Nomos und Gesetz: Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens: 6. Symposion der Kommission "Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart" 3525825978, 9783525825976

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Nomos und Gesetz: Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens: 6. Symposion der Kommission "Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart"
 3525825978, 9783525825976

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ABHANDLUNGEN D E R A K A D E M IE D E R W IS S E N S C H A F T E N I N G Ö T T IN G E N

PHILOLOGISCH-HISTORISCHE KLASSE DRITTE FOLGE Nr. 209

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GOTTINGEN

Nomos und Gesetz Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens

6. Symposion der Kommission Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart“

Herausgegeben von O kko Behrends und Wolfgang Sellert

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Vorgelegt von Herrn Wolfgang Sellert in der Sitzung vom 9. Juli 1993

Die Deutsche Bibliothek - FJP-Emheitsaufnahme Akademie der Wissenschaften (Göttingen) / Kommission Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart: ... Symposium der Kommission „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwan“ ... / Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht Früher Schriftenreihe 6. Nomos und Gesetz. - 1995 Nomos und Gesetz: Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens / hrsg. von Okko Behrends und Woligang Sellen. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1995 (... Symposium der Kommission „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwan“ ... / Akademie der Wissenschaften in Göttingen; 6) (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Fiistonsche Klasse; Folge 3, Nr. 209) ISBN 3-525-82597-8 NE: Behrends, Okko [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften (Göttingen) / Philologisch-Historische Klasse: Abhandlungen der Akademie ...

C Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 1995 - Printed in Germany Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck: Hubert & Co., Göttingen

Inhaltsverzeichnis

W olfgang Sellert E in fü h ru n g ..........................................................................................................

7

H ans-Joachim G ehrke D er Nomosbegriff der P o lis ..............................................................................

13

W olfgang K ullmann Antike Vorstufen des modernen Begriffs des Naturgesetzes .........................

36

Diskussionsprotokoll des 1. Sitzungstages....................................................... D ank wart Vollmer

112

Albrecht D ihle Der Begriff des Nom os in der griechischen Philosophie ................................

117

O kko Behrends Gesetz und Sprache Das römische Gesetz unter dem Einfluß der hellenistischen Philosophie . . .

135

Diskussionsprotokoll des 2. Sitzungstages....................................................... M einolf V ielberg

250

Teilnehmer des Symposiums ............................................................................

255

R egister................................................................................................................

257

Mitglieder der K om m ission Franz Wieacker f Friedrich Schaffstein Karl Michaelis Ralf Dreier O kko Behrends Christian Starck Wolfram Henckel Christoph Link Wolfgang Sellert Uwe Diederichsen

Einführung Von W olfgang Sellert

Nach einem W ort des Althistorikers A lfred H euss sind die Griechen, „welchen so viel an Erhellung der Welt zu verdanken ist, ohne methodische Rechtswissenschaft geblieben, weshalb das Abendland auf diesem Gebiet nicht bei ihnen, sondern bei den Römern in die Schule gehen mußte". Die Ursachen dieses Phänomens dürften in der Verfassung der griechischen Polis zu suchen sein, die in ihrer klassischen Epoche ein Höchstmaß an Identität zwischen Staat und Bürgerschaft angestrebt hatte. Dement­ sprechend waren auch die etwa zehn Gerichtshöfe Athens (ήλιαία) mit jeweils mindestens funfhundertundeins Schöffen besetzt, so daß ihre Summe „im Grund nichts anderes als das Volk in seiner Gesamtheit" war. Solche eher einem Parlament denn einem Gericht ähnlichen Gremien, in denen die Entscheidungen bei der Abstimmung nach dem persönlichen Gerechtigkeitsempfinden und Gutdünken des einzelnen gefunden wurden, waren in der Tat kaum dazu geeignet, eine systemati­ sche, empirisch-rationale und auf Berechenbarkeit zielende Rechtspflege zu ent­ wickeln. Die mit dieser freien Rechtspraxis nicht auszuschließende Gefahr einer κατ&λυοισ του δήμου, d. h. einer Zerstörung der überkommenen politischen Grundordnung, bestand jedoch weniger, weil die Athener jede, auch eine mit legalen Mitteln herbeige­ führte Veränderung ihrer demokratischen Staatsverfassung als Verstoß gegen den Nom os unter strenge Strafe stellten. Die Vorstellung, daß es Norm en gibt, „gegen die weder verstoßen noch auf dem Wege formell einwandfreier Willensbildung vorge­ gangen werden darf“ (A. H euss), hatte bei den Griechen Tradition. Ursprünglich fehlte allerdings dem Nom os das normative Element. Denn er bezeichnete nach dem Dichter H esiod (um 700) lediglich die von den Göttern vorgegebene und für die Menschen in Tradition, Sitte und Brauch realisierte Daseins­ ordnung. Erfahrungen freilich, daß vornehmlich durch tyrannische Herrscher die überkommene O rdnung auch verändert und sogar zerstört werden könne, forderte zu Schutzmaßnahmen heraus. So wurde versucht, die Überlieferung erinnerlich und lebendig zu halten, indem man ihre Regeln auf Stein- oder Erztafeln aufzeichnete und diese für jedermann sichtbar auf der Agora zur Schau stellte. Es handelt sich um die Thesmoi, die, wie vor allem die Satzungen D rakons (um 621) und Solons (gest. nach 561) bezeugen, nicht nur Herkömmliches, sondern auch Neues festsetzten. Der insoweit bestehende und als solcher gewiß auch bemerkte Zwiespalt zwischen Nomos und Thesmös, zwischen herkömmlicher und meist zeitlich begrenzter neuer Satzung konnte sich freilich wieder verflüchtigen. So wurden die Thesmoi Solons, nachdem sie sich bewährt hatten und vom Volk angenommen worden waren, nun ihrerseits zur überlieferten O rdnung und zu den Nomoi gerechnet, für die nach einem Wort H eraklits von Ephesos (ca. 540-480) das Volk zu kämpfen habe,

Wolfgang Sellen

damit sie nicht wie eine Mauer einstürzten. Den Nomois, so schrieb der Geschichts­ schreiber H erodot (geb. ca. 490), habe jedes Volk mit Ehrfurcht zu begegnen. Die Nom oi verkörperten für die Griechen die Rechtsordnung schlechthin. Sie waren für sie das Kernstück ihrer Freiheit und ihres gewachsenen Gemeinwesens, ein unver­ zichtbares G ut, das ihnen nicht zuletzt - so hat es jedenfalls der attische Tragiker A ischylos (525-456) empfunden - in der Schlacht bei Salamis (480) zum Sieg über die despotisch regierten und daher nicht freiwillig kämpfenden Barbaren verholfen hatte. Nom os, Freiheit und Rechtsordnung wurden als Einheit verstanden und bildeten die entscheidende Grundlage, auf der nach dem Ende der Perserkriege die athenische Demokratie unter P erikles zu ihrer klassischen Entfaltung kam. Mit den Zerfallserscheinungen der Demokratie in der nachperikleischen Epoche verlor auch der Nom os seine alles beherrschende Autorität und Kraft. Kontrovers geführte Diskussionen darüber, welche Gesetze zur Aufrechterhaltung einer geord­ neten staatlichen Gemeinschaft verabschiedet werden sollten, ließen die Vermutung zur Gewißheit werden, daß die Nom oi willkürlich, beliebig und vergänglich seien. Die Brüchigkeit der gesamten Rechts- und Sittenordnung der attischen Demokratie wurde deutlich. Neue Fundamente mußten gelegt werden, nachdem auch Rückbe­ sinnungen auf die άγραφοι νόμοι keine Heilung zu bringen vermochten. Innovative Denkanstöße kamen erstaunlicherweise aus der Medizin. H ier hatte man zwischen der Physis als der allen Menschen gemeinsamen N atur und dem N om os ab Bezeichnung für die Eingriffe des Menschen in die N atur unterschieden. So seien beispielsweise, wie der Arzt FFippokrates (ca. 460-375) meinte, die abnormen Schädelformen der Makrophalen erst durch einen N om os, d. h. durch absichtliche Manipulationen der M ütter entstanden, dann aber durch Vererbung zur Physis geworden. Eine Parallele zu den Thesmoi, die, wie im Falle der solonischen Gesetzgebung geschehen, durch ständige Übung den Rang von Nom oi erhalten hatten, liegt auf der Hand. Neu war aber, daß in der Medizin die Physis, ab die spezifisch menschliche N atur nunm ehr vom Nom os, ab einem zeitlichen und gesteuerten Menschenwerk unterschieden wurde. Diese Erkenntnis blieb nicht auf die Medizin beschränkt, sondern rückte seit etwa dem Tode des Perikles im Jahre 429 in den M ittelpunkt der Auseinandersetzungen um eine neue Grundlegung der attischen Sitten- und Gesellschaftsordnung. Wäh­ rend man dem Nom os eine nur relative auf Konventionen beruhende Qualität zubilligte, glaubte man in der Physb das wahre und wirkliche Sein gefunden zu haben. „Überall wurde [nun] die Antithese Nom os-Physb in die Debatte geworfen, und auf dem zentralen Gebiet der Ethik wirkte sie geradezu revolutionär“ (M. Po h lenz). Obwohl die Annahme, Nom os und Physb verhielten sich wie der Schein zum Sein, bereits eine Wertung enthielt, war die Frage des Rangverhältnisses der beiden Begriffe keineswegs entschieden. Einige der Sophisten, die die Polb besonders kritisch beurteilten, standen den staatlichen Gesetzen skeptisch gegenüber. Sie wollten daher die Physb als φύσει δίκαιον, also ab Naturgesetz zum alleinigen Maßstab der Rechtsordnung erheben. Denn die Nom oi seien willkürlich, vereinbart und nicht wie das Naturgesetz gewach­ sen. So vergewaltigten die meisten Nom oi die Physb des Individuums und verstießen gegen die allen Menschen von N atur aus eingegebene Rechtsordnung (A ntiphon

9 Sophistas 2. Hälfte des 5. Jhdts.). Da der Nom os keine dauerhafte Bestandskraft habe, sei er in seiner vergänglichen Gestalt nichts als ein rechtlicher Schein. Wahre Gerechtigkeit sei dementsprechend niemals durch Gehorsam gegenüber den Staat* liehen Gesetzen zu erreichen (A n tiphon ). D er Nom os könne darüber hinaus, wenn er keinen anderen Maßstab als den N utzen habe, leicht zum Recht des Stärkeren und damit zur Tyrannis fuhren (Trasymachos 2. Hälfte des 5. Jhdts.). Andere waren demgegenüber, wie vornehmlich P rotargoras (484-414) und der unbekannt gebliebene Autor der Schrift Περί νόμων, von der Notwendigkeit der Gesetze als Grundlage des Zusammenlebens in der Polis überzeugt. Zwar sahen auch sie in der Physis eine originäre und naturgegebene Kraft, waren aber realistisch genug, um zu erkennen, daß eine unkontrollierte und ungezügelte Physis negative W irkun­ gen haben mußte. Nom oi sollten daher nach ihrer Ansicht die Physis disziplinieren und die menschliche Gemeinschaft vor individueller Maßlosigkeit und Willkür schützen. Grenzen und Geltungskraft der Nom oi wollten sie mit dem von ihren Gegnern allerdings für solche Zwecke als untauglich angesehenen Maßstab des Nutzens (συμφέρον) bestimmen. Denn die Menschen wollen das Nützliche und sobald sie es gefunden haben, wird es als allgemeines und für jedermann geltendes Gebot bekannt gemacht, heißt es in der Schrift Περί νόμων. Wiederum andere, wie der Sophist G orgias (ca. 480-398), akzeptierten zwar diesen Nomosbegriff, waren aber der Auffassung, daß ein allgemeines, für jedermann verbindliches Gesetz bei seiner praktischen Anwendung zu Ungerechtigkeiten füh­ ren könne. Es sollte daher im Rahmen der Billigkeit Rücksicht auf die besonderen und individuellen Umstände des Einzelfalls genommen werden. Insgesamt zeigen die Auseinandersetzungen, daß der alte Nomosbegriff verloren gegangen war. Ein neuer, gleichsam säkularisierter, allgemeiner und relativer Nömosbegriff war an seine Stelle getreten. So beachtlich alle diese Versuche zur Neufundamentierung der attischen Rechts­ ordnung gewesen sein mögen, die weiterwirkenden Lehren kamen aus der sokradsch-platonischen Philosophie und kulminierten in den Erkenntnissen des A risto ­ teles (384-322). Soweit wir den nur von anderen berichteten Lehren des Sokrates (470-399) folgen dürfen, waren für ihn die Nom oi der Inbegriff der attischen Demokratie. Jeder schuldete ihnen daher, auch wenn mit ihnen, wie in seinem Falle, Mißbrauch getrieben wurde, im Interesse der Gemeinschaft mehr Gehorsam als den Eltern. Denn, so hatte er Kriton gefragt: Meinst D u, daß ein Staat bestehen kann und nicht vielmehr vernichtet wird, in dem Urteile, die gefällt werden, keine Kraft haben, sondern durch einzelne Menschen ungültig gemacht und vereitelt werden? (Kriton, 50b). Daß Sokrates mit dieser Überzeugung Emst machte und statt aus dem Gefängnis zu fliehen, das gegen ihn ergangene Todesurteil annahm, mag seinen Schüler P laton (427-347) darin bestärkt haben, den Wert der Gesetze in Frage zu stellen. Dies um so mehr, als er die zeitweise Umwandlung der attischen Demokratie in eine Pöbelherrschaft (Ochlokratie) erlebt hatte und alle Maßnahmen zur Siche­ rung und Stabilisierung der Gesetze, wie sie beispielsweise durch die sog. γραφή παράνομον, d. h. durch eine Art Normenkontrollverfahren (H. J. W olf) versucht worden waren, letztlich nicht zum gewünschten Erfolg geführt hatten. Normen,

Wolfgang Sellen

über die die unwissende, d. h. nicht philosophisch geschulte und daher unvernünftige „Menge“ befindet, konnten für P laton schon infolge seiner negativen Erfahrungen aus dem Prozeß gegen Sokrates keine Verbindlichkeit haben. Statt dessen setzte er zunächst auf die Vernunft und die wahre Erkenntnis des Guten, die, wenn sie sich bei den Menschen einstellen, die Gesetze weitgehend entbehrlich machen sollten. Doch dürfte Platon spätestens nach seinem gescheiterten Experiment in Sizilien erfahren haben, daß die menschliche Physis viel zu schwach war, sich trotz Ausbil­ dung und Erziehung stets von der wahren Erkenntnis und der Idee des Gutes bestimmen zu lassen. D er Mensch lasse sich vielmehr, wenn man ihm alle Freiheit erlaube, von Egoismus und Eigennutz leiten, die - und damit gab er seine ursprüng­ liche Geringschätzung normativer Regelungen wieder auf - durch den Zwang des Gesetzes gezügelt werden müßten. „Denn“, so schrieb er, „wo jemand sich bei der Regierung über ein Gesetz hinwegsetzt, wo das Gesetz ohne Kraft und Ansehen ist, da sehe ich den Staat seinem Untergang nahe. Wo hingegen das Gesetz der oberste H err der Herrschenden ist, und diese des Gesetzes Knechte sind, da sehe ich Wohlstand und so viel Gutes blühen, wie jemals einem Staate von den Göttern beschert worden ist“ (Unterredung über die Gesetze, 4. Untern). Diese Erkenntnis befreite jedoch nicht von der Suche nach einem objektiven Maßstab für die Gesetze. Er fand ihn, indem er zur vorsophistischen Einheit des Nomosbegriffs zurückkehrte, in „Gott, der nach uralter Sage der Anfang, das Mittel und das Ende aller Dinge ist“ (4. U ntern aaO.). Folglich sollten alle jungen Leute die Gesetze als unabänderliche Gaben der G ötter betrachten. N ur Greisen sollte es erlaubt sein, über sie zu diskutie­ ren. Von einer solchen „theonomen Nom okratie“ (E. W olf ) erhoffte sich P laton die Rettung des Staates. A ristoteles sah demgegenüber die Schwächen dieser für die praktische Politik kaum brauchbaren Lehre. So lehnte er, indem er streng zwischen der Seins- und Sollenssphäre trennte, eine Herleitung der Gesetze „aus einem transzendenten Ur­ sprung mit universeller, überzeitlicher Gültigkeit und Verbindlichkeit“ (B. E ffe) ebenso ab wie die daraus resultierende Unveränderlichkeit der Norm en. Die Gesetze waren für ihn vielmehr ein Teil der in den bewährten Erfahrungen und Bedürfnissen der Menschen begründeten Wirklichkeit. Im übrigen war er wie P laton von der Notwendigkeit der Gesetze überzeugt. Das Gesetz müsse über alles herrschen. Denn wo die Gesetze nicht herrschten, da sei auch keine Verfassung (Politik, Buch 4, Kap. 4). „Darum lassen wir“, so heißt es in der Nikomachischen Ethik, „keinen einzelnen Menschen herrschen, sondern das Gesetz, weil ein solcher . . . zu seinen Gunsten verfehlt und ein Tyrann wird“ (Kap. 8). Ein Problem war freilich, woher die Norm en ihre Legitimation beziehen sollten, m.a.W., wer befugt sein sollte, sie rechtswirksam zu beschließen. Sein Lehrer P la­ ton hatte ja die Ansicht vertreten, daß die „Menge“ mangels Fachkundigkeit der ihr zugehörigen Individuen diese Funktion nicht ausüben dürfe. A ristoteles wies demgegenüber darauf hin, daß im Ergebnis nicht der einzelne, sondern die Gesamt­ heit beschließe. Dabei summierten sich die Individualauffassungen zu einer aus praktischer Klugheit (φρόνησισ) und intuitiver Einsicht (voöo) resultierenden Kollekdw em unft, die der Fachkompetenz des einzelnen überlegen sei. Daß nicht alle Gesetze diesen Rang haben konnten, schloß A ristoteles offenbar nicht aus.

Geltungskraft sollten daher nur die »richtigen" Gesetze haben, also keineswegs solche, die lediglich »auf den eigenen Vorteil der Regierenden“ oder den »Nutzen der Oberschicht“ abzielten (Politik, Buch 3, Kap. 6,13), sondern ausschließlich solche, die dem Gemeinwohl und den auf Glückseligkeit (εύόαιμονΐα) der Bürger gerichte­ ten Staatszielen entsprachen. Denn »gleichmäßig richtig“ und gerecht sei nur, »was zum N utzen des ganzen Staates und zum gemeinen Besten der Bürger“ gereiche (Politik, Buch 3, Kap. 13). Darüber hinaus unterschied A ristoteles zwischen dem veränderlichen staatlich gesetzten Recht, dem νομικόν δίκαιον und dem von N atur aus Rechten, dem φυσικόν δίκαιον. Indem er erklärte, daß »von N atur . . . nur e i n e Verfassung die beste für alle Welt sei“ (Nikomach. Ethik, Kap. 8), begann der Gedanke des Naturrechts als Maßstab und Korrektiv allen positiven Rechts seine bis in die Gegenwart dominierende Rolle zu spielen. Diese hier nur in aller Kürze überwiegend aus der Literatur rekapitulierten Überle­ gungen zum Nomosbegriff, die gewiß mehr eine Einstimmung denn eine Einführung in die Thematik des Symposions waren, sollten einen vorläufigen Eindruck davon vermitteln, welch hohes Reflexionsniveau bereits die Griechen in der Lehre von den Gesetzen erreicht hatten. Mir scheint, daß die wesentlichen und noch immer aktuel­ len Grundfragen zur Funktion des staatlichen Gesetzes vor- oder angedacht worden sind. - Es trifft sicher zu, daß das Abendland die methodische Rechtswissenschaft von den Römern gelernt hat. Aber abgesehen davon, daß die Römer wiederum von den Griechen gelernt hatten, kann der unmittelbare Einfluß der vornehmlich von der Scholastik auf christlicher Grundlage weitergeführten Traditionen der griechischen Rechtskultur auf diejenige des Abendlandes nicht hoch genug eingeschätzt werden.

D er N om osbegriff der Polis Von H ans-Joachim G ehrke

Für die griechische Geschichte war es von ausschlaggebender Bedeutung, daß sich die charakteristische Form der soziopolidschen Organisation, die Pölis, gerade auf schriftlich fixierte und juristisch gehißte N onnen, auf thesmoi bzw. nomoi, auf Satzungen und Gesetze stützte, so daß die Worte ot νόμοι geradezu als Synonym für „Verfassung“ bzw. für den rechtlich sanktionierten Teil der politischen O rdnung verwendet werden konnten1. Es waren vor allem V iktor E hrenberg2, K urt L atte 3 und H ans J ulius W olff4, die diesen Sachverhalt durchdacht und heraus­ gearbeitet haben. Meine Überlegungen gehen prinzipiell in dieselbe Richtung, und insofern kann ich nicht direkt mit Neuigkeiten aufwarten. Doch während die Ge­ nannten und andere den Akzent auf die Analyse der spezifisch rechtlichen Elemente in ihrer Isolierung von religiösen und sozialen Faktoren gesetzt haben - W olff spricht geradezu von „Legalismus“5 - geht es mir eher um eine Synopse, um den Zusammenhang religiöser, sozialer, politischer, kultureller und rechtlicher Faktoren und deren Verquickung, in Anlehnung an die Rechtssoziologie M ax W ebers. Heute würde man - ich verweise auf die neue Sammelpublikation von Paul C artledge, Paul M illett und Stepen Todd 6 - eher von Anthropologie sprechen, aber dasselbe meinen. Dieses Zusammenhalten7 scheint mir unerläßlich zu sein, um die 1 H . J. W olff , Vorgeschichte und Entstehung des Rechtsbegriffs im frühen Christentum, in: W. F i ­ xe n ts c h e r u. a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, Freiburg 1980, 562. 2 V. E hrenberg , Die Rechtsidee im frühen Griechentum. Untersuchungen zur Geschichte der werdenden Polis, Leipzig 1921 (Nachdruck Darmstadt 1966). Weiteres findet sich in der Samm­ lung V. E hrenberg , Polis und Imperium. Beiträge zur Alten Geschichte, Zürich und Stuttgart 1965 (bes.: When Did the Polis Rise?, S. 83 ff.; Von den Grundformen griechischer Staatsordnung, S. 105 ff.; Eunomia, S. 139 ff.; Der Damos im archaischen Sparta, S. 202 ff. 3 K. L atte , Der Rechtsgedanke im Archaischen Griechentum, Antike und Abendland 2, 1946, 63 ff., jetzt in: ders.. Kleine Schriften zu Religion, Recht, Literatur und Sprache der Griechen und Römer, München 1968, 233 ff. und in: E. Berneker (Hrsg.), Zur griechischen Rechtsgeschichte (WdF 45), Darmstadt 1968, 77 ff. (danach zitiert). 4 Bes. H . J. W olff , Gewohnheitsrecht und Gesetzesrecht in der griechischen Rechtsauffassung, in: Deutsches Landesreferat zum VI. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Hamburg, 1962, 3 ff., jetzt in: Berneker (wie Fn. 3) 99 ff.; W olff (wie Fn. 1) 557 ff. 5 W olff (wie Fn. 1) 560. 6 P. C artledge /P. M illet/S. Todd (Hrsg.), Nomos. Essays in Athenian law, politics and society, Cambridge 1990. Dort ist explizit von der sozialen „Einbetuing“ (15) die Rede. Das zeigt, daß man in der Tradition von K arl Polanyi und M oses F inley steht, die heute ja gerade in Cambridge besonders gepflegt wird. Aber genau damit ist auch M ax W eber nicht fern. 7 Der Zusammenhang zieht sich durch die Epochen hindurch und soll nicht nur für die Archaische Zeit gelten, wo man ihn ohnehin zugibt und dann z. B. von „predroit“ spricht, s. L. G ernet , Droit et predroit en Grece ancienne, L’A nnee Sociologique, 3me serie, 1948/49, 21 ff., jetzt in: ders., Anthropologie de la Grece, Paris 1968, 175 ff.

Hans-Joachim Gehrke

die Polis tragende Normativität in toto zu erfassen und auch den Stellenwert des spezifisch Rechtlichen genauer zu bestimmen. Dazu zwingt nicht zuletzt auch die nie völlig verlorengegangene Grundbedeutung von nomos, die sich nicht im Juristischen erschöpft. Die rechtshistorischen Positionen sind also in meiner O ptik „aufgehoben“ (in Hegelschem Sinne). Mein Vortrag gliedert sich in zwei Teile. Zunächst werde ich auf Inhalte und Umstände derjenigen Gesetze bzw. gesetzlichen Regulierungen eingehen, die in der Archaischen Zeit, vornehmlich also im 7. und 6. Jh., die Poleis als Ordnungen von thesmoi bzw. nomoi konstituierten (I. Die Begründung der Gesetzesherrschaft in der Archaischen Polis). Im zweiten Teil gehe ich der Frage nach, wie sich die Rolle der Gesetze in der Polis konkret darstellte. Dies geschieht am Beispiel Athens im 4. Jh., das allein für diesen Teil der Thematik das nötige Material bietet (Π. D er Charakter der Gesetzesherrschaft in der Klassischen Polis).

I. D ie B egründung

der

G esetzesherrschaft

in der

A rchaischen P o u s 8

Wegen des zu besonderer Skepsis, ja zum Agnostizismus tendierenden aktuellen Forschungsstandes9 ist für die Phase der Polisentstehung in der Archaik eine beson­ dere methodische Sensibilität gefragt. Man hat sich vor allem und immer wieder über die Benutzung der Quellen und deren graduellen Wert Rechenschaft abzulegen. Ich 8 Meinen Standpunkt zu diesem Teil der Thematik habe ich ausführlicher dargelegt in meiner Abhandlung Gesetz und Konflikt. Überlegungen zur frühen Polis, in: Colloquium für A lfred H euss, hrsg. von J. Bleicken (FAS 13), Kallmünz 1993, 49 ff. Auf diese sei generell verwiesen. Gerade in den letzten Jahren ist die archaische Gesetzgebung intensiv erforscht worden. Ich nenne nur die wichtigsten Arbeiten. Eine der meinen ähnliche Zielsetzung verfolgte M. G agarin , Early Greek Law, Berkeley u. a. 1986 (s. hierzu aber die Rezension von K.-J. H ölkeskamp, Gnomon 62,1990,116 ff.). Wichtige Teilaspekte diskutieren W. E der , The Political Significance of Law in Archaic Societies: An Unconventional Hypothesis, in: K. A. R aaflaub , Social Struggles in Archaic Rome. New Perspectives on the Conflict of the Orders, Berkeley u. a. 1986, 262 £f.; M. Stahl , Aristokraten und Tyrannen im archaischen Athen, Stuttgart 1987; G. C amassa, Aux origines de la codification ecrite des lois en Grece, in: Les savoirs de l’ecriture en Grece andenne, sous la direction de M. Detienne, Lille 1988,130 ff.; S. L ink , Landverteilung und sozialer Frieden im archaischen Griechenland (Historia Einzelschriften 69), Stungart 1991; A. M affi, Leggi scritte e pensiero giuridico, in: G. G ambiano /L. C anfora /D . L anza (Firsg.), Lo spazio letterario della Greria anoca, I, Rom 1992, 419 ff.; K arl-Joachim H ölkeskamp hat zu der Thematik eine umfassende Habilitationsschrift vorgelcgt. Sie ist noch nicht veröffentlicht, doch habe ich nach Gesprächen und freundlichen Firn weisen den Eindruck, daß wir in vielen wichtigen Dingen kon­ form gehen. Generell zum Diskussionsstand vgl. jetzt H.-J. G ehrke (Hrsg.), Rechtskodihzierung und soziale Normen im interkulturellcn Bereich (ScriptOralia), Tübingen 1994 (voraussichtlich). 9 Der wichtigste Ausgangspunkt der Skepsis waren F. J acobys Studien zur attischen Lokalge­ schichtsschreibung (s. bes. F. J acoby, Atthis, Oxford 1949), der auf das Fehlen einer schriftlichen Tradition vor H erodot hingewiesen hat. Obwohl seine Argumentation eine spezifische Zielset­ zung hatte (sie richtete sich primär gegen W ilamowitz - M oellendorffs problematische Theo­ rie einer attischen Pricsterchronik) und J acoby selber keineswegs dem Agnostizismus huldigte, hat man zum Teil aus sehr berechtigter Quellenkritik zu radikale Konsequenzen gezogen. Andererseits sind die Tendenzen zu Verformung u n d ,Pseudo-Historie* nicht wegzuleugnen: Mangels Kenntnis

O er Nomosbegriff der Polis

15

gehe deshalb - erstens - von denjenigen Inschriften aus, die nomoi bzw. vergleichbare Regelungen unmittelbar darstellen, also unser zweifelsfrei authentisches Material bilden. Zweitens verfugen wir über ebenfalls authentische Äußerungen von Gesetz­ gebern oder von Personen, die mit ihnen in zeitlichem Zusammenhang oder gar persönlicher Verbindung standen, und zwar innerhalb der griechischen Lyrik (beson­ ders in den Fragmenten Solons). Dazu kommen inschriftlich erhaltene Gedichte (Grabepigramme vor allem)10. Diese Primärquellen bilden die Grundlagen unserer Rekonstruktion. Sie liefern zu­ gleich auch das Kriterium für die Kontrolle bzw. Gewichtung der späteren Überliefe­ rung, in der - drittens - Berichte über die verschiedenen Gesetzgeber und ihre Aktivitä­ ten vorliegen, besonders bei den Rednern, in der Staatstheorie (vor allem bei Aristoteles) sowie in der diese reflektierenden und noch späteren biographischen Tradition. Mit der Zusammenstellung und Auswertung dieser Dokumente und Zeugnisse beschäftige ich mich zur Zeit im Rahmen eines Teilprojektes des SFB 321: „Über­ gänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“. Insofern kann ich hiermit auch eine Zwischenbilanz ziehen: 1. Von den einschlägigen Inschriften aus dem 7. bis zum beginnenden 5. Jh. stam­ men die wichtigsten aus folgenden Poleis: Chios (ca. 575-550), Dreros (+ /—600) und weiteren kretischen Städten (vor allem Axos, Eleuthema, Eltynia, G ortyn, Lyttos, im wesentlichen 6. bis Anfang 5. Jh.), Tiryns (+ /—600), Lokris (um 500), Elis (500-475). Aus der Gesetzgebung D rakons (Ende 7. Jh.) kennen wir ein Stück, allerdings in einer Redaktion des ausgehenden 5. Jh.s. Mit einer Ausnahme (Lokris, und auch das bleibt allgemein) sind die unmittelbaren Gründe für die Fixierung der Texte nicht

und in Verbindung mit jeweils unterschiedlichen aktuellen Interessen ist die Vergangenheit nicht selten ganz anachronistisch aus der Gegenwart heraus geschaffen und mit Leben erfüllt worden. Da es sehr oft um Prinzipien der politischen Organisation ging und deswegen gerade nach deren Ursprüngen gefragt wurde, hatte die Nomotheuk einen besonderen Stellenwert. Sie geriet so in den Kontext zeitgenössischer Diskussion des ausgehenden 5. und des gesamten 4. Jahrhunderts v. Chr. Insbesondere der Gesetzgeber Solon wurde aus der Perspektive der seinerzeitigen atti­ schen Staatsform bald als radikaler Demokrat verteufelt oder gepriesen, bald als »liberaler' Mann der Mitte gefeiert (hierzu s. vor allem A. F uks, The Ancestral Constitution, London 1953; E. Ruschenbusch , ΠΑ ΤΡΙΟΣ ΠΟΛΙΤΕΙΑ. T heseus , D rakon , Solon und K leisthenes in Publi­ zistik und Geschichtsschreibung des 5. und 4. Jahrhunderts, Historia 7, 1958, 398 ff.; Μ. I. F in ­ ley, The Ancestral Constitution, Cambridge 1971; C. M ossi, Comment s’elabore un mythe po­ litique: So lon , „pfene fondateur“ de la democratic athenienne, Annales 34, 1979, 425 ff.). Auch außerhalb Athens bietet sich ein ähnliches Bild, indem etwa die Machtergreifung des korinthi­ schen Tyrannen K ypselos als der Zugriff eines abgefeimten Demagegen erscheint. Aber auch be­ rechtigte Kritik darf nicht dazu veranlassen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wer von sich sagt: .1 am the sort of Greek historian who believes that Greek history begins in 431 B. C., and for whom Drakon and Solon are primarily figures of classical Athenian myth than of archaic reality“ (S. C. To d d , in: Symposion 1990, Köln u. a. 1991, 49), mag sich hak mit der griechischen Ge­ schichte nach 431 begnügen. (Zu der hier angesprochenen Tendenz vgl. auch G ehrke [wie Fn. 8] 49 f. und demnächst ders., La storia politica ateniese archaica e lAthenaion Poüteia, in: LAthenaion Politeia di Aristotele. VI Incontro Perugino di Storia della Storiografia, a cura di G. M ad doli). 10 Zusammenstellungen des Materials s. bei H ölkeskamp (wie Fn. 8) 122 f. und G ehrke (wie Fn. 8) 50 ff.

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explizit erwähnt, lassen sich aber aus den Regulierungen selbst m ehr oder weniger klar erschließen. - Das Gesetz aus Chios11 regelt Fragen der Rechtsprechung, insbesondere des Zusammenspiels der daran beteiligten Institutionen Volk(sversammlung), Rat des Volkes, Amtsträger (Demarchen, Basileis). ln den erhaltenen Fragmenten ist die Haupttendenz das Bemühen um die Festschreibung des Rechtsweges: Entschei­ dungen über bestimmte Angelegenheiten werden verbindlich gemacht, insofern Amtsträger bei Strafandrohung zum Amtieren verpflichtet werden und für das Ratsgremium regelmäßige Sitzungstermine bestimmt sind. - Die lapidaren Bestimmungen aus D reros12 betreffen primär die Amtszeit der wichtigsten politischen Funktionäre, die vor allem als Richter und Schlichter tätig waren (der sog. Kosmen). D urch ein Iterationsverbot auf 10 Jahre sollte offenbar eine Konzentration von zu großer Macht verhindert oder auch eine »Chancen­ gleichheit* unter den in Frage Kommenden gewährleistet werden. Andere, sehr schwer deutbare Regelungen konzentrieren sich auf die Integration von offensicht­ lich älteren, sozusagen prä-politischen Einheiten (Phylen) und besonders wichtige Aktivitäten (Jagd) innerhalb der politischen Gemeinschaft. - Regelungen aus Axos gelten den Verpflichtungen und Rechten von bestimmten Handwerkern, die der Gemeinde als Entrepreneurs gegenüberstehen (I Cret Π 5, 1.2). Eine Sakralvorschrift (I Cret Π 5,9, vgl. τά ήγραμενα) beinhaltet eine Ver­ pflichtung des Kosmos zur Strafverfolgung und stellt sicher, daß auch die Ge­ meinde einen Anteil an den jeweiligen Bußgeldern erhält13. - Ähnliche Vorkehrungen sind aus Eleuthema bekannt, wo wir zusätzlich Indizien für eine juristische Berücksichtigung auch von Nichtbürgem finden (I Cret Π 12,3 f. 9.11.13)14. - Aus Eltynia kennen wir ein Gesetzesfragment (I Cret 1 10,2), das Körperverletzung und Beleidigung von Knaben und Jugendlichen regelt Es macht das Bußgeld abhängig von der Schwere des Delikts, dessen O rt und M otiv15. Dabei erhält die Polis vermittels der Kosmen, die für die Rechtsprechung zuständig sind, einen Anteil vom Bußgeld. Verfahrensregeln (bes. Fnsten) dienen der Verbesserung der Rechtssicherheit. Markant erscheint hier die Bemühung um den Schutz der Ehre im Konfliktfalle als Sache der Polis. 11 Hierzu s. bes. G ehrke (wie Fn. 8) 51 f.; vg|. darüber hinaus C. R oebuck , Chios in the Sixth Century B. C , in: J. Boardman und C. E. Vaphopoulou -Rjchardson (Hrsg.), Chios. A Conference at the Homereion in Chios 1984, Oxford 1986, 86 f. 12 G ehrke (wie Fn. 8) 53 f.; dazu ferner H . van E ffenterre , Pierres inscrites de Dreros, BCH 85, 1961,547 ff. (von mir zunächst übersehen; damit entfallt auch der direkte Bezug auf die Agelai 54 mit Fn. 26). 13 Vgl. ferner den Text L. H. J effery, JHS 69, 1949, 34 ff., in dem es ebenfalls um Entrepreneurs und um Aufgaben des Kosmos geht. Zur Daderung des Axos-Textes s. dies., The Local Scripts of Archaic Greece, Oxford 21990,310.314 sowie H . u. M. van E ffenterre , BCH 109,1985,168. 14 Eine ganze Reihe nicht mehr deutbarer Fragmente belegen auch für Eleuthema eine beachtliche Regelungsdichte. 15 Z. 5 ff.: [ai] δέ κ’άνήρ τον πηίσκον παίηι μή - - τον ήν άνδρηίοι ήν άγ[έ]λα[ι] ή συν[β]ολήτραι ή *πΐ κορδι ή ’ πι ν η ο . . . η - - ai δε κ’ άγέ[λ]α[ος] τον πηίσκον όνη[δήι] ά ήγραται αΐ ές καιρόν ήμ[εν - -] κόσμος γ[ι]γνόσκεν όμνύντας . . .

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- Gesetze aus G ortyn (nach G uarducd aus der ältesten Zeit, d. h. vorwiegend aus dem Pythion und ins 7. und 6. Jh. zu datieren16) betreffen den Rechtsweg in verschiedenen Fallen und kennen dabei ebenfalls die Unterscheidung von Bürgern und Fremden (I Cret IV 1.4. bes. 13). D er Strafe sind auch die Oberbeamten, die Kosmen, ausgesetzt, für die es sogar eine Kontrollinstanz, den „Strafer“ (Titas) gibt. Im übrigen gilt für die höchsten Beamten eine Einschränkung der Iteration (I Cret IV 14 f.). Zur Friedenswahnmg greift die Gemeinde auch in den Bereich der Oikoi ein, im Falle eines Konflikts zwischen leiblichen und adoptierten Kindern (I Cret IV 21); auch die Bestattungen unterliegen der Aufsicht der Gemeinschaft (I Cret IV 22). - Die Kontrolle der Kosmen durch eine spezielle Instanz kennt auch ein jüngst publiziertes Dekret aus Lyttos (ca. 500, H . und M. van E ffenterre BCH 109, 1985,163 A), das im übrigen auf ältere Beschlüsse Bezug nim m t17. Auffällig ist (nebenbei gesagt, denn das kann hier nicht vertieft werden) die große Dichte der Zeugnisse von der Insel Kreta, die sich ja auch in der literarischen Tradition auswirkte. Neben den hier genannten Fragmenten gibt es zahlreiche andere, nicht m ehr deutbare, die immerhin belegen, daß so etwas wie der „Law Code" von Gortyn durchaus kein Einzelfall war, sondern daß es umfangreichere Komplexe von Regelungen bereits vorher in verschiedenen Poleis gegeben h a t - In dem sehr schwer lesbaren und schlecht erhaltenen Gesetz aus Tiryns18 werden unter Bezugnahme auf das Volk - die Amtspflichten eines Funktionsträgers geregelt, der womöglich eine ebenfalls prä-politische Organisadon, eine Speiseund Trinkgemeinschaft, repräsentiert. - Das lokrische Gesetz19 nennt sich explizit θεϋμός. Sein Gegenstand (und Anlaß) war eine partielle Neuverteilung von Land. Hier werden die nunmehr geltenden Be­ sitz- und Eigentumsverhältnisse mit größtmöglichem Nachdruck garantiert. Dabei sind die kontrollierenden Vorschriften, Organe und Instanzen ausdrücklich genannt - Die verschiedenen einschlägigen Bestimmungen aus Elis20 gelten zum einen der bürgerlich-rechtlichen Absicherung eines Schreibers in seiner persönlichen Integri­ tät wie seinem Besitzstand, gemeinsam mit entsprechenden Garanden für die

16 Die von M. G uarducci, Intomo alle vicende e alTeta della grande iscrizione di Gortina, RFIC 66,1938,264 ff. begründete und in 1Cret IV p. 40 resümierte Datierung beruht auf paläographischen und archäologischen Kriterien und wird weithin akzeptiert. Die späteren Texte, die kurz vor (I Cret IV 41-71) oder gleichzeitig mit dem sog. law code (72-140) angesetzt werden, finden hier, da es uns um die unbestritten archaischen Dokumente geht, keine Berücksichtigung. Sie setzen aber ganz eindeutig die alten Traditionen der Gesetzgebung fort und bleiben für die Deutung der älteren Texte wichtig. Das berühmte Gesetz von Gortyn liegt jetzt in einer gut bebilderten Ausgabe nebst englischer Übersetzung vor: The Law Code of Gortyn. Edited with introduction, translation and a commentary by R. F. W illets (Kadmos Suppl. 1), Berlin 1967. W illets’ Erläuterungen sind freilich nicht selten, gelinde gesagt, eigenwillig. 17 Zur Publikation vgl. auch die Hinweise von M. Bile , REG 101,1988,456 (= BE 879). Die übri­ gen Fragmente älterer Inschriften aus Lyttos gehören ebenfalls in den Rahmen von Gesetzgebung. 18 G ehrke (wie Fn. 8) 54 ff. 19 Ebd. 56 ff.; ferner s. neuerdings S. L ink , Das Siedlungsgesetz aus Westlokris (Bronze Pappadakis; IG DC 1, fase. 3, Nr. 609 = Meiggs-Lcwis 13), ZPE 87, 1991, 65 ff. 20 G ehrke (wie Fn. 8) 58.

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Verbindlichkeit des Rechtsganges. Zum anderen beinhalten sie sakrale Vorschrif­ ten, die die Bindung der Amtsträger an die „Schrift“ (γράφος) unterstreichen, die lediglich vom Volk in qualifizierter M ehrheit modifiziert werden kann. - Das bekannte drakonische Gesetz von 409/821 bezieht sich auf die Strafverfol­ gung in bestimmten Tötungsdelikten. Seinen Stellenwert innerhalb der atheni­ schen Rechts- und Verfassungsentwicklung hat besonders E berhard R uschen busch 22 verdeutlicht. Zusammenfassend gesagt geht es in den Regelungen durchweg und prim är um Fragen des Zusammenlebens der sich formierenden politischen Gemeinschaften, wobei auch ältere und neuere Organisationsformen ins Benehmen gesetzt werden. Schöpfer und Träger der Bestimmungen ist jedenfalls immer - soweit erkennbar - die Polis, die Gemeinschaft, die diese Satzungen beschließt. Überall ist eine Verbindlich­ keit angestrebt, die auch und gerade die höchsten Amtsträger betrifft und - in extremer Form - die Regelungen selbst. Denn diese sind, mögen sie auch mit einem speziellen Einzelfalle verbunden sein (z. B. einer Landverteilung), auf Dauer gestellt und sakral abgesichert (durch Eide und Fluchandrohungen, durch den O rt der Anbringung und womöglich durch die A rt des beschriebenen Steins23). Sie sind in den öffentlichen Raum gestellt, sofern man wenigstens jederzeit auf sie Bezug nehmen kann. Formell geht es in erster Linie um Rechtsveifahren, d. h. nach der damaligen Struktur des Rechts um die organisierte bzw. kanalisierte Form des Konfiiktaustrags. Substantiell stehen die Kompetenzen der einzelnen Institutionen, sakrale Verhaltensweisen sowie Probleme der Landverteilung zur Debatte. All dies läßt auf Gemeinschaften schließen, die über ein hohes Konfliktpotential und eine entwickelte Konfliktbereitschaft verfügen, besonders in interindividuellen Auseinan­ dersetzungen und in der Frage politischer Macht und Prestigevergabe sowie in dem Problem der Verteilung agrarischer Ressourcen (Grund und Boden)24.

21 R. S. Stroud , Drakon’s Law on Hom idde, Berkeley-Los Angeles 1968, dazu E. R uschen busch , Gnomon 46, 1974, 815; jetzt IG P 104. Zur historischen Interpretation hat jetzt S. H umphreys, A Historical Approach to Drakon’s Law on Hom idde, in: Symposion (wie Fn. 9) 17 ff. wichtige Beobachtungen bdgesteucrt. 22 E. R uschenbusch , ΦΟΝΟΣ. Zum Recht D rakons und seiner Bedeutung für das Werden des athenischen Staates, Historia 9, 1960, 129 ff., vgl. entsprechend auch Stahl (wie Fn. 8) 170 ff. (mit wdteren Hinweisen Fn. 86); zu wichtigen Aspekten s. D. N örr , Zum Mordtatbestand bei D rakon , in: Studi in onore di A. Biscardi, IV, Mailand 1963,631 ff.; G. T hür , Die Todesstrafe im Blutprozeß Athens, JJP 20, 1990, 143 ff. 23 Man denke an den Stein von Chios. 24 Aus Z dt- bzw. Raumgründen können hier drd Problemkreise nicht näher erörtert werden. Zum einen fragt sich, wie sich das aufgezeichnete zum vorher praktizierten Recht bzw. zu den älteren Regeln, die mündlich tradiert wurden, verhält. Es ist ja sehr wohl denkbar, daß bereits existierende Regeln (die auch bereits die Konfliktproblematik im Auge hatten) nun schriftlich festgehalten wurden. Unsere Texte müssen also nicht unbedingt die erste Stufe der Verrechtlichung darstellen. Sic bilden freilich eine qualitative Veränderung. Darüber hinaus kann sich aber, wenn diese einmal eingetreten ist, eine cigcngesetzlichc Tendenz zur Weiterentwicklung und Verfeinerung ergeben, zur Bezugnahme auf älteres Recht, etwa durch Ergänzung oder Korrektur (wie es im Recht von Gortyn deutlich wird). Ferner gab es offenbar verschiedene Wege der Gesetzgebung, durch die Einholung eines Orakels (das natürlich entsprechend vorbereitet war), die Ernennung eines mit

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2. Ein besseres Urteil über den Stellenwert der Gesetze und ihre Einschätzung durch die Zeitgenossen sowie über die historischen Umstände der Nom othedk insgesamt erhalten wir durch Solons Fragmente (welche uns aus Zeitgründen als Repräsentanten für die zweite Quellengruppe genügen müssen). Dessen Verse25 geben gerade den Blick frei auf die Situation, die seiner Gesetzgebung zugrundeliegt: Solon konstatierte ein ungezügeltes Streben nach der Vergrößerung des Reich­ tums gerade bei denen, die schon reich waren, bei Adligen und größeren Grundbesit­ zern also. D urch diese Bemühungen waren besonders kleinere, teils auch mittlere Bauern gefährdet. Wie auch immer man die komplizierten Probleme des vorsolonischen Boden- und Schuldrechts im einzelnen beurteilt oder zu lösen ver­ sucht26, eines war deutlich: Die Reichen versuchten, die ärmeren Bauern in ihre Abhängigkeit zu bringen, um auf diese Weise Arbeitskräfte zu gewinnen bzw. ihren Besitz zu vergrößern. Im schlimmsten Falle konnten die Bauern als Sklaven verkauft werden. Aber unabhängig davon und von der Frage ihrer Rechtsstellung insgesamt: Sie waren nicht m ehr frei. Daß sich aus diesen Zuständen bzw. der entsprechenden Gefährdung eine existenzielle Bedrohung des Friedens, ja der Integrität der Gemein­ schaft insgesamt ergab, daß Bürgerkrieg und Tyrannei drohten, hat Solon klar gesehen und in aufrüttelnder Weise vorgetragen (bes. 3,18 ff.): Es waren gerade die Hybris und die Ungerechtigkeit (αδικία) der Reichen, die er anprangerte (1,11.16 f. 3,5 ff. 18.34 ff.; 4,4.7.9 ff.; 5,9). Der Verstoß gegen das Recht war zugleich ein Verstoß gegen den göttlichen Willen, konkret gegen die G öttin Dike. Ihm zu begegnen vermochte man mittels einer Ordnung, die mehr war als eine bloße Rechtsordnung, nämlich mittels Eunomia. Das war eine Ordnung, in der rechtliche, sakrale und sozialnormative Elemente prägnant verbunden waren27. Diese „Wohlverfaßtheit“ beseitigte die Ursachen des Unrechts und den Konflikt selbst (3,34 ff.). Ihr Mittel dazu war zum einen die „Geradigkeit“ im Angesicht „schiefer Rechtssprüche“, also die Rechtlichkeit Es war aber an den Menschen selbst, d. h. den Bürgern, diese Eunomia zu realisieren und zu sichern28. Dazu waren sie als hauptsächlich Verant­ wortliche und jeweils auch einzeln Betroffene zuständig (3,5 ff. 26 ff.). Dabei reichte Rechtlichkeit allein nicht aus, nötig waren auch religiös-ethischer Respekt und damit verbunden - intellektuelle Einsicht Solon machte das zum Gegenstand seiner

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Vollmacht ausgestatteten Gesetzgebers und den schlichten Beschluß der Polis, des Volkes. Diese Differenz im Medium sollte allerdings nicht überschätzt werden, denn entscheidend war in jedem Fall die Dominanz eines wenigstens für den Moment vorhandenen Konsenses innerhalb der betroffenen Gemeinschaft. S. G ehrke (wie Fn. 8) 64 f. und jetzt vor allem M. Stahl , Solon F 3D. Die Geburtsstunde des demokratischen Gedankens, Gymnasium 99, 1992, 385 ff. (dort auch die ältere Literatur; von philologischer Seite kämen hierzu jetzt noch die Erörterungen von H .-G . N esselrath , Gött­ liche Gerechtigkeit und das Schicksal der Menschen in Solons Musenelegie, Museium Helveti­ cum 49, 1992, 91 ff.). Hierzu s. den Überblick bei G ehrke (wie Fn. 9). Zur Eunomia besonders wichtig sind die Bemerkungen von E hkenberg , Polis und Imperium (wie Fn. 2) 151 f. und jetzt Stahl (wie Fn. 25) 398 f. 401 f. »Die gute Ordnung des Staates ist identisch mit der seelischen Bereitschaft seiner Bürger, sich an sie zu halten“, so E h re n b e rg , Polis und Imperium (wie Fn. 2) 152.

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Lehre (3,30 ff.). Daß er diese in alarmierenden Gedichten verbreitete, war eine wesentliche Stütze seiner Gesetzgebung29. Die Grundkonflikte, denen sich Solon konfrontiert sah, waren also - zusammen­ fassend gesagt - die gerechte Verteilung des Ackerlandes und die damit zusammen­ hängende, nicht minder elementare Frage nach der persönlichen und politischen Freiheit. 3. Damit kommen wir zwanglos zu Solons Gesetzen, denn diese lassen sich primär, wie seine eigenen Äußerungen nahelegen, als Antwort auf die gerade skiz­ zierte Situation verstehen. Die an sich nicht unproblematische Verwendung von Zeugnissen aus der späteren Tradition ist in diesem Falle dank ausgezeichneter historisch-philologischer Vorarbeiten ziemlich gut abgesichert. Ein Katalog von So ­ lons Gesetzen kann sich daher weitgehend an E berhard R uschenbuschs Zu­ sammenstellung orientieren30. Hier habe ich nur herangezogen, was im weitesten Sinne der eingangs aus den Inschriften erarbeiteten Synopse entspricht, denn diese Gemeinsamkeiten sind ungemein charakteristisch: a) Durch institutionelle Regelungen wurde das politische System verändert: Das passi­ ve Wahlrecht zu bestimmten Ämtern wurde vom Vermögen abhängig gemacht Beim Volk lag jedoch das aktive Wahlrecht und die entscheidende Beschlußfassung. Ein Gremium (Rat) organisierte dessen Versammlungen. Ältere Einheiten der politischen Binnenstruktur, die Phylen, wurden in dieses System integriert31. b) Besondere Aufmerksamkeit widmete Solon der rechtlichen Schlichtung von Konflikten. Letztendlich lag die Entscheidung beim Volk, denn dessen Gerichte bildeten beispielsweise die Appellationsinstanz gegenüber Entscheidungen der Beamten (άρχαί) (Plut. Sol. 18,3; Ath. pol. 9,1). Charakteristisch war besonders die sog. Popular-Klage, mittels derer die Möglichkeit, Klage zu erheben, in bestimmten Delikten auch den nicht unmittelbar Geschädigten, also jedem an­ deren Bürger offenstand32. Das Volk wurde so in gewissem Sinne eine Soli­ dargem einschaft33. Ganz wichtig war eben die Sicherheit, daß Streit geschlichtet

29 Den »didaktischen' Aspekt von Solons Wirken unterstreicht jetzt auch Stahl (wie Fn. 25) 395 f. Zum Zusammenhang von Gesetzgebung und literarischer Tätigkeit vgl. N. L oraux , Solon et la voix de l’ecrit, in: Detienne (wie Fn. 8) 95 If. 30 E. R uschenbusch , ΣΟΛΩΝΟΣ NOMOI. Die Fragmente des solonischen Gesetzeswerkes mit einer Text- und Uberlieferungsgeschichte (Historia Einzelschriften 9), Wiesbaden 1966; zur Aufzeichnung selbst s. R. S. Stroud , The Axones and Kyrbeis of D rakon and So lon , Berkeley u. a. 1979; N . R obertson , So lon ’s Axones and Kyrbeis, and the Sixth-Century Background, Historia 35, 1986, 147 ff. 31 Grundlegend hierfür ist nach wie vor G. Busolt - H . Swoboda , Griechische Staatskunde Π, München 1926, 839 ff.; für Details (besonders zu Rat, Volksversammlung und Ekklesie) s. die Bemerkungen von K. W. W elwei, Die griechische Polis, Stuttgart u. a. 1983, 158 ff., zum Gesamtzusammenhang vgl. M. O stwald, From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law, Berkeley u. a. 1986. 32 Vgl. auch R uschenbusch (wie Fn. 30) F 40. 138a. 33 Den Solidaritätsgedanken unterstreichen bes. L atte (wie Fn. 3) 97 und E hrenberg , Polis und Im penum (wie Fn. 2) 112. - Zu dieser Tendenz paßt besonders gut das sog. Stasisgesetz Solons . Es unterliegt zwar gravierenden Einwänden hinsichtlich seiner Authentizität (s. bes. J. Bleichen, Zum sogenannten Stasis-Gesetz Solons , in: ders. [Hrsg.], Symposion für A lfred H euss [FAS

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wurde und daß man sein Recht finden konnte, daß ein Kläger und daß ein Rich­ ter war. Auch vor den Oikoi machten die Gesetze nicht halt, zumal wenn deren Bestand nicht gewährleistet war oder interner Mißbrauch herrschte: Das betraf Fragen des Testaments, des Epiklerats, der Altersversorgung, des sexuellen Schutzes34. Dar­ über hinaus wurden Praktiken eingeschränkt, die im Prestige- und Konkur­ renzdenken der Adligen ihren Ursprung hatten, durch Gesetze gegen übertriebe­ nen Bestattungs- und Hochzeitsaufwand und gegen verschiedene Formen von Beleidigung. Auch wirtschaftliche Zustände wurden zum Teil gesetzlich geregelt. Schließlich waren auch Sicherungen gegen den Umsturz der O rdnung und ge­ gen die Errichtung einer Alleinherrschaft vorgesehen35. Kurzum: Was Konflikte brachte bzw. bringen konnte, wurde in die Bahnen einer rechtlichen Regulierung gelenkt - letztendlich durch die Gemeinde in organisierter Form, c) So wurde dieser radikale Eingriff in die öffentliche Ordnung und den privaten Bereich durch Eide abgesichert, welche das Volk ablegte und später die jeweiligen Funktionäre des Volkes, Ratsherren und Beamte, zu leisten hatten36. Die wesent­ liche Garantie jedoch sollte im solidarischen Engagement der Bürger liegen, für den anderen und für die Gemeinschaft, die Polis. Gerade deshalb aber waren die rechtlichen Regelungen allein nicht ausreichend. Wesentlich war deren Sicherung, und dazu waren noch andere Faktoren nötig, in die die rechtlichen Elemente gleichsam eingebettet waren: Die Eide zeigen die religiöse Sanktionierung. Diese lag per se nahe, da ohnehin das traditionelle, auch vorsolonische Rechtsverfahren, die Orientierung an den themistes, mit Zeus als dem H üter des Rechts verbunden war37. In der Phase der Nom othedk scheint neben Zeus beson­ ders Apollon, als Orakelgott, damit aber als Schlichter und Ordnungsgeber, beson­ dere Bedeutung gewonnen zu haben38. Die Sakralität des Rechts war jedenfalls ganz selbstverständlich. Solon hat sie freilich wesentlich intensiviert, indem er die Religio-

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12], Kallmünz 1986,9 ff., vgl. ferner auch C. P eccorella L ongo , Sulla legge ,Soloniana‘ contra la neu trailti. Historia 37,1988,374 ff.), aber es paßt eigentlich nur in die Zeit und zu der Tendenz Solons , s. demnächst G ehrke (wie Fn. 9) Anm. 76. Ruschenbusch, a. O . (wie Fn. 30) F 26-31. 47-58, zu wichtigen Einzelaspekten s. vor allem L. G ernet , La creation du testament, REG 33,1920,159,271. 274 ff. 281; D. A sheri, Law of Inheritance, Distribution of Land and Political Constitutions in Ancient Greece, Historia 12, 1963,1 ff.; L. Lane Fox, Aspects of Inheritance in the Greek World, in: CRUX. Essays in Greek History pres, to G.E.M. de Ste. Croix on his 75th birthday, ed. by P. A. Cardedge-F. D. Harvey, London 1985, 223 ff. R uschenbusch (wie Fn. 30) F 32.33.37.65-74, vgl. auch o. Fn. 33 zum Stasisgesetz. Ath. pol. 7,1; Plut. Sol. 25,3 Hierzu s. bes. E hrenberg , Rechtsidee (wie Fn. 2) 6 ff., der gerade den Zusammenhang von Dike, „geraden“ Rechtssprüchen und dikaion bei Hesiod hervorhebt: Schon da ist Dike der Grund, die Basis der Gemeinschaft, ist die Polis eine Rechtsordnung in dem Sinne, daß die Οέμιστες die Dike gleichsam zum Ausdruck bringen (bes. 17 f.); generell vgl. auch Wolff (wie Fn. 1) 568 ff. sowie M. E rler , Das Recht (ΔΙΚΗ) als Segensbringerin für die Polis, Studi Italiani 80, 1987, 5 ff. Man denke an den Anbringungsort der Gesetze z. B. in Gortyn (Pythion) oder an die sog. Große Rhetra, vgl. auch J. Brause, Hermes 49, 1914, 105 (zu I Crct IV 51).

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sität stark ethisch auflud39, sie gerade auf moralisches Verhalten bezog bzw. Fehlver­ halten ziemlich genau auch ethisch-moralisch klassifizierte, überhaupt spielte das Ethos eine wesentliche Rolle vor allem in Solons Gedichten40. Er wußte, daß auch ein bestimmter Geist vonnöten war, damit das System stabil blieb. Seine komplexe O rdnung kam ohne Moral und Religion nicht aus, wie nicht zuletzt der umfassendintegrale Eunomia-Begriff signalisiert41. Dennoch hatte auch so das Recht einen spezifischen Stellenwert. Solon selber spricht davon, daß er βία und δίκη, Gewalt und Recht, zusammengefiigt habe (24,16)42. An sich war dies, gerade angesichts dessen, was er selber lehrte, eine concordia discors. In der Tat war die Rechtsordnung ein Zwangssystem, das alle, auch die Mächtigen, umfaßte. Dieser Zwang allerdings wurde nicht von einer religiös­ moralischen Autorität ausgeübt noch von einem Apparat, wie wir das aus anderen historischen Kontexten kennen. Er ruhte vielmehr in einem bestimmten Verhalten und Procedere, in der Gestalt eines mit Strafe bzw. Buße sanktionierten Tuns und Lassens, das nach gewissen Regeln verfuhr, die bekannt waren. Deshalb war auch die Schriftlichkeit der Gesetze zwangsläufig. Sie war die Voraussetzung für die ange­ strebte Kontrolle, auch und gerade der Amtsträger, der höchsten Repräsentanten der Gemeinde. Dafür, daß die Bußen zustande kamen und damit die Sanktionen griffen, war die Gemeinschaft zuständig bzw. wiederum ein genau geregeltes Verfahren, nach dem man klagen konnte und einen Richter fand43. Eine vergleichbare Tendenz ist auch bei anderen der hier herangezogenen Gesetze erkennbar. Sie ist geradezu ein wesentliches, wohl das zentrale Kennzeichen dieser nom othetischen4Phase der griechischen Geschichte: Die Regeln bildeten gleichsam den Zwangsapparat, an den rechtlich formierte Staatsgewalt gebunden war, ein Regelwerk, das göttlich-normativ abgesichert war, aber wesentlich in sich selber ruhte und das Rückgrat der politisch-sozialen Gemeinschaft bildete. Hierin spiegelt sich die von W olff44 hergestellte Beziehung von legislatorischer Autorität und 39 Gerade wenn man - zu Recht - die Trennung von Menschlichem und Göttlichem und damit die Akzentuierung der menschlichen Eigen Verantwortung betont (so jetzt bes. Stahl [wie Fn. 25]), muß man beachten, daß hinter dem menschlichen Verhalten auch ein striktes System gött­ licher Gerechtigkeit steht. Auch in diesem Sinne ist jetzt besonders wichtig die Studie von B. M anuwald , Zu Solons Gedankenwelt, RhMus 132, 1989, 1 ff. Daß sich soziale Normen und religiöse Vorstellungen durchweg sehr nahestehen, hat nicht zuletzt M ax W eber immer wieder betont, vor allem in seiner Auseinandersetzung mit dem neukantianischen Rechtsphilosophen R udolf Stammler (Wirtschaft und Gesellschaft, hrsg. v. J. W'inckelmann , Tübingen 51972, 189 ff.) - Daß hinter der Ethisierung der Religion auch Einflüsse seitens der benachbarten Hochkulturen stehen können, sollte stärker beachtet und in Zukunft weiter untersucht werden. Generell vgl. zur Religiosität in dem hier beschriebenen Spannungsfeld auch W. Burkert , Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart u. a. 1987, 371 ff. 40 „Die einzige Therapie, die dem Gemeinwesen helfen kann, ist bei Solon somit eine veritable Revolution der Werte“ (Stahl [wie Fn. 25] 402). 41 Zu diesem s. o. Fn. 27. 42 Hierzu s. vor allem E hrenberg , Polis und Imperium (wie Fn. 2) 149. 43 Zur Bedeutung des Verfahrens in diesem Rahmen vgl. auch N. L uhmann , Legitimation durch Verfahren, Frankfurt 21975, 40. 44 W olff (wie Fn. 1) 567 ff.

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legalisdschem Verständnis der klassischen Zeit wider: Die Autorität des Gesetzgebers lag in seinen Gesetzen. U nd in deren Autorität befanden sich die Politen. Die Wechselbeziehung von religiöser Verankerung und menschlich-politischer Aktivität kommt in der Niederschrift der Gesetze symbolhaft zum Ausdruck. In den Zusam­ menhang der geradezu beschwörenden Sanktionierungen der gesetzten N orm dürfte auch eine wesentliche Funktion der Verwendung der Schrift gehören: die buchstäb­ liche Fixierung und Perennierung auf stabilem Material, Holz, Stein, ja Bronze, welche die Regeln unauslöschlich festbannen wollte. Aber Menschen hatten diese Regeln gemacht und konnten sie gerade deswegen bewahren und schützen, weil sie bekannt und zugänglich waren. N un könnte und m üßt man, neben den schon erwähnten gut bezeugten Beispie­ len, auch noch andere, vor allem in der späteren Tradition greifbare Gesetzgebungen und N om otheten heranziehen, zumal ja gerade dort die Nom othetik als ein allge­ meines Phänomen der griechischen Geschichte erscheint43*45. Aus Zeitgründen muß ich mir das versagen, da mir eine Konzentration auf die authentischen Dokumente und die zeitgenössische Literatur wichtiger war. Kurz hinweisen möchte ich deshalb nur auf die großen unteritalischen Gesetzgeber (C harondas und Z aleukos)46. Auch dort finden wir starke - später berühmte - Fixierungen und Sicherungen der Gesetze, eine deutliche Betonung von Religion, £thos und O rdnung in ihrem Zusammenhang, die Regelung auch privater Verhaltensweisen47. Ähnliches gilt auch für die nomothetischen Aktivitäten der Tyrannen48, die sich generell in Inhalt wie Konstruktion der von ihnen ausgehenden Regeln nicht prinzipiell von den N om o­ theten unterschieden - Freilich die Gewalt und den Zwang vor allem mit ihrer Person verbanden, weswegen sie scheiterten. Für Sparta bietet die in mancher Hinsicht mysteriöse Große Rhetra mit ihrem Zusatz enge Entsprechungen, besonders auch zu den oben behandelten Inschriften49. 43 Vgl. die Hinweise o. Fn. 8. 46 Hierzu s. generell G. C amassa, Codificazione delle leggi e isrituzioni politiche delle dtta greche della Calabria in etä arcaica e classica, in: Storia della Calabria, a cura di S. Settis, Rom-Reggio C. 1987, 615 ff.; ders., fl ,pastorato‘ di Zaleuco, Athenaeum 74, 1986, 139 ff.; und jetzt vor allem S. L ink , Die Gesetzgebung des Zaleukos im epizephyrischen Lokroi, Klio 74, 1992, 11 ff. und ders.. Zur archaischen Gesetzgebung in Katane und im epizephyrischen Lokroi, in: G ehrke , Rechtskodihzierung (wie Fn. 8) 165 ff. 47 Diod. 12,12,1 ff.; 16,3. 20,1 ff.; Stob. Ed. 4,2,19 H. Zu Zaleukos in diesem Zusammenhang s. jetzt L ink (wie Fn. 46) 14 ff. 48 Zu den Kypseliden in Korinth (d. i. besonders Periander) s. vor allem Herod. 5,92 Ol; Ephoros FGrHist 70 F 178 f.; Aristot. fr. 516 R.; Diphilos fr. 32 K.; Herald. Pont. 5,2 (FHG II 212 f.); Nikol. Dam. FGrHist 90 F 58, vg|. hierzu bes. G. Z örner , Kypselos und Pheidon von Argos, Diss. Marburg 1971, 1% ff.; zu Pheidon von Argos vgl. T. K elly, A History of Argos to 500 B. C., Minneapolis 1976,101 ff.; zu den Peisistratiden s. jetzt Stahl (wie Fn. 8) 138 ff. 190 ff.; zu den Deinomeniden s. H. Ber ve. Die Tyrannis bei den Griechen, München 1967, I I 42 ff. Π 600 ff. 49 Zur Rhetra in diesem Zusammenhang s. G ehrke (wie Fn. 8) 60 f., basierend auf K. Bringmann , Die Große Rhetra und die Entstehung des spartanischen Kosmos, Historia 24,1975, 513 ff. und dems., Die soziale und politische Verfassung Spartas - ein Sonderfall der griechischen Verfas­ sungsgeschichte?, Gymnasium 87,1980,465 ff. - Angeblich hat Lykurg, der legendäre spartani­ sche Nomothet, keine schriftlichen Gesetze gegeben und den Gebrauch solcher sogar ausdrück­ lich untersagt (Plut Lyk. 13,1 ff.). Aber diese Aussage ist (wie die Lykurg-Figur selbst) ein späteres Konstrukt, ersichtlich aus einer Interpretation des Wortes βήτρα herausgesponnen. Es steht

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Darüber hinaus war schon den Griechen der Archaik bewußt, daß mit der Nom othedk auch ein bestimmtes Reflexionsniveau erreicht war. Die Kanonisierung früher Denker unter dem Stichwort der Sieben Weisen betraf gerade Gesetzgeber und nomothetisch besonders engagierte Tyrannen, Persönlichkeiten wie Solon , Periander und P ittakos 50. Überhaupt geht die intellektuelle Entdeckung der Ordnung, der Harmonie mit der Gesetzgebung Hand in H and: Daß der Begriff Kosmos für das Weltall gebraucht wurde wie für das organisierte Sparta ist dabei so wenig zufällig wie die eklatante Affinität von Wohlgesetzlichkeit und Wohlklang, von Gesetzgebung und Musik51. Fassen wir den ersten Teil zusammen: Angesichts konkreter interner Spannungen bzw. einer in der Gesellschaft und ihrer Mentalität angelegten Konflikthaldgkeit formulierte man in griechischen Gemeinschaften seit dem ausgehenden 8. und besonders im 7. und 6. Jh. verstärkt Regelungen, die sehr detailliert sein konnten, bis in das private Leben hinein. Sie suchten alle Mitglieder der Gemeinschaft und ihnen nachgeordnete Abhängige sowie in ihr lebende Fremde, besonders und gerade aber auch die höchsten W ürdenträger zu binden und einzubinden, und zwar vor allem in solchen Bereichen, die besonders konfliktträchtig waren. Gerade gegen die machtvol­ len Ansprüche der Reichen, die sich immer stärker zu einer Herrenschicht zu entwickeln suchten und zugleich auf individuelle Fehden aus waren, stand das Gesetz, ganz im Sinne von Schillers Wort „der Freund der Schwachen“. Gerade den Mächtigen sollte es nicht gelingen, sich dem Recht zu entziehen52. Gegen die protzenden und prunkenden Patrone war das Recht aber ziemlich prekär, denn es hatte es mit gewaltigen Energien zu tun, die niemand besser verstand und eindring­ licher beschrieb als Friedrich N ietzsche : „Ich sah ihren stärksten Instinkt, den Willen zur Macht, ich sah sie zittern vor der unbändigen Gewalt dieses Triebs - ich sah alle ihre Institutionen wachsen aus Schutzmaßregeln, um sich voreinander gegen ihren inwendigen Explosivstoff sicherzustellen“53. Stärkste Sicherungen waren also

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umgekehrt fest, daß die spartanischen Könige gerade die wichtigsten Orakel archivierten (Herod. 6,57). Da nun das »Grundgesetz*, die Große Rhctra, in Form eines Orakels gegeben war, war es schriftlich fixiert (vgl. Busolt-Swoboda [wie Fn. 31] I 41.44 f.). Man könnte sogar noch weiter gehen und sagen, daß die schriftliche Aufzeichnung von Orakeln gerade deshalb notwendig war, weil in diesen die religiös sanktionierten politischen Regeln steckten. Zu P ittakos , der gerade im Zusammenhang mit der hier verfolgten Fragestellung und auf Grund der durch Papyrusfunde verbesserten Quellenlage dringend einer neuen Untersuchung bedarf, s. vor allem F. Schachermeyer RH s. v., vgl. auch Hinweise bei H.-J. G ehrke , Stasis (Vestigia 35), München 1985, 370 Fn. 4.5. Diese Zusammenhänge waren ganz geläufig, vgl. etwa Aristox. ff. 123 W. (= Strab. 1,2,3); Plut Lyk. 4,2 f.; de mus. 6,1133 BC. 42,1146 BC; qu. conv. VII 8,41,713 B; Athen 14,627 E; generell vgl. bcs. E hrenberg , Rechtsidee (wie Fn. 2) 119 f. und jetzt die hier vorliegenden Beiträge von A. D ihle und W. K ullmann . - Wenn man an die überragende Rolle der Ma’at in der ägypti­ schen Kultur denkt, die jetzt J an A ssmann in einer brillanten Studie in allen Aspekten vorgestellt hat (Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990), dann wird man auch hier nach möglichen Beziehungen und Beeinflussungen zu fragen haben. Vor dem Hintergrund ethnologischer und historischer Vergleiche erhält dieser Sachverhalt bei W eber (wie Fn. 39) 449 besonderes Relief. F. N ietzsche , Götzen-Dämmerung, in: Werke, hrsg. v. G. C olli und M. M ontinari, VI 3, Berlin 1969, 151.

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Der Nomosbegriff der Polis

gefragt, gerade für die Gesetze selbst. Diese mußten in Ethos und Religion ruhen und mit Zwang verbunden sein, mußten Zwangsgewalt haben. So war bezeichnenderweise schon im ausgehenden 6. und im brühen 5. Jh. die Vorstellung vom Gesetz als Herrscher und Lenker ganz verbreitet54. Demnach konnte - jedenfalls theoretisch-konzeptionell - die Herrschaft der Gesetze ein Garant der Freiheit sein, eine weitere concordia discors. Wie es mit ihr in einer entwickelten Polis und konkret zuging, soll jetzt gezeigt werden.

Π. D er C harakter

der

G esetzesherrschaft

in der

Klassischen Po us

Will man wissen, wie die Griechen mit den so verstandenen Gesetzen operierten, welchen „Sitz im Leben** diese hatten, so hat man vor allem auf die attischen Redner des 4. Jhs. zu schauen. Ja, im Grunde erlauben nur die für Athen reichlich fließenden Quellen ein echtes Urteil. Entsprechend sind sie in der Literatur auch immer wieder ausgewertet worden. Ich will mich aber noch weiter konzentrieren, nämlich auf D emosthenes* Rede gegen T imokrates (or. 24, wohl 353/2 v. Chr.)55. Mit ihrer Hilfe will ich exemplarisch den Stellenwert der nomoi und den praktischen Umgang mit ihnen in der attischen Demokratie charakterisieren sowie das Selbstverständnis und den Reflexionsstand der mit ihnen praktisch Beschäftigten ermitteln. Das macht lange Erörterungen über die Bedeutungsbreite von nomos im politischen Kontext überflüssig und fuhrt uns am ehesten den Lebenszusammenhang der Gesetze vor56. Die Rede ist für diesen Zweck deshalb so geeignet, weil D emosthenes das für D iodoros verfaßte Plädoyer in einem gegen dessen Feind T imokrates gerichteten Verfahren wegen der Beantragung eines unangebrachten Gesetzes, einer γραφή νόμον μή επιτήδειον ϋεΐναι57, zum Anlaß nahm, die Rolle der Gesetze in der 54 N ur als markanteste Beispiele Pindar fr. 152B. (dazu s. jetzt die Interpretation in dem Beitrag von W. K ullmann); Heraklit. B 114 D.-K.; Orph. Hymn. 64, 1 ff. 55 Zum Datum der Rede, ihrem historischen Ambiente und ihrem Inhalt ist immer noch grundle­ gend A. Schäfer , D emosthenes und seine Zeit, Bd. I2, Leipzig 1885 (Nachdruck Hildesheim 1966), 358 ff. Im Philologischen repräsentiert immer noch F. Blass, Die attische Beredsamkeit, Bd. UI 31, Leipzig 1893 (Nachdruck Hildesheim 1962), 280 ff. den Forschungsstand (was im übrigen charakteristisch genug ist). Blass hebt mit Recht hervor (280 Fn. 5), daß Schäfers Datierung nicht ganz sicher ist, und diskutiert ausführlich die „Möglichkeiten“ zweier „Redaktio­ nen“ der Rede. Nach seinen Überlegungen ist es keineswegs sicher, daß der Prozeß gegen T imokrates überhaupt stattfand, und angesichts der Rolle, die T imokrates und A ndrotion noch später in der athenischen Politik spielten, ist dies gar nicht von der Hand zu weisen. Das mindert keineswegs die Aussagekraft der Rede für unsere Themenstellung, denn sie ist ja in jedem Falle auf die athenische Realität und Gedankenwelt bezogen. 56 Gerade dem praktischen Umgang mit den Gesetzen im Klassischen Athen ist das bereits zitierte Sammelwerk von C artlei>ge , M illett und Todd (wie Fn. 6) gewidmet (s. bes. dort S. XII). Für Details sei also auf dieses verwiesen; wichtig in diesem Zusammenhang ist auch R . O sborne , Law in Action in Classical Athens, JHS 105, 1985, 40 ff. 57 Zu diesem Typ des Gerichtsverfahrens s. H. J. W olff , „Normcnkontrolle“ und Gcsetzesbegriff in der attischen Demokratie, Sitzungsberichte der Heidelberger Akad. d. Wiss., Philos.-hist. KJ., Jahrg^ing 1970, 2. Abh., 14 ff. 28 ff.

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Demokratie grundsätzlich zu diskutieren. Nicht ohne starke rhetorische Zuspitzun­ gen und Unterstellungen hob er den Fall bewußt, manchmal hat man den Eindruck: geradezu künstlich, ins Prinzipielle (bes. 5, vgl. 9.16.26.30.38). Deshalb steht in der Rede generell die Frage der Gesetzesobservanz (z. B. 53) im Zentrum , insbesondere die Garantie für den Bestand der Gesetze als einer »Rechtsordnung*, einer Ordnung, der die Qualität des δίκαιον zukommt. Das Gesetz ist der H err58. Dabei ergeben sich zwei Hauptgesichtspunkte: 1. Die Folie für dieses Rechtsverständnis ist die Rolle des Verfahrens (z. B. 26.48), das peinlich, ja peinlichst genau zu beachten ist59. Die Garantie für die nomoi liegt beim Volk, dem demos bzw. bei der Mehrheit, den polloi, und zwar gerade in Verbindung mit den erwähnten Verfahrenswegen, die Zufälligkeiten ausschalten (35 ff.). Insofern sind beide Aspekte verbunden, und das trifft sich mit den im ersten Teil gemachten Beobachtungen, zeigt also wesentliche Elemente der archaischen Nom othetik in praxi. Bereits aus diesem Zusammenhang von Verfahren und Garantie durch die Mehr­ heit ergibt sich eine wesentliche, für die gesamte O rdnung kardinale Konsequenz: Eine Entscheidung des demos bzw. der polloi, also ein Urteil des Geschworenenge­ richts, das in einem konkreten Verfahren einmal gefallt worden ist, kann nachträglich nicht mehr durch ein Gesetz geändert werden. Die Gültigkeit bzw. die Kraft von Gesetzen prävaliert also prinzipiell nicht der von rechtmäßig zustandegekommenen Heliaia-Urteilen (57. 72. 78. 90. 102. 191). Dazu treten als weitere, das Urteil und seinen Rang sozusagen verbürgende Elemente der Eid der Richter (z. B. 90) bzw. generell deren εύοέβεια (34) sowie deren Überlegung bei der Entscheidung (191). Anderes, z. B. die Hyperkorrektheit, wie sie bei der Aus- und Zulosung der Ge­ schworenen60 zum Ausdruck kommt, braucht hier nicht weiter betont zu werden. Infolgedessen können die Richter sogar als H erren über alles schlechthin (118) angesehen werden und kann dieser Sachverhalt bereits als Ziel des Begründers der gesetzlichen Ordnung, Solons , hingestellt werden (148). Ein Blick in die JPolitik“ des A ristoteles zeigt, daß all dies völlig geläufige Vorstellungen waren. In der Organisation der Demokratie war diesen bekanntlich auch insofern Rechnung getra­ gen, als das ordentliche Gesetzgebungsverfahren selber im wesentlichen in Form eines Prozesses ablief.

58 Weitere Belege s. bei Μ. H. H ansen, The Political Powers of the People’s Court in FourthCcntury Athens, in: O . M urra y/S. Price , The Greek City, from Hom er to Alexander, Oxford 1990, 240 Fn. 117. 59 Dies hat schon J. Bleicken , Verfassungsschutz im demokratischen Athen, Hermes 112, 1984, 394 ff. sehr deutlich unterstrichen, vgl. jetzt auch O sborne (wie Fn. 56) 40 ff. und C artledge u. a. (wie Fn. 6) 5.16 (mit Hinweis auf S. F. M oore , Law as Process: An Anthropological Approach, London-Boston 1978, 54 ff.) sowie o. S. 17 mit Fn. 43. 60 Aristot. Ath. pol. 63 ff.; Hinweise auf neuere Funde zur Praxis der Losverfahren bei M. Cham­ bers (Hrsg.), Aristoteles. Staat der Athener (Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung X 1), Darmstadt-Berlin 1990, 416; zum politischen Hintergrund s. J. Bleicken , Die athenische Demokratie, Paderborn u. a. 21994, 265 ff. - Generell zur Organisation des Gesetzeswesens s. jetzt A. Boegehold , Three Court Days, in: Symposion (wie Fn. 9) 165 ff.

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Hinsichtlich der Beurteilung der athenischen Demokratie scheiden sich aber gerade an dieser Stelle die Geister total: Einerseits konnte die Herrschaft des demos qua Gericht als W illkürherrschaft der Masse, des Pöbels, als Element geradezu einer „Diktatur des Proletariats“ erscheinen - ein schon der zeitgenössischen Staatstheorie geläufiges Urteil61. Andererseits hat man in dieser bedeutenden Rolle eines sozusagen eigengewichtigen Gerichtsganges die wesentlichen Elemente eines unabhängigen Jurisdiktionalgremiums, wenn man so will, von Gewaltenteilung gesehen, so neuerdings immer wieder M ogens H ermann H ansen62. Paradoxerweise sind beide Positionen zugleich richtig und falsch oder, vorsichtiger gesagt, sie sind, gerade weil sie so eindeutig - und damit einseitig - sind, als Perspektive zur Charakterisierung der Rolle von Gesetz und Recht in der attischen Demokratie nicht geeignet. Prinzipiell stehen als Willenskundgebungen des Demos auch Psephismata, nicht nur Urteile neben den Gesetzen (92. 112)63, wie man ja die Tätigkeit des Richters auch als ψηφίζεσϋαι bezeichnen kann (34) und ψήφοι δημοσίαι - wie die erhaltenen Stücke zeigen - gerade bei der gerichtlichen Entscheidung benutzt wurden. Aus­ schlaggebend ist, daß man zwar zum Teil formell, aber nicht materiell zwischen den jeweils votierenden Gruppen bzw. Gremien trennte. So wie die Richter als ύμεΐς angesprochen werden, stehen sie immer auch für den demos (bes. 123), dazu muß man sie keineswegs als „delegiert“ auffassen. H ansens Einwände gehen insoweit ins Leere. Sie, die Richter, hätten ohne weiteres sagen können: „Wir sind das Volk.“ Jedenfalls als ύμεΐς oi πολλοί (und da muß natürlich an den demos insgesamt gedacht sein64) sind gerade sie, letztlich also die Menge, der Garant der bestehenden O rd­ nung. Unterschiedlich war zum Teil das formelle Procedere. Aber gerade das kompli­ zierte Nomothesie-Verfahren war doch, wie schon H ans J ulius W olff unterstri­ chen hat65, eine besondere Sicherung der 403/2 neu konstituierten Demokratie, also auch von deren Regelwerk insgesamt D er Zusammenhang von Richtern und Volk wird in der Timocratea besonders deutlich. In Paragraph 110 wird dem Beklagten vorgeworfen, er habe sich angesichts

61 Die wichtigsten Belege bei E. R uschenbusch , ΔΙΚΑΣΤΗΡΙΟΝ ΠΑΝΤΩΝ ΚΥΡΙΟΝ, Histo­ ria 6,1957,257 f., der im übrigen für diese Pösition einer der wichtigsten modernen Repräsentan­ ten isL 62 Die m. W. neueste Publikation in diesem Sinne ist H ansen (wie Fn. 58) 215 ff.; zur generellen Kritik s. bereits Bleicken (wie Fn. 59) 394 mit Fn. 29 und jetzt Todd /M illett in: Cardedge u. a. (wie Fn. 6) 16 Fn. 33. 63 S. bes. F. Q uass, Nomos und Psephisma. Untersuchung zum griechischen Staatsrecht (Zetemata 55), München 1971; vgl. auch die Bemerkungen bei B leicken (wie Fn. 59) 392 Fn. 22. Auch L L. S o rg e, Ai confini fra nomos e psephisma, in: Symposion 1974, Köln-Wien 1979,307 ff. kann eine eindeutige inhaltliche Unterscheidung nicht begründen (vgl. die Diskussion ebd. 323 ff.). 64 Vgl. auch u. S. 26 und s. bes. Demosth. 24,59. 65 W o lff (wie Fn. 1) 565 ff. Zu der sog. Kodifizierung am Ende des 5. Jahrhunderts herrscht z. Zt. eine intensive Diskussion, s. bes. M. P i e r a r t, Athencs et ses lois. Discours politiques et pratiques institutionelles, REA 89, 1987, 21 ff.; N. R o b e rts o n , The Laws of Athens, 410-399 BC: The Evidence for Review and Publication, JHS 110, 1990, 43 ff.; A. N a t a u c c h i o , Sulla cosidetta revisione legislativa in Atene alia fine del V secolo, Quademi di Storia 32, 1990, 61 ff.; P. J. R h o d es , The Athenaion Code of Laws, 410-399 B. C., JHS 101, 1991, 87 ff.

