswidrig handelnden Mitgliedstaat bejahte der Gerichtshof die Möglichkeit 11 der Aufforderung an den Mitgliedstaat, die vertragswidrigen Maßnahmen auszusetzen. Wenn in einem einstweiligen Verfahren der Gerichtshof konkrete Handlungen vorschreiben dürfe, dann sei es im Hauptverfahren erst recht möglich. Schließlich wird gefolgert, wenn es der Kommission erlaubt sei, in ihrer Stellungnahme (Art. 169 EWGV) die Mitgliedstaaten aufzufordern, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen, dann solle auch der Gerichtshof diese Möglichkeit haben, weil "ce qui vaut pour les avis ... de Ia Commission vaut aussi pour les arrets" 12 • Diese Argumente können aber alle nicht ausschlaggebend sein. Die geschilderte Meinung kann im Wortlaut des Art. 171 EWGV letztlich keine Stütze finden 13 • Der Ausdruck "sich ergeben" ist im Sinne einer logischen Schlußfolgerung zu verstehen 14 : die Maßnahmen werden nicht im Urteil unmittelbar beschrieben, sondern sie ergeben sich mittelbar aus ihm. Die Wiederherstellurig des rechtmäßigen Zustandes kann nicht nur durch die konkrete Bezeichnung der Maßnahmen bewirkt werden, sondern auch durch die präzise und klare Beschreibung des Vertragsverstoßes. In der Rechtssache 70/72 hat der EuGH nicht seine Befugnis zur unmittelbaren Maßnahmenkonkretisierung behandelt, sondern den "sekundären" Verstoß, d.h. den Nichterlaß aller zur Beseitigung der Folgen des Hauptverstosses notwendigen Maßnahmen als Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens 15 • Die Urteilsgründe führen u.a. aus: "Mit dem zweiten Klageantrag begehrt die Kommission die Feststellung, die Beklagte sei dadurch, daß sie es unterlassen habe, von bestimmten Empfängern die zu Unrecht erhaltenen Beihilfen zurückzufordern, einer ... Verpflichtung nicht nachgekommen" 16 und weiter: "Ein Antrag auf Feststellung, daß der betroffene Mitgliedstaat durch das Versäumnis, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen, gegen Verpflichtungen aus dem Vertrag verstoßen hat, wäre im übrigen ebenfalls zulässig" 17 • In einem solchen Fall stellen die versäumten Maßnahmen den Streit- und Entscheidungsgegenstand dar und selbstverständlich soll der Mitgliedstaat sie ergreifen, weil ihr Versäumnis den Verstoß darstellt. Aber die Pescatore, Cour de Justice, S. 55. Pescatore, Cour de Justice, S. 55. 10 Slg 1977, 942. 11 Er hat aber die Maßnahmen nicht erlassen, weil den Parteien Gelegenheit gegeben wurde, sich über eine Ersatzlösung zu verständigen. 12 Joliet, S. 44. 13 Gutsche, Bindungswirkung, S. 38; Daig in Groeben / Ehlermann, Art. 171 , Rn. 3. 14 Gutsche, Bindungswirkung, S. 38. 15 Vgl. auch Karpenstein in Grabitz, Kommentar, Art. 171, Rn. 7. 16 Slg 1973, 828. 17 Slg 1973, 829. 8 9

I. Keine unmittelbare Bestimmung der zu ergreifenden Maßnahmen

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Maßnahmen, die sich aus der ersten Entscheidung des EuGH ergeben, sind mit ihnen nicht notwendigerweise identisch. Die Maßnahmen, die in der Entscheidung festgestellt worden sind, sind durch die Stellungnahme der Kommission konkretisiert. Weitere Maßnahmen, deren Ergreifen der weitergehende Verstoß notwendig macht, können im Urteil nicht festgestellt werden. Der Mitgliedstaat soll aber auch sie ergreifen, weil sie sich aus dem Urteil "ergeben" , damit die Vertragsverletzung auch für die Vergangenheit vollständig beseitigt wird 18 . Bezüglich der Rechtssache 39/72 ist zu sagen, daß das im Vertragsverletzungsverfahren der Klage stattgebendeUrteil des Gerichtshofes zwar eine wesentliche Voraussetzung für die Haftung des Mitgliedstaates ist, nicht aber weil der EuGH konkretisiert die Pflicht zum Schadensersatz feststellen kann 19 , sondern einfach aufgrund der präjudiziellen Funktion der den Vertragsverstoß feststellenden rechtskräftigen Entscheidung. Die Feststellung der Verletzung des Gemeinschaftsrechts bindet die nationalen Gerichte, wenn vor ihnen Schadensersatzklage erhoben wird. Die Möglichkeit des Erlasses einer einstweiligen Anordnung gegen den vertragswidrig handelnden Mitgliedstaat bedeutet nicht notwendigerweise, daß auch im Hauptverfahren die Anordnung konkreter - diesmal aber nicht einstweiliger, sondern endgültiger- Maßnahmen zulässig ist. Der einstweilige Rechtsschutz kann nur erfolgreich sein, wenn das Gericht die Maßnahmen bestimmen darf, die den Eintritt der drohenden schweren Nachteile zu verhindem geeignet sind. Außerdem werden solche Maßnahmenaufgrund ihres einstweiligen Charakters20 kaum einen unerlaubten Eingriff in das innerstaatliche Leben darstellen. Dagegen verliert die Entscheidung im Hauptverfahren ohne die unmittelbare Bestimmung nicht an Durchschlagskraft und wird sowohl dem Wortlaut als auch dem Geist des Vertrages mehr gerecht. Der Vertrag beschreibt für das Vertragsverletzungsverfahren das Urteil des EuGH nicht nur als ein die Vertragsmäßigkeit oder Vertragswidrigkeit der staatlichen Handlung feststellendes Urteil, er geht auch von einer gründlichen Trennung der Kompetenzen21 der Gemeinschaftsorgane und der Mitgliedstaaten aus. Die Kompetenz 18 Sollte der Staat nur die Maßnahmen ergreifen, die den Streitgegenstand bildeten, dann wäre der Rechtsschutz unvollständig. Mit Recht betont Daig in GroebenjEhlermann, Art. 171, Rn. 3, daß der EuGH diese weiteren Maßnahmen nicht vollständig bestimmen kann, weil ihm eine erschöpfende Kenntnis der Folgen des Verstoßes fehlt. 19 Daig in Groeben/Ehlermann, Art. 171, Rn. 3; Plouvier, Decisions, S. 203; WaelbroeckjVandersanden, Art. 171, Anm. 1; Gutsche, Bindungswirkung, S. 36 schließen die Möglichkeit einer Verurteilung aus. Eine Pflicht zum Schadensersatz kann nur festgestellt werden, wenn das Versäumnis der Entschädigung als "sekundärer" Verstoß Streitgegenstand geworden ist. 20 Art. 86, Abs. 4 EuGH-VerfO: "Der Beschluß stellt nur eine einstweilige Regelung dar und greift der Entscheidung des Gerichtshofes zur Hauptsache nicht vor". 2 1 "Une separation rigoureuse des competences des institutions communautaires et de celles des Etats membres" EuGH, Rs 6/60, Slg 1960, 1184; ebenfalls Rasquin, Manquements, 33; Amphoux, Les Novelles, S. 388.

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§ 9 Maßnahmen zur Beseitigung der Vertragsverletzung

des EuGH erschöpft sich 22 in der Feststellung des Verstoßes. Art. 171 EWGV hat dem Mitgliedstaat einen gewissen Spielraum gelassen. Er darf unter Berücksichtigung der Interessen der Gemeinschaft, aber auch der innerstaatlichen Umstände, die nach seiner Meinung zur Beseitigung des Verstoßes erforderlichen Maßnahmen ergreifen. Es gibt nur eine Einschränkung: sie sollen sich aus dem Urteil des Gerichtshofes mittelbar ergeben, d.h. sie sollen geeignet sein, den festgestellten Verstoß zu beseitigen. Diese Geeignetheit ist die vom Vertrag erlaubte äußerste Grenze, die der Staat nicht überschreiten darf. Die unmittelbare Anordnung der zu treffenden Maßnahmen durch den EuGH würde das Gleichgewicht und das Koordinationsverhältnis 23 zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten stören. Es bleibt noch das Argument, daß das Urteil des EuGH der Stellungnahme der Kommission entsprechen muß 24 , die konkrete Maßnahmen vorschreiben darf. Die Kommission erläßt die Stellungnahme im Rahmen des Vorverfahrens, das nicht nur der Verteidigung des beklagten Mitgliedstaates dient, sondern auch der Beseitigung des Verstoßes schon in einem frühen Stadium. Es ist so besehen konsequent, daß die Kommission die Maßnahmen vorschreiben darf, die nach ihrer Ansicht zur schnellen Aufhebung des Verstoßes führen und infolgedessen das aufwendige Hauptverfahren - auch prozeßökonomische Gründe sprechen dafür - vermeiden. Weil die Stellungnahme anders als das Urteil des Gerichtshofes unverbindlich ist, stellt sie keinen Eingriff in das innere Leben der Mitgliedstaaten dar. Außerdem bildet die Kommissionsstellungnahme nicht den Streitgegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens, so daß man nicht argumentieren kann, im Fall ihrer Bestätigung durch den Gerichtshof solle das Urteil mindestens in seinen Gründen die in der Stellungnahme enthaltenen und als rechtmäßig bestätigten Maßnahmen erwähnen.