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eines Unrechts, das dem Volk zugefugt wurde, nicht engagiert. Daß hier der Geschä­ digte m it dem Richter identisch ist, dieser also sozusagen auch in eigener Sache richtete, muß der Sprecher so gemeint und der Gerichtshof so verstanden haben; denn im folgenden ist von πλήθος τό ύμετερον (111) die Rede, dem vom Beklagten übel mitgespielt worden sei. Die Argumentation greift nur bei einer Identifizierung von betroffenem und richtendem Volk. Mithin ist hier auch die Strafe letztendlich nichts anderes als die Rache des Betroffenen - was angesichts der griechischen Mentalität und Normativität nichts Anstößiges haben mußte66. Und mit vollem Recht wird auch unter diesem Gesichtspunkt begrifflich und verbal zwischen Strafe und Rache nicht strikt geschieden, beides ist τιμωρία. D er Schutz der O rdnung und Verfassung ist also Eigenschutz des demos. Selbst­ hilfe ist ohnehin in entscheidenden Situationen gefragt. Bei der Bedrohung der politischen O rdnung greift das Engagement der Bürger, wie es für den gedachten Fall, daß das Gefängnis geöffnet, also das Strafrecht in Frage gestellt ist, plastisch geschil­ dert wird (208 f.). Deshalb kann auch der Zorn der Richter (οργή, u. a. 118) begrüßenswert sein. Überhaupt bleibt die Konstellation mit dem Volk auf der einen, mit einzelnen Mächtigen und Einflußreichen, ρήτορες und πολιτευόμενοι, Reprä­ sentanten der politischen Klasse auf der anderen Seite, als Kampfkonstellation, als latentes Konfliktfeld bestehen: Zorn und Empörung erscheinen als legitimer Selbstschutz gegen die Anmaßung (ασέλγεια, ύβρις) der Reichen (143.152 f. 217 f.). Wut und H aß (175) werden gegen T imokrates mobilisiert als denjenigen, der durch die Zerstörung der Rechtsordnung die Demokratie zu beseitigen trachtet, und tref­ fen überhaupt alle, die entsprechend handeln (175. 215). Gegen diese werden die Richter zur Selbstverteidigung aufgerufen. So wie sich T imokrates und Komplizen gegenseitig unterstützen, so „müßt auch ihr selbst euch helfen“ (157). Dies zeigt in aller wünschenswerten Deutlichkeit, daß die Richter für das Volk standen und vice versa. In einem anderen, ebenfalls in derTimocratea markant herausgearbeiteten und hier schon angeklungenen Grundsatz wird der Sachverhalt sogar noch deutlicher: Die demokratischen Prinzipien sind ohnehin in jeder Hinsicht eins mit dem Gesetz67 (vg|. 59), schon deshalb, weil das Gesetz sein Kriterium durch das Interesse des Volks gewinnt, dem plethos nützen müsse (68) bzw. nicht schaden dürfe (204). Die Demokratie ist, sofern sie sich in rechtliche Formen gekleidet hat, also Rechtsord­ nung ist, eine Nomokratie, wie besonders M artin O stwald herausgestellt hat68. Umgekehrt ist, konsequenterweise, die Beseitigung der Gesetze Um sturz schlecht­ hin, Beseitigung der Demokratie (generell 5; deutlich 152 ff. 204 ff. und - indirekt 57 f.). Anders gesagt: Die Herrschaft der Gesetze steht im Gegensatz zur Oligarchie

66 Hierzu s. H.-J. G ehrke , Die Griechen und die Rache, Sacculum 38, 1987, 121 ff. 67 Vgl. 134 ff. und zum Dcmokraticbezug der Gesetze u. S. 26. 68 O stwald (wie Fn. 31), vgl. auch R. Sealey, The Athenian Republic: Democracy or the Rule of Law?, Philadelphia-London 1987. Auch wenn man nicht mit allen dort vertretenen Posi­ tionen übereinstimmt, bleibt das Grundprinzip bestehen, und dieses hat man natürlich schon langst gesehen, s. bes. W olff (wie Fn. 57) 68 f.; ders. (wie Fn. 1) 563; Bleicken (wie Fn. 59) 398 ff.

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(75 f.), die Demokratie ist die einzig legitime und legale Rechtsordnung. W ahrend es σώφρονες und χρηστοί, besonnene und aufrechte Bürger, auszeichnet, daß sie sich freiwillig von Gesetzen beherrschen lassen (ύπό νόμων άρχεσθαι έύέλοντες), sind die unter einer Oligarchie Lebenden Feiglinge und Sklavenseelen (άνανδροι, δούλοι). Die Demokratie steht also in der Weise für die Gesetzesherrschaft, wie die Oligarchie den Zustand der Rechdosigkeit schlechthin bezeichnet (explizit so 76, vgl. 119). T imokrates ist deshalb ein zweiter K ritias (90). Auch die prominenten Politiker bzw. die politisch Aktiven, die schon erwähnten Reichen und ρήτορες, die Angehörigen der political class69, wir können fast sagen: gerade diese, haben sich den Gesetzen zu beugen (134 ff.). Die Gesetze garantieren die Gleichheit im rechtlichen Rahmen, sind aber eher gegen die Starken, die Wenigen gerichtet (174)70: Deshalb können und sollen die für den privaten Bereich vorgesehe­ nen Gesetze milde sein, sozusagen liberal. Diejenigen mit politischer Relevanz dagegen haben streng zu sein, zur Sicherung der Massen gegenüber den eigenen Politikern: Manche waren »gleicher als gleich1, aber das sollten gerade nicht die Mächtigen sein. Diese sollten sogar richtig Angst haben und abgeschreckt werden (193)· Hier wird konkret faßbar, was sich aus Solons »Zwang“ entwickelt hatte, und beiläufig sei an P erikles* Leichenrede bei T hukydides erinnert, wo auch von Furcht (δέος) die Rede ist (Thuk. 2,37,3)71, oder an den platonischen Protagoras, der im Zusammenhang mit Gerichten und Gesetzen von dem »Zwang“ spricht, »der sie zwingt, sich in allen Stücken der Tugend zu befleißigen“ (327 CD). Überhaupt ist hier die Entstehungskonstellation der politischen O rdnung Athens noch kenntlich, gera­ dezu perpetuiert - ebenso wie Solons wichtigstes Mittel, das Engagement der Bürger, möglichst vieler, der Masse. Angesichts der seinerzeit virulenten, aber in der griechischen Geschichte immer geläufigen pleonexia und Stasismentalität war es angebracht, effektive Gegenmittel zu finden und strikt einzuhalten. D er leitende Gesichtspunkt war nicht der Schutz des Souveräns vor sich selbst, sondern - viel vordringlicher - der Schutz des herrschenden Volkes vor der ihn bedrohenden Einzelmacht, den zerstörenden Kräften des extremen politischen Egoismus (193), des schon zitierten »Willens zur Macht“. Gegen Stärke mußte Stärkeres aufgeboten, der Teufel sozusagen mit Beelzebub ausgetrieben werden. Die Gewalt der Gesetze, getragen von der Gemeinschaft und deren Interesse, war zu mobilisieren. Es half allenfalls das Engagement der Masse, letztlich eben der Selbstschutz - übrigens nicht auf Dauer, wie die Geschichte lehrt. Aus diesem Grunde hatten die Gesetze auch betont volksnah zu sein, für jeder­ mann einsehbar, eindeutig, unmißverständlich (68. 79) und vor allem zugänglich. Auch die rechtzeitige und an zentraler Stelle in der Polis vorgenommene Veröffentli­ chung jedes Gesetzesvorschlags (18), einschließlich der von ihm außer Kraft zu setzenden Regeln, war unerläßlich, und überhaupt war die Schriftlichkeit der Rechts-

69 Zu deren Klassifizierung s. 123. 155. 193. 70 Vgl. 147.171, mit dem offiziellen Ethos Athens. 71 Zur Interpretation s. V. E hrenberg , Sophokles und Perikles, München 1956, 49.

Hans-Joachim Gehrke Satzung eine conditio sine qua non72. Jeder einzelne konnte sich dann auf diese berufen, ein Rechtsweg war damit vorgezeichnet, buchstäblich vorgeschrieben, und somit garantiert73. 2. Schon hiermit zeigt sich in gewisser Weise die andere Seite der Medaille. Alle hier angestellten Beobachtungen zur Dominanz der Masse im Gericht zwingen uns keineswegs, die vorhin erwähnte Alternative zu wählen und die attische Demokratie als eine A rt „Diktatur des Proletariats“ zu bezeichnen oder von der Klassenjustiz der Armen gegen die Reichen in der Demokratie zu sprechen. Gerade indem die schriftlich fixierten, zum Teil genau ausgeklügelten und immer wieder überprüften, angewandten und diskutierten Regeln verbindlich für alle galten, legten sie doch auch dem Souverän, dem κύριος πάντων, Fesseln an. Selbst wenn dies nicht von vornher­ ein auch ein Anliegen gewesen sein sollte, war es aber bei dem Weg, den man zur Bändigung des politischen Extrem-Individualismus einschlug, ein zwangsläufiges »Nebenprodukt'. Gerade die Bindung an die nomoi führte zu klaren Verhältnissen. Insbesondere die extreme Respektierung des richtigen Verfahrens schuf - wie vor allem J ochen Bleicken 74 gezeigt hat - ein hohes Maß an Verläßlichkeit und Rechtssicherheit. Nie haben überdies Rhetorik und Rabulistik die Rechtlichkeit und das Empfinden für diese völlig ausschalten oder dauernd überlagern können75. D er legitime Appell an Zorn und W ut beseitigte nicht die Bindung an die Gesetze und den Versuch, sie korrekt auszulegen. Mitnichten stand, wie etwa M ax W eber angenommen hatte76, die materiale Gerechtigkeit im Selbstverständnis der Demokratie gegen das formale Recht, d. h. das ordnungsgemäße Verfahren77. Vielmehr wird das δίκαιον - gerade ausweislich der Timocratea - durch dieses erst gewährleistet78. U nd sofern die peinlich detaillierte Fixierung der Spielregeln (man denke nur an den Perfektio­ nismus des Losverfahrens für die Gerichte)79 auch Verfassungs- und Rechtsrealität war, war dies m ehr als bloßer Anspruch oder reine Intention. Z ur Kontrolle der Mächtigen hatte man ein N etz von Regeln gerade für das Richten geknüpft, in dem schließlich alle gefangen werden konnten. Diese Regeln banden auch die Staats­ gewalt, womit auch nach M ax W ebers80 Kriterien deren Rechtlichkeit gegeben war.

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Eurip. Suppl. 433 ff. So jetzt auch O sborne (wie Fn. 56) 42 f., ausgehend von Demosth. 22, 25 ff. Bleicken (wie Fn. 59) 393 ff. S. vor allem H . Meyer-L a u rin , Gesetz und Billigkeit im attischen Prozeß, Weimar 1965; H . J. W o lff, Demosthenes als Advokat. Funktionen und Methoden des Prozeßpraktikers im Klassi­ schen Athen (Schriftenreihe der Jurist. Gesellschaft Berlin 30), Berlin 1968, jetzt in: U. S c h in d e l (Hrsg.), D em osthenes (WdF 350), Darmstadt 1987, 376 ff. W eber (wie Fn. 39) 469 f. Vgl. o. S. 24 mit Fn. 59. Vgl. auch H . E rbse, Thukydidcs - Interpretationen, Berlin-New York 1989, 107 ff., bes. 108.111: Dort erscheint, in ganz anderem Zusammenhang und damit soz. unverdächtig, das Zugeständnis des Rechtsweges als Verzicht auf Macht und als Gewinn an δίκαιον. Vgl. auch o. S. 24 mit Fn. 60. W eber (wie Fn. 39) 389.

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So haben sich - gerade aus der Kampfkonstellation heraus und prinzipiell unab­ hängig vom politischen Wollen - Korrektive entwickelt, die wichtige Elemente von Rechtsstaatlichkeit darstellen. Gerade angesichts der Stoßrichtung gegen die Mächti­ gen und der demokratischen Grundideen m ußte die Gleichheit vor dem Gesetz betont werden. So hat schon der euripideische T heseus das demokratische Rechts­ verständnis beschrieben: „Wenn die Gesetze schriftlich gefaßt sind, hat der Schwache mit dem Reichen gleiches Recht; es ist auch dem Schwächeren erlaubt, den Erfolgrei­ chen in gleicher Weise herauszufbrdem, wenn der in üblem Rufe steht, und es siegt der Geringere über den Großen, wenn er recht hat“ (Eurip. Suppl. 433 ff.). Das Recht ist also ausdrücklich der Bereich, in dem soziale und ökonomische Dominanz nicht zum Zuge kommen soll - so oder so: Auch der Schwächere siegt nur, „wenn er recht hat“ (όίκαι ’ έχων, a. Ο . 437). D er Kampf wird sozusagen auf neutralem Platz ausgetragen. Der Rechtsstreit selber garantiert in minutiös genauer Weise das audiatur et altera pars und war insofern ein fairer Streit, als gleiches Recht für alle galt. H ier konnte die Demokratie gerade aus der von ihr bekämpften Gefahr, nämlich der auf Dominanz gerichteten Konkurrenzmentalität, N utzen ziehen81. D er Streit in seinen prozessua­ len Formen hat sich ja nicht in einem herrschaftlich-monarchischen Rahmen entwikkelt, sondern aus lebhaften Konflikten zwischen höchst eigenständigen und selbstbe­ wußten Individuen, welche man zu kanalisieren hatte, wollte man die Existenz der Gemeinschaft sichern. Da man mit einer Gegnerschaft fest kalkulieren konnte und diese auch als völlig legitim galt, auch und gerade in ihren persönlichen Aspekten, kam es geradezu zu einer ,Rückkoppelung‘. D er stets gefährliche Ehrgeiz wurde ein wichtiges Mittel zu seiner eigenen Einschränkung im Sinne des allgemeinen Wohls. Er war in dieser Form - der gewagte Vergleich sei hier erlaubt - ein Äquivalent der Rolle des Egoismus in neuzeitlichen marktwirtschaftlichen Ordnungsvorstellun­ gen82. Jedenfalls wurden die Gegner selbst, nicht allein und nicht so sehr die Masse der Geschworenen-Richter, zu H ütern der prozessualen Gleichberechtigung. Auf weitere Aspekte von Rechtsstaatlichkeit kann ich hier nicht näher eingehen; mit Bezug auf die Timocratea wäre an den Schutz des Hauses zu erinnern (164) und generell an die Frage der rückwirkenden Geltung von Gesetzen, deren grundsätzliche Problematik uns gerade heute bewegt, sowie anderes, das schon G eorges M aridakis in seinem Essay über die Rede präsentiert hat83. Weiteres, das außerhalb der

81 Hierzu hat jetzt D. C ohen (D emosthenes ’ Against Meidias and Athenian Litigation, in: Symposion [wie Fn. 9] 155 ff.) treffend bemerkt: »Thus, in Athenian courts, the social logic of competition and conflict operated together in an uneasy relationship with the political / judicial logic of the rule of law. . . . Each party in these battles used the legal system as one means of harassing, attacking, or intimidating his opponent in a series of challenges and responses where dynamic is driven by an agonistic ethos which aims at the enhancement of honor, sutus, and power“ (164). 82 Vgl. grundlegend A. Sm ith . An Inquiry Into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Vol. I, Oxford 1976, 456 und - aus der unübersehbaren Literatur bes. plastisch - R. D ahren ­ dorf , Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, pass. 83 G. Maridakis, Demosthenes als Rechtstheoretiker, RIDA 3,5,1950,155 ff., jetzt in: Schindel (wie Fn. 75), 356 f. 366 mit Fn. 53.

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Rede begegnet, so etwa die Rolle der „zeitlichen Verzögerung“ und der „persönlichen Haftung“, hat unlängst J ochen Bleicken zusammengestellt84. Die Elemente von Rechtlichkeit waren also auch, aber keineswegs nur ein Neben­ effekt aus an sich anders orientierten Maßnahmen. Man hatte für sie, wie schon angedeutet wurde, durchaus ein Gespür, man dachte über sie nach und hat insofern bewußt in der Nom okratie nicht allein ein Äquivalent der Demokratie gesehen, sondern auch eine allgemein verbindliche Rechtsordnung, die auf das δίκαιον hin orientiert war. Es ging nicht nur um den Schutz der Schwachen, sondern generell der αδικούμενοι (vgl. Thuk. 2,37,6); vor allem: Die O rdnung war nicht, wie das Unrechtssystem der Oligarchie (αδικία 76, vgl. ύβρισηκώ ς, 77), auf Willkür gegrün­ det, sondern auf Überzeugung, d. h. letztlich auf Freiwilligkeit. Auch hier bezeugt schon die Tragödie, in diesem Falle besonders die Rolle der πειθώ in den „Eumeniden“, die Geläufigkeit dieses Grundsatzes85. Die O rdnung konstituiert Zwangsge­ walt, aber dabei m ußte nicht nur ein präzis bezeichneter Weg eingehalten, sondern auch Überzeugungsarbeit geleistet werden, und zwar nicht gegenüber einzelnen, sondern gegenüber der Masse (oi πολλοί 35 ff., bes. 37). Gerade diese aber ist angesichts guter Gesetze nicht zu deren Abschaffung bzw. zum Negativen zu überreden. Sie ist also nicht nur, wie oben gezeigt wurde, eine Interessengruppe, sondern der Bürge für Gerechtigkeit und Stabilität, H üter und Bewahrer des Beste­ henden (ebd.). Selbst wenn man bedenkt, wie stark das Überzeugen von rhetorischen Tricks abhing, und selbst wenn man prinzipiell geneigt ist, der Masse wenig Einsicht zuzutrauen, wird man nicht verkennen, daß dieser Gesichtspunkt der sogenannten Summierungstheorie nahesteht, also dem Grundgedanken, daß sich in einer größe­ ren Gruppe die Einsicht gleichsam addiert. Diese Theorie hat selbst ein Aristoteles ernst genommen. Sie spielte jedenfalls in der uns leider so wenig bekannten prodemokratischen Staatstheorie der Antike eine wichtige Rolle86, wie schon die Verfas­ sungsdebatte bei H erodot zeigt. In der Praxis der attischen Demokratie hatte mithin staats- und rechtstheoretische Reflexion durchaus einen Platz, und auch darin lag ein Korrektiv gegen nackte Willkürjustiz. Angesichts der Hochschätzung der Freiheit und der Perhorreszierung der W illkür durch die Griechen hatte gerade dieser Aspekt der Gesetzesherrschaft sicher kein geringes Gewicht. Mit der Reflexion auf das δίκαιον eröffnet sich aber noch eine andere Dimension der Gesetzesherrschaft, die ohnehin gar nicht völlig hätte ausgeblendet werden können, ich meine die moralisch-ethische Komponente. Daß diese zur politischen O rdnung in Griechenland zwingend und konstitutiv hinzugehört, daß nur in dem Ensemble von sozialen Norm en, kultischen Pflichten und juristischen Regeln die politisch-soziale Organisation besteht, ist schon am Beispiel Solons verdeutlicht worden. Auch die antike Staatstheorie legt für diesen Sachverhalt Zeugnis ab.

84 Bleickf.n (wie Fn. 59) 393 f. 85 Aischyl. Eumcn. 970 ff. 86 Aristot. pol. 3, 1281a 39 ff. 1283a 23 ff.; zu diesem Aspekt jetzt grundlegend J. T ou lo u m ak o s, Die theoretische Begründung der Demokratie in der Klassischen Zeit Griechenlands, AthenBonn 1985, 37 ff. (zu Herodot 3,80,6 ebd. 52 f.).

Der Nomosbegriff der Polis

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ln diesen Gesamtrahmen sind aber die nomoi - im traditionellen Wortsinne ja durchaus m ehr als reine Rechtssetzungen - auch dem demokratischen Verständnis nach eingespannt. Sehr markant wird die Bindung der Gesetze an die Ethik, die ja auch mit dem δίκαιον immer präsent war, wird ihre moralische Dimension in der Timocratea herausgestellt, und zwar gerade im Zusammenhang mit Solon (102 ff. 112). So spielt selbstverständlich auch die sittliche Eigenschaft des Beklagten eine Rolle. Vor allem aber ist die moralische Beschaffenheit der Polis im Spiel, ist diese gerade auch eine »moralische Anstalt". Dafür sind die Gesetze der entscheidende Ausdruck. Sie werden unmißverständlich der „Charakter“ (τρόπος) der Polis ge­ nannt (210). Das Gepräge erhalten die Staaten also durch die moralischen Maßstäbe, die in ihren Gesetzen liegen, und durch deren Befolgung. Aufs engste verbunden sind die Gesetze auch mit dem ήθος τής πόλεως (171), sozusagen der politischen Moral bzw. der moralischen raison d ’etre Athens. Diese äußert sich vor allem im Schutz der Schwachen gegen die Übermächtigen, der aber primär auch Schutz derer sein kann, die unrecht behandelt werden (Thuk. 2,37,6). Die nomoi insgesamt haben also deutlich erkennbar ein Stück ihrer nicht-juristischen Konnotation bewahrt. Und daß die Polisordnung auch m ehr war als bloße Rechts­ ordnung, ist damit ebenfalls evident Wichtig für uns aber ist vor allem, daß auch hierin - zwar äußer-juristische, aber nicht minder normativ relevante - Korrektive für das Verhalten des souveränen demos liegen. Schon im Epithaphios hatte der thukydideische P erikles (2,37,6) als Garanten gegen übertriebene Freiheit die Gesetzesob­ servanz der Athener hervorgehoben. Dabei ging er weit über das Juristische hin­ aus, indem er, wie gerade erwähnt, die Tradition der Gesetze zum Schutz der αδικούμενοι, der ungerecht Behandelten, hervorhebt und dann sogar auf „nicht geschriebene Gesetze“ Bezug nimmt, deren Nichteinhaltung Schande bringt. Schlag­ lichtartig wird damit der hohe Stellenwert klar, den soziale Norm en - denn genau so würden wir diese άγραφοι νόμοι87 nennen - in einer shame-culture haben.

87 Deren komplexe Thematik kann hier nicht näher behandelt werden (einen Überblick über die wichtigste neuere Literatur gibt S. H ornblower, A Commentary on Thucydides, vol. I, Oxford 1991, 302 f.). Der Sprachgebrauch war ziemlich vage (vgl. E hrenberg [wie Fn. 71] 59 f.). Wir müssen mit wenigstens drei unterschiedlichen Konzepten rechnen (so auch W. Gomme, A Historical Commentary on Thucydides, vol. D, Oxford 1956, 113 f.): Dies sind zunächst sakralrituelle Regeln unter der Aufsicht des ,sachverständigen* Priesterclans der Eumolpiden ([Lys.] 6,10; dazu E hrenberg a. O . 54) und die hier erwähnten sozialen Normen (Thuk. 2,37,3; dazu Ehrenberg a. O . 46.49). Beides läßt sich durchaus im Zusammenhang sehen (M. H irzel, ΑΓΡΑΦΟΣ ΝΟΜ ΟΣ (Abh. d. K. Sächs. Ges. d. Wiss., Philol.-histor. CI. 20), Leipzig 1903,21, vgl. Ehrenberg a. O . 57 und Wolff [wie Fn. 1] 566), ist aber wohl eher zu unterscheiden (vgl. generell schon Ehrenberg a. O . 51.54 ff.): Die bei Pseudo-Lysias genannten „ungeschriebenen Gesetze“ stehen ja in enger Verbindung mit den Mysterien von Eleusis, d. h. der orale Charakter von deren Tradierung ist schon durch den Geheimcharakter des Kultes bedingt. Wie dem auch sei, von diesen Vorstellungen ist das religiös noch vertiefte Konzept der sophokleischen .A nti­ gone“, welches auch in der Rhetorik geläufig war (H irzel a. 0 . 25 ff.), abzusetzen (Ehrenberg 39 ff. und vor allem H irzel a. O . pass.). Ganz so glatt, wie dieser denkt, geht das freilich nicht auf (wenn man z. B. an Aristot. Rhet. 1,10 ff. und die Rhet. ad Alex. 2,1421b 35 ff. denkt). Immerhin spricht auch Hirzel von einer „Brücke“ (30) und führt weitere interessante Beispiele an (30 ff.). So fließend die Übergänge gerade im Bereich der religiösen Konnotation aber auch sein mögen, die

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Solche Korrektive gehen nicht im vordergründigen Machtinteresse der Polis auf. Deren Größe beruht eben nicht nur auf ihrer nackten Stärke - so wichtig auch immer die Zahlen von Hopliten und Schiffen sein mochten. Sie ruht gerade auch auf ihrem Ansehen und ihrer Anerkennung, denn für die Polis in der Meinung der Griechen gilt dasselbe wie für die Individuen in einer Polis: Ehre und Prestige haben auch konkretes Gewicht. Beides also, Machtendaltung und Akzeptanz, bleibt von der Einhaltung der Gesetze und ihres Ethos abhängig, von der Zuverlässigkeit, mit der in ihr Bestrafun­ gen und Belohnungen, τιμω ρίαι und τιμαί, vergeben werden (215)88. Insofern sind die Gesetze in jeder Hinsicht Elemente der Bewahrung der Stadt (155 f.), jeder ist durch sie ganz persönlich gebunden, und selbst ein Sokrates hat sich ihnen gebeugt89, wider besseres Wissen, oder besser: Nicht-Wissen! Kurzum, nach der Vorstellung der Timocratea und passend zu dem, was uns andere Zeugnisse zum Nomosverständnis des demokratischen Athen lehren, war die Demokratie Nomokratie90, und damit doch m ehr als ein verbrämtes Willkürsystem. Sie war eine in wichtigen Bereichen für alle gleichermaßen geltende Ordnung. Diese war garantiert durch ein rechtlich normiertes Regelwerk, das in soziale Konventionen und religiöse Vorstellung eingebunden war und von einem bestimmten Ethos getra­ gen wurde. D er Stellenwert der gesetzlich fixierten Elemente in diesem Konglomerat war gerade durch deren ständige Fortentwicklung immer größer geworden. Spezi­ fisch für den rechtlichen Aspekt waren vor allem das Bemühen, die auf anderen Feldern herrschende Dominanz auszuklammem, und der Bezug auf gesetzte, d. h. schriftlich fixierte und seit 403 definitiv auf ein eindeutiges corpus gestellte Regelun­ gen. Die nomoi waren der Bereich, in dem Gleichheit und Verläßlichkeit herrschten. All dies verbürgte, bei allen Schwächen, ein Ausmaß an Akzeptanz, Rechtlichkeit und Effektivität zugleich, das allen historischen Erfahrungen nach keineswegs selbst­ verständlich ist. grundsätzliche Unterscheidung darf nicht aufgegeben werden. G. C erri, Legislazione orale e tragedia greca, Neapel 1979, hat dies nicht beachtet und überdies auch die politisch-soziale Welt Athens sehr anachronistisch gezeichnet, so daß seine Vorstellung von dem aristokratischen' Charakter der άγραφοι νόμοι nicht greift. Mit diesen „ungeschriebenen Gesetzen" als sozialen N onnen und kultisch-religiösen Regeln und Werten hat das bei Andok 1,84 f. überlieferte Verbot an die άρχαί, keine άγραφοι νόμοι zu benutzen, nichts zu tun. Dieses war eine Sicherungsmaß­ nahme der nach dem Sturz der „Dreißig“ neu begründeten Demokratie (dazu vgl. auch o. Fn. 65): Es sollte größere Klarheit herrschen und der Mißbrauch, den man mit den άγραφοι νόμοι treiben konnte (vgl. Andok 1,115 f.), verhindert werden. „Ungeschriebene Gesetze“ waren in diesem Sinne alle dort nicht aufgenommenen Regeln (so schon H irzel a. O . 38; E hrenberg a. O . 58 f. und jetzt vor allem Wolff [wie Fn. 1] 566 f.). Sofern Verrechtlichung und Verschriftli­ chung eng verbunden waren, hat dies den Stellenwert des Juristischen', den Bezug auf das gesatzte= geschriebene Recht, vergrößert, so daß es bei Platon (Diog. L. 3,86) und zum Teil bei A ristoteles (Rhet. 1,10,1368b 7) mit der Polisordnung geradezu Zusammenfallen konnte und später überhaupt eine Umwertung hinsichtlich des Rangverhältnisses zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen erfolgte (H irzel a. O . 35, generell 41 f.). 88 Wenn man an die Masse der Ehreninschriften denkt, in denen immer wieder von solchen Ehrungen als Vergeltung für Wohltaten die Rede ist, dann begreift man schnell, daß dies nicht lediglich eine Floskel ist. 89 S. A. D. Woozley, Law and Obedience: The Argument of Plato’s Crito, London 1979. 90 Vgl. dic o. Fn. 68 gegebenen Hinweise.

Der Nomosbegriff der Polis

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ffl. Zum Schluß sei der Blick noch einmal auf die griechische Geschichte generell gerichtet: Die hier herausgestellten Bezüge sind für das Nomos-Verständnis der Griechen insgesamt von Bedeutung. Man kann von der Demokratie bzw. der spezifisch athenischen Situation abstrahieren. Die Kraft des übermächtigen politi­ schen Egoismus schlummerte überall, sie bedrohte jede, nicht nur die demokratisch organisierte politische Gemeinschaft. Daß dagegen - also gegen potentielle Unter­ drückung - die Gesetze standen, war geläufig. Damit aber ergab sich eine andere Akzentuierung der Rolle der Gesetze. Auch hier können wir von der Timocratea ausgehen, sofern diese immer wieder von der Herrschaft der Gesetze, Beschlüsse, Urteile spricht (92.118.152.155, vgl. o.). Die Herrschaft der Gesetze erscheint dann als die einzig akzeptable bzw. legitime Form von Herrschaft (75). Sich ihr zu beugen, ist keineswegs ehrenrührig, wie das Ertragen des ungerechten Systems einer Oligar­ chie, d. h. einer Tyrannis. Vielmehr ist es, wie wir schon gesehen haben, gerade wegen des Gesichtspunktes der Freiwilligkeit des Gehorsams (έϋέλοντες άρχειν, s. o.) ein Zeichen von Freiheit91. Der Anfang der Rede bringt eben nicht nur den Bezug auf die Demokratie, sondern auch diesen Aspekt der Freiheit mit Emphase zum Ausdruck. So zeigt sich im praktischen wie im theoretischen Umgang der attischen Demokratie mit ihren nomoi, was der herodoteische Demaratos dem allmächtigen persischen Großkönig als Spezifikum der Spartaner vorstellt: Die prima fade paradoxe Identität von Freiheit und Nomos-Observanz92. R u d o lf H ir z e l 93 hat es prägnant formu­ liert: „Es war ein panhellenischer Gedanke, der als solcher im Kampfe mit den Barbaren erwuchs: Dem Barbaren gegenüber, den Despoten knechteten, erschien sich der Hellene als der Diener allein des Gesetzes. Athen aber war auch hier Hellas in Hellas.“ Aber schon A lk a io s (fr. 426 L.-P.)94 hatte sagen können, nicht Steine, noch H olz, noch Architektenkunst seien die Poleis, sondern dort, wo es Männer gebe, die sich selbst zu retten wüßten, dort gebe es Mauern und Poleis.

91 Vgl. hierzu auch Maridakis (wie Fn. 83) 360 ff. mit dem Hinweis auf Plat. leg. 3,684 C, woraus ebenfalls hervorgeht, daß dies nicht athenspezifisches, sondern gemeingriechisches Gedankengut war. Den Zusammenhang von „Gehorsam*4 und „allgemeiner Zustimmung“ streicht auch Bleicken (wie Fn. 59) 399 f. heraus. 92 Herod 7, 104, vgl. Eurip. Med. 536 ff. 93 H irzel (wie Fn. 87) 40. 94 Vgl. auch fr. 382 L-P.

A ntike Vorstufen des m odernen Begriffs des Naturgesetzes'·· Von W olfgang K ullmann

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

E inleitung.............................................................................................................................. Archaische und klassische Z e i t ............................................................................................ Platon und Aristoteles........................................................................................................... Die Redner, Theophrast, Aristoteles’ Rhetorik, Stoa ....................................................... Dionysios von Halikamaß, P h ilo n ...................................................................................... Der Naturgesetzbegriff in wissenschaftlichem Zusammenhang bei Lukrez und in Senecas Quaestiones naturales sowie sein Gebrauch in Manilius’ A stronom ica........... Der Begriff des Naturgesetzes in dergriechischen Literatur der K aiserzeit..................... Griechische K irchenvater..................................................................................................... Zu den lateinischen K irchenvätern...................................................................................... Zusammenfassung .....................................................................................................

36 38 46 54 63 70 77 83 100 107

i. E inleitung D er uns geläufige Begriff des Naturgesetzes ist seinem Ursprung nach eine soziologi­ sche Metapher. Der Begriff des Gesetzes wird so, wie er in einer Rechtsordnung Gültigkeit hat, auf die O rdnung der N atur übertragen*1. Eine vollständige Anwen­ dung der Metapher impliziert dreierlei: 1. Es wird vorausgesetzt, daß ein Gesetz eine soziale Regel ist, die allgcmeingültig ist und das soziale Geschehen determiniert. 2. Es wird vorausgesetzt, daß im Anwendungsbereich der Metapher, der Natur, ebenfalls Sachverhalte bestehen, die allgemeingültig sind, und daß das Naturge­ schehen durch diese »Gesetze* determiniert ist. 3. Es wird vorausgesetzt, daß die O rdnung der N atur einem Willensakt ihre Entste­ hung verdankt, nämlich der Setzung solcher Regeln durch eine göttliche Macht, die einem Gesetzgeber vergleichbar ist. Dabei kann diese Macht entweder tran­ szendent, als über der N atur stehend gedacht werden, oder die N atur selbst kann

* Für ihre tatkräftige Unterstützung während der Arbeit an der Abhandlung habe ich Frau Dr. Sabine Follingcr sehr zu danken. Mein Dank gilt ferner Herrn Prof. Dr. Jürgen Malitz, Herrn Dr. Gregor Weber und Herrn Dr. Roland J. Müller für die Hilfe bei der Zugänglichmachung des Computcrmaterials des TLG. In einigen Fallen wurde auch der CLCLT konsultiert. Herrn Dr. Eckhard Wirbelaucr danke ich dafür, daß er mir dies ermöglicht hat. 1 Vgl. z. B. B. n t Spinoza, Tractatus thcologico-politicus, Open, vol. 3, ed. C. G e b h a rd t, Heidelberg (11925) 21973, c. 4, p. 58: nomen legis per translationem ad res naturales applicatum. Am Anfang des Kapitels gibt Spinoza ein Beispiel (p. 57 f.): Ex. gr. quod omnia corpora, ubi in tiha minora impingunt, tantum de suo motu am ittunt, quantum alus communicant, lex est universalis omnium corporum, quae ex necessitate naturae sequitur.

Antike Vorstufen des modernen Begriffs des Naturgesetzes

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personifiziert und als normgebend verstanden werden. In beiden Rillen ist eine intentionale, teleologische Interpretation der Entstehung und Entwicklung der N atur im pliziert Es kann kein Zweifel sein, daß z. B. in der modernen Naturwissenschaft von heute die Wurzel der Metapher nicht m ehr im Blick ist. Es fehlt die Vorstellung eines göttlichen »Gesetzgebers* und weitgehend auch das teleologische M om ent Es bleibt also nur der zweite Punkt, die Determination des Naturgeschehens durch allgemein­ gültige Regeln, bestehen. Die oben genannten Bedingungen waren aber in etwa erfüllt, als man im Spätmittelalter und dann vor allem im 16. und 17. Jahrhunden den modernen Begriff des Naturgesetzes entwickelte2. G iordano Bruno formuliert z. B. in De Immenso et Innumerabilibus, lib. VUI9: Natura estque nihil, nisi virtus insita rebus. Et lex, qua peragunt proprium cuncta entia cursum3. Bei ihm ebenso wie bei Kepler, G a ulei , D escartes und L eibniz ist der moderne naturwissenschaftliche Gesetzesbegriff bereits voll ausgebildet, wobei in der Regel auch der göttliche Gesetz­ geber impliziert ist. Die Vorstufen dieses Begriffs sollen im folgenden untersucht werden. Das deutsche Wort Naturgesetz ist ebenso wie seine Äquivalente in anderen europäischen Sprachen Lehnübersetzung von lex naturae (oder lex naturalis). Dieses ist wiederum Lehnüber­ setzung des griechischen Ausdrucks νόμος «ρύσεως. Dabei ist zu berücksichtigen, daß in der Antike beide Begriffe, also Nomos und Physis, nicht immer denselben Bedeutungsumfang hatten wie lex naturae im Neulateinischen und die Äquivalente in den europäischen Nationalsprachen. Damit hängt zusammen, daß im Altertum auch die oben genannten Voraussetzungen für die Entstehung der Vorstellung von Naturge­ setzen nur teilweise und zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Grade gegeben waren. Auch wurde gelegentlich auf andere Ausdrücke zurückgegriffen. Im folgenden soll die Entwicklung des Naturgesetzbegriffs vor allem unter dem Blickwinkel der in ihm enthaltenen Gesetzesvorstellung behandelt werden. Es ist nicht daran gedacht, die Geschichte des Naturrechtsgedankens zu behandeln. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dem Rahmenthema gemäß im griechischen Bereich, doch werden die mit dem Epikureismus und der Stoa verbundenen Vorstel­ lungen bei L ukrez und in Senecas Quaestiones naturales mitberücksichtigt. Auf die in der Tradition der griechischen Kirchenväter stehenden lateinischen Kirchenväter soll ein Blick geworfen werden. Es ist beabsichtigt, auf die römisch-christliche Spätantike an anderer Stelle ausführlicher zurückzukommen. 2 Eine erste Orientierung zur Geschichte des Begriffs gibt G. Frey, Naturgesetzlichkeit, Naturge­ setz, Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. R itter und K. G ründer, Bd. 6, Darmstadt 1984, 528 ff. Vgl. auch G. W ieland, Gesetz, ewiges und G. Verbeke, Gesetz, natürliches (lex naturalis), ebd., Bd. 3, Basel 1974,514 ff. bzw. 523 ff.; ferner: H . Schimank, Der Aspekt der Natuigesetzlichkeit im Wandel der Zeiten, in: Das Problem der Gesetzlichkeit. Zweiter Band Naturwissenschaften, herausgegeben von der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaf­ ten e. V., Hamburg 1949, 139 ff. Zum modernen Begriff vgl. W. Stegmüller, Der Begriff des Naturgesetzes, Stud. Gen. 19, 1966, 649 ff. 3 Jordani Bruni Nolani opera Latine conscripta, nec. F. F io re n ttn o , vol. 12, Neapoli 1884, p. 310. R. Eisler, Handwörterbuch der Philosophie, Berlin 21922,248 zitiert (ohne Stellenangabe) einen weiteren Beleg (in inviolabili mtemerabüique naturae lege).

Wolfgang Kulimann 2. A r c h a isc h e u n d klassische Z eit

Ihren Ursprung hat die Metapher des Naturgesetzes in einem soziomorphen Welt­ bild, um einen Terminus von E rn st T o p it s c h zu benutzen. T o p it s c h unterschei­ det zwischen biomorphen und intentionalen Weltmodellen und teilt die letzteren in soziomorphe und technomorphe ein4. Ein soziomorphes Weltbild findet man vor allem im archaischen Griechenland, das durch das in den homerischen Epen entworfene Bild von den G öttern bestimmt war. Vor allem in der Odyssee erscheint das Weltgeschehen als eine von Zeus garantierte Rechtsordnung5. Bereits im Proömium findet sich der Theodizee-Gedanke. Zeus gibt im Götterrat den Menschen selbst die Schuld, wenn sie über ihren Schicksalsan­ teil, die Moira, hinaus, Schlimmes erdulden müssen. Im letzten Buch wird die Thematik des ersten Buches wieder aufgenommen; denn Athene verhindert auf den Rat des Zeus, daß die Eltern der getöteten Freier die Blutrache an Odysseus und seinen Leuten vollziehen. Die Tötung der Freier um Penelope durch Odysseus wird nicht m ehr als Rache, sondern als von den G öttern sanktionierte Strafe interpretiert6. Ist hier nur das menschliche Leben in die göttliche W eltordnung eingebunden, so ist dies anders an einer Stelle bei H e s io d , bei dem zum ersten Mal der Nomosbe­ griff in einem umfassenden Sinne auftaucht. Nom os bezeichnet ursprünglich einen Brauch oder eine Konvention bzw. eine herkömmliche Regel, nach der das Gemein­ schaftsleben der Menschen abläuft7. Auch nachdem der Nomosbegriff zur Bezeich­ nung eines geschriebenen Gesetzes benutzt wurde, kann das Wort noch für längere Zeit wie bisher eine unförmulierte oder mündlich bestehende Regel bezeichnen. Ehe die Schrift zur Kodifizierung von Regeln diente, gab es bestimmte Merker in Volks­ versammlungen, die die Aufgabe hatten, sich bestimmte Beschlüsse zu merken und auf Verlangen auswendig herzusagen8. Die Formalisierung von Regeln ist also älter als ihre Verschriftlichung. Von Anfang an gibt es neben dem Nomosbegriff auch den Begriff von Setzungen oder Satzungen, zunächst mündlichen, später verschriftlich­ ten, die bestimmte Entscheidungen oder Konventionen des Umgangs genau definier­ ten (θέμιτες, θεσμοί). Bei H e sio d heißt es in seinem Lehrgedicht Werke und Tage in den Versen 276-279:

4 E. Topitsch , Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Weltanschauungskritik, Wien 1958, bes. 3 f. 5 Vgl. W. K ullmann, Gods and Men in the Iliad and the Odyssey, in: Homerische Motive, Stuttgart 1992, 243 ff., bes. 246 ff., 258 ff. 6 Vf., Das letzte Buch der Odyssee, in: Homerische Motive (wie Fn. 5) 291 ff., bes. 302 ff. 7 So offenbar Hes. Th. 66, 417. Vgl. auch H. Frisk, Griechisches etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 1970, Bd. 2, 302 ff. Zum frühen Sprachgebrauch vgl. ferner M. Pohlenz, Nomos, Philologus 97, 1948, 135 ff. (Wiederabdruck in: M. P., Kleine Schriften D, hrsg. v. H . D örrie, Hildesheim 1965, 333 ff.); Martin O stwald, Nomos and the Beginnings of the Athenian Democracy, Oxford 1969,20 ff.; F. Q uass, Nomos und Psephisma. Untersuchung zum griechi­ schen Staatsrecht (Zetemata H. 55), München 1971, 14 ff. 8 Vgl. die bei Arist. Ib i. VI 8.1321b 38 ff. genannten alten Amtsbezeichnungen ΐερομνήμονες, μνήμονες und L. H. J effery and A. Morpurgo -D avies, PON1KASTAS and POINIKAZEN: BM 1969, 4-2,1 A New Archaic Inscription from Crete, in: Kadmos 9, 1970, 118 ff., bes. 150.

Antike Vorstufen des modernen Begriffs des Naturgesetzes

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„Folgenden Nomos gab Zeus den Menschen: den Fischen und den wilden Tieren und den beflügelten Vögeln, einander zu ffessen, da es unter ihnen kein Recht gibt; den Menschen aber gab er das Recht."

τόνδε γάρ άνϋρώποισι νόμον διέταξε Κρονίων ΐχθύσι μέν και θηρσί και οίωνοΐς πετεηνοϊς έσδειν άλλήλους, επεϊ ού δίκη έσα μετ’ αϋτοΐς. άνϋρώποισι δ’εδωκε δίκην . . .

Da H esiod von der aus dem O rient überkommenen Vorstellung ausgeht, daß die G ötter die Menschen geschaffen haben, kann Zeus auch als allgemeiner Naturge­ setzgeber erscheinen, nach dessen Anordnung sich die Tierspezies differenzieren9. Nom os hat hier bereits die Bedeutung einer den Menschen auferlegten Regel. Daß Zeus diese am Recht ausgerichtete Lebensweise nur den Menschen diktiert, erklärt sich daraus, daß nur diese die Regel begreifen können. Die Tiere sind sich dessen nicht bewußt, daß sie voneinander gefressen werden10. Einschränkend ist darauf hinzu wei­ sen, daß bei den Maßnahmen des Zeus nur die belebte N atur im Spiel ist. Dies ist anders in der Vorsokradk. D ort gibt es Ansätze zu einer Konzeption einer umfassenden ,Naturgesetzlichkeit' in dem skizzierten ursprünglichen Sinn, die den gesamten Kosmos mitumfaßt. Zunächst ist die Philosophie A naximanders zu nennen. Dieser sagt in fr. 12 B 1: „Aus welchen Dingen das Werden den seienden Dingen ist, in diese hinein geschieht auch der Untergang nach der Schuldigkeit. Denn sie zahlen einander Strafe und Vergeltung für ihr Unrecht nach der Ordnung der Zeit.“

έξ ών δέ ή γένεσίς έσα τοΐς ούσι, και τήν φθοράν εις ταΟτα γίνεσϋαι κατά τό χρεών διδόναι γάρ αύτά δίκην και τίσιν άλλήλοις τής αδικίας κατά τήν του χρόνου τάξιν.

Werden und Vergehen werden hier in Termini von Schuld und Sühne gefaßt. O b die gegenseitige Buße erst mit dem Untergang von allem im Unendlichen (άπειρον) erreicht ist, wie man gemeint hat11, ist fraglich. Man kann sich den Satz ganz gut verständlich machen, wenn man H erodot heranzieht, der wahrscheinlich in starker Anlehnung an A naximander die Weltgeschichte als Weltgericht interpretiert12. Danach wäre die Abfolge allen historischen Geschehens eine Kette von Schuld und Sühne. Hierzu läßt sich eine Erzählung über die Aufrechterhaltung des biologischen Gleichgewichts in Herod. ΙΠ 108 f. heranziehen. D ort berichtet H erodot von den geflügelten Schlangen in Arabien. Nach der Begattung verschlängen die Weibchen die

9 Vgl. M. L. W est, Hesiod. Works and Days. Edited with Prol. and Comm., Oxford 1978, 226. 10 Vgf. zur Stelle auch R. H irzel, Themis, Dike und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtsidee bei den Griechen, Leipzig 1907, 366 f„ 387 f.; F. H einimann, Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts (Basel *1945) Darmstadt 1965, 62. 11 G. Vlastos, Equality and Justice in Early Greek Cosmologies, Classical Philology 42, 1947, 156 ff., bes. 169 f. 12 Vg|. H. E rbse, E>ie Funktion der Novellen im Werk Herodots, in: Gnomosyne. Menschliches Denken und Handeln in der frühgriechischen Literatur, Festschrift für Walter Marg zum 70. Ge­ burtstag, hrsg. v. G. K urz, D. M üller, W. N icolai, München 1981, 251 ff.

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Männchen; die Jungen würden den Vater rächen, indem sie die Gebärm utter des Weibchens durchbissen, wodurch dieses den Tod finde. In diesem Falle ist das Zurweltkommen Vergeltung und Unrecht zugleich. Daß das Männchen verschlun­ gen wird, ist ebenfalls Unrecht. Analog läßt sich der Gedanke des gegenseitigen Bußezahlens bei A naximander verstehen. Die Vorstellung eines Gesetzes der Natur, das von einem göttlichen Gesetzgeber aufgestellt wäre, ist aber bei ihm nur rudimentär vorhanden. Es fehlt der Begriff des Gesetzes oder der Konvention (νόμος) und der eines Gesetzgebers, was beides bei H esiod anzutreffen war. Die Vorstellung eines Weltgesetzes gibt es aber bei H erakut . Dieser entwickelt die Konzeption eines allgemeinen Logos, einer „Rede“, die alles bestimmt (fr. 22 B 1). Auch dies ist eine soziologische Metapher. D er Logos ist das Kommunikationsme­ dium der Menschen, und es wird unterstellt, daß auch die gesamte Welt, einschließ­ lich der Natur, einer A rt sprachlichem Befehl unterworfen ist. Freilich beklagt H erakut , daß die Menschen auf diese allgemeine Rede nicht achten und versuchen, ihre individuellen Wege im Denken zu gehen (fr. 22 B 2). In diesem Zusammenhang verwendet er statt des Begriffs des Logos auch den Begriff des Gesetzes im Sinne eines allumfassenden (Welt-)Gesetzes. Dies ist leicht verständlich; denn ein Gesetz wird immer durch einen Logos formuliert. In fr. 22 B 114 heißt es: „Wenn man mit Verstand reden will, muß man sich stark machen mit dem allen Gemeinsamen wie eine Stadt mit dem Gesetz und noch viel starker. Denn alle menschlichen Gesetze nähren sich von dem einen, göttlichen; denn dieses herrscht, soweit es nur will, und reicht aus für alles und erweist sich als überlegen.“ ζύν νόψ λέγοντας ΐσχυρίζεσΰαι χρη τώ ξύνω πάντων, όκωσπερ νόμψ πόλις, και πολύ ίσχυροτέρως. τρέφονται γάρ πάντες οί άνθρώπειοι νόμοι ύπό ενός του θείου· κρατεί γάρ τοσοΰτον όκόσον έύέλει καί έξαρκεΐ πασι και περιγίνεται.

Wenn man etwas philosophisch (im Sinne Heraklits) verstehen will, muß man sich auf etwas stützen, wie die Stadt sich auf etwas stützt. Die Stadt ist bestimmt durch den Nom os, durch das Gesetz, das heißt, durch die mündlichen und schriftlichen Konventionen, nach denen das Zusammenleben der Menschen geregelt ist. Wenn man etwas Umfassendes verstehen will, muß man die noch allgemeineren Konven­ tionen und Regeln erfassen, von denen dieses Umfassende beherrscht wird. Dabei geht H eraklit davon aus, daß ein bestimmtes Verhältnis zwischen den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und denen der Polis besteht. Alle menschlichen Gesetze beziehen ihre Kraft aus dem einen göttlichen Gesetz, das auf dem Nus (dem Geist, bzw. der Vernunft) beruht und universal ist. Wichtig ist dabei das Wortspiel ξυνόν —ξύν νω. Dies ist eine klare Parallele zwischen menschlicher und natürlicher Gesetzlich­ keit13. H erakut spricht nicht von N atur oder Welt. Er bestimmt das Objekt seiner vernünftigen Rede überhaupt nicht. Es liegt aber nahe, daß er an alles das denkt, was er seiner Gegensatzlehre unterwerfen will, und dies ist sehr viel. Es ist nicht die ausnahmslose Geltung des göttlichen Gesetzes betont, aber die Konzeption einer die menschlichen Dinge übersteigenden Gesetzlichkeit ist klar gegeben. H erakut hat

13 Zur Interpretation des Fragments vgl. K ranz z. St.; G. S. K irk, Heraclitus. The Cosmic Fragments, cd. with an intn>duction and commentary, Cambridge 1954, 289 ff.

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auch einen bestimmten Gottesbegriff, der mit dem Gedanken der Einheit der Gegensätze verknüpft ist und gewiß sehr abstrakt und metaphorisch zu verstehen ist (vgl. fr. 22 B 32.67.102). Aber dieser erlaubt es, auch einen göttlichen Gesetzgeber zu imaginieren, der das Weltgesetz ausspricht. Ein solcher wird in fr. B 114 nicht direkt erwähnt, ist aber im Text impliziert. Ausdrücklich erstreckt sich bei H erakut die Universalität des göttlichen Nom os auch auf den Bereich des Himmels. So besagt fr. 22 B 94, daß Helios seine Maße nicht überschreiten werde; andernfalls würden ihn die Erinyen, die Helfer der Dike, ausfindig machen. Dies bedeutet, daß Tag und Nacht innerhalb des Kosmos sozusagen gesetzlich geregelt sind und gewissermaßen polizeilich überwacht werden14. Daß man sich vorstellte, die Bewegungen der Gestirne würden regelhaft in Analogie zu menschlichen Regelungen vonstatten gehen, aber nicht mit absoluter Notwendigkeit im Sinne des A ristoteles (s. u.) oder im Sinne der modernen Naturgesetze ablaufen, entspricht dem zeitgenössischen Erfahrungshorizont: Sonnenfinsternisse offenbaren leichte Störungen des Sonnen­ umlaufs, und H erodot erzählt in Π 142, daß nach der Erzählung ägyptischer Priester die Sonne innerhalb von 11340Jahren (nur!) viermal außerhalb der gewohn­ ten O rte aufgegangen sei. Wie immer er zu dieser Angabe gekommen sein mag, sie gibt jedenfalls die Vorstellung wieder, die man sich von der relativen Regelmäßigkeit der Sonnenbahn machte. Gerade um dies auszudrücken, eignet sich die Gesetzesme­ taphorik gut. Eine verwandte Metaphorik bestimmt fr. 22 B 120: „Von Morgen und Abend sind Grenzen die Bärin und gegenüber der Bärin der Grenzstein des den Äther regierenden Zeus.“ ήοΰς και εσπέρας τέρματα ή άρκτος και άντίον τής άρκτου ούρος αίθριου Διός.

Ich glaube nicht, daß Zeus hier gegen fr. 22 B 94 mit dem Sonnengon oder dem hellen Teil des Himmels identifiziert ist. Der »Grenzstein* (ούρος) bezeichnet vielmehr die von Zeus gesetzte Grenzmarke, die den Süden anzcigt. Das Fragment zeigt den G ott wieder in einer quasilcgislativen Funktion. Bei Parmenides ist in fr. 28 B 1,14 von der vielstrafenden Dike die Rede, die am Tor der Bahnen von Tag und Nacht die Schlüsselgewalt hat. Es ist zu vermuten, daß ihr eine der Ordnungsfunktion der heraklitischen Erinyen ähnliche Aufgabe zuge­ dacht w ar15. Bei dem Dichter P indar gibt es ebenfalls eine allgemeine Aussage über den Nom os. Sie findet sich in einem berühmten Fragment, in fr. 169a Sncll-Maehler. Diese Stelle hat im Altertum eine große W irkung gehabt, obwohl sie ebenso wie in der Neuzeit wahrscheinlich immer mißverstanden w urde16. D ort heißt es:

14 Der Strafgedanke begegnet auch in fr. 22 B 66: „Alles wird das herankommende Fvuer richten und fassen“ (πάντα τό πυρ έπελθόν κρίνει και καταλήψεται). Vgl. Μ. Marcovic, RE Suppi. X s. v. Hcraklcitos, Stuttgart 1965, Sp. 307. 15 Vgl. H irzel (wie Fn. 10) 223. 16 Zu Herodot HI 38 vgl. H einimann (wie Fn. 10) 80 ff. Zu den Anspielungen auf diese Äußerung bei Platon vgl. H . E. Stier , ΝΟΜ ΟΣ ΒΑΣΙΛΕΥΣ, Philologus 83,1928, 225 ff., bes. 244 ff. Auf weitere Zitate werden wir im Laufe der Arbeit noch zu sprechen kommen.

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Wolfgang Kullmann „Der Nomos, der König aller, der Sterblichen und der Unsterblichen, führt mit überwältigender Hand, indem er das Gewalttätigste für Recht erklärt. Ich schließe dies aus den Taten des Herakles; denn er trieb die Rinder des Geryones zu dem kyklopischen Tor des Eurystheus wie verlangt und ohne, daß er sie gekauft hätte, und er brachte herbei des Diomedes Rosse .. νόμος ό πάντων βασιλεύς Φνατών τε και άΦανάτων άγει όικαιών το βιαιότατον

ύπερτάτα χειρί. τεκμαίρομαι έργοισιν ' Η ρακλέος επει Γηρυόνα βόας Κυκλώπειον έπι πρόΦυρον ΕύρυσΦέος αϊτητάς τε] καί άπριάτας έλασεν . . . ] Διομήδεος Ιππους.

αίτητάς d. T heiler

Offenbar ist der Nomosbegriff hier trotz der zeitlichen Nähe zu H eraklit völlig anders zu verstehen als bei diesem. Pindar meint: „Es ist Branchy die Taten des Gottesanwärters Herakles kommentarlos zu akzeptieren“ (so T heiler 17). H ier ist an bestimmte Konventionen gedacht, die für so hochgestellte und vom Mythos geheiligte Personen wie Herakles gelten. Solche Heroen stehen, ohne daß dies als anstößig empfunden würde, über den normalen Regeln der menschlichen Gemein­ schaft und handeln nach Regeln und N orm en, die höher sind als die der Menschen und G ötter in ihrem normalen Verkehr miteinander. Welchen Charakter diese Norm en haben, von wem sie gesetzt sind, wird nach Ansicht Pindars von den Menschen nicht diskutiert. P indar kritisiert dies offenbar nicht; aber die Tatsache, daß er es thematisiert, zeigt, daß der Nomosbegriff problematisch wird. In der sophistischen Bewegung, d. h. im weiteren Verlauf des 5. Jahrhunderts, wird nicht m ehr zwischen menschlichen und übermenschlichen Konventionen unter­ schieden, sondern es wird zwischen menschlichen Konventionen und dem, was für die N atur charakteristisch ist, differenziert. Es geht um den Unterschied zwischen „von N atur aus“ und „aufgrund von N om os“, das heißt, aufgrund von Konvention, Vereinbarung, menschlicher Setzung. Damit werden Nom os und Physis in Gegen­ satz zueinander gesetzt. Dies ist Ausdruck eines stark entwickelten Kulturbewußt­ seins. Man wird sich der menschlichen Kultur bewußt, die man von der N atur abgrenzt18. Beliebter Gegenstand der Spekulation sind die Wilden. Schon in der Odyssee war hervorgehoben, daß die Kyklopen keine Rechtsprechung besitzen. Sie werden damit zum Prototyp der Wilden für die Griechen, und als solche finden sie auch in die staatstheoretischen Überlegungen von P la to n und A risto teles Ein­ gang. Es entsteht eine Diskussion darüber, ob es ein „von N atur aus Gerechtes“ gibt oder ob Recht immer nur aufgrund von Konventionen festgclegt wird. Nach der Argumentation der Athener im Melierdialog bei T h u k y d id es V 105,2 gibt es ein Gesetz (νόμος), - das sie selbst nicht aufgestellt oder nach Aufstellung erstmals 17 W. T heiler, Νόμος ό πάντων βασιλεύς, MusHelv 22, 1965, 69 ff., bes. 75; ebenso W. K. C. G uthrie , A History of Greek Philosophy, vol. ΠΙ, Cambridge 1969,134. Anders unter anderen V. E hrenberg, Dic Rechtsidec im frühen Griechentum, Leipzig 1921, 119 f.; M. G igante, ΝΟΜ ΟΣ ΒΑΣΙΛΕΥΣ (Ricerche filologiche 1), Napoli 1956, 72 ff.; E. R. D odds, Plato, Gorgias. A revised text with introduction and commentary, Oxford 1959, 270. 18 Vgl. H einimann (wie Fn. 10) insb. 110 ff. und 133 ff. (zu Antiphon fr. 87 B 44).

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angewandt hätten, sondern das einfach bestehe19, - daß der Mensch allezeit unter dem Zwang seiner N atur (ύπό «ρύσεως άναγκαίας) herrsche, wo immer er die Macht habe. Oie sophistische Spekulation bedient sich des bewußt paradox formulierten Ausdrucks eines »Gesetzes der Natur* (νόμος φύσεως), um damit das Recht des Stärkeren zu bezeichnen20. So wenigstens legt es auch P laton , Gorgias 483 E 3, dem Sophisten Kallikles in den M und und läßt ihn zur Bestätigung seiner These P indars Worte vom »Nomos, dem König aller Sterblichen und Unsterblichen*, zitieren. Es braucht nicht betont zu werden, daß das Konzept eines solchen Gesetzes der N atur weit entfernt ist von einem Naturgesetz in unserem Sinne. Das - erklärtermaßen auch im Tierreich gültige - „Naturgesetz des Rechts des Stärkeren“ ist nur das paradoxe Gegenstück zum menschlichen Gesetz und Recht; es ist die vollkommene Gesetzlo­ sigkeit Das bedeutet, es wird eine Regelhafdgkeit konstatiert, die dem Recht im herkömmlichen Sinne hohnspricht. In der N atur gelten nach sophistischer Auffas­ sung keine menschlichen Gesetze, also ist ein „Gesetz der N atur“ das Gegenteil von einem (auf das herkömmliche Recht zielenden) Gesetz. Ein solcher Gesetzesbegriff macht eine Umwertung des Rechtsbegriffs notwendig21. N un gibt es freilich einen anderen Bereich, in den man im Rahmen naturwissen­ schaftlicher Überlegungen mit größerem Erfolg den Begriff des Gesetzes einbezogen hat. Es ist der Bereich der M edizin, insofern sie sich mit dem menschlichen Orga­ nismus beschäftigt Eine der Grundvorstellungen der griechischen Medizin des 5. und 4. Jahrhunderts war es, daß man Gesundheit vor allem als eine Balance zwischen verschiedenen Kräften ansah. Ist diese Balance gestört, ist der Mensch krank; ist sie vorhanden, ist der Mensch gesund. Das organische Geschehen wird im frühen 5. Jahrhunden von dem Arzt A lkmaion von Kroton deshalb mit den Kräften in einer griechischen demokratischen Polis verglichen22. A lkmaion spricht davon, daß die Jsonomie* der Kräfte die Gesundheit bewahre (fr. 24 B 4). Zu diesen Kräften (δυνάμεις) zählt er das Feuchte, das Trockene, das Kalte, das Warme, das Bittere, das 19 Die Formulierung zeig«, daß νόμος rein sprachlich nicht mehr ohne weiteres als ,Brauch* verstanden wird. 20 Vgl. H einimann (wie Fn. 10) 167 Fn. 7, H . Schreckfnberg , Ananke. Untersuchungen zur Geschichte des Wortgebrauchs (Zetemata 36), München 1964,51 Fn. 4; W. K. C. G uthrie (wie Fn. 17) 86; G isela Striker , Origins of the Concept of Natural Law, in: J. J. Cleary (ed.). Pro­ ceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy II, Lanham 1987, 79 ff., bes. 83. 21 Vgl. auch A. E. Taylor, A Commentary on Plato’s Timaeus, Oxford (*1928) 1962, 5%. 22 Zu dieser Metaphorik vgj. Vlastos (wie Fn. 11) 156-158. Siehe ferner ders., Isonomia, AJPh 74, 1953, 337 ff.; L. MacKinney, The Concept of Isonomia in Greek Medicine, in: Isonomia, hrsg. v. J. Mau und E. G. Schmidt, Berlin 1964, 79 ff.; M. O stwald (wie Fn. 7) 97 ff.; C h . TriebelSchubert, Der Begriff der Isonomie bei Alkmaion, Klio 66, 1984, 40 ff. Letztere legt Wert darauf, daß Alkmaion einen älteren, aus der Aristokratie stammenden Isonomiebegriff verwende, wie er im Harmodioslied vorkomme, der nicht mit dem bei Herodot ΠΙ 80 f. verwendeten identisch sei. Doch ist der Hauptgedanke Alkmaions in jedem Falle klar. Sicherlich ist hinsichtlich der von ihm zuerst genannten vier Elementarqualitaten (feucht, trocken, kalt und warm) völlige Gleichheit erforderlich, wenn die Gesundheit bewahrt sein soll, während bei den weiter abgeleite­ ten Faktoren (bitter, süß usw.) keine absolute Gleichheit postuliert sein kann. Zum staatsrecht­ lichen Begriff der Isonomie im allgemeinen vgl. auch V. E hrenberg, RE Suppi. VD s. v. Isonomia, Stuttgart 1940, Sp. 293 ff.; C h . M eier, Der Wandel der politisch-sozialen Begriffswelt im 5. Jahrhundert v. Chr., in: Archiv für Begriffsgeschichtc, Bd. 21, Bonn 1977, 7 ff., bcs. 13 ff.

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Süße usw. Oie »Monarchie* einer einzelnen Kraft sei dagegen krankheitserregend. Isonomie bedeutet die Gleichheit vor dem Gesetz, die Gleichheit aller Klassen in einer Gesellschaft. W ir können es auch mit „Gleichberechtigung“ übersetzen; es ist ein staatsrechtlicher Begriff und in etwa synonym mit „Demokratie“. Auf der gleichen Linie liegt es, wenn P laton im Ttmaios 83 £ 2-5 davon spricht, daß krankhafte Sekrete gegen die Gesetze der N atur (παρά τούς τής φύσεως νόμους) zustande kommen. Dabei wird die Natur, d. h. die Konstitution des einzelnen Menschen, als die gesetzgebende Kraft im menschlichen Körper betrachtet23. Bei einer natürlichen Verteilung der einzelnen Kräfte ist der Mensch gesund. Eine Störung der „politischen O rdnung“ des Organismus führt dann zur Krankheit. Diese Metaphorik ist gut geeignet, das Diffuse von Krankheitsbildem auf den Begriff zu bringen. Verwandte Vorstellungen wie im Ttmaios gibt es auch an anderen Stellen bei P laton , im Corpus Hippocradcum und bei A ristoteles . S o verwendet z. B. P laton den Ausdruck »Akropolis* für den Kopf (R. 560 B 8, 71 70 A 6), A risto ­ teles für das H erz (D epart an. 670a 25 f.). D er eigentlich staatsrechtliche Begriff des M achtzentrums wird also zum Begriff der „Kommandozentrale“ im menschlichen Körper, die entweder im Kopf oder im H erzen angesiedelt wird. E)ie Metapher eines politischen Kampfes scheint hinter den verschiedenen medizi­ nischen Säfte- und Nahrungstheorien des Corpus Hippocradcum zu stehen und auch die genetische Theorie des Aristoteles zu bestimmen. In den ersteren kom mt es darauf an, ob die »Natur* oder ein bestimmtes Element bzw. eine bestimmte Elemen­ tarqualität oder eine bestimmte Nahrung die Oberhand gewinnt, in der letzteren geht es darum, ob sich die Impulse, die vom männlichen Samen ausgehen, durchsetzen oder die Impulse, die von weiblicher Seite zur Konstituierung eines neuen Lebewe­ sens beitragen. In beiden Fallen wird das W ort „sich durchsetzen“ (κρατεΐν) benutzt (vgl. z. B. H ipp., De affect. 16 (V I224 L.), De Viet 13,1-3 (VI 472.474 L.); De genit 6,1.2; 7,2 (VE 478 L.); VM3 (I 578 L.) [über die N ahrung]24; Arist., De gen. an. IV 3.767 b 11). Offenbar bietet sich der Vergleich eines Organismus mit einer Polis besonders an25; umgekehrt finden wir bei Platon und A ristoteles oft auch den Vergleich einer Polis mit einem Organismus26. V lastos hat versucht, auch die Begrifflichkeit der Naturphilosophie des E mpedokles von der »politischen* Ausdrucksweise in der Medizin her zu verstehen27. 23 Vgl. den Anfang von D e genit. I 1 (VH 470 L.) ό νόμος πάντα κρατύνει. Zu trennen sind von solcher Ausdrucksweise Stellen, an denen mit dem sophistischen Gegensatz von Nomos und Physis operiert wird wie in De viet. I 4 und 11 (VI 474., 476, 486 L.), wozu H einimann (wie Fn. 10) 154 ff. zu vergleichen ist. Im übrigen ist damit zu rechnen, daß in De genit 11 wieder das mißverstandene Pindarzitat im Hintergrund steht, worauf das πάντα hindeutet. 24 Für weitere Belege vgl. den Index Hippocraticus, hrsg. v.J.-H . Kühn-U. Fleischer, Göttingen 1986, s. v. κρατέω. 25 Eine noch kühnere staatsrechtliche Metaphorik findet sich bei Hipp., D ecam eYV 1 (VIII 588,14 f. L.): Ό δέ εγκέφαλός έστι μητρόπολις τού ψυχρού και τού κολλώδεος, το δε θερμόν τού λιπαρού μητρόπολις. Das Gehirn ist die Mutterstadt für alle „Kolonien“ des Kalten und Klebrigen im Körper. Die Bindung wird als eine sehr viel lockerere vorgestcllt, als sie durch ein „Gesetz“ ausgedriiekt werden könnte. 26 Vgl. W. K ullmann, II pensiero politico di Aristotele, Milano 1992, 17 ff. 27 (W ieFn. 11) 158-161.

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Wenn der Philosoph davon spreche, daß die vier Elemente und die beiden Kräfte Liebe und Streit gleich (stark) und gleich alt seien und abwechselnd herrschten (31 B 17,27-29), so denke er an die Kräfte in einer Demokratie und an den geregelten Wechsel von Herrschen und Beherrschtwerden. Diese Schlußfolgerung ist jedoch nicht zwingend. D er Gedanke des ewigen Wechsels und des Wechsels zwischen Gegensätzen entwickelt sich schon sehr früh und unabhängig von irgendwelchen konstitutionellen Verhältnissen. Man denke etwa an Odyssee σ 125 ff., wo Odysseus den Freier Amphinomos mahnt, im Glück nicht überheblich zu sein, an A naximan­ ders Philosophie, an H erodots Proömium, in dem er vom Auf und Ab der Städte spricht (I 5), oder an H erodot I 207, wo vom κύκλος πρηγμάτων die Rede ist Richtig ist zwar, daß anders als dort bei E mpedokles politische Analogien im Hintergrund zu stehen scheinen. Aber es gibt keinen im Nom os geregelten Wechsel, sondern nur einen Pakt (,Eid‘, όρκος: 31 B 30,3) zweier kosmologischer Gottheiten, der Liebe und des Streits, aufgrund dessen jede Gottheit die gleiche Zeit herrscht28. Die politischen Analogien beschränken sich in Περί φύσεως überdies auf wenige W örter (wie κρατεΐν, όρκος). Dabei ist offensichtlich eher an den Parteienkampf un­ gleicher Gruppierungen, der zur Verbannung der jeweils unterlegenen Partei zu füh­ ren pflegte, als an den geregelten demokratischen Wechsel zwischen Gleichen in den Ämtern zu denken. E mpedokles erlebte selbst die Verbannung aus seiner Heimat. ln den sehr religiös gefärbten Καθαρμοί tritt der Gedanke einer allgemeinen Gesetzlichkeit stärker zu Tage. Es ist von einem »Spruch der Notwendigkeit1, einem alten ewigen Göttergesetz (oder „Götterbeschluß“) die Rede, das mit breiten Eiden versiegelt ist (θεών ψήφισμα παλαιόν, άίόιον, πλατέεσσι κατεσφρηγισμένον όρκοις). Nach ihm muß jemand, der sich mit Mordblut befleckt hat, 30 000 Jahre verschiedene irdische Inkorporationen durchlaufen, ehe er zu den Seligen gelangen kann (fr. 31 B 115). H ier gibt es im Götterrat sozusagen eine gesetzgebende Ver­ sammlung. In fr. 31 B 135 wird das göttliche Verbot, Beseeltes zu töten, noch näher charakterisiert und wahrscheinlich in einen allgemeineren Rahmen gestellt (άλλα τό μέν πάντων νόμιμον διά τ’ εύρυμεδοντος αίθέρος ήνεκέως τέταται όιά τ’ άπλετου αυγής)29. A ristoteles interpretiert dieses allgemeine Verbot in R het I 13.1373b 14 ff. mit Recht als Vorahnung des Gedankens des allgemeinen Naturrechts (φύσει κοινόν δίκαιον). Gelegentlich ist auch in der Tragödie von einem allumfassenden Nomos die Rede. In ihrer verzweifelten Lage als Kriegsgefangene, deren Tochter Polyxena geopfert werden soll, äußert Hekabe (Euripides, Hec. 799 ff.): »Aber die Götter sind stark und der jene beherrschende Nomos. Denn dem Nomos nach glauben wir an Götter und haben uns im Leben Unrecht und Recht festgelegt.“

άλλ’ oi θεοί σύένουσι χώ κείνων κρατών νόμος νόμψ γάρ τούς θεούς ήγούμεΰα και ζώμεν άδικα και δίκαι’ ώρισμενοι.

28 Vgl. D. O 'B rien, Empedocles’ Cosmic Circle. A Reconstruction from the Fragments and Secondary Sources, Cambridge 1969, 27 ff. 29 Vgl. H . M inz, Anfänge des Naturrechts bei Empedokles und ein Vergleich mit dem Naturrecht des Sophisten Antiphon, Diss. Köln 1960, 47 ff.

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Die Widersprüchlichkeit der Worte liegt auf der H and30. Nom os wird hier sowohl im Sinne Heraklits und des falschverstandenen Pindarzitats als universales Weltgesetz als auch (in Vers 2 und 3) als Konvention (und oppositum zu Physis) aufgefaßt. E uripides legt häufiger seinen Figuren halbverstandene zeitgenössische Gedanken in den M und, aus denen die Menschen in tragischer Verblendung den Glauben an eine absolut gerechte Welt zu schöpfen hoffen31. Auch die Bestimmung des Göttlichen als des von alters her Gegebenen und zugleich von N atur aus Bestehenden durch den C hor in den Bakcben 890 ff.32 paßt zu den widersprüchlichen Äußerungen der dramatis personae über das Göttliche, die durch den Verlauf der Handlung in der Regel so sehr diskreditiert werden.

3.

P l a to n u n d A r is to te le s

ln der klassischen Philosophie der Griechen fehlt die Vorstellung eines Naturgesetzes, weil die Welt nicht als von einem G ott geschaffen vorgestellt, sondern als ewig bestehend interpretiert wird, so daß ein göttlicher Gesetzgeber für die N atur keinen Platz hat. Dies gilt für P laton und A ristoteles , aber auch für E pikur . Bei P laton kommt noch hinzu, daß er überhaupt die Möglichkeit einer Naturwissen­ schaft leugnete. Schon im Phaidon berichtet Sokrates in % A 6 ff. davon, wie sehr er in seiner Jugend enttäuscht wurde, als er sich um Wissen im Bereich der Erforschung der N atur bemühte (περί φύσεως ιστορίαν), und wie er dann zu den Logoi seine Zuflucht nahm. Dies gibt P laton die Gelegenheit, durch den M und des Sokrates seine Ideenlehre einzuführen. P latons Einstellung zu einer Erforschung der N atur kommt besonders deutlich im Philebos zur Sprache. D ort bezeichnet er die Dialektik, insofern sie sich mit dem immer gleichbleibenden Seienden beschäftigt, als die wahrste Erkenntnis (58 A). Für Platon war die Natur, weil sie in ständiger Veränderung zu sein schien, kein Bereich, über den man wissenschaftliche Aussagen machen kann, wie er ausdrücklich feststellt {Phil. 58 E-59 B). Im Ttmaios hat er sich zwar zu diesem Gebiet geäußert. Doch begnügen die Unterredner sich in diesem Dialog damit, einen είκώς μύθος zu akzeptieren, also eine A n »Roman von der Natur*, und nichts darüber hinaus zu suchen (7129 D )33. Auch der Demiurg, der in der Erzählung die Welt konstruiert, ist allein dieser Darstellungsform zu verdanken.

30 Vgl. H einimann (wie Fn. 10) 120 f. Anders unter anderen V. E hrenberg, Anfänge des griechischen Naturrechts, Archiv f. Gesch. d. Philosophie 35,1923,140 f.; G igante (wie Fn. 17) 220, der die direkte Bezugnahme auf Pindar mit Recht hervorhebt. 31 Vgl. W. K ullmann, Euripides’ Verhältnis zur Philosophie, in: Literatur und Philosophie in der Antike, hrsg. v. S. J äkel, H eikki Koskenniemi, Vappu Pyykkö, Annales Universitatis Turkuensis, Ser. B 174, Turku 1986, 45 ff. 32 Etwas anders G igante (wie Fn. 17) 210 ff.; H einimann (wie Fn. 10) 166 f.; E. R. D odds, Euripides. Bacchae, Oxford 21960, 189 f. 33 W. K ullmann, Der platonische Timaios und die Methode der aristotelischen Biologie, in: Studia Platonica, Festschrift für Hermann Gundert, Amsterdam 1974, 139 ff., bes. 143 ff.

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Es liegt auf der H and, daß man bei dieser Einstellung nicht nach Naturgesetzen in unserem Sinne sucht. N ur im X. Buch der Nomoi versucht P laton , die irdischen Gesetze, mit denen er sich in dem Werk beschäftigt, metaphysisch zu sanktionieren. In L 890 B -D wirft der Athener die Frage auf, was der Gesetzgeber tun solle, wenn die Behauptung aufgestellt werde, daß es keine G ötter gebe. Kleinias antwortet, er müsse der alten Rede, daß die G ötter existieren, zu Hilfe eilen, ebenso wie er dem Gesetz und der menschlichen Kunst helfen müsse, da sie von N atur seien oder nicht weniger als die Natur, da sie ja nach dem rechten Logos Erzeugnisse der Vernunft (des Nus) seien. H ier wird mit anderen Worten der Gedanke des H erakut erneut entwickelt, daß die Gesetze, wenn sie Erzeugnisse des N us sind, der ja, wie man ergänzen muß, göttlich ist, nicht konventionell und beliebig sind, sondern „von N atur“ oder nicht geringer als die Natur. Wenn menschliche Gesetze durch die Vernunft geadelt sind, können sie als Naturgesetze gelten oder als etwas, was im Rang noch darüber steht Schon im IV. Buch der Nomoi hatte P laton die spielerische Etymologie von νόμος, Gesetz, als του νοΰ διανομή, als ,Vernunftzuteilung1, gege­ ben (L 714 A 2), die denselben Gedankengang widerspiegelt In gewisser Weise nimmt P laton in den Nomoi einen Gedanken vorweg, der in der Stoa, wenn auch in etwas banalerer Form, wiederkehren wird. Jedoch muß auch der grundlegende Unterschied gesehen werden, der zwischen H erakut und der Stoa einerseits und P laton andererseits besteht P laton vermeidet viel stärker als diese eine Personalisiening bzw. Personifizierung der die Welt bestimmenden Vernunft und steht in dieser Hinsicht Aristoteles näher, auf den ich gleich zu sprechen komme. Es sind m ehr pragmatische, auf «Überredung* zielende Gründe, die Kleinias in den Nomoi bewegen, seine Überlegungen im 10. Buch an den Volksglauben anzuknüpfen34. Gewiß vermeidet auch die stoische Lehre einen Deismus und läßt sich nur als pantheistisch klassifizieren; gleichwohl scheut sie das Bild eines göttlichen Gesetz­ gebers nicht und bemüht sich in dieser Hinsicht um volkstümliche Anschaulich­ keit. Wie bestimmt sich nun die Position des größten Naturwissenschaftlers der Antike, des A ristoteles , gegenüber der ursprünglichen Vorstellung eines Gesetzes der N atur und gegenüber dem modernen Begriff des Naturgesetzes im einzelnen? Tatsächlich kommt der Begriff des Naturgesetzes einmal bei ihm vor, wenn er am Anfang seiner Schrift De caelo von der Bedeutung der Dreizahl im All spricht (268a 7 ff.). Er denkt dabei zunächst an die Dimensionenfolge und verweist auf die Pythagoreer, die die Bedeutung der Dreizahl hervorgehoben hätten. Er sagt dann mit jenem integrativen „wir“, das Gelehrte auch heute in Vorlesungen zu verwenden pflegen, wenn sie sich volkstümlich geben, ohne sich mit dem Volk ganz identifizieren zu wollen, „wir“ würden diese Zahl auch im religiösen Bereich verwenden, weil wir sie „von der N atur“, gewissermaßen als „Gesetz“, übernommen hätten. Nach Aristoteles *Meinung wird also die mathematische Strukturiertheit der Welt von den Menschen als ein ihnen auferlcgtes und zu beachtendes „Gesetz“ interpretiert.