II. Mittelbare Konkretisierung der zu ergreifenden Maßnahmen durch das Urteil Obwohl keine unmittelbare Bestimmung der zu ergreifenden Maßnahmen im Urteil erlaubt ist, spielt es trotzdem eine bedeutende Rolle für deren Konkretisierung, genauer gesagt für die Begründung und Konkretisierung der sich aus Art. 171 EWGV ergebenden Pflicht.

22 "La Cour epuise sa competence par cette constatation": Plouvier, Decisions, S. 203; ebenfalls Amphoux, Les Novelles, S. 388. 23 Plouvier, Decisions, S. 203. 24 Joliet, S. 44.

II. Mittelbare Konkretisierung der zu ergreifenden Maßnahmen

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1. Tatbestandswirkung des Urteils

a) Haupt- oder Nebenwirkung?

Art. 171 EWGV verpflichtet einen Mitgliedstaat nur, Maßnahmen zu ergreifen, wenn der Verstoß dieses Staates gegen den Vertrag in einem Urteil des Gerichtshofes festgestellt worden ist. Der Erlaß eines die Vertragsverletzung feststellenden Urteils ist Voraussetzung für die Begründung dieser Pflicht. Die Existenz dieses Urteils ist Tatbestandsmerkmal von Art. 171 EWGV. Diese Wirkung des Urteils, d.h. die Begründung einer Rechtsfolge soweit das Urteil Tatbestandsmerkmal der sie vorsehenden materiellrechtlichen Norm wird, ist die sogenannte Tatbestandswirkung25 • Auf nationaler Ebene wird diese Tatbestandswirkung auch als Neben- oder Reflexwirkung 26 charakterisiert, weil sie nicht vom Klagebegehren erfaßt ist, nicht den Gegenstand der Verhandlung und der Entscheidung bildet27 , keine Beziehung zu dem Inhalt des Urteils hat 28 und ihr Eintritt unabhängig von dem Willen 29 und der Kenntnis 30 der Parteien ist. Im Vertragsverletzungsverfahren richtet sich aber der Wille der Parteien hauptsächlich auf die Maßnahmen, die den Verstoß aufzuheben geeignet sind. Der Kläger bezweckt die Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes, die durch diese Maßnahmen erreicht werden kann, der Beklagte kämpft gegen diese Wiederherstellung und infolgedessen auch gegen die Pflicht, diese Maßnahmen zu ergreifen. Art. 171 EWGV ist ein wesentlicher Zielpunkt des Vertragsverletzungsverfahrens, so daß die Möglichkeit, daß seine Folgen und deren Voraussetzungen durch die Parteien unberücksichtigt bleiben, undenkbar zu sein scheint. Die zu ergreifenden Maßnahmen stehen in engem Zusammenhang mit dem Urteilsinhalt Sie ergeben sich mittelbar aus der Feststellung des Verstoßes. Die Konkretisierung der Pflicht hängt vom Urteilsinhalt ab. Außerdem besteht die Möglichkeit, daß der Kläger das Versäumnis solcher Maßnahmen als sekundären Vertragsverstoß zur Feststellung vorbringt. Auf diese Weise werden sie mittelbar in den Streit- und Entscheidungsgegenstand einbezogen und im Urteil des Gerichtshofes festgestellt. Die Pflicht aus Art. 171 EWGV hat also eine enge Beziehung zu dem den Vertragsverstoß feststellenden Urteil des EuGH. Man kann deshalb die Tatbestandswirkung nicht als Nebenwirkung oder Reflexwirkung bezeichnen. Sie ist im Gegenteil eine Haupt-, bzw. eine Zielwirkung31 des 25 Vgl. Blomeyer, § 86, Anm. III; Rosenberg/Schwab,§ 150, Anm. 5; Huber, JuS 1972, 623; Eyermann / Fröhler, § 108, Rn. 7; Gutsche, Bindungswirkung, S. 45; Kopp, § 121, Rn. 5; Kondylis, Rechtskraft, S. 173. 26 Blomeyer, § 86, Anm. III; RosenbergjSchwab, § 150, Anm. 5; Beys, Kommentar, S. 1302; derselbe, Einführung, S. 285 / 286; Rammos, Lehrbuch, S. 547 und Kondylis, Rechtskraft, S. 173 bezeichnen sie aber als Reflexwirkung nur, wenn sie gegenüber Dritten gilt. 27 Jauernig, § 61 , Anm. IV. 28 Rosenberg j Schwab, § 150, Anm. 5. 29 Jauemig, § 61, Anm. IV. 30 Beys, Einführung, S. 285.

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§ 9 Maßnahmen zur Beseitigung der Vertragsverletzung

Urteils. Dies wird noch besser verständlich, wenn man die Funktion des Art. 171 EWGV im ganzen System des Vertragsverletzungsverfahrens berücksichtigt. Ziel des Vertragsverletzungsverfahrens ist hauptsächlich 32 die Beseitigung der Vertragsverletzung. Der Gerichtshof darf aber nicht den Mitgliedstaat verurteilen, alle zur Beseitigung notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Das würde, wie schon gesagt, das Gleichgewicht und die Kompetenztrennung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten stören. An die Stelle der Verurteilung zu konkreten Maßnahmen tritt aber Art. 171 EWGV 33 und die sich aus ihm ergebende Pflicht. Nach alldem nimmt die Tatbestandswirkung des Urteils des Gerichtshofs eine zentrale Stellung innerhalb des Vertragsverletzungsverfahrens ein und kann nicht als Neben- oder Reflexwirkung bezeichnet werden. b) Erweiterung des Kreises der an das Urteil gebundenen Personenaufgrund der Tatbestandswirkung

Wenn die materielle Norm nicht nur auf die Parteien, sondern auch aufDritte Anwendung findet, dann sind diese Dritte an das Urteil gebunden. Wenn sie die Feststellung des Urteils bezweifeln könnten, könnten sie auch die konkrete Anwendung der Norm ihnen gegenüber in Frage stellen 34 • Im Vertragsverletzungsverfahren verpflichtet Art. 171 EWGV alle Organe des vertragswidrig handelnden Mitgliedstaates. Die Bindung dieser Organe an das Urteilaufgrund der Tatbestandswirkung hat indessen keine große Bedeutung, weil sie schon aufgrundder materiellen Rechtskraft gegeben ist. Es fragt sich aber, ob Art. 171 EWGV weitergehend auf Personen Anwendung findet, die nicht durch die materielle Rechtskraft an das Urteil gebunden sind. Ausgangspunkt für diese Prüfung ist die Feststellung, daß die Pflicht des Art. 171 EWGV keinen feststehenden Inhalt hat. Art. 171 EWGV verpflichtet den Mitgliedstaat, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem jeweiligen Urteil des Gerichtshofes ergeben. Der Inhalt der Pflicht bzw. die zu ergreifenden Maßnahmen hängen 31 So charakterisiert Blomeyer, § 86, Anm. III; ZZP 75,6 die Gestaltungswirkung, die nach seiner Meinung eine Art Tatbestandswirkung ist. Ähnlich Kondylis, Rechtskraft, S. 173. 32 Wenn man die Bedeutung des Urteils für das künftige Verhalten Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorgane außer acht läßt. 33 Das Urteil kann nicht unmittelbar Tatbestandsmerkmal auch von Art. 5 EWGV werden, nach dem die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen treffen, die sich aus dem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben. Er verpflichtet die Mitgliedstaaten, die sich aus Art. 171 ergebende Pflicht zu erfüllen. Das Urteil des EuGH wird nur mittelbar, d.h. soweit es zur Konkretisierung dieser Pflicht führt, Tatbestandsmerkmal aus Art. 5 EWGV. 34 Vgl. Schwab, ZZP 77, 130. Es handelt sich nicht um das Bestreiten der Richtigkeit des Urteils bzw. um die Behauptung, das festgestellte Rechtsverhältnis bestehe in Wirklichkeit nicht. Tatbestandsmerkmal der Norm ist nicht ein Rechtsverhältnis, sondern ein Urteil mit bestimmtem Inhalt. Deshalb ist nur ein Bestreiten des Urteilsinhalts bzw. der Urteilsfeststellung (das Urteil enthält die X Feststellung nicht) relevant.