34 Vgl. H. G örgemanns , Beiträge zur Interpretation von Platons Nomoi (Zctemata 25), München 1960, 85 ff.

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das man in die religiöse Alltagswelt übernommen habe. Es handelt sich hier um eine singuläre Verwendung des Nomosbegriffe. Dieser wird nicht im Sinne eines moder­ nen Naturgesetzes gebraucht; A ristoteles bringt mit ihm vielmehr die seiner Meinung nach anthropom orphe, abergläubische Interpretation des Naturgeschehens zum Ausdruck, deren wir uns im Alltag befleißigen35. Als Wissenschaftler fühlt sich A ristoteles diesem Vorgehen gegenüber natürlich erhaben. Dennoch wandelt sich im Verhältnis zu P laton seine Einstellung zu der Möglichkeit einer Naturwissenschaft grundlegend. Er konzediert P laton , daß es nur von den immer seienden Dingen, d. h. nicht dem Individuellen, ein Wissen und somit eine Wissenschaft geben kann. Im Unterschied zu seinem Vorgänger findet er das Allgemeine aber nicht in den dem Materiellen gänzlich entrückten Ideen, sondern in der »Form am Material* (είδος έν rfj ύλη, De part an. I 3.643a 24), d. h. in der Spezies, wie sie in den einzelnen Individuen materiell realisiert ist. D er platonische Begriff der Idee (Eidos) wird dabei schon in der Frühschrift der Kategorien auf den Typus, die Spezies eingeengt, während P laton davon ausging, daß die Einzeldinge jeweils an verschiedenen Ideen Anteil haben, und sich so ausdrückte, als bestünden die Ideen separat von den Einzeldingen36. A ristoteles ist damit in der Lage, allgemeine Regelmäßigkeiten (in moderner Terminologie: Gesetzmäßigkeiten) in der von Platon wegen ihrer ständigen Bewegtheit für wissenschaftlich nicht erfaßbar gehaltenen N atur adäquat zu beschreiben. S un des modernen Begriffe des Naturgesetzes verwendet er zur Bezeichnung der Universalität einer Regel den Begriff der „schlechthinnigen (absoluten) Notwendig­ keit“ (απλώς άναγκαΤον)37. Z. B. verlaufen nach seiner Lehre alle Prozesse im Bereich der Gestirne „mit absoluter Notwendigkeit“ ab (De gen. et am . Π 11)38. Sie sind nicht von irgendwelchen weiteren Bedingungen abhängig. Die Welt ist nicht von G ott erschaffen, sondern ewig. Im Bereich des Irdischen gibt es in einzelnen N atur­ prozessen nur die hypothetische Notwendigkeit39. D. h. die Prozesse laufen nur unter bestimmten Voraussetzungen mit Notwendigkeit ab. Wenn z. B. einmal ein Mensch gezeugt ist, dann konstituiert sich sein Körper mit Notwendigkeit so, wie er sich konstituiert. Aber ob ein Mensch entsteht, ob es zur Zeugung eines Menschen kommt, ist nach A ristoteles durch die N atur nicht determiniert. Im sublunaren Bereich gibt es in den einzelnen natürlichen Prozessen nur das „meistenteils“, das „Reguläre“. Auch dort können wir aber seiner Meinung nach bestimmte allgemeine

35 Unrichtig F rey (wie Fn. 2) 528. 36 Auch wenn Aristoteles den Substanz begriff der Cat. in der M etaphysik in die partikuläre Form und die Materie aufspaJtet (z. B. McLzph. Z 11.1037 a 29 f.), bedeutet dies keine Rückkehr zu einer Ideenlehre. Die Allgemeinheit der Spezies bleibt rein begrifflicher Natur (Metaph. Z 13.1038 b 8 f.). 37 Der Begriff der Notwendigkeit (άνάγκη) kann im Griechischen auch anthropomorph aufgefaßt werden und den physischen Zwang bezeichnen, wie A ristoteles in einer Begriffsuntersuchung in Met. Δ 5.1015a 26 ff. mit Dichterzitaten belegt. Er selbst ist in seinen wissenschaftlichen Schriften freilich weit davon entfernt, ihn so zu benutzen. 38 Vgl. Vf., Notwendigkeit in der Natur bei Aristoteles, in: Aristoteles. Werk und Wirkung. Paul Moraux gewidmet. Erster Band Aristoteles und seine Schule, hrsg. v. J. W iesner, Berlin 1985, 207 ff., bes. 209 ff. 39 Vgl. Vf., Notwendigkeit (wie Fn. 38) 213 ff.

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Sachverhalte isolieren, die man heutzutage als naturgesetzliche Gegebenheiten wer­ ten könnte40. Bestimmte Tierspezies, z. B. auch der Mensch, haben bestimmte körperliche Merkmale oder Verhaltensnormen. Sie sind z. B. von N atur aus zweifü­ ßig und so veranlagt, daß sie als Herdentiere bzw. als politische Lebewesen mit sozialer Organisation Zusammenleben. Diese Merkmale gelten ebenfalls mit absolu­ ter Notwendigkeit. Wenn einzelne Individuen diese Merkmale nicht besitzen, ent­ sprechen sie nach A ristoteles* Meinung nicht mehr der Definition der Art. Man sieht, daß bei ihm der Begriff der absoluten Notwendigkeit jene Allgemeingültigkeit ausdrückt, die auch mit dem modernen Begriff des Naturgesetzes verbunden wird. Wenn man betonen will, daß die Allgemeingültigkeit in striktem Sinne nur für die Art gilt, mag man von einem ideellen Gesetz* sprechen. Auch das weitere Erfordernis eines modernen Naturgesetzes, daß es durch die Empirie bestätigt sein muß, gilt für wissenschaftliche Aussagen des A ristoteles . A ristoteles *wissenschaftliches Ideal ist die wissenschaftliche Darlegung (άπόδειξις), die aus wahren, unmittelbaren Prämissen (d. h. Beweisprinzipien, άρχαι άποδεικτικαί), die einsichtiger sind als die aus ihnen abgeleiteten Sätze, kausal andere Sätze (syllogistisch) begründet. Er hat die Theorie dieser wissenschaftlichen D arle­ gung in der Schrift Analytica posteriora entwickelt und in seinen einzelwissenschaft­ lichen Traktaten wenigstens im Prinzip anzuwenden versucht, auch wenn die Lüc­ kenhaftigkeit des ihm zur Verfügung stehenden Wissens in der Regel ihre Befolgung einschränkte41. Dabei hängt alles davon ab, wie diese ersten Prinzipien aus der Erfahrung gewonnen werden. In diesem Punkte hat er gegenüber P laton einen entscheidenden Schritt getan, der für die abendländische Wissenschaftsgeschichte konstitutiv war. Für P laton war der Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Bemü­ hung das mündliche wissenschaftliche Gespräch, wie wir es im Spiegel seiner Dialoge erkennen können. Es kam für den führenden Gesprächspartner darauf an, eine Übereinstimmung (ομολογία) mit einem M itunterredner zu erzielen, auf der man weiter aufbauen konnte. Die mündliche Disziplin, die sich darum bemühte, von solchen Übereinkünften ausgehend zum Allgemeinen vorzustoßen, war die Dialek­ tik. Es liegt auf der H and, daß man am Anfang solcher Unterredungen sich zunächst auf seine Sinne verläßt Trotzdem ist der Erfahrungsgehalt der anfänglichen Hom olo­ gien stark vom Zufall abhängig. A ristoteles versucht zunächst in seiner Topik, diese mündliche Disputierkunst zu systematisieren, und fordert, man solle immer von Ansichten (ένδοξα) ausgehen, die alle Menschen oder die meisten oder die Weisen teilen (100b 21 f.). Auch dies ist natürlich noch eine sehr fragwürdige empirische Basis. Den entscheidenden Schritt tut A ristoteles, mehr implizit als explizit, in seiner ,Wissenschaftslehre*, den A nal post Hier entpersonalisiert er sozusagen die Dialektik, d. h. er verlagert deren Aufgabe, die Ausgangspunkte für den Weg zu den ersten Sätzen, den Prinzipien, festzulegen, von der Diskussion mit

40 Dies gilt für zyklische Prozesse, die dem Eidos nach schlechthin notwendig und ewig sind. In De gen. et eorr. Π 11 bringt Aristoteles das Beispiel des meteorologischen Kreislaufs. Vgl. Vf. (wie Fn. 38) 212. 41 Vgl. W. Kullmann, Wissenschaft und Methode. Interpretationen zur aristotelischen Theorie der Naturwissenschaft, Berlin 1974, 134 ff., 269 ff.

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anderen Philosophen weg konsequent auf die Wahrnehmung42, weist die dialekti­ schen logischen Operationen dem inneren Diskurs des Forschers zu43 und objekti­ viert die Funktion der »Induktion*: diese besteht nicht m ehr darin, daß der führende Gesprächspartner (z. B. Sokrates) jemanden an das Allgemeine »heranführt* (Pla­ to n , Pokäkos 278 E 5), sondern der Philosoph muß sich durch die Wahrnehmung, unabhängig von Gesprächspartnern, an das Allgemeine heranfuhren lassen (AnaL post 118.81a 38 ff.)44. Ein großer Teil der naturwissenschaftlichen Abhandlungen besteht nunm ehr in der Sammlung von aus der W ahrnehmung abgeleiteten Aussagen über anorganische oder organische Substanzen (bzw. Spezies) oder aus Protokollen dieses inneren, an die W ahrnehmung anknüpfenden Diskurses des Philosophen, wobei evidente Prä­ missen, d. h. Beweisprinzipien, gewonnen werden. Damit ist die Dialektik gewisser­ maßen verschriftlicht und zugleich die Voraussetzung für die aus den Prinzipien abgeleitete wissenschaftliche Darlegung, Apodeixis, geschaffen. Vielfach ähneln Prä­ missen oder Schlußfolgerungen der beweisenden Syllogismen unseren Naturgeset­ zen, so der in A ristoteles *Wissenschaftslehre als Beispiel gebrauchte Schlußsatz, daß die Planeten der Erde (relativ) nahe stehen (vgl. AnaL post 113.78a 23 ff.45). Dies ergibt sich nach Aristoteles aus der aus der W ahrnehmung oder der Induktion abgeleiteten Prämisse, daß das, was nicht flimmert, nahe ist. Vermutlich denkt A ristoteles an Erfahrungen mit entfernten Lichtquellen bei dunstiger Atmo­ sphäre, die einen darüber belehren können, daß nur punktuelle, also ferne Lichtquel­ len flimmern. Daß solche Überlegungen nicht sehr exakt sind, ändert nichts an dem Bemühen, bestimmte allgemeine Sätze auf die Erfahrung zu gründen und daraus für Einzelfalle Schlußfolgerungen abzuleiten. Die innere Nähe dieser allgemeinen Sätze zu unseren »Naturgesetzen* wird meist durch die Form, die ihnen A ristoteles gibt, etwas verdunkelt. Gewöhnlich werden von ihm bestimmte Eigenschaften bestimm­ ten Substanzen zugeschrieben, wobei sich hinter den Eigenschaften auch prozeßhafte und dynamische Momente verbergen können, ohne daß dies auf den ersten Blick deutlich wird. Dies ist aber nur ein Unterschied der Betrachtungsweise. A risto ­ teles sucht die Sätze so zu formulieren, daß sie in die syllogisdsche Darlegungsweise integriert werden können. A ristoteles kennt in seiner Wissenschaftsichre aber auch noch andere Sätze, die nur Voraussetzung für wissenschaftliche Erkenntnis sind, ohne in die Apodeixis (d. h. die wissenschaftliche Darlegung) integriert zu sein. Dies sind die von ihm so genann­ ten (allgemeinen) Axiom e (Anal, post 12.10), zu denen z. B. der Satz des ausgeschlos­ senen Dritten gehört. Sie gelten in den einzelnen Wissenschaften nur analog, d. h. sind dort in einer spezielleren Formulierung gültig. Sieht man sich die naturwissen42 Vgl. Vf., Wissenschaft und Methode (wie Fn. 41) 170 f. 43 Vgl. S. Föllinger, Mündlichkeit in der Schriftlichkeit als Ausdruck wissenschaftlicher Methode bei Aristoteles, in: W. Kullmann-J. A lthoff, Vermittlung und Tnuiierung von Wissen in der griechischen Kultur, ScriptOralia 61, Tübingen 1993,263 ff., bes. 265 f. (mit Hinweis auf De caei II 13.294b 6 ff.). 44 Vgl. W. K ullmann, Bipartite Science in Aristotle’s Biology, in: Biologie, logique et metaphysique chez Aristote, publ. par D. D evereux et P. Pellegrin, Paris 1990, 335 ff., bes. 336. 45 Vgl. Vf.» Wissenschaft und Methode (wie Fn. 41) 207 ff.

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schaftlichen Traktate an, so gibt es auch in ihnen bestimmte Basissätze, die nicht in die Beweisführung integriert sind, obwohl sie ihre unabdingbare Voraussetzung sind, und die diesen »Axiomen* ähneln. Hierzu gehört im Bereich der Biologie z. B. das (von uns so genannte) »Kompensationsgesetz*. Es ist unter anderem in De part an. DI 2.663b 31 ff. formuliert und besagt, daß ,die Natur* ein Übermaß von Materie in einem Körperteil durch einen Mangel in einem anderen Teil kompensiert. Bei den W iederkäuern ist ein Uberschuß an Materie in die H örner gegangen, was den besonderen Charakter dieser A rt ausm acht Deshalb haben diese Tiere ein unvoll­ ständiges Gebiß; es fehlen Schneidezähne. Als Kompensation dient eine Mehrzahl von Mägen46. Wie beim modernen Wissenschaftler fuhren bei A ristoteles Beob­ achtungen, die dieser Regel widersprechen, zu Zusatzannahmen. So sind Kamele W iederkäuer mit unvollständigem Gebiß und mehreren Mägen, haben jedoch keine H örner und kein Geweih: H ier erklärt A ristoteles die Mehrzahl der Mägen mit der Notwendigkeit der Verarbeitung von schwer verdaulicher, dorniger und hölzer­ ner Nahrung und zusätzlich damit, daß erdardges Material von den Zähnen abgezo­ gen und für die H ärtung des Gaumens verwendet wird (Depart an. ΠΙ 14.674b 2 ff.). Eine allgemeinere Form dieser Regel von der Ökonomie der N atur ist offensichtlich der Satz, daß ,die N atur nichts umsonst tut* (ή φύσις ούδέν ποιεί μάτην)47. Er findet sich auch in nichtbiologischen Zusammenhängen48. Selbst für Isaac N ewton ist er noch eine »Regel zur Erforschung der N atur“49. Auch im Umkreis dieser Sätze fehlt jede Andeutung einer Vorstellung von einem »Gesetz*. Interessant ist allerdings, daß sich A ristoteles hier einer metaphorischen Ausdrucksweise bedient und die N atur personifiziert. An anderer Stelle spricht er einmal davon, daß »die N atur wie ein guter Hausverwalter“ (De gen. an. Π 6.744b 16 f., ώσπερ οικονόμος αγαθός) nichts fbrtzuwerfen pflegt, woraus etwas Brauch­ bares zu machen ist. Durch die (nur metaphorisch gemeinte) Personifizierung wird eine gewisse immanente Zweckmäßigkeit sichtbar gemacht, die der Teleonomievorstellung der modernen Biologie entspricht50. Der Begriff der Teleonomie wurde von

46 VgJ. Vf., Bipartite Science (wie Fn. 44) 342 f. m. Fn. 14. 47 Vgl. A. Gotthelf , First Principles in Aristotle’s Parts o f Anim als, in: Philosophical issues in Aristotle’s biology, ed. by A. Gotthelf andj. G. L ennox, Cambridge 1987,167 ff., bes. 186 ff. (zu De me. an. 2). 48 Vgl. W. Kullmann, Die Teleologie in der aristotelischen Biologie. Aristoteles als Zoologe, Embryologe und Genetiker, SBHeid 1979, 24 (mit Belegen). 49 Isaac N ewton, Philosophiae naturalis principia mathematica, Cambridge 1686, *1713, dt. Mathematische Prinzipien der Naturlehre. Mit Bemerkungen und Erläuterungen, hrsg. v. J. Ph. Wolfers, Darmstadt 1963 (N D der Ausgabe Berlin 1872), 380. Dort wird unter Überschrift »Regeln zur Erforschung der Natur“ als 1. Regel angeführt: »An Ursachen zur Erklärung natürlicher Dinge nicht mehr zuzulassen, als wahr sind und zur Erklärung jener Erscheinungen ausreichen. Die Physiker sagen: Die Natur thut nichts vergebens, und vergeblich ist dasjenige, was durch vieles geschieht und durch weniger ausgeführt werden kann. Die Natur ist nämlich einfach, und schwelgt nicht in überflüssigen Ursachen der Dinge.“ 50 VgJ. W. K ullmann, Zum Gedanken der Teleologie in der Naturphilosophie des Aristoteles und seiner Beurteilung in der Neuzeit, in: J.-E. Pleines (Hrsg.), Zum teleologischen Argument in der Philosophie. Aristotcles-Kant-Hegel, Würzburg 1991, 150 ff., bes. 167 ff.; ders., Aristode as a Natural Scientist, Acta Classica 34, 1991, 137 ff., bes. 142 ff.

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dem amerikanischen Biologen Pittendrigh geprägt und bezeichnet eine Zweckmä­ ßigkeit, ohne daß damit eine Hypothese über ihre Herkunft verbunden ist; er ist als Gegensatz zum Begriff der Teleologie geprägt, mit dem meist die Vorstellung einer bewußten Zwecksetzung verbunden ist. Auf der Ebene der Metapher besteht bei A ristoteles eine entfernte Ähnlichkeit mit der Vorstellung eines »Naturgesetzge­ bers'. Es kann aber nicht genug betont werden, daß sich A ristoteles immer der Metaphorik seiner Ausdrucksweise bewußt gewesen ist: für ihn bestehen die Arten der Lebewesen ewig so, wie sie sind, und sind niemals von einem Schöpfer in die Welt gesetzt worden. Ihre zweckmäßige Struktur entspringt keiner Intention. Ein gewisser Vergleich von menschlicher und kosmischer O rdnung findet sich in dem berühmten Λ der Metaphysik. In Λ 10.1075 a 13 ff. vergleicht A ristoteles die Ausrichtung der Weh auf den Unbewegten Beweger hin mit der Ausrichtung einer Truppe auf den Offizier. Auch hier erscheint auf der Vergleichsebene der unbewegte Beweger als ordnungstiftender Faktor, der einem Gesetzgeber entfernt vergleichbar sein mag. In den ersten Reihen der Soldaten ist die O rdnung am größten, weiter hinten läßt sie nach. D er Vergleich bezieht sich allerdings, anders als die Metapher vom guten Hausverwalter, auf G on nur, insofern dieser Bewegungsprinzip ist; die irdischen Substanzen tragen ihren Zweck (und damit die »Gesetzmäßigkeiten' ihrer Existenz) in sich selbst. Wissenschaftliche Aussagen, die unseren modernen Naturgesetzen vergleichbar sind, finden sich bei A ristoteles in den verschiedensten Gebieten der Naturwissen­ schaft, so im physikalischen Bereich (De caelo, De gen.et am : Astrophysik, Elementenlehre; Meteor.: Meteorologie und Chemie) und im biologischen Bereich (De anima, Parv. not: Lebensfunktionen, Sinnesphysiologie; D e inc.an., De m otan., De part an., De gen.an.: Anatomie, Morphologie, Physiologie, Embryologie, Genetik). Gelegentlich wird Aristoteles die Aufstellung von unrichtigen Jallgesetzen' zugeschrieben. So soll er das »Gesetz* aufgestellt haben (1), daß die Fallgeschwindig­ keit proportional zum Gewicht sei, und von diesem ausgehend das weitere »Gesetz* formuliert haben (2), daß die Geschwindigkeit proportional zur Schwere, geteilt durch die Dichte des Mediums, sei51. Hier bedarf es jedoch einer differenzierenden Betrachtungsweise der in Frage kommenden Formulierungen in Phys. IV 8 und De cael. 1 6, um zu einer gerechten Würdigung zu kommen. An beiden Stellen geht es A ristoteles nicht darum, ein Axiom aufzustellen, das im Rahmen einer Beweisfüh­ rung mit absoluter Notwendigkeit gilt. Vielmehr handelt es sich um die kritische Betrachtung gegnerischer Positionen mit dialektischen Mitteln in doxographischen Abschnitten. Aufgabe der dialektischen Methode im Bereich der Wissenschaften ist nach Top. I 2.101 a 35 unter anderem das »nach beiden Seiten hin durchprobieren' (προς άμφότερα διαπορήσαι). A ristoteles wendet sich in der Physik gegen die Annahme eines Vakuums durch die Atomisten und in De caelo gegen die Annahme, es gebe einen unendlich großen Körper. An beiden Stellen greift er auf die offenbar in seiner Zeit weit verbreitete (und auch von den Atomisten geteilte) Annahme (also im Sinne der Topik auf ein ένδοξον) zurück, daß im Plenum die Fallgeschwindigkeit 51 Vgl. W. D. Ross, Aristotle’s Physics. A Revised Text with Introduction and Commentary, Oxford 1936, 28 f.

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proportional zur Schwere sei oder daß jedenfalls ungleich schwere Körper eine ungleiche Fallgeschwindigkeit haben. Er verweist dazu auf den Augenschein (Phys. IV 8.215 a 25). E>aneben benutzt er in der Argumentation gegen die Atomisten in der Physik die ebenfalls gängige Annahme, daß die Geschwindigkeit eines fallenden Körpers proportional zur Dichte des Mediums (Luft oder Wasser) sei. Eine Verbin­ dung der beiden Proportionalitätsannahmen zu dem oben genannten angeblichen 2. Gesetz liegt, wie man inzwischen nachgewiesen hat, nicht vor52. A ristoteles spricht also in diesem Zusammenhang nicht nur nicht von einem Naturgesetz, seine Formulierungen betreffe Fallgeschwindigkeit sind überhaupt nur als zu erwägende Gesichtspunkte gedacht, die neben anderen Überlegungen gegen die Annahme eines Vakuums oder eines unendlich großen Körpers sprechen könnten. So sehr Aristo ­ teles an der Aufhellung der hier vorliegenden Regelmäßigkeiten in der N atur interessiert ist, so weit ist er davon entfernt, ein Axiom oder ein Prinzip aufzustellen, das dann mit absoluter Notwendigkeit gültig wäre. Er ist sich der Grenzen seiner Aussagemöglichkeiten gerade in diesem Zusammenhang sehr bewußt. D er Kom­ m entator des Aristoteles, P hiloponos , hat dann freilich, wie M. W olff zeigt, aus den aristotelischen Annahmen durch Modifikation eine feste (,gesetzartige*) Regel zu entwickeln versucht53. Richtig ist, daß bei A ristoteles , wie in der ganzen Antike, Experimente nicht dieselbe Rolle spielen wie in der modernen Zeit. In diesem Punkte besteht jedoch in einem Teil der Forschung ein falsches Bild. Es werden einzelne Experimente im Corpus Hippocraticum und bei den Vorsokratikem hervorgehoben54, und man be­ hauptet, bei A ristoteles herrsche demgegenüber ein apriorisches Denken vor. Tatsächlich hat A ristoteles den Rekurs auf die Empirie, den Analogieschluß und das Experiment auf ein neues Reflexionsniveau gehoben und auch vom Experiment häufiger Gebrauch gemacht55. Seine Experimente mit dem Hühnerei (Hist. anim. VI 3.561 a 4 ff.), die für entsprechende bei W illiam H arvey im 17. Jh. und Karl E rnst von Baer am Anfang des 19. Jh. maßgebend geworden sind, bedeuten z. B. einen außerordentlichen Fortschritt gegenüber einem ähnlichen Versuch, der bei Hipp., De not. puen 29 (VH 530 L.) erwähnt ist.

52 Die Aufhellung der komplizierten Argumentationsstruktur in der Physik wird der Untersuchung von M ichael Wolff, Rillgesetz und Massebegriff. Zwei wissenschaftshistorische Untersuchun­ gen zur Kosmologie des Johannes Philoponos, Berlin 1971,11 ff. verdankt. Vgl. ders., Geschichte der Impetustheorie. Untersuchungen zum Ursprung der klassischen Mechanik, Frankfurt/M. 1978, 152 ff. 53 Fallgesctz (wie Fn. 52) 23 ff. 54 Vgl. O . R egenbogen, Eine Forschungsmethode antiker Naturwissenschaft, Kleine Schriften, hrsg. v. F. D irlmeier, München 1961, 141 ff. (ursprünglich: 1930); K. v. Fritz, Grundpn>bleme der Geschichte der antiken Wissenschaft, Berlin-New York 1971, 75; einen guten Über­ blick über JModellcxpcrimente im Corpus Hippocraticum' gibt A. Stückelberger, Einführung in die antiken Naturwissenschaften, Darmstadt 1988, 139 ff. 55 Zum Experiment bei Aristoteles vgl. G. Wöhrle , Z u den Experimenten in den biologischen Schriften des Aristoteles, Eos, 74, 1986,61 ff.; zum Analogieschluß in De caclo und Meteomlogie vgl. W. Kullmann, Zur wissenschaftlichen Methode des Aristoteles, in: Die Naturphilosophie des Aristoteles (Wege der Forschung 225), hrsg. v. G. A. Seeck, Darmstadt 1975, 301 ff. (ursprünglich: 1965); ders., Wissenschaft und Methode (wie Fn. 41) 244 ff., 250 ff.

Wolfgang Kullmann 4.

D ie R ed n er, T h e o p h ra s t, A risto te le s* R h e to rik , S to a

Die Geschichte des Naturgesetzbegriffs verläuft teilweise unabhängig von den großen philosophischen Entwürfen. Es entwickelt sich während des 4. Jh. im Alltagssprach­ gebrauch offensichtlich ein neuer Begriff von Naturgesetz, νόμος φύσεως, der an den pointierten, sophistisch bestimmten Begriff in P latons Gorgias erinnert (483 DE), aber doch von ihm verschieden isL Im Panathenaihos (12,169) spricht Isokrates von Adrastos, der Theseus um die Bestattung der vor Theben Gefallenen bittet: „Er bat darum, nicht zuzulassen, daß solche Männer unbestattet bleiben und die alte Sitte und der väterliche Brauch (Nomos) aufgegeben werden, den alle Menschen respektieren, so als ob er nicht von der menschlichen Natur festgelegt sei, sondern von einer göttlichen Macht angeordnet wurde.“ έδεΐτο μή περιιδεϊν τοιούτους άνδρας άτάφους γενομένους μηδέ παλαιόν έθος καί πάτριον νόμον καταλυόμενον, φ πάντες άνθρωποι χρώμενοι διατελοΰσιν ούχ ώς ύπ’ άνδρωπίνης κειμένψ φύσεως άλλ’ ώς ύπδ δαιμόνιας π poorer αγμένψ δυνάμεως.

Zunächst scheint es so, daß Nom os hier noch die alte Bedeutung von 3rauch* und »Sitte* besitzt, wenn vom väterlichen Nom os die Rede isL Aus dem weiteren Verlauf des Arguments sieht man aber, daß diese Vorstellung von der eines richtigen Gesetzes überlagert wird. Die Alternative besteht an dieser Stelle nach der Darlegung des Theseus zwischen »Festsetzung durch die menschliche Natur* und »Anordnung durch eine göttliche Macht*56. Man sieht daraus, daß auch dann, wenn die religiöse Konnotadon fehlt, »der Nom os der Natur* eine von der personifiziert vorgestellten N atur des einzelnen (oder, je nach Zusammenhang, der N atur im allgemeinen) vorgegebene präskripuve Regel meint. Mag also die unreflekderte Verwendung des Begriffs noch die Konnotadon von »Brauch* haben, bei der Reflexion stellt sich sofort die Vorstellung von »Gesetz* in metaphorischem Sinne ein57. So wird es in (Pseudo-)DEMOSTHENES, or. 25 (In Aristogitonem I), 65 als ein Naturgesetz bezeichnet, welches für Menschen und Tiere als gleichermaßen güldg festgesetzt ist, die Eltern zu lieben58. Ähnlich drückt sich D emosthenes in or. 10

56 Auch bei Xenophon , Mem. IV 4,19 ist im Gespräch zwischen Sokrates und Hippias von ungeschriebenen Gesetzen die Rede, die in jedem Land in derselben Weise gültig und von den Göttern gesetzt worden seien. Daß sie von den Göttern stammen, wird damit begründet, daß die Menschen nicht alle Zusammenkommen könnten (seil, um sie zu beschließen) und auch nicht die gleiche Sprache sprächen. Zu den im Gespräch genannten ungeschriebenen Gesetzen gehören die Verehrung der Götter, die Achtung vor den Eltern und das Inzestverboi. Mit Recht stellt H einimann (wie Fn. 10) 142 Fn. 61 fest, daß man aus der Stelle angesichts der unhistorischen A n der Berichterstattung durch Xenophon keine Rückschlüsse auf Hippias’ Standpunkt ziehen könne. Mit Xenophon stimmt sachlich Sophokles, O ed 865 ff. überein, wo sich die νόμοι ύψίποδες, ουρανία ’v αϊΟέρι τεκνωΟέντες auf das Inzestverbot und das Gebot der absoluten Achtung der Eltern beziehen müssen (vgl. W. K ullmann, Die Reaktion auf die Orakel und ihre Erfüllung im König Ödipus des Sophokles, in: Orchestra. Drama-Mythos-Bühne, hrsg. v. A. Bierl und P. M öllendorff (Festschrift Flas har), Stuttgart-Leipzig 1994, 105 ff., bes. 112. 57 Zur Interpretation des religiösen Gehalts vgl. Ehrenberg, Naturrecht (wie Fn. 30) 127. 58 G igante (wie Fn. 17) 268 ff. hat gegen M. Pohlenz, Anonymus περί νόμων, N G G 1924,19 ff. (Wiederabdruck in: Kleine Schriften, Hildesheim 1965, Π 314 ff.) nachgewiesen, daß or. 25, die D. H. für unecht hielt, keinen anonymen Traktat über die Gesetze benutzt; J aqueune de

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(Philippica 4), 40 aus, wo gesagt wind, man müsse die Pflicht zur Altershilfe (έρανος), die von seiten der N atur und des Nom os festgesetzt ist, zu Recht tragen und freiwillig erfüllen. Oieselbe Ausdrucksweise findet sich ebenso auch bei T h e o p h ra s t im Umkreis der Gedankengänge, die er in der Schrift „Über die Frömmigkeit“ niederge­ legt hatte (fr. L 84 F o rte n b a u g h 59): Wer seine Eltern im Alter nicht pflege, achte sowohl die Gesetze der N atur als auch die der Polis gering. In D em osthenes 1 Rede or. 45 (In Steph. 7), 53 wird von jemandem, der falsch Zeugnis gegen Verwandte ablegt, gesagt: „Ein solcher Mensch beseitigt nicht nur die geschriebenen Gesetze, sondern auch die Gesetze der Natur.“

ού γάρ τούς γεγραμμένους νόμους ό τοιούτος άνθρωπος μόνον, άλλα καί τ&τής φύσεως οΐκεΓ αναιρεί Man wird bei D em osthenes ebenso wie bei Is o k ra te s annehmen müssen, daß als „Naturgesetz“ das bezeichnet wird, was früher „ungeschriebenes Gesetz“ hieß60 (vgl. z. B. Sophokles, Antigone 454 f.)61. In D em osthenes 1 Kranzrede, or. 18,275 wird sogar davon gesprochen, daß die N atur selbst in den ungeschriebenen Gesetzen und der Gesinnung der Menschen Unterschiede zwischen absichtlichem Unrechttun, unabsichtlichem Irrtum und einer von allen gebilligten, aber erfolglosen Handlung macht (ή φύσις αύτή τοις άγράφοις νομίμοις και τοϊς άνΟρωπίνοις ήθεσιν διώ ρικεν). Die N atur selbst gibt den Menschen Maßstäbe für die moralische Bewertung menschlichen Handelns an die Hand. Es handelt sich also um eine Anwendung, die auf den ethischen Bereich beschränkt ist. N ur tritt an die Stelle der Sanktionierung durch die G ötter die durch die Natur, wobei durch deren Nennung die Vorstellung einer natürlichen Veranlagung des Menschen in Richtung auf diese Gesetze evoziert wird62. Die N atur wird dabei bis zu einem gewissen Grade personifiziert, ohne wirklich als vernünftiges Wesen gedacht zu werden. Die durch sie definierten Gesetze werden also, anders als bei dem Naturgesetzbegriff in Spätantike, Mittelalter und früher Neuzeit, nicht auf einen transzendenten Gesetzgeber zurückgeführt. Statt von »Naturgesetz* und »ungeschriebenem Gesetz* kann auch von dem »allen Menschen gemeinsamen Gesetz* die Rede sein, das es verbietet, jemandem trotz Kapitalverbre­ chen, die er begeht, seine Unversehrtheit zu garantieren (or. 23, In Anstocr., 61). In

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R omilly, La lois dans la pensee grecque des origines a Aristote, Paris 1971, 155 ff. hat darüber hinaus gezeigt, daß die Ideen der Schrift, die im allgemeinen das Gesetz gegenüber der Natur aufwerten, durchaus in die Zeit des Demosthenes passen. Sie hat ferner deutlich die Unbeküm­ mertheit des Autors herausgestellt, der nichtsdestoweniger von einem Naturgesetz spricht, die Eltern zu ehren. W. W. Fortenbaugh , Quellen zur Ethik Theophrasts (Studien zur antiken Philosophie, hrsg. v. H . F ia sha r , H. G örgemanns, W. K ullmann , Bd. 12), Amsterdam 1984, 50 f., 254 ff. Vgl. R. H irzel, ΑΓΡΑΦΟΣ ΝΟΜ ΟΣ, Abh. Akad. d. Wiss., Leipzig, phil.-hisa. K. 20,1, Leipzig 1900,25 f.;jAQUEUNE de R omilly (wie Fn. 58) 25 ff., 35 f., 155 ff.; H. Wankel, Demosthenes. Rede für Ktesiphon über den Kranz, Heidelberg 1976, Π 1188 ff. An der Stelle aus der Rede gegen Aristogeiton kommt lediglich eine biologische Konnotation mit hinein, insofern auch die Tiere miteinbezogen werden. In den Umkreis dieser Verwendung gehört wohl auch die Stelle, die sich in den Monostichoi Menanders findet: Sent 746 Jäkel: Τούς τής φύσεως ούκ έστι μανθάνειν (evtl, λανθάνειν)

νόμους.

diesem Fall entfallt die Personifizierung und die Bindung des Gesetzes an eine höhere Instanz. Anders ist es zu beurteilen, wenn in der zweiten, ebenfalls unechten demosthenischen Aristogeitonrede (or. 26, 27.) gesagt wird, daß Gesetz und Ordnung, wenn man dem, was man sieht, vertrauen soll, den ganzen Kosmos, das Göttliche (offenbar die Gestirne) und die Jahreszeiten verwalten63. Dies ist ein Nomosbegriff, der dem platonischen ähnlich ist. Es fehlt allerdings jede Vorstellung von der Herkunft dieser O rdnung und dieses Gesetzes; es handelt sich um einen rhetorisch ausgenutzten philosophischen Gedanken, dessen Standort nicht genau zu ermitteln ist. A r is to te le s hat in seiner Rhetorik eine gewisse Systematik in den Gesetzesbegriff zu bringen versucht. In I 10.1368 b 7 ff. unterscheidet er das partikuläre von dem allgemeinen Gesetz und bezeichnet das eine als schriftlich und das andere als unge­ schrieben und auf der Homologie aller beruhend. Wenig später, in 1 13.1373 b 4 ff., unterscheidet er wiederum das partikuläre und das allgemeine Gesetz. Dann aber unterteilt er in 1374 a 20 ff. die partikulären Gesetze nochmals in ungeschriebene und geschriebene. Dabei versteht er unter den ungeschriebenen diesmal solche, die a) ein Übermaß an Tugend und Schlechtigkeit betreffen und durch Lob und Tadel, Mißach­ tung und Ehrung sowie Geschenke exekutiert werden, und b) diejenigen, die Lücken in den geschriebenen Gesetzen ausfüllen. Er kann auf diese Weise auch die Forderun­ gen der Billigkeit (επιείκεια) unter den Nom oi unterbringen. Das allgemeine Gesetz bezeichnet er diesmal als »naturgemäß* (κατά φύσιν), ohne seinen ungeschriebenen Charakter ausdrücklich hervorzuheben. Indem er statt »Gesetz der Natur* (νόμος φόσεως) von einem »Gesetz gemäß der Natur* (νόμος κατά φύσιν) spricht, vermei­ det er jene anthropom orphe Konnotation, die dem Begriff (νόμος φύσεως) bei D e ­ m osthenes und anderswo notwendigerweise anhaftet. Es handelt sich offensichtlich um moralische Maximen, die dem Menschen normalerweise angeboren sind64. Die zweifache Einteilung des A ristoteles hat eine Kontroverse hervorgerufen. H irzel nahm sie zum Ausgangspunkt seiner berühmten Abhandlung über das ,ungeschriebene Gesetz*65. Er unterschied zwischen dem das Gewissen des Men­ schen verpflichtenden „ewigen göttlichen Naturgesetz“ und dem ungeschriebenen Gesetz, das das von den Vätern überlieferte Herkommen und die vom Alter gehei­ ligte Gewohnheit betrifft. Letzteres habe mit dem Gewissen des Menschen nichts zu tun und erfordere nur äußere Handlungen zu seiner Erfüllung. Gegen H irzel hat sich M artin O s w a l d in einer sehr klaren, ausführlichen Abhandlung gewandt66.

63 Eine detaillierte Interpretation der Rede unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Ordnung und Natur zueinander gibt J. de R omilly (wie Fn. 58) 159 ff. 64 Vgl. auch E. M. M ichelakis, Das Naturrecht bei Aristoteles, in: Zur griechischen Rechtsge­ schichte, hrsg. v. E. Berneker (Wege der Forschung 45), Darmstadt 1968, 146 ff.; F red D. M iller, J r , Aristode on Natural Law and Justice, in: D. Keyt and Fred D. Miller, Jr., A Companion to Aristode’s Politics, Oxford 1991, 279 ff. (der sich in dem größeren Teil seines Artikels mit .natural justice* beschäftigt). 65 (Wie Fn. 60) 96. 66 M. OsrwAiJ), Was There a Concept άγραφος νόμος in Classical Greece, Phremcsis Supplemen­ tary Vol. I Exegesis and Argument. Studies in Greek Philosophy Presented to Gregory Vlastos, 1973, 70 if.

Antike Vorstufen des modernen Begriffs des Naturgesetzes

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Aufgrund einer genauen Interpretation des aristotelischen Textes stellt er fest, daß die Widersprüchlichkeit der Aussagen der Rhetorik nicht überbewertet werden dürfe. Es komme A ristoteles im vorliegenden Zusammenhang nicht auf den Gegensatz von »ungeschrieben' und »geschrieben* an. Dem wird man sich sicher anschließen kön­ nen. O stwald geht noch einen Schritt weiter und nimmt die Kontroverse zum Anlaß, überhaupt zu bestreiten, daß ein einheitlicher Begriff eines »ungeschriebenen Gesetzes* existierte67. Dies scheint mir zu weit zu gehen. Eine größere Gruppe der von O stwald genannten Stellen hat doch bestimmte Charakteristika gemeinsam. Man denke an Sophokles *A n t 454 f. (Bestattung des Bruders), X enophon , Mem. IV 4 (die Verehrung der Götter, die Achtung vor den Eltern und das Inzestverbot), Thuc. Π 37 (wo jedenfalls an moralische und religiöse Regeln gedacht sein muß), D emosthenes (moralische Maßstäbe), an die sexuellen Norm en, die von P laton in den Nomoi angesprochen werden (L. 838 B Inzestverbot, 841 B Schamgebot beim Geschlechtsverkehr), an die Sitten, die der Gesetzgeber nach A ristoteles berück­ sichtigen soll (£ N. X 9.1180 b 1; Pol. V I5.1319b40; vgl. auch seine Forderungen an die Billigkeit), an A naximenes, Rhetorik 2.1421 b 35 ff. (die Eltern ehren, den Freunden Gutes tun, Wohltätern Dank abstatten „und dergleichen**), ja auch an bestimmte religiöse Vorschriften. In allen diesen Fallen handelt es sich, wenn vom ungeschriebenen Gesetz die Rede ist, um einen Appell an ein bestimmtes moralisches Empfinden, das keine Gesetzeskasuistik voll in Worte fassen kann. Eine strikte Grenzlinie zwischen Moral und Religion wird man nicht immer gezogen haben. Jedenfalls wurde nach P laton L. 793 A 10 im Volksmund allgemein von den „sogenannten ungeschriebenen Bestimmungen** (τά καλούμενα αγραφα νόμιμα) gesprochen, so unscharf der Begriff auch sein mag. Dabei hängt es von der jeweiligen Persönlichkeit ab, ob diese Regeln als von den Göttern sanktioniert, durch die N atur gegeben oder als sozial garantiert (Perikies bei T hukydides) erscheinen. Bei Isokrates und D emosthenes tritt „das Gesetz der N atur“ an die Stelle des „unge­ schriebenen Gesetzes“, und wir können beobachten, daß dieser Sprachgebrauch die ganze Antike hindurch anhält, wobei der Inhalt noch diffuser wird. Insbesondere nimmt die biologische Konnotaüon zu, die in einzelnen der von O stwald behandel­ ten Beispiele schon latent vorhanden ist. Eine solche Gewichtsverschiebung ergibt sich auch aus dem Naturbegriff selbst. Es ist gewiß nicht möglich, in allen Belegen für das „ungeschriebene Gesetz“ einen einheitlichen und definierbaren Begriff zu finden. Jedoch läßt sich diese Ausdrucksweise nach meiner Auffassung nicht formal aus dem bloßen Gegensatz zum geschriebenen Gesetz ableiten. Seine größte Bedeutung erlangt in der Antike der Naturgesetzbegriff in der Stoa. Diese rechnet von Anfang an mit einem göttlichen Naturgesetz. Sie greift damit wie mit vielem anderen über die klassische griechische Philosophie hinweg auf H eraklit zurück, der in ff. 22 B 114 die menschlichen Gesetze als Ausfluß des einen göttlichen betrachtete. Schon der Begründer der Stoa, Z enon , muß diesen Gedanken vertreten

67 Vgl. O stwald, S. 103: „This will suffice to show that only the formal factor of opposition to the valid written law holds the various instances of άγραφος νόμος, άγραφα νόμιμα, and άγραφα δίκαια together.“

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haben, wie aus StVF I 162 hervorgeht. Die drei Belege des Fragments sind die folgenden68: Cic. N D 1 36: „Zenon ist der Meinung, daß das Naturgesetz göttlich sei und die Macht habe, das Richtige zu befehlen und das Gegenteilige zu verbieten.“ Zeno naturalem legem divinam esse censet eamque w n obtinere recta imperantem prohibentemque contraria.

Lact., Inst div. I 5: Item Zeno (deum nuncupat) divinam naturalemque legem;

Minucius Felix, Octav. 19,10: Zeno naturalem legem atque divinam . . . omnium esse principium.

Diese zentrale These blieb stoisches Lehi^gut Genaueres zu dieser Vorstellung erfah­ ren wir aus dem Zeushymnos des K l ea n th es , StVF 1537 (Stob., EcL 112), aus dem ich einige Verse zitiere69: „Erhabenster der Unsterblichen, mit vielen Namen Verehrter, stets Allmächtiger, Zeus, du Gründer der Natur, der du alles lenkst nach dem Gesetz, sei gegrüßt! Dich dürfen ja alle Sterbliche anieden. Denn von dir entstammen wir, von dir das Abbild erlangt habend als einzige von allem, was sterblich auf Erden lebt und wandelt; deshalb werde ich dich preisen und immer deine Macht besingen. Unser ganzer Kosmos, der sich rings um die Erde dreht, folgt dir, wohin du ihn fuhrst, und läßt sich gern von dir beherrschen.“ Κύόιστ’ αθανάτων, πολυώνυμε, παγκρατές octet, Ζεΰ, φόσεως αρχηγέ, νόμου μετά πάντα κυβερνών, χαΐρε* σέ γάρ πάντεσσι θέμις θνητοΐσι προσαυόαν. έκ σοΟ γάρ γενόμεσθα σέθεν μίμημα λαχόντες μοΰνοι, όσα ζώει τε και έρπει θνήτ’ έπι γαΐαν* τώ σε καθυμνήσω και σον κράτος αίεν άείσω. σοι όή πας όόε κόσμος έλισσόμενος περί γαΐαν πείθεται, ή κεν άγης, και έκών ΰπό σεΐο κρατείται. 4 γενόμεσθα σέθεν Zuntz: γένος έσμέν ήχου cod.: γενόμεσθα λόγου Mcineke: γενόμεσθα θεοΟ Pearson (ap. Powell)

In Vers 24 f. heißt es von den schlechten Menschen: „und sie sehen das gemeinsame Gesetz der Gottheit nicht und hören es nicht. Wenn sie ihm mit Vernunft folgten, würden sie ein edles Leben führen.“ οΰτ’ έσορωσι ΘεοΟ κοινόν νόμον, ούτε κλυουσιν, ω κεν πειθόμενοι συν νφ βίον εσθλόν έχοιεν.

68 Vgl. auch die Belege s. v. νόμος in St VF IV 100, sowie Off. ΠΙ 5,23 usw. 69 Zum Text vgl. A. A. L ong & D. N. Sedlf.y, The Hellenistic Philosophers, vol. 2 Greek and Latin texts wiih notes and bibliography, Cambridge 1987, 326 f. Eine deutsche Übersetzung gibt D. E bener, Griechische Lyrik, Berlin-Weimar 1980,411 f. Zur Interpretation vgl. M. Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen (* 1947) ■ 21959,1 108 ff.; R. Ρ. Festugiere, O. P., La revelation d ’Hermes Trismegiste, Pans 1944, Π Le dieu cosmique, Paris 1949, 310 ff.

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Durch »mit Vernunft“ (συν νφ) ist der Bezug zu H erakut , fr. 22 B 114 ein­ deutig70. W ir stellen auch eine Äußerung C hrysipps, des »zweiten Gründers* der Stoa, hierher. Dieser hat eine eigene Schrift über den Nom os geschrieben, von der wir den Anfang aus dem römischen Juristen M ardan besitzen (StVF EQ 314)71: »Der Nomos ist der König aller göttlichen und menschlichen Angelegenheiten. Er muß der H err­ scher und Führer in bezug auf alle sittlich guten und schlechten Dinge sein und demgemäß Richtschnur für Gerechtes und Ungerechtes und für die von Natur aus sozialen Lebewesen an­ ordnende Instanz für das, was sie tun müssen, und verbietende Instanz für das, was sie nicht tun dürfen.“ ό νόμος πάντων έστί βασιλεύς θείων τε καί ανθρωπίνων πραγμάτω ν δει δέ αυτόν προστάτην τε είναι των καλών καί των αισχρών και άρχοντα καί ήγεμόνα, καί κατά τούτο κανόνα τε είναι δικαίων καί άδικων καί των φύσει πολιτικών ζψων προστακτικόν μέν ών ποιητέον, άπαγορευτικόν δε ών ού ποιητέον.

In unpräziser Weise wird hier der Nom os, im Sinne Heraklits, aber mit den falsch verstandenen Worten Pindars, als »König aller Dinge* gepriesen. Was leistet nun dieser Begriff des Naturgesetzes in der frühen Stoa? Zunächst ist deutlich, daß die menschliche Moral und damit die menschlichen Gesetze als Ausfluß des göttlichen Gesetzes gedacht werden. Insofern sie Logos besitzen, nehmen die Menschen eine privilegierte Stellung ein. Sie stehen in einem besonderen Verhältnis zum Göttlichen, das auch Logos ist (vgl. auch [C hrysipp ,] StVF Π 528 aus Arius Didymus ap. E useb. praep. ev. XV 15)72. N ur die bösen Menschen suchen sich nach Kleanthes dem Gesetz zu entziehen. Andererseits steht auch die ganze N atur unter diesem göttlichen Gesetz, das als Logos die Welt durchdringt. Es ist stoische Über­ zeugung, daß die Kenntnis der N atur in ihrer O rdnung dem Menschen die richtigen Anweisungen für das Handeln geben kann. Nach den Ausführungen C hrysipps in seiner Schrift »Über die Ziele“ (Περί τελών) ist das Leben im Sinne der Tugend das gleiche wie „nach der Erfahrung dessen, was von N atur aus passiert, zu leben, weil unsere Naturen Teile des Ganzen sind“ (StVF Π Ι4)73. Es kommt, wie es in der von ihm geprägten Formel heißt, darauf an, „in Übereinstimmung mit der N atur zu leben“ (όμολογουμενως τή φύσει ζήν, StVF ΙΠ 5)74. Die N atur dient als N orm für die Moral. Dabei hilft dem Menschen das ihm angeborene Streben, sich, beginnend mit der Selbsterfahrung, sukzessiv mit der ganzen Welt vertraut zu machen. Diese „Aneignung“ wird mit dem Terminus οίκείωσις bezeichnet. Der Mensch kann dabei auf allen Menschen gemeinsame »Allgemeinvorstellungen' (χοιναΐ έννοιαι), die als Antizipationen (προλήψεις) späterer Reflexion anzusehen sind, zurückgreifen75. Die 70 VgJ. E. N eustadt, Der Zeushymnos des Kleamhes, Hermes 66,1931,387 ff., bcs. 397; K irk, Heraclitus (wie Fn. 13) 49. 71 Vgl. dazu M. Pohlenz (wie Fn. 69) 132 ff. 72 A rius D idymus nennt im doxographischen Bericht von St VT Π 528 den Logos φύσει νόμος, was auf seinen präskriptiven Charakter zielt. 73 κατ' εμπειρίαν τών φύσει συμβαινόντων ζήν. 74 Vgl. zum Grundsätzlichen die klaren Ausführungen von G. Striker (wie Fn. 20) 90 ff. 75 Vgl. M. Pohlenz, Grundfragen der stoischen Philosophie, AbhGöttingen, phil.-hist. Kl., Göttin­ gen 1940,1 ff. (Die Oikeiosis); M. Forschner, Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natui^, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Stuttgart 1981,142 ff., 150 ff.

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nicht ganz leicht zu verstehende Spannung, die in diesem stoischen Ansatz darin liegt, daß einerseits der Mensch als Vemunftwesen der Weltvemunft besonders nahesteht und das göttliche Naturgesetz zur Richtschnur seines Handelns nehmen kann, daß aber andererseits die Natur, der göttliche Logps, als „künstlerisch gestaltendes Feuer, das auf methodischem Wege zum Werden schreitet“ (την μέν φύσιν είναι πυρ τεχνικόν όδώ βαδίζον εις γένεσιν, Zenon StVF 1 171) mit seinem Gesetz den gan­ zen Kosmos durchdringt und die O rdnung der Materie bewirkt76, erklärt sich aus dem stoischen materiellen Monismus77. Das stoische Naturgesetz ist zugleich mora­ lisches und kosmisches Gesetz. Mit allem Nachdruck muß betont werden, daß es auch als kosmisches Gesetz als präskriptiv aufgefaßt wird. Das »Lenken* und »Herr­ schen* gilt auch in diesem Falle, wie in dem Zeushymnos des K leanthes besonders deutlich wird78. Die Stoa ist zwar mit jeder A rt von Deismus unvereinbar; sie betont aber im Rahmen ihrer pantheistischen Weltdeutung immer das intentionale Moment bei der Gestaltung des Universums. Trotz der Schwierigkeit, die beiden Aspekte des stoischen »Naturgesetzes* zusammenzusehen, ist dem Begriff eine lange Geschichte beschieden gewesen. Wie ordnet sich diese stoische Position in die Entwicklung des Natuigesetzbegriffe ein? Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Begriff lex naturalis et divina nicht nur an H erakut anknüpft, sondern auch den volkstümlichen Naturgesetzbegriff forxsetzt, der im 4. Jh. anzutreffen war. Die menschliche Seite dieses ,allgemeinen Gesetzes* entspricht dem »allgemeinen Gesetz* der Redner und des A ristoteles , wobei aber im Rückgriff auf H erakut die Göttlichkeit betont wird, die, wie festgestellt, pantheisdsch interpretiert werden muß. Der traditionellen anschaulichen Ausdrucksweise des K leanthes kommt nur allegorische Bedeutung zu. Die dop­ pelte Funktion des göttlichen Gesetzes, moralische Richtschnur für den Menschen zu sein, und zugleich die Naturgesetzlichkeit im allgemeinen auszudrücken, steht schon hinter den Ausführungen H erakuts . Begibt man sich auf die poetisch-allegorische Ebene des K leanthes, ist Zeus der »Begründer* (αρχηγός) der Natur, der alles mittels des von ihm gegebenen Gesetzes lenkt; d. h. die anfangs von uns genannten Voraussetzungen für die Anwendung der Metapher des Naturgesetzes sind erfüllt; auch ein Gesetzgeber ist vorhanden. Dies ist von größter Bedeutung für die weitere Geschichte des Begriffs des Naturgesetzes. Letztlich geht der moderne Begriff auf diese stoische Konzeption zurück. Auffällig ist, daß die Alte Stoa trotz ihres Appells, in Übereinstimmung mit der N atur zu leben, in der Detailcrklärung der N atur im Vergleich zur aristotelischen Naturwissenschaft nicht engagiert ist. Für ihren lebensphilosophischen Ansatz er­ scheint ihr die Theoriebildung ausreichend. Erst bei Poseidonios und in Senecas Quaestiones naturales beobachten wir ein stärkeres naturwissenschaftliches Interesse.

76 Hinzu kommt sein Charakter als Keimkraft, λόγος σπερματικός. Vgl. v. A rnim , StVF IV S. 93 s. v. σπερματικός λόγος; G. Watson , The Stoic Theory of Knowledge, Belfast 1966, 1, 17 f.; Forschner (wie Fn. 75) 32 f. 77 Zur Problematik des stoischen Logosbegriffs vgl. Forschner (wie Fn. 75) 30 ff. 78 Es trifft ungeachtet der Tatsache, daß sich der Anfang von C hrysipps Schrift über den Nomos an die Menschen wendet, auch für diesen zu.

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Auch in den bei C icero vorliegenden Stoikerfragmenten, der die stoische Kon­ zeption des Naturgesetzes in vielfacher Brechung übernimmt, geht es vor allem um die moralische Richtschnur. Er formuliert die stoische Maxime, nach der N atur zu leben, in D e leg. 156 auf folgende Weise: „der N atur folgen und gewissermaßen nach ihrem Gesetz leben“, naturam sequi et eius quasi lege vivere. Auch die Formulierung in De leg. Π 8 (StVF Π Ι316) läßt den moralischen Aspekt hervortreten, jedoch ohne den anderen völlig auszuschließen: „Ich sehe, daß dies also die Meinung der Klügsten gewesen ist, daß das Gesetz weder im Geiste der Menschen ausgedacht wurde noch irgendeine Vereinbarung von Völkern ist, sondern etwas Ewiges, das die gesamte Welt regiert aufgrund der Weisheit des Befehlens und Verhindems. So sagten sie, daß jenes Gesetz Anfang und Ende des Geistes der Gottheit sei, die alles mit Vernunft erzwingt oder verbietet. Aufgrund dieses Gesetzes ist jenes Gesetz, das die Götter dem Menschengeschlecht gegeben haben, mit Recht gelobt worden; es ist nämlich die Vernunft und die Überlegung des Weisen, die zum Befehlen und Abschrecken geeignet ist.“ hanc igitur video sapienhssimonan fuisse sententiam, legem neque hominum ingeniis excogitatam nec scitum aliquod esse populorum, sed aeternum quiddam, quod universum mundum regeret imperandi prohibendtque saptenaa. ita principem legem illam et ultim am mentem esse dicebant omnia ratione aut cogentis aut vetantis dei. Ex qua illa lex quam di humano generi dederunt, recte est laudata: est enim rado mensque sapientis ad iubendum et ad deterrendum idonea.

Weltgesetz und Gottheit sind identisch. Das Weltgesetz ist άρχή und τέλος des vom λόγος bestimmten göttlichen Gesetzes (womit die πρόνοια eingeschlossen ist). Das menschliche (und durch die G ötter sanktionierte) Gesetz wird auch hier als Ausfluß des göttlichen Weltgesetzes interpretiert. Die besondere Gottnähe des Menschen, die Kleanthes hervorhebt, unterstreicht auch C icero . Dazu noch eine weitere Stelle. In Fin. HI 64 (StVF ΙΠ 333) heißt es: „Die Welt aber wird nach der Auffassung der Stoiker vom Walten der Götter gelenkt, und sie halten sie gleichsam für die gemeinsame Wohnstatt der Menschen und der Götter und jeden einzelnen von uns für einen Teil dieser Welt. Deshalb ergebe es sich von Natur aus, daß wir das Gemeinwohl unserem eigenen Interesse vorzögen.“ mundum autem censent regi numine deorum eumque esse quasi communem urbem et civitatem hominum et deorum et unum quemque nostrum eius mundi essepartem ; ex quo illud natura consequi, ut communem utilitatem nostrae anteponamus.

Hier ist der Kosmos als Weltstadt (κοσμόπολις) von Menschen und Göttern beschrieben. Anschließend wird davon gesprochen, daß es ein gemeinsames Bürger­ recht (ius civile) aller Menschen gebe (Fm. IQ 67). Dieses Recht gilt ausdrücklich nur für die Vernunftwesen. Die Tiere werden sowohl von C h r y sipp (StVF QI 367-376) als auch später von P o s e id o n io s (fr. 39 Edelstein-Kidd) aus der Rechtsgemcinschaft ausgeschlossen. Dabei wird die Lehre von dem Gesetz der N atur zu einem moralischen Appell entwickelt, während es H eraklit vor allem um die Erkenntnis ging79·

79 Vgl. auch fr. StVF ΠΙ315 (aus Cic., De leg. 1 18): lex est rado summa, insitam natura, quaeiubet ca quae facienda sunt prohibetque contraria; StVF QI 317 (aus Cic. De leg. 1 33): quibus enim raüo a natura data est, usdem etiam recta ratio data est: ergo etiam lex, quae est recta ratio in tuhcndo et vetando: ή lex, ius quoque, at omnibus ratio, ius igitur datum est omnibus; StVF III 613 und 614 (aus Stob.).

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Wie man aus ScVF ΙΠ 325 (aus Rep. Π Ι 33) sieht, bekommt das Recht durch dieses von G ott sanktionierte Gesetz sozusagen „internationalen“ Charakter. Wer ihm nicht gehorcht, handelt der N atur des Menschen zuw ider:. . . cui qui non parebit, ipse se fugiet ac naturam hominis aspernatus hoc ipso luet maximas poenas. . . Diese Gedanken finden bei C ic e ro direkten Eingang in seine Staatstheorie, auch wenn die in Rep. ΙΠ 36 gezogene Konsequenz, daß die Herrschaft der Römer über die fremden Völker in deren Interesse liege, hinter dem moralischen Anspruch der Stoa zurückbleibt und wohl nicht auf Pan A rnos oder P oseidonios selbst zurückgeführt werden kann, wie besonders von H . S tr a s b u r g e r betont worden ist80. Die Erörterungen in C ic e ro s Staatswerk zeigen aber wenigstens, daß man über die Gleichheit und Ungleichheit der Menschen differenzierter nachzudenken lernte81. Von besonderer Bedeutung ist der deterministische Charakter des N aturge­ setzes, wie er in C ic e r o , N D I 39 f. (StVF Π 1077) unterstrichen wird82, wo C h r y sipp in der ironischen epikureischen Darlegung des Velleius wie folgt zitiert wird83: „Doch Chrysippus, der als der schlauste Deuter stoischer Träume gilt,. . . behauptet nämlich, daß die göttliche Kraft in der Vernunft liege und in Seele und Geist der gesamten Natur . . , und derselbe meint auch, daß Jupiter die Kraft des immerwährenden und ewigen Gesetzes ist, welches gewisser­ maßen Führer des Lebens und Lehrer der Pflichten sei, und er nennt diese Kraft auch schicksalhafte Notwendigkeit und immerwährende Wahrheit des zukünftigen Geschehens.** Lun vero Chrysippus, qui Stoicorum somniorum vaferrumus habetur interpres... ait enim vim divinam in ratione esse posttam et in universae naturae animo atque mente, . . . idemque etiam legis perpetuae et aeternae vim , quae quasi dux vitae et magistra officiorum sit, lavem dicit esse eandemque fatalem necessitatem appellat, sempiternam rerum futurarum veritatem .

Der Begriff der lex atema kehrt später bei A ugustinus wieder. An diesem stoischen Begriff des Naturgesetzes hat man es als problematisch empfunden, daß es trotz des stoischen Determinismus als auf dem Willen der Gottheit beruhend gedacht ist, der von der Rücksicht auf das Wohl der vernünftigen Wesen bestimmt zu sein scheint84. Dies hat aber der W irkung des Gedankens keinen Abbruch getan. D er Determi­ nismus ist im übrigen je nach dem Gebrauch, den die einzelnen Autoren davon machen, von unterschiedlicher Rigorosität.

80 Vgl. H. Strasburger, Poseidonios über die Römerherrschaft, in: Studien zur Alten Geschichte, hrsg. v. W. Schmitthenner und R. Z oepffel, Band II, Hildesheim 1982, 920 ff., bes. 928 ff. (ursprünglich englisch: Poseidonios on Problems of the Roman Empire, Journal of Roman Studies 55, 1965). Für Panaitios jetzt wieder A. Erskine, The Hellenistic Stoa. Political thought and action, London 1990, 192 ff. 81 Vgl. dazu auch G. Watson, The Natural Law and Stoicism, in: A. A. Long , Problems in Stoicism, London 1971, 216 ff., bes. 224 ff. 82 Vgl. auch die Belege zur Definition des Fatums StVF Π 912 ff. 83 Vgl. zur Stelle den ausführlichen Kommentar von A. S. Pease, M. Tulli Ciceronis De natura deorum libri 111, Bd. I, Darmstadt 1968 (Ί955), 264 ff. 84 Wenigstens hat dies Eduard Z eller bemängelt: Uber Begriff und Begründung der sittlichen Gesetze, Abhandl. Akad.d.Wiss. 1882, Berlin 1883, 8.

Antike Vorstufen des m odernen Begriffs des Naturgesetzes 5.

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D ionysios von H a u k a rn a s s , P h ilo n

Neben dem stoischen Begriff eines göttlichen Naturgesetzes für die vernünftigen Wesen pflanzt sich aber noch der unspezifische Naturgesetzbegriff, wie er bei D emo­ sthenes anzutreffen war, weiter fort, d. h. man geht davon aus, daß bestimmte ethische Norm en einem Naturgesetz entsprechen. Vielfach wird der Ausdruck zu einer reinen /αςοη de parier, wenn es um ein gewohnheitsgemäßes menschliches Verhalten geht. So verwendet D ionysios von Halikamaß (2. Hälfte des 1. Jh. v. Chr.) den Begriff in folgender Weise: A nL Rom. 1,5,2: „Es besteht ein allen gemeinsames Naturgesetz, das keine Zeit auflösen wird, daß die Stärkeren immer über die Schwächeren herrschen.** So sehr die Formulierung an die P la to n s in Gorgias 483 DE heranreicht, so besitzt sie doch nicht die dortige Schärfe. Kallikles geht es bei P l a to n um die ,Umwertung* des Gerechtigkeitsbegriffs85, wenn dort das Gerechte dadurch definiert ist, daß der Stärkere über den Schwächeren herrscht und darin ein »Gesetz der Natur* wirksam gesehen ist86. Für D ionysios von Halikamaß steht das angesprochene »Naturgesetz* jedoch im Gegensatz zum Recht. In A nL Rom. 3,10,3 wird von Fufetius das politische Argument gebraucht, daß „nach dem allgemeinen Gesetz der Menschen, das die N atur allen gegeben hat, die Vorfahren (Mutterstadt) über ihre Nachkommen (Kolo­ nien) herrschen** (es geht um die Albaner und Latiner). Ebd. 3,11,1-3 wird dann von Tullus bestritten, daß es ein Naturgesetz sei, daß die Mutterstädte über die Kolonien herrschen. Nach A nL Rom. 8,23,1 ist es ein allgemeines Naturgesetz, wenn man dem, der einem Leid zugefügt hat, feindlich gegenübertritL In AnL Rom. 8,51,2 bemüht sich Veturia unter Berufung darauf, daß ein Naturgesetz allen, die an Wahrnehmung und Sprache Anteil haben, den Gerechtigkeitssinn eingegeben hat, ihren Sohn Coriolan davon abzuhalten, Rom zu bekämpfen. In A nL Rom. 16,4,1 ist von der Unerbittlichkeit die Rede, die in Rom gegen diejenigen herrschte, die die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der menschlichen N atur (κοινά νόμιμα τής άνϋρωπίνης φύσεως) übertreten (ein Offizier wurde zum Tode verurteilt, weil er einen Zeitgenos­ sen vergewaltigt hatte). In D e Thuc. 40, 13 interpretiert D. H . Thuc. V 105. Es ist festzuhalten, daß bei D. H . mit dem A usdruck,Gesetz der Natur* immer noch eine unbestimmte religiöse Konnotarion verbunden scheint, wie sie einst mit dem Begriff vom »ungeschriebenen Gesetz* verknüpft war. Erwähnenswert ist eine Formulierung in der Rede des M. Decius an den Senat in AnL Rom. 7,41,3, der sich auf ein Naturrecht beruft, das nicht gesetzlich verordnet sei

85 Im Sinne von Nietzsche, der sich vom Gorgias inspirieren ließ. 86 Vgl. zu diesem Gedanken auch unten die Ausführungen zu Plutarch, E piktet, A elius A ristides; ferner Seneca, Epist 90,4: Naturae est enim potioribus deteriora summittere\ Mark A urel 5,16,5 τά χείρω των κρειττόνων ένεκα. Mit spezieller Bezugnahme auf Tiere Polybios 6,5,7: ανάγκη τόν τή σωματική ρώμη και τή ψυχική τόλμη όιαφέροντα, τοϋτον ήγεϊσθαι και κρατεΐν, καΟάπερ και έπϊ των άλλων γενών άδοζοποιήτων ζώων θεωρούμενου τούτο χρή φύσεως έργον άληθινώτατον νομίζειν, παρ’ οίς όμολογουμένως τούς ΐσχυροτάτους όρωμεν ήγουμένους, λέγω όέ ταύρους, κάπρους, άλεκτρυόνας, τά τούτοις παραπλήσια.

Wolfgang Kullmann

(επ’ άγράφω δέ και άνομοθετήτφ φύσεως δικαίω). H ier wird einmal die An­ wendung der Gesetzesmetapher absichtlich vermieden. Vg|. auch ebd. 2,14,1 wo zwischen dem »Gerechten gemäß der Natur* (κατά φύσιν δίκαιον) und dem ,Ge­ rechten aufgrund von Vereinbarungen* (κατά συνθήκας δίκαιον) unterschieden wird87. Der Begriff des Naturgesetzes spielt dann vor allem bei dem jüdischen Schriftsteller und Philosophen Philon von Alexandreia eine wichtige Rolle (ca. 25/50 v. Chr. bis ca. 50 n. Chr.88). Für sein Unterfangen, die Thora mit der stoisch-platonischen Philosophie in Einklang zu bringen, kom mt dem Gesetzesbegriff eine verbindende Kraft zu, da er in beiden Bereichen eine Rolle spielt, ln De opificio m undi 3 spricht P hilon vom Schöpfungsbericht des Moses in Gen. 1. Dieser impliziere, daß der Nom os mit dem Kosmos und der Kosmos mit dem N om os zusammenstimme und daß der gesetzestreue Mann Kosmopolit (του νομίμου άνδρδς ευθύς όντος κοσ­ μοπολίτου) sei und seine Handlungen nach dem Willen der N atur (προς τό βούλημα της φύσεως) ausrichte, der gemäß auch der ganze Kosmos verwaltet werde (καθ’ ήν και ό σύμπας κόσμος διοικεΐται). O hne Zweifel liegt hier ein Einfluß der stoischen Vorstellung vom Naturgesetz vor89. Philon erlaubt sich gleich am Anfang seiner Ausführungen die Kühnheit, in der Tatsache, daß das jüdische Gesetz mit der Schilderung der Erschaffung des Kosmos beginnt, eine Einlösung des stoischen Gebots zu sehen, daß man „in Übereinstimmung mit der N atur“ leben müsse (όμολογουμενως τη φύσει ζην)90. Zugleich möchte Philon suggerieren, daß der Mann, der nach Moses’ Gesetzen lebt, als Kosmopolit sozusagen ein guter Stoiker ist91. Der Gedanke wird in § 143 wiederaufjgenommen. D ort wird ausgeführt, daß die Verfassung für den ersten Menschen und Kosmopoliten der echte Logos der N atur war, der genauer als (göttliche) Satzung (θεσμός, etymologisierend verstanden) bezeichnet werden muß, weil er göttliches Gesetz war, gemäß dem jedem das ihm Zukommende und auf ihn Fallende zugewiesen wird (αύτη δέ έστιν ό τής φύσεως όρθδς λόγος, δς κυριωτέρα κλήσει προσονομάζεται θεσμός, νόμος θείος ών, καθ’ δν τά προσήκοντα και έπιβάλλοντα έκάστοις άπενεμήθη). Die Ausdrücke »Welt­ bürger* und »göttlicher Nom os der Natur* verraten wieder die stoische Herkunft. Auch in einer anderen Schrift wird der stoische Begriff des Naturgesetzes zitiert. In De Iosepho 29,2 heißt es im Rahmen einer allegorischen Ausdeutung der Josephsge­ schichte:

87 Siehe H irzel, ΑΓΡΑΦΟΣ ΝΟΜ ΟΣ (wie Fn. 60) 18. 88 S. Sandmel, Philo of Alexandria, Oxford 1979, 3. 89 Vg). H . L eisegang, RE XX s. v. Philon, Stuttgart 1941, Sp. 1 ff., hier Sp. 15 f. mit weiteren Belegen; H. H egermann, Das hellenistischejudentum, ΙΠ 3 Philo von Alexandria, in: Umwelt des Urchristentums, hrsg. v. J. L eipoldt und W. G rundmann, I Darstellung des neutestamentlichen Zeitalters, Berlin (' 1956) 21967, 326 ff., hier: 328. 90 Vgl. J. C ohn in: Philo von Alexandreia. Die Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. v. L. C o h n , I. H efnemann, M. A dler und W. T heiler, I Berlin 21962 in seiner Übersetzung von „Uber die Weltschöpfung nach Moses“, 28 Fn. 1 und U rsula F ruchtel, Die kosmologischen Vorstellun­ gen bei Philo von Alexandrien, Leiden 1968, 7 f. 91 Zurecht wurde die Aussage über den »Weltbürger4 von v. A rnim als StVF III 336 aufjgenommen.

Antike Vorstufen des modernen Begriffs des Naturgesetzes

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„Die Megalopolis92 ist nämliche diese Welt, und sie besitzt eine Verfassung und ein Gesetz, Es ist der Logos der Natur, der befiehlt, was zu tun ist, und verbietet, was nicht getan werden darf.“ ή μέν γάρ μελαγόπολις δδε ό κόομος έστι καί μι$ χρήται πολιτεία και νόμψ ένί· λόγος δέ έσα φύσεως προστακτικός μέν ών πρακτέον, απαγορευτικός δέ ών ού ποιητέον.

P hilon bezeichnet wieder in stoischem Sinne die Welt als eine,Stadt im Großen' und schließt daran z. T. wörtlich die stoische Definition des (seil, diese Stadt regierenden) Naturgesetzes an93, wie sie bei Z enon und C hrysipp vorliegt94. Anschließend wird von P hilon ausgeführt, daß nur Habgier und Mißtrauen dazu geführt habe, sich nicht mit den Satzungen der N atur (τοΐς της φύσεως θεσμοϊς) zu begnügen und Einzelverfassungen auszusarbeiten. Anschließend heißt es {De Iosepho 31,3): „Die Gesetze in den einzelnen Staaten sind nämlich Zusätze zu dem rechten Logos der Natur. Und so ist auch der Staatsmann ein Zusatz zu dem Mann, der gemäß der Natur lebe.“ προσθήκαι μέν γάρ oi κατά πόλεις νόμοι τού τής φύσεως όρθοϋ λόγου, προσθήκη δέ έστι πολιτικός άνήρ τού βιοΰντος κατά φύσιν.

Es ist wieder ganz stoisch gesehen, daß die staatlichen Gesetze Ausfluß des Naturge­ setzes sind, und Philon mag damit stillschweigend die Frage suggerieren, ob nicht vielleicht Moses’ Gesetzgebung mit diesem Naturgesetz übereinstimmt. Auf diesen Hintergedanken deutet jedenfalls eine Stelle in Moses Π 49 ff. D ort vergleicht P hilon den Moses mit anderen, griechischen Gesetzgebern. Diese zerfielen in zwei Klassen, die einen würden nur Anordnungen treffen und deren Übertretung mit Sanktionen belegen, die anderen würden erst ein Modell entwerfen. Offenbar denkt Philon bei den letzteren an P laton und Leute wie Z enon , die Staatsutopien entwarfen. Moses habe an die Stelle von Befehlen Ermahnungen gesetzt und anstelle eines Staatsmodells am Anfang seines Werks das würdigere Entstehen der „Megalopolis*4geschildert, weil er glaubte, die Gesetze seien das adäquateste Abbild des Weltstaates (της του κόσμου πολιτείας). Anschließend versichert Philon , daß Moses* Einzelanordnungen auf die Harmonie des Alls zielen und „mit dem Logos der ewigen N atur“ zusammenstim­ men. Was die Zeit zwischen Weltschöpfung und Moses anbetrifft, so sagt P hilon in De Abrahamo 6, daß die Erzväter ihrer eigenen Stimme folgend die Nachfolge der N atur begrüßten und diese N atur für das älteste Gebot hielten und insofern ihr ganzes Leben gesetzestreu waren95. Nach Meinung Philons habe Moses unter Hinweis auf sie die Naturgemäßheit seiner eigenen Gesetze aufzeigen wollen sowie die Leichtigkeit, sie zu befolgen; letztere liege auf der Hand, wenn dieselben Gebote schon befolgt wurden, ehe sie aufgeschrieben waren (ebd., 4 f.). Sehr geschickt versteht es P hilon , seine Schrift einem griechischen gebildeten Publikum dadurch zu empfehlen, daß er ihr, ganz der griechischen Tradition folgend, den Untertitel gab

92 Leopold C o hn weist in seiner Übersetzung von „Uber Joseph*4 in: Philo von Alexandreia (wie Fn. 90) 164 zu μεγαλόπολις auf De opificio m undi 19 hin. Weitere Parallelen sind ebd. 143; Mos. Π 51. Vg|. vor allem die stoische Formulierung bei Cicero, Fm. Ill 64 (StVF 111 333, siehe oben S. 61). 93 Aus diesem Grunde hat v. A rnim die Stelle auch als St VF Π1 323 registriert. 94 Vgl. oben S. 58 und S. 59. 95 αύτήκοοι δέ και αύτομαθεΐς, ακολουθίαν φύσεως άσπασάμενοι, τήν φύσιν αυτήν, όπερ έστι προς αλήθειαν, πρεσβύτατον θεσμόν είναι ύπολαβόντες άπαντα τον βίον ηύνομήθησαν.

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„erstes Buch der ungeschriebenen Gesetze“. Die beiden folgenden Bücher über die beiden anderen Erzväter Isaak und Jakob sind nicht erhalten. Auch sonst spielt P hilon mit dem Begriff des ,ungeschriebenen Gesetzes*. In die Schilderung der einzelnen Schritte der Weltentstehung fließen ebenfalls solche stoische Begriffe ein. Ein entscheidender Gedanke wird in De opif. 42 ff. entwickelt96. G ott gibt bei der Schöpfung den Pflanzen nicht nur die »Ideen* für die Früchte ein» sondern auch »samenhafte Wesenheiten* (σπερματικά! ούσίαι» 43) als Zurüstung für die Zeugung von Nachkommen der gleichen Art. „G ott wollte, daß die N atur ständig hin- und zurückläuft, indem er die Gattungen unsterblich machte und sie an der Ewigkeit teilhaben ließ“ (44). Die hier vorliegende Lehre von den Keimkräften stammt ganz aus der Stoa97. Man sieht, daß der aristotelische Nachweis von der Konstanz der Arten inzwischen weitere Verbreitung gefunden hat, wie dies auch durch L ukrez bestätigt wird, auf den wir noch zu sprechen kommen. Es ist darauf hinzuweisen, daß sich P hilon in seiner Beschreibung ganz im Rahmen des soziomorphen Weltbildes des Pentateuch bewegt. Gottes Wille und Handeln wird anthropom orph beschrieben. Von der wissenschaftlichen Ausdrucksweise des A ri­ stoteles ist P hilon weit entfernt Es fehlt in der Schilderung von Gottes Wirken, was die Konstanz der Arten betrifft, auch die ausdrückliche Kennzeichnung des Tuns Gottes als Inkraftsetzung von Regeln, während Lukrez den Begriff foedem verwendet98. Philon rezipiert also den stoischen Begriff des Naturgesetzes in umfassender Weise. Auch wenn der auf den Menschen bezogene ethische Aspekt etwas m ehr im Vordergrund steht, fehlt doch der kosmologische Aspekt nicht, ja Gottes N aturoidnung wird von P hilon als Vorbild der menschlichen O rdnung hingestellt. Dieser grundlegende Ansatz P hilons ist historisch von außerordentlicher Bedeutung. Seine Schriften haben vom 3. Jh. an auf O rigenes und die Kirchenväter gewirkt und waren Bestandteil der Bibliothek in Caesarea in Palästina, wo sie auch E usebios benutzen konnte99. Die Verbindung von stoischer Naturgesetzvorstellung und christlicher Lehre ist von Philons Auslegung des Pentateuch entscheidend angeregt worden, die in ihrer geschichtlichen Bedeutung kaum überschätzt werden kann.

96 Einiges zusätzliche biologische Detail findet sich in der nur armenisch erhaltenen Schrift Alexan­ der sh e de eo quod rationem habeant bruta animalia (ed. I. B. A ucher ; Venedig 1822), über deren Quellenanalyse L eisegang (wie Fn. 89) 6 ff. berichtet. 97 Noch näher an die stoischen Formulierungen reicht der Ausdruck σπερματικός και τεχνικός θειος λόγος heran, der in Quis rerum divinarum heres 119 vorkommt. Vgl. oben Fn. 76. 98 H . A. W olfson , Philo. Foundations of Religious Philosophy in Judaism, Christianity, and Islam, Cambridge/Mass. 1948,1 332 ff. gibt eine gute Interpretation des Abschnitts, doch führt seine Beschreibung des Maßnahme Gottes als „Law of Nature“ etwas in die Irre (was auch für das erste und zweite von ihm so genannte Gesetz gilt), weil Philon gerade hier den Gesetzesbegriff nicht verwendet, während er, wie im folgenden gezeigt wird, sonst bei P hilon sehr verbreitet ist. 99 Zur Nachwirkung Philons vgl. die Testimoniensammlungen und Hinweise in L. C o h n , Philonis Alexandrini opera quae supersunt, I, Berlin 18%, LXXXXVff.; E. R. G oodenough , The Politics of Philo Judaeus, New Haven 1938, 298 ff.; ferner B. A ltaner , Augustinus und Philo von Alexandrien, Kleine patristische Schriften, Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichcn Literatur 83, Berlin 1% 7 ,181 ff. (ursprünglich: Zeitschrift für Katholische Theolo­ gie 65, 1941,81 ff.).

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Eine etwas andere, jedoch ebenfalls von der Stoa inspirierte Verwendungsweise des Begriffs des Naturgesetzes begegnet in den philosophischen Schriften, wie folgende Stellen belegen. In Quod omnis probus liber sit 37,6 wird gesagt: Nach den Gesetzen der N atur sind diejenigen, die durch Räuberei oder Kriegsgefangenschaft versklavt sind, freie Menschen; und nach 62,6, sind Menschen, die sich G ott zum Führer machen und „nach dem Gesetz, d. h. nach dem richtigen Logos der N atur“ leben, nicht nur frei, sondern können auch ihre Nachbarn mit dem Freiheitsgedanken erfüllen. Sicherlich steht hier ein stoischer Gedanke dahinter100. Unklar ist die genaue Vorstellung in De vita contemplativa 2,8: Die Philosophen wurden von der N atur und den heiligen Gesetzen erzogen, das Seiende zu verehren, das besser sei als das G ute101. Abgesehen von den direkten Bezugnahmen P hilons auf das stoische Naturgesetz kommt bei ihm der Naturgesetzbegriff (νόμος φύσεως) sehr häufig in einem volks­ tümlichen Sinne vor, ohne daß eine Beziehung zu stoischem Gedankengut erkennbar ist. So ist in De opificio m undi 13,5 davon die Rede, daß die Zahl 6, die bei der Weltschöpfung ins Spiel kommt, nach den Naturgesetzen am produktivsten sei, was mit mathematisch-pythagoreischen Argumenten begründet wird; P hilon lehrt, wie später die Kirchenväter, die Simultanentstehung der Welt und sieht in der ,zwei‘ und der ,drei‘, deren Produkt 6 ist, das weibliche und das männliche Prinzip symbolisiert, so daß auch die Zahl 6 ein Symbol ist. Am Schluß desselben Werks, in 171,13, führt P hilon aus, daß der Schöpfer für seine Schöpfung, den Kosmos, nach denselben Naturgesetzen sorge, nach denen die Eltern für ihre Kinder sorgten. Der Gedanke wird in der Schrift De praemiis 42,5 sowie in De specialibus legibus 3,189,8 wiederholt Es kommt P hilon nicht in den Sinn, in diesem Zusammenhang nach dem Urheber der Naturgesetze zu fragen, der bei einem wörtlichen Verständnis der Stellen noch über dem Schöpfer stehen müßte, oder, falls die N atur selbst die gesetzgebende Instanz ist, Rechenschaft darüber abzugeben, wieso der Schöpfer sich nach den Gesetzen einer Instanz, der Natur, richten muß, die er selbst geschaffen hat. Ehe wir eine Erklärung für diesen Tatbestand versuchen, soll vorher das weitere Material gesichtet werden. Zunächst ist aber festzustellen, daß die väterliche Liebe des Schöp­ fers zu seiner Schöpfung ihrem Gehalt nach dem ähnlich ist, was bei den Griechen immer als ungeschriebenes Gesetz oder Naturgesetz gegolten hat, insofern z. B. immer die Verehrung der Eltern dazugehörte. Freilich gibt es vor P hilon für die Bezeichnung der Liebe der Eltern zu den Kindern als Naturgesetz keine direkte Parallele. In P hilons Zusammenhang ist anscheinend eine biologische Konnotation mit dem Begriff verbunden: Es liegt im Wesen des Menschen, für seine Nachkommen zu sorgen.

100 Vgl. L eisegang (wie Fn. 89) 14 f., wonach eine orthodoxe stoische Quelle und eine Schrift Bions περί δουλείας benutzt wurde. J. F. K indstkand , Bion of Borysthenes. A Collection of the Fragments with Introduction and Commentary, Uppsala 1976, geht auf Philon nicht ein. 101 Nach K. Bormann , in: Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. v. L. C o h n , I. H einemann , M. A dler und W. T heiler , Berlin 1964, V II49 Anm. 1 in Verbin­ dung mit VH 15 Anm. 5, ist mit dem Seienden an G on gedacht.

Wolfgang Kulimann In D e Abrahamo 135,2 wird von den Sodomiten berichtet, daß sie infolge ihres Überflusses das Gesetz der N atur mißachteten, indem sie sich schrankenlosem Genuß von Nahrung und starken Getränken und einem abartigen Sexualverhalten zuwandten. In De Abrahamo 249,2 erlaubt Abrahams kinderlose Frau Sara ihrem Mann, ihre Magd zu nehmen, um das notwendige Gesetz der Natur zu erfüllen und zu einem Sohn zu kommen. De vita Mosis 2,7,4: Die fünf Gaben, die Moses besitzt (als letzte die Prophetie) können nach einem unveränderlichen Gesetz der Natur nicht voneinander getrennt werden. De vita Mosis 2,81,4: Die Wahrnehmung ist eine Dienerin des Geistes nach den Gesetzen der Natur. De vita Mosis 2,245,1: Es ist ein Naturgesetz, daß die Eltern von ihren Kindern beerbt werden und nicht diese beerben. D e posteritate Caini 185,5: Den Gebrauch und Genuß tiefen Friedens wird das Menschengeschlecht haben, wenn es, von dem Naturgesetz belehrt, G ott ehrt und sich seinem Dienste anschiießc De agricultura 31,2: Eine Herde bedarf nach dem Naturgesetz eines Führers. Ebd., 43,7: Jithro ahnt nicht die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Natur (weil er von diesen mit seinen Gesetzen abwich). 66,2: Wenn der Nus als Führer die Seelenherde fuhrt, und sie mit Hilfe des Naturgesetzes eifrig belehrt, bringt er sie in einen rühmlichen Zustand. De ebrietate 37,7: Jithro will Gesetze vorschreiben, die im Gegensatz zu denen der Natur stehen. 47,2: Der Gesetzgeber Laban sicht die wahren Gesetze der Natur nicht. De sobrietate 25,4: Nach dem Gesetz der Natur kommt dem Sohn der Tugend der Primat zu. De somniis 2,174,5: Auch Gott läßt sich zum Frohsinn herab, wenn das Menschengeschlecht freiwillig den Gesetzen und Statuten der Natur folgt. Auch in De decalogo 132,4 liegt der gewöhnliche Sprachgebrauch vor, wenn es vom Übertreten des siebten Gebots heißt, daß dies eine Beseitigung der Gesetze und Statuten der N atur bedeute. De specialibus legibus 1,155,2.: Den Gesetzen der Natur zu folgen ist am nutzbringendsten, auch wenn es im Augenblick hart ist; De spec.leg. 1,202,3.: Wer mit reinen Gedanken die Hand auf das Opfertier legt, in Übereinstimmung mit den Gesetzen und Satzungen der Natur, gibt das beste Zeichen der Unschuld ab; De spec. leg. 1,306,4: Man soll im Gehorsam gegenüber den Gesetzen der Natur mürrisches Wesen und Unbelehrbarkeit beiseitewer­ fen und sich der Freundlichkeit zu wenden; De spec.leg. 3, 32,2.: Der Mann soll aus Scheu vor dem Naturgesetz die Frau während der Menstruation nicht berühren; De spec. leg. 3,112,2: Eltern, die sich um ihre Kinder nicht kümmern, müssen wissen, daß sie die Gesetze der Natur brechen; De spec. leg. 4,205,1: Wer Heterogenes zusammenbringen will, hebt das Gesetz der Natur auf (z. B. Paarung artverschiedener Tiere, Anlegung von Weingärten für unterschiedliche Früchte, Kleidung aus zwei verschiedenen Materialien), ebd. 4,213,1: Wer aus Habgier zuviel Zoll erhebt, beseitigt auch die Gesetze der Natur; in De praemiis 108,4 wird die Verheißung Gottes über die Fruchtbarkeit des Landes in Exod. 23,26 mit den Worten paraphrasiert: „Alle echten Diener Gottes werden das Gesetz der Natur zur Kindererzeugung erfüllen.“ In der philosophischen Schrift Q uod omnis probus liber sit heißt es (30,2): Nach dem Gesetz der Natur sind alle Dummen dem Weisen gegenüber gehorsam; in De aeternitate m undi 59,2 wird in der Kritik am Mythos von den „Gesäten Männern“ (den Sparten) auf die Naturgesetze Bezug genommen102. Einige Stellen betreffen ausschließlich die Sexualmoral: Nach De vita contempl. 59,3 ist die Päderastie gegen die Gesetze der Natur. Ebenso wird in De spec. leg. 1,325,5 von den androgynen Männern gesagt, sie verbögen die Gesetzmäßigkeiten der Natur (το φύσεως νόμισμα παρακόπτοντες), oder wörtlicher übersetzt, um die Nuancen etwas besser sichtbar zu machen, sie seien Falschmünzer der gesetzlichen Münze der Natur, und in De spec. leg. 3,38,3 wird gar der Tod für solche Leute gefordert. In De spec, leg 3,176,4 werden die Aufseher der Sportstätten gelobt, daß sie die Frauen von diesen Stänen femhalten, damit diese nicht in Mißachtung der Statuten der Natur die üblichen Regeln des Anstands verletzen und die Männer nackt sehen (ίνα μή . . . το δόκιμον αϊδούς νόμισμα παρακόπτωσιν άλογοϋσαι φύσεως θεσμών).

Wie man sieht, ist die Rede vom „Gesetz der N atur“ in zahlreichen Fallen ein AUerwcltsausdruck, der nicht auf „philosophische“ Sachverhalte bezogen ist, son­ dern ähnlich wie schon viel früher bei D emosthenes in den vulgärethischen Bereich

102 Zu De aeternitate m undi 55-69 vgl. auch unten S. 71 f.

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gehört, stärker deskriptiv ist103 und gelegentlich ins Biologische ausgedehnt wird104. Er hat als Terminus nichts mit der jüdischen Religion P hilons zu tun, auch wenn er sogar auf jüdische rituelle Regeln angewandt werden kann, und wild auch nicht bewußt mit der stoischen Vorstellung eines göttlich sanktionierten Naturgesetzes in Verbindung gebracht. Selbst G ott richtet sich als „Vater“ nach den „Gesetzen der N atur“ und wird nicht etwa als deren Gesetzgeber betrachtet. Es stellt sich die Frage, was es zu bedeuten hat, wenn ,Naturgesetz* in diesem Sinne ein Lieblingsausdruck P hilons ist. Offenbar kommt es diesem darauf an, die Fülle der Berichte, Bestimmungen und ethischen Regeln der Thora einem griechi­ schen Publikum plausibel zu machen. Wenn sogar mehrfach festgestellt wird, daß Gottes Fürsorge und Vorsehung für die Welt dem Naturgesetz entspricht, so soll offensichtlich dadurch der für Kenner der griechischen Philosophie befremdende Gedanke verständlicher werden, daß nach dem Wortlaut des Pentateuch G ott in das menschliche Geschehen häufiger eingreift, statt in Erhabenheit und Bedürfnislosig­ keit zu verharren, wie das für Platoniker, Aristoteliker und Epikureer (und auf metaphorischer Ebene z. T. auch für die Stoiker) selbstverständlich war und wie es in gewisser Weise auch P hilons eigenen philosophischen Anschauungen entsprach, der den Gedanken der Transzendenz Gottes mit dem der Immanenz in der Welt mischt105. Zusammenfassend können w ir feststellen, daß P hilon seiner Interpretation des Pentateuchs den stoischen Begriff des Naturgesetzes zugrundelegt. Dieser Begriff hat zwei Aspekte. Einmal hat er in Bezug auf die Menschen einen stark präskriptiven Charakter. G ott als Gesetzgeber gibt den Menschen das Gesetz, das anordnet, was zu tun ist und was zu unterlassen ist. Die menschlichen Gesetze sind nur Fortschreibun­ gen (»Zusätze*) des Naturgesetzes. Zum andern bezeichnet er die Regeln, die G ott der übrigen Schöpfung auferlegt und die stärker in die Nähe unserer modernen Naturgesetze rücken. Neben diesen beiden von der Stoa ererbten »Bedeutungen* von »Naturgesetz* gibt es einen unreflektierten und volkstümlichen Gebrauch dieses Begriffs, bei dem eine Rückführung des Gesetzes auf G ott nicht im Blick ist. Daß Kinderzeugung, Liebe zu den Kindern usw. den Naturgesetzen entspricht, Homose­ xualität ihnen widerspricht, hat bei Philon mit philosophischen Vorstellungen nichts zu tun. Wahrscheinlich stammt diese Bedeutung aus dem allgemeinen Sprachge­ brauch und knüpft an den Begriff des »ungeschriebenen Gesetzes* der klassischen Zeit an, auch wenn gelegentlich eine stärker biologische und weniger präskriptive Konnotadon damit verbunden ist.

103 Die Grenzen zwischen ,präskripdv‘ u n d ,deskriptiv* sind fließend, wie gerade die zum sexuellen Bereich gehörenden Beispiele zeigen können. 104 So wird z. B. das Gebot, die Eltern zu ehren, in P$.-Demosthenes, or. 25, als ein Naturgesetz für Menschen und Tiere bezeichnet. Siche oben S. 54 f. 105 Vgl. K. Bormann , Die Ideen- und Logoslehre Philons von Alexandrien, Diss. Köln 1955, 7 f. und passim.

Wolfgang Kulimann 6.

D e r N a tu rg e s e tz g e b r if f in w issen sch a ftlich e m Zusam m enhang bei L u k rez u n d in Senecas Q u a e s tio n e s n a tu r a le s sowie sein G e b ra u c h in M anilius* A stro n o m ic a

Ein besonderes Interesse zieht in unserem Zusammenhang L ukrez (gest. 55 v. Chr.) auf sich, bei dem mehrfach ein Naturgesetzbegriff vorliegt, der dem m odernen sehr nahekommt (foedera naturae, eigentlich „Vereinbarungen der N atur“, neben lex). Denn er bezieht sich mehrfach auf einen Sachverhalt, auf den man auch heute teilweise den Begriff des Naturgesetzes im Sinne der Naturwissenschaft anwenden würde: die Konstanz der Arten und Gattungen der Dinge. Er kann nicht direkt auf E pikur zurückgeführt w erden106. Nach E pikur konstituieren sich die Arten und Gattungen der Dinge aus bestimmten substantiellen Verbindungen, die sich ihrerseits aus konstanten unterschiedlichen Atom sorten ergeben, die in allen möglichen Welten immer die gleichen sind. Auch die Zahl der Atom arten ist begrenzt107. L ukrez kom m t es in seinem Zusammenhang letztlich auf einen Beweis für die Konstanz der Atome an, für die die Konstanz der A rten und ihrer sich vererbenden Eigenschaften der beste Beweis sei. D er Ausdruck foedera naturae bezieht sich dabei nicht auf die Verbindungen bestimmter Atom arten, wie man gemeint hat108, sondern L ukrez sagt nur, daß sich aus den Naturgesetzen die Entwicklung jeder A rt ergibt. L ukrez hat insbesondere die Arten der Tiere und Pflanzen vor Augen und behauptet, daß Entstehen, Leben und Wachsen bei diesen konstant sei. Die maßgeblichen Stellen sind I 584 ff.: denique iam quoniam generatim reddita finis / crescendi rebus constat vitam que tenendi / et quid quaeque queant per foedera natural / quid porro nequeant, sancitum quandoquidem extat, Π 302 f.: quantum cuique datum estperfoedera natural und V 56 f.: quo quaeque creata foedere sint In V 922 ff. ist dieser Gedanke in einer noch spezifischeren Form verwendet. D ort wird die Existenz von Kentauren, Mischwesen aus Pferd und Mensch, m it dem Argument widerlegt, daß die beiden an dem Mischwesen angeblich beteiligten Arten eine unterschiedlich lange Adoleszenz haben: ^Dennoch können sie sich nicht gegenseitig verbinden, sondern jede Art entsteht auf die eigene Weise, und alle wahren nach dem genauen Gesetz der Natur ihre Unterschiede.“ non tarnen inter se possunt complexa creaH sed res quaeque suo ritu procedit et omnes foedere naturae certo discrimina servant

106 Vgl. R. E ucken, Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart, Leipzig 1878,115 f.; ders., Geschichte der philosophischen Terminologie im Umriß dargestellt, Leipzig 1879 (ND: Hildesheim 1%4), 50 f. und K. R eich , Der historische Ursprung des Naturgesetzbegriffs, in: Festschrift Emst Kapp. Zum 70. Geburtstag am 21. Januar 1958 von Freunden und Schülern übenreicht, Hamburg 1958, 121 ff. 107 Vgl. C. Bailey, The Greek Atomists and Epicurus, Oxford 1928, ch. VI: Compound bodies and their qualities 339 if. 108 So R eich (wie Fn. 106) 125. Die Verbindungen verschiedener Atomarten (συγκρίσεις, vgl. Epikur, H dt. 40 f.) heißen bei L ukrez jedoch concilia.

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Dahinter steht die Grundüberzeugung, daß die begrenzte Zahl von Atomsorten das plötzliche Entstehen neuer Arten ausschließt. L ukrez wendet den Begriff des foedus naturae auch auf andere Gesetzmäßigkeiten an, so auf die Anziehungskraft des Magnetsteins (V I906 f.: quo foedere fia t naturae, lapis hie ut ferrum ducere possit). Auch hier besteht eine beachtliche Nähe zum modernen Begriff des Naturgesetzes. Neben dem Begriff der foedera naturae kommt auch der Ze^Begriff bei ihm vor109. In V 56 ff. will L ukrez E pik u r folgend darlegen, quo quaeque creatafoedere sint, m eo quam sit durare necessum nec validas valeant aevi rescindere leges. Die »festen Gesetze der Zeit* sind offenbar mit dem foedus identisch. Auch wenn L ukrez in Π 718 ff. ausfuhrt, daß die von ihm beschriebenen Gesetze (hier: leges) nicht nur für animalia gelten, wird klar, daß leges und foedera synonyme Begriffe sind. Da beide Begriffe bei E pik u r nicht belegt sind, ist anzunehmen, daß L ukrez sie aus dem alltäglichen Sprachgebrauch endehnt. Eine Stelle bei C icero kann dafür angeführt werden. Dieser spricht in Pro Scaur. 5 (54 v. Chr.) davon, daß selbst P ythagora s und P la to n den Selbstmord verbieten und dazu sagen id contra foedus fieri legemque naturae110. Auch hier sind die Begriffe synonym. Sie haben allerdings ähnlich wie bei D em o sth en es einen rein ethischen Sinn. Was den Gebrauch bei L ukrez auszeich­ net, ist die naturwissenschaftliche Anwendung auf die Grundlagen der Atomistik, auf die immer gleichmäßige Vererbung bei den Arten der Lebewesen und auf die Anziehungskraft des Magnetsteins, mithin auf Sachverhalte, die in striktem Sinne ausnahmslose Geltung besitzen. Bei L ukrez wird also einmal als Naturgesetz etwas bezeichnet, was Aristoteles als mit „absoluter Notwendigkeit** geltend angesehen hat und was an den modernen Naturgesetzbegriff stark heranführt. Dies hat in bezug auf V 922 ff. K laus R e ic h veranlaßt, nach einer griechischen Quelle zu suchen, um dort nach Möglichkeit den Begriff des Naturgesetzes zu finden. Er glaubte, sie an einer verwandten Stelle bei P h il o n von Alexandreia in dessen Schrift De aeternitate mundi 55-69 entdecken zu können111. D ort ist im weiteren Kontext der Peripatetiker K r it o l a o s zitiert, der in der 1. Hälfte des 2. Jh. Schuloberhaupt des Peripatos war. Ihm könne man den Ausdruck Zutrauen, da er in der Tradition des A risto teles die Ewigkeit der Arten vertreten haben werde112. Es heißt dort unter anderem (Überset­ zung von K a rl Bo r m a n n 113):

109 Vgl. auch L ukrez ΠΙ 687 leti lege. 110 Vgl. auch Vergil, Georg. I 60 f., wo es darum geht, daß verschiedene Gegenden verschiedene landwirtschaftliche Produkte hervorbringen: continuo has leges aetemaque foedera certis imposuit natura locis. Angesichts der Parallelstelle aus Cicero ist zu bezweifeln, daß W ill R ichter , Vergil. Georgica, hrsg. und erkl., München 1957, 128, mit seiner Behauptung Recht hat, der Begriff foedus sei von Lukrez eingeführt worden. 111 Für die Echtheit der Schrift hat sich unter anderem K. Bormann ausgesprochen, in: Philo von Alexandria (wie Fn. 101) VH 71 ff. Gegen die Echtheit wandte sich J. Bernays, Die unter Philon’s Werken stehende Schrift Ueber die Unzerstörbarkeit des Welulls nach ihrer ursprüng­ lichen Anordnung wiederhergestellt und ins Deutsche übertragen, Abhßeri 1876; ders., Kom­ mentar, hrsg. v. H. U sener, Abhßeri 1882. 112 K. R eich (wie Fn. 106) 130 ff. 113 (W ieFn. 101)95.

Wolfgang Kullmann »Aber zu glauben, es seien einige von (vornherein) erwachsen hervorgebracht worden, zeigt, daß man die Naturgesetze, unverrückbare Satzungen (νόμους φύσεως, θεσμούς ακινήτους), nicht kennt. Unsere Entschlüsse nämlich tragen das Unharmonische an sich, das aus unserem sterblichen Bestandteil stammt, und sind daher begreiflicherweise dem Wandel und der Veränderung unterwor­ fen. Bei der Allnatur dagegen gibt es keinen Wandel, da sie über alles gebietet und wegen der Beständigkeit der einmal gefaßten Beschlüsse die von Anfang an gesetzten Grenzen unverrückbar bewahrt.“

R eichs These läßt sich jedoch aus folgenden Gründen nicht halten. Es geht P hilon um die Ewigkeit der Welt, die aus der Ewigkeit der Erde folgt, die wiederum aus der Ewigkeit des Menschen abgeleitet wird. Weil der Mensch Zeit zu seiner Entwicklung braucht und nicht in erwachsenem Zustand geboren sein kann, folgt die Ewigkeit der A n Mensch und letztlich die des Kosmos. Dies ist aber ein sehr gewaltsamer Beweis und nicht dasselbe, was bei L ukrez als Naturgesetz bezeichnet wird. D ort geht es um die Unabänderlichkeit der Arten. Zweitens spricht einiges dafür, daß das Fragment des Kritolaos viel kürzer ist und die Parallele nicht mitumfaßte114. Drittens kommt hinzu, daß, wie unsere Darlegung beweist, νόμος φύσεως ein Lieblingsausdruck P hilons ist, den er in unprätentiöser Weise auf die verschiedensten Sachverhalte anwendet. Man wird die Übereinstimmung des Philon und des L ukrez in der Anwendung des Begriffs in diesem Fall auf den Einfluß des allgemeinen zeitgenössi­ schen Sprachgebrauchs zurückführen können. Unabhängig von diesem Ergebnis bleibt bestehen, daß bei L ukrez der Begriff des Naturgesetzes an den entsprechenden modernen Begriff nahe heranreicht. Allerdings darf man sich nicht täuschen lassen. D er Begriff besitzt bei L ukrez eine starke bildlich-allegorische Kraft, die dem modernen Begriff nicht zukommt. Von ihm fuhrt keine Brücke zur Philosophie E pikurs ; denn man assoziiert auf der poetischen Ebene (freilich nur auf dieser) irgendeinen geheimnisvollen Pakt. Aber in der Umset­ zung der epikureischen Philosophie ins Poetische ist L ukrez auch sonst eigenwillig. Es läßt sich nicht ausschließen, daß er Kenntnis von dem stoischen Begriff des Naturgesetzes hatte und daß dieses Wissen für die Einengung der volkstümlichen Redeweise auf den rein naturwissenschaftlichen Bereich verantwortlich war. Er war durch die Vermittlung von Jungepikureem auch sonst mit stoischem Denken vertraut und setzte sich mit chrysippeischen Gedanken auseinander115. Die Substanz des lukrezischen Begriffs wird davon nicht berührt, und selbstverständlich fehlt diesem jeder anthropom orphe Zug. Während bei L ukrez der Begriff des Naturgesetzes in naturwissenschaftlichem Sinne im Rahmen der epikureischen Philosophie verwendet wurde, findet sich in Senecas Quaestiones naturales eine stoisch inspirierte Anwendung auf Naturphäno-

114 Ohne Kenntnis von Reichs Aufsatz wird die peripatetische Provenienz des Abschnitts von F. W ehrli, Die Schule des Aristoteles, Heft X, Hieronymus von Rhodos. Kritolaos und seine Schüler. Rückblick: Der Peripatos in vorchristlicher Zeit. Register, Basel 21969, 65, be­ stritten. 115 Zur Berücksichtigung der Stoiker bei L ukrf.z vgl. J ürgen Schm idt , Lukrez, der Kepos und die Stoiker. Untersuchungen zur Schule Epikurs und zu den Quellen von „De rerum natura“ (Studien zur Klassischen Philologie, Bd. 53), Frankfurt/M. 1990.

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mene. Das Werk ist zwischen 62 und 64 n. Chr. entstanden116. Es geht in ihm um Naturprozesse, die als leges naturae bezeichnet werden; freilich erscheint die N atur in sehr anthropom orpher Sicht, insofern der Gedankengang wesentlich durch die Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogie und eine vitalistische Sichtweise bestimmt ist. D. h. Seneca geht davon aus, daß die Erde nach Art unserer Körper von der Na­ tur gelenkt wird (ΙΠ 15,1). ΙΠ 15 handelt von der Zirkulation von Blut bzw. Wasser und Luft im menschlichen Körper und in der Erde. Wenn Erde und bestimmte Arten von Feuchtigkeit (umor) sich zersetzen und Bitumen (Erdpech) abgesondert wird, kann Wasser entstehen, und Seneca kann sagen (ΙΠ 15,3): „Dies ist die Ursache für Wasser, das gemäß dem Gesetz und dem Willen der Natur entsteht.“ Haec est causa aquarum secundum legem naturae voluntatem que nascentium.

In ΙΠ 16,3 wundert sich Seneca über die Periodizität bestimmter Quellen, die im 6-Stunden-Rhythmus sprudeln. Er fragt: „Ist es nicht sonderbar, wenn man sicht, wie die Ordnung und Natur der Dinge nach festgclcgtcn Regeln abläuft?“ Ecquid hic mirum est, cum videas ordinem rerum et naturam per constituta procedere?

Hierbei wird als Synonym für leges das Wort constituta verwandt, was wohl den griechischen θεσμοί entspricht. Anschließend, in 16,4, wird gesagt: »Auch unterhalb der Erde gibt es weniger bekannte, aber nicht weniger sichere Naturgesetze.“ Sunt et sub terra minus nota nobis iura naturae, sed non minus certa.

In Kap. 29 des dritten Buchs spricht Seneca vom Weltenbrand (conflagratio) und von der Sintflut (dilu vio). Mag die Welt ein Lebewesen oder ein von der N atur gelenkter Körper sein, so argumentiert er in 29,3 f., wie ein Kind schon die Gesetzmäßigkeit des Bartwuchses (legem barbae) und das Ergrauen der Haare in sich habe, so umfasse der Ursprung der Welt auch Gestirne, den Ursprung der Lebewesen und die Kräfte der Veränderung des Irdischen. Dazu gehöre die Überflutung (inundatio ), die wie W inter und Sommer nach dem Weltgesetz (lege m undi) eintrete. Meeresflut und Erdbeben würden der N atur nur dabei helfen, die Gesetze der N atur zu erfüllen (ut naturae constituta peragantur,; 29,4), die m axim a causa sei aber die Erde selber, die sich in Flüssigkeit auflösen könne. Auch hier haben wir wieder die strikte MikrokosmosMakrokosmos-Analogie. Die Erde wird als großer Organismus aufgefaßt (der eines Tages sein Ende finden kann: quandoque erit terminus rebus humanis, 29,5). Also auch scheinbar so irreguläre Vorgänge wie eine Erdüberflutung sind Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Die Begriffe dafür, lex m undi und naturae constituta, sind Bezeichnun­ gen für das stoische Naturgesetz, ohne daß im konkreten Fall eine ganz strikte deterministische, monokausale Gesetzmäßigkeit gemeint ist. Sie bezeichnen also eine Regelhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit, wie sie für einen Organismus charakteristisch ist.

116 K. A bel, Bauformen in Senecas Dialogen, Heidelberg 1%7, 166.

Wolfgang Kulimann

Auch in ΙΠ 30,1 führt Seneca aus, daß die N atur vom ersten Tag der Welt an deren Untergang beschlossen hat {constituit, decretum est). Die N atur erscheint leicht personifiziert, und ihr W irken ist in eine rechtliche Sprache gekleidet Am Schluß des Kapitels kommt zusätzlich die moralische Komponente ins Spiel117. Mit dem Unter­ gang sei moralische Dekadenz verbunden (30,7). Aber anschließend entständen die Lebewesen von neuem, bis sich wieder Verderbnis (nequitia) einschleiche118. Diese Analogie wird dann später in V I 14 anläßlich der Behandlung der Erdbebenentste­ hung noch breiter dargelegt D ort haben w ir einen detaillierten Vergleich der Erde mit einem menschlichen Organismus, wobei die Wasserströme mit dem Blut in den Venen und die Winde mit dem Atemhauch (anim am ) verglichen werden. In V I32,12 wird der Tod als naturae lex bezeichnet, wobei auch der Untergang der Erde selbst im Blick ist (VI 32,7)119. Im Kometenbuch, in VII 28,2, wird davon gesprochen, daß ein Komet nicht unmittelbar folgende atmosphärische Erscheinungen wie W ind oder Regen ankün­ dige, wie Aristoteles glaubte, sondern Zukünftiges, z. B. ein schlechtes Jahr, also etwas, was tiefer liegt und in den Gesetzen des Weltalls beschlossen ist (sed habere reposita et comprensa legibus m undi). Die Stelle zeigt, daß der ganze Kosmos in die Gesetzesvorstellung einbezogen ist120. Durch den Vergleich der makrokosmischen mit bestimmten mikrokosmischen Prozessen wird eine organologische Betrachtung des gesamten Makrokosmos, zu­ nächst der Erde, dann der Welt überhaupt, vorbereitet. Durch die ständig wiederholte Betonung des W underbaren wird auch der Gedanke an eine im Geheimen wirkende

117 G isela Stahl , die die Schrift eingehender untersucht hat, formuliert zusammenfassend zum dritten Buch (Die „Naturales Quaestiones“ Senecas. Ein Beitrag zum Spiritualisierungsprozcß der römischen Stoa, Hermes, 92, 1964, 425 ff., hier: 429, wiederabgedruckt in: Seneca als Philosoph, hrsg. v. G. M aurach , Wege der Forschung 414, Darmstadt 21987, 264 ff., hier: 270): „Dieses Naturgesetz zeigt sich in der unzerstörbaren aequitas portionum (10,3) und im periodenhaften Geschehen mikrokosmischer (16,1-3: Ebbe und Flut, Krankheit, Entwick­ lungsstadien des Menschen) oder makrokosmischer Tragweite (13: Folgen von Weltperioden). Die entfesselten Elemente des Meeres werden einst - im Sinne dieses ordo rerum - das Menschengeschlecht verschlingen zur Bestrafung seiner nequitia (ethische Paränese: 27-30), die in einem Exkurs des Mittclstücks (contra luxuriam) exemplifiziert wird (17-18).“ 118 In der Bewertung des Schlusses des dritten Buchs widersprechen sich die Forscher. K. R ein ­ hardt , Poseidonios, München 1921, 174 betont das pomphafte Ende und die düstere Stim­ mung. Ähnlich urteilt G. Stahl (siche oben Fn. 117). Anders H. Stro h m , Beiträge zum Verstaminis der Quaestiones Naturales Senecas, in: Latinität und alte Kirche. Festschrift Hanslik (Wiener Studien, Beiheft 8), Wien 1977,309 ff., bes. 318, der das Dekadenzmotiv herunterspiek. Im Lichte des .düsteren Buchendes* interpretiert wieder F. P. W aiblinger , Senecas Naturales Quaestiones. Griechische Wissenschaft und römische Form (Zctemata H. 70), München 1977, 51 ff. das ganze dritte Buch. Kritik an der überstarken Betonung des moralischen Aspekts übt hingegen N. G ross, Senecas Naturales Quaestiones. Komposition, Naturphilosophische Aus­ sagen und ihre Quellen (Palingenesia 27), Stuttgart 1989, 143 f. 119 Zum vorher .beschlossenen* Untergang der Erde im Zusammenhang mit der nequitia vgl. HI 30. 120 Nach A. R ehm , Das siebente Buch der Naturales Quaestiones des Seneca und die Kometen­ theorie des Poseidonios, SBMünchen 1921, wieder abgedruckt in: Seneca als Philosoph (wie Anm. 117), 228 ff., hier: 243, sum m t der astrologische Akzent von Seneca selbst.

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Vernunft geweckt. In der praefatio des ersten Buchs121 wird G ott mit dieser ratio identifiziert (I praef. 13,14)122. Das Nachspüren nach der ratio, nach wissenschaft­ licher Erkenntnis, fuhrt zu Gotteserkenntnis und ermöglicht es dem Menschen, im Einklang mit G ott und der N atur zu leben123. In den Quaestiones naturales wird somit eine von vornherein zum Programm der Stoa gehörende Synthese der ethischen mit der naturwissenschaftlichen Konzeption des Naturgesetzes detaillierter durchgeführt. Neu ist daran der Rekurs auf bestimmte naturwissenschaftliche Beobachtungen und die Benutzung der Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogie, die eine den Menschen einbeziehende einheitliche vitalistische Naturerklärung ermöglicht, die natürlich weiterhin ethisch ausgerichtet bleibt. Durch das stoische secundum naturam vivere, das in Selbstbeherrschung, Unterdrückung der Begierden, Unempfindlichkeit gegen Schicksalsschläge und Todesbereitschaft besteht, gewinnt der Mensch nach Seneca Freiheit, und zwar „nicht nach dem Gesetz der Q uinten, sondern nach dem Gesetz der N atur“, wie es in der praefatio des dritten Buchs heißt (ΙΠ praef. 16: haec res efßat non e iure Quiritium liberum, sed e iure naturae)124. D er Tod ist nicht zu furchten; die N atur „erwartet den Menschen“ (VI 32,6). Auch wissenschaftliche Naturerkenntnis125 fördert nach dieser Konzep­ tion die Adaptation an den Weldogos, ermöglicht Gesundheit der Seele und trägt auf diese Weise zum Glück des Menschen bei. Was die Quelle Senecas betrifft, so kann kein Zweifel sein, daß das Lehrgut, insbesondere der Gedanke der lex naturae, im Kern altstoisch ist. Im einzelnen ist die Quellenfrage ungelöst. Uber weite Strecken wird Poseidonios benutzt sein, auch wenn offenbleiben muß, wieweit spezifisch vitalistische Momente bei diesem eine Rolle spielten. Vielfach wird sich Seneca auf den Poseidoniosschüler A s k le p io d o t gestützt haben. In bezug auf die wichtige Frage, wer sich hinter der Auffassung der Erde als organischem Lebewesen in V I 14 (und ΙΠ 15) verbirgt, besteht ein gewisser Konsens zwischen K a r l R e in h a r d t126, M ax P o h le n z 127, W illy T h e ile r 128

121 Nach G ross (wie Fn. 118) 14 f. paßt das Proömium nicht zum Hauptteil mit seinen meteorolo­ gischen Problemen, sondern war als Vorrede zur Behandlung der caelestia vorgesehen. Vielleicht war es aber doch von vornherein als Vorwort eines die caelestia mitumfassenden Gesamtwerks gedacht. Vgl. K. A bel, Seneca. Leben und Leistung, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt Π 32,2, Berlin 1985, 654 ff., bes. 743. 122 Vgl. auch in D 45,1 f. die Bestimmungen Jupiters als rector custosque universi, animus ac spiritus m undi, operis huius dommus et artifex, fatum , causa causarum, providentia, natura, mundus und außerhalb dieser Schrift die Bemerkung in Bcnef. IV 7,1: quid emm aliud est natura quam deus et drvtna rado toti mundo partibusque eius inserta} 123 Vgl. S t a h l (wie Fn. 117) 437 (= Seneca als Philosoph 281); K. A bel, Seneca. Leben und Leistung (wie Fn. 121) 741. 124 Vgl. Stahl (wie Fn. 117) 443. 125 Diese ist hier natürlich in einem spezielleren Sinne verstanden, als es traditioncllerweise der chrysippeischen Variante der zcnonischcn Tclosformcl entspricht: ακολούθως (bzw. όμολογουμένως) tfj φύσει ζήν (StVF ΠΙ 4.5). 126 K. R e in h a r d t (wie Fn. 118) 146 ff. 127 M. Pohlenz , Stoa (wie Fn. 69) I 217; Π 107. 128 W. T heiler, Poseidonios. Die Fragmente, Berlin 1982, Π 237.

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und O tto und E va Schönberger 129130, die dahinter einen poseidonischen Gedan­ ken vermuten. Dies wird jedoch von N . G ross bestritten, der an A thenaios aus Atdlia, den Begründer der pneumatischen Schule in der griechischen Medizin, als Quelle denkt150. Allerdings ist dieser nach neuerer Forschung ein direkter Schüler des Poseidonios, kein Zeitgenosse des Seneca, wie G ross annimmt131. Es ist offensicht­ lich, daß hier zwar weiterhin dieselbe Grundvorstellung wie bei Z enon , K leanthes und C hrysipp zu finden ist, aber doch die W irkung auf die Allnatur betont w ird132. Bei den frühen Stoikern ging es um ein universales Moralgesetz, das vor allem den Menschen betrifft, aber auch für den Kosmos Gültigkeit hat. H ier geht es präziser um Weltgesetze der göttlichen ratio, die den ganzen Kosmos zusammenbinden. Die Vorstellungen vom σύνδεσμός und der συμπάθεια des Kosmos stehen im Vorder­ grund133. Auch wenn die Ansichten darüber, was P oseidonios gelehrt hat, stark divergieren und immer m ehr sichtbar wird, daß er sich nicht so individualistisch aus der Schule heraushob, wie oft unterstellt wird, wird man, was die Erweiterung der Fragestellungen zur naturwissenschaftlichen Seite hin betrifft, mit seinem Einfluß rechnen müssen. Das astrologische Lehrgedicht des M anilius ist stark vom Lehrgedicht des Lukrez beeinflußt und zugleich von der stoischen Philosophie geprägt.134 Infolge­ dessen ist es verständlich, wenn die Begriffe foedus und lex im kosmischen Zusam­ menhang zusammen mit dem Naturbegriff auftauchen. Nach Astronomica Π 340 f. veranlassen die trigonalen Konjunktionen von Sternbildern die Natur, „nach ge­ meinsamem Gesetz Verträge zu geben und wechselseitige Freundschaft und Be­ günstigung“: his natura dedit communi foedera lege inque vicem affectus et mutua iura favoris. Der von der Gottheit gesetzlich geregelte* σύνδεσμός des Kosmos wird hervorge­ hoben (I 248 ff.): membraque naturae . . . vis animae divina regit sacroque meatu conspirat deus et tacita ratione gubernat, mutuaque in cunctas dispensat foedera partes. Wahrscheinlich steht Poseidonios im Hintergrund dieser Formulierungen.135 Zusammenfassend kann man folgendes feststcllen. Auch im römischen Reich gibt es einen volkstümlichen und unphilosophischen Begriff des Naturgesetzes: Wenn in C iceros Rede Pro Scauro 5 argumentiert wird, Selbstmord sei gegen das Naturgesetz

129 L ucius A nnaeus Seneca. Naturwissenschaftliche Untersuchungen in acht Büchern. Eingelei­ tet, übersetzt und erläutert von O . und E. Schönberger , Würzburg 1990, 16. 130 (wie Anm. 118) 129 ff., bes. 133, 267 f.. 131 Vgl. F. K u d u en , Poseidonios und die Ärzteschule der Pneumadker, Hermes 90, 1962,419 ff. 132 Der Begriff (φον wird allerdings auch schon von C hrysipp dem Kosmos zuerkannt (StVF Π 528, 633 (aus D. L.), was Boethus Sidonius leugnet (StVF ΙΠ 6, aus D. L.). 133 Vg). auch Karl R einhardt , Kosmos und Sympathie. Neue Untersuchungen über Poseido­ nios, München 1926. 134 Vgl. A lmut R eeh , Interpretationen zu den Astronomica des Manilius mit besonderer Berück­ sichtigung der philosophischen Partien, Diss. Marburg, 1973, 193 ff. 135 Vgl. W. J aeger , Ncmesios von Emesa. Quellenforschungen zum Neuplatonismus und seinen Anfängen bei Poseidonios, Berlin 1914,108 f. Siehe auch Π Ι55: akem o{aetem o Bentley) religatus foedero mundus.

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(contra foedus legemque naturae), so entspricht dies genau dem Sprachgebrauch, den wir etwas später bei P hilon im griechischen Kulturbereich vorfinden. Mit der Stoa hat dies nichts zu tun. Wohl aber greift L ukrez diese Ausdrucksweise auf, um damit im Rahmen seiner Atomistik bestimmte ausnahmslos geltende Regeln zu kennzeich­ nen, ohne sie in vermenschlichender Weise auf eine göttliche gesetzgeberische Macht zurückzuführen. Singulär für die Antike ist, daß bei ihm der Gesetzesbegriff in rein naturwissenschaftlicher Weise ohne Bezug zur Moral benutzt wind. In Senecas Naturales quaestiones ist der stoische Naturgesetzbegriff zugrundegelegt, wobei durch eine vitalistische Naturdeutung der moralische und der kosmische Aspekt des Be­ griffs zu einer neuen Synthese gelangen. Bei M anilius wird die stoische Lehre von der »Sympathie* von Kosmos und menschlichem Schicksal astrologisch ausgedeutet, wobei der gelegentlich verwendete Begriff foedera gattungsgeschichtlich als Anleihe bei dem Lehrgedicht des L ukrez zu betrachten ist.

7.

D e r B e g riff des N a tu rg e s e tz e s in d e r g rie c h isc h e n L i t e r a t u r der K aiserzeit

Auch in diesem Bereich der Literatur finden wir eine ähnliche Konstellation. Es gibt den stoisch beeinflußten Naturgesetzbegriff mit seinem anthropologischen und sei­ nem kosmologischen Aspekt und den volkstümlichen, oft biologisch verstandenen Begriff, bei dem jede Reflexion über das Zustandekommen des »Gesetzes* oder einen Gesetzgeber fehlt. Auch in der pseudo-aristotelischen Schrift Περί κόσμου, die sich bis heute einer exakten philosophischen Einordnung und Datierung entzieht136, kommt die Vorstel­ lung vom Naturgesetz vor. In dem theologischen Kapitel 6 wird der in unbewegter Position alles bewegende G ott auch als Lenker der Welt, die als »größere Stadt* bezeichnet w ird137, vorgestellt und als „ein gleichausgewogenes Gesetz für uns“ definiert (νόμος μεν γάρ ήμΐν ίσοκλινής ό θεός, De mundo 400 b 28), das aber zuverlässiger sei als die auf den Gesetzestafeln aufgeschriebenen. Auch hier verbindet sich mit G ott als Gesetzgeber nicht nur eine ethische, sondern auch eine biologische Komponente. Es ist davon die Rede, daß alle Tiere, wilde und zahme, in der Luft, zur

136 Vgl. H . Strohm , Aristoteles. Meteorologie. Uber die Welt, übers, v. H. S. (Aristoteles Werke in dt. Ubers., hrsg. v. E. G rumach und H. F lashar, Bd. 12) Darmstadt 1970,263 ff., bcs. 268 f. Siehe auch FESTUGifcRE (wie Anm. 69) 477 ff., P. M oraux , Der Aristotelismus bei den Grie­ chen. Von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias, Zweiter Band: Der Aristotelismus im I. und Π. Jh. n. Chr., Berlin-New York 1984, 3 ff. 137 400 b 27 f. ούτως ύποληπτέον καί έπΐ της μείζονος πόλεως, λέγω 6έ τούδε του κόσμου. Dies entspricht dem Sprachgebrauch der Stoiker und P hilons . Vielleicht wird G on in der Schrift auch als Gesetzgeber bezeichnet, wenn die sachlich geforderte Konjektur von L orimer in 400 b 7f., der sich Festugiere (wie Fn. 69) 475 Anm. 1 und Strohm (wie Fn. 136) 348 anschließen, richtig ist, der νομο, vinclis, damno coercent. Atque hoc m ulto magis effiat ipsa naturae ratio, quae est lex drvina et humana. lier von W a tso n (wie Fn. 81) 235 f. zitierte Beleg aus A m brosius, De off. 183: naturam trm/emwrbezicht sich nicht auf den Naturgesetzgedanken, sondern auf das äußere Auftreten beim Reden.

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vor. Die Überlegungen zur Weltschöpfung gemäß dem Bericht der Genesis und insbesondere die Begrifflichkeit der aus der Stoa übernommenen Naturgesetzvorstel­ lung finden sich bei A mbrosius wieder. Ich zähle die wichtigeren Stellen auf: Das Geschöpf Gottes hängt von dessen Majestät ab: neque enim creatum legem tribuit, sed accipit aut servat acceptam (1,22 = CSEL ΧΧΧΠ, e d C. Schenkl, p. 18,24 f.). Gott wird in 2,2 (= CSEL ΧΧΧΠ, p. 41,17 f.) als operator naturae bezeichnet. G ott ist bei der Weltschöpfung nicht an das normale Verhalten der Elemente gebunden: iure usurpat dare legem naturae qui originem dedit (2,4 = CSEL ΧΧΧΠ, p. 44,7). Mit der einmaligen Schöpfung ist die dauernde W iederholung der biologischen Form ver­ bunden: secuta est creatura praeceptum et usum fecit ex lege; primae enim constitutionis lex formam in posterum dereliquit (3,8 = CSEL ΧΧΧΠ, p. 64,16 f.)217218.In 3,68 geht es um das Bestaunen der kunstvollen Struktur einer Pinie, die sie „nach göttlicher Vorschrift“ eingepflanzt oder eingedrückt bekommen hat (CSEL ΧΧΧΠ, p. 107,5 f.). An der Formulierung ist auffallend, wie stark immer noch der ,präskriptive‘ Charak­ ter des Naturgesetzes betont wird. Um die fürsorgliche Verteilung der Fische geht es in 5,26 (= CSEL ΧΧΧΠ p. 160,16 ff.): lex quaedam naturae est tantum quaerere quantum sufficiat ad victum et alimentorum modo sortem censere patrim onii hoc genus piscium m illo sinu maris alitur et gignitur, illud in alio.219 Generell wird in 5,29 von den Fischen gesagt (ebd. p. 163,13): divinae legi piscis obsequitur. In 5,68 (ebd., p. 190,23 ff.) übernimmt er das Bienenbeispiel aus dem 8. Buch des Hexaemeron des Basileios und spricht von leges naturae non scriptae litteris, sed irtpressae moribus, ut leniores sint ad puniendum qui potestate maxima potiuntur (der JBienenkönig* macht von seinem Stachel keinen Gebrauch). Damit sind die wesentlichen Einsichten des Basileios in die biologischen Naturgesetze auch im lateinischen Westen festge­ halten. Zum Abschluß sollen einige Stellen bei A ugustinus (354-430) behandelt werden, der ebenfalls den stoischen Begriff des Naturgesetzes entschieden aufgreift und auf den christlichen G ott als Gesetzgeber bezieht219. Die lex aetema wird von ihm in Contra Faustum 22,27 (= CSEL 25,621) wie folgt bestimmt220: lex vero aetema est ratio divina vel voluntas dei ordinem naturalem conservari iubens, periurban vetans.

Stoisch (und zugleich dceronisch) sind an dieser Definition die Göttlichkeit des Gesetzes, der Bezug zur Naturordnung im allgemeinen, die Identifikation mit der 217 Zur Reproduktion der Arten vg). auch 3,33 ff. (ebd. p.80 ff.) und 6,9 (ebd. p.209,17). 218 Vgl. oben S. 92. 219 Vgl. O . Schilling, Naturrecht und Staat nach der Lehre der alten Kirche (Görres-Gesellschaft, Veröff. d. Sektion Rechts- u. Sozialw., H. 24), Paderborn 1914,173 ff.; P. A. Schubert S.V.D., Augustins Lex-aetema-Lehre nach Inhalt und Quellen (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen 24,2, hrsg. v. C. Baeumker), Münster 1924; A.-H. C hroust, The Philosophy of Law of Sl Augustine, The Philosophical Review 53,1944,195 ff. (den Aufsatz in: Notre Dame Lawyer 25,1950,285 ff. konnte ich nicht einsehen). Die Arbeiten von Schubert und C hroust sind insofern zu relativieren, als der Ausdruck lex aetema bei Augustinus nicht durchgehend verwendet wird. 220 Zu lex aetema vgf. auch C icero, De leg. Π 8 (StVFIÜ 316); C lemens A lexandrinus, StromaL VH 3,16,5; Seneca, Consol ad Mare. 18,1.; A mbrosius, De Abraham 2,11,78 (CSEL 32,1). Siehe auch A ugustinus, De vera religione X 19; vgj. ebd. L 99 (CCL 32).

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ratio221 und die doppelte Funktion des Befehlens und Verbietens222. Rein christlich ist die Bestimmung voluntas dei Weiteres ergibt sich aus dem anschließenden Verlauf der Darlegung. Die Menschen haben einen besonderen Bezug zu diesem Gesetz: Sie können im Unterschied zu den Tieren dagegen verstoßen (ebd. 22,28): bestiolis enim natura non peccat, quia nihilfacit contra aeternam legem, cui sic subdita est, ut eius particeps esse non possit Umgekehrt ver­ stoßen die Engel nicht dagegen, weil sie keiner Versuchung ausgesetzt sind (ebd.): rursus angelica sublimis natura non peccat, quia ita particeps est legis aeternae, ut solus eam delec­ tet deus, cuius voluntati sine ullo experimento temptationis obtemperat A ugustinus un­ tersucht dann nach Art des Vorgehens des O rigenes gegen C elsus die von dem manichäischen Bischof Faustus behaupteten Verstöße Abrahams gegen das ewige Gesetz (22,30): aetema ergo lege consulta, quae ordinem naturalem conservari iubet, perturbari uetat, uideamus quidpeccauerit, id est, quid contra istam legem fecerit pater Abraham in his, quae velut magna crimina Faustus obiecit Er definiert noch einmal das Gesetz: lex illa aeterna, id est voluntas dei creaturarum omnium conditoris conservando naturali ordini consulens, non ut satiandae lihidim serviatur, sed ut saluti generisprospiciatur. Gerade ent­ sprechend habe Abraham gehandelt. Etwas später geht es um die Rechtfertigung des Vergehens der Töchter Loths (22,43): consulitur enim aetema lex illa ordinem naturalem conservari iubens, perturbari vetans, et non ita de hocfacto iudicat, acsi Ule in filias nefaria libidine exarserit, ut earum incestato corporefruereturauteas haberet uxores, sed nec de illis feminis, ac si in suipatris comem execrabili amoreflagrassent Die weitere Argumentation verläuft im folgenden ähnlich223. Die Stellen zeigen, daß Gottes Wille, die lex aetema, auf die Einhaltung der Naturordnung gerichtet ist, die alle Lebewesen umfaßt. D er auf die Schöpfung im allgemeinen und nicht speziell auf den Menschen bezogene Aspekt dieses ewigen Gesetzes läßt sich aus anderen Schriften näher bestimmen. Insofern G ott der Schöpfer der ganzen Welt ist, kann auch ganz allge­ mein von den leges suae providentiae gesprochen werden, die die ganze belebte und unbelebte N atur gleichermaßen betreffen (De civ. dei 5,11 p. 211 Domban-Kalb). Dazu gehören der mit der Vernunft ausgestattete und insofern der Sünde, aber auch der Barmherzigkeit Gottes teilhaftig werdende Mensch, die Tiere und die Engel, Himmel und Erde und die Pflanzen. Wie schon in der Stoa haftet bei A ugustinus dem Begriff des Gesetzes durch die Verbindung mit dem Begriff der Vorsehung der Charakter der Weisung an. In De gen. ad lit VI 13 (CSEL 28, 188) erörtert A ugustinus Gottes Wirken in der N atur genauer: ita ertön certas temporum leges generibus qualitatibusque rerum in manifestum ex abdito producendis adtribuit, ut eius voluntas sä super omnia, potentia quippe sua numeros ovaturae dedä, non tpsam potentiam eiusdem numens adhgaviL

G ott hat allen zu schaffenden Gattungen und Qualitäten der Dinge bestimmte »Entwicklungsgesetze* (certas temporum leges) verliehen. In seiner Allmacht hat er der 221 Vgl. auch De divers. quaesL 79,1 (CCL 44 A p.226,14): est enim lex universitatis divina sapientia. 222 Vgl. StVF Π1314 (M arcian aus Chrysipp nepi νόμου), 315, 316, 317, 319 (alle aus C icero, De legibus), 323 (P hilo, De Iosepbo), 325 (C icero, De re publica Π1 33 aus L a c ta n tiu s, Inst, div. VI 8). 223 VgJ. CSEL 25, 22,61; 22,73; 22,78; 26,3 (summam naturae legem); 29,1 (extra legem naturae);

Wolfgang Kullmann Schöpfung »Regeln1(numeros) gegeben» freilich ohne seine Allmacht diesen Regeln zu unterwerfen. Es ist derselbe Gedanke» der bei Pseudo-IusTiNUS auftauchte und bei O rigenes in seinem Kommentar zum Römerbrief präfiguriert war. Dies bedeutet, daß G ott bei der Simultanschöpfung der Welt224 bestimmte Keimkräfte (rationes causales) in die Erde gelegt hat, aus denen sich allmählich Pflanzen und Tiere entwickeln konnten, was jedoch nicht ausschloß, daß er sie auch plötzlich durch W under entstehen lassen konnte wie vielleicht Adam (vgl. D e gen, ad lit VI 14.15 [CSEL 28,189 f.])225. Die causales rationes, die die Erde von G ott empfangen hat, entsprechen den λόγοι σπερματικοί der Stoiker und Neuplatoniker226. Auch bei den griechischen Kirchenvätern hat dieser Begriff seit Iustinus227 eine lange Tradition. Anders als bei den Stoikern und eher wie bei den Neuplatonikem sind sie nicht materiell gedacht, sondern als eine A rt Urpotenzen zu verstehen. Es ist von A ugu­ stins Interesse her verständlich, daß seine Beispiele für die von G on zugeteilten leges und numen in der Regel die organische N atur betreffen. Auf jeden Fall wird von ihm die ganze N atur als Schöpfung Gottes strikt teleologisch aufgefaßt. W ir kehren jetzt zu dem sittlichen Aspekt des ewigen Gesetzes für die Naturordnung zurück. Das Naturgesetz ist für die Ausgestaltung der menschlichen Gesetze die Norm . A ugustinus unterscheidet zwischen der lex aeterna, die mit der ratio divina identisch ist, und der lex temporalis, z. B. in De libero arbitrio 1,48 (CCL 29,220): illa lex quae summa ratio nominatur, cui semper obtemperandum est et per quam m ali miseram, boni beatam vitam merentur, per quam denique illa, quam temporalem vocandam dixim us, recte fertur recteque mutatur, potestne cuipiam intellegenü non incommutabilis aetemaque videri? . . . (50) sonui edam te videre arbitror in illa temporali nihil esse iustum atque legitimum quod non ex hac aeterna sibi homines derivaverint

Die lex temporalis meint hier das irdische Gesetz, das nur soweit zu Recht besteht, als es dem ewigen Gesetz entspricht. Letzteres wird seiner Funktion entsprechend definiert (ebd. 51): ea est, qua iustum est, ut omnia sint ordinatissima. Es ist demnach allumfassend, nicht nur auf den Menschen bezogen. Aber der Mensch ist, wie A ugustinus weiter ausführt, im Unterschied zu den Tieren durch die ratio mit diesem ewigen Gesetz verbunden (ebd. 65): ratio ista ergo vel mens vel spiritus cum

224 Zu diesem Gedanken und seiner Vorgeschichte vgl. H ans M eyer, Geschichte der Lehre von den Keimkräften von der Stoa bis zum Ausgang der Patristik nach den Quellen dargestellt, Bonn 1914,133 ff. Meyers These, daß A ugustinus die Lehre der direkten Lektüre des O rigenes verdankt, ist von B. A ltaner widerlegt worden: Augustinus und Origenes, Kleine patristische Schriften (Texte und Studien zur Geschichte der altchristlichen Literatur 83), Berlin 1967,223 ff. bes. 244 ff. (ursprünglich: Historisches Jahrbuch der Gorres-Gesellschaft 70, 1951, 15 ff., bes. 33 ff.); ders., Augustinus und die griechische Patristik. Eine Zusammenfassung und Nachlese zu den quellcnkritischen Untersuchungen, ebd., 316 ff., hier 324 (ursprünglich: Revue Benedictine 62, 1952,201 ff., hier: 209). Nach A ltaner kannte A ugustinus diese Lehre durch Basilius und H ilarius von Poitiers. 225 Vgl. H . Meyer (wie vorige Fn.) 166 ff.; A. M itterer, Anthropomorphe Biologien, Philos. Jb. 61, 1951, 277 ff., hier: 288 ff. 226 Vgl. Plotin ΠΙ 2,2; IV 3,10; IV 4,39; V 9,6 (oi έν τοΐς σπέρμασι δυνάμεις), V 9,9 und Η . Meyer (wie Fn. 224) 63 ff. 227 Bei diesem ist der Begriff jedoch auf den Menschen eingeengt. Vgl. H. Meyer (wie Fn. 224) 80 ff.

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inrationales anim i motus regit, id scilicet dominatur in homine, ad dominatio lege debetur ea, quam aeternam esse competimus. Wie man sieht, drückt sich A ugustinus hier gewissermaßen orthodox stoisch aus, wenn er die privilegierte Stellung des Menschen in bezug auf das ewige Gesetz, das dieser im Unterschied zu den Tieren aufgrund seiner ratio besitzt, hervorhebt. Daneben spricht A ugustinus auch ausdrücklich vom „Naturgesetz“ (lex naturalis), wenn er das Sittengesetz meint. In den Enarrationes in Psalmum CXVIH, sermo 25,4 f. (CCL 40, p. 1749 f.) wird unter Bezugnahme auf den Römerbrief des Paulus (2,14) ausgeführt, daß es schon vor Moses existierte und bei allen Völkern vorhanden war. Dies ergebe sich aus der vorhandenen praevaricatio, die das Bestehen eines Gesetzes voraussetze (vgl. ebd., sermo 25,1). So gab es auch im Paradiese für Adam ein Gesetz. Deshalb interpretiert A ugustinus, ganz in der seit O rigenes bestehen­ den Tradition stehend und wie dieser den Paulusbrief A d Rom. 3*20.21 heranziehend, folgendermaßen: Tamquam diceret: Quoniam lex dve in paradiso data, ave naturaliter insita, ave in litteris promulgata, praevaricatores fecit omnes peccatores terrae.

Gottes Gesetz ist als Naturgesetz bei der Schaffung des Menschen in diesen hineinge­ legt, es wurde Adam im Paradies verkündet und ist mit dem von Moses mitgeteilten identisch. Die lex naturalis ist - ähnlich wie nach O rigenes* Kommentar zum Römer­ brief228 - auch nach De sermone domini in monte Π 9,32 (CCL 35, p. 122) in jede auch noch so verkehrte Seele, in alle Herzen hineingeschrieben, wobei die berühmte Paulusstelle wieder zitiert ist (ad Rom. 2,14). Eine besondere Formulierung findet sich in De diversis quaest. 53,2 (CCL 44 A, p. 88): quasi transcripta est naturalis lex in animam rationalem, ut in ipsa vitae huius convcrsiitionc monlfuujuc terrenis homines talium distributionum imagines servenL

H ier ist die Vorstellung von der göttlichen Einrichtung der Welt in der rationalen Seele des Menschen als lex naturalis gefaßt, wobei man an neuplatonischen Einfluß auf die Formulierung denken kann. Die neuplatonische Dreiteilung in göttliches Gesetz, Naturgesetz und mensch­ liches Gesetz scheint sonst keine Spuren im Werk A ugustins hinterlassen zu haben; eine Unterscheidung zwischen göttlichem und natürlichem Gesetz wird an den zitierten Stellen nicht vorgenommen229.

228 Dieser konnte in der lateinischen Übersetzung des R ufinus von A ugustinus gelesen werden (M igne, PG 14; C aroline P. H ammond Bammel, D er Römerbriefkommentar des Origenes, Kritische Ausgabe der Übersetzung Rufins T ill, in: Vetus Latina, Aus der Geschichte der lateini­ schen Bibel 16, Freiburg 1990). Die Beziehungen A ugustinus’ zum Römerbrietkommentar des O rigenes werden von B. A ltaner, Augustinus und Origenes, Kleine patristische Schrif­ ten (Texte und Untersuchungen 83, 1967, Berlin 1967), 224 ff. (ursprünglich: Histor. Jb. d. Görresgcsellschaft 70, 1951, 15 ff.) sowie ders., Augustinus und die griechische Patristik, ebd. 324 (ursprünglich: Revue Benedictine 62, 1952, 209) noch nicht berücksichtigt. 229 Die lex aetema ist sowohl in De libero arbitrio als auch in Contra Faustum mit dem Naturgesetz identisch.

Wolfgang Kulimann Von Naturgesetzen ist, wie bei den griechischen Kirchenvätern, bei A ugustinus auch in einem allgemeinen, deskriptiven Sinne, der sich an den volkstümlichen Sprachgebrauch anlehnt, vielfach die Rede. Die Gesetze der N atur treiben den Menschen zu sozialen Kontakten (De dv. dei 19,12 Π p. 375,5 f. D ombart -Kalb). In De doctrina Christiana I c. 26 (PL 34,29; CSEL 80,22, CCL 32, p. 21) wird auch der Selbsterhaltungstrieb als umfassendes Naturgesetz betrachtet: Ergo, quoniam praecepto non opus est, ut se quisque et corpus suum diligat, id est, quoniam id quod sumus et id quod infra nos, ad nos tamen pertinet, inconcussa naturae lege diligmus, quae in bestiis etiam promulgata est

In De bono coniugali c. 17 (CSEL 41 p. 213) äußert er sich über die Mißachtung des Gebots der Monogamie in alter Zeit im Volk Israel: occulta enim lege naturae amant singularitatem, quae principantur; subtecta vero non solum singula singulis, sed, ή rado naturalis vel socialis adm ittit, edam plura uni non sine decore subduntur. Auch hier ist nur an biologische Verhältnisse gedacht. Eine philosophische oder theologische Konzeption des N aturgesetzbegriffes liegt nicht vor. In De civitate dei 13,15 (p. 574,13 Domban-Kalb) finden wir eine sehr eigenwillige Auseinandersetzung mit dem volkstümlichen Naturgesetzbegriff. A ugustinus meint, für die wahrhaft am katholischen Glauben festhaltenden Christen stünde es fest, daß der leibliche Tod dem Menschen nicht durch ein Naturgesetz (lege naturae) auferlegt sei (nicht durch ein solches habe G ott für einen Menschen den Tod bereitet), sondern aufgrund seiner Sündenschuld. Als Zeugnis dafür, daß es sich um eine Bestrafung handele, wird auf Gen. 3,19 verwiesen. A ugustinus knüpft an die volkstümliche Ausdrucksweise an, nach der ,nach dem Naturgesetz sterben* soviel bedeutet wie ,eines natürlichen Todes sterben*. Er geht dabei davon aus, daß auch dann, wenn es ein solches Gesetz gäbe, G on der Urheber wäre. Tatsächlich erleidet der Mensch den Tod aber wegen der Erbsünde. Ähnlich wie bei J ohannes C hrysostomos wird bei A ugustinus das Naturge­ setz vielfach zur göttlichen Gnade in Gegensatz gesetzt, was hier nicht näher dargelegt werden kann. Wie die griechischen Kirchenväter übernimmt A ugustinus die stoische Vorstel­ lung von einer lex aeterna divina für den ordo naturalis, die nunm ehr mit dem Willen Gottes gleichgesetzt wird. Das Naturgesetz ist mit ihm identisch oder ist seine Manifestation und besitzt wie in der Stoa oder bei den griechischen Kirchenvätern sowohl den kosmischen, auf die Erschaffung und Lenkung der ganzen Welt gerichte­ ten als auch den sittlichen, speziell auf die Menschen bezogenen Aspekt. Die Men­ schen nehmen sowohl nach stoischer als auch nach christlicher Auffassung aufgrund ihrer Vernunft eine Sonderstellung in der Welt ein. Ihre Sterblichkeit ist keine naturgesetzliche Gegebenheit, sondern Folge der Erbsünde.

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io. Z usammenfassung Die Metapher von göttlichen Regeln und Gesetzen, die nach Analogie menschlicher Gesetze das ganze kosmische Geschehen einschließlich der menschlichen Angele­ genheiten bestimmen, stammt aus der archaischen Zeit Griechenlands. W ir finden sie schon bei H esiod , dann besonders deutlich bei H erakut . ln der Zeit der Sophisdk wird dieser Gedanke zugunsten einer strikten Trennung von N atur und Kultur (= Nom os) zurückgedrängt. In der klassischen Philosophie von P laton und A ri ­ stoteles und in der aristotelischen Naturwissenschaft wird die Welt als ewig und ungeworden betrachtet und die Vorstellung von Gesetzen, nach denen sie lebt, als zu metaphorisch aufgegeben. A ristoteles bedient sich, wenn er ausnahmslose Ge­ setzmäßigkeiten in der N atur ausdrücken will, des Begriffs der absoluten Notwendig­ keit. Er formuliert Regeln, die unseren Naturgesetzen sehr ähneln, ohne daß sie so benannt werden. Im Sprachgebrauch entwickelt sich daneben ein unscharfer Begriff des Naturge­ setzes, der an die Stelle der älteren Rede von einem ungeschriebenen Gesetz tritt, gelegentlich mit biologischer Konnotadon. W ir finden ihn z. B. bei D emosthenes, später in einer etwas abgegriffenen Form bei D ionysios von H alikarnass und in der Folgezeit. In der Stoa wird der Begriff νόμος φυσικός (lex naturalis) zentral. Er wird unter Rückgriff auf H erakut unter zwei verschiedenen Aspekten gesehen. Auf der einen Seite steht die Vorstellung eines göttlichen, von der Vernunft bestimmten Naturge­ setzes, dem zu folgen alle Menschen aller Völker aufgerufen sind, auf der anderen Seite die Vorstellung von der Naturgesetzlichkeit, d. h. der Herrschaft des göttlichen Logos, im gesamten Kosmos. Ethik und Naturphilosophie werden wie in der vorklassischen griechischen Philosophie unter einem einheitlichen Begriff subsu­ miert230. In der Älteren Stoa wird allerdings die Naturphilosophie weitgehend unter Absehung von der Empirie betrieben. Eine historisch folgenreiche Rezeption des Begriffs findet sich bei P hilon , der die Thora, das Gesetzbuch Moses’, mit den Mitteln der stoischen Philosophie und ihres Naturgesetzbegriffs interpretiert. Auch bei ihm umfaßt der Begriff sowohl den Appell an die Menschen als auch das Ordnungsprinzip des Kosmos. L ukrez, der Epikureer, greift den volkstümlichen Begriff, den die Formulierung foedera naturae darstellt, auf und wendet ihn strikt auf Sachverhalte wie die Vererbung oder die Anziehungskraft des Magnetsteins an. Dadurch kommt diese Verwendungsweise, die bei E pikur kein Äquivalent besitzt, dem modernen Begriff des naturwissenschaftlichen Naturgesetzes sehr nahe; sie besitzt aber anders als dieser noch eine stärkere Bildhaftigkeit und hat insofern eine pathetisch-poetische Konnotadon. Zweifellos hat diese lukrezische Verwendung eine eigene W irkungs­ geschichte.

230 Zu der Problematik des Zusammenhangs von Naturphilosophie und Ethik in der älteren Stoa vgl. das Buch von M. Forschner (wie En. 75).

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Bei Seneca begegnen wir dem Versuch einer strengeren Synthese der beiden Seiten des stoischen Naturgesetzbegriffs mit Hilfe von naturwissenschaftlichen Beob­ achtungen, indem der Naturgesetzbegriff von ihm nicht nur auf alle mikrokosmi­ schen und makrokosmischen Naturerscheinungen im einzelnen angewandt wind, sondern auch benutzt wird, um das menschliche Schicksal als Teil des komischen Schicksals zu schildern. Mikrokosmos und Makrokosmos erscheinen nunm ehr aus einer vitalistischen Sicht heraus in einer ganz parallelen Weise von der göttlichen ratio durchdrungen. Die privilegierte Gottesnähe des Menschen tritt in den Hintergrund. Diese neue Synthese wird vielleicht Poseidonios verdankt. D er Mensch kann nach diesem Ansatz in der Erkenntnis der die N atur und die Menschen umfassenden Gesetze zu sich selbst finden und in neuer Weise das stoische Postulat erfüllen, gemäß der N atur zu leben. Unabhängig von dieser Entwicklung vollzieht sich in Alexandria, in Caesarea in Palästina und in Kleinasien im 3. und 4. Jh. n. Chr. eine folgenreiche Verbindung von stoischem und christlichem Gedankengut, die insbesondere in einer Neufassung des Begriffs vom Naturgesetz ihren Ausdruck findet. Die ethische Seite des stoischen Begriffs ließ sich an Römerbrief 2,14-15 anknüpfen, wo Paulus einen Ausgleich zwischen dem Gesetz Moses* und den ethischen Vorstellungen der heidnischen Völker ins Auge gefaßt hatte. Das naturphilosophische Moment dieser stoischen Vorstellung wurde bei der Interpretation der Genesis ausschlaggebend. Bei O rigenes beginnt die Adaptation dieses stoischen Gedanken an die christliche Lehre vor allem im Hinblick auf das Sittengesetz. Sie wird von E usebios unter starkem Rückgriff auf P hilon von A lexandria auch im Hinblick auf die kosmischen Gesetzmäßigkeiten fortgesetzt. Die entscheidende konzeptionelle Leistung für die volle Rezeption und Assimilierung der stoischen Vorstellung an die christliche Lehre wird dem großen Basileios von C aesarea in Kleinasien verdankt. G ott ist danach nicht nur der persönliche Gesetzgeber des Sittengesetzes, sondern auch der Schöpfer der Welt, der den von ihm gegebenen Gesetzen den Charakter der Notwendigkeit und dauerhaf­ ten Gültigkeit verlieh. Die ständige Fortpflanzung der von G ott geschaffenen biologi­ schen Arten gehört zu den von ihm aufgestellten Regeln. Zwar war die antike Naturwissenschaft seit den Zeiten des Aristoteles im 4. Jahrhundert n. Chr. längst nicht mehr lebendig. Basileios hatte aber die Gelegenheit, die aristotelische Biologie und Naturwissenschaft wenigstens in der rudimentären Form eines Abrisses kennenzulemen, und es gelingt ihm, das Interesse an derartigen Fragen neu zu beleben, wie die lateinische Bearbeitung seines Hexahemeron durch A mbrosius zeigt. Die Konsti­ tuierung des neuen Naturgesetzbegriffs wurde durch die Tatsache begünstigt, daß seit der klassischen Zeit der Griechen ein volkstümlicher Begriff des Naturgesetzes fortlebte, das man in den biologischen Abläufen des Lebens und des menschlichen und tierischen Sozialverhaltens verwirklicht sah. Die christlich-stoischen Gedanken zum Naturgesetz werden von den lateinischen Kirchenvätern, insbesondere von A ugustinus aufgegriffen und noch schärfer profiliert, zum Teil unter direktem Rückgriff auf C icero : Die Schöpfung der N atur und die Gesetze der menschlichen Moral gehen auf die lex aeterna divina zurück, die bei A ugustinus mit Gottes Willen gleichgesetzt wird. Schon vor dem Gesetz Moses* gab es eine lex naturalis. G ott gab gleichzeitig seiner Schöpfung feste Regeln, ohne ihnen selbst unterworfen zu sein.

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Mit dieser Konzeption waren alle Voraussetzungen dafür geschaffen, daß sich auch in Mittelalter und Neuzeit der Begriff des Naturgesetzes etablieren konnte. Bis zum Ende der Antike bleibt die Grundauffassung der Stoa gewahrt, daß die göttlich sanktionierten Naturgesetze einheitlich das Universum und den Menschen umschlie­ ßen, wobei der Mensch aufgrund seiner Vernunft zu diesem Gesetz eine besondere Beziehung hat. Wie in Mittelalter und Neuzeit dieser Begriff rezipiert wurde, welche Entwicklung zu einem Auseinanderfallen seiner beiden Aspekte führte, bedarf weite­ rer Forschung. Bisher fehlt es an Vorarbeiten und Hilfsmitteln, die die Verfolgung dieser Fragestellung erleichtern könnten. Im Mittelalter hat jedenfalls der Begriff lex naturalis als Bezeichnung für ethische Norm en im Sinne des Naturrechts eine fundamentale Bedeutung, z. B. bei H u g o de San V ic to r e 231 und später bei W illiam von O ccam 232. Auch der naturphiloso­ phische Aspekt wurde nicht vernachlässigt233. R o g e r B acon ( t ca. 1292) formuliert im opus tertium, daß sich zwar alle Bewegungen der Kreatur irgendwie auf G ott zurückführen lassen, aber trotzdem nach natürlichen Regeln ablaufen: mirabiles actiones naturae, quae tota die fiu n t in nobis, et in rebus coram oculis nostris non percipimus; sed aestimamus eas fieri vel per specialem operationem divinam , vel per angelos, velper daemones, vel a casu etfortuna. Et non est ita, nisi secundum quod omnis operatio creaturae est quodammodo a Deo. Sed hoc non excludit, quin operationes fiant secundum rationes naturales; quia natura est instrumentum divinae operationis.234 Dies entspricht sowohl den Auffassungen der Kirchenväter als auch der modernen Vor­ stellung vom Naturgesetz; es fehlt aber, vielleicht zufällig, der Ausdruck lex naturae, der sich auf jeden fbll seit dem 16. Jahrhundert zur Bezeichnung des naturwissen­ schaftlich verstandenen Naturgesetzes durchsetzte. Dabei wurde besonders der stoische Determinismus betont. Das Pathos, das der Begriff bis auf den heutigen Tag besitzt, wird jener Verbindung von Naturphilosophie und Ethik verdankt, die sich im frühen Griechentum entwickelte, von der stoischen Philosophie fortgeführt und von den griechischen Kirchenvätern erstmals um die Vorstellung des persönlichen Gottes als Naturgesetzgebers erweitert wurde. Der neue Begriff war flexibel genug, um auch auf die großen Einsichten der Naturwissenschaft des A r is to te le s und seiner

231 H ugo de S. V ictore in Paris behandelte im 12. Jahrhundert ausführlich das ungeschriebene, schon vor Moses bestehende (moralische) Naturgesetz (in den Schriften De sacramentis christianae fid ei lib. I pars \\: De naturali lege, PL 176 col. 343-348 und De sacramentis legis naturalis et scriptae dialogus* PL 176 col. 17-42). Er unterschied drei Wehperioden und drei Menschengat­ tungen, denen die Naturgesetze, die geschriebenen Gesetze und die Gesetze der Gnade zu­ zuordnen sind: vor Moses, nach Moses, nach Christus, bzw, den Heiden, Juden, Christen {De sacramentis 1,8,11 PL 176,312). Vgl. dazu C hristine Katkowitsch, Descriptio Picturae. Die literarische Funktion der Beschreibung von Kunstwerken in der lateinischen Großdichtung des 12. Jahrhunderts, Wiener Studien, Beiheft 13, Arbeiten zur mittel- und neulateinischen Philolo­ gie, hrsg. v. A. Primmer und K. Smolak, Wien 1991, 81 ff., die vor diesem Hintergrund Baudri von Bourgueil und die Teppiche von Bayeux interpa-tiert. 232 Verbeke (wie Fn. 2) Sp. 527 ff., bes. 530. 233 Vgl. dazu z. B. A. M itterer, Die Zeugung der Organismen, insbesondere des Menschen nach dem Weltbild des hl. T homas von A quin und dem der Gegenwart, Wien 1947. 234 Fr. R ogeri Baconis I. O pus tertium, U. Opus minus, Ili. Compendium philosophiae, ed. by J. S. Brewer, London 1859, 99 f., N D Wiesbaden 1965.

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Schüler angewandt zu werden235. Wahrend bei A ristoteles und bei L ukrez eine teleologische Erklärung der N atur in striktem Sinne fehlt, ist eine solche in der Stoa und bei A ugustinus stark ausgeprägt Sie hängt unmittelbar mit dem Naturgesetz* Gedanken zusammen, der eine Intentionalität ausdrückt In der Stoa ist die Teleologie nur ein wenig dadurch gemildert, daß von den Intentionen eines personalen Gesetzge­ bers in ihrer Lehre nur auf der metaphorischen Ebene gesprochen werden kann. Die Diskussion über die Teleologie setzt sich mindestens in der Biologie bis auf den heutigen Tag fort und ist ein Result der Geschichte des Begriffe des Naturgesetzes236. Eine Nachwirkung der besonders in Senecas Schrift Quaestiones naturales expli­ zierten stoischen Gedanken, die zu einem Kosmos und Mensch als Einheit begreifen­ den Naturgesetzbegriff fuhren, hat man bei Kant vermutet. Kant sagt ja am »Be­ schluß* der Kritik der praktischen Vernunft von 1788237: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der besamte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

Damit kann man zwei Stellen bei Seneca vergleichen238. In ep. 64,6, wo virtus und mundus als Gegenstände der Ehrfurcht und Bewunderung eingeführt werden, heißt es angesichts der kaum erreichbar scheinenden Vorbildhaftigkeit des Q . Sextius: „Ebendies wird dir mit der Tugend passieren, daß du sie nämlich bewunderst und trotzdem hoffst, (seil, sie zu erreichen). Mir wenigstens geht es immer so, daß schon das Nachdenken über die Weisheit viel Zeit nimmt. Ich schaue nicht anders staunend auf sie als bisweilen auf das Universum selbst, das ich oft gewissermaßen als ein neuer Zuschauer betrachte. Deshalb verehre ich die Ergebnisse der Weisheit und deren Vertreter." hoc idem virtus tibi ipsa praestabit, ut illam admrrvns et tamen speres, m ihi certe m ultum auferre temporis solet contemplatio ipsa sapientiae; non aliter illam intueor obstupefactus quam ipsum interim mundum, quem saepe tamquam spectator novus video, veneror itaque inventa sapientiae inventoresque.

235 Die senecanisch-poseidonische Vorstellung von Naturgesetzen, in der die Gesetzlichkeit von Vor­ gängen der unbelebten, aber gleichwohl in vitalistischem Sinne für lebendig gehaltenen Natur unmittelbar miteingeschlossen ist, hat offenbar ebenfalls auf die Neuzeit Einfluß gehabt. Diese Verwendung beruht auf der Prämisse, daß die ganze Welt kreatürlich und der Herrschaft der Gottheit unterworfen ist. Einige Hinweise zum Nachwirken von Senecas Quaestiones naturales im Mittelalter finden sich bei Ö . und E. Schönberger (wie Fn. 129) 38 f., in Keplers Werk bei K. R einhardt, RE ΧΧΠ s. v. Poseidonios von A pameia, 1954, Sp. 821. Vgl. ferner R. Eis­ ler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe s. v. Gesetz; H . Schimank (wie Fn. 2) 179 ff. 236 Vgl. W. K ullmann, Wesen und Bedeutung der „Zweckursache“ bei A ristoteles, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 5, 1982, 25 ff. In jüngster Zeit hat vor allem R. Spaemann die teleologische Naturbetrachtung, teilweise unter - unseres Erachtens unberechtigter - Berufung auf A ristoteles, zu rehabilitieren versucht: R. Spaemann - R. Löw, Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München - Zürich 1981. Dagegen: W. Kullmann, Zum Gedanken der Teleologie in der Naturphilosophie des Aristo­ teles und seiner Beurteilung in der Neuzeit, in: J.-E. Pleines (Hrsg.), Zum teleologischen Argument in der Philosophie. Aristoteles-Kant-Hegcl, Würzburg [Königshausen &. Neu­ mann] 1991, 150 ff. 237 Philosophische Bibliothek Felix Meiner, Leipzig 91929, 186 (Originalausgabe: 288). 238 Dies tut E. Bickel, Kant und Seneca, der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir, RhM 102,1959,289 ff. Zu verwandten Gedanken bei M ark A urel und Epiktet vgl. P. H adot (wie Fn. 145) 197 f.

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Es scheint an philosophische Einsichten zur Tugend gedacht zu sein. Die zweite Stelle steht in der Trostschrift an die Mutter, A d Helv. 8,4: .Dieses Universum, das von allem, was die Natur hervorgebracht hat, das größte und glänzendste ist, und die Seele, diese Betrachterin und Bewunderin des Universums, der großartigste Teil von ihm, sie sind uns zugehörig, sind dauerhaft und werden solange mit uns bleiben, wie wir selbst bleiben werden." mundus hic, quo nihil neque maius neque ornatius rerum natura genuit, (et) animus contemplator admiratorque m undi, pars eius magnificentissima, propria nobis et perpetua et tam diu nobiscum mansura sunt quam diu ipsi manebimus.

An dieser Stelle wird auch auf die Regelmäßigkeit der Gestimsbewegungen Bezug genommen, während an der ersten Stelle allein der ästhetische Eindruck formuliert ist. Jedoch fehlt an beiden Stellen gerade der Gesetzesbegriff, der in den Quaestiones naturales und bei K a n t zu finden ist. So bezweifelt auch G. P a tzig eine Anlehnung an Seneca239 und betont überzeugend, daß sich aus dem kan tischen Kontext ergibt, daß es diesem um den Gegensatz zwischen körperlicher und intellegibler Welt ging, „dem Reich der N atur und dem Reich der Freiheit, das nicht vom Naturgesetz, sondern von der Selbstgesetzgebung der Vernunft regiert wird“. Zwar hat er nur die Stelle aus A d H elv., nicht die aus ep. 64 vor Augen, die K a n t etwas näher steht, aber es ist offenkundig, daß K a n t, was den Himmel betrifft, nicht an die Schönheit und gesetzmäßige O rdnung des Kosmos dachte, sondern an die Unendlichkeit der den Menschen umgebenden Welt240. In einem allgemeinen Sinne freilich bleibt K ant im H orizont des stoisch-christ­ lichen Naturgesetzbegriffs, wenn er vom „moralischen Gesetz in mir“ und vom kategorischen Imperativ spricht241.

239 G. Patzig, Ethik ohne Metaphysik, [nur] 1. Auflage, Göttingen 1971, 127 ff., bcs. 131 ff. 240 Wie schwierig es ist, direkte Quellenbezüge aufzudecken, sieht man auch daran, daß die Kategorien der Bewunderung und Ehrfurcht, soweit sie den bestirnten Himmel betreffen, auch im Gefolge von Edmund Burke auf Kant gewirkt haben (vgl. dazu T h . Kullmann, Ver­ menschlichte Natur, Tübingen 1995,84 ff.); und Burke schloß sich in seiner Schrift A philosophi­ cal enquiry into the origin o f our ideas o f the sublime and beautiful 1757 (neu hrsg. v. J. T. Boulton , London 1958), an den Autor Περί ύψους an. - Zum Verhältnis Kants zur Stoa im allgemeinen vgl. Pohlenz (wie Fn. 69) I 472, Π 230. 241 Für Unterstützung bei der Zitatenkontrollc und Korrektur danke ich herzlich Herrn Dr. Markus Asper und Herrn Ralf Lengen.

D iskussion Leitung H err Bleicken Zum Referat von H errn G ehrke : Eröffnet wurde die Diskussion durch H errn W ieacker. Er wies darauf hin, daß die von H errn G ehrke geschilderte geschlossene Ideologie eine besonders radikale Fassung im Spektrum dessen darstelle, was in Griechenland unter dem Gesichts­ punkt der Demokratie erörtert worden sei Sie gleiche der Ideologie der Jakobiner, deren Streben nach Gerechtigkeit den Schutz des einfachen Mannes vor dem Tyran­ nen zum Ziel erklärt habe. Die Demokratiediskussion der griechischen Denker sei zwar durch Polarisierungen gekennzeichnet gewesen, aber letztlich stets an der Existenz der Polis ausgerichtet gewesen. Nach deren Zusammenbruch habe die Stoa eine kosmopolitische, also eine den Poleis übergeordnete Friedensordnung ent­ wickelt In seiner A ntw ort wies H err G e h rk e darauf hin, daß es ihm jedenfalls im zweiten Teil seines Vortrages nicht dämm gegangen sei, das Bild der antiken Staatsphilosophie von der Polis darzustellen, sondern das Selbstverständnis der Politen und deren Nomosbegriff aufzuzeigen. Als Beispiel komme ausschließlich Athen in Betracht N ur hier gäben nämlich die Quellen, so vornehmlich die Gerichtsreden - wie beispielsweise die Timokrateia des Demosthenes - entsprechende Einblicke. Danach sei das Volk alleiniger Gerichtsherr gewesen. Des weiteren werde man dem Rechts­ und Nomosverständnis der Zeitgenossen, folge man der negativen Einschätzung der Staatstheoretiker, nicht ganz gerecht. Im übrigen gab H err G e h rk e zu bedenken, daß Solon nicht der Begründer der radikalen Demokratie in Athen gewesen sei. Bei ihm ließen sich jedoch bereits demokratische Strukturen nachweisen, wie sie dann im 4. Jh. in Athen Anerkennung gefunden hätten. Dazu gehöre die Vorstellung, wonach die O rdnung der Polis entscheidend durch das Engagement der Bürger bestimmt werde und ferner das Prinzip, daß sich ein Gemeinwesen selbst seine Regeln gibt, nach denen es zu leben wünscht. Die Bezeichnung dieser verfassungsrechtlichen Grundauffassungen als Demokratie oder Oligarchie sei in diesem Zusammenhang nur sekundär. Gegen die Annahme, die Demokratie sei eine Nomokratie gewesen, wandte H err R uschenbusch ein, daß in Athen das Gericht und nicht das Gesetz im Vordergrund gestanden habe. Demgemäß seien die Richter in ihrem Eid nicht auf die Gesetze, sondern auf die Entscheidungen des Gerichts verpflichtet worden. H err G ehrke hielt dem zunächst entgegen, daß in Athen zwischen einer Ge­ richtsentscheidung bzw. einem Psephisma und einem Nom os keine Rang- oder Wertunterschiede gemacht worden seien. Im übrigen müsse man sich davor hüten, das auf die Praxis gerichtete athenische Rechtsverhältnis aus der Sicht des theoretisch und am römischen Recht geschulten Juristen zu beurteilen. Ausgangspunkt unserer

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Bewertung müßten nach wie vor die antiken Texte und hier vornehmlich die Gerichtsreden sein. H err E ffe vertrat die Auffassung, daß ganz allgemein von den antiken Staatstheoredkem ein Verhalten beklagt werde, daß sich nicht am Selbst- und Gesetzesver­ ständnis der Demokrade oriendere. In diesem Zusammenhang müsse man sich auch fragen, warum bei Solon die Gesetze mit göttlichen Sanktionen versehen würden, obwohl doch nur das Gemeinwesen als autonomer Gesetzgeber in Betracht komme. Denn es sei schließlich das Gemeinwesen, welches sich selbst aus eigner Kraft die Vorschriften für das rechtliche Zusammenleben gäbe. H err G ehrke entgegnete, daß die menschliche Gemeinschaft in der Tat als autonom er Gesetzgeber zu verstehen sei, allerdings in dem Sinne, daß diese mit ihren Regelungen letztlich nur dem göttlichen Willen zum Durchbruch verhelfe und ihn garantiere. Das werde in der athenischen Demokratie an der minutiösen Einhaltung bestimmter Regeln im Gesetzgebungsverfahren (vgl. die Beschreibung des kompli­ zierten Losverfahrens bei Aristoteles, Αθηναίων πολιτεία) sichtbar. H err Bleicken teilte die Grundthese G ehrkes. Er betonte, daß besonders die Timokrateia des Demosthenes ein Paradestück für Gesetzesobservanz sei. Dem o­ sthenes trete nämlich mit Nachdruck für die Einhaltung der bestehenden Gesetze ein. H err K udlien fragte nach der formalen Ungültigkeitserklärung eines traditionel­ len Gesetzes. Dabei gehe es auch um den Gebrauch des Wortes άποψήφισις (vgl. C. B. Welles, Royal Correspondence, 1934 Nr. 2 u. 3). Im allgemeinen, so erklärte H err G ehrke, habe der Grundsatz gegolten, daß bestehende Gesetze nicht verän­ dert werden dürften (vgl. sog. Siedlungsgesetz aus Lokris [Meiggs/Lewis Nr. 13]). Dennoch sei den Griechen die Vorstellung nicht fremd gewesen, daß ein neues an die Stelle eines alten Gesetzes treten könne. Das neue Gesetz sei aber nur dann in Kraft getreten, wenn zuvor auf der Agora öffentlich verkündet worden war, welches ältere Gesetz durch das neue Gesetz seine Kraft verliere. Die Vorstellung, daß bestehende Gesetze auch verändert werden dürften, sei als Gefahr empfunden worden. H err R uschenbusch ergänzte, daß in der Gesetzgebung des Drakon die Ände­ rung des Gesetzes mit Atimie bedroht gewesen sei. Insoweit werde, so meinte H err Bleicken, auch nie von Abschaffung, sondern stets nur von Korrektur der Gesetze gesprochen. H err Behrends fragte nach dem Selbstverständnis der Polis: Sah sie sich mehr als Beschlußkörperschaft oder mehr als Trägerin von Freiheitsrechten? Wie hoch war der Grad der Durchnormierung in einer Polis? Gab es einen Unterschied zwi­ schen den normalen Regelungen einer funktionierenden Polis und den Ausnahme­ aktionen, wie beispielsweise bei „Schuldenabschüttlung“ oder Neuaufteilung des Landes? H err G ehrke erwiderte darauf, daß es zwar eine Tendenz zur Durchnormierung gegeben habe, freilich nicht nach uns geläufigen Leitlinien. Dementsprechend sei auch die Polis nicht als eine Gemeinschaft zu verstehen, die durch einen konstitutionellen Rechtsakt ins Leben gerufen worden sei. Bestehende Konflikte seien nicht nach einem bestimmten System, sondern von Fall zu Fall durch Nom otheten, Aisymneten oder Orakelbefragungen reguliert worden.