II. Mittelbare Konkretisierung der zu ergreifenden Maßnahmen

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weitgehend von den Gemeinschaftsnormen ab, deren Verletzung festgestellt worden ist. Eine unmittelbar anwendbare Norm begründet z.B. die Pflicht zur Entschädigung von Gemeinschaftsbürgern, deren Interessen sie schützt; dies ist in der RegeP5 nicht der Fall bei der Feststellung der Verletzung von Normen, die nicht unmittelbar anwendbar sind. Eine Gemeinschaftsnorm kann außer staatlichen Organen auch private Unternehmen verpflichten, deren Handeln für die Gemeinschaft von Interesse ist. Eine unmittelbar anwendbare Norm kann nämlich nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten von Individuen begründen. Der Sinn der unmittelbaren Anwendbarkeit ist, daß die Gemeinschaftsnorm ohne jede Umsetzung im innerstaatlichen Bereich gilt 36 . Wenn infolge eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen einen Mitgliedstaat wegen mangelnder Überwachung der Anwendung des Gemeinschaftsrechts der Verstoß des Staates festgestellt wird, sollen nicht nur die staatlichen Organe, sondern auch die privaten Personen ihrer Pflicht nachkommen 37 . Auf diese Weise gilt Art. 171 EWGV auch gegenüber diesen Personen, die nicht durch die materielle Rechtskraft gebunden sind. Sie können also nicht die Richtigkeit des EuGHUrteils bzw. die Geltung der sich aus Art. 171 EWGV ergebenden Pflicht bestreiten. Sie sind aufgrundder Tatbestandswirkung an das Urteil gebunden. 2. Elemente, die die Maßnahmen konkretisieren

a) Die Pflicht aus Art. 171 EWGV wird erst durch die genaue Beschreibung des Verstoßes im Urteil konkretisiert. Von besonderer Bedeutung sind also die Urteilsgründe 38 , in denen die rechtswidrigen Handlungen, der Zeitpunkt ihres Erlasses und ihre negativen Folgen beschrieben sind. Aber die zur Aufhebung des Verstoßes geeigneten Maßnahmen ergeben sich nicht ohne weiteres nur aus dem die Vertragsverletzung feststellenden Urteil. Für ihre Bestimmung ist auch das Rechtssystem des jeweiligen vertragswidrig handelnden Staates heranzuziehen39. Die Maßnahmen müssen nach dessen Rechtsordnung möglich sein. Soweit keine Vereinheitlichung des Staatshaftungsrechts innerhalb der Gemeinschaft besteht, können die Mitgliedstaaten diesen Bereich durch eigene, von einander mehr oder weniger abweichende Normen regeln. Aus der Rechtspre35 Weil auch Gemeinschaftsnonnen ohne Direktwirkung die Schadensersatzpflicht des Mitgliedstaates begründen können, wenn sie ihrem Wesen nach die Interessen des Einzelnen schützen (vgl. Rs 60/75, Slg 1976, 45; Karpenstein in Grabitz, Kommentar, Art. 169, Rn. 27). 36 Vgl. auch Rs 26/62, Slg 1963, 24fT.; Rs 6/64, Slg 1964, 1269ff. 37 Zwar verletzen Mitgliedstaat und Individuen nicht dieselbe Gemeinschaftsnonn. Die mangelnde Überwachung des Mitgliedstaates verstößt gegen Art. 5 EWGV. Die Verletzung aber der unmittelbar anwendbaren Normen durch die Individuen wird in den Urteilsgründen festgestellt, weil sie Voraussetzung für die Feststellung des mitgliedstaatliehen Verstoßes ist. 38 Gutsche, Bindungswirkung, S. 47. 39 Vgl. GA Reischl, Rs 52/76, Slg 1977, 193.