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H err D ihle erinnerte daran, daß zunächst die άγραφοι νόμοι gegolten hätten. Sie hätten für Konfliktslösungen das charismatisch bestimmte traditionelle Wissen der Familien bereit gehalten und seien außerdem eine wichtige Rechtsquelle für die Redner gewesen. Man frage sich daher, wie sich in der Praxis diese Tradition und geschriebenes Recht miteinander vertragen hätten. H err G ehrke nannte daraufhin drei unterschiedliche Konzeptionen von άγραφοι νόμοι: 1. Thukydides sehe in ihnen soziale Norm en, deren dauernde Geltung zu Kon­ flikten führen könne. 2. Im 4. Jh. habe es in Athen den Versuch gegeben, den Rekurs auf άγραφοι νόμοι zu unterbinden, indem man ein Corpus von Gesetzen verbindlich machte. 3. Bei den Vorschriften für die Mysterien von £leusis (Andokides) handele es sich um sakrale und deswegen ungeschriebene Gesetze. In diesem Zusammenhang fragte H err Sellert nach dem Problem des Verhält­ nisses von Rechtsgewohnheit zum geschriebenen Recht, wie es sich beispielsweise in der germanisch-fränkischen Rechtskultur seit etwa dem späten 5. Jh d t mit den Aufzeichnungen der sog. leges barbarorum gestellt habe. Hier habe man sich - wie beispielsweise Isidor v. Sevilla, aber auch die Stammesrechte selbst und einige Kapitu­ larien bezeugten - für den Vorrang der lex scripta entschieden. H err G ehrke erwiderte, daß auch in Griechenland dieses Problem gesehen und in Athen zugunsten des geschriebenen Rechts gelöst worden sei. Gleichwohl habe das ungeschriebene Recht weiterhin eine Rolle gespielt. Wegen Einzelheiten wies H err G ehrke auf das von ihm betreute DFG-Projekt hin, das der Aufstellung eines Katalogs von Nomothesien gewidmet ist. H err D iesselhorst fragte nach der Beteiligung von G öttern bei Staatsgrün­ dungsakten und der Existenz einer juristischen Kunstlehxe. H err G ehrke erwiderte darauf, daß man vor allem bei den Apoikien (Kolonien) eine M itwirkung der Götter in Form der Orakelbefragung feststellen könne. Diese Befragungen hätten dazu gedient, menschlichem Handeln den Segen der G ötter zu geben. - Für eine selbstän­ dige Jurisprudenz hätten die Voraussetzungen gefehlt, auch infolge des unmittelbaren Engagements aller Bürger an den Fragen des Rechts. H err Sprute wollte wissen, welcher Zusammenhang zwischen der vorgegebenen sozialen O rdnung und der ideologischen Gleichheit bestehe. H err G ehrke erwiderte: Es herrschte Timokratie; es gab keine egalitären Prinzi­ pien. N ur im Bereich der Gerichtsbarkeit wurde ein Höchstm aß an Gleichheit angestrebt. Woher kommt, so fragte H err L ink , die Ideologisierung der Demokratie, also die Vorstellung, daß das, was das Volk will, Recht sei. Kam es, so fragte H err L ink weiter, auf einen ethisch gebotenen Willen, also - modem gesprochen - auf die volonte generale an. In seiner Antwort lehnte H err G ehrke zunächst die pauschale Anwendung des Begriffs „Ideologie“ auf die Antike ab. Dementsprechend sei für Solon die Ethik allein in der Tradition begründet. Die Polis als „moralische Anstalt“ gebe es nicht. Im übrigen habe der Schutz der Schwachen zum Selbstverständnis der Athener gehört In diesem Zusammenhang habe nicht nur die Machtstellung Griechenlands, sondern

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vornehmlich auch die öffentliche Meinung über eine Polis eine Rolle gespielt. Demgegenüber stellte H err D ihle fest, daß soziale und ökonomische Spannungen immer moralisch bewertet worden seien. Deswegen sei auch die Gesetzgebung moralischer Natur. Zum Referat von H errn K ullmann : H err G raeser übte Kritik an der Formulierung K ullmanns, daß der uns geläufige Begriff des Naturgesetzes seinem Ursprung nach eine soziologische Metapher sei, also darauf beruhe, daß die insbesondere durch das Recht erzeugten Verhaltensregel­ mäßigkeiten in der sozialen Welt als Sinnbild der in der N atur beobachteten Regelmä­ ßigkeiten angesehen worden seien. Er wende sich vornehmlich deswegen gegen den verwendeten Begriff der „Gesetzesmetapher“, weil er „Falschheit“ im Sinne fehlender Ursprünglichkeit impliziere. H err K ullmann erwiderte, daß er mit dem Ausdruck Metapher hervorgehoben habe, woher in diesem Zusammenhang die ursprünglichen Anforderungen stam­ men, nach denen damals über das Vorliegen eines Naturgesetzes entschieden wur­ den. Dabei stehe es außer Zweifel, daß in der Naturwissenschaft von heute die Wurzel der „Gesetzesmetapher“ aus dem Blickfeld geraten sei. H err E ffe war der Ansicht, daß der Beitrag der Sophisdk zum Naturgesetz von H errn Kullmann zu gering bewertet worden sei. So bedeute der Begriff νόμος φύσεως bei Platon im Gorgias, daß die N atur einer strikten Regelmäßigkeit bzw. Gesetzmäßigkeit unterworfen sei. Damit sei sie nicht manipulierbar. H err E ffe fragte, ob nicht allein schon durch diese Erkenntnis der Begriff „N atur“ durch die Sophisten aufgewertet worden sei. - H err K ullmann äußerte Zweifel an der Vermutung E ffes und wies vor allem auf die Singularität der Platonstelle hin. H err K udlien fragte nach der Rolle des naturwissenschaftlichen Experiments bei Aristoteles. Es müsse beispielsweise für die im Corpus Hippocradcum erwähnten Experimente die Wissenschaftlichkeit bezweifelt werden. Daraus ergebe sich die allgemeine Frage, was man überhaupt unter dem Begriff Naturgesetzlichkeit zu verstehen habe. Handle es sich, so fragte H err K uduen weiter, in den hippokrati­ schen Schriften um den „Begriff des Norm alen“, wenn dort die Rede von κατά φύσιν und vor allem von δίκαιη φύσις bzw. δικαιώτατη φύσις die Rede ist. H err K ullmann entgcgnete, daß bei Aristoteles Experimente beschrieben wer­ den, deren Wissenschaftlichkeit durch die Anwendung einer induktiven Methode dokum entiert werde. H err Behrends machte darauf aufmerksam, daß die stoische Rechtslehre den Gedanken enthalte, daß die positiven Gesetzgebungen in den individuellen Stadtstaa­ ten gegenüber dem ursprünglichen Naturrecht historischen Ursprungs seien. Diese Gesetzgebung sei wie die Stadtstaaten selbst als Zusätze zur O rdnung der N atur angesehen worden. Das ethische Grundgebot der Stoa, in bewußter Übereinstim­ mung mit den göttlich-pantheistisch gedeuteten Bewegungsprinzipien der N atur zu leben, habe sich jedoch auf beide Elemente des Rechts bezogen, das natürliche wie auf das historisch hinzugetretene Recht. Er frage, ob diese typisch stoische Verbindung von Erkenntnis und Gehorsam gegenüber der für vernünftig erklärten N atur, die ihn

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unwillkürlich an eine bekannte Formulierung Bacons erinnere, auf die neuzeitliche Naturwissenschaft Einfluß gehabt habe. H err K ullmann erwiderte, es sei außerordentlich schwer festzustellen, in wel­ chem Maße Äußerungen wie die von Francis Bacon : natura non nisiparetur vincitur auf stoische Gedanken zurückgingen. Greifbare stoische Einflüsse zeigten sich indes in der christlichen Lehre. Das gelte beispielsweise für Augustinus, der in G ott den Gesetzgeber sehe. Hier, so meinte H err K ullmann, lägen sicherlich verformte stoische Gedanken vor. H err D iesselhorst wies darauf hin, daß die Naturrechtslehre bei Thomas von Aquin im präskriptiven Sinn gebraucht werde. Dies sei wichtig für das Verständnis der Naturrechtsdiskussion unter Juristen. H err D ihle vertrat die Ansicht, daß die Vorstellung von einer „echten“ göttlichen Schöpfung des Kosmos bereits in vorklassischer Zeit nicht mehr im Vordergrund gestanden habe. Er fragte, ob man es hier mit einer Vorstufe des Naturgesetzes zu tun habe, das ohne den Gesetzgeber auskomme. H err K ullmann stimmte zu und wies darauf hin, daß beispielsweise Zeus im Zeushymnus des Kleanthes nicht als Gesetzgeber, sondern als G ründer der N atur (αρχηγός φύσεως) bezeichnet werde. Erst bei Augustin werde in G ott der Gesetzge­ ber gesehen. H err L otze stellte klar, daß der Ausdruck nomos in dem Moment seine ursprüng­ liche Kraft und Präzision verlieren mußte, als er auch für neu Geschaffenes (z. B. die O rdnung des Kleisthenes) verwendet wurde. - Was wir heute Naturgesetze nennen, erscheine bei den Sophisten als φύσις; dafür brauchte man aber keinen Gesetzgeber. Es läge aber nahe, so meinte H err L otze abschließend, daß Griechen und Römer aus der beobachtbaren Regelhaftigkeit der N atur eine entsprechende begrifflich be­ stimmte Arbeitsweise hergeleitet hätten. (Protokoll D ankward Vollmer)

D er Begriff des N om os in der griechischen Philosophie Von A lbrecht D ihle

Am Vorabend der Schlacht an den Thermopylen läßt H erodot den Perserkönig Xerxes ein Gespräch mit dem exilierten Spartaner D emaratos fuhren, der sein H eer begleitet. Wie kann, so fragt X erxes, das winzige spartanische Kontingent so verwegen sein, den Kampf mit der gewaltigen persischen Armee aufzunehmen? D emarats Antwort begründet diese Haltung der Spartaner mit dem Hinweis auf die natürliche Arm ut Griechenlands, die seine Bewohner zwingt, Erfindungsgabe und Tüchtigkeit zu entwickeln und den geordneten Zusammenschluß zu suchen. G ut, meint Xerxes, aber selbst bei maximaler Entwicklung der Tüchtigkeit bleibt es unvorstellbar, daß es ein Spartaner mit 10 persischen Gardisten aufnehmen kann. Außerdem fehlt den Griechen als treibende Kraft die Furcht vor der Allgewalt des Herrschers. Darauf antwortet D emarat, daß er nicht die Tüchtigkeit des einzelnen Spartaners im Auge habe. Ihre Stärke, so sein Argument, beziehen die Spartaner aus der Gemeinschaft, die durch den Nom os zustande gekommen ist. Der aber befiehlt, anders als ein Herrscher mit seinen wechselnden Launen, immer dasselbe - in diesem Fall den W iderstand auch gegenüber einer erdrückenden Übermacht. H erodot hat hier wesentliche Resultate der damaligen Diskussion um die Be­ griffe Physis und Nom os seiner Deutung der Ereignisse von 480 v. C. nutzbar gemacht. D emarats erste Antwort versteht der Perserkönig im Sinn des Naturbe­ griffs, wie ihn die ionische Naturwissenschaft entwickelt hat. Die N atur des Men­ schen, nach der sich, modern gesprochen, die Gattung Mensch bestimmt, läßt sich nur am Individuum erkennen. Sie hängt u. a. mit der Umwelt, mit den Lebensbedin­ gungen, zusammen, was im C orpus H ippocraticum gerade im Hinblick auf den Unterschied zwischen Hellenen und Asiaten expliziert wird1. Demarats zweite Antwort verrät jedoch, daß er die Kriegstüchtigkeit der Spartaner nicht als Naturphänom en, als bloße Summe der Tapferkeit einzelner Krieger auffaßt. Vielmehr ergibt der Zusammenschluß unter dem Nom os eine kollektive, von der N atur gerade nicht vorgesehene Tüchtigkeit. Ganz ähnliches steht bei D emokrit : „Der Nom os will das Leben der Menschen fördern. Er kann es auch, wenn diese nur wollen, denn denen, die ihm gehorchen, offenbart er seine (oder ihre - beide Übersetzungen sind möglich) spezifische Tüchtigkeit.“ Ein anonymer Sophist äußert sich zu demselben Thema folgendermaßen: Die N atur gilt für jeden Einzelnen in seiner Weise, der Nom os ist allen gemeinsam und bewirkt deshalb O rdnung unter den Menschen. Darum ist, wie es der sog. A nonymus Iamblichi formuliert, auch der mit allen Vorzügen ausgestattete Übermensch dem vom Nom os geordneten

1 Herod. 7,101 ff; Hippocr. de nat. hom. 1; de acr. 12; 16 u. ö.

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Gemeinwesen unterlegen und nur der zu bewundern, der dem Nom os treu ist Zwar ist kein einzelner N om os naturgegeben, wohl aber die Eignung des Menschen, unter dem Nom os, also nicht nur als Einzelwesen, zu leben2. Diese und andere Aussagen aus dem Umkreis der Sophisdk bezeugen eine Entdeckung, die Ursache lang anhaltender Debatten wurde, nämlich die Einsicht in die Inkommensurabilität göttlich-natürlicher, menschlichem Zugriff entzogener und sozialer, von Menschen hergestellter Ordnung. Diesen ganzen Bereich der Gesetze, Sitten und Konventionen bezeichnete man dabei m it demselben Wort wie das kodifizierte Recht eines politischen Gemeinwesens. Das W ort Nom os hatte damals einen hohen Klang: „Wie um die Stadtmauer sollen die Bürger um ihre Nom oi kämpfen“ sagt H erakut 3. Kaum eine andere Tätigkeit genoß solches Ansehen wie die des Gesetzgebers, von der vor allem man das Gedeihen der Polis und die Erziehung ihrer Bürger zur Tüchtigkeit erwartete. Ursprünglich eignete dem W ort diese Bedeutung nicht, verdankte es doch vermut­ lich seinen Ursprung einem Mißverständnis innerhalb der altepischen Sprachtradition. Meta d ’ ethea kai nomon hippön heißt bei H omer „auf dem Tummel- und Wendeplatz der Pferde“. N om i bzw. nomos, zu nemo „Zuteilen“ gehörig, ist die (zugeteilte) Weide, ethea der gewohnte Aufenthaltsort in der homerischen Sprache. Da aber schon damals ethea auch soviel wie „Gepflogenheiten“ bedeuten konnte, lag es nahe, in diesem Sinn den Ausdruck nomous kai ethea kedna zu formulieren4. Seither gibt es viele Belege für den Gebrauch des Plurals im Sinn von Gepflogenhei­ ten, Verhaltensweisen o. ä.5. Auch der Gebrauch des Wortes Nom os zur Bezeich­ nung einer Form musikalischer Komposition, seit dem 7. oder gar 8. Jh. bezeugt, leitet sich von dieser Bedeutung her6. Freilich, diese Nom oi sind verschieden von den Regeln religiöser, sittlicher oder politischer Bedeutung. Diese heißen Thesmoi, ein Wort, das zuerst bei H omer belegt ist. Noch Solon nannte seine Gesetze Thesmoi7. Erst im 5. Jh. wurden sie als Nom oi von den älteren Thesmoi Diakons unterschie­ den8. Die mit der Aufzeichnung von Gesetzestexten betrauten Beamten Athens trugen den seit dem 7. Jh. bezeugten Titel Thesmotheten9. Erst im 5. oder 4. Jh. gab es auch N om otheten101. Wie das Wort Nom os seine Bedeutungsschwere, die es nach den Zeugnissen bei H erakltt (s. o.), T heognis 11 u. a. etwa seit dem Ende des 6. Jh. besaß, tatsächlich erhalten hat, ist nicht leicht zu sagen. Vermutlich geschah das auf einem Umweg.

2 Dcmocr. B 248 D. K.; Anon. de leg. b. Ps. Demosth. 25,15 ff; Anon. b. Iambi, protr. p. 97,10 ff; 101, 5 ff PisteUi 3 Heracl. B 44 D. K. 4 Horn. II. 6 , 511 , danach Hcsiod.theog. 66; zum Akzcntwcchsel Boi.f.lli 111 ff 5 Hesiod.theog. 417; op. 276; 388; Archil, fr. 322 West; Ale. fr. 72 PLF u. a. 6 Der Terminus durch Grammatiker für Terpandros (Anf. 7. Jh. v. C. bezeugt (PMG p. 362); frühster zeitgenössischer Beleg Alcman fr. 40 PMG (etwa Mitte 7. Jh. v. C.) 7 Horn. O d. 23, 2%; Sol. fr. 31,2; 36, 10 West 8 Andocid. 1,81; vgl. O stwald 1969, 41 ff 9 Aristot. resp. Ath. 3,5; SyU.Inscr.Graec. 3. Aufl. nr. 64,75 v. J. 446 v. C. 10 Andocid. 1,82; SyU.Inscr.Graec. 3. Aufl. nr. 200,6 v. J. 353 v. C. 11 Theogn. 54 West

Der Begnff des Nomos in der griechischen Philosophie

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Dem W ort Eunomie nämlich, „gesittetes Verhalten“, begegnet man schon bei H o ­ H esiod deutet Eunomie zusammen mit Eirene und Dike als Töchter des Zeus und der Themis, der personifizierten Rechtssatzung. Dieselbe politisch-reli­ giöse Konnotation besitzt Eunomie auch bei Solon 13 und Späteren, denen Nom os in seiner politischen Bedeutung noch unbekannt ist. Dieses Wort fehlt z. B. in den Versen, in denen P hokylides unter dem Eindruck des plötzlichen Sturzes der assyrischen Macht LJ. 612 v. C. von der O rdnung redet, welche die Polis auf kargem Fels über das törichte Ninive erhebt14. Das in Eunomie steckende Nom os im weiterhin geläufigen Sinn von „Sitte, Brauch“ erhielt seine politische Bedeutung vermutlich im Zusammenhang der kodifikatorischen Tätigkeit, wie sie gerade für das 6. Jh. bezeugt ist. Von ihr erwartete man nicht nur die Lösung akuter sozialer Probleme. D er moralischen Erklärung, die man in der ganzen Antike politischem Streit und sozialen Spannungen zu geben pflegte, entspricht die Hoffnung, daß neue oder gefestigte Gesetze alle Betroffenen zu allgemeinem Wohlverhalten, zur Eunomie, erziehen würden. Man hat den Wandel des Wortes Nom os zur politischen Bedeutung „Gesetz“ mit Kleisthenes 15 in Verbindung gebracht. Die ersten Belege stammen aus dem frühen 5. Jh .16. Bei P indar bedeutet das Wort sowohl das einzelne Gesetz als auch die Staatsverfassung als Ganze17. Die älteste Bezeichnung einer Staatsordnung mit demokratischen Ele­ menten hieß Isonomia18, bezog sich also auf die Gleichberechtigung der Bürger, während das alte Wort Eunomia mit seinen Ableitungen im Verlauf der Auseinander­ setzungen um die Gestaltung des Gemeinwesens gern von traditionell gesinnten Aristokraten verwendet w urde19. Das Pathos, mit dem das W ort Nom os in spätarchaisch-klassischer Zeit gebraucht werden konnte20, ergab sich aus den politischen Entwicklungen jener Periode, hängt aber auch mit einer Vorstellung zusammen, welche die Griechen mit vielen Völkern geteilt haben: Die Regeln für das Zusammenleben erhalten deshalb letztgültige Verbindlichkeit, weil man sie der von den G öttern gestifteten und garantierten Naturordnung zuweist. „Alle Gesetze politischer Gemeinwesen nähren sich aus dem einen göttlichen N om os“, sagt H eraklit21. Auf die vielfältigen Überlieferun­ gen, die bestimmten Gesetzgebern göttliche Abkunft oder Inspiration zuschrieben, bezieht sich noch P laton und stimmt darin mit einem anonymen Sophisten überein22. mer 121 3,und

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O d. 17, 87; vgl. Hesiod, op. 252 ff Hes. Thcog. 902; Sol. fr. 4,32 West Phocyl. fr. 4 Dichl O stvald 1969, 167 flf Tod, Hist.Greek Inscr. 1 nr. 25; Aesch. Suppl. 464; Eum. 448 und v. Fn. 3 Pind. Pyth. 2, 85 Herod. 3, 80 u. ö. Pind. Pyth. 5,67; Plat. Rep. 425 A H einimann 1945, 69 B 114 D .K ., ähnlich Emped.B 135 D. K. und ein schwer datierbarer orphischer Text fr. 160 Kern; vgl. H einimann 1945, 70 f 22 Plat. Leg. 624 A; Ps. Demosth. 25,15 f; später Ps. Plat. Minos 319 B.

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Im Verlauf ihrer kolonialen Expansion lernten die Griechen überaus verschiedene Sitten und Verhaltensregeln fremder Völker kennen. Bezeichnenderweise sprachen sie in diesem Zusammenhang weniger von Nom oi, sondern benutzten meist das nicht so bedeutungsschwere Wort nomima barbarikau . Die Gewöhnung an die Vielzahl gesetzlicher Ordnungen in ihrer eigenen Staatenwelt mag der G rund dafür sein, daß die zunehmende Kenntnis fremder Sitten und Regeln zunächst keineswegs auf den Schluß führte, alle Ordnungen des Zusammenlebens seien nur von relativer oder partieller Geltung und jederzeit zu verändern. Im Gegenteil: H erodot schließt den Bericht über die gegensätzlichen Bestattungssitten asiatischer Völker mit einem auch anderwärts oft zitierten P indar -Vers, der von der absoluten, königlichen Macht des Nom os redet2324. Verschiedenheit, Veränderlichkeit und damit Relativität des Nom os wurden erst zum Problem25, nachdem zwei andere Vorstellungen sich durchgesetzt hatten. Einmal handelt es sich dabei um den Naturbegriff der ionischen Philosophie und Wissenschaft, uns vor allem im C orpus H ippocraticum greifbar. Wichtig ist hierbei, daß die Natur, wie sie sich im einzelnen Lebewesen und in der Gesamtheit des kosmischen Geschehens offenbart, an die Stelle einer Vielzahl durchaus indivi­ duell vorgestellter, oft mit gegensätzlichen Intentionen und begrenzten Kompetenzen ausgestatteter göttlicher Wesen tritt. Mehrfach heißt es in den Frühschriften des Corpus Hippocraticum, daß alles, was die N atur hervorbringe, göttlich sei26. Zu einer als Einheit aufgefaßten Göttlichkeit aber gehören Dauer und Unveränderlich­ keit. Eben hier bricht der Gegensatz zwischen Physis und Nom os auf. An den göttlichen Ursprung des Nom os zu glauben, hinderte nämlich die Erfahrung mit seiner Veränderlichkeit nicht, solange sich auch die Göttlichkeit nur in einer Vielzahl wechselnder Gestalten zeigte. Mit dem Wort Physis verband sich fortan die Vorstellung vom Dauernden, Unveränderlichen27. In einem hippokratischen Traktat der Zeit um 430 v. C. ist von der Sitte der Schädeldeformation bei den Nomaden der südrussischen Steppe die Rede28. Früher habe man lange Zeit die weichen Schädel der Kleinkinder mit Hilfe von Brettern und Bandagen in längliche Form gebracht. Heute kämen die Kinder mit solchen Köpfen zur Welt, weil der Nomos inzwischen in Physis überführt sei. D emokrit spricht in ganz ähnlicher Weise vom pbysiopoiein, vom Herstellen eines unveränderlichen Naturzustandes durch Übung oder Gewohnheit29. Die andere Voraussetzung dafür, daß man Physis und Nom os als Gegensatzpaar verstehen lernte, lag in der seit dem späten 5. Jh. v. C. wachsenden Zuversicht, mit dem freien Gebrauch der allen Menschen von der N atur verliehenen Vernunft das Leben besser meistern zu können als in den Gleisen traditioneller Verhaltensweisen

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2. B. Hcllanikos FGH 4 F 72/73 Herod. 3, 38; Pind.fr. 169 Snell-M aehler , dazu Gigante 1956 pass. H einimann 1945, 110 ff Hippocr. de morb. sacr. 1; de via. 1,4; 11 u. a. Besonders deutlich etwa Aristot. F.N 1152 a 32 Hippocr. de aer. 14 Democr. B 33 D. K.

Der Begriff des Nomos in der griechischen Philosophie

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und Wertungen. Das beste Indiz für den neuen Optimismus ist die Flut der Lehrbü­ cher, die man seit dieser Zeit registrieren kann. Man sollte nicht m ehr Maler oder Pferdezüchter werden, indem man nur als Lehrling die Erfahrungen des Lehrherm übernahm, nach ihnen tätig wurde und sich in die personale Tradition des Metiers einreihte. Vielmehr galt es nun, ein Sachgebiet theoretisch zu erfassen und daraus Verfahrensregeln herzuleiten, die man intellektuell begriff und auch unabhängig von tradierter Erfahrung, also innovativ, anwenden konnte. Die um 400 v. C. entstandene Schrift „Von der Alten Heilkunst“ verrät das deutliche Bewußtsein vom Unterschied zwischen traditionell-empirischer und theoriebezogener Erlernung und Ausübung einer Fertigkeit, in diesem Fall der ärztlichen Kunst. Die Sophisten haben die neue Form der Unterweisung auf die allgemeine Jugend­ erziehung übertragen und damit insofern Erfolg gehabt, als fortan im Schulwesen zunehmend Gegenstände, mit denen intellektuelle Fähigkeiten geschult werden wie Rhetorik oder Geometrie, an die Stelle der Einübung in traditionelle Fertigkeiten wie Tanz, Sport, Instrumentalmusik oder die Einführung in traditionelle Wertvorstellun­ gen anhand der Dichterlektüre traten. In den Augen des Publikums wurden damit Sitte und Herkomm en gründlich herabgewürdigt Aus der Perspektive jenes pädago­ gischen Optimismus, der dem freien Vemunftgebrauch alles zutraute, konnte jede tradierte Wertvorstellung argumentativ als obsolet, unangemessen oder willkürlich erwiesen werden30. Die sog. JDissoi Logoiw, ein Übungsbuch aus dem sophistischen Lehrbetrieb, sammeln geradezu Fälle, in denen ein und dieselbe Handlung mit guten Gründen je nach der Situation als gerecht oder ungerecht, nützlich oder schädlich u. dg), bezeichnet werden kann31. A ristophanes ’ Komödien sind voll von satirischen Darstellungen der Methoden und Resultate solcher Pädagogik. Daß der nach diesen Grundsätzen erzogene Sohn seinen Vater verprügelt und das mit der Herstellung des gerechten Ausgleichs früher empfangener FVügel auch einleuchtend begründen kann, ist eines dieser haarsträubenden Resultate32. Die Vertreter dieser Fädagogik kamen nun aber entgegen den Befürchtungen, die man bei Sophokles , E uripides , A ristophanes und vor allem bei P laton lesen kann, keineswegs zu dem Schluß, Recht, Sitte und Herkommen, also alles, was man unter dem Stichwort Nom os zusammenfaßte, sei stets den Erfordernissen der recht erkannten N atur unterzuordnen. Zwar ist A ntiphon der Meinung, die N atur motiviere den Menschen stärker als der Nom os, was man daran erkenne, daß der Mensch unbeobachtet stets seinen natürlichen Triebkräften auch gegen das Gebot des Nom os folge, Gesetzesgehorsam also Öffentlichkeit des Tuns voraussetze33. Das aber war nicht als Argument gegen N utzen und Notwendigkeit des Nomos gemeint. Einer alten, schon bei H esiod 34 nachweisbaren Tradition folgend haben mehrere Sophisten gelehrt, daß durch Erfindung der Gesetze und Regeln sich tierische von menschlicher Lebensweise, Recht von Unrecht zu unterscheiden begann. Das ist die

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Rom illy 1971, 73 ff Z. B. DiaL 1,175 ff Aristoph. Nub. 1321 ff Antiph. B 44 A I D. K.; vgl. Eur. fr. 920 N (2. Aufl.) und das Sisyphos-Fragment TrGF 43 F 19 Hes. Op. 276 ff

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Quintessenz der Kulturentstehungslehre des P rotagoras, die P laton in seinem gleichnamigen Dialog referiert. T hrasymachos begründete seine Skepsis im Hinblick auf Existenz und Wirksamkeit der G ötter mit dem Hinweis darauf, daß sie offensicht­ lich nicht tätig werden, wenn die Menschen ihr höchstes G ut, die Gerechtigkeit, mißachten. Gerechtigkeit aber bemißt sich, so A ntiphon und viele nach ihm33, allein an den Nomoi. Wenn der T hrasymachos des platonischen „Staates" behauptet, die Nomoi würden von den Starken in ihrem Interesse diktiert, und der Kallikles des platonischen „Gorgias“3536 die Meinung vertritt, die Nom oi seien von den Schwächlin­ gen erfunden worden, um das natürliche Recht des Stärkeren einzuschränken, so gibt das die Intentionen der uns bekannten Sophisten vermutlich etwa ebenso treu wieder wie die Rede des Kyklopen im gleichnamigen Satyrspiel des E uripides 37. Das Ungeheuer erklärt dem in der Höhle gefangenen Odysseus, daß es sich um das vom Göttervater Zeus geschützte Gastrecht und die anderen Regeln, mit denen die Menschen das Leben kompliziert gemacht haben, nicht kümmere. D er Kyklop lebt allein mit und von der Natur, wie ihn E uripides ganz im Stil des modernen Intellektuellen sagen läßt. Er wird deshalb vom natürlichen Recht des Stärkeren Gebrauch machen und seinen Gast auffressen. Wie eigentlich immer in der Geschichte des Denkens entzündeten sich hier die Diskussion weniger an den vorgetragenen Lehren selbst ab an den Konsequenzen, die man aus ihnen auch gegen die Intention ihrer Urheber ziehen konnte. (Eben deshalb glaubte P laton , jeder fixierte Text sei in Abwesenheit seines „Vaters“, der ihm zur Hilfe kommen kann, Einwänden und Entgegnungen hilflos ausgeliefert und in der philosophischen Forschung unnütz.) H inter den z. T. abenteuerlichen Konsequenzen, die man parodistisch aus sophisti­ schen Lehren zog, steckte aber in der Tat ein ernstes Problem. Mochten Sophisten wie A ntipho n , P rotagoras oder der A nonymus Iamblichi die Segnungen des Nom os loben und seine Unentbehrlichkeit für das Zusammenleben der Menschen betonen, seine zwingende Geltung, auch in Konkurrenz mit den Forderungen der Natur, war damit nicht begründet. Als letztinstanzlich verpflichtend konnte nur die dem Menschen nicht verfügbare N atur gelten. Jeder Nom os war ab Menschenwerk der Abschaffung oder Veränderung ausgesetzt und besaß deshalb nur relative Geltung. Neben dem Beharren auf der göttlichen Autorität des Nom os38 gab es mehrere Versuche, die fehlende Begründung auf andere Weise zu liefern. Protagoras und der A nonymus Iamblichi sprechen von der natürlichen bzw. von den Göttern gegebenen Soziabilität der Menschen39, die ihrerseits Bedingung der Möglichkeit ge­ setzlicher O rdnung ist. A ntiphon und Lykophron 40 entwickelten die Lehre von einem Sozialvertrag, mit der die Verbindlichkeit des Nom os für die Vertragsschlie­ ßenden begründet werden konnte41. Isokrates, in vieler Hinsicht ein Testaments35 T hrasym .B 8D .K .;A ntiph.B 44A I D .K .,fernerA rchel.A 1/2 D. K.; Xcnoph. Cyrop. 1,3,17. Der Grundsatz war allgemein bekannt: Thuc. 7,77; Lys. 25,28; Acschin. 1,4 u.v.a. 36 Mat. Rep. 338 C; Gorg. 483 Bff 37 Eur. Cycl. 314 ff 38 Z. B. Xenoph. mem. 4,4,19 39 Mat. Prot. 324 E; Anon. b. Iambi, protr. p. 101 Pistclli 40 Antiph. B 44 A I D. K. und Lycophr. B 3 D. K. 41 Kahn 1981, 92 ff; S p ru te 1989, 8 ff

D er Begriff des N om os in der griechischen Philosophie

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Vollstrecker der Sophisdk, vertrat die Ansicht, daß den Menschen der Unterschied zwischen G ut und Böse bewußt sei42, womit ein Kriterium für die Geltung eines für sich genommen nur relativ gültigen Nom os statuiert ist. Aus diesem G rund interes­ sierte er sich auch wie später die Stoiker für die Tradition moralischer Gnomik43. Indessen reichten solche Hinweise nicht aus, der Erschütterung H err zu werden, die nachdenkliche Zeitgenossen empfanden, wenn sie die gpttlich-natürliche Recht­ fertigung ihrer politisch-moralischen O rdnung in Frage gestellt sahen. Schließlich gab es auch die sophistische Lehre, die G ötter selbst seien die Erfindung kluger Men­ schen, die entweder nützliche oder furchterregende Naturphänom ene auf diese Weise hätten erklären44 oder aber die heimliche Gesetzesübertretung durch die Furcht vor G öttern verhindern wollen45. D emokrit war sogar soweit gegangen, die Klassifizierung der Sinneseindrücke als feucht/trocken oder kalt/warm als Konven­ tion zu bezeichnen, weil es sich bei aller W ahrnehmung nur tim Atome im leeren Raum handele46. Daß es die Meinung gab, auch die Sprache existiere nur durch Konvention, durch den Nom os, lernt man aus P latons Dialog „Kratylos"47. Das Gefühl der Unsicherheit, das durch derartige Spekulationen ausgelöst wurde, wird verständlicher, wenn man den rapiden Wandel des öffentlichen Bewußtseins im Athen des 5. Jh. bedenkt48: Es hatte auf die Bewährungsprobe der Perserkriege, die imperiale Ausdehnung, die Katastrophe des Peloponnesischen Krieges und die dazu parallele Entfaltung demokratischer Institutionen reagieren müssen. Nach dem Zeugnis der erhaltenen unter den Jahr um Jahr in großer Zahl vor einem breiten Publikum aufgeführten Tragödien mit ihren extensiven Erörterungen moralischer, religiöser und politischer Fragen lebte man in dieser Hinsicht im Athen des 5. Jh. v. C. schneller als heute. O ft war dabei eine Vorstellung vom N om os und seiner Geltung im Spiel. Sophokles gibt dieser Unsicherheit im „König Oedipus"49 Ausdruck. Er läßt den C hor die Treue zu Gesetzen anmahnen, nach denen sich rechtes Reden und Handeln der Menschen bemißt und die ihren Ursprung von den G öttern haben, nicht von der „sterblichen N atur der Menschen". Vergleichbares steht bei E uripides . Die Lehre, daß die Nom oi vergängliches Menschenwerk seien und nur die N atur strikte Gefolgschaft verlange, wird von Figuren vertreten wie dem Erzgauner Sisyphos oder dem ungehobelten Kyklopen. Theseus, bei E uripides stets das Musterbild athenischer Hum anität, urteilt in diesem Punkt ganz anders. In den „Hiketiden" geht es darum , ob er den Bitten der Angehörigen nachgeben und den im Krieg gegen Theben Gefallenen das ehrliche Begräbnis verschaffen soll, das ihnen die siegreichen Verteidiger der Stadt verweigern. Theseus’ Entschluß, der seine eigene Stadt in einen Krieg zu verwickeln droht, bildet sich in einem langen Gespräch mit seiner Mutter. 42 Isocr. Hd. 12 f (homologotanena kala kai agatha) 43 Isocr. ad Nicod. 3; 6 ff 44 Prodic B 5 D. K.; Democr B 5 D. K. und das o. Fn. 33 genannte, vermutlich aus einem Satyrspid des Euripides stammende Sisyphos-Fragment. 45 D i h l e 1977, 28 ff; D ö r i n g 1978,43 ff 46 Democr. B 9 D. K. 47 H einim ann 1945,156 ff; vgl. Hippocr. de an. 2,3 48 R o m illy 1971, 98 ff 49 Soph. Oed R. 863 ff.

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Gegen die erbetene Intervention spricht, daß die Toten ihr Ende in einem ungerech­ ten Angriffskrieg gefunden haben. Dafür aber spricht, daß der Nom os, Tote zu bestatten, zu eben jenen seit jeher geltenden Regeln gehört, durch die sich mensch­ liches vom tierischen Leben scheidet und die eine Gabe der Götter, nicht eine Erfindung der Menschen sind50. Auch die Antigone in der gleichnamigen Tragödie des Sophokles beruft sich auf solche ungeschriebenen, seit Urzeiten gültigen Ge­ setze51. Die Verse, die E uripides die gefangene Trojanerkönigin Hekabe52 sprechen läßt, hat man zu Unrecht als Zeugnisse seines „Atheismus“ verstanden: „Ich bin Sklavin und machtlos. Mächtig aber sind die G ötter und der Nomos, der sie in der H and h a t Denn durch den Nom os rechnen wir mit den G öttern und unterscheiden G ut und Böse.“ Nicht die Existenz der G ötter wird hier in Frage gestellt, sondern auf den Umstand verwiesen, das nur der Nom os eine Beziehung zwischen ihnen und den Menschen herstellt. In seinem letzten Stück, den „Bacchen“, läßt der Dichter den C hor noch einmal zu diesem Thema zu W ort kommen: „Man soll sein Sinnen und Trachten nicht auf Höheres richten als die N om oi. . . Das in langer Zeit zum Nomos Gewordene gilt immer und von N atur aus.“ Ähnliches steht beim A nonymus Iamblichi: „Nomos und Gerechtigkeit haben das Regiment unter den Menschen und sind unverrückbar, denn ihre Stärke ist in der N atur verwurzelt53.“ D er Naturbegriff der jungen Wissenschaft hatte der ethischen Spekulation die Möglichkeit eröffnet, die mit dem Terminus Nom os zusammenfassend bezeichneten Gesetzmäßigkeiten des sozialen Lebens als veränderlich und nur relativ gültig zu erweisen, ohne daß man deshalb ihre Unentbehrlichkeit leugnen konnte. Die zuletzt aus poetischen und philosophischen Texten angeführten Zitate zeigen, wie man sie deshalb trotzdem als verbindlich zu betrachten und zu den Göttern oder der N atur in unmittelbare Beziehung zu setzen versuchte: Man berief sich dabei auf die in die Urzeit der Menschheit zurückreichende Tradition, die dem Nom os eine gleichsam natürliche, unbestreitbare Kraft und W ürde gibt. Das gilt insbesondere für die ungeschriebenen Gesetze, welche die elementaren Beziehungen der Menschen regeln und denen etwa auch die attischen Redner immer wieder höhere W ürde und allgemeinere Geltung zuschreiben als dem kodifizierten Recht des politischen Ge­ meinwesens54. Hier liegt eine der Wurzeln der späteren Vorstellung vom Naturrecht. Es läßt sich unschwer verstehen, daß der philosophischen Reflexion auf unser Problem die Sanktionierung der sozialen Norm en durch die bloße Berufung auf eine lange Tradition im Zeitalter P latons und A ristoteles* nicht m ehr genügen konnte. Man mußte nach Wegen suchen, die direkte Beziehung zwischen diesen Norm en und der Welt- oder Seinsordnung wiederherzustellen, denn das hatte in der älteren Zeit die Verbindlichkeit sittlicher und politischer Regeln begründet. A naxi­ mander und H eraklit konnten sich darum die Gesetzmäßigkeit der Naturvor-

50 Eur. Suppl. 1% ff; vgl. Protagoras b. Plat.Prot. 322 C /D gegen Xenophanes B 18 D. K., ferner Isocr. Panath. 169; spatantik Jul. imp. cp. 48, 289/91. 51 Soph. Ant. 453 ff 52 Eur. Hec. 799 ff 53 Eur. Bacch. 890 ff; Anon. b. Iambi, protr. p. 101 Pistelli 54 R omilly 1971, 25 ff

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gänge mit Hilfe der Analogie des durch Regeln und Sanktionen geordneten Zusam­ menlebens der Menschen klarmachen55. Bei P laton finden sich drei neue Ansätze zur Bewältigung dieses Problems. D er erste ergibt sich aus seiner dualistischen Ontologie, die allein der Welt der intelligiblen Formen volle, der Welt der sinnlichen Erfahrung aber nur abgeleitete Realität zuer­ kennt. An der intelligiblen Welt kann der Mensch durch seine Vemunftbegabung kognitiven Anteil gewinnen. Dementsprechend besitzt eine aus solcher Einsicht hergeleitete und ihr angemessene Formulierung von Regeln des Zusammenlebens letztinstanzliche, weil auf das wahre Sein bezogene Autorität, ln diesem Sinn ist der detaillierte Entwurf der „Politeia“ zu verstehen, an dem der Vorwurf der Impraktika­ bilität wegen seiner ontologischen Voraussetzungen abprallt. D er Staat ist in P la­ tons Augen ein vergrößertes Modell der Menschenseele56, so daß die rechten Gesetze, die ihn bestimmen, Zug um Zug dem rechten Zustand der einzelnen Menschenseele entsprechen. Hierzu paßt auch Platons feste, aus alter Tradition stammende Überzeugung, nach der die Gesetze der Polis eine umfassende pädago­ gische Funktion haben57. Auch P latons zweiter Ansatz zielt auf eine ontologische Begründung politischmoralischer Ordnung. W ährend diese selbst nach dem Entw urf der „Politeia“ in direkte Beziehung zur Seinsordnung tritt, verfahrt Platon im „Politikos“ auf andere Weise. Gemäß der Erfahrung, daß keine fixierte Regel der Vielfalt politischer Vor­ kommnisse gerecht weiden kann58, verlegt P laton sein Augenmerk auf den voll­ kommenen Staatsmann, der auf Grund seiner Einsicht in die Realität befähigt ist, als Staatslenker für jeden Einzelfall die richtige Maßnahme zu treffen. Obwohl im Idealfall die politisch-moralische O rdnung also im Handeln des oder der Wissenden mit der O rdnung des Seins in Übereinstimmung gebracht wird, bleiben doch für die Beherrschten angesichts ihres Mangels an Wissen Gesetze als allgemeine Orientie­ rungshilfe unentbehrlich. Deshalb klassifiziert Platon diejenigen Staatsformen, in denen jener wissende Staatsmann nicht das Sagen hat, nach dem Maß, in dem in ihnen Gesetze Geltung besitzen59. In den „Nomoi“ endlich entwirft P laton eine Staats- und Sozialordnung, die weder direkt aus einer neuen Ontologie hergeleitet ist, noch auf das Wirken des idealen Staatsmanns rekurriert, wohl aber geschichtliche und individuelle Erfahrung in Rechnung stellt. Nicht zufällig beruft sich P laton hier auf die alte Vorstellung von der Göttlichkeit oder göttlichen Inspiration der Gesetzgeber60 und vertritt, ähnlich wie später A ristoteles und früher T hukydides61, das Credo des Konservativen: Die Stabilität der gesetzlichen O rdnung ist wichtiger ab ihre Qualität62. Wie die geregelte, wenn auch nicht notwendigerweise optimale Lebensweise dem mensch55 56 57 58 59 60 61 62

A 9 D. K. und B 94 D. K., ähnlich Alkmaion B 4 D. K Hat. Rep. 435 Eff R omilly 1971, 228 ff Hat. Pölit. 293 Eff Hau Polit. 302 Bff Plau Leg. 624 A Aristou Pol. 1269 a 5 ff; Thuc 6,18,7 Hat. Leg. 798 Aff, ähnlich 793 C; 838 B

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lichen Körper wohltut, so die Stabilität der Gesetze und Sitten dem Gemeinwesen. P laton trifft sich in diesem Konservativismus mit Argumentationen attischer Prozessredner63. Die Legitimation der gesetzlichen O rdnung durch das Herkommen geht in dieser Schrift aber noch weiter. Mit besonders harten Strafen bedroht P laton die Gottesleugner64. Er sieht, wie später A ristoteles65, im politischen Gemeinwe­ sen zuvörderst eine Kultgemeinschaft, und so ist die ganze Staatsordnung wie seit alter Zeit von den zuständigen G öttern sanktioniert. Diese ganz traditionelle Auffas­ sung von der Verbindlichkeit der gesetzlichen O rdnung vertritt P laton bezeichnen­ derweise in einem Werk, das unter seinen Schriften zur Staatstheorie die größte Nähe zur politischen Praxis und die größte Feme zur Ontologie aufweist66. Endlich dient ein Gedanke aus der Sophistik P laton dazu, das Gesetzesver­ ständnis seines Lehrers zu deuten. Im ^Kriton“ läßt Sokrates die personifizierten Gesetze sagen, jeder Bürger sei Partner und Nutznießer des Vertrages, den die Gesetze seines Gemeinwesens darstellen. Verträge aber muß man halten, auch gegen den eigenen Vorteil und trotz empfangenen Unrechts. Gewiß gegen die ursprüng­ liche, bei Epikureern und Skeptikern durchaus bewahrte (s. u. 123) Intention der sophistischen Vertragstheorie knüpft sich hier der Absolutheitsanspruch einer rigoro­ sen Staatsethik67 an den Terminus Nomos. In anderem Zusammenhang dagegen dient das W ort auch Platon zur Bezeichnung bloßer Konvention68. O b die drei Ansätze P latons mit seiner im Lauf der Jahre veränderten Auffassung von der Tragweite menschlicher Vernunfterkenntnis Zusammenhängen oder nur den verschiedenen Perspektiven zuzuschreiben sind, unter denen er das Problem behan­ delt, läßt sich schwer bestimmen und soll hier nicht erörtert werden. Wie Platon betont auch A ristoteles die Bedeutung der Gesetze für das Gemeinwesen: en tois nomois soteria poleöf*9. Allerdings sind die Menschen auf Grund ihrer naturgebenen Verschiedenheit auch für verschiedene Formen gesetz­ licher O rdnung disponiert. Deshalb ist kein einzelner Nom os mit dem homos nomos identisch, nach dem sich das Wesen der Gerechtigkeit, das pbysei dikaion oder physikon dikaion bestimmt70. Naturgegeben sind aber Bedürfnis und Eignung des Menschen, in einer gesetzlichen O rdnung mit anderen zusammenzuleben. Folgerich­ tig klassifiziert A ristoteles deshalb, ähnlich wie P laton , die Staatsformen nach dem Charakter und dem Ausmaß der Geltung ihrer Gesetze71. Als nous aneu anexeös, also als gleichsam geronnener Ausfluß des menschlichen Denkvermögens, bleibt das Gesetz frei von den Auswirkungen der animalischen, unmittelbar zur Handlung treibenden Kräfte der Menschenseele und ist deshalb immer der wechselnden Will­ kür eines oder mehrerer Machthaber überlegen. Da kein Gesetz allen Eventualitäten 63 Z. B. Demosth. 21, 177; 24, 13off 64 Plat. Leg. 889 Bff 65 Aristot. Pol. 1328 b 5 ff 66 G örgemanns 1960, 49 ff; 218 67 Hat. Crito 50 C; 52 Aff; vgl. Plat. Rep. 421 Bff, von Aristoteles Pol. 1264 b 17ff kritisiert 68 Hat. Parm. 128 A 69 Rhet. 1360 a 19, ähnlich Pol. 1294 a 5 f 70 Aristot. Pol. 1252 a 24 ff; Rhet. 1373 b 1 ff; vgl. EN 1134 a 30 71 Aristot. Pol. 1253 a 3 ff; Pol. 1292 a 1 ff; 1310 a 4 f

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genügen kann, es also immer auf Entscheidungen der Herrschenden ankommt, ist es gut, wenn diese „durch das Gesetz erzogen“ sind. Wie P laton fordert auch A ristoteles von den Gesetzen des Gemeinwesens eine allgemeine erzieherische W irkung72. Daß es oligarchische und demokratische, gute und schlechte Gesetze gibt, liegt daran, daß jedes Gesetz auf Vereinbarung beruht, ein aus der Sophistik stammender Gedanke73. Eben deshalb ist alles, was nach Maßgabe eines Gesetzes geschieht, als ein nomimon auch „irgendwie gerecht“74, ohne das sich aber daran das Wesen der Gerechtigkeit erkennen läß t Ein großer Abschnitt der Nikomachischen Ethik ist dem Versuch gewidmet, den Unterschied zwischen nomikon dikaion und proton bzw. physikon dikaion zu bestimmen. Am deutlichsten wird dieser Unterschied am billi­ gen, fairen Verhalten, das in der „Rhetorik“ dem Nom os, in der Nikomachischen Ethik dem akribodikaiorL, also der starren Bindung des Handelns an die fixierte N orm gegenübergestellt wird. Autkades dikaion hatte das Gorgias genannt75. A ristoteles gebraucht das Wort Nom os auf sehr verschiedene Weise. So kann in der politischen Theorie der Nom os zum psephisma, zu den ethe oder den patria nomima in Opposition treten, in der Ethik, wie wir eben sahen, das normmon zum epieikes oder sogar zum alethes. Wie zuerst in der Generation der Sophisten dient ihm das W ort Nom os aber auch zur Bezeichnung der Gesamtheit aller nicht von der N atur vorgegebenen Verhaltensnormen. Darum kann er sagen, daß es Nom oi für alle politisch oder sittlich bewertbaren Verhaltensweisen gebe76. Da aber keine N orm allen Situationen genügt, gilt die Aussage, daß der gute und vernünftige Mensch im Feld der Individualethik sich selbst Gesetz ist, ein Nachklang des demokritischen Dictums von der Scham vor sich selbst77 als dem wichtigsten sittlichen Regulativ. Diese Äußerung tut A ristoteles in der Erörterung des Unterschiedes zwischen erlaubtem, scherzhaftem und unerlaubtem, kränkendem Spott. Wie bei der Beschrei­ bung der epieikeia gilt gerade hier, daß die rechte N orm letztlich nur im Verhalten des spoudaios, des Vernünftigen, fallweise zutage tritt. Man sieht, wie A ristoteles sich alle drei Ansätze, die wir bei P laton fanden, zunutze macht und darüber hinaus Gedanken aus der Sophistik aufnimmt. Freilich begründet an Stelle der ontologischen Herleitung eine Analyse ihrer Struktur und ihrer Zielsetzung die Geltung der Verhaltensnormen. Deutliches Gewicht liegt auf der Einsicht, daß die situationsgerechte Verwirklichung der N orm nur am Handeln des guten und vernünftigen Menschen erkannt werden kann. Die Bedeutung von Brauch und Sitte kommt einmal darin zu ihrem Recht, daß in A ristoteles * Sicht alle Verhaltensweisen als der Bewertung zugängliche Eigenschaften vor allem durch Übung zustande kommen, ferner in der von ihm geübten Methode, in der Erörte-

72 73 74 75

Aristot. Pol. 1287 a 32; 1286 a 11 ff; 1280 b 10 Pol. 1280 b 10; rhet. 1376 a 2; dazu Kahn 1981, 92 ff Aristot. EN 1129 b 13 Aristot. Rhet. 1374 b 21 bzw. 1138 a 1; Gorg. B 69 D. K.; vgl. die Klassifizierung der Argumentationsweisen bei Hermogenes, Prosymn. 120 76 Anstot. EN 1329 b 13 f 77 Aristot. EN 1128 a 32; Democr. B 264 D. K.

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rung eines ethischen Problems bei der populären, von der Tradition vorgegebenen Meinung einzusetzen, diese also ernst zu nehmen. Die Stoiker deuteten die Gesamtheit der N atur und des sozialen Lebens als einheitlichen Zusammenhang, der von ein- und derselben Substanz, dem Pneuma, Form, Leben und Bewußtsein erhält und in dem jeder Vorgang einem sinnvollen, vorbestimmten Ziel zustrebt. A ristoteles kannte diese strenge Teleologie nur im Blick auf die Natur. Aus der stoischen Welterklärung ergibt sich wiederum der Versuch, die Norm en des sittlichen Handelns und der sozialen O rdnung unmittelbar aus der Einsicht in das Wesen dieses Kosmos herzuleiten. Die Stoiker waren über­ zeugt, daß dem Menschen diese Einsicht von N atur aus eigne, daß sie aber als Folge ungünstiger Umstände, vor allem im Zusammenleben der Menschen, verschüttet wurde78. Die Philosophie ist der Versuch, dieses Urwissen wiederzugewinnen. Das Interesse, das die Stoiker sowohl an volkstümlich-gnomischer7980als auch an exoti­ scher Überlieferung, der philosophia barbam ^, nahmen, bezeugt die Vorstellung, daß es sich partiell überall auf der Welt erhalten habe. D er Gedanke, begegnet zuerst bei A ristoteles und taucht immer wieder im Hellenismus auf81. Die Voraussetzungen der Lehre vom N aturrecht in der stoischen Schulphilosophie sind damit bezeichnet. D er Mensch kann kraft seiner Vemunftnatur die Vernünftig­ keit der Welt erkennen und auf die Gesetze und Norm en des Zusammenlebens, die er in W ahrung seiner natürlichen Freiheit als Vemunftwesen zu formulieren hat, übertragen. So wird das individuelle und kollektive Verhalten der Menschen der O rdnung der N atur genau entsprechen. In diesem Sinn reden die Stoiker vom theios nomos, dem „Maßstab der Gerechtigkeit“82, in dem die Vernunft Gestalt gewinnt und der für alle Vemunftwesen, also Menschen und Götter, aber nicht für Tiere gilt®3. Die Menschen sind eben alle Bürger der wohlgeordneten Polis, als welche die Stoiker den Kosmos definierten. Übrigens hatte schon P laton vom Nom os des Schicksals, also der Weltordnung, gesprochen84. Die Stoiker wußten nur zu gut, daß vollkommene Einsicht in die O rdnung der N atur ein Fernziel der Menschheit darstellt und daß es den Weisen, der es erreicht hat, entweder bisher noch gar nicht oder nur in wenigen Ausnahmefallen gegeben habe. Dessen ungeachtet war jeder Bekenner der stoischen Lehre aufgerufen, sich um diese Einsicht zu bemühen und sie im sittliches Handeln, und zwar gerade auch als Gesetzgeber oder Politiker, umzusetzen. Daraus konnten nach stoischer Auffassung partiell durchaus Norm en entstehen, deren Befolgung zum naturgemäßen Leben führt und die darum allgemeine Geltung besitzen. Die wohlbezeugte politische Tätigkeit prominenter Stoiker findet hier ihre Begründung. Viele der bestehenden Gesetze und Konventionen erfüllen verständlicherweise diese Voraussetzung gerade 78 SVF 3, 228-229 A 79 Chrysipp. peri paroimiön SVF 2,16; ähnlich schon Aristoteles b. Diog. Laert. 5, 26 und Dikaiarchos fr. 100 Wehrli 80 Poseidonios fr. 49; 300; 324 Edclstcin-Kidd 81 Aristot. fr. 35 Rose; z. B. Megasthenes FGH 715 F 1 82 SVF 3, 314; vgl. auch Ps. Plat. Minos 321 B. 83 SVF 1,162; 3, 315; 367; 370/371 84 SVF 2, 1127/1129, ferner Chrysipp SVF 3,314; vgl. Plat. Leg. 904 C

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nicht, und ihre Befolgung ist darum bestenfalls ein adiaphoron85. Ohnehin galt den Stoikern jedes Gesetz, das sich ein politisches Gemeinwesen für seine besonderen Zwecke gibt, nur als Zusatz (prostheke) zum allgemein verpflichtenden, göttlich­ natürlichen Nom os86. Zwar waren die Stoiker davon überzeugt, daß der Mensch ein soziales Wesen sei, und sie erhoben sehr strenge sozialethische Forderungen. Indessen war für sie nicht das Wohl des Gemeinwesens, sondern die Eudaimonie des Einzel­ nen das erklärte Ziel des sittlichen Handelns und der politischen O rdnung87. Diesen für die hellenistische Philosophie typischen Individualismus teilten die Anhänger E pikurs . Auch E pikur lieferte mit der Atomtheorie eine umfassende Welterklärung, in der von den kosmischen Vorgängen bis zu den Bewußtseinsinhalten der Menschenseele alles eine einheitliche Deutung erfuhr. Allerdings gab es nach diesem System keinen zielgerichteten Vorgang im Weltgeschehen. Alles lenkt der blinde Zufall, der die Atome zusammentreten und auseinanderfallen läßt. Die einzige Orientierung ge­ währen dem Menschen seine eigenen Lust- und Unlustgefühle, wie sie die N atur hervorbringt und die es darum zu beobachten, registrieren, vorauszusehen und gegeneinander abzuwägen gilt. Der Weise wird kleine Unlustgefuhle durchaus in Kauf nehmen, um größere zu vermeiden. In eben diesen Zusammenhang gehört das Lob der Gesetze, das Plutarch aus der Schrift des Epikur-Schülers K olotes zitiert88: O hne die durch Gesetz und Sitte hergestellte O rdnung wäre das Menschenleben tierisch und gefährlich, weil niemand die Reaktionen seines Mitmenschen voraussehen könnte. Gerade der Weise wird deshalb im Streben nach einem ungestörten Leben die Gesetze seines Gemeinwesens schätzen und einhalten89. Freilich hat kein von Menschen verfertigtes Gesetz die Autorität der Natur, und das Gerechte bemißt sich nicht an irgendeinem nur auf tem porärer Vereinbarung beruhenden Gesetz, sondern am N utzen, den es für die Beteiligten bringt90. Deshalb soll sich der Weise den Gesetzen seines Gemeinwesens auch nur unterwerfen, wenn er dadurch Unlust vermeidet91, und seine eigene Lebensführung, seine eleuthera biote, wird durch kein Gesetz reguliert92. So wie die

85 86 87 88 89 90 91 92

SVF 3, 745 SVF 3, 323 SVF 3, 2 ff Ptut. adv. Col. 30 Long 1985, 283 ff Epic. rat.senL 37; vgl. Sprutc 1989, 39 f Epic. fr. 134 Us. Epic. ff. 1% Us. Daß der Weise für seine Lebensführung auf Gesetze und Konventionen nicht angewiesen sei, ist ein von Philosophen oft wiederholter Gedanke. Er begegnet z. B. bei dem Kyrenaikcr Aristipp (fr. 27 Mannebach), Antisthenes (fr. 101 Decleva Giizzi) und natürlich bei den jede Art von Konvention verachtenden Kynikern. Die Kvrenaiker lehrten, daß Gerechügkeit und die anderen sittlichen Werte nur durch Konvenüon und Gewohnheit, nicht von Natur aus gebe (fr. 229 Mannebach). Antisthenes (fr. 39/40 Decleva Caizzi) und der Skeptiker Pyrrhon (T 58 Decleva Caizzi) liessen die Physis der Wahrheit, den Nomos der Vermutung entsprechen. Radikale Kyniker versuchten sogar, durch gezielte öffentliche Schamvcrletzung in Wort und Tat die Irrelevanz aller Nomoi und, ohne theoretischen Aufwand, die natürlichen Triebe als einzigen Leitfaden im Leben zu demonstrieren (Diog. Laert. 6,5,87 ff).

Albrecht Dihle Epikureer sich gegen P latons Verachtung der überlieferten Vulgärmeinung wand­ ten - Polystratos, ein Schüler E pikurs, verfaßte einen eigenen Traktat zu diesem Thema - so hielten sie sich auch in der Einschätzung der Gesetze und moralischen Regeln an die Tradition, die gerade dem nur auf den Erwerb der eigenen Eudaimonie fixierten Philosophen Schutz und Sicherheit versprach. Man begegnet hier wieder P latons drittem Ansatz, und zwar unter dem Ge­ sichtspunkt des größtmöglichen Nutzens für das Individuum, während die Stoiker in der Tradition ihre Auffassung vom natürlich-sittlichen Urwissen der Menschheit bestätigt fanden. P latons eigene Schule entwickelte nach ihrer Rückkehr zum Dogmatismus im 1. Jh. v. C. eine differenzierte Lehre vom Nom os. Dabei war der immer stärker hervortretende Gedanke einer auf allen Gebieten der Wirklichkeit nachzuweisenden Stufung bestimmend, einer Stufung, die sich aus dem jeweils obwaltenden Verhältnis zwischen strukturierend-belebendem Geist und ungeordnet-passiver, darum in ge­ wisser Weise nichtseiender Materie ergibt Das Wort Nom os kommt in Texten des späteren Platonismus in verschiedenen Bedeutungen vor. So bezieht sich P lotin mit diesem Terminus wie andere Platoniker vor ihm93, gelegentlich auf das Ganze der Weltordnung, auf das den Seelen bestimmte Schicksal oder auf den noetischen, das Verhalten lenkenden Teil der Menschenseele als Regulativ im Menschenleben94. Von P o rp h y rio s hat sich ein Text erhalten95, in dem die mittel- und neuplatoni­ sche Lehre vom Nom os zusammengefaßt ist Es gibt drei Nom oi gestufter Anord­ nung. Zuunterst steht der nomos kata poleis kai ethne. Er dient der O rdnung des Zusammenlebens und beruht auf Vereinbarung unter den Menschen, ist zudem ständiger Veränderung unterworfen, die von den wechselnden Situationen in der empirischen Welt gefordert oder von den irdischen Machthabern erzwungen wird. Er vermag die offenbar werdenden Handlungen der Menschen, nicht aber ihre Gesinnung zu kontrollieren. Darüber steht der nomos tes thnetes physeös, der die an den Körper gebundenen Lebensvorgänge regelt. In diesem Bereich ist er zwingend, und wo er übertreten wird und Sanktionen unweigerlich folgen, findet die Verken­ nung der Menschennatur ihre Strafe. Zuoberst steht der theios nomos, den der göttliche Nous als Bewußtsein in die logike psyche des Menschen gelegt hat. Er garantiert die Unsterblichkeit (soteria) dieses kostbarsten Teiles der menschlichen Natur. Man kann diesen Nom os nicht eigentlich übertreten, denn es gibt nichts, was jenseits seines Geltungsbereiches liegen könnte. Offenbar wird er (eklampei) überall da, wo ein Menschenleben durch sophrosyne und apatheia, also nicht von den alogischen Seelenkräften, bestimmt ist. Er bleibt verborgen, wo Zügellosigkeit und Unverstand herrschen. Man muß ihn also bei sich selbst, im eigenen Innem suchen. Der göttliche Nous, der ihn in die Seele gelegt hat, ernährt durch ihn den logischen Teil der Seele in ähnlicher Weise, wie diese dem Körper zum Leben verhilft. 93 Philo, vit. Mos. 2,7 nomos physcös akinetos 94 Plot. 4,3,15 nomos physeös aidios; ferner 4,8,5; 4,3.13. 95 Porph. ad Marc. 27; zur Rolle der Philosophie, welche die Verknüpfung einsichtig macht, lambl. protr. p. 55,18 ff Pistclli

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Die Frage nach der Verbindlichkeit des Nom os ist hier in dem Sinn beantwortet, daß er unmittelbar aus der Spitze der Seinsordnung hergeleitet wird. Doch läßt sich das nur im moralischen Leben des Individuums verifizieren. Die Verbindlichkeit des politischen Nom os steht hingegen auf schwachen Füßen, denn nur Kriterien, die aus den Nom oi der beiden höheren Stufen gewonnen sind, können seine Geltung legitimieren. Wie bei A ristoteles aber laßt sich das Wesen der Gerechtigkeit oder moralischen Vollkommenheit nicht in Norm en objektivieren, sondern nur am rech­ ten Handeln des Menschen ablesen. Die skeptische Schultiadition bewahrte besonders viele Details sophistischer N o­ mos-Spekulation, etwa die Lehre vom Ursprung von Recht, Sitte, Religion und Sprache in der willkürlich etablierten Konvention. Auch D emokrits Lehre, daß die Klassifizierung der Sinneseindrücke nach Kategorien wie kalt/warm oder feucht/ trocken nur konventionellen Charakter habe (s. o. 116), findet sich bei Sextus E mpiricus wieder96. Wie die Sophisten waren auch die Skeptiker von der Notwendigkeit der Gesetze und Konventionen für das Zusammenleben überzeugt97. Diese führten sie auf Überlieferung, jene auf Vereinbarung zurück, bestritten also beiden die Beziehung zu irgendeiner beweisbaren Wahrheit98. In der Verschiedenheit der Nom oi der Völker, auch unter gleichen oder ähnlichen natürlichen Lebensbedingungen, sahen Skeptiker und skeptische Akademiker ein wichtiges Argument dafür, daß die Menschen individuell und kollektiv ihr Verhalten durch freie Entscheidung bestimmen und nicht von einem naturgesetzlichen Kausalzwang geleitet weiden. Auch dieses, für ein zentrales Thema der Ethik wichtige Argument stammt aus der Sophisdk99. Es richtete sich in hellenistisch-römischer Zeit gegen die Heimarmene-Lehre der Stoi­ ker, aber auch gegen den Schicksalsglauben der Astrologen100. Die hellenistische Astrologie hatte nämlich neben der Technik des individuellen Horoskops auch die Lehre entwickelt, daß Charakter und Schicksal ganzer Völker von den speziellen Konstellationen ihrer Wohngebiete abhängen. Im Tetrabiblos des Ptolemaios ist diese Lehre expliziert. Gern griffen später die Christen das skeptische Argument der Verschiedenheit der Völkersitten und -gesetze auf, um damit Freiheit und sittliche Verantwortung der Menschen zu begründen101. Zum Schluß möchte ich auf einen Seitenzweig der philosophischen Tradition zu sprechen kommen, der geringe philosophische, aber große ideologisch-politische Bedeutung gewann. Daß die O rdnung eines menschlichen Gemeinwesens idealiter der göttlichen O rdnung der Welt oder der N atur entsprechen solle und daraus ihren Geltungsan­ spruch zu beziehen habe, ist ein alter Gedanke, mit dem man seit jeher politische Herrschaft legitimierte. Die Monarchien, die sich im Anschluß an den Alexanderzug

% 97 98 99 100 101

Sext. Emp. adv. math. 7, 135 Sext. adv. math. 2,31; Pyrrh. hyp. 1, 17; 23 Sext Emp. Pyirrh. hyp. 1,146; 1,37 D ihle 1981, 55 ff Sc h r ö d er 1969, 553-562 D ihle 1989, 160 ff

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bildeten, vertraten fast alle nach dem Vorbild des großen Makedonen und in Anleh­ nung an entsprechende Vorstellungen im Alten O rient einen Weltherrschaftsanspruch, so wenig sie ihn einlösen konnten. Aber die vollständige Korrespondenz zwischen politischer und natürlicher O rdnung sah man mit gewissem Recht nur in der Universalmonarchie verwirklicht, in der ein Alleinherrscher die Menschenwelt durch seine Diener und Boten ebenso aus erhabener Feme regiert wie der Weltgott das Universum. W ir kennen diese politische Theologie z. B. aus der pseudoaristote­ lischen Schrift vom Kosmos102. Dieselbe Schrift vergleicht aber auch den Nomos einer Polis in seiner Unbeweglichkeit mit dem unbewegten, aber alles in Bewegung setzenden Weltenlenker des A ristoteles 103. A us dieser Vorstellungswelt stammt das Bild des Herrschers als nomos empsycbos104, eines lebendigen Gesetzes. Besonders in einer Reihe pseudepigrapher Traktate, meist aus späthellenistischer Zeit, die sich auf altpythagoreische Tradition berufen, ihre Philosophie jedoch aus akademisch-peripatetischer Quelle beziehen, wird die Lehre vom nomos empsychos dargelegt. Dabei divergieren die Meinungen darüber, ob der Monarch die einzigartige Stellung einem übermenschlichem Charisma verdankt oder der vollkommenen Ausbildung seiner Menschennatur im Sinn philosophischer Ethik. Beide Auffassun­ gen finden sich in den Traktaten. Die erste105 entspricht der Ideologie, die im hellenistischen und römischen Herrscherkult zum Ausdruck kommt. D er wohltä­ tige G ott Dionysos fungiert dabei als Vorbild. Sie unterwirft den Herrscher keiner Bindung. Daß gerade der römische Kaiser außerhalb oder über der gesetzlichen O rdnung stehe, war eine verbreitete Auffassung106, und darauf macht u. a. P lu­ tarch zwar indirekt durch eine A lexander -Anekdote, aber mit deutlicher Mißbil­ ligung aufmerksam107. Die andere Auffassung108 nimmt Herakles* Aufstieg zur Göttlichkeit durch eigene Leistung zum Vorbild für das Leben des Herrschers und ist vor allem der Fürstenspiegel-Literatur geläufig109. Beide Auffassungen vertrugen sich mit der Vorstellung vom Herrscher als nomos empsychos, denn seine Gesetze und Erlasse erschienen aus beiden Perspektiven in erster Linie als Wohltaten, als Ausfluß seiner sittlichen bzw. charismatischen Qualitäten. Die Christen übertrugen diese Vorstellung auf ihr Bild vom idealen Herrscher, dessen Anordnungen aus dem rechten Glauben kommen und deshalb als allem gesetzten Recht überlegen dieses durchaus auch mißachten dürfen110 All das erinnert an die platonische Konzeption, die im „Politikos“ entwickelt wird, entsprach aber bis zu einem gewissen Grade

102 Ps. Aristot. de mundo 398 a 11 ff 103 Ps. Aristot. de mundo 400 b 13 ff 104 A alders 1978, 315 ff. Cicero modifiziert diese Metapher in der Beschreibung der römischen Magistratur (de leg. 3,1,2/3): Magistratum esse legem loquentem, legem mutum magistratum. Stellung und Funktion des mit Imperium ausgestatteten Magistrats für die Dauer seiner Amts­ zeit sind damit trefflich gekennzeichnet. 105 Diotogenes p. 72,18 ff; Ekphantos p. 80,83 f Thesleff 106 Cass. Dio 58, 18 107 Hut. ad princ. incrud. 3-4 108 Eurydamos p. 86; vgl. Archytas p. 42 ff Thesleff 109 H oistad 1949 pass.; H a d ot 1972, 555 ff 110 D ihle 1973, 91 f

Oer Begriff des Nomos in der griechischen Philosophie

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durchaus der politischen Realität des Kaiserreiches. Daß nunm ehr alles von der Person des Kaisers abhänge, notiert schon Velleius Paterculus im 1. Jh. n. C. mit deutlicher Befriedigung11*, während Tacitus denselben Umstand mit Bedauern zur Kenntnis nimmt, nicht ohne der Einsicht in seine Unvermeidlichkeit Ausdruck zu geben11112. W ährend in der frühen Kaiserzeit die beiden Auffassungen von der einzigartigen Stellung des Herrschers durchaus nebeneinander erscheinen - Seneca etwa bezieht sich auf beide in seiner Schrift von der herrscherlichen Milde113 - erhielt die philoso­ phische in der Zeit der Adoptivkaiser gegenüber der charismatischen deutliches Übergewicht. Das geschah nicht zufällig in einer Zeit, in welcher der Einfluß der Philosophie auf das öffentliche Leben seinen H öhepunkt erreichte. Das zeigt sich beispielsweise im Trajanspanegyrikus des Jüngeren P linius 114. Er lobt den Kaiser dafür, daß er sich freiwillig, also im Sinn einer sittlichen Leistung, den Gesetzen unterordne, obgleich er doch einzige Quelle der Rechtssetzung sei115. Mit solchen Aussagen konnte Plinius nicht nur an philosophische Traditionen anknüpfen. Die Rechtswissenschaft hatte trotz der ständig steigenden Machtfülle des Kaisers und der sakralen Überhöhung seiner Person stets gelehrt, daß der Monarch nicht über den Gesetzen stehe, also an der augusteischen Fiktion festgehalten, der Kaiser sei ein Magistrat mit Sondervollmachten innerhalb der gesetzlichen O rdnung116. Auch in der Spätantike blieb diese Auffassung lebendig117, unerachtet der neuen religiösen Legitimation des christlichen Kaisertums. Soweit der Überblick über die weitgefächerten Vorstellungen, die sich in der philosophischen Tradition mit dem Begriff des Nom os verbanden. Auf einen Um­ stand aber sei abschließend besonders hingewiesen. Herkunft und Verwendung dieses Wortes im politischen Leben bedingten, daß sich damit ganz gegensätzliche Konnotationen veibinden konnten. Da war einmal die in jeder gesellschaftlichen oder staatlichen O rdnung zu gewinnende Erfahrung, daß die Verhaltensnormen einen hohen Grad der Stabilität und Verbindlichkeit haben müssen, um ein möglichst konfliktarmes Zusammenleben zu gestatten, und daß deshalb die Norm en durch eine möglichst hohe Autorität zu garantieren sind. Gerade in den griechischen Poleis archaisch-klassischer Zeit, wo man früh auf persönliche oder dynastische Charismen als politischen Ordnungsfaktor zu verzichten gelernt hatte, erhielt der Nom os besonderes Gewicht. So erklärt sich der hohe, ja sakrale Klang, den das Wort annehmen konnte, und die ihm eignende Konnotation der Dauer und Unverbrüch­ lichkeit, gerade im Gegensatz zu anderen Entscheidungen oder Anordnungen im politischen Geschehen. Auf der anderen Seite brachte aber das intensive politische Leben, vor allem in der attischen Demokratie, die Erfahrung mit sich, daß Gesetze

111 112 113 114 115 116 117

Vell.Paterc. 2,126,5 Tac. Hist. 1,1; 16; 89; ann. 1,10; 4,32/33; vgl. Cass. Dio 53,1 Z. B. de dem. 1,1,6 gegenüber 1,6,1 Plin. paneg. 2,4 u. ö. Plin. paneg. 65,1 u. Ö. Gaius, inst. 1,5; Ulp. dig. 1,4,1 Z. B. Iul. imp. or.3,29 Bidcz; Symmach. rel. 2;6.

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gemacht und verändert werden, ja daß ohne solchen Eingriff in eine bestehende Rechtsordnung gravierende Konflikte gar nicht gelöst werden können. Beide einander widersprechenden Konnotadonen des Wortes bestimmten seine Geschichte in der philosophischen Terminologie. Als die frühe Wissenschaft ihre Vorstellung von einer umfassenden, unveränderlichen und allgemein gültigen O rd­ nung der N atur entwickelt hatte, konnten in der Generation der Sophisten dieser O rdnung die wechselnden, von Menschen gemachten Gesetze und Konventionen gegenübergestellt und unter dem Begriff des Nom os zusammengefaßt werden. Soweit man sich in der nachklassischen Philosophie um die Herstellung eines direk­ ten Bezuges zwischen den moralisch-politischen Verhaltensnormen und der N atur­ ordnung bemühte, zog man verständlicherweise Begriff und Terminus des Nomos besonders gern dort heran, wo es um die unverrückbaren, natürlichen Fundamente rechter Lebensführung ging. So ist der aidios nomos P hilons , der theios nomos der Neuplatoniker, die stoische Gleichsetzung von nomos und logos tes physeös und der vielfältige Gebrauch von Ausdrücken wie lex natante, foedus naturae bei Autoren verschiedener philosophischer Provenienz wie C icero , L ukrez, M anilius oder Seneca zu verstehen. Die Ambivalenz des Wortes Nom os blieb eben infolge seiner fortdauernden Verwendung im politisch-forensischen Leben auch dem allgemeinen Sprachgefühl gegenwärtig.

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G esetz und Sprache D as römische G esetz unter dem Einfluß der hellenistischen Philosophie Von O kko Behrends Inhaltsübersicht 1. 0.

Einführung und Überblick Die lex Adnia-Debatte des 2. Jh. 1. Gegenstand und Teilnehmer der Diskussion 2. Das Ersitzungsverboc für gestohlene Sachen in den Zwölftafeln 3. Das Eindringen der naturrechtlichen bona fides in die Ersitzungsregeln der Zwölftafeln 4. Die pflichtentheoretische Interpretation des Ersitzungsverbots der Zwölftafeln und die Wiederherstellung seiner sachenrechtlichen Bedeutung 5. Die authentische Interpretation und ihr Verhältnis zur klassischen Derogadonstheorie 6. Die Streitfrage der lex A tinia - große oder kleine Rückwirkung und die Auslegungsregeln des strikten Rechts 7. Die Ablehnung einer Auslegung nach dem Willcnsprinzip bei rechtlichen Bestimmungen mit rein demonstrativem Gehalt in der jüngeren veteres-Junsprudenz am Beispiel der causa Curiana und des verborgenen Schatzes 8. Demonstratio und argumentum in der stoischen Sprachtheorie 9. Die Strukturen des bürgerlichen Rechts im engeren Sinn als strikte, raum-zeitlich definierte „Hinzufügungen“ zu den überall gegenwärdgen Werten des Naturrechts

HI. Der Gesetzesbegriff der klassisch-insdtudonellen Jurisprudenz 1. Die neue Sprach-und Erkenntnistheorie 2. Das Gesetz im dialektischen System des Servius 3. Die neue Etymologie von lex - die Ausdeutung des in der Wortgcstalt selbst enthaltenen Sinns 4. Das Gesetz und die Einrichtung des Rechts (insdtudo aequitatis) 5. Die Bedeutung des Schriftprinzips im klassischen System IV. Das polemische Leitmodv des Übergangs zum klassischen Gesetzesbegriff: »Handgreifliche juristische Tatbestände statt argumentauv erfaßbarer philosophischer Prinzipien*, illustriert an einem Fall aus der Nunkupadonshaftung der Zwölftafeln 1. Posidve Jurisprudenz gegen philosophische Moral 2. Verkäuferpflichten zwischen Naturrecht und posidver Tatbestandlichkcit 3. Wider die naturrechtliche Einschränkung der Nunkupadonshaftung der Zwölftafeln 4. Das klassische Tatbestandsmerkmal res incorporalis 5. Die begreifbaren materialen Werte der veteres im Unterschied zu den intellektuell erfaßbaren unkörperlichen Strukturen der klassischen Jurisprudenz 6. Die Dynamik der „körperlichen“ Wertprinzipien und die Statik der auf res corporales und incorporales bezogenen Tatbestände V. Drei Beispiele für den Wechsel vom „philosophischen“ zum „jurisdschcn“ Gesetzesverstandnis in der spätrepublikanischen Zeit 1. Der Diebstahl der Zwölftafeln (1) QUATENUS RATIONE ET INTELLEGENTIA (2) QUATENUS M ANU TENERE POSSUNT

O kko Behrends 2. Die Regenwassersicherung der Zwölftafeln (1) QUATENUS RATIONE ET INTELLEGENTIA (2) QUATENUS M ANU TENERE POSSUNT 3. Die Schädigung nach der lex Aquilia (1) QUATENUS RATIONE ET INTELLEGENTIA (2) QUATENUS M ANU TENERE POSSUNT

Frau Dr. Cosima Möller und H err Byoung H o Jung haben das Manuskript gelesen; ich bin ihnen für zahlreiche Hinweise sehr zu Dank verpflichtet.