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§ 9 Maßnahmen zur Beseitigung der Vertragsverletzung

chung des EuGH 40 ergeben sich aber gewisse Grenzen: die Mitgliedstaaten können die Möglichkeiten der Wiedergutmachung wegen Verletzung des Gemeinschaftsrechts nicht verschlechtem gegenüber den Wiedergutmachungsmöglichkeiten wegen Verletzung innerstaatlichen Rechts. Ferner darf die Wiedergutmachung nach Verletzung des Gemeinschaftsrechts unter keinen Umständen ausgeschlossen werden 41 , auch wenn keine solche Möglichkeit nach Verletzung innerstaatlichen Rechts besteht. Die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze, um die zu ergreifenden Maßnahmen zu bestimmen 42 , scheint daher nicht notwendig und sogar systemwidrig zu sein. Weil keine Lücke im EWG-Vertrag für diesen Bereich besteht- es handelt sich aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts um Freiraum, der innerstaatlicher Regelung unterliegt - , ist kein Raum für die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze43 . Schließlich ist zu fragen, ob die Stellungnahme der Kommission (Art. 169 EWGV) für die Bestimmung der Maßnahmen von Bedeutung sein kann 44 • Die Kommission kann in ihrer Stellungnahme Maßnahmen vorschreiben, sie sind aber weder für die Mitgliedstaaten noch für den EuGH bindend. Die Maßnahmen, die aufgrund der gerichtlichen Feststellung der Vertragsverletzung in Betracht kommen, können von den in der Stellungnahme bestimmten verschieden sein. Deshalb sind die Kommissionsvorschläge nicht ausschlaggebend. Sonst könnte insoweit die unverbindliche Stellungnahme durch ihre mittelbare Einbeziehung in das Urteil einen verbindlichen Charakter annehmen. b) Weniger problematisch ist der Fall, daß der Kläger neben dem primären Verstoß, d.h. der ursprünglichen Vertragsverletzung, auch das Versäumnis der zur Beseitigung notwendigen Maßnahmen als sekundären Verstoß in den Streitgegenstand einbezogen hat. Das Versäumnis geeigneter Maßnahmen wird im Urteil festgestellt und ihre Bestimmung verursacht keine große Schwierigkeit. Die weiteren Maßnahmen, die wegen des fortdauernden primären Verstoßes notwendig sind, werden wiederum aufgrund der konkreten Beschreibung der Vertragsverletzung nach innerstaatlichem Recht bestimmt. 40 Der Gerichtshof, Rs 33 I 16, Slg 1976, 1989 ff. hat diese Regel nur für Verfahrensnormen und in Bezug auf den Rechtsschutz entwickelt. Dasselbe sollte aber auch für die Pflicht zur Wiederherstellung des vertragsmäßigen Zustands gelten. 41 Rs 130/79, Slg 1980, 1900. Dasergibt sich auch aus der Rechtsprechung des EuGH, nach der ein Mitgliedstaat sich nicht auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts (Mangel von Vorschriften, die einen effektiven Rechtsschutz gewährleisten) berufen kann, um die Nichtbeachtung von Verpflichtungen des Gemeinschaftsrechts zu rechtfertigen; Rs 30/72, Slg 1973, S.171; Rs 93/79, Slg 1979, S. 3841; Rs 42/ 80, Slg 1980, S. 3640. 42 Daig in Groeben/Ehlermann, Art.171, Rn.4. 43 Auch für den fast unmöglichen Fall der Nichtexistenz einer innerstaatlichen Regelung ist die Bildung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts nicht notwendig. Der Mitgliedstaat hat die Pflicht (vgl. auch Art. 5 EWGV), eine solche Regelung zu schaffen. Bis zu diesem Zeitpunkt sind die allgemeinen Rechtsgrundsätze des innerstaatlichen Rechts maßgeblich. 44 So Gutsche, Bindungswirkung, S. 47.

III. Charakter der Maßnahmen

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Iß. Charakter der Maßnahmen 1. Thn oder Unterlassen

Der Mitgliedstaat ist aufgrund von Art. 171 EWGV verpflichtet, die vertragswidrige Handlung - Gesetz, Verwaltungsakt, ständige Praxis aufzuheben oder die versäumten Maßnahmen zu erlassen. Verstößt ein staatliches Gesetz gegen eine unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsnorrn, dann ist das Gesetzper se unanwendbar45 Dies ist Folge der unmittelbaren Anwendbarkeit der Gemeinschaftsnorrn, nicht der Feststellung der Vertragswidrigkeit4