A bkürzungsverzeichnis v. Arnim , StVF - von Arnim , Stoicorum veterum fragmenta I-IV. Stutgardiae 1968 Behrends, Bodenhoheit= O kko Behrends, Bodenhoheit und privates Bodeneigentum im Grenz­ wesen Roms, in: Die römische Feldmeßkunst. Interdisziplinäre Beiträge zu ihrer Bedeutung für die Zivilisationsgeschichte Roms. Hrsg. O kko Behrends u. Luigi Capogrossi Colognesi. Göttin­ gen 1992 Behrends, Fraus legis = O kko Behrends, Die Fraus legis Zum Gegensatz von Wortlaut- und Sinngeltung in der römischen Gesetzesinterpretation. Göttingen 1982 (Göttinger rechtswissen­ schaftliche Studien. 121) Behrends, Mandatum = O kko Behrends, Die bona fides im mandatum, in: ARS BO NI ET AEQUI. Festschrift für Wolfgang Waldstein zum 65. Geburtstag. Hrsg, von Martin Josef Schermaier u. Zöltan Vegh. Stuttgart 1993 Behrends, Tiberius = O kko Behrends, Tiberius Gracchus und die Juristen seiner Zeit - die römische Jurisprudenz gegenüber der Staatskrise des Jahres 133 v. Chr., in: Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition. Symposion aus Anlaß des 70. Geburtstages von Franz Wieacker. Hrsg, von Klaus Luig u. Detlef Liebs. Ebelsbach 1980 Behrends, Vindikationsmodell = O kko Behrends, Das Vindikationsmodell als „grundrechtliches System der ältesten römischen Siedlungsorganisation, in: LIBERTAS. Grundrechtliche und rechtsstaatliche Gewährungen in Antike und Gegenwart. Symposion aus Anlaß des 80. Geburts­ tages von Franz Wieacker. Hrsg, von O kko Behrends u. Malte Dießelhorst. Ebelsbach 1991 Behrends, Wissenschaftslehrc = O kko Behrends, Die Wissenschaftslehre im Zivilrecht des Q . Mucius Scaevola pondfex. Göttingen 1976 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-Hist. Kl. Jg. 1976, Nr. 7) K aser, RPR I = M ax K aser, Römisches Privatrecht I., 2. Aufl. München 1971 KuNKEL/HoNSELiyMAYER-MALY, RR = Paul Jörs, Wolfgang Kunkel, Leopold Wenger, Römisches Recht, 4. Aufl., neu bearb. von Heinrich Honseil, Theo Mayer-Maly, Walter Selb. Berlin, Heidelberg 1987 L ong /S edley = A. A. L ong , D. N . Sedley, The Hellenistic philosophers, Bd. 1 u. 2. Cambridge 1988-1990 RE —Paulys Realencyclopädie der dassischcn Altertumswissenschaft, neue Bearb. von G. Wissowa, W. Kroll, K. Mittelbaus, K. Ziegler. Stuttgart 1894 ff. (zitiert nach Band und Spalte) Stein , Regulae = Peter Stein , Regulae iuris. From juristic rules to legal maxims. Edinburgh 1966 SZ = Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung. Weimar W ie acker, RRG I = Franz W ie acker. Römische Rechtsgeschichte. Quellenkunde, Rechtsbil­ dung, Jurisprudenz u. Rcchtsliteratur. Abschn. I. München 1988

Gesetz und Sprache

I. E inführung

und

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Ü berbuck

(1) Die W irkungen, welche die geistigen Einflüsse der hellenistischen Philosophie auf den römischen Gesetzesbegriff, das heißt auf den für die Juristen verbindlichen, für die Anwendung und Auslegung maßgebenden Begriff der lex publica, des staatlichen Gesetzes Roms, gehabt haben, sind bisher noch nicht systematisch untersucht worden. D er H auptgrund für diese Unterlassung ist, daß man mit solchen Einflüssen, welche die Rechtswissenschaft selbst erfaßten, nicht gerechnet hat1. Wirklich thematisiert sind bisher nur mittelbare Einflüsse, die über die Rhetorik gewirkt haben sollen; da aber die Rhetorik gerade die Kunst lehrt, je nach Bedarf die verschiedensten Positionen effektvoll zu vertreten, und daher jedem fachwissen­ schaftlichen Standpunkt dient, welchen Gesetzesbegriff und welche Auslegungstheorie er auch immer enthalte, haben diese lehrreichen Untersuchungen an keiner Stelle das Zentrum des Problems erreicht. Für Rom haben diese Untersuchungen vielmehr einen entscheidenden Befund eher verdunkelt und verunklart, daß nämlich die Rhetorik in Fragen der Gesetzesgeltung zwar für den Redner die Streitpositionen bezeichnet und mit Argumenten ausstattet, daß aber der Redner die Möglichkeit, eine der beiden streitigen Positionen zu vertreten, der Jurisprudenz verdankt. N ur soweit er Juristen findet, die ihn dazu ermächtigen, kann der Redner in Rom behaupten, daß bei einem Gesetz von Rechts wegen der W ordaut zu gelten habe oder der Wille2. Die Einflüsse der Philosophie auf das römische Gesetz sind in der Tat ebenso differenziert wie deichend. Sie beruhen darauf, daß nach den Anschauungen der in dieser Epoche einflußreichen Denkschulen der Gesetzesbegriff nach Geltung und Auslegung unmittelbar bedingt ist durch die jeweilige Sprach- und Rechtstheorie und die jeweils hinter ihr stehende Erkenntnistheorie. Nachweisbar werden diese Ein­ flüsse mit dem 2. vorchristlichen Jahrhundert: ihre Wirkungen bestimmen seitdem die gesamte Geschichte des römischen Gesetzes. Nach der Auffassung beider in dieser Epoche wirksam gewordener Denkrichtun­ gen ist das Gesetz ein Sonderfall des Sprechens und Verstehens und daher bis in die feinsten juristischen Einzelheiten hinein von der jeweils akzeptierten Sprach- und Rechtstheorie abhängig. Die Unterschiede, die auf diese Weise erzeugt wurden, sind außerordentlich markant. In ihrer idealtypischen Reinheit haben sic für die miteinan-

1 Repräsentativ für die neuere Literatur J ochen Bleichen, Lex publica, Gesetz und Recht in der römischen Republik (1975) und Franz W ieacker, Römische Rechtsgeschjchte 1 (1988) Zweiter Abschnitt »Die Gesetzgebung der Republik* S. 388-428. Ein Vorläufer der hier vorgelegten Untersuchung ist meine Schrift, Die Fraus legjs. Zum Gegensatz von Wortlaut-und Sinngeltung in der römischen Gesetzesinterpretation. Göttingen 1982; vgl. dazu die Besprechungen von C arcaTerra, Studia e documenta 49 (1983) S. 490-494; Manthe, Gnomon 56 (1984) S. 139-148; H onsfll, SZ 102 (1985) S. 573-580; Fascione, Labeo 33 (1987) S. 324-330. 2 Vgl. nur das Beispiel der causa Curuma u. S. 170 ff. Zu der insbesondere von S tro u x , Römische Rechtswissenschaft und Rhetorik (1951) angeregten Literatur abgewogen zuletzt Wie acker, RRG 1 S. 662 ff. Kritisch zu einem selbständigen Einfluß der Rhetorik auf die Rechtswissenschaft bereits Behrends, Fraus legis S. 73 ff.

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der verschränkten Fragen der Geltungsweise und Auslegung der Gesetze auch heute noch große anregende Kraft3. ln juristisch-technischem Sinne greifbar wird der sprach- und rechtstheoiedsche Einfluß auf den römischen Gesetzesbegriff zuerst in der vorkiassisch-naturrechtlichen Jurisprudenz des zweiten Jahrhunderts. Im ersten vorchristlichen Jahrhunden folgt dann die Zeit der eigentlichen klassisch-institutionellen Jurisprudenz, deren Grundlegung der letzten großen Generation der Republik verdankt wird und in der sich eine formale Theorie der Gesetzesgeltung durchsetzt. Ich werde die Folgen dieser grundverschiedenen Haltung zum Gesetz insbesondere an drei Beispielen aus den Zwölftafeln und der lex Aquilia im einzelnen eingehend dokumentieren, möchte aber zuvor in mehreren längeren vorgeschalteten Abschnitten die grundsätzlichen Aspekte des Gegensatzes aufzuhellen versuchen. Zum besseren Verständnis des Folgenden seien die Ergebnisse vorweg kurz näher skizziert. (2) Die ältere Jurisprudenz, bei der Cicero noch gelernt hat - er hörte nacheinan­ der bei zwei bedeutenden Juristen aus dem Geschlecht der Mucii, erst bei P. Mucius augur, dann bei Quintus Mucius pontifex4, die beide noch zu der großen vorklassi­ schen Jurisprudenz des 2. Jh. zählten, deren Vertreter Cicero maiores und veteres nennt, während sie in den klassischen juristischen Quellen durchweg veteres hei­ ßen5 - , hat das Gesetz, insbesondere auch die Zwölftafeln, mit der Sprach- und Rechtstheorie der Stoa verknüpft und dem Gesetz damit eine sehr große interpreta­ tive Offenheit verliehen.

3 Vgl. aus der gegenwärtigen Diskussion insbesondere D. N eil MacC ormick/R obert S. Sum­ mers (edd.). Interpreting Statutes. A Comparative Study (1991). Das internationale Forschungs­ projekt untersucht die Probleme der Gesetzesgeltung in neun Ländern Europas (Deutschland, England, Finnland, Frankreich, Italien, Polen, Schweden) und Amerikas (USA, Argentinien) und umfaßt damit sowohl die Länder der Tradition des gemeinen römischen Rechts (civil law) wie die des (all)gemeinen Rechts im anglo-amerikanischen Sinn (common law). 4 Vgl. Matthias G elzer, RE (1939) s. v. Tullius 29) Sp. 829 f.: Nach Anlegung der toga virilis im Jahre 90 wurde Cicero in den Hörerkreis des Mucius augur eingcfiihrt; nach dessen Tod im Jahre 87 ging er zu Mucius pontifex, mit dessen Ermordung durch die Marianer im Jahre 82 die rechtswissenschaftliche Epoche der veteres endete. 5 Zu den Cicero-Stellen u. S. 217 f. und S. 219 f. Franz Horak, Wer waren die veteres? Zur Terminologie der klassischen Juristen, Festschrift Wesen er (1992) S. 201-236, versucht den Nachweis, daß es eine Jurisprudenz der veteres als distinkte Größe nicht gegeben habe, unterläßt es aber, sich auf das einzulassen, was diese Jurisprudenz als eine selbständige Wissenschaft überhaupt erst konstituiert, nämlich ihre Lehren. Daher fehlt in der Untersuchung auch jegliches Augenmerk auf die Folgewirkung der vorklassischen Jurisprudenz, die insbesondere über die sabinianische Rechtsschule verlief, aber in Form einer gewissen Auflockerung des klassischen Formalismus schon früher begann. Dazu zuletzt anhand eines konkreten Beispiels Behrends, Die bona fidesim mandatum. ARS BO NI ET AEQUI. Festschrift für Wolfgang Waldstein zum 65. Geburtstag (1993) S. 33-62. H oraks im Stil einer Wortmonographie durchgeführte Untersuchung bestätigt nur noch einmal den (von mir nie bestrittenen) Satz, daß veteres (wie maiores) kontextabhängige Bezeichnungen sind und sich auf das dogmengeschichtliche Großereignis der ausgehenden römi­ schen Republik, nämlich den Übergang von der vorklassischen zur klassischen Jurisprudenz nur dort beziehen, wo davon die Rede ist. Eben das ist allerdings auch in den allermeisten der von H orak angeführten Stellen der Fall, auch dort, wo er glaubt, mit seiner Methode das Gegenteil dartun zu können. Vgl. im übrigen die Überlieferung S. 233.

Gesetz und Sprache

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In dieser Epoche wurde das Gesetz wohl überhaupt zum erstenmal in der Geschichte von einer praktisch tätigen Jurisprudenz als ein Sonderfall sprachlicher Äußerung erkannt und den Regeln einer philosophisch begründeten Sprachtheorie unterworfen. Nach der in dieser Zeit zu maßgebendem Einfluß gekommenen stoi­ schen Sprachtheorie bedeutet Sprechen nicht so sehr das äußere Hervorbringen von W orten, als vielmehr ein Hinweisen auf Sachen und Sachverhalte6, und zwar mit Hilfe von Worten, die als Zeichen von N atur aus als mehrdeutig angesehen werden7. Folgerichtig ist nach dieser Theorie zum Verständnis gesprochener Worte, wenn sie nicht ausschließlich auf eine körperliche Sache hinweisen und dadurch unmißver­ ständlich sind, in der Regel eine argumentierende Auslegung nötig. D er Sachverhalt, auf den ein Gesetz dieser Theorie zufolge hinweist und der durch Interpretation erfaßt werden muß, ist in der Regel ein rechtlich-gedanklicher, der als solcher durch die Rechtstheorie der Stoa konstituiert wird. Das W ort ,iex ‘wird daher von dieser Denkweise - mit einer von der Stoa inspirierten (und folgerichtig ihrerseits auf einen Sachverhalt hindeutenden!) Etymologie - nach dem legere iustum, nach dem Wählen des Richtigen8, erklärt. Was das Richtige ist, entscheidet die Rechts­ theorie. Die Erträge dieser Lehre waren außerordentlich groß. Die kleine Schriftrolle, auf der die Zwölftafeln Platz hätten, übertreffe - so hieß es in einer euphorischen Äußerung dieser Zeit - vermöge der Ergiebigkeit der leitenden Prinzipien des Gesetzes eine ganze Bibliothek voll philosophischer Schriften9. In der ersten vorklas-

6 Vgl. v. A rnim , StVF Π Nr. 166 (Sextus adv. math. V m 11) und Nr. 167 (Sextus adv. math. VIII 80). In der zweiten Stelle heißt es in Übersetzung: „Sprechen heißt, wie die Anhänger der Stoa selbst sagen, eine Stimme hervorbringen, die den gedachten Sachverhalt (πράγμα) bedeutet.“ Vgl. auch Seneca, epistulae morales 89,17 διαλεκτική in duas partes dividitur, in verba et significationes, id est in res quae dicuntur et vocabula quibus dicuntur.

7 v. A rnim , StVF Π 45 Nr. 152 (Gellius 11,12,1) Chrystppus ak omne verbum ambiguum natura esse, quoniam ex eodem duo v e l pium accipi possunt

8 Cicero, De legibus I 6,18 und Π 5,11 (vgl. den Text u. S. 196 f. Fn. 119). 9 Cicero, De oratore I 44,195 Fremant omnes beet, dicam (sc. Licinius Crassus) quod sentio: bibliothecas m e hercule omnium philosophorum unus m ihi videtu r XII tabularum libellus, st quis legum fontis et capita vid et, et auctoritatis pondere e t utilitatis ubertate superare, De oratore I 57,245 in XII tabulis, quas tu (d. h. Crassus) omnibus btbliothecis anteponis. Die Äußerung, die Cicero hier seinen

Crassus tun läßt, formuliert einen scharfen Gegensatz zwischen den Zwölftafeln und den philoso­ phischen Bibliotheken, die nicht einmal alle zusammen die Ergiebigkeit des alten Gesetzes erreichten. Der Kontrast ist aber in Wahrheit weit weniger eindeutig als es scheint Der erste literarische Autor, der in die Zwölftafeln die ergiebigen fontes et capita legum (QueUphnzipien des Rechts) hineingelegt hat, war Sext Aelius Raetus Cams (Konsul 198 v. Chr.), und er tat dies kraft Philosophie, wie er in seiner Maxime: „Er wolle philosophieren, aber in abgemessenen Stücken; als ganze gefalle sie nicht“ selbst bekundete; vgl. dazu B eh ren d s „Staatsrecht und Philosophie in der ausgehenden Republik“ - oder zur Bedeutung des Mottos „Philosophari sc veile, sed paucis“, SZ 100 (1983) S. 458-484. Und dieser Einfluß der Philosophie sollte sich in der Folgezeit erst einmal nur noch verstärken. Die Zwölftafeln waren also in Wahrheit nur deswegen ergiebiger als ganze Bibliotheken voll Philosophie, weil sie zuvor durch Interpretation auf eine höchst ergiebige philosophische Rechtstheorie bezogen worden waren. Andererseits - und dies gibt der Äußerung ihren Sinn - hatte sich dadurch Rechtstheorie in Recht verwandelt, in die auf das Zwölftafdgesetz bezogene vorklassische, von Juristen verwaltete Rechtsordnung. Und hier zeigt sich etwas allge­ mein Gültiges: Immer dann, wenn eine Rechtstheorie durch Rezeption in eine auf Gesetz und

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sischen Periode drangen auf diese Weise in die römischen Gesetze bedeutende, noch heute bekannte Rechtsprinzipien ein, z. B. in das allgemeine Verkehrsrecht das Vertrauensprinzip der bona fides oder in die lex Aquilia die naturrechtliche Sorgfalts­ pflicht10. Alle diese und weitere Rechtsprinzipien des Naturrechts entstammen der Rechtstheorie der Stoa. Deren zutiefst dualistische Rechtstheorie unterscheidet zwischen zwei prinzipiell definierten Rechtskreisen, dem strikten Rechtskreis, der dem N utzen, der individuel­ len Zweckmäßigkeit der Staaten und ihrer Bürger dient und der sich an deren Sonderwillen ausrichtet, und dem soüdarisch-kooperativen Rechtskreis des ins ae­ quum, der dem vom Vertrauensprinzip beherrschten Zusammenleben aller Men­ schen untereinander dient11. Das Verhältnis dieser beiden Rechtskreise zueinander ist so bestimmt, daß das strikte Recht das allgemeine Recht, so weit es reicht, überlagert und verdrängt, aber doch, bei sich zuspitzenden Konflikten, von diesem überlagerten Rechtskreis der mitmenschlichen Rücksicht und Solidarität korrigiert werden kann, insbesondere mit Hilfe der in integrum restitutio, die in moderner technischer Überset­ zung „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand" heißt; der Rechtsbehelf verweist auf einen Rechtszustand vor einem eingetretenen Rechtsnachteil. D er auffällig geprägte Ausdruck bewahrt damit die Vorstellung eines untadligen, von Zutaten des eigennüt­ zigen ins strictum noch unberührten Zustands des mitmenschlichen Naturrechts, in das der vom ins strictum ungerecht Belastete im konkreten Fall durch den Magistrat zurückversetzt wird. Die ältesten Belege dieses Rechtsmittels finden sich bei Plautus und Terenz; solche Zitate aus der lateinischen Komödie, also aus einer durchaus nicht fachjuristischen Tradition, spiegeln die Bedeutung, welche dieses Institut in der Zeit, als die vorklassische Jurisprudenz literarisch zu werden beginnt, schon erlangt hatte12.

autoritativer Juristeninterpretation beruhende Rechtsordnung positive Geltung gewinnt und damit gewissermaßen von den philosophischen in die juristischen Bibliotheken wandert, hört sie auf, Philosophie zu sein. Die Kontrasdcrung, die Cicero seinen Crassus aussprechen läßt, enthält damit einen für das römische Selbstverständnis grundlegenden (und bis auf den heutigen Tag richtigen) Satz: Philosophische Konzepte, die in geltendes Recht übergegangen sind, ändern ihren Status, weil ihnen nunmehr im Rechtssystem nicht mehr nur philosophische, sondern rechtliche Geltung zukommt. Daher war es für Cicero auch möglich, denselben Crassus, den er an dieser Stelle als Verächter philosophischer Bibliotheken (und damit als Bewunderer der Zwölftafeln der vorklassischen Auslegungsjurisprudenz) auftreten läßt, zum Sprecher der Forderung nach einem ins civile in artem redactum zu machen, wie es auf der Grundlage der skeptischen Akademie des Kameades dann Ciceros Freund Servius verwirklicht hat und wie es für das klassische Recht grundlegend geworden ist (vgl. Cicero, De oratore I 42, 188-190): Denn auch das klassische System war wie das vorklassische System Philosophie, die in Jurisprudenz und geltendes Recht verwandelt worden war und damit aufgehört hatte, Philosophie zu sein. Die geistige Spannweite, die Cicero seinem Crassus mit den beiden Parteinahmen gibt, ist die Gceros; und es ist diese Spannweite, die Cicero zu dem unvergleichlichen Zeugen in diesen Fragen macht. 10 Zum vorklassischen Vertrauensprinzip der bona fides insbesondere u. S. 148 ff. und S. 221 f.; zur verkchrsrechtlichcn Sorgfalt (diligentia)> deren Verletzung einen Schuldvorwurf (culpa) begrün­ det und die ebenfalls naturrechtlicher Herkunft ist, vgl. im folgenden insbesondere S. 242 f., wo ihre Bedeutung für die lex Aquüia zur Sprache kommt. 11 Vgl. Gcero, De officiis III 17, 69 sowie Paulus 14 ad Sabinum D 1,1,11. Näher zu dieser dualistischen Rcchtstheorie u. S. 186 ff. und S. 221 ff. 12 Siehe dazu Behrends , Tiberius, S. 25-122.

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Die Freiheit, welche die Jurisprudenz vermöge dieser Rechtstheorie für die Ausle­ gung der Gesetze gewann, war außerordentlich. Da die vorklassischen Juristen Gesetze unter dem Gesichtspunkt interpretierten, daß sie das „Richtige“ auswählten, konnten sie grundsätzlich alle Aussagen der Theorie, die in dem Gesetzeswortlaut irgendeinen Anhalt fanden, als vom Gesetz gemeint behandeln und daher aus dem Gesetz entwickeln. Die im Schlußteil betrachteten Beispiele geben, obschon eine beschränkte Auswahl, eine gute Anschauung, wie sie dabei verfahren sind. (3) D er klassische Gesetzesbegriff, der mit G ceros Freund Servius Sulpidus Rufus zur Herrschaft kommt, ist dagegen auf eine Sprach- und Rechtstheorie ganz anderer A rt gestellt. Die Denkschule ist jetzt die der skeptischen oder Dritten Akademie, der Philosophie, die als selbständige Richtung auf Kameades zurückgeht und über Philon von Larissa in Rom Schule gemacht hat, insbesondere bei den Studienkollegen Cicero und Servius13. Die Sprache ist nicht m ehr ein notwendig mehrdeutiges Inventar von Zeichen für selbständig vorhandene Sachverhalte, die man argumentativ verstehen muß, sondern besteht aus objektiven Äußerungen, in welchen die Worte auf ihren gemeinsprachlichen oder fachwissenschaftlichen Sinn festgelegt erscheinen. O hne diese von der ars artium der ethischen, d. h. der Lebens­ führung dienenden Dialektik betreuten objektiven Festlegungen, die entweder den Konventionen der Sprachgemeinschaft oder den Fachwissenschaften folgen, wären die flüchtigen Worte - so jetzt diese Lehre - leer und lächerlich14 und würden ihren kommunikativen Zweck verfehlen. Wer diese Festlegung mißachtet, hat im eigent­ lichen Sinn nicht einmal gesprochen15. Das Gesetz wird damit zu einer sprachlichen Regelung, deren Geltung durch die Sprachfbrm begrenzt und bestimmt ist, und zwar durch eine Sprachfbrm, die über den Grundsatz der Gemeinsprachlichkeit hinaus noch durch den juristisch fachwissenschaftlich betreuten Grundsatz der Handgreif­ lichkeit des gesetzlichen Tatbestands eingeschränkt ist. Das Prinzip der Handgreif­ lichkeit, hinter dem letztlich auch eine erkenntnistheoretische Haltung steht, verlangt. 13 Vgl. zu Cicero G elzer, RE (1939) s. v. Tullius Sp. 831: P hilippson ebenda Sp. 1105; sehr förderlich die Untersuchung von A lfons W eische , Cicero und die neue Akademie. Untersu­ chungen zur Entstehung und Geschichte des antiken Skeptizismus 2. Aufl. 1975, in der auch die zweite, von Kritoloas begründete Akademie miterörtert wird. Zur spezifischen Bedeutung der ethischen Dialektik der Akademie des Kameades im folgenden insbesondere u. S. 194 ff. Vgl. im übrigen Z eller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung ID,1 (1923*; Nachdruck 1990) S. 514 ff., 532 ff., S. 609 ff. 14 Cicero, De oratore I 5,17 Est enim et scientia comprehendenda rerum plurim arum , sine qua verborum volubilitas manis atque irm denda e st... neque legum ac iuris civilis scientia neglegenda est.

Cicero, De oratore I 3,12 dicen di... omnis ratio m m edio posita communi quodam in usu atque in hominum ore et sermone versatur. . . in dicendo autem vitium vel maximum sit a volgari genere orationis atque a consuetudine communis sensus abhorrere. Vgl. dazu näher u. S. 192 f. 15 Vgl. Celsus 29 digestorum D 33,10,7,2 non .. a Servio dissentio non videri quemquam dixisse, cuius non suo nomine usus sit. Vgl. näher dazu u. S. 191. Was suum nomen ist, entscheiden nicht nur der usus communisy sondern, wie im Text gesagt, auch die Fachwissenschaften und als eine von ihnen die Jurisprudenz. Daher kann Servius bei Pomponius lb sg enchiridii D 38,10,8 sagen, daß gener

entgegen dem gewöhnlichen Sprachgebrauch nicht nur den Ehemann, sondern auch den Verlob­ ten meint. Dies zu Horak, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 53 (1985) S. 165 Fn. 7, der im übrigen auch ganz zu Unrecht die Lehre, daß die menschliche Rede daran erkannt wird, daß sic „gegliedert“ ist, für „eindeutig stoisierend“ erklärt. Vgl. dagegen u. S. 190 f.

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daß die Aussage der Gesetze im Rahmen des gemeinsprachlichen Wortsinns zusätz­ lich auf die Ebene konkreter Greifbarkeit ihrer Inhalte herunterinterpredert oder ausdifferenziert werden m uß16. Das Gesetz dieser Denkweise ist wesentlich verbind­ licher Text. Daher erklärt sich auch die neue, wiederum in höchst kennzeichnender Weise vorgehende, nämlich den Sinn in die Wortfbrm einsperrende Etymologie: lex von legere, von lesen17. (4) In den drei Beispielen, die ich im Schlußteil geben werde, ist die theoriegeleitete Auslegung der veteres inspiriert von der naturrechtlichen Seite ihrer dualistischen, aus ms strictum und ins aequum zusammengesetzten Rechtstheorie. In einem ersten Abschnitt wird dagegen ein Gesetz betrachtet werden, das nach seinem Regelungsge­ halt für die jüngere veteres-]urisprudenz auf die Seite des ms strictum gehörte und nach den Regeln dieses Rechtskreises ausgelegt wurde. Diese Überlieferung ist besonders lehrreich, weil uns zugleich die Auslegungsdiskussion zu diesem Gesetz überliefert ist. Interessanterweise war das Gesetz nötig geworden, weil eine Verbotsnorm der Zwölftafeln zunächst von der Interpretation der damaligen Jurisprudenz unter den Bereich des ius aequum gezogen und dadurch zugunsten des Verkehrs in seiner Geltung sehr eingeschränkt worden war. Es bedurfte eines Gesetzes, dieses Interpre­ tationsergebnis wieder zu beseitigen und dem ius strictum das verlorene Regelungsge­ biet zurückzugeben.

Π. D ie lex A tin ia -D e b a tte des 2 . JH. 1. Gegenstand und Teilnehmer der Diskussion Die Diskussion, die wir nach ihrem Gegenstand die lex Αώώζ-Debatte nennen wollen, betrifft die gesetzliche Erneuerung der bekannten Zwölftafelvorschrift, in der bestimmt war, daß gestohlene Sachen nicht ersessen werden können. Das Ergebnis der lex Atm ia war eine Erneuerung des alten Gesetzesrechts durch eine Art authenti­ sche Interpretation. Dieser Zweck der lex Atm ia wird noch dadurch akzentuiert, daß ihre entsprechende Vorschrift der Sprachform nach ganz dem Zwölftafelstil folgt18. Die späteren Juristen rechtfertigen den Ausschluß der Ersitzung jedenfalls promiscue ebenso durch die lex A tinia wie durch die Zwölftafeln19. Ein solches Nebeneinander einer Vorschrift aus den Jahren 451/0 v. Chr., die von den modernen Rekonstruk­ tionsversuchen als Lex 17 der achten Tafel (XD Tab. V III17) eingeordnet wird, und einer Vorschrift vom Anfang des letzten Drittels des 2. Jh. v. Chr. ist höchst auffällig.

16 Vgl. dazu im vorletzten Abschnitt S. 209 und im Schlußabschnitt S. 230 ff., 239 ff., 245 ff. 17 Isidor, Etymologiae 5,3 2 lex a legendo vocata, quia scripta esL 18 Vgl. Gellius 17,7,1 Legis veteris Atiniae verba sunt: Quod subruptum erit, eius rei aeterna auctoritas esto mit Zwölftafeln 111 7 Adversus hostem aeterna auctoritas esto 19 Julian 44 digestorum D 41,3,33 pr msi lex duodecim tabularum vel Atinia obstaret; Inst. 2,6,2 furtivarum rerum lex duodecim tabularum et lex Atmia inhibet usucapionem; Gams Π 45 und 49 erwähnt nur die Zwölftafeln.

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Was Anlaß und Sinn der lex Atinia betrifft, besteht bis heute große Unsicherheit20. N ur der Turiner Romanist F ilippo G allo hat in allgemeinen, die wesentlichen Punkte nennenden Umrissen bereits die richtige Deutung ausgesprochen: Ehe lex Atm ia reagierte gegen eine Richtung in der Rechtswissenschaft, die auch im Fall des Erwerbs einer gestohlenen Sache im Interesse des Verkehrs der bona fides den Vorrang vor dem Eigentum gegeben und den gutgläubigen Erwerber geschützt hatte, und setzte gegen diesen Vorrang des Verkehrsschutzes wieder den Vorrang des Eigentumsschutzes durch21. Bezogen auf System und Methode der retercs-jurisprudenz, liegt die nähere Bedeutung der lex A tinia und der um sie geführten Debatte darin, daß sie als ein Gesetz, das nach den Kategorien der wtercs-Jurisprudenz zum strikten Bürgerlichen Recht gehöt, eine von der Naturrechtsinterpretation erfaßte Zwölftafelnorm wieder in das Gebiet des ms strictum zurückholte. Daher wird an ihr erkennbar, wie die vorklassische Jurisprudenz dieser Zeit ein Gesetz mit strengrechtlicher Materie be­ handelte. Dies ist uns, wie schon bemerkt, im Zusammenhang dieser Untersuchung besonders wertvoll, weil die drei im Schlußabschnitt behandelten Gesetze allesamt für die vorklassische Zeit in das N aturrecht gehören. Sie bilden dadurch zwar besonders gute Beispiele für den sich im 1. Jh. v. Chr. vollziehenden Systemwechsel hin vom naturrechtlichen zum klassischen Gesetzesverständnis, lehren aber nichts über die vorklassische Interpretationsweise bei Gesetzen strengen Rechts. Hier bietet die Überlieferung zur lex Atinia eine wesentliche Ergänzung. Die Teilnehmer des Gesprächs sind die Juristen P. Mucius pontifex (Konsul 133), M. Manilius (Konsul 149) und ihr Altersgenosse D. Iunius Brutus, der es nur zum Prätor gebracht hatte. Sie hatten die voraufgegangene ersitzungsfreundliche Ausle­ gung erlebt und gewiß zum Teil auch vertreten; nun bewerten sie den mit dem neuen Gesetz eingetretenen Rechtszustand. Es handelt sich also um eine gelehrte Debatte von hoher Aktualität22. In der kaiserzeitlichen Rechtswissenschaft tragen die drei Juristen den Namen fundatores iuris civilis. Dieser Ehrentitel besagt nicht, daß sie die systematische Behandlung des Bürgerlichen Rechts begonnen hätten - die systemati20 Vgl. K unkel/M ayer-M aly, RR S. 175; W ieacker, R R G I S. 284 mit Fn. 73. Die Annahme, daß die Zwölftafeln die Ersitzung nur dem Dieb selbst versagt hätten (insbesondere M ommsen , Röm. Strafrecht S. 756 Fn. 1 und Kaser, RPR I S. 137), widerspricht der Überlieferung, nach der die Zwölftafeln das Ersitzungsverbot objektiv für die resfurtiva ausgesprochen haben (vgl. unten Fn. 33) und ist bei Kaser stark von der germanistischen, für das alte römische Vindikationssystem ganz unpassenden Idee bestimmt, daß die Verfolgung von beweglichen Sachen in die dritte Hand einen Diebstahlsvorwurf impliziert. Mit Recht kritisch gegenüber allen bisherigen Erklärungsver­ suchen Berger, RE (1925) s. v. lex Atinia de rebus subreptis Sp. 2334. 21 Fiuppo G a l lo , Intcrpretazione e formazione consuetudinaria del diritto (1993) S. 132: „II nuovo intervento legislabvo intervenne, con ogni verosimiglianza, in contrasto con una forte corrente, che prcferiva tutelare la buona fede e la giusta causa delTacquirente, per meglio garantire la drcolazione dei beni. La legge quindi ribadi che non poteva usucapirsi ciö che era suto rubata . . . “, ebenso bereits Labeo 16 (1970) S. 56 Fn. 99: „11 contrasto . . . involgeva la scclta fra due andtetid criteri di fondo: l'uno tendente ad attribuire preminenza alle razioni della proprieta, Paltro alle esigenze del com m erdo“. Die eindringende interessenjurisdsche Analyse G a llo s kommt dem dualisrischcn Denkstil der tvieres-Jurisprudcnz ganz nahe. Vgl. auch bereits Behren d s, Tiberius, S. 65 f. 22 W ieacker, RRG I (1988) S. 284 mit Fn. 76; S. 420 Fn. 48.

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sehe Jurisprudenz der veteres beginnt vielmehr in literarischer Form mit dem Zwölfta­ felkommentar des Sext. Aelius (Konsul 198) und dem Ius civile des älteren Cato (Censor 184) sondern daß in ihrer Zeit das Rechtssystem durch einen weiteren Naturrechtsschub eine neue Gewichtung erfahrt, insbesondere durch eine Auswei­ tung der solidarisch-naturrechtlichen Rechtsprinzipien23. Nach der Schriftformel der jüngeren Treuhandklage, die in ihrer Zeit eine ältere zurückhaltendere Wortformel ersetzt und in exemplarischer Weise die naturrechtlichen Pflichten dieses Verhält­ nisses von einem Schädigungsverbot in ein wechselseitiges Wohlverhaltensgebot verwandelte, kann man ihre Jurisprudenz auch die der boni viri nennen24. Wie lebhaft gerade in diesem Kreis die Prinzipien des Naturrechts diskutiert und in der Praxis umgesetzt wurden, erfahren wir beispielhaft an der Frage, ob das Kind einer Nießbrauchsklavin Frucht ist oder nicht. Erfolgreich war hier die Meinung des Brutus, der die Frage verneinte. Sein Argument: Die N atur stellt den Menschen ihre Früchte zur Verfügung. Daher kann unmöglich ein Mensch selbst auf der Seite der Früchte stehen. Der Mensch ist immer Fruchtgenießer, niemals selbst Frucht. Da der Nießbrauch selbst als ein höchstpersönliches, unvererbliches Nutzungsrecht unter Schonung der Substanz das naturrechtliche Sachenrecht par excellence und als solches unzweifelhaft eine Schöpfung der naturrechtlichen Epoche ist, beleuchtet der Ausgang dieser Diskussion erneut eine steigende Sensibilität in diesen Fragen. Die ältere Auflassung hatte das Sklavenkind noch dem Nießbraucher als Frucht zuge­ sprochen, später fand man dies unerträglich25. Die gleiche Bewegung bewirkte, daß die bona fides das dezemvirale Ersitzungsver­ bot gestohlener Sachen vorübergehend aufhob. Um dies zu verstehen, bedarf es zunächst eines vorbereitenden Blickes auf das Ersitzungsrecht der Zwölftafeln selbst.

2. Das Ersitzungsverbot fü r gestohlene Sachen in den Zwölfiafeln Die in den Zwölftafeln geregelte Ersitzung hatte den Sinn - hierin stimmt die reiche Literatur zum Thema überein - , den römischen Bürgern, die statt Eigentum nur ein unvollkommenes Nutzungsrecht erworben hatten, das ohne Unterstützung durch 23 Zu dieser Deutung ihrer Auszeichnung als fundatores (vgl. Pomponius lb sg enchiridii D 1,2,2,39) auch Behrends , Tiberius S. 64 ff.; siehe auch Bretone , Tecniche e Ideologie dei giuristi romani, 2. Auflage 1982, S. 257 ff. und dazu meine Besprechung der ersten Auflage Gnomon 45 (1973) S. 797. 24 B ehrends , Tiberius S. 57 ff., 60 ff. Der sich im Rahmen einer Klage der bona fides vollziehende Wechsel von dem naturrechtlichen Schädigungsverbot {UTINE PROPTER TE TUAMVE FIDEM CAPTUS FRAUDATUSVE SIM) zu dem naturrechtlichen Wohl verhaltensgebot (U T INTER BONOS BENE AGIER OPOR TET E T SINE FRA UDA770Λ/£), gewissermaßen von einer Golde­ nen Regel negativer Form („was du nicht willst, das man dir tu, das füge keinem anderen zu“) zu einer solchen positiver Form („was du willst, das man dir tu etc.“), darf als repräsentativ für die innere Geschichte des Naturrechts des 2. Jh. angesehen werden; nicht von ungefähr zitiert Cicero, De officiis III 17,69 f., wo er die Systematik der veteres-)unsprudenz darstellt, beide Formeln (vgl. u. S. 222 f.). 25 Behrends , Tiberius S. 66; K aser, Ius gentium (1993) S. 79 f.; vgl. auch noch unten Fn. 93 und (zu K aser) Fn. 171.

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einen auctor gegenüber Dritten im Prozeß nicht wirksam verteidigt werden konnte, binnen einer recht kurzen Frist ein selbständiges Vindikationsrecht zu verschaffen. H atte z. B. der Erwerber vor Ersitzung lediglich einen usus, welcher zu seiner rechtlichen Verteidigung der auctoritas des Urhebers des Erwerbs bedurfte, so ge­ wann er mit Ablauf der Ersitzung ein eigenes volles Vindikationsrecht. Dies ist der Sinn der Zwölftafelworte, die den Zustand usus (bloßes Nutzungsverhältnis) und auctoritas (Notwendigkeit einer Vindikationsunterstützung durch den auctori) auf ein Jahr und bei Grundstücken auf zwei Jahre beschränken26. Da die Ersitzung richtiger Ansicht nach noch zur Zeit der Zwölftafeln auf res mancipi beschränkt war27, also sich im Kaufrecht auf Personen, Grundstücke und Großvieh bezog, die nach den Zwölftafeln zur Übereignung eines in einen zeugen­ kundigen Formalakt eingekleideten Barkaufs bedurften, hatte die Ersitzung damals den Hauptzweck, immer dann nach Ablauf einer verhältnismäßig kurzen Frist einen Vollerwerb einer Rechtslage zu rechtfertigen, wenn der zum Vollerwerb des Rechts eigentlich nötige Formalakt unterlassen worden war. Bezogen auf diesen Ausgangs­ punkt, der infolge des gewaltigen Einflusses der Zwölftafeln noch im klassischen Recht erkennbar ist und der auch erklärt, warum es eine formelle dwrtor-Haftung nur für die Manziparion gibt28, wird auch ein klares legislatorisches Motiv der Zwölftafel­ ordnung sichtbar. Dieses Motiv ist noch nicht das des Verkehrsschutzes, sondern daß der Hardening der formalen Gleichheit und Selbständigkeit der Bürger und der Verhinderung von Abhängigkeiten zwischen den Familien.

26 Vgl. das in seinen ersten beiden Worten doch wohl annähernd wörtliche Zitat bei Gcero, Topica 4,23 pCD Tab. 6,3) Usus auctoritas fundi biennium est, .. . ceterarum rerum omnium annus est usus. Besonders klar zur Funktion des auctor, den Vindikationsschutz zu gewähren, B echm ann, Geschichte des Kaufes im römischen Recht (1876) S. 110 ff., 118; vgl. auch K aser, R P I S. 134 ff. Nicht einleuchtend ist allerdings, daß K aser den Erwerb des selbständigen Vindikationsrechts lediglich als privatrechtlichen Reflex der prozessualen „Befreiung vom Erwerbsnachweis“ einklei­ den «'ll]. Damit ist zunächst einmal verkannt, daß, wie die Siedlungsgeschichte beweist, das älteste römische Recht in materiellen Verbandszuständigkeiten dachte. Dazu eingehend B ehrends, Vindikationsmodell S. 1-59 sowie B ehrends, Bodenhoheit S. 192-284. Zudem gibt K aser keinen Grund dafür, warum aus der Befreiung vom Erwerbsnachweis, also aus einem Negati­ vum, ein Positivum, das selbständige Vindikationsrecht wird. Diese Schwäche der prozessualen Erklärung der usus auctontas tritt mit besonderer Schärfe hervor in dem Erklärungsversuch von K u n k e l/M a y e r-M a ly , RR (1987) S. 174, der scharfsinnig erkennt, daß der Fristablauf nach Kaser ja eigentlich nur die Befreiung des auctor von weiterer Unterstützung auslöst. Da dies den Erwerber schutzlos gestellt habe, habe man ihm später, vermutet M ay er-M aly , durch Gewäh­ rung der Vindikation geholfen. 27 So insbesondere K aser, RPR I S. 136; ders., Neue Studien zum altrömischen Eigentum, SZ 68 (1957) S. 131-190, insbes. S. 157 f. mit der Präzisierung, daß die Erstreckung der usucapio auf den „redlichen Erwerber“ von res nec m ancipi jüngeren, postdezemviralen Ursprungs sei; vgl. auch K a se r, SZ 105 (1988) S. 122-164. Diese Auffassung wird durch die bodenrcchtlichen Ursprünge des usus - auctoritas Systems ebenso bestätigt (dazu B ehrends, Bodenhoheit S. 250 ff, 263 ff.), wie durch die Rückschlüsse, die das klassische Recht erlaubt (vgl. die folgende Anmerkung). 28 Vg|. unten Fn. 38 die Zeugnisse dafür, daß noch die Formel der actio Publiciana nur den Zwölftafelfall der manzipationsvermeidenden traditio nennt und noch Gaius die Ersitzung im Fall der manzipationsveimeidenden traditio durch den Eigentümer scharf von den 1rillen der m anci­ patio oder traditio durch den Nichteigentümer trennt. Zur Beschränkung der awctor-Haftung auf die Manzipation K aser, RPR I S. 132, 554.

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Dieses Motiv zeigt sich besonders an folgendem Befund. Es gibt nämlich in den Zwölftafeln nicht nur eine Ersitzung von W irtschaftsgütern, sondern auch eine „Ersitzung** von Ehefrauen. In beiden Rillen regiert ersichtlich der rechtspolitische Wille, Abhängigkeiten unter Bürgern tunlichst zu vermeiden: So wie der Ehemann in der formlosen Ehe nach Jahresfrist möglichst aus der Lage befreit sein soll, daß seine Frau personenrechtlich noch ihrer Herkunftsfamilie zugehört und in gewisser Weise nur von Gnaden des Hauptes dieser Familie bei ihm ist - zur personenrechtlichen Vindikation an ihr berechtigt und in diesem Sinne auctor vst nur ihr Vater29; erst mit der „Ersitzung** tritt die Ehefrau wie in der formellen Konfarreationsehe als materfamitias vollen Rechts in die Familie der neuen Ehe ein und unter das Vindikadonsrecht des Ehemannes so soll auch der Bauer, der ein Grundstück, einen Knecht oder ein Stück Großvieh gekauft, aber nicht manzipiert erhalten hat, mit Zeitablauf (bei Personen ein Jahr, bei Grundstücken zwei Jahre) tunlichst vollgültiger Eigentümer werden. Die Tendenz dieser Regel, Abhängigkeiten zu vermeiden, ist unverkennbar, gerade auch weil die gesetzliche O rdnung Mittel kannte, die Ersitzung, den Eintritt des Vollerwerbs und damit den Rechtsverlust des Interessierten durch ritualisierte Akte der Ersitzungsunterbrechung zu verhindern, im Eherecht wie im Grundstücks­ recht30. Gegenüber dem ausländischen Gast war die Abhängigkeit unvermeidlich, da die Ersitzung das Bürgerrecht verlangte, was insbesondere im Falle eines Grund­ stückserwerbs durch den ausländischen Kaufmann fühlbar werden m ußte; daher war gegenüber einem solchen Gast die Gewährschaft denn auch „ewig** (XU tab. ΙΠ 7)31. Die Tatsache, daß schon die Zwölftafeln die Ersitzung von gestohlenen Sachen ausschließen, scheint nun allerdings für einen modernen Rechtshistoriker, der dabei sein eigenes (vom römischen Recht vielfach beeinflußtes) Recht unvermeidlich mit­ bedenkt, daraufhinzudeuten, daß schon zur Zeit der Zwölftafeln die Ersitzung auch dem Verkehrsschutz diente, also auch demjenigen zum Vollerwerb verhelfen sollte, der vom Nichteigentümer erworben hatte. U nd in der Tat ist der Ausschluß gestohle­ ner Sachen von der Ersitzung nur sinnvoll, wenn auch Sachen ersessen wurden, die 29 Dafür, daß der Brautvater für die Dauer des usus ein auctor w ar, vgl. den Wortlaut der lex Julia de adulteriis von 18. v. Chr. Paulus lb sg de adulteriis Collatio 4,2,3 filia ... quae eo auctore (!; sc. patris), cum m potestate esse, viro in manum convenerit Die oMtorStellung, die der Brautvater hier bei der förmlichen Eheschließung einsetzt, um dem Ehemann die manus zu übertragen, mußte er bei der formlosen Ehe einsetzen, um gegebenenfalls die Freiheit oder den Sutus seiner Tochter gegen die vm dicatio eines Dritten zu verteidigen. 30 Die Ehefrau unterbrach die Ersitzung ihrer eigenen Person, wenn sie für drei Nächte in das Haus ihrer Eltern zurückkehrte (Gaius, 1,111; ΧΠ ub. 6,4), der Grundstückseigentümer die Ersitzung des Eigentums, wenn er auf dem übergebenen Grundstück „Zweige brach“. Vgl. Cicero, De oratore ID 28, 110. 31 Die Meinung, daß die Regel (XU ub. 3,7): adversus hostem aeterna auctoritas bedeutet, der Ausländer werde nie von der Pflicht befreit, seinen Erwerb nachzuweisen, auf daß römisches Gut nicht durch unrechtmäßigen Erwerb dem Bürgervermögen entfremdet werde (so K aser, RPR I S. 136), leuchtet nicht ein. Römisches Eigentum an Handelswaren könnte eine solche Regel nicht schützen, da sie ins Ausland verbracht werden. Vor allem verkennt diese Erklärung, daß der Schwerpunkt der usus-auctoritas-Regel in der Grundstücksnutzung liegt. Die Präposition adversus deutet nicht auf ein Privilegium odiosum; sie heißt einfach, abgeleitet von advertere - zuwenden, „im Hinblick auf“ und bezeichnet in den Zwölftafeln eine freundliche Zuwendung. Es ist eine Privilegierung wie im Fall des absoluten Vonrangs des Termins mit dem Gast (XD tab. Π 2).

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nicht dem Veräußerer gehörten. Aber es wäre gleichwohl anachronistisch, wollte man darum den Zwölftafeln neben dem Wunsch, Abhängigkeiten im Eherecht und im Eigentumsrecht der res mancipi zu bekämpfen, gleichzeitig die Absicht zuschrei­ ben, den Bürgern nach A rt des modernen Verkehrsschutzes ein mit einer vergleichs­ weise sehr kurzen Ersitzungsfrist arbeitendes Recht des Erwerbs vom Nichtberech­ tigten bereitzustellen. Berücksichtigt man den siedlungsgeschichtlichen Ausgangspunkt der usucapio, tritt auch die in den Zwölftafeln vorausgesetzte Ersitzung nicht gestohlener fremder Sachen in einen anderen Kontext. Lehrreich ist hier die usucapio hereditatis^ die im späteren System ein Fremdkörper war. Sie führte schon nach Jahresfrist dazu, daß an einem erbenlosen Nachlaß sich bloßer usus> das heißt N utzung als lediglich tatsäch­ licher H err des Vermögens, in eine allseits anerkannte erbrechtliche Stellung eines pater fam ilias verwandelte, und zwar mit voller Vindikationszuständigkeit ex iure Qumüum an allen vindikationsfahigen Personen und Sachen der Erbschaft32. Dieser alte Fall der Ersitzung, der, wie uns glaubwürdig versichert wird, vor allem der Sicherung der sacra der erbenlos gewordenen Familie diente, zeigt, daß die Ersitzung auch die Aufgabe erfüllte, Güter, deren Zugehörigkeit zum Verband feststand, einem einzelnen Inhaber zuzuordnen. Auctor dieser Ersitzung ist nicht ein anderer Bürger, sondern letztlich die Verbandsordnung oder ihr Repräsentant selbst. D er Grundsatz, daß anerkannter usus an Sachen des Verbandes durch Zeitablauf zu vollem Vindika­ tionsrecht werden soll, wird an diesem Beispiel als ein altes Zuteilungsprinzip der römischen Siedlungsordnung erkennbar. Es ist daher gegen die Folgen dieses - auch in der Ersitzung bloß tradierter res mancipi wirkenden - Zuteilungsprinzips gerichtet, wenn die Zwölftafeln gestohlene Sachen der Ersitzung entzogen oder wenn sie in einer verwandten Regel bestimmten, daß die res mancipi einer Frau in Vormundschaft nur dann ersessen werden können, wenn die Übergabe der Sache mit Zustimmung des Vormunds erfolgt war (ΧΠ tab. V 2). W ir dürfen deswegen auch annehmen, daß nach dem alten Siedlungsrecht eine Ehefrau auch dann über Jahresfrist die materfamilias des Ehemannes wurde, wenn sie ihm nicht vom Inhaber der patria potestas in die Ehe gegeben worden war. Und auch hier wäre übrigens die einschränkende Regel für den Fall des Diebstahls anwendbar, da eine Haustochter in patria potestate Gegenstand eines Diebstahls sein konnte (Gaius Π Ι199). Im übrigen waren alle diese Regeln, wie die Überlieferung eindeudg ausspricht33, ursprünglich objektiv gemeint. Die gestohlene res mancipi oder die ohne Mitwirkung des Vormunds veräußerte res mancipi der Frau war in jeder Hand der Ersitzung entzogen.

32 Vgf. Gaius Π 52-58; K aser , RPR IS . 133 erklärt auch diese uralte usucapio als Folge der mit Fristablauf fortfallenden Pflicht, über den Erwerb Rechenschaft zu geben. Die darin enthaltene Voraussetzung, daß der Kauf und Verkauf von Erbschaften zur Zwölftafelzeit ein regelungsbcdürftiger Vorgang war, und noch dazu in der Gestalt eines Kaufes von einem scheinbaren Erben, ist m. E. anachronistisch. 33 Die Zwölftafelvorschrift VIII 17 ist zwar nicht im Wortlaut überliefert Aber wenn Gaius (Π 45) sagt: Furtrvam (rem) lex X II tabularum usu capi prohibet, so setzt er eine objektiv stilisierte Norm voraus. Auf seine Weise wird der Wortlaut der Zwölftafelnorm ähnlich sachbezogen gelautet

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3. Das Eindringen der naturrecbtlichen bona fides in die Ersitzungsregeln der Zwölftafeln Der selbständige Gedanke des allgemeinen Verkehrsschutzes, der jeden begünstigte und mit innerer Notwendigkeit auch auf die res nec mancipi ausgriff, drang in das Ersitzungsrecht erst mit der naturrechtlichen Theorie der bona fides ein. Wann dies geschah, ist nicht exakt faßbar, allem Anschein nach aber gewiß nicht später als gegen Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. Diese Datierung in Form eines Terminus ante quem ist dadurch erleichtert, daß die naturrechtliche bona fides noch nicht, wie im klassischen (und heutigen) System, in den sachenrechtlichen Guten Glauben und das schuldrechtliche (im klassischen römischen Recht als richterrechtliche Ermäch­ tigung verstandene) Prinzip von Treu und Glauben zerlegt war, sondern ein einheit­ liches verkehrsrechtliches Vertrauensprinzip darstellte, dessen beide Aussagen in ihrer ursprünglichen Verbindung begriffen wurden. Die beiden folgenden Sätze machen den Versuch, diese Einheit zu formulieren und zugleich die Offenheit und Interpretationsfähigkeit des Prinzips in seinen verschiedenen Anwendungen ein­ zufangen. Jederm ann hat die Pflichten der menschlichen Verkehrsgesellschaft, auf deren Einhaltung alle vertrauen, in ihren verschiedenen Verhältnissen zu erfüllen; wer dies tut, wird selbst in seinem berechtigten Vertrauen geschützt “

Bezogen auf ein solches einheitliches Konzept der bona fides, das sowohl im Schuldwie im Sachenrecht gilt, wird eine Entscheidung des Zwölftafelkommentators Sext. Aelius Paetus Catus zum naturrechtlichen bona fides - Kauf, die zugleich durch eine Stelle im Plautus zum bona fide emere beglaubigt wird34, ein wichtiges Leitfossil für die Datierung des ersten Auftretens des naturrechtlichen Vertrauensprinzips, zumal da dieser Jurist als erster Schriftsteller der veteres-]urisprudenz, in dessen Werk noch in der Kaiserzeit die cunabula iuris die Grundprinzipien des Rechts gefunden werden (Pomponius lb sg enchiridii D 1,2,2,38), ein recht deutliches Pmofil hat. Er hat sich als Jurist zur Philosophie bekannt, soweit sie praktischen Zwecken diene; und daß er damit die dualistische, naturrechtlich-bürgerlichrechtliche Rechts­ theorie der veteres meinte, beweist uns Ciceros Definidon dieser Jurisprudenz und die vielfältigen W irkungen, welche dieses dualistische Rechtssystem, wie auch in

haben wie das Q U O D SUBRUPTUM ERIT der lex Atinio. Als nicht weniger objektiv formuliert wird uns die Vorschrift XII tab. V 2 (Gaius Π 47: mulieris. . . res mancipi usu capi non poterant) überliefert. In beiden Rillen hat die Sinnauslegung der jüngeren veteres den Wortlaut einge­ schränkt, allerdings nur im zweiten Fall mit dauerhafterem Erfolg. 34 Den ältesten Beleg des bona fide emere finden wir in Plautus, Mostellaria 669-672. Auf die Worte des Sklaven Tranio: de viano hocproxumo/tuos emä filius antwortet der überraschte Vater bonan fide (wirklich?), worauf der Sklave die Antwort ins Rechtliche wendet: ή quidem tu argentum redditum ’s tum bona, ή rediliturus non es, non emit bona („wenn Du den Kaufpreis bezahlst, hat er nach gutem Glauben gekauft, sonst nicht“). Ein gutgläubiger Käufer ist also vor allem, wer zahlt; das ist ein Standpunkt, den wir gleich auch in einer Regel des vorklassischen Juristen Rudlius angewendet finden werden. Vgl. zu der Stelle auch Bechmann , Geschichte des Kaufs nach römischem Recht (1876) S. 616 ff.

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dieser Untersuchung an zentralen Beispielen gezeigt, auf die Zwölftafelauslegung ausgeübt hat35. Erst die Lehre von einem Vertrauensprinzip, das die Verkehrsgesellschaft der societas vitae beherrscht, läßt den (bis heute fbrtwirkenden) Gedanken entstehen, daß das Vertrauen eines redlichen Erwerbers, Eigentum erworben zu haben, geschützt sein sollte. Auch die bisherige Lehre spricht dafür, daß es erst unter der W irkung dieses Prinzips zu der Ausdehnung der Ersitzung auf die res nec mancipi kam. Denn erst seitdem dieses Prinzip anerkannt worden war, gab es den „redlichen“ Erwerber, von dem Kaser spricht, um die Erweiterung der usukapionsfahigen Sachen auf die res nec mancipi zu beschreiben36. Es gibt dafür auch noch ein deutliches Indiz. Wie Lenel gezeigt hat, schützte die spätrepublikanische actio Publiciana, die dem Ersitzungsbesitzer einen Herausga­ beanspruch gegen Dritte gab, nach Verheißungsedikt und Musterformel nur denjeni­ gen, der eine res mancipi durch bloße Übergabe erworben hatte, richtete sich also noch an dem Zwölftafelrecht aus; der Schutz des gutgläubigen Erwerbers einer res nec mancipibheb dagegen, wie Lenel bemerkt, der Jurisprudenz überlassen37. Angesichts der literarischen Kontinuität, die durch den Zwölftafelkommentar des Sext. Aelius in die Zeit des ausgehenden 3. Jh.’s zurückgeht, stellt dieser Befund ein sehr starkes Indiz dafür, daß die tvterr^Jurisprudenz in den Zwölftafeln tatsächlich eine auf die res mancipi beschränkte Ersitzungsregelung vorfand und durch das bona fides - Prinzip auf res nec mancipi erweiterte. War das naturrechtliche Vertrauensprinzip einmal in das Ersitzungsrecht der Zwölftafeln eingeführt - und wir werden für seine Anwen­ dung auf die Ersitzung einer res mancipi gleich ein Beispiel aus dem 2. Jh. v. Chr.

35 Vgl. die Annahmeverzug-Entscheidung des Sext. Aelius, dessen Interesse an praktischer Rechts­ philosophie bereits oben Fn. 9 erörtert wurde, bei Celsus 8 digestorum D 19,1,38,1. Daß Celsus bei einer so einfachen Entscheidung (der Käufer, der die Leistung nicht annimmt, schuldet den Verzögerungsschaden) auf die Inkunabeln des vorklassischen Rechts zurückgreifen mußte, er­ klärt sich aus den Leistungsgrenzen des klassischen Vertragsrechts, dic Celsus als Meister der a n b o n i e t a c q u i behutsam zu erweitern bestrebt war. Dazu bereits B eh ren d s, Institutionelles und prinzipielles Denken, SZ 95 (1978) S. 198 ff. 36 Vgl. oben Fn. 27. 37 Vgl. L enel, Edictum perpetuum (1927)3 S. 170, 172. Die von Lenel erörterte Frage, ob es zum Schutz des Ersitzungsbesitzers zwei KJagbehelfe gegeben hat, bedarf im übrigen einer neuen Untersuchung. Während Lenel in seinen Beiträgen zur Kunde des prätorischen Edikts (1887) zwei Edikte für die publizianischc Klage ansetzte, weil Gaius IV 36 eine Musterformel ohne b o n a f i d e s hat, während Ulpian 16 ed D 6,2,7,10 ein Edikt mit ausdrücklicher Erwähnung der b o n a f i d e s voraussetze, hat er in einer weiteren Abhandlung, SZ 20 (1899) S. 11 ff., 25 ff., wahrschein­ lich gemacht, daß Ulpian ursprünglich eine Schriftformel mit b o n a f i d e s kommentierte, diese aber (trotz Gaius IV 36) zur regulären, im Edikt verheißenen Musterformel erklärt. Vgl. zu dieser Unstimmigkeit auch K aser, RPR I S. 439 mit Fn. 7. Mernes Erachtens ist ohne die Annahme zweier Formeln nicht auszukommen (vgl. auch die folgende Anmerkung), und zwar nach dem Muster anderer Dubletten, bei denen die eigentlich prätorische Formel von einem Verheißungs­ edikt eingeleitet wurde, während die an älteres b o n a f i d e s Recht anknüpfende Formel ohne Verheißungsedikt auskam (z. B. beim p ig n u z , bei der n e g o tio r u m g e s tw , beim d e p o s itu m und c o m m o d a t u m ) . Für das klassische Ediktssystem würde diese Analogie bedeuten, daß die vorklas­ sische Formel, die den b o n a ^e-U sukapicnten schützte, etwas später (und daher an zweiter Stelle) in das Edikt rezipiert (und dort lediglich proponiert und nicht verheißen) worden wäre.

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kennenlemen mußte eine von ihm geprägte Ersitzung alsbald allgemeine Geltung beanspruchen und auf res nec mancipi ausgreifen. Zwar gehört der Gegensatz zwischen der actio Publiciana, die als Klage des klassischen Edikts legis supplendi gratia demjenigen zur Hilfe kam, der nach Zwölfta­ felrecht eine vom Eigentümer tradierte res mancipi ersaß und den Besitz an ihr verloren hatte, und dem Klagschutz für den, der bonafide die ihm vom Nichteigentü­ mer manzipierte oder tradierte Sache in Eigenbesitz genommen hatte, schon dem neuen klassisch-institutionellen Recht an, dessen bona fides Begriff nicht m ehr der naturrechtliche des Vertrauensprinzips ist. Im klassisch-institutionellen Recht bezeichnete die bona fides im Ersitzungsrecht einfach den (in die modernen Rechte übergegangenen) Guten Glauben, cL h. die Überzeugung des Erwerbers, daß der Veräußerer Eigentümer ist. Beim formlosen Erwerb einer res mancipi vom Eigentü­ m er bedurfte es eines solchen Guten Glaubens nicht Daher enthielt die im Edikt verheißene, auf den Fall der formvermeidenden traditio gestellte actio Publiciana, die wahrscheinlich von 67 v. Chr. ist, selbst auch gar keinen Hinweis auf die bona fides, da der von ihr geschützte Besitzer, wenn auch formlos, vom Eigentümer erworben hatte38. Die Ersitzung wurde in der klassischen, in der späten Republik beginnenden Epoche dann auch nicht m ehr mit Hilfe des naturrechtlichen Gedankens des ver­ kehrsfreundlichen Vertrauensschutzes gerechtfertigt, sondern nüchtern mit dem objektiven N utzen einer Regel, die Eigentumstitel durch Zeitablauf außer Streit stellt39. Dennoch erlaubt dieses klassisch-institutionelle Recht noch Rückschlüsse auf das von ihm umformulierte ältere Recht, da Zielsetzung und Technik der Umformu­ lierung im wesentlichen zutage liegen. Stets ging es um die Beseitigung des N atur­ rechts, hier des naturrechtlichen Konzepts der bona fides. Die ältere naturrechtliche bona fides hatte sich nicht auf die Frage beschränkt, ob der Erwerber den Veräußerer für den Eigentümer hielt, sondern fragte viel grundsätzlicher, ob derjenige, der sich auf sie berief, denn auch seine ihm im mitmenschlichen Verkehr obliegenden Pflich­ ten erfüllt habe. Daher erfaßte die naturrechtliche bona fides gerade auch den ur­ sprünglichen Kern des Ersitzungsrechts der Zwölftafeln und konnte folglich auch in den Fallen, in denen der Eigentümer (!) keine gültige Manzipadon vomahm, sondern nur tradierte, prüfen, ob eine Ersitzung stattfinden könne oder nicht. Und dies geschah in der Zeit der fundatores durchaus mit ersitzungsfreundlicher Tendenz.

38 Vgl. die voraufgehende Anmerkung und die Darstellung Gaius Π 40-43. Zunächst schildert Gaius (II40-42) die formvermeidende traditio von res m ancipi und beendet diesen Abschnitt mit einem Hinweis auf das Zwölftafelrecht. Von bona fides ist hier ebensowenig wie in der dazugehö­ rigen Schriftformcl der actio Publiciana (IV 36) die Rede. Dann heißt es Gaius Π 43 Ceterarum etiam rerum usucapio nobis conpctit, quae non a dom ino nobis traditae fuerit, srve m ancipi sint eae res sive nec m anctpi, si m odo eas bona fid e acceperimus, cum crederemus eum , qui traderet, dommurn esse.

Diese sorgfältige Systematik deutet darauf, daß die eine textgebundene Interpretation vertretende klassischejurisprudenz nur noch die Ersitzung nach form vermeidender traditio aus dem Wortlaut der Zwölitafeln ableitete. Zur Datierung der actio Publiciana, die dem Zeitansatz für andere typische Schöpfungen der beginnenden klassischen Jurisprudenz entspricht (vgl. u. S. 233), K a se r, RPR I S. 438 Fn. 2. 39 Vgl. Gaius Π 43/44; diese „positi vistische“ Rechtfertigung der usucapio zuerst bei G cero, Pro Caecina 26,74 (die Rede ist von 71 v. Chr.; vgl. unten Fn. 194).

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Eine solche Entscheidung ist uns für den Fall einer vom Eigentümer unwirksam manzipierten und daher nur tradierten res mancipi auch überliefert. Sie betrifft das mit dem Ersitzungsverbot für gestohlene Sachen verwandte Ersit­ zungsverbot für solche res mancipi einer Frau, die diese ohne Vormund tradiert hatte40. D er Proponent der ersitzungsfreundlichen Ansicht war der Konsul von 105 Rudlius Rufus, der als älterer Freund des Q . Mucius (Konsul 95), des großen Sohnes des Konsuls von 133 P. M udus, dem Gesprächskreis der lex-Atmia-Ockyaxxe ganz nahe stand41, iragm . Vat. 1 Qui a m uliere sine tutoris auctoritate sciens rem m ancipi em it v e lfalso tutore auctore quem sciit non esse42, non videtu r bona fid e emisse; itaque e t veteres putant et Sabinus et Cassius scribit ... Iuiianus propter Rutilianam constitutionem eum , qui pretium m ulieri dedisset, etiam usucapere et ή ante usucapionem offerat m ulier pecuniam , desinere eum usucapere.

(Wer von einer Frau ohne Autorisation durch den Vormund wissentlich Grundstücke, Sklaven oder Großvieh kauft oder unter Autorisation durch einen nicht legitimierten Vormund, von dem er dies wußte, der hat ersichtlich nicht nach den Regeln des Vertrauensprinzips gekauft. Und das meinen die alten Juristen auch und schreiben Sabinus und Cassius.. .Julian sagt, wegen der Regel des Rutilius würde derjenige, welcher der Frau den Kaufpreis übereignet hätte, sogar ersitzen, und wenn die Frau ihm das Geld vor Vollendung der Ersitzung anbietet, würde die Ersitzung aufhören.)

EHe veteres und die Sabinianer wollten dem vorklassischen Vertrauensprinzip nicht mehr entnehmen als einen Schutz für den, der an die Echtheit eines Vormunds geglaubt hatte434. Rutilius ging weiter. Er wollte auch den Käufer schützen, den uns Plautus als den typischen bona fide emptor nennt, den nämlich, der zahlt (o. Fn. 34). U nd als Ausprägung eines verkehrsschützenden Vertrauensprinzips überzeugt seine consütuäo*4: Wer den Gegenwert geleistet hat - und auch nicht, falls angeboten, die Rücknahme des Geldes verweigert -, braucht sich angesichts eines von beiden Seiten verwirklichten und aufrechterhaltenen Tausches gegenüber dem geschützten Vermö­ gen der Frau unter Vormundschaft nichts vorzuwerfen. Er hat sich als fairer Tausch­ partner bewährt. Daher kann ihm - entgegen dem Wortlaut des Gesetzes (o. Fn. 34) die Ersitzung gestattet werden. Heute nennt man eine solche Rückführung des Gesetzes auf den Umfang, der von seinem Zweck gedeckt ist, eine teleologische Reduktion. Es ist das alte ratione cessante legis cessat lex ipsa, angewendet auf einen 40 Vgl. auch Gaius Π 47 . . . ohm mulieris quae in agnatorum tutela erat, res mancipi usucapi non poterant, praeterquam si ab ipsa tutore auctore traditae essent; idque iLi lege X'11 tabularum cautum

eraL 41 Vgl. W ieacker, RG I S. 511, 531. 42 War der Erwerber hinsichtlich der Berechtigung des falschen Tutors gutgläubig, waren die Gebote des Vertrauensprinzips nach Überzeugung der veteres gewahrt. Dahn liegt ein deutlicher Hinweis darauf, daß es aus dem ueferes-Recht kommt, wenn in den späteren Quellen nicht nur der gute Glaube an das Eigentum geschützt wird, was dem klassischen Recht entspräche (vgl. oben Fn. 38), sondern auch die Gutgläubigkeit hinsichtlich der Verfügungsmacht. 43 Eine solche maßvolle Erweiterung des Gutglaubensschutzes auf die Verfügungsbefugnis ent­ sprach später allgemeiner Meinung (Kaser , RPR 1S. 422 mit Fn. 46), war aber natürlich mit dem klassischen Ausgangspunkt (vgj. oben Fn. 38) ebenso wenig vereinbar wie mit dem heutigen Gutglaubensrecht. 44 Zur Tatsache, daß Urheber der constitutio Rudlius Rufus war. W ieacker , RRG I S. 544 Fn. 97 und Behrends , Index 19 (1991) S. 205 und Fn. 53 (S. 211 f.)

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konkreten Fall45. Die Regel des Rutilius findet sich im übrigen auch sonst. So heißt es zur Abgrenzung zwischen bös- und gutgläubigem Besitzer in der Erbschaftsheraus­ gabeklage: Niemand ist ein bösgläubiger Besitzer, der den Preis bezahlt hat {nemo praedo [= m alaefideipossesot] est quipretium solvit)46. Und unter dem Gesichtspunkt, daß nur (!) eine effektive (im zuerst besprochenen Fall war es eine mangels Rückzah­ lung effektiv gebliebene) Zahlung den kauffechtlichen Erwerber gutgläubig macht, konnte sogar im allgemeinen Ersitzungsrecht diskutiert werden, ob jemand, der an den Veräußerer unter Umständen zahlt, die eine wirkliche Bereicherung seines Ver­ mögens höchst zweifelhaft machen, etwa ihm das Geld überreicht, während er auf dem Weg zum Bordell ist, noch als gutgläubig gelten kann. Das ist nicht die Gutgläubigkeit des klassischen Rechts, welche grundsätzlich nur fordert, daß der Erwerber an das Eigentum des Veräußerers glaubt (o. Fn. 38), sondern das vorklassische Vertrauens­ prinzip des Naturrechts, wie es auch der constitutio Rutiliana zugrundeliegt und das in jenem Fall die Frage zu erörtern erlaubte, in welchem Maße das Recht jemanden zum H üter der Interessen seines Gegenübers im Verkehr machen soll47.

4. Die pflichtentheoretische Interpretation des Ersitzungsverbots der Zwölftafeln und die Wiederherstellung seiner sachenrechtlichen Bedeutung Der Weg, auf dem die Jurisprudenz der fundatores mehrheitlich zu dem Ergebnis kam, daß der gutgläubige Erwerber auch eine gestohlene Sache ersitzen könne, der Gute Glaube also (wie in der zehnjährigen Ersitzung beweglicher Sachen des heuti­ gen BGB) stärker sei als die Regel, daß gestohlene Sachen der Ersitzung entzogen sein sollten, ist dank der literarischen Kontinuität der römischen Rechtswissenschaft noch recht gut erkennbar. Das Hauptargument scheint gewesen zu sein, daß das Gesetz, wenn man es richtig verstehe und seine Regelung auf das naturrechtliche Verkehrs­ recht beziehe, nicht an ein vitium rei, sondern an ein vitium personae anknüpfe und daher nur denjenigen von der Ersitzung ausschließen wolle, dem ein persönlicher Verstoß gegen die Prinzipien der Verkehrsgesellschaft vorgeworfen werden könne. Die Überlieferung läßt auch noch erkennen, daß erst die lex Atinia wieder erlaubte, umgekehrt zu argumentieren und unter Betonung des Vorrangs einer lex stricta gegenüber der bona fides festzustellen, daß die Zwölftafeln nicht den Dieb von der Ersitzung ausschließen wollten, sondern die gestohlene Sache. Diese Gesichtspunkte und Äußerungen sind in der Überlieferung noch so deutlich vorhanden, daß angesichts der Kontinuität der Literatur kaum ein Zweifel daran möglich ist, daß hier tatsächlich von dem vor- und dem nachatinischen Rechtszu45 Vgl. H ans F. Brandenburg , Teleologische Reduktion. Grundlagen und Entwicklung der auslegungsunterschreitenden Gesetzesauslegung im Privatrecht (1983); D etlef L iebs, Lateini­ sche Rechtsregcln und Rechtssprich Wörter (1991)5 S. 38. 46 Ulpian 15 ad edictum D 5,3,13,8 (= D 50,17,126 pr); wer gezahlt hat, ist vielmehr bonae fidei possessor der hereditas. 47 Vgl. Julian 4 ex Minicio D 41,4,8. Eine mitmenschliche Pflicht, den Nächsten vor Verschwendung zu schützen, ist dem klassischen Recht fremd. Daher wird sie auch von Julian abgclchnt. Innerhalb der sabinianischcn Rechtsschule wurde aber diese extreme Meinung diskutiert.

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stand die Rede ist. Da wir die Quellen gewissermaßen von rückwärts lesen müssen, beginnen wir am zweckmäßigsten mit dem nachadnischen Zustand. Für ihn gilt der zur lex Atinia überlieferte Satz: Ubi lex inhibet usucapionem, bona fides possidenti nihil prodest (wo ein [striktes] Gesetz die Ersitzung verhindert, nützt clie [naturrechtliche] bona fides nichts)48. Dieser Satz, der bezogen auf die zweite Hälfte des 2. Jh. v. Chr. den Sieg der eigentumsfreundlichen Partei formuliert, verwendet für die Zwecke der Gesetzesauslegung den großen rechtstheoretischen Gegensatz, den die veteres-Jurisprudenz macht zwischen dem strikten Bürgerlichen Recht der einzelnen Stadtstaa­ ten, das die Individualrechte und in diesem Fall das Eigentum an Sachen schützt, und dem N aturrecht der societas humana, das von der bona fides beherrscht wird und das Vertrauen jedes Menschen dahin schützt, daß dann, wenn er seine Pflichten erfüllt, er auch mit seinen Interessen berücksichtigt werden wird49. Der Satz bedeutet, daß überall dort, wo das Gesetz mit seiner Regelung nicht hinreicht, die bona fides wieder in ihr natürliches Recht tritt. Was diese Methode leistet, zeigt ihre Anwendung durch Julian auf den Fall der Ersitzung des Kindes einer gestohlenen Sklavin. Julian 44 digestorum D 41,3,33 pr. Non solum bonae fid ei emptores, sed et omnes, qui possident ex ea causa, quam usucapio sequi solet, partum ancillae furtivae usu suum faciunt, idque ratione iuris introductum arbitror: nam ex qua causa quis ancillam usucaperet, nisi lex duodecim tabularuum vel A tm ia obstaret, ex ea causa rtecesse est partum usucapi, si apud eum conceptus et editus eo tem pore fuerit, quo furtivam esse matrem eius ignorabat.

(Nicht nur die gutgläubigen Käufer, sondern auch alle, die [sonst] aus Gründen besitzen, aus denen eine Ersitzung zu folgen pflegt, erwerben das Kind einer gestohlenen Sklavin durch Ersitzung, und das ist, meine ich, der inneren Logik des Rechts folgend eingefühn worden: denn aus dem Grund, aus dem eine Sklavin ersessen würde, wenn nicht das Zwölftalelgesetz oder die Atinia entgegenstünde, aus dem Grunde muß notwendigerweise das Kind ersessen werden, wenn es bei dem Besitzer zu dem Zeitpunkt empfangen und geboren worden ist, zu dem dieser nicht wußte, daß seine Mutter gestohlen worden war.)

Die ratio iuris ist inhaltsgleich mit der systematischen Aussage des Satzes: Ubi lex non prohibet, bona fides prodest Die strikte Norm , die alternativ auf die von der lex Atinia wiederhergestellte Zwölftafclnorm oder die lex Atinia selbst zurückgeführt wird50, steht hier nicht entgegen, weil das Sklavenkind zu keinem Augenblick furtiv gewesen ist, weder im Augenblick der Zeugung noch später. Das Kind ist, da das Gesetz nicht entgegensteht, nach den allgemeinen Ersitzungsregeln ersitzungsfähig. Hatte Julian hier ein Stück Naturrecht freigelegt, so stand ihm wie allen anderen klassischen Juristen umgekehrt fest, daß die lex Atinia - und seit ihr erneut auch die Zwölftafeln - an die Furdvität der Sache anknüpfte. Aber es ist bezeichnend, daß es ausgesprochen werden muß. Wenn Gaius sich in der folgenden Stelle ausdrücklich gegen die Ansicht wendet, daß die Zwölftafeln nur bestimmten, was ohnehin schon aus der bona fides folgt, dann kann das - wieder ist auf die literarische Kontinuität hinzuweisen - kein Zufall sein.

48 Der Satz ist auch in seiner Umkehrung gültig: Ubt lex non prohibet usucapionem, bona fides prodest. 49 Vgl. Cicero, De officiis 1Π 17, 70 und näher dazu u. S. 186 ff. und 222 ff. 50 Vgl. Gaius Π 45 furtrvam {rem) lex X ll tabularum usucapi prohibet, vi possessam lex Julia et PLiutia. Die lex Atmia wird gar nicht erwähnt, wohl die lex Jului et Plautia, deren Funktion unten S. 233 zur Sprache kommt.

Okko Behrends Gaius Π 49 Q u o d .. . vulgo diaturfiatrvarum rerum ... usucapionem per legem ΧΠ tabularum prohibitam esse, non eo pertinet, ut ne ipse fu r ... usucapere possit - nam huic alia ratione usucapio non competit, quia scilicet m ala fid e possidet - sed nec ullus alius, quamquam ab eo bona fid e em erit, usucapiendi ius habeat.

(Wenn gemeinhin gesagt wird, daß die Ersitzung gestohlener Sachen von einer Bestimmung der Zwölftafeln verboten ist, so bezieht es sich nicht darauf, daß der Dieb selbst nicht ersitzen kann * denn diesem steht die Ersitzung schon aus einem anderen Grunde nicht zur Verfügung, weil er nämlich bösgläubig besitzt sondern darauf, daß auch kein anderer, obgleich er gutgläubig gekauft hat, das Ersitzungsrecht hat).

Die von Gaius mißbilligte Ansicht nennt den Gesichtspunkt, der in der Zeit vor der lex A tinia an das Zwölftafelgesetz herangetragen und ihrer Regelung als Modv unterlegt wurde. Es ist die bona fides selbst. Sie führte vor der lex A tinia zu der Feststellung, daß die Entziehung des Ersitzungsrechts nur gegenüber dem Bösgläubi­ gen selbst begründet sei, also gegenüber dem, der durch den Diebstahl eine schwere Verletzung des Vertrauensprinzips begangen hatte, nicht gegenüber dem, der im Verkehr gutgläubig eine fronde Sache kaufte, mochte sie auch gestohlen sein. Seit der lex A tinia war es dagegen möglich zu sagen, was Gaius uns mitteilt: Die Zwölftafeln setzen sich gegenüber dem gutgläubigen Erwerber der gestohlenen Sache durch: Obi lex prohibet usucapionem, bona fides non prodest Wenn der Bösgläubige nicht ersitzen kann, dann folgt das in der Tat einer alia rado, nämlich dem Naturrecht, das von der Zwölftafelbestimmung, die seit der authentischen Interpretation der lex Atinia eine Regel des strengen Rechts meinte, nicht m ehr wie vorher unmittelbar in Bezug genommen wurde, sondern nur noch mittelbar, als der natürliche W iderpart, der überall dort gilt, wo das strikte Recht aufhört. Das jenseits der Grenzen der Verbotsbesdmmung der Zwölftafeln geltende naturrechtliche Prinzip ist nicht von den Zwölftafeln in Kraft gesetzt worden, sondern gilt, um Worte aus einem verwand­ ten Zusammenhang zu nehmen, sua v i ac p o testa ti1. Auf diese Weise wird deutlich, daß die voradnische Zwölftafelinterpretation, die in der Bestimmung die Aussage fand: „Die Vorteile des verkehrsrechtlichen Vertauensprinzips kommen einem Menschen, der das Prinzip verletzt, nicht zugute; daher kann ein Dieb nicht ersitzen“, die Zwölftafelnorm als den gesetzlichen Hinweis auf ein naturrechtliches Prinzip behandelt, während die nachadnische Zwölftafelin­ terpretation die gleiche Bestimmung als einen an der Sacheigenschaft der Furdvität festgemachten Satz des eigentumsschützenden strikten bürgerlichen Rechts behan­ delte und in ihr die Aussage fand: „Im Interesse des Eigentumsschutzes will die gesetzliche Rechtsordnung, daß gestohlene Sachen der Ersitzung entzogen sind.“ Mit anderen, uns von der wissenschaftlichen Tradition zur lex A tinia bewahrten Worten: In der naturrechtlichen Interpretation war die Ersitzung nur kraft eines vitium quae obstabat ex persona, eines rechtsethischen Makels, der die Person dessen, der ersitzen wollte, traf, ausgeschlossen, in der strikten Interpretation des bürger-51

51 Der Sabinianer Gaius IV 10, 33 unterscheidet damit in sehr lehrreicher Weise die Klagen, die, da auf Gesetze zurückgeführt, ad legis actionem exprimuntur, und solche, die sua v i ac potestate constant Die letzteren fallen mit dem Kreis des vorklassischen Naturrechts zusammen, was im Hinblick auf den naturrechtlichen Inhalt der condictio (vorklassische Bereicherungsverhältnisse und vorklassisches mutuum) höchst lehrreich ist, hier aber nur notiert sei. Vgl. unten Fn. 122.

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liehen Rechts schon aus einem vitium ex re. Diese Unterscheidung zwischen vitium ex re und vitium ex persona oblata findet sich in einem Zusammenhang, der Vorge­ schichte und Tendenz des Gesetzes in ein helles Licht stellt. Die lex Atm ia hatte nämlich in einer bekannten Zusatzregelung vorgesehen, daß die Sache ihre Ersitzungsunfahigkeit verliert, wenn sie in die potestas domini (nach älterer vorklassischer Interpretation; in die O bhut des Bestohlenen) zurückkehrte52. In einem Pomponius-Fragment zum Ius dvile des Q . Mucius, dem wir auch die nachadnische Formel von der Ohnm acht des Vertrauensprinzips gegenüber einem verbietenden Gesetz verdanken, wird diese Regelung als purgatio eines vitium ex re eingeordnet und zugleich zu verstehen gegeben, daß ein vitium ex persona auf diese Weise nicht ausgeglichen werden kann. Pomponius 24 ad Quintum Mucium D 41,3,24 pr. U bi lex inhibet usucapionem, bona fides possidenti nihil prodest 1 Interdum etiam si non fuerit inchoata usucapio a defuncto, procedit heredi eius: velu ti si vitiu m , quod obstabat non ex persona, sed ex re, purgatum fuent, ut puta ä . . . res esse d esierit. . . fu rtiva . . . .

(Wo das [strikte] Gesetz die Ersitzung verhindert, nützt das [naturrechtliche] Vertrauensprinzip dem Ersitzenden nichts. 1. Bisweilen gelingt die Ersitzung, obschon sie vom Erblasser nicht begonnen worden war, dessen Erben. Zum Beispiel wenn der Makel, der nicht in der Person, sondern in der Sache begründet war, bereinigt worden ist, zum Beispiel wenn die Sache aufhörte, eine gestohlene Sache zu sein.)

Die Unterscheidung zwischen den beiden vitia ist lehrreich: Der Makel einer Person knüpft an eine Verfehlung an und drückt ein rechtsethisches Unwerturteil aus. D er Makel einer Sache ist nicht rechtsethischer Art, sondern drückt aus, daß die Sache für den Erwerber einen Mangel hat, hier den, nicht ersessen werden zu können. Die Unterscheidung folgt wie die Maxime, daß ein striktes Gesetz das Vertrauensprinzip verdrängt, ganz dem Dualismus der ^eien?s-Jurisprudenz und gestattet einen Blick darauf, wie der Inhalt dieses Gegensatzes in der Generation der fundatores gefaßt wurde. Das Naturrecht stellt die menschliche Person in die offenen Zusammenhänge der naturrechtlichen Pflichten und bewertet ihr Verhalten. Das strikte Recht regelt die Rechte der Personen und Sachen in den engeren Strukturen des Bürgerlichen Rechts; trifft es Bestimmungen über Sachen, ergeben sich strikte Eigenschaften, hier die

52 Vgl. Paulus 54 ed D 41,3,4,6 Q uod autem dicit lex A tm ia, ut res furtiva non usucapiatur, nisi in potestatem eius, cui subrepta est, revertatur, sic acceptum est, ut m dom ini potestatem debeat reveni, non in eius utique, cui subreptum est igitur creditori subrepta et ei, cui com m odata est, in potestatem dom ini redire debet In der gesetzlichen Kegel verwirklicht sich offensichtlich der Gedanke, daß die

Erwerbsunfähigkeit der Sache irgendwann ein Ende haben soll. Man kann darin ein wohlerwo­ genes Entgegenkommen gegenüber der unterlegenen Seite sehen, die ja das vitium rei als Ersitzungshindcmis ganz ablehnte. Der in gesellschaftlichen Pflichten und Pflichtverletzungen denkenden vorklassischen Jurisprudenz entsprach die im Wortlaut des Gesetzes vorgesehene Regel, daß die Rückkehr zum Bestohlenen zur Reinigung der Sache ausrcichte; denn sie machte die Tat jedenfalls, was die gestohlene Sache betraf, rückgängig. Die das Gesetz restriktiv ausle­ gende Forderung einer reversio ad domtruum dürfte dagegen auf die eigentliche klassische Jurispru­ denz zurückgehen und ihrer ursprünglichen besitzindividualistischen Überzeugung entsprechen, daß der Diebstahl den Eigenbesitz verletzt, der sich grundsätzlich nur beim Eigentümer findet. Vgl. dazu noch u. S. 230.

Okko Behrends

Unfähigkeit, ersessen zu werden. Es entspricht auch den Kategorien des älteren Rechts, daß es eine purgatio personae in diesem Fall nicht gab, wohl aber eine purgatio reu Wer stiehlt, verletzt das Naturrecht und kann nachher dem Makel der Tat nicht entgehen, auch nicht dadurch, daß er einen Vergleich schließt oder die Diebstahls­ buße zahlt. Eine den Leumund der Person wiederherstellende purgatio furti gab es nicht53. N ur bei geringfügigeren Pflichtverletzungen kennt das vorklassische Recht die Bereinigung einer Pflichtverletzung, nämlich in Gestalt der von Celsus unter großen Bedenken als aequitas-KomVxur in das klassische Recht rezipierten purgatio morae: Wer in Verzug gekommen ist, kann den Verzug durch erneutes Anbieten der Leistung bereinigen und damit auch seine eigene Person mit allen Konsequenzen von dem Vorwurf befreien, sich vertragswidrig verhalten zu haben54. D er Makel der gestohlenen Sache endet dagegen, wenn die Sache in den Besitz des Bestohlenen, später des Eigentümers zurückgekehrt ist. Damit ist den Prinzipien des Bürgerlichen Rechts im engeren Sinne gegenüber den Werten des verkehrsfreundlichen Natur­ rechts Genüge getan. Die Sache untersteht, erneut in den Verkehr gebracht, wieder den allgemeinen naturrechtlichen Regeln und kann gutgläubig ersessen werden. Die enge Beziehung zwischen dem Inhalt der Stelle Pomponius 24 ad Quintum Mucium D 41,3,24 pr. und dem Recht vor und nach der lexA tinia, die in dem bisher Dargelegten hervorgetreten ist, erklärt sich durch die Inskription. D er Urheber des von Pomponius kommentierten Werkes De iure civili ist ja kein geringerer als der Sohn des Publius Mucius (Konsul 133), also der Sohn eines der Gesprächsteilnehmer. Und Quintus Mucius, Publii filius ist es auch, der uns durch weitere Fragmente die sprachtheoretischen Feinheiten dieser Diskusion verständlich machen wird. Die Beschränkung des Ersitzungsverbots auf das vitium personae, auf den Vorwurf der Betätigung einer diebischen Gesinnung, und die korrespondierende Ermög­ lichung der Ersitzung auch gestohlener Sachen muß in jenen Jahren vor der lex Atinia eine spürbare Einschränkung des Eigentumsschutzes bewirkt haben. Die Frage gewinnt Brisanz, wenn man bedenkt, daß nach der veteres - Dogmadk, die einen naturrechtlich-weiten Diebstahlsbegriff hatte, auch Grundstücke als gestohlen ange­ sehen wurden, wenn sie der Besitzer ohne Genehmigung des Eigentümers veräu­ ßerte55. War bisher ein von einem Dritten gewaltsam okkupiertes oder von einem Pächter veruntreutes Grundstück vor jedem Rechtsverlust gefeit, so konnten Grund­ stücke nunmehr von einem gutgläubigen Dritten, der sie erwarb, binnen einer Frist von zwei Jahren ersessen werden. Was ein solches Recht bedeutete, bezeugt uns Gaius, zu dessen Zeit die resfurtiva Regel Grundstücke aus einem anderen Grund nicht mehr schützte, - nicht mehr, wie in vonatinischer Zeit infolge der Beschränkung des Ersitzungsverbots auf den Dieb

53 Auch der Vergleich, den der Dieb über den Diebstahl schloß, schloß nach der lexJulia muruapahs 110 von dem Gemeinderat aus. Vgl. H uvelin , Furtum D (1915) S. 482 ff. (484). 54 Vgl. K aser, RPR I S. 516 mit Fn. 28. Die moralische Sprache ist zu Unrecht der Unechtheit verdächtigt worden; sic stammt aus dem vorklassischen Naturrecht. Vgl. dazu oben Fn. 35 sowie B ehrends in der Rezension von Scarano Ussani, Valori e storia nella cultura giuridica, Gnomon 55 (1983) S. 238. 55 Vgl. dazu den Schlußabschnitt S. 225 ff.

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selbst, sondern, weil die ueteres-Lehre, daß Grundstücke gestohlen werden konnten, unter dem Einfluß des klassischen Rechts endgültig verworfen worden war: W ürden Grundstücke, die durch Nachlässigkeit oder Abwesenheit des Eigentümers oder durch Erbenlosigkeit vakant seien, eigenmächtig in Besitz genommen und bearbeitet, und veräußerte einer dieser bösgläubigen Besitzer als Eigentümer auftretend ein solches Grundstück, verschaffe er jedem gutgläubigen Erwerber Ersitzungsbesitz; und nach zwei Jahren sei der Erwerber Eigentümer56. Bei solchen Vorgängen standen in beiden Epochen sehr reale Interessen der Boden­ ordnung auf dem Spiel. Zugleich konnte eine ersitzungsfreundliche Dogmatik stets für sich in Anspruch nehmen, agrarpolitisch etwas Richtiges zu vertreten, begünstigte sie doch Landwirte, die fähig und bereit waren, für das Land etwas zu zahlen. Man sollte nicht einwenden, es sei anachronistisch, die Hinweise bei Gaius, die der Mitte des 2. Jh. nach Chr. angehören, dazu zu verwenden, Vorgänge der Mitte des 2. Jh. vor Chr. besser zu verstehen. Das Ausgangsproblem, die Ungleichverteilung des Bodens, der zu Großgrundbesitz führte, der nicht mehr effektiv bewirtschaftet wurde oder brach lag, bestand in beiden Epochen. Und es ist eine allgemeine Beobachtung, auf die schon Max Weber hingewiesen hat, daß die Antike mit ihren eher stationären Lebensverhältnissen sich auch in ihren Krisen periodisch wiederholte57. W ir können festhalten. Die Frage der Ersetzbarkeit von Sachen, so rechtstechnisch sie klingt, hatte rechts- und ordnungspolitische Brisanz. Man darf daher auch glau­ ben, daß die erste, größere, konkrete Entscheidung, die aufgrund des neuen, durch Interpretation gewonnenen Rechts dem gutgläubigen Käufer einer entwendeten oder veruntreuten Sache Recht gab, in den betroffenen Kreisen große Unruhe ausgelöst und den Wunsch hervorgerufen haben wird, doch recht bald zum Zwölftafelrecht zurückzukehren, wenn nötig, mit Hilfe eines Gesetzes. Daß sich in einer solchen Lage dann auch bald ein Volkstribun fand, der ein entsprechendes Gesetz vor die Plebs brachte, ist nur natürlich, zumal da es nicht schwer fallt, sich an seiner Seite einen Juristen vorzustellen, der - aus welchen Gründen immer - bereit war zu helfen. Daß die lex Atinia von Juristen redigiert worden ist, kann man als sicher ansehen. Weit stärker als bei der lex agraria des Volkstribunen Tiberius Gracchus des Jahres 133, bei der die Mitwirkung der Juristen überliefert ist58, war die lex Atm ia ein Gesetz im Dienste der Klärung spezifisch juristischer Fragen. Die nähere Datierung des gewiß zu Lebzeiten der drei Diskutanten ergangenen Gesetzes ist zwar im einzelnen unbestimmt. Die von Rotondi vorgeschlagene 56 Gaius Π 51 Fundi quoque alieni potest aliquis sine v i possessionem nancisci, quae vel ex neglegentia domini vacet, vel quia dominus sine successore decesserit vel longo tempore afuerit: quam si ad alium bona fide accipientem transtulerit, poterit usucapere possessor, et quamvis ipse, qui vacantem possessio­ nem nactus est, intellegat alienum essefundum, tamen nihil hoc bonae fulci possessori ad usucapionem nocet, cum inprobata sit eorum sententia, qui putaverint furtwum fundum fieri posse. Dic Stelle geht vom Recht der lex Plautia aus, dic gewaltsam in Besitz genommene Grundstücke der Ersitzung entzog (vgl. zu ihrem Motiv u. S. 233), kennt aber nicht mehr den Gedanken, daß auch Grundstücke gestohlen werden können. 57 Vgl. M ax W eber, Wirtschaft und Gesellschaft Kap. 8 § 6 (cd. W inckelm ann) S. 682. 58 B ehrends, Tiberius S. 75 f., 84 f.

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Datierung: „vor 149“, also vor dem Konsulat des Manilius, ist nicht näher begrün­ det, da Manilius sehr wohl auch als Konsular an der Diskussion teilgenommen haben kann. Ein Terminus ante quem ergibt sich jedoch daraus, daß Q . Mucius (Konsul 95) zu jung gewesen sein m uß, um am Gespräch teilnehmen zu können. Die Debatte kann im übrigen durchaus auch vor oder bald nach dem Konsulat des P. M udus, also um das Jahr 133 herum , stattgefunden haben. Damit tritt dann auch ein möglicher Kandidat für die Gesetzgebung in das Blickfeld, nämlich in Gestalt des C. Atinius Labeo Macerio, Volkstribun von 13259. Für das Jahr spricht, daß eine Gesetzgebung, die eine Interpretation voll naturrechtlichen Engagements wieder zurückdrängt, nach der schweren Niederlage, welche die politische Naturrechtsidee im Jahre 133 m it dem Zusammenbruch der Reformpolitik des Tiberius Gracchus erlitten hatte, nicht femliegt. Der juristische Kopf hinter dem Gesetz braucht im übrigen nicht notwendig ein Mann wie Tubero gewesen zu sein, den wir als Gegner der mit der Politik des Tiberius sympathisierenden Jurisprudenz der boni vm erkennen60; da das Gesetz mit seiner Regelung, daß die Rückkehr der Sache zum Bestohlenen das Ersitzungshindemis der Furdvität beseitigte, auch eine deutliche Konzession an die Bedürfnisse des gutgläubigen Verkehrs enthält (o. Fn. 52), kann der juristische Berater auch ein Mitglied des Gesprächskreises gewesen sein, der etwa der zunächst erfolgreichen Interpretation schon früher zurückhaltend gegenüber­ gestanden hat. Das Plebiszit war ein voller Erfolg. Die Zwölftafelregelung wurde wieder in Kraft gesetzt, und zwar mit solcher Prägnanz, daß, wie schon bemerkt (o. Fn. 19) die spätere Überlieferung das wiederhergestellte Recht teils auf die Zwölftafeln, teils auf die lex Atmia^ teils auf beide Gesetze zurückführte.

5. Die authentische Interpretation und ihr Verhältnis zur klassischen Derogatwnstheone Einer kurzen näheren Erörterung bedarf noch die Frage, wie es sich erklärt, daß die Juristen die beiden Gesetze, das ältere und das jüngere, nebeneinander gelten ließen und nicht lehnen, daß die Zwölftafelregelung von der lex Atinia derogiert worden 59 Vgl. K lebs RE (18%) s. v. Atinius 10) Sp. 2106, wo vermerkt ist, daß auch ein plebiscitum Atinium, welches das Recht der Volkstribune, den Senat zu versammeln, auf senatorische Volkstribune beschränkte (vgl. Ateius Capito bei Gelhus 14,8,2) in diese Zeit gehört und daher auch in eine - unsichere - Verbindung mit dem hier in Frage stehenden Tribunen gebracht werden kann. Hervorhebenswert ist dessen Konflikt mit dem Censor Caecilius Metellus, dem bekannten Feind des jüngeren Scipio Africanus, der ihn in seinem Tribunatsjahr 132 aus dem Senat stieß; Atinius versuchte sich am Censor zu rächen, indem er nach sehr alten rechtlichen Präzedenzien dessen Vermögen konsekrierte; der Vorfall läßt erkennen, daß Atinus Zugang zu rechtlichen Informationen hatte. Vgl. M ünzf.r RE (1897) s. v. Caedlius Sp. 1215. Der Volkstribun von 197, C. Atinius Labeo, dessen Urheberschaft noch nach K ARlo w a , Römische RecliLsgeschichte 1 (19C1) S. 407 die „gewöhnliche und wahrscheinlich richtige“ Annahme war, führt, wenn man die Vorgeschichte des Gesetzes bedenkt, auf ein viel zu frühes Datum und würde der Debatte alle Aktualität nehmen. Vgl. in diesem Sinn mit weiterer Literatur zur Datierung W ieack er, RRGI (1988) S. 284 Fn. 73 und 75. 60 Vgl. zu Tuberös Stellung Behrends, Tiberius S. 26, 77.

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war. Die Antwort findet sich erneut in dem vorklassisch-klassischen Gegensatz: Das klassische Recht behandelt das Gesetz nach der Grundauffassung lex a legere (vom Lesen des schriftlich publizierten Textes) als einen regelnden Text, der, soweit er reicht, für seinen Gegenstand die alleinige und ausschließliche Geltung beansprucht und daher vorausgehende Gesetze ganz oder teilweise derogiert. Das vorklassische Recht sah dagegen nach der Grundauffassung lex a legere iustwn (vom Wahlen des Gerechten) in dem Gesetz das Inkraftsetzen richtiger und gerechter Prinzipien und nahm keinen Anstand anzuerkennen, daß sich in diese Aufgabe mehrere aufeinander­ folgende Gesetze teilen könnten. Das klassische Recht hatte seine Theorie der Derogation auch auf die Zwölftafeln angewendet. So heißt es, von dem Verhältnis der lex Aquilia zu den Zwölftafeln und anderen voraufgehenden Gesetzen, daß man diese nicht m ehr heranziehen müsse, weil sie vom aquilischen Plebiszit derogiert worden seien. Ulpian 18 ad edictum D 9,2,1 pr. Lex A quilia omnibus legibus, quae ante se de dam no tniuria locutae sunt, derogavit, srve duodecim tabulis, sive alia quae fu it; quas leges nunc referre non est necesse.

Daß wir hier etwas vor uns haben, das den Namen einer Theorie verdient, zeigt die Einbettung der Lehre in ein System scharfer begrifflich-terminologischer Unterschei­ dungen, das es sich vor allem angelegen sein läßt, zwischen Gesamt- und Teilderogarion zu differenzieren61. Und das Vorhandensein der Derogationstheorie schon bei Livius, der sie allem Anschein nach der ihm zeitgenössischen oder der spätrepublika­ nischen Jurisprudenz verdankt62, erlaubt den Schluß, daß Ulpian diese Lehre in der (auf Servius Sulpidus zurückgehenden) Tradition der Ediktkommentare bereits vorfand. Auf das gleiche deutet, daß die Derogationstheorie in spätklassischer Zeit auf breiter Front aufgegeben wurde63. Schließlich fehlt es auch nicht an einer typischen Kontroverse. In der Frage, ob im Falle einer Sachbeschädigung, die ein Sklave mit Wissen des Eigentümers vorgenom­ men hat, neben den Tatbestand der lex Aquilia, der eine solche Schädigung aus-

61 Vgl- den Ulpian-Schüler Modestin 7 regularum D 50,16,102 X krogatur1 legi aut jtbrogatur'. derogatur legi, cum pars detrahitur; abrogatur legi, cum prorsus tollitu r und das epiklassische, außerjustinianisch überlieferte Werk PS-Ulpian lb sg regularum 3 Lex aut rogatur, u l est fertur, aut abrogatur, id est prior lex tollitur, aut derogatur, id est pars prim ae legs tollitur, aut subrogatur, id est odiatu r aliquid pronae legi, aut obrogatur, u i est m utatur alupud ex prim a lege, das auch in der Theorie der leges perfectae und imperfectae den klassischen Standpunkt bewahrt. Vgl. dazu

J ü rg e n P a n se g ra u , Die Fortwirkung der römischrechtlichen Dreiteilung der Verbotsgesetze in der Rechtsprechung des Reichsgerichts: Zur Vorgeschichte des § 134 BGB, Göttingen 1989 S. 39 ff. Diese klassisch-institutionelle Doktrin, welche das Gesetz in selbständige Textteile zerlegt, bestätigt den Eindruck, daß die Auslegung nach dem Gesamtzusammenhang eines Gesetzes, die wir zuerst bei Sabinus finden (Inst. 4,3,15) und die dann Celsus (Celsus 8 digestorum D 1,3,24; vg|. unten Fn. 145) zum Gebot erhebt, aus der vorklassischen Tradition stamme 62 Livius 9,13,5 ubi duae contrariae leges sunt, semper antiquae obrogat nova. Es ist mit Recht herrschende Meinung, daß dieses formale Prinzip, das Livius hier als geltend behandelt, nicht ursprünglich ist. Vgl. W ieack er, RRG I S. 427 Fn. 83. 63 Vg], die Stellen Paulus 4 quaestionum D 1,3,26; Tertullian 1 quaestionum D 1,3,27; Paulus 5 ad legem luliam et Papiam D 1,3,38 gleich im Text; ferner Julian bei Ulpian 18 ad edictum D 9,4,2,!.

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schließlich als Tat des Gewalthabers konstruierte, auch noch die aus den Zwölftafeln folgende Noxalhaftung des Gewalthabers treten könne, die eine deliktische Scha­ denstat des Sklaven voraussetzt, waren Julian, das Schulhaupt der hochklassischen Sabinianer, die trotz Übernahme des institutioneilen Systems als systematischen Überbau (vgl. die Gaius-Insututionen) immer noch eine besondere Nähe zur na­ turrechtlichen Tradition der veteres unterhielten, und Celsus, das Schulhaupt der hochklassischen Prokulianer, die sich trotz aller Abmilderungen immer noch in besonderer Weise als Verteidiger des klassisch-institutionellen Rechts bewährten, verschiedener Ansicht. Celsus behandelte den gesetzlichen Tatbestand der lex Aquilia (Eigenhaftung des H errn, der die Tat des Sklaven kannte) als eine gesetzliche Regelung, die, soweit sie reichte, aus wohlerwogenen Gründen die (Sklavenverant­ wortlichkeit voraussetzende) Noxalhaftung der Zwölftafeln verdrängte64, während

64 Ulpian 18 ad edictum D 9,4,2,1 Celsus ... differentiam facit inter legem A quiliam et legem duodecim tabularum . . . Nach Celsus wollte die lex A quilia in dem Fäll, daß die Schadenstat mit Wissen des Eigentümers geschah, die den Sklaven durch die Möglichkeit der noxae dado belastende Noxalhaftung ausschließen, weil sie dem Sklaven den Befehlsnotstand zugute hielt, während die Zwölftafeln in solchen Fällen vom Sklaven noch Ungehorsam erwartet hätten. Die Herkunft des Tatbestands der lex A quilia ist strittig. K a se r, RPR IS . 162 Fn. 65 und SZ 74 (1974) S. 432: „vielleicht“, erwägt eine ausdrückliche Bestimmung der lex A quilia; Lisowski, RE Suppl VII (1970) Sp. 655 sieht dagegen wegen Ulpian 46 ad Sabinum D 9,2,44,1 Quotiens sciente dom ino servus vulnerat vel occidit, A quilia dom inum teneri dubium non est die Tatbestandsbildung als Ergebnis einer Auslegung an, was m. E. zwingend ist, da in dieser Weise nur über eine Auslegung, nicht über eine ausdrückliche Norm gezweifelt werden kann und v. Lübtows Vorschlag (Untersuchungen zur lex Aquilia [1970] S. 43), in der genannten Stelle doch einfach zu lesen: lege A quilia cautum est, auf überliefcrungskritische Bedenken stößt. Methodisch beruht die fragliche Tatbestandsbildung auf der ganz kontraintuitiven und kontrafaktischen Gleichset­ zung von sciens mit non prohibens und iubens. Da die bloße Kenntnis des Herrn (anders als der Befehl) in Wahrheit nicht geeignet ist, einen Befehlsnotstand zu erzeugen (richtig Ulpian aaO: et sane ή tussit, potest hoc d ia : si autem non prohibuit, quem adm odum factum servi excusabimus«),

genau dies aber von der Glcichsctzung behauptet wird, handelt es sich um eine begriffliche Festlegung, die der Sache nach im Wege einer Fiktion bestimmt, daß überall dort, wo der Sklave mit Wissen des Eigentümers handelt, der Eigentümer handelt. Vgl. Ulpian 18 ad edictum D 9,4,2 pr.: Si servus sciente dom ino occidit, in solidum dom inum obligat, ipse enim videtu r (!) occidisse. In Wahrheit kann von einer Ersichtlichkeit im Sinne eines videtu r nicht die Rede sein; wer nur weiß, daß ein anderer handelt, handelt ersichtlich gerade nicht selbst. Die Grundlage dieser durchaus fiktiven Konstruktion, die die Sklaventat dem wissenden Eigentümer unwiderleglich zurechnet, dürfte der Gedanke bilden, daß der Sklave ein beseeltes Organ des Eigentümers ist (vgl. unten Fn. 223; siehe auch schon Kaser, SZ 74 [1974] S. 432 Fn. 35: „belebtes Werkzeug“) und der Inhaber eines Organs für das, was sein Organ tut (z. B. seine Fiand), unwiderleglich verantwort­ lich ist, jedenfalls dann, wenn er weiß, was sein Organ tut; in dieser Weise einem Organ gleichgestellt, steht dem Sklaven auch keine Freiheit des Andcrshandelns zu. Die UnverantwortÜchkeit des Sklaven, der mit Wissen des Eigentümers gehandelt hatte, beruhte also ursprünglich nicht auf einem Befchlsnotstand, sondern auf einer konsequenten Organtheorie. Eine solche begriffliche Fesdcgung war methodisch nur in der klassisch-institutionellen Jurisprudenz mög­ lich, die auch das Gesetz in vollem Maß den Regeln der dialektischen Begriffskunst unterwarf (vgl. unten S. 200). Für diese Herkunft sprechen auch alle Indizien. Die Festlegung, was das Leitwon scientia bezogen auf den Eigentümer des deliktisch handelnden Sklaven bedeutete, wurde von der neuen ediktzentrierten Jurisprudenz nicht nur für die lex A quilia, sondern folgerichtig zugleich für das gesamte Edikt vorgenommen (so ausdrücklich Paulus 3 ad edictum

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Julian die Ansicht vertrat, daß die Noxalhaftung der Zwölitafeln durchaus neben dem Tatbestand der lex Aquilia fongelte, mit der Folge, daß die aquilische Eigenhaftung den Eigentümer zusätzlich belaste, nicht aber den Sklaven, der kraft einer ihm

D 9,4,4; vgl. auch Ulpian 3 ad edictum D 9,4,3; 4,5; alles Stellen zum Edikt De albo corrupto, wo das Problem offenbar zum ersten Male im klassischen Edikt in exemplarischer Weise auftrat; vgl. dazu L enel, Edictum perpetuum S. 57; K unkel/H onsell, RR S. 382 Fn. 31), da eine solche Stilisierung eines sozialen Sachverhalts mit sprachlichen Mitteln notwendig überall Geltung beanspruchen mußte, wo dieser Sachverhalt vorkam. - Im übrigen sind die späteren Milderungen dieser Ansicht typisch. Die schon von dem Prokulianer Celsus und später allge­ mein vertretene Begrenzung der scienda auf den non prohibens (vgl. Ulpian 18 ad edictum D 9,4,2,1; Paulus 3 ad edictum D 9,4,4 pr.: reedus ita dicitur sciendam eius accipiendam , quiprohibere potest) ist als vermittelnde Meinung dadurch zu erkennen, daß sie zur Erhaltung der Ergebnisse der Orgamheorie auf die für den non prohibens ganz unpassende Lehre vom Befehlsnotstand zurückgreifen muß. Sie beruht als solche auf Anleihen bei der vorklassischen Lehre, so wie sich Celsus ja auch mit der Betonung des Gesetzes willens an die vorklassische Tradition anschließt und sich von der klassisch-institutionellen Textgeltungslehre löst (vgl. dazu u. S. 203 ff. mit Fn. 145). Für die vorklassische Tradition entschieden sich alle Fragen, in denen es galt, zwischen der Verantwortlichkeit von Herrn und Sklaven zu unterscheiden, nach ihrem freien, noch nicht vom klassischen Unmittelbarkeitserfordernis eingeschränkten cw/po-Prinzip. Der Befehlende haftet für culpa in Form des dolus\ derjenige, der gehorchen muß, wird entschuldigt. Vgl. Paulus 2 ad Plautium D 50,17,169 pr. Is damnum dat, qui iubet dare: eius vero nulla culpa esty cui parere necesse est. Der Bcfchlsnotstand gegenüber einem ius imperandi entlastete nach einem aus der sabinianischen Rechtsschule stammenden Text (Javolen 14 ex Cassio D 9,2,37 pr.) sogar einen freien Mann. Traf den Sklaveneigentümer dagegen nur der Vorwurf, die Sklavenut nicht verhindert zu haben, entlastete dies den Sklaven folgerichtig nicht; er blieb aus eigenem Verschulden verantwortlich. Sein Eigentümer haftete neben ihm, und zwar, wie es scheint, auch dann, wenn die Tatverhinderung, deren Unterlassen ihm vorgeworfen wurde, nicht leicht möglich war, sein Verschulden also nicht schwer wog. Es wird nämlich (ich verdanke diesen Hinweis dott. Cosimo Cascione aus Neapel, der zur Zeit [Juni 1994] als Gast an meiner Digestenexegese teilnimmt) nicht zufällig sein, daß im Sabinuskommentar des Ulpian die erörterte saewrid-Haftung mit dem bekannten Satz verbunden erscheint, daß in der lex Aquilia auch für culpa levissima gehaftet wird (vgl. Ulpian 42 ad Sabinum D 9,2,44 pr. u. § 1; das unmittelbar folgende Paulusfragment 10 ad Sabinum D 9,2,45 pr. behandelt ebenfalls die sciendaHaftung und beschränkt sic ausdrücklich auf die Duldung der Tat in Übereinstimmung mit dem, was auch Celsus und Ulpian lehren). Das Ergebnis war ein typischer Kompromiß. Die Organ­ theorie, ohne die angesichts des neuen Unmittelbarkeitsprinzips im klassisch-institutionellen System (vgl. u. S. 245 ff.) überhaupt keine Eigenhaftung der Eigentümer für aquilische Schadensta­ ten ihrer Sklaven hätte begründet werden können (zur Rechtfertigung der strengen Lehre konnten ihre Urheber auf die Vorteile hinweisen, welche die Organstellung des Sklaven dem Eigentümer im Geschäftsleben brachte), wurde mit Hilfe des Verschuldensprinzips gemildert, ohne daß der eigentlich nur in der Organtheorie ganz sinnerfülltc saenda-Begriff aufgegeben wurde. Dieser Kompromiß war, da er, wenn auch von verschiedenen Ausgangspunkten, von beiden Seiten erstrebt worden war (vgl. die folgende Anmerkung), schulübergreifend. Celsus hielt nur darin stärker an der formalen Tradition fest, daß er die Eigenhaftung des die Sklavenut zurcchenbar nicht verhindernden Eigentümers als einen (mit einer überanstrengten Bcfchlsnotstandstheorie gerechtfertigten) formalen Gesctzesutbesund behandelte, der die (Sklavenverantwortlichkeit vorsehende) Zwölfufelnorm derogierte. In der historischen Schichtung, die sich ihm dabei zwischen den Zwölftafeln und der lex Aquilia ergab, wird im übrigen unversehens (typisch für die Zwischenstellung des Celsus) der Unterschied zwischen vorklassisch-naturrechtlicher Zwölftafelauslegung und der klassisch-institutionellen Auslegung sichtbar, wie sic sich im Bereich der lex Aquiha auch sonst vielfach behauptet hat.

Okko Behrends zurechenbaren Schadenstat dem Geschädigten überantwortet werden konnte, ent­ laste65. In der spätklassischen Zeit kehrten dann die Juristen - im Zusammenhang mit einer allgemeinen Bewegung, die wir am Ende des nächsten Abschnitts (u. S. 206 f.) betrachten werden - zu der älteren Lehre zurück und vertraten wieder die alte Ansicht, daß ältere Gesetze grundsätzlich in Geltung blieben und daher mit ihren Regelungen durchaus in die neuen Gesetze einbezogen werden könnten. Paulus 4 quaestionum D 1,3,26 Non est navum , ut priores leges ad posteriores trahantur.

Daher vermag das, was sie lehren, auch die Wirkungsweise der lex A tinia Ende des 2. vorchristlichen Jahrhunderts zu erklären. Da ein älteres Gesetz nach dieser materiellen Theorie des intertemporalen Geset­ zeskonflikts nur von einem Gesetz aufgehoben wurde, das etwas der voraufgehenden Regelung Widersprechendes verfügte: Paulus 5 ad legem Iuliam et Papiam D 1,3,28 Sed et posteriores leges ad priores pertinent, nisi contrariae sint, idque m ultis argumentis probatur

gab es keinen G rund anzunehmen, daß eine authentische Interpretation etwas anderes bewirkte als eine Bekräftigung des älteren Gesetzes. Und wie auf die lex Atinia geprägt erscheint die von Tertullian dafür gegebene Begründung: Deswegen dürfe man die älteren Gesetze in die jüngeren Gesetze hineininterpretieren, weil in den Gesetzen liege, daß sie sich auf Personen und Sachen oder Sachverhalte beziehen, die - wann auch immer - in gleicher Weise aufträten. Tertullian 1 quaestionum D 1,3,27 Ideo, quia antiquiores leges adposteriores trahi usitatum est, semper quad hoc legibus inesse credi oportet, ut a d eas quoque personas et ad eas res pertinerent, quae quandoque similes erunt

(Deswegen, weil es üblich ist, ältere Gesetze auf spätere zu beziehen, muß man immer gewissermaßen als Inhalt der Gesetze annehmen, daß sie sich auch auf die Personen und die Sachen beziehen, die später einmal in gleicher Weise Vorkommen werden.)

In dem Fall, den die Zwölftafeln und die lex Atinia gemeinsam regeln, kehren Sachen, die gestohlen werden, immer wieder, und mit ihnen die typischen beteiligten Perso­ nen. U nd auch komplexere Sachverhalte, die von Gesetzen gemeint und von der Interpretation entfaltet werden, kehren mit ihren dazugehörigen Menschen immer wieder. Entscheidend ist an dieser Betrachtungsweise zunächst die allen Gesetzen in gleicher Weise zugeschriebene volle Zukunftsoffenheit. Daher beziehen sich auch nacheinander in Kraft getretene Gesetze auf die gleichen Fälle. Des weiteren ist für diese Perspektive kennzeichnend, daß die Gesetze von der rechtlichen W irkung her gedacht sind, die sie auf die menschlichen Verhältnisse 65 Ulpian 18 ad edictum D 9,4,2,1 si placeat quod lulianus libro octagensono sexto scribä ,β servus furtum faxit noxiamve nocua' etuun ad postenores leges pertmere, potent dici etiam send nomine cum domtno agi posse noxali iudicio, ut quod detur Aquilta adversus dominum, non servum excuset, sed dominum oneret Daß Julian, dessen Position sich durchsetzte, die formale Tatbestandsbildung zur lex Aqudia grundsätzlich übernahm, sie aber nach Kräften mit Hilfe der vorklassischen Tradition

abmilderte, entspricht seiner Stellung in der Geschichte seiner Schule.

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ausüben. Die Gesetze erscheinen nicht als regelnder Text, der, da nach seinem objektiven Wortlaut geltend, keinen Konkurrenten neben sich dulden kann und daher notwendig eine Theorie der Derogation nach sich zieht. Vielmehr erscheinen sie als Mittel, eine für die Auslegung greifbare vernünftige und gerechte Regelung in Kraft zu setzen. Und es ist widerspruchsfrei möglich zu denken, daß sich mehrere Texte um eine vernünftige Regelung bemühen und daß die Interpretation gewinnt, wenn sie sich auf mehrere Texte stützen kann.

6. Die Streitfrage der lex A tinia große oder kleine Rückwirkung und die Auslegungsregeln des strikten Rechts Wir sind jetzt vorbereitet, die eigentliche Diskussion zu betrachten. Die drei Juristen diskutieren die zugespitzte Frage, in welchem Umfang das Gesetz, die lex A tinia, welche die Regelung der Zwölftafeln, daß eine gestohlene Sache nicht ersessen werden könne, erneuert hatte, neben den Fallen, in denen die Sache, um deren Ersitzung es geht, erst nach Inkrafttreten des Gesetzes gestohlen wird, und für die es selbstverständlich gilt, auch die Falle erfaßt, in denen das Gesetz eine der Ersitzung unterworfene Sache bereits als „gestohlen“ vorfindet, und zwar entweder als bereits gutgläubig ersessen oder noch nicht. Gellius 17, 7 Verba haec ex Atm ia lege: Q U O D SUBRUPTUM ERIT, EIUS REI AETERNA A U C IO R U A S ESTO, P. NigiduA* et Q. Scaevolae visa esse non minus de praetentofurto quam defuturo cavisse. /. Legis ve tens Atm tae verba sunt: Q U O D SUBRUPTUM ERIT, EIUS REI AETERNA A UCTORITAS ESTO . Quis altudputet m hisce verbis, quam de tempore tantum futuro ligem loqui? Sed Q. Scaevola patrem suum et Brutum et Manilium viros adprime doctos quaesisse ait dubitasseque utrumne in post facta modo furta lex valeret an etiam in ante facta quoniam ,quod subruptum erit ‘ utrumque tempus videretur ostendere, tam praetentum quam futurum.

(Die folgenden Worte der lex Atinia: „Was entwendet worden sein wird, für diese Sache soll ewige Gewahrschalt sein“ werden von dem [Grammatiker] P. Nigidius66 und dem [Juristen] Q . [Mucius] Scaevola so angesehen, daß sic für Diebstähle, die in der Vergangenheit begangen worden sind, nicht weniger gelten, als für Diebstähle, die in der Zukunft begangen werden. 1. Die Worte des alten Adnischen Gesetzes lauten: „Was entwendet sein wird, dafür soll ewige Gewährschaft sein“. Wer wird annehmen, daß in diesen Worten etwas anderes liegt, als daß das Gesetz lediglich von der in der Zukunft liegenden Zeit spricht? Aber Q . [Mucius] Scaevola sagt, daß sein Vater und Brutus und Manilius, alles vorzüglich gebildete Männer, die Frage geprüft und im Gespräch erwogen haben, ob das Gesetz lediglich für später verübte Diebstähle gelte oder auch für vorher verübte, da die Worte „was gestohlen sein wird“ auf beide Zeitzonen hinwiesen, sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft.)

Juristischer Gegenstand der Debatte ist in moderner Bcgrifflichkeit ein Problem des intertemporalen Privatrechts oder der Rückwirkung neuer Gesetze67. Ihre Methode 66 Vgl. zu dem Grammatiker W. K roll, RE (1936) s. v. Nigidius 2) Sp. 200-212. Er galt Cicero als ein Erneuerer pythagoreischer Lehren. Seine Commentarii grammatici, aus denen auch Gellius 17,7,5 schöpft und die in 37 Zitaten belegt sind, folgen vielfach (und so auch im vorliegenden Fäll) dem stoischen Vorbild (Kroll Sp. 202 f.). 67 Vgl. dazu neuestem Martin Avenarius, Savignys Lehre vom intertemporalen Privatrecht (1993) S. 18.

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ist die Grammatik. Nach deren Regeln, die im Fortgang der zitierten Stelle von dem späteren, von der Stoa beeinflußten (o. Fn. 66) Grammatiker Nigidius auseinanderge­ setzt werden, umfaßt die Form subruptum erit die vergangenen Vorgänge, wenn subruptum nicht als selbständiges Substantiv, sondern als unselbständiger Teil einer einheitlichen Verbalform angesehen wird68. Da subruptum hier eindeutig kein Sustandv vertritt, sondern als passives Partizip des Perfekts gemeinsam mit einer konjugier­ ten Form von esse die zusammengesetzte Verbform subruptum erit bildet, konnte die grammatische Grundfrage, in der, wie Gellius uns gleich zu Anfang mitteilt, Q . Mucius P. f. und Nigidius übereinstimmen, nicht zweifelhaft sein. In der juristischen Debatte selbst ging es denn auch, wie die zur lex Λ tinia gehörende weitere Überlieferung wahrscheinlich macht, in Wahrheit gar nicht mehr so sehr um die grammatische Form - ihre Deutung stand im wesentlichen fest -, als vielmehr um die Frage, wie der Spielraum zu nutzen sei, den die Sprachform subruptum erit für eine Gesetzesauslegung nach dem Willen gewährt. Denn wie in einem Vermächtnis die Formel paratum erit auch für diejenigen, welche im strikten Recht die freiere Berücksichtigung des Willens einschränken wollten, eine Auslegung nach dem Willen des Testators erlaubte (dies bezeugt eine gleich zu betrachtende zur lexA tm ia gehörende Überlieferung), so gestattete die Formel subruptum erit auch dem Vertreter einer strengen Richtung eine Auslegung nach dem Willen des Gesetzgebers, d. h. des Volkes69. Bedenkt man nun zunächst einmal, daß das Thema des Gesetzes war, die eigen­ tumsfreundliche Regelung der Zwölftafeln wiederherzustellen, ergibt sich wie von selbst, welche Positionen hier miteinander im Streit gelegen haben müssen. Wer die Zielsetzung der lexA tm ia konsequent verfocht, mußte die Ansicht vertreten, daß das neue Gesetz zu einer vollständigen Rückwirkung führe; er mußte verlangen, daß alle Falle von Ersitzung gestohlener Sachen so behandelt würden, als hätte es jene zwischenzeitlich erfolgreiche Auslegung nie gegeben. Diese Partei mußte die Auslegung nach sachbezogener demonstratio (welche Sachen sind gemeint?) und willenstheoretischen argumentum (was beabsichtigte das Gesetz?), welche, wie im folgenden nachgewiesen, nach damals anerkannter Sprachtheorie diese Wortform erlaubte, für das Ergebnis einsetzen, daß kein Sachverhalt

68 Nigidius (vgl. oben Fn. 66) lehrte nach Gellius 17,7,4-8, daß es darauf ankomme, wie die Worte gedacht würden: wenn getrennt als zwei Worte - subruptum erit wie in certamen erit oder sacrificium erit dann sei nur die Zukunft gemeint, wenn verbunden als eine einzige zusammen­ gesetzte Wortform, sei auch die Vergangenheit erfaßt. Die zweite Möglichkeit lag grammatisch näher, da subruptum anders als certamen und sacrificium kein Substantiv ist, sondern, worauf Nigidius implizit hin weist, wie factum erit gebildet ist. 69 Vgl. die in der tApierw-Tradition stehende Willensauslegung, welche die lex Aquilia gegen ihren Wortlaut ergänzt. Inst. 4,3,15: Sabtno recte placuit perinde habendam aestimationem , ac si etiam hac parte plunm i verbum adiectum fuisset: nam plebem Romanam, quae Aquilio tribuno rogante hanc legem tulit, contentam fuisse, quod pnm a parte eo verbo usa est. Dieser Text, der vermutlich nicht aus

Gaius stammt und aus anderen Institutionenwerken ergänzt ist (vgl. Gaius ΓΠ218), beruft sich auf Sabinus, weil dem klassischen Textformalismus eine solche lückenfüllende Auslegung nach dem W'illen unmöglich ist. Vgl. Behrends, fraus legis S. 49 Fn. 109 und oben Fn. 61; vgj. auch unten bei Fn. 145.

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eines subruptum anders behandelt werden könne, als es das vereinigte Recht der Zwölftafeln und der lexAtm ia verlange. Alle diese Falle waren ja nach den Worten der oben zitierten Stelle Tertullians aus dem Gesichtspunkt der beiden aufeinander bezogenen Gesetze Tatbestände, die (Tertullian 1 quaestionum D 1,3,27) „später einmal in gleicher Weise Vorkommen würden ( welche einen Wertbegriff wie die bona fides wie ein stoffliches Energieprinzip erfassen und es argumentativ auf die Verhältnisse ausstrahlen lassen. Cicero argumentiert dabei nicht als Redner, sondern als Vertreter der skeptisch­ akademischen Kultur, deren Rechtstheorie durch die erfolgreiche Tätigkeit seines Freundes und Studiengenossen Servius Sulpicius zur Herrschaft gekommen war und die als positives Recht (ius) nur noch Norm en anerkennen wollte, die sich mit ihren

174 Die Gleichbehandlung ist überraschend, hängt aber damit zusammen, daß die an den genannten Stellen De officiis Π1 12, 50-13, 54 wiedergegebene stoische Debatte zwischen Diogenes von Babylon und Antipater von Tarsos (der ältere verneinte, der jüngere für die Generation der fundatores entscheidend gewordene Philosoph bejahte die Aufklärungspflicht) gar nicht von Sacheigcnschaften ausging, sondern von gesellschaftlichen Pflichten zwischen den Vertragspar­ teien. Die uns gewohnte Konzentration auf die Eigenschaften der Kaufsache stammt aus der klassischen Jurisprudenz. Aus ihrer Perspektive erscheint es als unsinnig, preisdrückende Marktumständc als einen möglicherweise bekanntgabepflichtigen Mangel zu behandeln.

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Tatbeständen auf der unmittelbar faßlichen Ebene definierter körperlicher Sachen und unkörperlicher Strukturen hielten. Darin lag eine kühne Reform des Rechts; sie war aber nicht ganz unvorbereitet. Erinnern wir uns, daß die Rechtstheorie der jüngeren veteres im ms strictum die Tendenz verfolgte, alle Normierungen auf ihren demonstrativen, auf körperliche Gegenstände hinweisenden Sinn zu beschränken, und daher für Argumentationen m it dem Zweck des Willens besondere sprachliche Formen verlangte, und nur im N aturrecht überall offene Werte anerkannte, dann zeigt sich in dem Begriffspaar res corporales - res incorporales wiederum der schon öfter beobachtete Befund175, daß das klassische Recht eine im ius strictum der veteres bereits enthaltene Tendenz verallgemeinerte, hier dadurch, daß nunm ehr alle Norm en des Rechts in ihren Tatbeständen auf die Erfahrungsebene des Menschen heruntergezogen wurden. Dabei ist die Erfahrungsebene des Menschen in der skeptischen Akademie immer eine durch Sprache vermittelte, durch Definitionen, die benennen, sowohl die kör­ perlichen wie die unkörperlichen Gegenstände, während die Stoa in ihrem Erkennt­ nisoptimismus sowohl die Körper, auf die man im empirischen Sinne zeigen kann, als auch die „Körper“ der materialen Welt der Werte als unmittelbar (ohne vorher festgelegte sprachliche Form) erfaßbar ansieht. Das, was bei den Gesetzen geschieht, war nur eine Anwendung dieses Vorgangs. Wenn die veteres-]\ir\sxen sagten: „Das, was verpflichtet, ist das vom Gesetz gemeinte Recht, insbesondere die naturrechtlichen Prinzipien, die vom Gesetz intendiert sind, und zwar mit allen Folgerungen, die ratione et intellegentia aus ihnen gezogen werden können“, dann widersprachen die klassischen Juristen und sagten: „Das, was am Gesetz verpflichtet, ist der auf die Stufe »handgreiflicher Tatbestände* herunterdiffe­ renzierte gemeinsprachliche Text der Gesetze“. In der neuen Rechtsordnung ver­ pflichten Gesetze nur noch auf der Stufe der vom Menschen benannten körperlichen Gegenstände und der unkörperlichen Strukturen, die konkrete Rechtsverhältnisse darstellen. Das Gesetz wird damit zum Bestandteil der statischen und als solchen klar berechenbaren ratio iuris des institutioneilen Rechtssystems.

vom

V. D rei Beispiele für den W echsel „philosophischen “ zum „juristischen “ G esetzesverständnis IN DER SPÄTREPUBLIKANISCHEN ZEIT

1. Der Diebstahl der Zwölftafeln (1) QUATENUS RATIO NE E T INTELLEGENTIA Das FURTUM (der Diebstahl), das in mehreren der rekonstruierten Bestimmungen der Zwölftafeln vorausgesetzt wird (ΧΠ tab. VIII 12-16), war für das römische Rechtsdenken stets ein Zwölftafeldelikt. Insbesondere beruhte die Strafe für den 175 Zuletzt Behrends , Mandatum S. 61 f.

O kko Behrends

Bestohlenen zu zahlenden Wert der gestohlenen Sache bestand, auf einer positiven Zwölftafelnorm. Die „philosophische“ Interpretation quatenus ratione et intellegentia, deren Ausbau sich - für uns deutlich erkennbar - in der naturrechtlich besonders engagierten Jurisprudenz der fundatores vollzog (ihre Vorstufe, wie sie etwa in der Triperda des Sext. Aelius Paetus Catus zuerst schriftlich festgehalten worden sein muß, ist uns dagegen kaum noch erkennbar), versteht die gesetzliche Regelung der Zwölftafeln ihrer Methode folgend als einen Hinweis auf N aturrecht, nämlich auf einen schon vom Naturrecht verbotenen, tatbestandlich extrem weitgefaßten Diebstahlsbegriff. Diese Auffassung ist uns - vermittelt durch die Rückkehr der vorklassischen Ansich­ ten im Laufe des Prinzipats - in ihrer allgemeinsten Fassung im Ediktskommentar des Paulus bewahrt. Raulus trigensimo nono ad edictum D 47,2,1,3 Furtum est contrectatio reifraudulosa lucrifaciendi gratia v e l ipsius rei vel etiam usus eius possesswmsve. quod lege naturali prohibitum est adm ittere.

(Diebstahl ist das verwerfliche um eines Vorteils willen geschehene Antasten entweder der Sache selbst oder auch ihrer Nutzung oder ihres Besitzes. Dies ist vom Naturrecht zu tun untersagt.)

Der Sabinianer Gaius ordnet in der folgenden Stelle diese Definition, die m it einem weiten Begriff des Antastens arbeitet (er verlangt kein körperliches Berühren der Sache selbst, sondern läßt die Störung der N utzung oder des Gebrauchs ausrei­ chen176), mit Recht als prinzipielle Bestimmung des Diebstahls ein, also als ein genus im Sinne des generaäm organisiertes System des Q . M udus, und zwar, wie wir sehen werden, im Unterschied zu der regelhaften Tatbestandlichkeit des klassischen Dieb­ stahlsbegriffs. Gaius ΙΠ 195 Furtum autem f i t ... generaliter, cum quis rem alienam in vito dom ino contrectat,

(Prinzipiell geschieht aber ein Diebstahl immer dann, wenn jemand eine fremde Sache gegen den Willen des Eigentümers antastet.)

Die zu dieser vorklassischen Definition177 überlieferte Kasuistik, die, soweit sie mit Namensnennungen überliefert ist, tatsächlich in die Zeit der fundatores zurückgeht.

176 Das für Sabinus überlieferte adtrectare ist dem contrectare vermutlich bedeutungsgleich, da es in der folgenden Definition gerade das furtum usus umfaßt. Gellius XI, 20: Verba sunt Sabini ex libro iuris civilis secundo: Qm alienam rem adtrectavit, cum id se in vito dom ino facere indicare deberet, fu rti tenetur, Gellius versteht allerdings adtrectare körperlich, und zwar, wie es scheint, nicht nur im Kontrast zu Dicbstahlsbegehung durch einen Gehilfen, bei dem Gellius (vielleicht nur er als Laie) die Berührung des Gehilfen dem Täter nicht zurechnen will, sondern auch auf andere vorher mitgeteilte Kasuistik. Er sagt am Ende des Abschnitts (aaO 22-24): H aec quidem sic in eo, quo nunc dixi, Sabinus scnpsit de rebus fu rti faciendi causa adtrectatis. Sed meminisse debemus secundum ea, quae supra scnpsi (!), furtum sine ulla quoque adtrectatione fieri posse sola m ente atque anim o, utfurtum fia t, adnitente. Quocirca ne id quidem Sabinus dubitare se ait, quin dominus fu rti sit condemnandus, qui servo suo, ud furtum faceret, im peravit Da nach dem Vorstehenden (§ 14) ein

Dieb auch ist, wer - ohne Berührung - einen Sklaven durch vorgehaltene Toga den Blicken seines Herrn entzieht, ist es auch möglich, daß adtrectare enger ist als contrectare. 177 Nicht die einer (als solche gar nicht greifbaren, mehr postulierten als nachgewiesenen) „nachklas­ sischen Schule“; so K aser , RPR I S. 615 Fn. 11.

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ist voller Farbe. D er berühmteste Fall ist der Gebrauchsdiebstahl des Entleihers, begangen durch einen Reiter, der ein wenig weiter ritt, als in der Leihabrede ausge­ macht. Unter den Juristen, die diese Ansicht vertraten, werden uns namentlich Brutus und Q . Mucius P. f. genannt Gellius 6,15,1 (vgl. Lenel, Palingenesis Iuris Civilis 1 501; 758) Labeo m Ubm de duodeam tabulis secundo aena et severa tudiaa de furtis habita esse apud veteres scripsit, idque Brutum solitum dicere, etfu rti damnatum esse, qui ium entum aliorsum duxerat, quam quo utendum acceperat, item qui longius produxerat, quam in quem locum petierat. Itaque Qw. Scaevola in librorum, quos de iure civili composuit, X V I verba haec posuit: Q uod cui servandum datum est, si id usus est, sive, quod utendum accepit, ad aliam rem atque accepit usus est, fu rti se obligavit

Valerius Maximus berichtet, daß die Entscheidung schon damals Sensation gemacht habe, und kommentiert sie aus seiner Sicht mit ehrfürchtigem Staunen. Valerius Maximus V m 2,4 M ultus sermo eo etiam ludiao m anavit, in quo quidem fu rti damnatus est quod equo cuius usus illiusque Ariciam [erste Poststadon der via Appia in Richtung Campartien] commodatus fuerat, ulteriore eius m unicipii clivo vectus esset Q uid aliud hoc loci quam verecundiam illius saeculi laudemus, in quo tam m inuti a pudore excessus puniebantur? (Viel Aufsehen erregte auch ein Prozeß, in dem jemand wegen Diebstahls verurteilt worden war, der auf einem Pferd, dessen Gebrauch ihm bis Aricia überlassen worden war, bis zu einem Hügel jenseits der Stadt geritten war. Was können wir an dieser Stelle anderes tun als das Rechtsgefühl jener Epoche loben, in der man eine so geringfügige Abweichung von dem, was der Anstand verlangt, zu bestrafen pflegte?)

W ir können aus dem Aufsehen, das die Entscheidung erregte, schließen, daß der Gedanke eines Gebrauchsdiebstahls (furtum usus), der - im Unterschied zum Dieb­ stahl der Sache selbst - diese erstaunliche Entscheidung überhaupt erst möglich machte, damals von Juristen wie Brutus durchgesetzt wurde. Dieses Ergebnis ist zugleich eine wertvolle Grundlage für eine weitere wichtige Schlußfolgerung. Denn wenn das furtum usus damals anerkannt wurde, dann muß auch die zweite, in der obigen Definition erhaltene Erweiterung des furtum rei ipsae, nämlich das furtum possessionis, dem eine nicht minder erstaunliche, der wfereijurisprudenz zu geschriebene Kasuistik zu geordnet ist, aus der Epoche der fundatores stammen. Diese Kasuistik beruht darauf, daß die possessio der fundatores, wie wir schon anhand des Schatzfalles erschließen konnten (o. Fn. 96), als custodia bestimmt war, als O bhut. Daher gibt es nun tatsächlich eine Reihe von Entscheidungen, in denen der Diebstahl nicht wegen Wegnahme der Sache selbst, sondern wegen Zerstörung oder Störung der O bhut angenommen wurde. So galt den veteres als Dieb, wer einen Maultiertreiber, der gerade auf der Straße seine Tiere trieb, durch eine plötzliche Ladung vor Gericht von seinen Tieren trennte und dadurch absichtlich schädigte. Die Tiere zerstreuten sich und gingen verloren, waren aber nicht im Sinne der bei Paulus bewahrten naturrechtlichen Definition als res ipsae Gegenstand des Diebstahls gewesen (Paul 7 ad Plautium D 47,2,67,2: veteres responderunt). Weiter wurde von den vorklassischen Juristen als Dieb verurteilt, wer so tuend, als ziehe er sich gerade an - hinter seiner Toga einen flüchtigen Sklaven vor den Blicken des vorbeikommenden Eigentümers versteckt gehalten hatte (so in der sogleich folgenden Gellius-Stelle 11,18,13 der über die veteres berichtende Sabinus). Auch hier war Gegenstand des „Angriffs“ nicht die Sache selbst, sondern die O bhut.

Okko Behrends

Dagegen gehört der Fall, daß der Pächter das Grundstück nicht zurückgibt oder verkauft oder der Mieter das gleiche mit einem Hausgrundstück tut, wieder unter den Gesichtspunkt des furtum usus, des vertragswidrigen Gebrauchs einer überlassenen Sache. Gellius berichtet davon - mit all dem überraschten Staunen, das eine solche Entscheidung vom Standpunkt des engen klassischen Tatbestandes des rem dam amovere erregen muß - und ordnet diese Kasuistik (die er um den bereits genannten Fall dessen erweitert, der mit Hilfe der Toga, die er sich anzieht, einen Sklaven den Augen und damit der O bhut des H errn entzieht), so wie es Valerius Maximus mit dem Ancia-Fall getan hat, als Zeugnis der hochstehenden Sittlichkeit der alten Juristen ein. Gellius 11,18,12 ex egregiis veterum moribus accepta neque inutilia cognitu neque intuom da, qui legere volet, inveniet Sabini librum, cui titulus est de furtis. In quo id quoque scriptum est, quod volgo inopinatum (!) est, non hominum tantum neque rerum m oventium , quae aufem (!) occulte (!) et subripipossunt, sed fundi quoque et aedium fieri furtum ; condemnatum quoque fu rti est colonum, qui fundo, quem conduxerat, vendito possessione eius dominum intervertisset Atque id etiam , quod magis inopinabile est, Sabinus dicit, furem esse hominis iudicatum, qui cum fugitivus praeter oculos fort dom ini iret, obtentu togae tamquam se amiciens, ne videretur a domino se obstitisset

Der Diebstahl eines Grundstücks, sei es landwirtschaftlich genutzt oder mit einem Haus bebaut, wurde, wie die berichtenden Worte des Gellius: „subripi possunt“ ergeben, auch von Sabinus für möglich gehalten. Die spätere sabinianische Rechts­ schule gibt diese Ansicht dann aber, wie Gaius beweist, auf, wohl unter dem Einfluß Julians. Gaius Π 51 improbata . . . eorum sententia, qui putaverint furtivum fundum fien posse.

Noch Ulpian sagt in seinem Sabinuskommentar, daß die meisten - also nicht alle diese A rt Diebstahl ablehnen. Ulpian 41 ad Sabinum D 47,2,25 pr. Verum est, quod plenque probant, fundi fu rti agi non posse.

Zugleich weiß Gaius auch noch, daß die Meinungsfuhrer für die abgeschaffte Lehre nicht alle, sondern eben nur einige veteres waren, vermutlich etwa Brutus und Q . Mucius P. f., die uns für andere Anwendungen des weiten Diebstahlsbegriffs genannt werden. Gaius 2 rerum cottidianarum sive aureorum D 41,3,38 abolita est enim quorundam veterum sententia existim antium etiam fundi loave fertum fe ri.

Durch ihre Unterordnung unter die naturrechtliche Diebstahlsdeflnidon und ihre Unvereinbarkeit mit der sogleich zu betrachtenden klassischen Diebstahlsdeflnidon stammt weiter aus dem veteres-Kecbt die Lehre, daß jemand einen ganzen Getreide­ haufen diebisch „antastet“, der sich daraus einen Eimer anfüllt178.

178 Paul 40 ad Sabinum D 47,2,21 pr. Hier kehren schon Ofilius und Trebatius zum wirrrs-Recht zurück. Nach dem gleichen Prinzip hat, wer von einer (etwas aus Silber bestehenden) Schale et­ was (von dem Edelmetall) abschabt, die ganze Schale gestohlen (Paul 9 ad Sabinum D 47,2,22,2).

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Für unsere Zwecke ist es nun aber nicht nötig, die gesamte Kasuistik der älteren Jurisprudenz nachzuzeichnen. Die angeführten Beispiele genügen, da sie ausreichen, die naturrechtliche Definition, die Paulus uns überliefert, als die der fundatores zu beglaubigen. Einen Blick lohnt aber noch das Schutzgut des vorklassischen Diebstahls. Mit der als custodia begriffenen possessio und dem usus schützte der Diebstahlsbe­ griff der fundatores nicht nur den unmittelbaren Besitz der körperlichen Sache, sondern zugleich eine sehr allgemeine Form des Nutzens und Habens. Das deutet darauf, daß sie den Diebstahl nicht eng auf den Schutz des Eigentums oder des Eigenbesitzes beschränkten, sondern auch andere Formen des Interesses an einer Sache als durch den Diebstahl verletztlich ansahen. Tatsächlich ist erkennbar, daß der Diebstahlsbegriff der veteres in Übereinstim­ mung mit ihrem weiten Besitzbegriff, der auch den vertraglichen Besitzer als einen aus eigenem Recht interessierten Besitzer ansah179, auch den nur vertraglich zum N utzen oder Haben der Sache Berechtigten schützte. Dies beweist die bekannte, insbeson­ dere bei Gaius überlieferte Regel, der zufolge jedem, der die Sache vertraglich in seiner O bhut hatte, bei Vorhandensein von Interesse am rem salvam esse die Diebstahlsklage zustand. Denn diese Regel beruhte ursprünglich ersichtlich nicht so sehr darauf, daß der Betreffende für custodia haftete (und deswegen in dem abgeleiteten Sinne ein Erhaltungsinteresse an der Sache hatte, daß er infolge des nicht abgewendeten Diebstahls schadensersatzpflichtig wurde)18018, als vielmehr darauf, daß ein solcher Besitzer nach Naturrecht eine eigene custodia und ein eigenes Nutzungsinteresse an der Sache hatte. Dieses ursprüngliche selbständige (nicht nur mittelbar über die Haftung für custodia begründete) Interesse eines Nichteigentümers am rem salvam esse wirkte einerseits nach im Fall des bestohlenen bonae fidei possessor - laut einer Entscheidung des vorjulianischen Sabinianers Javolen löste ein solcher Diebstahl zwei Klagen aus: die des Eigentümers auf den Sachwert, die des Besitzers auf das N utzungsinteresse!81 andererseits in den Fallen, in denen der Eigentümer selbst wegen

179 Der wierw-Spruch: nemo stbi ipse causam possessionis mutare potest galt gerade auch für den Mieter und Pächter, sah also eine solche lnnchabung als Besitz an. Siehe K a s f r , RPR I S. 386. Vgl. damit die Entscheidung des Mucius (bei Pomponius 9 ad Quintum Mucium D 34,2,34 pr.), der einem Juwelier an einem ihm im Rahmen einer Ιικαήυ comluetio überlassenen Stoff ein suum zuspricht, das im Rahmen der Auslegung eines Legatstextes das suum des Eigentümers ver­ drängte, und die Stoiker, die sagen, daß dis Schiff (und seine Bretter nach Schiftbruch) den Passagieren als suum zusteht, nicht dem Eigentümer (Cicero, De officiis III 23, 89 f.), weil sic näher an dem Schiff sind als der Eigentümer. In diesen Notizen spiegelt sich das vorklassische, vom Naturrecht her entwickelte Sachenrecht. 180 Dies ist der Sinn, den die Regel bei Gaius III203-207 hat. Es ist cine media sententia zwischen der klassischen Auffassung, daß nur der Eigenbesitzer berechtigt ist (vgl. sogleich im Text) und der vor­ klassischen Ansicht, daß jedes Interesse an der Sache diebstahlsgeschützt ist (vgl. die folgende Fn.). 181 Javolen 4 epistularum D 47,2,75(74) respondit: empUm duplo, quanti eius interest, aestiman ilebet,

domino autem duplo, quanti ea mulier fuent. nec nos movere debet, quod duobus poena furti pracsLibttwr, quippe, cum eiuulcm rei nomine praestetur, emptori eius possessumis, domino ipsius proprietatis causa praestanda est. Der Unterschied zwischen dem often bestimmten naturrcchtlichen Interesse des Besitzers und dem - neben ihm - auf den strikten Sachwert beschränkten Eigentümer ist lehrreich. Bei Gaius (oben En. 180) ist dagegen - wohl durch Julian vermittelt immer nur einer zur Klage berechtigt.

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Diebstahls haftete, weil er dem Pfandgläubiger oder dem Entleiher die Sache entwen­ det hatte182. Dies naturrechtliche Diebstahlsrecht ist für die lex Atm ia dadurch bezeugt, daß dieses Gesetz nach seinem Wortlaut für die purgatio reifürtivae Rückkehr zu jedwe­ dem Bestohlenen vorsah; erst die - als klassisch erkennbare - Auslegung forderte dafür die Rückkehr zum Eigentümer (o. Fn. 52). D er Zeitpunkt des Wechsels ist uns durch die bei Pomponius 38 ad Q uintum Mucium D 47,2,77 (76) überlieferte M udus-Servius Kontroverse zum bestohlenen Dieb erkennbar: M udus verwehrt dem bestohlenen Dieb eine Diebstahlsklage, weil sein Interesse unehrenhaft sei, also vom N aturrecht nicht anerkannt werden könne. Servius gibt dem bestohlenen Dieb dagegen jedenfalls dann die Diebstahlsklage, wenn im konkreten Fall kein Eigentü­ m er auftritt und auch in Zukunft nicht damit zu rechnen ist, und zeigt damit, daß der klassisch-institutionelle Tatbestand des „rem dam amavere* zwar in dem Eigenbesit­ zer den Eigentümer schützen wollte, notfalls aber auch den faktischen Eigenbesitz allein ausrdchen lassen konnte.

(2) QUATENUS M ANU TENERE POSSUNT In der neuen klassischen Jurisprudenz weist das Gesetz nicht auf N aturrecht Viel­ m ehr wird der Diebstahlstatbestand jetzt dem Gesetzeswortlaut selbst entnommen, und zwar in einer dem konventionellen Verständnis nahen und zugleich restriktiven Auslegung. Das Ergebnis dieser „dialektischen“, d. h. begrifflich ausdifferenzierenden Interpretation mutet den heutigen Juristen viel vertrauter an. Die damals eingeführte handgreiflich konkretisierende Definition des Furtum: REM ALIENAM CLAM AM OVERE - „eine fremde Sache heimlich fortschaffen“ erinnert, bis auf das Element der „Heimlichkeit“, das allerdings auch schon im Laufe der hochklassischen Zeit wieder abgestoßen wurde, sehr an die moderne Diebstahlsdogmatik, etwa die des deutschen § 242 StGB. Kennzeichnend für die Arbeitsweise dieser Richtung schlägt sich diese Definition, die uns durch die Gunst der Überlieferung in einem ganz ursprünglichen Kontext bewahrt ist, auch in neuen Etymologien nieder. Statt des wertenden „fraus*, an dem Sabinus festhält und das natürlich die „fraudulosa contrectatio* der veteres widerspie­ gelt, lehrt Labeo, daß man das deskriptive *furvus* (Georges s. v.: „kohlschwarz, rabenschwarz, finster“) 183, also das Tatbestandsmerkmal der Heimlichkeit, in das

182 Zum Pfandgläubiger Cassius bei Paul 54 ad edictum D 41,3,4,21 und zum Endeiher Julian 3 cx Minicio D 47,2,60 (59). Julian kritisiert hier eine ältere (ersichtlich klassische) Ansicht, die wohl die des Minidus ist, daß der Endeiher niemals eine Klage hat, weil der Verleiher, der stiehlt, sein Eigentum genommen habe (suwn recepisset), mit dem (vorklassischen) Gesichtspunkt, daß der vom Verleiher bestohlene Endeiher ja im Falle von Verwendungen ein Rctendonsinteresse haben könne, ln jedem Fall ist klar, daß dann, wenn der Eigentümer stiehlt, diesem nicht wegen Verletzung der custodia gehaftet wird. 183 Man fühlt sich an das in Deutschland im letzten Kriege verbreitete schwarze Schreckbild des „Kohlcnklau“ erinnert.

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W ort hineinlesen müsse, weil der Diebstahl heimlich und im Verborgenen ge­ schehe: Imulus libro 39 ad edictum D 47,2,1 pr Furtum a furvo, id ea nigro dictum Labeo ait, quod dam et obscurofia t etplerum que nocte: v e l a fraude, ut Sabinus ait,

während eine andere klassische (und ausnahmsweise sogar einmal zutreffende) Etymologie an dem furtum das Wegtragen (ferre), also tatbestandlich das „amovere* betont, etwas, was das bloße „Antasten“ des „contrectare* (vgl. den Grundstücksdieb­ stahl und den des Getreidehaufens durch Diebstahl nur einer kleinen Menge aus ihm) aus dem Diebstahlstatbestand ausschließt. Inst. 4,1,2 vel a ferendo, id est auferendo.

Die Definition selbst ist uns durch die Kommentarliteratur zu dem mit Servius beginnenden klassischen Edikt bezeugt, und zwar aus einem einfachen systemati­ schen Grund. Weil der neue Diebstahlstatbestand so eng war, wurde neben einem ergänzenden Gesetz, das uns noch beschäftigen wird, auch eine prätorische Regelung legis supplendi gratia nötig. Das Edikt betrifft den Raub, die offene, gewaltsame Wegnahme einer fremden Sache. Mit der Einführung des Tatbestandes des rem clam amavere, der eine heim­ liche Tat forderte, hatte der Raub aufgehört zu sein, was er vorher - und später seit Julian wieder184 - unzweifelhaft war, nämlich eine besonders verwerfliche Form des Diebstahls. D er Raub war kein Diebstahl mehr. Die Lücke wurde durch das be­ kannte prätorische Edikt über den Raub geschlossen. Und obwohl später die Rück­ kehr des vorklassischen contivctatio-Tatbesxandes das Edikt eigentlich überflüssig machte, blieb das Edikt erhalten und mit ihm auch die Erklärung, die einst seine Notwendigkeit begründete. Ulpian 56 ad edictum D 47,8,2 pr. Praetor ait: S I . .. CUIUS BONA RAPTA ESSE DICENTUR, IN EUM, Q U I ID FECISSE DICETUR, IUDICIUM DABO .

Dieses Edikt stammt aus der Gründungszeit der klassischen Jurisprudenz, und zwar sowohl nach der Demburg-Regcl185 als auch infolge des Umstands, daß die Verurtei­ lungsbedingungen des erteilten Prozesses in factum (nicht in ius) konzipiert sind186.

184 Ulpian 56 ad edictum D 47,8,2,10 nam Julianus scribit eum qui v i rapit furem esse improbiorem . 185 D i e s e Regel, die nach ihrem Entdecker in der Tat die D E R N B U R G - R e g e l genannt zu werden verdient (vgl. D e r n b u r g , Untersuchungen über das Alter der einzelnen Satzungen des prätori­ schen Edikts, Festgabe Heffter [1873] S. 103,109 if.), besagt, daß die Rechtsschutzverheißungs­ edikte, in denen der Prätor die Erteilung des Prozesses von einem schlüssigen Sachvortrag abhängig macht (si - dicetur), einer gemeinsamen jüngeren Schicht angehören. Und diese Schicht ist dauert durch die Tatsache, daß die von Aquilius Gallus und Servius Sulpicius eingeführtc actio de dolo ein solches Rechtsschutzverheißungsedikt hat. 186 Solche Klagen gibt es nicht vor Aquilius Gallus und Servius Sulpicius. Vgl. den dank der CiceroRede pro Tullio gut erschließbaren Wordaut von Edikt und Formel der prätorischen Raubklage bei Lenel, Edictum perpetuum (1927)3 S. 394 f. Die klassisch-restriktive Auslegung, die der Klage mitgegeben war und ihr treu blieb, zeigt sich darin, daß bei ihr das verum pretium rei quadripuliert wurde und nicht das Interesse (Ulipan 56 ad edictum D 47,8,2,13).

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Es verhängte gegen den Räuber, der nach altem Recht ein mit dem vierfachen büßender fü r manifestos gewesen war, eine auf das vierfache lautende Strafklage18718. Ulpian reproduziert nun kennzeichnenderweise in seinem Kommentar ganz die ursprüngliche Normsituation der klassisch-institutionellen Jurisprudenz der Repu­ blik, wenn er bei dem Versuch, den Geltungsbereich der ediktalen Raubklage zu bestimmen, die actio furti auf die heimliche Begehungsweise beschränkt. Ulpian 56 ad edictum D 47, 8, 2, 23 Et generaliter dicendum est, ex quibus causis fu rti m ihi actio com petit m re clam (!) facta, ex tsdem

(F. hisdem) causis habere m e hanc actionem 198. (Und grundsätzlich ist zu sagen: Überall dort, wo ich bei heimlicher Begehung der Tat die Diebstahlsklage hätte, habe ich [bei offener räuberischer Begehungsweise] diese Klage [d h. die besondere Raubklage des Prätors]).

Uns ist an der hier formulierten, recht anspruchsvollen Abhängigkeitsregel189, welche die Anwendung des Edikts einschränken will und daher von Ulpian auch noch näher problematisiert (und eingeschränkt) wird, die in ihr enthaltene Grundaussage wich­ tig: Wenn es an der Heimlichkeit fehlt, greift das prätorische Edikt ein; bei Heimlich­ keit wäre eine gesetzliche Diebstahlsklage gegeben; fehlt sie, m uß der Prätor mit dem Edikt helfen. Die Abhängigkeit der spätklassischen Ediktskommentare von dem ersten Edikts­ kommentar des Servius Sulpicius wird hier besonders deutlich erkennbar. Ulpian teilt zwar zu diesem Edikt m it190, daß der Räuber ein besonders verwerflicher Dieb sei steht also durchaus auf dem Standpunkt, der für den Dieb das Tatbestandsmerkmal der Heimlichkeit aufgegeben hat -, sieht sich aber nicht genötigt, daraus die Konse­ quenz zu ziehen und auszusprechen, daß das prätorische Edikt damit entbehrlich geworden ist. Gaius ist in dem Punkte klarer. Er führt den Raub als Fall der contrectatio ein und gibt dann in seinem Kommentar durch ein seddeutlich zu verstehen, daß im Rahmen

187 Vgl. Papinian 12 quaestionum D 47,2,81(80),3 Cum raptor om ntm odo furtum facit, manifestusfur existim andus est: (4) h autem , cuius dolo fu erit raptum, fu rti qutdem non tenebitur, sed v i bonorum raptorum. Siehe auch K u n k e l/H o n s e ll, RR S. 363. 188 Fast unverändert reproduziert in den Institutionen (Inst. 4,2,2): Et generaliter dicendum est, ex quibus causis fu rti actio com petit in re clam facta, ex isdem causis omnes habere hanc actionem .

189 Er fahrt loc.cit. mit einem Selbsteinwand fort: adquin ob rem depositam fu rti actionem non habemus, sed ideo addidi, si intersit nostra non esse raptam. Der Depositar hat nach klassischem Recht die actio fu rti nicht, weil ihm mangels Haftung für custodia das Interesse am rem salvam esse (Gaius HI 207) fehlt. Daher, sagt Ulpian, habe er die Abhängigkeitsregel unter die einschrän­ kende Interessebedingung gestellt. Ülpian weist dann noch darauf hin, daß durch besondere Vertragsgestaltung der Verwahrer das fragliche Interesse erwerben könne. Im folgenden § 24 löst sich der Text von der Abhängigkeitsregel: U tilius dicendum est et ή cesset actio fu rti ob rem depositam , esse tarnen v i bonorum raptorum actionem , quia non m inim a differentia est inter eum qui clam facit (!) et eum qui rapit, cum dic celet suum delictum , hic publicet et crimen etiam publicum adm ittat, si quis igitur interesse sua vel m odice docebit, debet habere v i honorum raptorum actionem.

Man hat in diesen Worten eine legislatorische Interpolation Justinians gesehen. Das ist möglich, aber keineswegs sicher, da nach dem Wortlaut des klassischen Edikts die actio v i bonorum raptorum nicht durch die Regel eingeschränkt war, daß im Falle der Heimlichkeit ein Diebstahl vorliegen müsse. 190 Ulpian 56 ad edictum D 47,8,2,10; vgl. den Text o. Fn. 184 und unten S. 234.

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der ihm vor Augen stehenden Normsituation der Prätor etwas Überflüssiges getan hat, als er die Raubklage einführte. Gaius ΙΠ 209 Q m res alienas rapit, tenetur etiam fu rti quis enim magis alienam rem in vito dom ino (con)trectat, quam qui rapitf itaque recte dictum est eum improbum furem esse; sed propriam actionem eius delica nom ine praetor introduxit, quae appellatur v i bonorum raptorum

D er Normwandel, der den Raub zunächst einmal aus dem Diebstahl ausgliederte, erzwang im übrigen nicht nur ein neues Edikt, sondern, wie schon bemerkt, auch ein neues Gesetz. Die geraubte Sache konnte mangels Heimlichkeit der Tat nicht mehr als eine gestohlene angesehen werden. Daher m ußte nunmehr die Ersitzungsunfahigkeit gewaltsam in Besitz genommener Sachen gesetzlich neu begründet werden. U nter den veteres folgte die Furdvität gewaltsam in Besitz genommener Sachen aus der contrectatio fraudulosa und daher unmittelbar aus den Zwölftafeln. Gaius Π 45 Furtivam rem lex ΧΠ tabularum usucapi prohibet, v i possessam lex Julia (a 17 n. Chr.) et Plautia

(zwischen 87-63 v. C hr.191).

Diese Überlieferung ist auch aus einem besonderen Grunde wertvoll: Mit der Datierung der lex Plautia, des ersten Gesetzes, ordnet sie den Beginn der neuen Normsituation zeitlich so ein, wie man es auch erwarten würde, wenn man die Lebensdaten der Protagonisten des Systemwechsels betrachtet. Denn auch mit diesen Erwägungen kommt man ungefähr in die Zeit zwischen 87 und 63, und zwar eher in deren spätere Mitte. Q . Mucius wurde im Jahre 82 ermordet; seitdem konnten seine Responsen nicht mehr unmittelbar wirken. Servius, der als ungefährer Altersge­ nosse des 106 geborenen Cicero beim Tode des Mucius 24 oder 25 Jahre alt gewesen sein mochte, konnte nunm ehr beginnen, mit seinem Mitstreiter Aquilius Gallus in der Rechtsweisung die Führung übernehmen und antreten, was Cicero in Bezug auf Aquilius das regnum iudiciale nennt, die Herrschaft über das praktische Recht192. Darauf, daß dies in dem folgenden Jahrzehnt tatsächlich geschah und damals das neue, insbesondere an der Demburg-Regcl erkennbare (o. Fn. 185) Edikt durchge­ setzt wurde, deutet auch die Tatsache, daß in der Rede pro Tullio von 71 die in factum konzipierte Formel der actio v i bonorum raptorum bereits vorausgesetzt ist193, sowie der Umstand, daß zur Zeit der (nach neueren Ergebnissen aus dem gleichen Jahr stammenden) Rede pro Caecina das neue Juristengeschlecht, das streng auf den Wortlaut der Tatbestände abstellcn will, sich als eine Kraft bereits formiert hatte194. Die (um das Heimlichkeitselement verkürzte) klassische Diebstahlsdefinition ist uns schließlich auch noch zweimal bei Gaius bewahrt, und zwar das eine Mal

191

r o t o n d i , Leges publicae populi Romani (1912, Nachdruck 1966) S. 377 f. und S. 450; vgl. auch Julian 44 digestorum D 41,3,33,2. 192 Cicero, ad Atticum 1,1 (10), 1 193 Vgl. G elzer, RE (1939) s. v. Tullius Sp. 842 und oben Fn. 186. 194 Zum neuen Juristengeschlecht, das in der Rede in Gestalt des Aquilius Gallus auftritt, B fhrends , Fraus legis S. 41 ff.; zur Neudatierung der Rede pro Caecina vgl. N icosia , Studi sulla ,deiectio, 1(1965) S. 147 ff., 151 ff.;G. W esener , Studi Grosso 1 (1968) S. 211 mit Fn. 68; bisher datierte man sie in das Jahr 69.

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verbunden mit dem interessanten Versuch, das Verhältnis des engen klassisch forma­ len Tatbestands zum vorklassischen weiten Prinzip als ein Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen erscheinen zu lassen. D er Diebstahl kann nach dieser Betrach­ tungsweise sowohl nach dem engen deskriptiven Tatbestand begangen werden als auch nach dem prinzipiellen. Es ist ein Kompromiß, der für das postjulianische Institutionenlehrbuch als typisch gelten kann, mit dem Gaius ja die von Julian inaugurierte Richtung seiner Schule repräsentiert, die das institutionelle Denken rezipiert hat, dennoch aber die sabinianische Schulidentität nicht aufgeben wollte. Gaius ED 195 Furtum autem fit non solum, cum Quis intercipiendi causa rem alienam am avit, sed generaliter, cum quis rem alienam in vito dom ino contrectat.

Auch die zweite Stelle zeigt, daß das M oment der „Heimlichkeit" aus der klassischen Definition herausgenommen worden war. Gaius Π Ι208

bi summa sciendum est quaesitum esse, an impubes rem alienam am ovendo furtum faciat*9*.

Und es leuchtet sofort ein, daß nur durch die Aufopferung des d^m-Erfbrdemisses das amavere mit dem contrectare kompatibel wurde. N ur so konnte es zum Kemtatbestand eines Diebstahls werden, der sich im übrigen wieder dem vorklassischen Prinzip öffnete. Daß dieser durchdachte Diebstahlstatbestand auf Julian zurückgeht, also auf den Juristen, der zur Zeit des Gaius das Schulhaupt der Sabinianer war, darauf deutet die Tatsache, daß sich Ulpian für die Einordnung des Räubers als Dieb aufJulian beruft, und zwar eben zu dem Edikt, das die durch die neue Norm situation notwendig gewordene prätorische Raubklage einführt hatte. Ulpian 56 ad edictum D 47,8,2,10 Ceterum neque fio ti actio neque legis A quiliae contributae stm t in hoc edicto, licet interdum communes sint cum hoc edicto: nam Julianus scribit eum q u iv i rapitfurem esse improbiorem, et ή quid dam ni coactis hominibus dederit, utique etiam A quilia poterit teneri

(Im übrigen sind weder die Diebstahlsklage noch die Klage der lex Aquilia in dieses Edikt eingeordnet, obgleich sie bisweilen mit diesem Edikt gemeinsam gegeben sind; denn Julian schreibe, daß derjenige, der gewaltsam raubt, ein besonders verwerflicher Dieb ist, und daß derjenige, der mit zusammengerotteten Männern einen Schaden zufügt, jedenfalls auch mit der actio legis Aquiliae haftbar gemacht werden kann.)

Bei der Gelegenheit wird deutlich, daß dieses Edikt einen Doppeltatbestand hatte. Es bekämpfte nicht nur den Raub, sondern auch die Schädigung durch homines coacti vel armati, und damit kennzeichnenderweise Schädigungsformen, die von der klassi­ schen Interpretation der lex Aquilia mit ihrem Erfordernis der handgreiflichen Un­ mittelbarkeit der Schadenszufügung durch den Täter selbst nicht erfaßt werden konnte195196. 195 Die Antwort lautet: Plerisque placet, quia furtum ex adjectu consistit, ita demum obligari eo crim ine inpuberem, ή proximus pubertati sit et ob id intellegat se delinquere. O b man aus der Tatsache, daß Gaius hier den prinzipiellen und extrem weiten Dicbstahlsbegriff wegläßt, schließen darf, daß man (was natürlich vernünftig wäre) beim impubes nur den handgreiflichen Diebstahl in Erwägung zog, steht dahin. 196 Vgl. L enel Edictum perpetuum (1927)3 S. 391 ff.; L enel , Ralingenesia Iuris Gvilis Π ΙS. 761 f.

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Man darf es nach allem Julians Einfluß zuschreiben, wenn Gaius, wie selbstver­ ständlich, den von der Heimlichkeit befreiten klassischen Tatbestand gewissermaßen als Begriffskem, das vorklassische Prinzip als (kasuistisch zu entfaltenden) Begriffshof des Diebstahlsbegriffs der Zwölftafeln darstellt Erfolg und Lebenskraft der vollständigen, die Heimlichkeit umfassenden klas­ sischen Definition, deren Enge, wie gesehen, zwei ergänzende Normsetzungen veranlaßte, eine ediktale und eine gesetzliche, zeigt sich daran, daß der Nichtjurist Gellius, der um 130 geboren ungefähr ein Zeitgenosse des Gaius w ar197, die erörterte wfentf-Kasuistik mit dem Argument vorfuhrt, es solle nicht jemand am Ende fälschlich glauben, Dieb sei nur, wer etwas ungesehen davontrage oder heimlich entwende: Gellius 11,18,19 Quam caste autem ac religiose a prudentissim is viris (d. h. den vorklassischen Juristen) quid esset ,furtum ‘ definitum sit, praetereundum non puto, ne quis eum solum esse furem putet, qui occulte to llit aut clam subripit Verba sunt S abin i...

2. D ie Regerrwassemcherung der Zwölftafeln (1) QUATENUS RATIO NE E T INTELLEGENTIA Das schädigende Regenwasser ist in der Landschaft Italiens, die gewaltige Wolken­ brüche kennt und viele Hanglagen, denen durch Sturzbäche der gesamte M utterbo­ den verloren gehen kann198, ein Problem, dem die Juristen seit den Zwölftafeln viel Aufmerksamkeit widmen mußten. Immer geht es um die Frage, in welchem Umfang jemand seinen Nachbarn dazu anhalten darf, Vorkehrungen zu treffen, daß das Regenwasser, das von dessen Feld auf das eigene läuft, ihn nicht schädigt. Die Klage betrifft nur landwirtschaftlich genutzten Boden und dürfte mit dieser auch der Grenzregelungsklage eigenen Einschränkungen letztlich wie diese aus der alten magistratischen Feldaufsicht stammen, die in die Anfänge der römischen Siedlungs­ geschichte zurückweist199. D er Zufall oder eher G ceros Freude an beziehungsvollen Beispielen hat es mit sich gebracht, daß uns zu dieser Gesetzesvorschrift und ihrer durch den Übergang von vorklassischer zu klassischer Interpretationsweise geprägten Auslegungsgeschichte das meiste argumentationstheoretisch-philosophische Detail überliefert ist. Cicero polemisiert in seiner Topica dagegen, daß sein Lehrer Q . Mucius bei der Auslegung der Zwölftafel Vorschrift über die AQUA PLUVIA NOCENS (ΧΠ tab. VII 8a) daherkommen und einfach alles Wasser, das bei Regen sich ansammelt und zu Bächen oder Wasserläusen anschwillt, für sicherungspflichtig erklären würde. G cero erklärt das für falsch. Man brauche nicht, wenn es um das Argumentieren mit einem

197 Vgl. Hosius, RE (1910) s. v. Gellius 2) Sp. 992; Gaius’ Geburt fällt in die Regierungszeit Hadrians (117-138), K übler , RE (1910) s. v. Gaius Sp. 488. 198 Eine beeindruckende Schilderung findet sich in dem Roman JFontamara' von Ignazio Silone. 199 Vgl. dazu Behkends , Bodenhoheit (1992) S. 230 ff.

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Begriff gehe, bis zum höchsten Begriff hinaufzugehen. Da caput neben Oberbegriff und Grundsatz (Prinzip) auch die Quelle bezeichnet, also den O rt, von wo etwas fließt, und Mucius seine Prinzipien, die Servius in der Schrift Capita Mucii reprehensa (sive notata) einer scharfen methodischen Kritik unterzogen hatte, als Prinzipien auffaßte, die einem alten Bilde folgend in die Verhältnisse „einströmen“ (manareyvgl. G cero, De officiis 3,17,70), ist dieses Beispiel vermutlich mit Bedacht und Freude am Wortspiel ausgewählt: M udus, der Theoretiker der Quellbegriffe, wird mit einem Beispiel kritisiert, in dem die von einem Quellprinzip hergeleiteten Pflichten sich gerade mit den W irkungen des feuchten Elementes beschäftigen. Gcero, Topica 9,39 M ucius. . . diceret, omnem aquam oportere arceri quae pluendo crevisset Cum autem a genere ducetur argumentum, non erit necesse id usque a capite arcessere. (Mucius würde sagen, daß alles Regenwasser, das bei Regenfallen anschwillt, gesichert werden muß. Aber wenn eine Argumentation von einem Begriff ausgeht, ist es nicht nötig, von dem obersten Begriff [dem Quellprinzip] auszugehen.)

Ciceros Kritik ist von der klassisch-restriktiven Theorie her bestimmt, die nur noch für Wasser haften läßt, das durch ein opus manu factum anders fließt, als es von N atur aus fließen würde. Diese Lehre erklärt damit einen näher spezifizierten Klassenbegriff für maßgeblich. Daher scheint mit dem Oberbegriff, dessen Anwendung M udus als verfehlt vorgehalten wird, wenn man Cicero wörtlich und nur vom Standpunkt der von ihm favorisierten Methode liest, ebenfalls ein Klassenbegriff gemeint, nämlich „alles Regenwasser“. Man würde jedoch in die Irre gehen, wollte man aus dieser Darstellungsweise auf die Methode des M udus schließen. In W ahrhdt vertritt Mu­ dus die Geltung eines typisch naturrechtlichen Pflichtenbegriffs, der nicht Ge­ genstände klassifiziert, sondern menschliches Verhalten leiten will, allerdings eines solchen, der sich - insofern ist Ciceros Einordnung zu einem gewissen Grade begrün­ det - in der Tat auf alles Regenwasser bezieht. Die Digestenüberlieferung gibt über die naturrechtliche Haltung des M udus näheren Aufschluß. M udus wird in den Digesten mit Ansichten zitiert, die deutlich machen, daß für ihn die Abwägung, was dem Nachbarn geschuldet wird, nicht mit formalen Tatbeständen einzugrenzen ist, sondern in Abwägungen zu geschehen hat, in Abwägung zwischen der Freiheit des Eigentümers, sein Grundstück zu nutzen, und seiner naturrechtlichen Pflicht, auf den Nachbarn Rücksicht zu nehmen. Jede Art von Wasser, das bei Regen abfließt, gestattet die Frage, ob der Eigentümer Vorkehrungen treffen mußte oder sich im Rahmen der erlaubten N utzung seines Eigentumsrechts bewegt. Ulpian 53 ad edictum D 39,3,1,3/4 De eo opere, quod agri colendi causa aratro factum sit, Quintus Mucius ait non competere hanc actionem. (§ 4) Sed etfossas agrorum sicandorum causa factas Mucius aitfundi colendi causa fieri, non tamen oportere corrivandae aquae causa fieri: sic enim debere quem meliorem agrum suum facere, ne vicini deteriorem faciat

M udus ordnet Entwässerungsgräben grundsätzlich als eine dem Eigentümer erlaubte Melioration ein, verbietet nur das corrivare, also ein Verfahren, b d dem die Wasser­ läufe zusammengeführt und dadurch gefährlich werden. M udus ist hier deutlich elastischer als Servius, sein O pponent, der nicht umhin kann, grundsätzlich alle

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Wassergräben als opus manu factum einzuordnen und zu verbieten200. Die Vorzüge, welche die M ethode des Mucius aufweist, wenn es um die Bestimmung sozialer Pflichten geht, erklären auch hier den Rückgriff der späteren Zeit auf seine Lehren. Daß die Wiener-Juristen dieses von naturrechtlichen Pflichten erfüllte Nachbarrecht tatsächlich in Form einer technischen Zwölftafelauslegung gewonnen haben, wird durch die folgende Stelle illustriert. Pomponius 7 ex Plautio D 40,7,21 ,videbitur', pro hoc accipi debet ,viden poterit': sic et verba legis duodecim tabularum veteres interpretati sunt ,α aqua pluvia nocet \ id est j i nocere poterit ‘. (Die Worte „wenn - erscheinen werden“ sollen aufgefaßt werden: „wenn - erscheinen könnte“. So haben auch die vorklassischen Juristen die Worte des Zwölftafelgesetzes „wenn Regenwasser scha­ det“ interpretiert als „wenn Regenwasser schaden könnte“.)

Die Vorgehensweise ist typisch. Die vorklassischen Juristen geben dem Zwölftafel­ text, der wörtlich genommen von einem bereits eingetretenen Schaden spricht: „Wenn Regenwasser Schaden bewirkt“ in einem ersten noch ganz vom Text ausge­ henden Schritt einen offenen Sinn: „Wenn Regenwasser Schaden bewirken könnte“ und schließen daran dann die Formulierung des vom Gesetz gemeinten Prinzips an, das wir schon kennengelemt haben und von dem auch bei Pomponius mittelbar noch deutlich die Rede ist. Im klassischen, vom Edikt und nicht mehr von den Zwölftafeln her denkenden Recht wurde dagegen die Regenwasserhaftung begrifflich als eine Haftung für damnum nondum factum definiert, und zwar in der Weise, daß die klassifizierende Definition im Kommentar zum Edikt als eine konkretisierende Inhaltsbestimmung der zivilrechtlichen, zu den Zwölftafeln entwickelten und im Edikt proponierten actio aquae pluviae arcendae erscheint201. Pomponius führt die vorklassische Öffnung des Zwölftafeltextes an, um ein ähnliches Vorgehen bei der Auslegung einer Testamentsbestimmung zu rechtfertigen. Pomponius libro septimo ex Plaudo D 40,7*21 Labeo libro posteriorum ita refert:, Calenus dispensator meus, si rationes diligenter tractasse videbitur; liber esto . . . 1diligentiam desiderare eam debemus, quae domino, non quae servo fuerit utilis, erit autem ei diligentiae conumcta fides bona non solum in rationibus ordinandis, sed edam in relujuo reiLlendo. et quod ita scriptum e s t,videbitur *pro hoc accrpi debet ,vidcri poterit': sic et verba legis duodecim tabularum veteres interpretati sunt ,si aqua pluvia nocet', id est,ή nocere poterit '. et si quaereretur, cui eam diligentiam probari oporteat, heredum arbitratum ν ιή boni more agentium sequi debebimus.

200 Vgl. die Entscheidungen des Scrvius-Schiilers Alfenus (Varus) 4 digestorum a Paulo epitomato­ rum D 39,3,24,1 Sed si quos sulcos transversos aquariosfaceret, per quos in eius agrum Mjua deflueret, hosce ut operiret, perarlntrum atjuae pluviae arcentLte posse cogere. 2 Sed et sifossasfecisset, ex quibus aqua pluvia posset (!) nocere, arbitrum, si appareat futurum , ut aqua pluvia noceret, cogere oportere fossas eum explere et, nisi faceret, corulemnare, tametsi antequam de ea re ludtcaret [F: adiudicaretj aqua per fossas numquam fluxisset. Siehe auch unten Fn. 206. 201 Vgl. Ulpian 53 ad edictum D 39,3,1,1 Haec autem actio (!) locum hälfet in damno nondum facto, opere tamen iam facto, hoc est de eo opere, ex quo damnum timetur. Die von Lend, Das Edictum perpetuum (1927)3 S. 376 überzeugend rekonstruierte Formel enthalt den Begriff nicht aus­ drücklich, setzt ihn aber dem Sinne nach voraus, weil sie auf eine zivilrechdiche Pflicht zur Wassersicherung verweist und damit den Schaden als noch nicht eingetreten behandelt: Si paret opus factum esse in agro Capenate, unde atfua pluvia agro A uli A geni nocet, qiutm ob rem Numerium Negidium eam afjuam Aulo A geno arcere oportet, si ea res arbitrio uuhcis non restitueretur etc.

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Sein Auslegungsgegenstand ist die Freilassungsbedingung: „Wenn er meine Bücher ersichtlich sorgfältig geführt haben wird (videbitur)“. D urch den Vergleich m it der alten Zwölftafelauslegung will er der Testamentsbestimmung einen normativen Beurteilungsspielraum geben: „Wenn er so angesehen werden kann, daß er die Bücher sorgfältig geführt hat (viden poterit)“. Es soll kein objektivierter äußerer Anschein genügen, sondern es soll eine eingehende Prüfung stattfinden können, ob der Sklave wirklich im Interesse der Erben pflichtmäßig gehandelt und die mit der bona fides verknüpfte Sorgfalt (diligentia) beachtet hat. Die Entscheidung über die Pflichtmäßigkeit soll sogar der Erbe selbst treffen, freilich in der Weise, daß er sich dabei als ein bonus vir zu bewähren, also dem Standard der zum normativen M uster erhobenen moralischen Leitfigur der vorklassischen Jurisprudenz zu ent­ sprechen hat. Da damit die Entscheidung der Erben (heredum arbitrium) über die Sorgfalt der Buchführung boni vm more geschehen m uß, ist sie auch gerichtlich überprüfbar. D er Versuch, die Auslegung einer testamentarischen Freilassungsbedingung mit Hilfe einer alten Interpretation einer nachbarrechtlichen Zwölftafelnorm zu begrün­ den, wirkt auf den ersten Blick merkwürdig: D er Nachbar, der die bei Regen von seinem Grundstück kommenden Sturzbäche bändigen soll, und der bedingt freigelassene Sklave, der den Erben Rechnung legen soll, scheinen miteinander nicht viel gemein zu haben. D er Gesichtspunkt, unter dem sie vergleichbar werden, ist der sehr allgemeine der mitmenschlichen, auf das Naturrecht der veteres zurückgehende Rechtspflichten. Es dürfte denn auch vor allem die Methode sein, die Paulus zu dem Vergleich bestimmt hat. Es ist zulässig - das will der Vergleich besagen - einen normativen Text über seinen W ortlaut hinaus zu öffnen, wenn die Sache, von der in ihm die Rede ist, zwischenmenschliche und damit letztlich naturrechtliche Pflichten berührt und, so wird jedenfalls Q . Mucius ergänzt haben, aus dessen Werk diese Tradition vermutlich schöpft, die Sprachform sich nicht in einem demonstrativen Sinn erschöpft. Das ist aber bei bedingten Sätzen niemals der Fall (vgl. o. Fn. 81). Die Art, wie Pomponius diese Argumentation einführt, beweist im übrigen eindrucks­ voll, wie intensiv die Nachwirkung der vorklassischen Jurisprudenz in seiner Zeit gewesen sein muß. Denn Pomponius behandelt die alte Auslegung wie ein Para­ digma, setzt also voraus, daß seine Leser es kennen oder unschwer die Möglichkeit haben, sich über seine Bedeutung zu unterrichten. In jedem Fall gibt uns das Fragment eine wertvolle Bestätigung dessen, was wir aus G ceros Topica erfahren haben. Der Vergleich des Pomponius verdeutlicht nicht nur, daß die veteres an die Zwölftafeln ein Nachbarrecht herangetragen haben, das be­ stimmte, in welchem Maße naturrechtliche Rücksichtspflichten das Nutzungsrecht des Eigentümers einschränkten, sondern nennt uns auf diese Weise auch die Quell­ prinzipien, aus denen Mucius argumentierte, das Vertrauensprinzip (bona fides)t das zur wechselseitigen zwischenmenschlichen Rücksicht verpflichtet, und zugleich das Sorgfaltsprinzip (diligentia), das gebietet, bei der Verwirklichung dieser Rücksichts­ pflicht die erforderliche Sorgfalt walten zu lassen.

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(2) Q U ATINU S M ANU TENERE POSSUNT Die gleiche Zwölftafelbestimmung SIAQUA PLUVIA N O C ET(ΧΠ tab. VH, 8a), wird in der „dialektischen“, das heißt gegenständlich ausdifferenzierenden Auslegung der klassischen Methode vollkommen verwandelt. Die Auslegung greift nicht mehr aus auf ein naturrechtliches Pflichtenprinzip, sondern sucht nach einem handgreiflichen und körperlichen Bezugspunkt Sie findet ihn in der von Hand bewirkten Verände­ rung des Grundstücks, die den Lauf des Regenwassers beeinflußt Eine solche Verän­ derung des Grundstücks durch ein opus manu factum begründet jetzt die Haftung. Cicero teilt in der gleichen Topica-Stelle, die wir im voraufgegangenen Abschnitt Q . Mucius und die veteres-]urisprudenz ausgewertet haben, mit, wie im Gegensatz zu Mucius’ Quellprinzip die richtige Auslegungsmethode verfahren sollte. Diese Kritik ist so sehr im Geist der Reprehensa capita Quinn Mucii des Servius Sulpicius gehalten, daß kein Zweifel daran bestehen kann, wem Cicero hier die Selbstsicherheit verdankt: keinem anderen als seinem Servius, dessen er auch in seiner Topica mit einem Servius noster gedenkt (vgl. Topica 8, 36). G cero, Topica 9,39 Saepe etiam citra licet, dum m odo supra sit quod sumitur, quam id a d quod sumitur; ut aqua plu via ultim o genere ea est quae de caelo veniens crescit im bri, sed propiore, quo quasi ius arcendi continetur [genus est aqua pluvia, Glosse], nocens: eius generis formae loci vitio et manu nocens, quarum altera iubetur ab arbitro coerceri altera non iubetur.

(Häufig darf man [bei einem Argument mit einem Rechtsbegriff] auch unterhalb [sc. des obersten Begriffs] ansetzen, solange der Begriff, der gewählt wird, nur über dem Sachverhalt steht, für den er gewählt wird. Zum Beispiel: Regenwasser ist nach seinem obersten Begriff das, was vom Himmel kommend bei Regen anschwillt und nach seinem näher bestimmten Begriff, von dem das Recht der Sicherung umfaßt wird, das schädigende. Von dieser Art gibt es zwei Unterarten, eines, das durch Geländemängel schädigt, das andere, das durch von Hand bewirkte Veränderung schädigt: das eine gebietet der Schiedsrichter zu sichern, das andere nicht.)

Diese Definition beherrscht die klassischen Ediktskommentare. Ulpian 53 ad edictum D 39,3,1,1 H aec autem actio locum habet in dam no nondum facto, opere tarnen tarn facto, hoc estdeeo opere, ex quo damnum tim etur: todensque locum habet, quotiens manu facto opere agro aqua nocitura est, id est cum quis manu fecerit, quo aliterflueret, quam natura soleret... quod st natura aqua noceret, ea actione non condne{n)tur.

Verantwortlich ist der Nachbar für das, was er mit seiner Hand getan hat; für die N atur ist er nicht verantwortlich. Es ist nützlich, sich zunächst die hier empfohlene dialektisch-dihairetische Technik in einem kleinen Schaubild vor Augen zu stellen. Ziel der Technik ist eine durch begriffliche Ausdifferenzierung bewirkte handgreifliche Konkretisierung. Das recht­ lich Unerhebliche wird abgcschichtet. Das Ergebnis ist die Beschränkung der Haf­ tung auf voraufgegangenes Tun. acfua pluvia

-

nocens manu

-

non nocens

loci vitio [natura]

Es ist gleichgültig, welcher Schrift des Servius Cicero diese präzisen Informationen verdankt, ob den Reprehensa Mucii capita, dem Brutus gewidmeten Ediktskommen-

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tar oder den Zwölftafelauslegungen, die nach Lenels Vermutungen einen Kommen­ tar darstellten202. Jedenfalls beherrscht das, was G cero hier ausfuhrt, das spätere Recht, weil es von Servius zu seiner Zeit in das Recht eingeführt worden ist. Und für Ulpians Ediktskommentar führt diese Dogmatik wiederum, so wie wir es beim Edikt über Raub gesehen haben, auf den ersten rechtswissenschaftlichen Ediktskommentar zurück, nämlich den des Servius Sulpicius. An diesem Befund ist kein Zweifel möglich. Ulpian arbeitet in seinem Kommentar mit den gleichen Definitionen und Distinktionen, die Cicero in der Kritik an Mucius anführt: Ulpian 53 ad edictum D 39,3,1 pr./l

. . . Aquam pluviam dicimus, quae de caelo cadit atque imbre excrescit . . . ( § ! ) . . . totiensque locum habet, quotiens manu facto opere agro aqua nocitura est, id est cum quis manu fecerit, quo aliter flueret, quam natura soleret

Diese begriffliche Präzisierung bietet keinen bloßen äußeren Schematismus, sondern birgt auch den inhaltlichen Gedanken, daß der Nachbar das, was die N atur verhängt, ertragen muß203, sich aber wehren kann, wenn sein Grundstück infolge eines opus manu factum bei Regen in neuartiger Weise in Anspruch genommen wird. Diese Inanspruchnahme konnte im Vergleich zur natürlichen Servitut, welche die N atur dem Unterlieger zumutet (Fn. 203), als eine A rt unrechtmäßige Beanspruchung betrachtet werden, deren Beseitigung gefordert werden durfte204. Damit folgt diese Auslegung zugleich ganz der ratio iuris des Servius, insbesondere auch der für sie konstitutiven Unterscheidung zwischen von Menschen erzeugter Rechtsordnung (institutio) und einer deskriptiv erfaßten N atur (natura). Daher be­ stimmte die Beschränkung der Reichweite des Zwölftafelgesetzes zugleich die Gren­ ze, bis zu welcher der Mensch die N atur so hinnehmen muß, wie sie ist. Diese Überlieferung bestätigt daher noch einmal, daß die dialektische Jurisprudenz ihre von Definitionen und Benennungen genährte O rdnung sowohl in die körperliche N atur als auch in die unkörperliche Welt des Rechts hineintrug.

202 L enel , Palingenesia Π 325 Fn. 1. Die sechs Servius-Fragmente, die eine Bemühung um eine klarere Auffassung des Zwölftafeltcxtcs zeigen, liefern in der Tat einen recht starken Beweis, zumal da in dem gewaltigen Oeuvre des Servius auch für einen recht umfangreichen Zwölftafel­ kommentar ohne weiteres Platz wäre. Mit Recht neigte L enel daher aaO zu der Annahme, daß nicht erst Labeo, sondern schon Servius Sulpicius einen von der neuen Methode geprägten Zwölftafelkommentar geschrieben hat. 203 Eine ungünstige Lage bei Regenfällen stellt, wie es bei Labeo anschaulich heißt, eine Dienstbar­ keit dar, welche die Natur selbst zugunsten des Nachbarn an meinem Grundstück bestellt hat. Ulpian 53 ad edictum D 39,3,1,22 . .. Labeo ... semper enim hone esse servitutem inferiorum praediorum , ut natura profluentem aquam excipiant Es muß hier offen bleiben, ob dieser Gedanke schon auf Servius zurückgeht, da dafür auf das Recht der Dienstbarkeiten und ihrer Entwick­ lung eingegangen werden müßte. 204 Es sei denn, für den Nachbarn gelte (Ulpian 53 ad edictum D 39,3,1,23): habuisse longa consuetudine velu t iure im positam servitutem videatur. Der Vergleich mit den Servituten erlaubte die Vorstellung, daß eine auf menschliche Grundstücksveränderung zurückgehende, aber mit Unvordcnklichkcit ausgestattete Inanspruchnahme die Qualität einer rechtlichen Dienstbarkeit erlangt.

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Das Ergebnis ist formaler, freiheitlicher, hat aber den erheblichen Nachteil, daß eine nachbarrechtliche Interessenabwägung nicht mehr möglich ist. Die Anknüpfung an das opusfactum erbrachte vor allem, wie gesehen (o. Fn. 200), das unvernünftige Ergebnis, daß Bodenmeliorationen durch Entwässerungsgräben auch dann untersagt werden konnten, wenn deren Folgen für den Nachbarn zum utbar waren. Die Entschiedenheit, mit der nach dem Abschied vom N aturrecht offene nachbarrecht­ liche Verhaltenspflichten abgelehnt wurden, führte ferner dazu, daß der Fall des Wasserabgrabens, also der Schädigung nicht durch Zuleitung, sondern durch Vorent­ haltung des Regenwassers, den eine pflichtentheoretische Gesetzesinterpretation ohne weiteres erfassen konnte, ungeregelt blieb oder, genauer gesagt, dem Prinzip des ungehemmten Eigennutz überwiesen wurde205. Angesichts solcher Rigidität versteht man, daß über die sabinianische Rechtsschule in der hoch- und spätklassischen Kasuistik manche Gedanken der vorklassischen Zeit wiederkehrten206.

3. Die Schädigung nach der lex Aquilia (1) QUATENUS ΚΑΉ ΟΝΕ E T INTELLEGENTIA Die Tatsache, daß die lex Aquilia in der Zeit der ^eioes-Jurisprudenz von einer „philosophischen“ Auslegung erfaßt wird, zeigt sich vor allem daran, daß das nüch­ terne „iniuria“ - „ohne Recht, zu Unrecht“, das nach dem Wortlaut des Gesetzes eine Schädigung schadensersatzpflichtig machte, auf einen außergesetzlichen, ersichtlich naturrechtlich geprägten cw//w-Begriff bezogen wird. In den Tatbeständen des Ge­ setzes, die Tötung von Sklaven oder vierfüßigem Vieh und sonstige Schädigungen von Sachen, durch Brennen, Brechen und Reißen unterscheiden:

205 Ulpian 53 ad edictum D 39,3,1,21 berichtet, daß die Frage aufgeworfen worden ist, ob auch auf Erhaltung der Bewässerung geklagt werden könne, und daß sie aber von Ofiiius und Labeo vehement abgclehnt wurde, und zwar mit der Begründung: harte entm actionem locum habere, ή aqua pluvia noceat, non ή non pmsü. Es ist recht wahrscheinlich, daß diese Frage schon von den fundatores gestellt und von ihnen weniger rigide beantwortet wurde. Ihre kaiserzeitlichen Nachfolger Sabinus und Cassius sagen zwar auch (ebenda § 11), daß keiner haftet, der Regenwasser für eigene Zwecke ableitet, so daß der Nachbar nichts mehr bekommt, zeigen aber mit der Maxime, die sie dafür anführen: prodesse enim sibi unusquisque, dum (!) alti non nocet, non prohibetur, daß sie die Prüfung erlauben, ob der Nachbar durch die für das eigene Grundstück vorteilhafte Bewässerungsmaßnahme unzumutbar geschädigt werde. 206 Liest man den vielstimmigen Kommentar des Ulpian 53 ad edictum D 39,3,1, erfahrt man, daß Quintus Mucius (§§ 3-5) und Sabinus und Cassius (§§ 8-11) die Autoritäten sind, welche für die Interessen der Bodenmelioration durch Entwässerungsgräben eintreten. Servius selbst wird nicht mehr genannt. Die Ausnahmen, die Trebatius und Labeo zuJasscn, schließen Entwässe­ rungsarbeiten zur Ackermelioration ausdrücklich aus und lassen nur solche zu, die zur Getreide­ gewinnung nötig sind (§§ 3 und 7). Der Servius-Schüler Ofiiius ist großzügiger und läßt Entwässerungsgräben zu, Scrvius-Hörcr verbieten im Gegensatz dazu (als opus manu factum ) das Setzen von Weidengebüschen, das einen dem Nachbarn schädlichen Wasserrückstau zur Holge hat (§§ 5 und 6).

Okko Behrends Gaius 7 ad edictum provinciale D 9,2,2 pr Lege Aquilia capite prim o cavetur: Si quis [F: ut qui] servum servam ve alienum alienam ve quadrupedem ve [F: vel] pecudem iniuria occiderit... Ulpain 18 ad edictum D 9,2,27,5 Tertio autem capite a it eadem lex Aquilia:. . . si quis alten damnum faxit, quod usserit fregerit ruperit iniuria

ist von culpa nicht die Rede. Die culpa der naturrechtlichen Epoche, die von der späteren, klassisch-insdtudonellen culpa deutlich unterschieden ist, meint Verschul­ den im Sinne eines vorwerfbaren Zurückbleibens hinter den von zwischenmensch­ licher Rücksicht geforderten Verhaltenspflichten. Vorwerfbar sind nicht nur vorsätz­ liche Schädigungen, sondern vor allem auch Schädigungen unter Verletzung der im menschlichen Verkehr erforderlichen Sorgfalt (diligentia). Daher haftet nach Q . Mucius, wer bei einer gefährlichen Arbeit (Ausschneiden eines Baumes, Tätigkeit auf einem Baugerüst) den vorbeigehenden Verkehr nicht ausreichend und rechtzeitig warnt207, oder wer ein fremdes Pferd, das er auf seinem Feld entdeckt und daher vertreiben darf, so rücksichdos vertreibt, daß es geschädigt wird208. Diese Entscheidungen konkretisieren zwischenmenschliche oder gesell­ schaftliche Sorgfaltspflichten. An ihrer Einbettung in die Naturrechtslehre der funda­ tores ist kein Zweifel, zumal da diese Kategorie der culpa keineswegs auf das Recht der lex Aquilia beschränkt war, sondern als Vorwurf, gegenüber mitmenschlichen Sorg­ faltspflichten versagt zu haben, in den verschiedensten Verhältnissen der Verkehrsge­ sellschaft auftrat209. Kennzeichnend für das moralisch-naturrechtliche Klima der vorklassischen Tradi­ tion ist, daß die lex Aquilia nicht wie im klassischen Recht einfach als ein Gesetz über Schadensersatz erscheint210, sondern als ein Gesetz, das die Aufgabe hat, die Nichter­ füllung zwischenmenschlicher Verhaltenspflichten durch vorsätzliches oder sorgfalts­ widriges (fahrlässiges) Verhalten zu bestrafen. Daß dieser pönale Gesichtspunkt vom klassischen System aus gesehen haftungserweitemd wirkt, ergibt der jeweilige Zu­ sammenhang, in dem er bemüht wird. Wenn Gaius ihn nennt: 207 Paulus 10 ad Sabinum D 9,2,31 M ucius. . . d ix it. . . posse de culpa agi: culpam autem esse, cum quod [F: quod cum )) a diligente provided potent, non essetprovisum aut tum denuntiatum esset, cum periculum evitari non poterit Dic cw^fci-Haftung ist hier Ausdruck einer allgemeinen Pflichtenhal-

tigkeit des mitmenschlichen Verkehrs. Paulus referiert den Versuch, diese deliktischen Sorgfalts­ pflichten auf öffentliche Wege zu beschranken. Er selbst tritt dafür ein, jedenfalls dann nur für Vorsatz haften zu lassen, wenn unter dem Baum oder dem Gerüst überhaupt kein Weg verlief, gibt aber mit Recht zu erkennen, daß es nach dem Prinzip des Mucius, das er ratio nennt, darauf eigentlich nicht ankommt, vielmehr darauf, ob ein sorgfältiger Mensch damit rechnen mußte, daß seine Arbeit für Dritte gefährlich werden konnte. 208 Pomponius 17 ad Quintum Mucium D 9,2,39. Eine nähere Exegese dieser interessanten Stelle B ehrends , Juristische Schulung 1985, S. 878 ff. 209 Vgl. zur berühmten Entscheidung des P. Mucius in dem Fall der dos Licinniae Behrends, Tiberius S. 68: vgl. auch die wteres-Entscheidung zur Haftung des Stipulationsschuldners Paulus 17 ad Plautium D 45,1,91,3. Jede menschliche Nähebezichung konnte in diesem System pflichtenhaltig werden und von daher den rechtlichen Vorwurf begründen, gegenüber Sorgfaltspflichten versagt zu haben. Lehrreich insofern auch Auslegung des nachbarrechtlichen Pflichten­ verhältnisses im Bereich der Regenwassersicherung durch Q. Mucius o. S. 237 f. 210 Gaius UI 210 Dam ni iniuriae actio constituitur per legem Aquiliam .

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Gaius 1Π 202 ... per legem A quiliam , quae de dam no lata est, edam adpa puniatur,

dann deswegen, um im Anschluß an eine wrerej-Kausistik eine vom Prätor durchzu­ setzende Schadensersatzhaftung für Schäden aufgrund mutwilligen Tierhetzens zu rechtfertigen211. U nd wenn Paulus diesen Gesichtspunkt nennt: Paulus 22 ad edictum D 9,2,30,3 In hac quoque actione, quae ex hoc capitulo oritur, dolus et culpa punitur,

so deswegen, um eine (das klassische System übersteigende) Verantwortlichkeit für Schäden zu begründen, die nämlich nicht eintritt, weil eine für die Schädigung objektiv geeignete und sie in dem Sinn gezielt herbeiführende Ursache gesetzt wird (hier hilft im klassischen System der Magistrat regelmäßig mit einer „untergesetz­ lichen“, auf den Sachverhalt abgestellten Klage), sondern weil bei Gelegenheit einer erlaubten Tätigkeit, nämlich beim Abbrennen eines Stoppelfeldes, Schäden auf Nachbarfeldem entstehen; das in diesem Zusammenhang verwendet occasionem praestare (eine bloße Gelegenheit für einen Schaden setzen) könnte technischen Charakter haben212. Es wird daher kein Zufall sein, daß auch die in der Digestenüberlieferung auf Mucius zurückgehenden Entscheidungen, der Baumschneiderfall und der Stuten­ hetzfall, Schädigungen betreffen, die bei Gelegenheit einer erlaubten Tätigkeit er­ folgen, und daher nicht angesehen werden können als Falle, in denen (im Sinne des klassischen causam praestare) eine für die nachfolgende Schädigung typisch geeignete Ursache gesetzt worden ist. In der klassischen Gesetzesauslegung war die culpa dagegen, wie wir gleich se­ hen werden, kein selbständiger Zurechnungsgesichtspunkt, sondern ein restriktives Merkmal, das darüber entschied, ob die nach dem Prinzip der körperlichen Unmit­ telbarkeit festgestellte Verletzung dem Handelnden als eine gegen das Recht ge­ richtete Handlung zugerechnet werden konnte. Es ist nicht nötig in diesem Zusammenhang, wo es um den Kontrast der beiden Auslegungsrichtungen geht, alle weiteren Interpretationsergebnisse der naturrecht-

211 Gaius 111 202: Wer Großvieh mit einem roten Tuch scheucht, damit es sich ein anderer aneignen kann, haftet nach den veteres mit der Dicbstahlskhge. Für bloß mutwilliges Tierhetzen mit Schaden sfol ge kennt Gaius dagegen eine der lex Aquilia analoge prätorische Klage. Eine solche prätorische, aut den Sachverhalt abgestelltc Klage gibt es erst im klassischen System; erst jetzt wird für die gesetzliche Klage die Forderung autgestelh, daß der Vcrletzungstatbestand unmittel­ bar durch ein damnum corpore datum zugefügt sein muß. Da jedoch das bloß mutw-illige Tierheizen (im Unterschied zum scharfen, unmittelbar auf Schädigung gerichteten Hetzen, Gaius III 219) keine unmittelbar auf den Schaden gerichtete Ursache im Sinne des causam praestare gewesen sein dürfte, die den Prätor regelmäßig zum Einschreiten bestimmte, dient hier der Anschluß an die veteres-}urisprudenz dazu, der prätorischen Gerichtsbarkeit ein Mehr an Freiheit zu verschaffen. 212 Paulus fahrt fort: nam ή die ventoso id fixit, culpae reus est (nam et qui occasionem praestat, damnum fecisse vuletur): in eodem cnminc est et qui non observavit, ne tgms longius procederet, a t «

omnia quae oportuit observavit vel sulnta vis vend longius igne protluxtt, caret culpa. Occasio begegnet auch sonst als die zufällige, d. h. nicht typisch auf den Erfolg gerichtete Ursache. Vgl. etwa pomponius bei Paulus 66 ad edictum I) 43,21,2.

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liehen Epoche aufzuarbeiten. Ich nenne nur noch eines, weil bei ihm wiederum ein Name genannt wird und unter den veteres, die in typisch naturrechtlicher Auslegung das anschauliche rumpere - , brechen, zerbrechen* des 3. Kapitels auf ein generalklau­ selartiges corrumpere - verderben beziehen: Ulpian 18 ad edictum D 9,2,27,13 Inquit le x ,ruperit', rupisse verbum fere amnes veteres sic intellexerunt 'Corruperit'

mit dem Juristen Brutus einer der „Gründer“ erscheint: Ulpian 18 ad edictum D 9,2,27,22 Si mulier pugno vel equa ictu a te percussa eiecerit, Brutus ait Aquilia teneri quasi rupto.

Der Schlag des Titers hat in dem von Brutus entschiedenen Pall keine Verletzung des Körpers im Sinne eine rumpere bewirkt. Die Sklavin, die durch eine Fehlgeburt ihr Kind verlor, oder die Stute, die das Fohlen verwarf, war nur quasi rupta, d. h. nur „verschlechtert“. Denn der Schlag löst einen natürlichen Prozeß aus, der im Sinne des corrumpere zwar eine Verschlechterung des Eigentumsgegenstands bewirkte, nicht aber eine Verletzung, die, wie bei der Zerstörung von Gliedmaßen, als ein „Glieder­ brechen“ im anschaulichen Sinn angesehen werden könnte. Die Tatsache, daß fast alle veteres lehrten, daß rumpere ein corrumpere meine, deutet allerdings darauf, daß diese Lehre älter ist als die Zeit der fundatores, also wohl schon von Aelius Paetus Catus oder den beiden Catonen vernieten worden ist. In jedem Fall blieb aber, nachdem diese Auslegung einmal anerkannt war, für die jüngere veteresJurisprudenz noch genug zu tun, z. B. die vermutlich erst diesen Juristen zuzuschrei­ bende Interpretation, daß ein Verschlechtern im Sinne des corrumpere auch ein moralisches Verderben umfasse, begangen etwa in der Weise, daß der Täter einen Sklaven an einen schlechten Lebenswandel gewöhne Denn das hier in klassischer Zeit begegnende Edikt de servo corrupto ist mit großer Sicherheit wieder eines der zahlreichen Edikte, welche die Aufgabe erfüllten, die Verluste an Regelungsdichte, welche die klassischen Interpretationen bewirkten, durch neue prätorische, unter dem Recht stehende Edikte auszugleichen. Für das klassische Recht fehlte es bei solchem moralischen Verschlechtern an der Körperlichkeit der primären Schädigung, ebenso wie schon nach Gaius ΙΠ 219 im Fall des konkreten schlechten Rates „Steig in diesen Brunnen, klettere auf dieses Gerüst!“, der dem Sklaven immerhin durch Befolgung körperlichen Schaden brachte; auch hier mußte der Magistrat mit einer untergesetzlichen Klage helfen. Sein Eingreifen war nötig. Denn auf die Haftung der Täter, die auf solcherlei Weise Sklaven verdarben, mochte man offenbar auch im neuen System nicht verzichten213.

213 Vgl. K aser, RPR I S. 629. Das bei Ulpian 23 ad edictum D 11,3,1 pr. überlieferte Edikt stammt nach der Demburg-Regel (oben Fn. 185) aus der Zeit des Aquilius Gallus und Servius Sulpidus. Kennzeichnend für die Tatsache, daß dieses Edikt (wie so viele andere) eine sekundäre Lücke füllte, ist die Erscheinung, daß die Klage des Edikts später wieder mit einer actio utilis lega Aqutüae konkurrieren kann (vgl. Ulpian 23 ad edictum D 11,3,3,1 mit Paul 19 ad edictum D 11,3,4). Denn mit dieser actio utäts kehrt im Grunde die alte vorklassische Klage wieder.

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(2) QUATENUS M ANU TENERE POSSUNT Oie lex Aquilia in „dialektischer“, d. h. gegenständlich ausdifferenzierender Ausle­ gung erkennt man zunächst einmal daran, daß sie eine Verletzungshandlung verlangt, die unmittelbar körperlich bewirkt ist Gaius Π1 219 placuit tta demum ex ista lege actionem esse, si quis corpore suo damnum dederit, ideoque alio m odo dam no dato utiles actiones dantur, velu ä si quis alienum hominem aut pecudem incluserit et fam e necaverit aut iumentum tam vehem enter egerit, ut rumperetur. (es ist anerkannt, daß nach diesem Gesetz eine Klage nur gegeben ist, wenn jemand den Schaden

unmittelbar mit seinem Körper zugefügt hat; und daher werden, wenn der Schaden auf andere Weise zugefügt worden ist, [vom Prätor ausgehende und auf den Sachverhalt abgestellte] analoge Klagen gegeben, z . B. wenn jemand einen fremden Sklaven oder ein fremdes Stück Vieh einschließt und durch Hunger tötet oder ein fremdes Pferd so stark hetzt, daß es geschädigt wird] Julian libro 68 digestorum D 9,2,51 pr.

... lege A quilia is demum teneri visus est, qui adhibita v i et quasi manu causam m ortis praebuisset, tracta videlicet interpretatione vocis a caedendo et a caede. (nach der lex Aquilia haftet, wie es richtig erschienen ist, wer mit Einsatz von Gewalt und gewissermaßen mit der Hand die Todesursache setzt, wobei ersichtlich die Auslegung des Wortes vom Totschlägen und dem Totschlag ausgeht).

Die interpretative Einschränkung ist gut datierbar. Mucius zog als letzter der veteres das schädigende Tierhetzen, wie wir gesehen haben, in der Stelle Pomponius 17 ad Q uintum Mucium D 9,2,39 noch ohne weiteres unter die offene culpa-Haftung der lex Aquilia, und zwar folgerichtig ohne jede Rücksicht darauf, daß beim bloßen agere eine körperliche Berührung fehlt. D er älteste bezeugte Fall einer die lex Aquilia im Fall des causam praestare ergänzenden prätorischen Klage, wie sie in dem auf Mucius folgenden System auch für das Tierhetzen nötig wurde (Gaius ΙΠ 219), geht auf den Servius-Schüler Ofilius zurückgeht (u. Fn. 218). Die Technik der neuen Gesetzesauslcgung ist die uns wohlbekannte einer nach dem Handgreiflichkeitsprinzip vorgehenden Präzisierung. In das occidere und ebenso in das urere, frangere, rumpere wird hineingelegt, daß es „von H and“ oder jedenfalls durch eine unmittelbare körperliche Schädigung bewirkt sein muß. Die W irkung der Restriktion war sehr groß. Schon Fälle, in denen die vom Schädiger gesetzte Schadensursache noch sehr nahe am Schaden liegt (Daireichen eines Giftbechers, damit der Sklave trinkt; Zerschneiden eines Ankertaus, damit das Schiff zerschellt), aber eben doch der Schaden nicht durch unmittelbare körperliche Einwirkung verursacht wird, rufen nach dem Prätor, der mit den typischen Mitteln des neuen Systems eingreift und dem Geschädigten in Fällen wie den genannten eine actio in factum gewährt. Zugleich bestand die deutliche Tendenz, das prätori­ sche Eingreifen auf die Falle der Setzung einer typisch geeigneten Ursache zu be­ schränken214. Die culpa verlor in diesem System die Funktion eines Zurechnungsprinzips, das sie in der vorklassischen Auslegung gehabt hat. Sie wurde in der neuen „dogmatischen“ Situation ein Erfordernis, das der körperlichen Verletzungshandlung subordiniert

214 Vgl. die Auswertung weiterer Kasuistik unten Fn. 218.

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war und, wenn sie fehlte, die Rechtswidrigkeit, das gesetzliche Tatbestandselement iniuria, entfallen ließ. Erst mußte die Verletzungshandlung festgestellt sein. Dann wurde gefragt, ob sie schuldhaft und damit rechtswidrig war. Ulpian 18 ad edictum D 9,2,5,1 Iniuriam autem bic accipere nos oportet. .. quod non turefactum est, hoc est contra tus, td est ά culpa quis occiderit.

Die Reihung non iure - contra tus - culpo, die im ersten Glied eine anspruchslose, aber in kennzeichnender Weise auf die Wortgestalt fixierte (vg|. o. S. 1% ff.) Etymologie von iniurio (iniuria= non iure) gibt und im zweiten Glied deutlich macht, daß das non iure einschränkend als ein contra ius verstanden sein soll, erarbeitet das Ergebnis, daß im klassischen System das Wort culpa von einer Verletzungshandlung aussagt, daß sie gegen das Recht gerichtet ist. Das Handeln, hier am occidere veranschaulicht, d. h. an dem unmittelbaren körperlichen Schädigen, ist als äußere Verletzung bereits gegeben. Die Frage nach der Qualifikation adpa hat in der klassisch-institutionell interpretier­ ten lex Aquilia nur noch den Sinn festzustellen, ob die konkrete Verletzung als eine gegen das Recht gerichtete menschliche Handlung angesehen werden kann. Dies ist erstens dann nicht der Fall, wenn die Tat dem Menschen wegen Geistes­ krankheit nicht als Tat eines vernünftigen Wesens zugerechnet werden kann. Dann, heißt es, ist die Verletzung so wenig gegen das Recht gerichtet wie die von einem Tier oder einem herabfallenden Stein bewirkte Verletzung215. Ferner ist eine Verletzung dann nicht gegen das Recht gerichtet und damit nicht vorwerfbar, wenn sie gerecht­ fertigt war, insbesondere durch Notwehr216. Die an dieser Prüfungsabfolge auffal­ lende Unterscheidung zwischen faktischem Geschehen und Recht folgt ganz dem System der klassisch-institutionellen Jurisprudenz: Erst wird auf der Seite der Natur eine körperliche Verletzung konstatiert, dann wird gefragt, ob die Handlung denn 215 Ulpian 18 ad edictum D 9,2,5 §§ 1 und 2 igitur iniuriam hic damnum accipiemus culpa datum etiam ab eo, qui nocere noluit. 2 Et ideo quaerimus, ύ furiosus damnum dederit, an legis Aquiliae actio sitie t Pegasus negavit: quae enim in eo culpa sit, cum suae mentis non siti et hoc est verissimum, cessabit igitur Aquiliae actio, quemadmodum, si quadrupes damnum dederit, Aquilia cesset, aut ή tegula ceciderit. Folgerichtig haftet das Kind erst, wofür Ulpian auf Labeo rekurriert, wenn es iniuriae capax ist. Kennzeichnend ist, daß für die Ansicht, daß solche Personen nicht haften, mit

Labeo und Pegasus Juristen der servianisch-prokulianischen Linie genannt werden. Für die vorklassischejurisprudenz und die von ihr beeinflußten Juristen, die das Schadensrecht nicht in Bindung an eine ausgearbeitete Begrifflichkeit (der ratio disputandi), sondern unter dem Ge­ sichtspunkt der communis utilitas anwendeten (Julian 86 digestorum D 9,2,51,2) und deren Verschuldensbegriff eine Tendenz zur Objektivierung hatte (vgl. die Behandlung der Frage des ungeklärten Tatbeitrags durch die veteres, Julian 86 digestorum D 9,2,51,1), ließ sich die Frage offenbar nicht ganz so eindeutig beantworten. 216 Vgl. zur Notwehr, welche die iniuria entfallen läßt, insbesondere Ulpian 18 ad edictum D 9,2,3;5 pr. und Gaius 7 ad edictum provinciale D 9,2,4 pr. Ulpian erörtert auch schwierigere Rechtferugungsgründe, z. B. im Fall einer Verletzung zu Erziehungszwecken (5 § 3: in concreto gegen Julian ablehnend) oder während eines Sportkampfes (ibid. D 9,2,7,4). Der gemeinsame Ge­ sichtspunkt ist, daß die Handlung nicht vorwerfbar gegen das Recht gerichtet ist, wenn ihr Ziel mit dem Recht in Einklang steht. Es könnte aber sein, daß diese schwierigen Rcchtferdgungsgründe an dieser Stelle erst wieder crörterungsfahig wurden, als in den klassischen Begriff der culpa wieder das Element der Verletzung der Verkehrssorgfalt zurückgekehrt war. Vgl. Ulpian 42 ad Sabinum D 9,2,44 pr. In lege Aquilia et levissima culpa venit.

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auch mit der Verletzung des Gesetzes die als menschliche Einrichtung begriffene und von jedem vemunftfahigen Menschen zu beachtende Rechtsordnung verletzt. Ein Zurechnungsgesichtspunkt mit eigener Kraft war der cw^ew-Begriff des klassi­ schen Rechts damit nicht mehr. Seine Funktion beschränkte sich darauf hin, die körperweltliche, dem Unmittelbarkeitsprinzip unterworfene Verletzungshandlung als zurechenbare Rechtsverletzung einzuordnen und zu prüfen, ob ausnahmsweise eine vorwerfbare Verletzung des Rechts bei einer Handlung eines Menschen nicht gegeben sei. Schärfe und Präzision der Begriffstechnik, die mit dem alten naturrechtlichen GM^ptt-Begriff nichts mehr verbindet, deuten auch hier darauf, daß Ulpian traladzisches G ut verarbeitet, also Servius Sulpicius hinsichtlich der aüpa der lex Aquilia letzten Endes nichts anderes gelehrt hat. Tatsächlich ist für Servius überliefert, daß er die Möglichkeit, den Menschen ihre Schadenstaten als iniuria, als gegen das Recht gerichtete Handlungen vorzuwerfen, aus der Vernunft des Menschen ableitete217. D ort, wo die Beschränkung der Schadenshaftung auf unmittelbar körperlich bewirkte und einem Menschen als Verletzung des Rechts zurechenbare Schadenszu­ fügung unerträgliche Lücken hervorrief, half der Prätor mit einer auf den Sachverhalt abgestellten Klage. Er tat dies nach der uns vorliegenden Kasuistik und dem dazu überlieferten begrifflichen Gesichtspunkt des causam praestare dann, wenn der Täter die Verletzung zwar nicht körperlich bewirkt, aber statt dessen eine der körperlichen Verletzung unmittelbar voraufliegende und sie als typische Folge enthaltende Ursache gesetzt hatte218. Daß dies tatsächlich eine Maxime der prätorischen Gerichtsbarkeit war, zeigt sich insbesondere daran, daß in den Fallen, in denen die Verletzung bei Gelegenheit einer latent gefährlichen Tätigkeit auftrat und vom Setzen einer be-

217 Vgl. Ulpian 18 ad edictum D 9,1,1 §§ 3 und 4 pauperies est damnum sine iniuria facientis datum : nec erum potest anim al iniuria fecisse, quod sensu caret. 4 Itaque (!), ut Servius scnbit, tunc haec actio locum habet, cum comm ota fen tate nocua quadrupes. Die F>lgerung des Servius, daß die

Tierhalterhaltung an dic aufgestörtc Wildheit des Tieres anknüpft (ein guter Gesichtspunkt: wer sich einer Naturkraft bedient, muß für ihre Gefahren einstehen), knüpft unmittelbar an die anspruchsvolle Feststellung an, daß der Tierschaden eine Verletzung sei, die nicht als iniuria gekennzeichnet werden kann, weil das handelnde Tier der Vernunft entbehrt. Daher gehört auch das, was von dem mit itaque eingeleiteten Satz aufgegriffen wird, der Sache nach schon Servius. 218 Celsus und Labeo nennen das causam praestare bei Ulpian 18 ad edictum D 9,2,7,6; D 9,2,9 pr.; D 9^2,11,1 als Leitgedanke für die nur noch prätorisch zu bewältigenden Hille, daß jemand einem arglosen Sklaven einen Giftbecher oder einer Patientin ein tödliches Medikament reicht, einem gegen sich selbst wütenden Geisteskranken ein Schwert reicht oder das Opfer für den Täter festhält. Zu den Spuren, die diesen Leitgedanken der prätorischen Gerichtsbarkeit im Rahmen des aquilischen Schadens auf Servius zurückführen, vgl. D i e t e r N ö r r , Causa mortis. Auf den Spuren einer Redewendung (1986) S. 141 und dazu meine Besprechung im Gnomon 61 (1989) S. 685 ff., 692. Weitere Falle: Tötung durch Herbeiführung des Hungertodes (Ncraz bei Ulpian 18 ad edictum D 9,2,9,2), durch Hetzen eines Pferdes, so daß der Sklave abstürzt, oder durch Locken in einen Hinterhalt, wo Mörder warten (so der Scrvius-Schüler Ofilius bei Ulpian 18 ad edictum D 9,2,9,3). Mittelbare Schadenszufügung gegenüber Wein liegt vor, wenn bei Gelegenheit einer Reparatur das Weinfaß angebohrt wird, so daß der Wein ausläuft (Labeo bei Ulpian 18 ad edictuum D 9,27,35), gegenüber einem Schiff, wenn das Ankertau durchschnitten wird (Ulpian 18 ad edictum D 9,2,29,5). Die Künstlichkeit der Kasuistik liegt auf der Hand. Sie ist hervorgetricben von der Fragestellung: W'as ist causam praestare?

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stimmten, durch eine typische Folge gekennzeichneten Ursache nicht die Rede war, in den Quellen der Rückgriff auf das offene cwJtw-Prinzip der veteres begegnet219. Im übrigen ist der in dieser Maxime zugrundegelegte GZMso-Begriff nicht derjenige der veteres. Für die veteres ist die causa in Übereinstimmung mit ihrer Leitphilosophie der Stoa ein das Rechtsverhältnis prägendes Prinzip. Die Leitmaxime des causam prae­ stare beruht dagegen auf einer deskriptiv-isolierenden Ursachentheorie, die als solche aus der skeptischen Akademie des Kameades, also der Leitphilosophie der klassi­ schen Jurisprudenz stammt220. Die Ergänzung der lex Aquilia durch prätorische Mittel war selbstverständlich nicht auf die Rille beschränkt, in denen das neue Körperlichkeitsprinzip auszuglei­ chen war. Diese prätorische Ergänzung trat überall dort auf, wo das Zurückschnei­ den der gesetzlichen Regelung durch die neue Auslegungshaltung zu unbefriedigen­ den Lücken führte. Dies sagt in sehr deutlicher und zugleich in einer systematisch gemeinten, die lex Aquilia zum Paradigma für alle Gesetze erhebenden Weise. Pomponius 39 ad Quintum Mucium D 19,5,11 Si lex iusta ac necessaria sit, supplet praetor m eo quod legi deest: quod facit in lege A quilia reddendo actiones m factum accomodatas legi A quiliae, idque utilitas eius legis exigit.

(Wenn das Gesetz gerecht und notwendig ist, dann ergänzt es der Prätor in dem, was dem Gesetz fehlt: dies tut er bei der lex Aquilia, indem er auf den Sachverhalt abgcstellte Klagen erteilt, die der lex Aquilia angeschlossen werden; und das verlangt der Zweck dieses Gesetzes.)

Diese Gesetzesergänzung im Kreis der utilitas legis ist wohlgemerkt im klassischen System rechtsquellentheoretisch keine Gesetzesanalogie mehr im modernen Sinn221. Es wird ja nicht die Geltung des Gesetzes auf den entsprechend zu bewertenden Fall erstreckt, sondern der Prätor schafft Regelungen, die gar nicht auf der Stufe von lex und ius stehen und damit auch nicht kraft des ergänzten Gesetzes, sondern kraft seiner Amtsgewalt gelten; das ist der Grund, weswegen die entsprechende Klagfor­ mel vom Prätor auf den Sachverhalt abgestellt ist (in factum concepta)y und nicht auf das Recht (in ius concepta). 219 Vgl. den Baumschneiderfall des Mucius (Paul 10 ad Sabinum D 9,2,31), den Fall des eingeschla­ fenen OfenskJaven (Neraz bei Ulpian 18 ad edictum O 9,2,27,9); dazu Behrends , Besprechung von D. Nörr, Causa mortis, Gnomon 61 [1989] S. 698 und S. 701 mit Fn. 58), den Stoppdbrandfall (Paul 22 ad edictum D 9,2,30,3( und den Pferdehetzfall des M udus (Pomponius 17 ad Quintum M udum D 9,2,39). Sie alle waren für die klassische Jurisprudenz, wie bemerkt, kein Fall des causam praestare, so daß hier ein Rückgriff auf die freie csdpa der veteres nötig war. 220 Vgl. zum gwuo-Begriff der veteres o . S. 221 ff. In der Celsus-Julian Kontroverse zur überholen­ den Kausalität (Celsus bei Ulpian 18 ad edictum D 9,2,11,3; Julian 86 digestorum D 9,2,51) stehen sich die beiden causae-Begriffe gegenüber. Celsus verwendet als Prokulianer den analytisch-körpcrwcltlichen Ursachenbegriff, Julian als Sabinianer einen der wertenden Zurechnung: Totschläger ist auch, wessen Tat wertend Totschlag war, auch wenn die Verletzung, weil eine andere Ursache schneller wirkte, den Tod nicht mehr herbeifuhrte. Näher zu dem Gegensatz des stoischen und des skeptisch-karneadischen ozu&r-Begriffs einstweilen in der oben Fn. 219 zitierten Besprechung Gnomon 61 (1989) S. 695 ff., 697 ff. 221 Die Dreiteilung in eine actio directa, die dem Gesetz entspringt, eine actio utilis, die dem Gesetz sehr nahe steht, und eine actio in factum , die sich in einem freien Ahnlichkeitskreis bewegt (Inst. 4,3,16; B e h re n d s , Fraus legis S. 36 Fn. 66), könnte auf eine hochklassische m edia sententia deuten, welche die actio unlis unmittelbar aus dem Gesetzeszweck herleitete und vielleicht sogar wieder dem ius zurechnen wollte.

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Das vorklassische Denken, das dem modernen Denken nähersteht, schrieb dage­ gen den naturrechtlichen Sinn und Zweck des Gesetzes, der weit über den Wortlaut hinausführen konnte, stets noch dem Gesetz gut. Wenn daher im Bereich der lex Aquilia zum Beispiel - eine erschöpfende Behandlung ist nicht beabsichtigt - die klassische Jurisprudenz den Wortlaut des Gesetzes ernst nahm, daß die aquilische Klage nur dem Eigentümer (dem erus oder dominus) zustand und alle sonst schutzwürdigen Falle dem Prätor überwies, dann dürfen wir annehmen, daß beispielsweise der Deliktsschutz des Nießbrauchers von der vorklassischen Jurisprudenz ebenso dem Sinn und Zweck des Gesetzes und damit dem Gesetz selbst subsumiert wur­ de222 wie der Schadensersatzanspruch im Falle der Verletzung der Gliedmaßen eines freien Mannes223. D er hier überall anzusetzende Interpretationswechsel hat im übrigen auch damit zu tun, daß die teteres-Jurisprudenz durch ihre Leitphilosophie ermächtigt war, alle Rechte, auch den Nießbrauch, als körperlich und damit als verletzbar anzusehen, während die neue Jurisprudenz in den Rechtsformen überall nur noch unkörperliche Strukturen wahmahm, die körperlichen Verletzungen unzu­ gänglich waren. Es hat daher auch in erster Linie dogmatische Gründe dieser Art, wenn in einem Teil der kaiserzeitlichen Literatur gesagt wird, daß das zweite Kapitel der lex Aquilia, das in einem besonderen Fall Deliktsschutz gegen Forderungsver­ nichtung gewährt, unanwendbar geworden sei, zumal da der Sabinianer Gaius zwar bemerkt, die Regelung sei eher überflüssig, aber ihre Anwendbarkeit und Geltung nicht in Frage stellt: Evident war die Unanwendbarkeit dieser Regelung in der Tat nur für eine Jurisprudenz, welche den Gedanken, daß Schädigungen auf unmittelbares körperweltliches menschliches Handeln zurückgeführt werden müßten, in das Zen­ trum gerückt hatte. Für sie konnte eine Schädigung im eigentlichen Sinn nur an einem körperlichen Gegenstand gedacht werden224. 222 Ulpian 18 ad edictum D 9,2,11,6 Legis autem Aquiliae actio ero competit, hoc est domino. Dic ältere Lehre, daß einem Nießbraucher und dem Inhaber eines Gebrauchsrechts direkt geholfen werden konnte, wurde in der Kaiserzeit anscheinend von Julian noch vertreten. Vgl. Ulpian 18 ad edictum D 9,2,11,10 An fructuarius vel usuanus legis Aquiliae actionem haberet, luhanus tractat: et ego puto melius (!) utile indicium ex hac causa dandum. Ein ähnliches Indiz ergibt die Ausdrucksweise zum Fall des gutgläubigen Besitzers eines fremden Sklaven im voraufgehenden § 9: ei magis in factum actio ent danda, 223 Ulpian 18 ad edictum D 9,2,13 pr. Liber homo suo nomine utilem Aquiliae habet actionem: directam enim non habet, quoniam dominus membrorum suorum nemo videtur. 1. fugitivi autem nomine dominus habet. Da die Sklaven bekanndich ais όργανα έμψυχα (Aristoteles, Nikomachische Ethik 1161b), als „beseelte Glieder“ ihres Eigentümers angesehen wurden, enthält die Bemerkung Ulpians wohl noch eine Reminiszenz eines vorklassischen Analogiearguments: Der Mensch hat unselbständige Glieder und selbständige Glieder, nämlich seine Sklaven. Beide sind durch das naturrcchtlich interpretierte Gesetz vor Schädigungen geschützt. 224 Vgl. Ulpian 18 ad edictum D 9,2,27,4 Huius legis secundum quidem capitulum in desuetudinem abut, der für die klassische Ediktstradition steht, mit Gaius III 215 Capite secundo adversus adstipulatorem, qui pecuniam in fraudem stipulatoris accepLim fccent, quanti ea res est, land actio constituitur. 216 (fua et ipsa parte legis damni nomine actionem introduci numifestum est. sed id

caveri non fuit necessarium, cum acuo mamLiti ad eam rem sufficeret; nisi quod ea lege adversus infitiantcm in duplum agitur. Gaius sieht noch einen gewissen Sinn in der Klage, weil sie den, der es auf einen Prozeß ankommen läßt, mit dem doppelten Ersatz bedroht. Vor allem ist das, was Gaius für manifest erklärt (es gehe auch hier um eine Schadenszufügung), gerade das gewesen, was die Gegenseite bestreiten mußte.

Diskussion Leitung; Herr Patzig Zum Vortrag von Herrn D ihle: Herr E ffe begann die Diskussion mit einer Doppelfrage: Zeige sich an dem Über­ gang von θεσμός zu νόμος um 500 ein Bewußtseinswandel derart, daß man die θεσμοί auf göttliche Stiftung, die νόμοί dagegen eher auf verantwortliche Entschei­ dungen der Gemeinschaft zurückgefiihrt habe. O b nicht gegen Herrn D ihle, der in Platons andkonventionalistischer Einstellung eine gewisse Einheitlichkeit der No­ moskonzeptionen von Politeia, Politikos und Nomoi festgestellt habe, die Uneinheit­ lichkeit der drei Ansätze stärker betont werden müsse, Uneinheitlichkeit in Form zunehmender Skepsis hinsichtlich der ontologischen Begründbarkeit des Nomos, der in der Politeia noch ganz von dem Ideenwissen der Philosophenherrscher abhänge, im Politikos bereits in Gestalt des »Gesetzesstaates' als zweitbeste Lösung aufjgewertet werde und in den Gesetzen schließlich als Despot erscheine. Als Herr D ihle die erste Frage zustimmend beantwortet hatte, warf H err Ruschenbusch ein, θεσμός bedeute »Satzung*, νόμος dagegen ,Sitte*. Das wesentliche Unterschei­ dungsmerkmal sei daher der Gegensatz von »neu* und »althergebracht*. Herr Funke ergänzte, durch Herrn Effes Begriffcdistinktion werde Säkulares und Nichtsäkulares in anachronistischer Weise zu scharf voneinander getrennt. Diese Trennung sei in Wirklichkeit gar nicht gesehen worden. Die Gemeinschaft habe sich sowohl für die νόμοι als auch für die θεσμόι verantwortlich gefühlt. Auf die zweite Frage entgegnete Herr D ihle, er gehe durchaus auch von der Verschiedenheit der Ansätze Platons aus. Im Unterschied zu Politeia und Politikos werde in den Nomoi durch den Verzicht auf ontologische Fundierung gerade die reine Konventionalität der Gesetze hervorgeho­ ben. Aus diesem Grund gehörten sie auch nicht zur eigentlichen Philosophie Platons. Hinzu komme, daß die Beziehung zwischen Kosmologie und Gesetzesvorschriften in der Politeia eine sehr viel direktere sei als im Politikos. Herr Kullmann fragte, wie der Mythos des Protagoras in eine nichtmythische Form umzusetzen sei und ob Dihles Formulierung, der Mythos meine eine „von den Göttern gegebenen Soziabilität", bedeute, daß der Mensch in der kulturellen Ent­ wicklung Recht erworben habe oder ob sie vielmehr besage, daß er φύσει πολιτικός sei. Herr D ihle antwortete: Wie den Menschen nach Protagoras' Meinung die Möglichkeit animalischen Überlebens von den Göttern geschenkt worden sei, so hätten sie auch dank göttlicher Freigebigkeit die dafür erforderliche natürliche Fähigkeit zu einem gesetzlich geordneten Zusammenleben erhalten. Mit dieser These habe sich Protagoras kritisch mit Xenophanes auseinandergesetzt, nach des­ sen Ansicht die Menschen weder das eine noch das andere von den Göttern geschenkt bekommen, sondern beides mit ihrem Verstand selbst hervorgebracht hätten. Deshalb sei Protagoras wohl auch nicht von einem zweistufigen Entwick-

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lungsmodell ausgegangen. H err Sprute pflichtete H errn D ihle mit dem Argument bei, Protagoras habe mit seinem M ythos deutlich machen wollen, daß man Staaten zwar mit Vernunft erfinden könne, Vernunft allein aber auf Dauer nicht ausreiche, um Staaten zu erhalten. Αιδώς und δίκη würden nämlich genau an dem Punkt der Darstellung eingeführt, wo die zur Abwehr wilder Tiere und d. h. aus vernünftigem G rund geschaffenen Staatsgebilde durch das Fehlen von Recht und Gesetz wieder auseinanderzufallen drohten. Auf H errn K ullmanns zweite Frage, was das Staats­ modell der Politeia rechtfertige, wies H err D ihle darauf hin, daß nach der in dieser Schrift entwickelten Ansicht Platons der Aufbau des Staates genau dem der mensch­ lichen Seele, soweit sie richtig funktioniere, entspreche und die menschliche Seele ihrerseits Anteil an der ,echten* Realität der Ideenwelt habe. Es existiere also eine unmittelbare Beziehung zwischen der Staatsordnung und einer sie rechtfertigenden Seinsordnung. H err K udlien fragte, ob νόμοι in Eur. frg. 920 die spezifische Bedeutung juri­ stisch-politische Gesetze oder die allgemeine ,Sitten und Gebräuche* habe. H err D ih le entgegnete, der fehlende Kontext erschwere die Interpretation, sicher sei nur, daß Euripides hier ein in der zeitgenössischen sophistischen Literatur verbreitetes Motiv aufnehme. H err Starck stellte rückwirkend fest, daß es bereits in der Antike eine wenigstens zweifache Stufung des Gesetzes in einen Idealnomos des Menschen und einen positiven staatlichen Nom os gegeben habe, und knüpfte daran die Frage, ob man sich bei der Kritik der untergeordneten positiven Gesetze bei Billigkeitsentscheidungen an der höheren Stufe des Nom os orientiert habe. H err D ihle wandte ein, daß gerade die επιείκεια, welche ohnehin nur in spezifischen Situationen Anwendung finde, kein übergeordnetes Prinzip darstelle. Bei Aristoteles z. B. sei das daran erkennbar, daß die Billigkeit bei ihm keine objektive Größe sei, sondern nur in den intuidven Entscheidungen des σπουδαίος faßbar werde. H err Forschner stellte die Fragen, ob es richrig sei, daß nicht so sehr Aristoteles und die Stoa, sondern Porphyrios mit seiner Dreiteilung des Gesetzes das Christen­ tum beeinflußt habe, und welche Belege es dafür gebe. H err D ihle und H err K ullmann bejahten und wiesen auf die Schriften des Augustinus, Contra Faustinum und De trinitate, hin. H err D iesselhorst erkundigte sich, ob die sophisuschen »Zersetzungstenden­ zen* in der Staatstheorie oder Praxis des hellenisrischen Staatswesens weitergewirkt hätten. H err D ihle stellte richtig, daß man von einer ,Zersetzungstendenz‘ nicht sprechen könne. Zwar habe die Vorstellung einer autonomen Vernunft, die das individuelle und staatliche Leben zu regeln vermöge, die Sophisten in die Lage versetzt, alle vorhandenen Norm en zu relativieren; und in der Tat hätten Gegner wie Platon und Aristophanes ihnen die Absicht, die Verhältnisse zu zersetzen, immer wieder unterstellt und unzweifelhaft seien sic in einer Zeit rapiden Bewußtseinswan­ dels als Unruhefaktoren empfunden worden. Das Merkwürdige aber sei - alle sophistischen Texte stimmten darin überein - , daß kaum jemand so sehr wie die Sophisten die absolute Notwendigkeit der Geltung des Nom os betont habe; sie seien denn auch wie das Beispiel des Protagoras zeige, der als Gesetzgeber von Thurioi gewirkt habe, hochangesehene, staatstragende Männer gewesen.

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H err G raeser wandte gegen Herrn E ffes Rekonstruktionsversuch, die unter­ schiedlichen Nomoskonzeptionen in Politeia, Polidkos und Nom oi beruhten auf Platons zunehmender Skepsis an der ontologischen Begründbarkeit von Norm en, folgendes ein: Die Differenzen ließen sich möglicherweise auch aus der wachsenden Resignation des alternden Philosophen erklären. Im Idealstaat herrschten die Philoso­ phen unabhängig von kodifiziertem Recht. Denn Platon habe damals an ihre Unbe­ stechlichkeit geglaubt. In den Nom oi zeugten die hohe Regelungsdichte und die ideologische Überhöhung der Gesetze durch eine theonome Moral dagegen davon, daß Platon diesen Glauben verloren habe und durch Gesetze der Korruption auf seiten der Regierenden und Regierten habe Vorbeugen wollen. Zum Vortrag von H errn Behrends : H err K udlien fragte anknüpfend an v. Arnim SVF Π 72 frg. 221 (= SexL adv. math. V in 244), ob der Begriff »gesundes Rechtsempfinden* in der griechischen oder römischen (Rechts-)Literatur belegt sei. H err Behrends erwiderte, aus der antiken römisch-rechtlichen Sprachtradition sei ihm kein direktes Äquivalent bekannt. H err K udlien schloß die Rage an, wie man die beiden Bedeutungen von νόμος γράφος, die ältere - »Gesetzgeber* (= νομούέτης) - und die jüngere - , Notar* - der römischägyptischen Papyri, erklären könne und ob dabei eventuell die vielfältigen Funktio­ nen des römischen scriba eine Rolle spielten. H err Behrends erläuterte, Nebenabre­ den in Privatverträgen hießen auch leges contractus und daher könne man einen N otar im übertragenen Sinne auch als Nomographen, also als jemanden, der verbind­ liche Norm en niederschreibe, bezeichnen. H err W ieacker unterstrich, daß H err Behrends Ansatz im Gegensatz zu früheren Versuchen, die Entwicklung des römischen Gesetzesbegriffs in der hellenistischen Zeit zu erfassen, durch die Inbezie­ hungsetzung mit dem Paradigmenwechsel von der stoischen Sprachphilosophie zur dialektischen Methode der neuakademischen Skepsis die Geschichte des römischen Gesetzes in der Epoche erstmals geistesgeschichtlich umfassend fundiere, wies ergän­ zend auf die besonderen Wesensmerkmale der römischen Gesetzesvorstellung hin und hob abschließend hervor, daß sich lex als Festlegung bzw. Festsetzung des Rechts durch die gesetzgebenden Organe Roms deutlich vom griechischen Nomosbegriff unterscheide. H err Behrends bestätigte, die Römer hätten klar erkannt, daß die Be­ griffsextension von Nom os viel weiter sei als die von lex und nur von ius gedeckt werde. Daher hieße es für νόμος γράφος - άγραφος ius scriptum - non scriptum, nicht lex scripta - non scripta. H err D ihle machte deutlich, daß das Umschalten von der stoischen Sprachphilo­ sophie auf die neuakademische Dialektik den merkwürdigen Nebeneffekt gehabt habe, daß man zu dem vorwissenschaftlichen Formulierungsstil der ältesten römi­ schen Rechtsexperten zurückgekehrt sei, und knüpfte daran die Frage, ob diese Rückkehr vielleicht auch dadurch motiviert gewesen sein könnte, daß man als »guter Römer* an die althergebrachte und d. h. vorbildliche Rechtspraxis wiederanknüpfen wollte. H err Behrends antwortete, das Ergebnis des Paradigmenwechsels möge zwar vordergründig als Rückkehr zur rituellen Wortstrenge der alten Legisaktionen erscheinen, der Formalismus der klassischen Zeit sei aber durch die philosophische

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Methode bedingt und diene einer analytisch strengen Begründung der Rechtsgel­ tung. H err D ihle erinnerte weiter daran, daß Poseidonius mit der Forderung legem brevem esse oportet (Sen. epist. 94, 38 = frg. 178 Kidd) gegen Platon polemisiert habe, weil dieser in den Nom oi Präambeln zu den Gesetzestexten vorsah, um dem allgemeinen Bewußtsein generelle Grundsätze anständigen Verhaltens einzuprägen, und fragte, ob diese Auseinandersetzung vielleicht mit dem Übergang von der vorklassischen zur klassischen Jurisprudenz in Verbindung stehe. H err Behrends entgegnete, das berühmte lex iubeat, non disputet erscheine ihm mehr Ausdruck der Sonderrolle des Poseidonius in der Stoa zu sein. Wenn Poseidonius den moralischen Erziehungsauftrag der Gesetze abgelehnt habe, so steht dies im Gegensatz zu der herrschenden Auffassung der Stoa. H err Patzig bemerkte zu der Übersetzung von δεΐξις durch demonstratio, daß demonstratio eigentlich den mittelbaren Aufweis, griech. άπόδειξις, bedeute. Dage­ gen sei δεΐξις der unmittelbare Aufweis und daher in kantischer Tradition vielleicht durch ostensio wiederzugeben. H err Behrends erläuterte demgegenüber an dem Rechtssatz falsa demonstratio non nocet, daß demonstratio in juristischer Terminolo­ gie noch heute den unmittelbaren Aufweis einer Sache mit den Mitteln des physi­ schen Zeigens sei, also im Sinne von ostensio gebraucht werde; dies gehe auf den fraglichen stoischen Einfluß zurück, aufgrund dessen sich in der vorklassischen Jurisprudenz für δεΐξις das Wort demonstratio gebildet habe. H err D iederichsen merkte an, daß die von Behrends vorgelegten Gesetzesbei­ spiele, z. B. Diebstahl und Sachbeschädigung, durchweg körperliche Gegenstände beträfen und daher nicht geeignet seien, seine Theorie der »Handgreiflichkeit4 des juristischen Denkens des klassischen Stils umfassend zu beweisen. H err Behrends wies demgegenüber zunächst darauf hin, daß gerade in der lex Aquilia, dem Gesetz über Schadensersatz wegen Sachbeschädigung, das Handgreiflichkeitsprinzip eine Folge ausgelöst habe, deren Voraussetzung sich auch dem modernen Rechtsdogmati­ ker sofort erschlössen. In der lex Aquilia habe es im 2. Kapitel eine Vorschrift gegeben, nach der auch die Aufhebung einer Forderung, also eines unkörperlichen Gegen­ standes, zu Schadensersatz verpflichte. Diese Norm sei unter dem Einfluß des Handgreiflichkeitsprinzips und des ihm zugehörigen Gedankens, daß nur körper­ liche Sachen beschädigt werden könnten, außer Kraft gesetzt worden; aus ganz ähnlichen Gründen habe sich ja auch im heutigen Recht die Ansicht seines akademi­ schen Lehrers Karl Larenz, daß unter bestimmten Umständen die Aufhebung einer Forderung nach allgemeinem Deliktsrecht des § 823 I BGB geschützt sei, nicht durchsetzen können. Im übrigen könnten allerdings im klassischen Recht dort, wo nicht wie bei Beschädigungen die konventionelle Auffassung einen Körper verlange, selbstverständlich auch unkörperliche Gegenstände wie eine Forderung oder ein Servitut Gegenstand einer gesetzlichen Regelung seien: gegenüber diesen unkörper­ lichen Gegenständen (res incorporales) würde sich das Handgreiflichkeitsprinzip dann dahin auswirken, daß diese gedanklichen Ordnungsstrukturen auf die Ebene der unmittelbaren Anwendbarkeit herunterdifferenziert und auf eine Weise zu einer Quasi-Handgreiflichkeit gebracht werden müßten. H err Sprute fragte, ob sich die Lehre vom ius strictum in der antiken Rechtstheo­ rie zurückverfolgen lasse oder ob sich in ihr ein archaisches Rechtsverständnis

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spiegele. H err Behrends entgegnete, dem Gegensatz von ius strictum und ius aequum sei zwar durch die aristotelische Unterscheidung von δικαιοσύνη und επιείκεια vorgearbeitet worden; diese griffige Formel stehe aber einer common sense-Erklärung des Formalismus und seiner notwendigen Grenzen nahe und sei rechtstheoretisch nicht besonders ergiebig; die ius-strictum-Theorie der Stoa liefere dagegen eine systematische Erklärung der freiheitlich-eigennützigen (und darum formalen) Bestandteile einer Rechtsordnung und rechtfertige sie aus der historischen condicio humana. H err K ullmann wollte wissen, ob sich die Einwirkung der hellenistischen Philo­ sophie auf das römische Rechtsdenken historisch festmachen lasse. H err Behrends erläuterte, daß das Jahr 133 ein entscheidender W endepunkt gewesen sei. Der Volkstribun Tiberius Gracchus, dessen Freund C. Blossius bekanntlich ein Schüler des Antipater von Tarsos gewesen sei, habe mit seiner revolutionären Politik ganz unter dem Einfluß der stoischen Naturrechtsphilosophie gestanden. Als Reaktion darauf habe man sich in Rom darauf besonnen, daß es eine große geistige Kraft gab, die als Gegenmittel gegenüber überbordende Naturrechtsforderungen in Betracht komme, nämlich die rhetorisch-philosophische Skepsis der Akademie des Karneades; deren Lehren hätten sich seitdem immer stärker durchgesetzt und seien im 1. Jk. v. Chr. in der Jurisprudenz zur Herrschaft gekommen. H err G raeser erinnerte daran, daß Philon, der Schüler des Kleitomachos, auch Vorlesungen über Rhetorik gehalten habe. Cicero habe wohl bei ihm die eigentüm­ liche Kombination von philosophischer Argumentationsanalyse und Dialektik auf der einen und Rhetorik auf der anderen Seite kennengelemt. H err Behrends bestätigte, auch nach seinem Eindruck sei Philon von Larissa der wichtigste Vermitt­ ler der neuakademischen Skepsis gewesen; insbesondere Cicero und Servius Sulpi­ cius seien in ihrer Jugend durch Philon für das rhetorisch-philosophische Kulturideal der skeptischen Akademie gewonnen worden.

Teilnehm er des Sym posions EHe Professoren O kko Behrends, Göttingen Jochen Bleicken, Göttingen Uwe Diederichsen, Göttingen Malte Dießelhorst, Göttingen Albrecht Dihle, Köln Ralf Dreier, Göttingen Bernd Effe, Bochum-Querenburg Maximilian Forschner, Erlangen Peter Funke, Münster Hans-Joachim Gehrke, Freiburg Andreas Graeser, Bern Wolfram Henckel, Göttingen Alfred H euß, Göttingen Karl Kroeschell, Freiburg Fridolf Kudlien, Kiel Wolfgang Kullmann, Freiburg im Breisgau Christoph Link, Erlangen/Nümberg Detlef Lotze, Jena Karl Michaelis, Göttingen Friedemann Quaß, Göttingen Eberhard Ruschenbusch, Dieburg Friedrich Schaffstein, Göttingen Ulrich Schindel, Göttingen Wolfgang Sellert, Göttingen Jürgen Sprute, Göttingen Christian Starck, Göttingen Franz Wieacker, Göttingen f und als Protokollanten Privatdozent Dr. phil. Meinolf Vielberg, Göttingen und der wiss. Angestellte Dr. phil. Dankward Vollmer, Göttingen

Register

actio fiduciae 175 Fn. 88, 223 actio Publiciana 145 Fn. 28, 149 Fn. 37, 150 aeqitas civilis 199 if, 202 Fn. 132 - naturalis 202 Fn. 132 ägyptisch 24 Fn. 51 άγραφοι νόμοι 33 Aischylos 8 Alfenus Varus 237 Fn. 200 Alkaios 35 Alkmaion von Kroton 43 Ambrosius 101 Anaximander 39 Androdon 25 Fn. 55 Anonymus Iamblichi 122, 124 Andochos von Askalon 209 Fn. 148 Andpater von Tarsos 190, 224 Fn. 174 Andphon 9, 121 f. Apodcixis 50 Apollon 21 Aquilius Gallus 171 Fn. 78, 231 Fn. 185, 231 Fn. 186, 233 Argos 23 Fn. 48 argumentum 167, 181 ff, 221, 222 Fn. 171 Arisddes Aelius 80 Aristoteles 9 ff, 15, 26, 32, 47, 56, 108, 124, 126, 128, 131,249 Fn. 223 ars ardum 141 Astrologie 131 Athanasios 90 Athen 25 mit Fn. 56, 35 Athenagoras 84 Atinius Labeo Macerio 158 Augustinus 102 authendschc Interpretadon 158 ff. Axiome 50 Axos 15 f. Basileios (von Caesarea) 91, 108 Basileis 16 Besity lehre 229 f. bona fides 144, 148, 214 Brutus 163, 179 Fn. 94, 179 Fn. % Caecilius Metellus 158 Fn. 59 Capuo 203 u. Fn. 135 Cassius 151, 161 Fn. 64, 241 Fn. 205 u. I n. 206

causa 221 ff, 248 Fn. 220 causa Curiana 170 ff, 178, 183 causa Mancini 179 Fn. 94 causam praestare 243, 247f. mit Fn. 219 caudo Muciana 173 Fn. 81, 176 Celsus 149 Fn. 35, 160, 161 Fn. 64, 247 Fn. 218, 248 Fn. 220 Charondas 23 Chios 15 f, 18 Fn. 23 Chrysipp 59, 139 Fn. 7, 182, 183, 219 Fn. 167 Cicero 61, 192, 199, 208f., 210ff., 221, 224, 239 Clemens Alexandrinus 84 commodatum 149 Fn. 37 condicio hominum 188 Fn. 104 consortium 214 Fn. 158 consdtudo Rutiliana 152 Corpus Hippokradcum 44, 117, 120, 121 corrumpere 244 Crassus 139 Fn.9; 171 Fn. 77, 175, 176 Fn. 91, 196 culpa 246f. culpa-Haftung 242 Fn. 207 custodia 179 u. Fn. 95, 227, 229, 232 Fn. 189 De mundo 77 Definidonslchre der skeptischen Akademie 2161Ϊ, 230 ff, 239 ff, 245 ff. - der Stoa 219 ff, 226 ff, 236 f Deinomcniden 23 Fn. 48 Dcmaratos 35 Demarchen 16 Demokrit 120, 123, 127, 131 demonstratio 167 ff, 172 ff, 181 ff. Demosthenes 25, 54 depositum 149 Fn. 37 IXmburg-Regel 231, 244 Fn. 213 Derogation 158 ff, 159 determinisirisch 62 Dialektik der skeptischen Akademie 194 ff, 199 ff, 239 ff. - der Stoa 184ff., 220f. Dike 19, 21 Fn. 37 diligentia 140 Fn. 10 Diodoros 25 Diogenes von Babylon 190, 224 Fn. 174 Dion Chrysostomos 79

Dionysios von Halikamaß 63 Drakon 7,15, 18, Dreros 15f. Dualismus des vorklassischen Rechts­ systems 186ff, 222ff Eleusis 33 Fn. 87 Eleuthema 15, 16 mit Fn. 14 Elis 15, 17 Eltynia 15 f. Empedokles 44 Empirie 49 Entsprechung Kosmos/Staat 131 Epieikei, epoeikeia 127 Epiklerat 21 Epiktet 79 Epikur 129 Eiinyen 41 Ersitzung der Zwölftafeln 144 ff. - des klassischen Rechts 150 - des Naturrechts 148 ff. - von Ehefrauen 146 f, 147 Etymologie der skeptischen Akademie 196ff. - der Stoa 196ff. Erzieher 127 Erziehung 118, 121 Eudaimonie 129,130 Eumolpiden 33 Fn. 87 Eunomia, Euromie 19 mit Fn. 27, 22, 119 Euripides 31,45, 122 ff. Eusebios 88 Experimente 53 Fallgesetze 52 fides 198 fiktizische Formeln 205 Fn. 138 fundatores iuris civilis 143 furtum possessionis 227 Gaius 145 Fn. 28, 147 Fn. 33, 173 Fn. 81, 249 Fn. 224 Galen 81 Gebrauchsdiebstahl 227 Genesis 64, 108 Gerechtigkeit 122, 124, 131 Gericht 30 Gcschworenen-Richter 31 Geschworenengericht 26 Gesetz, ewiges 62 - internationales 62 - moralisches 60 - ungeschriebenes 56 Gesetzesmetapher 36, 64 Gesetzesumgehung 191

Gesetzgeber 19 Fn. 24, 23f, 36, 118f, 125, 128 Gesetzgebung, solonische 8 Gnomik 123 Gnomik 128 Goldene Regel 144 Fn. 24 Goldenes Zeitalter 222 Fn. 171 Gorgias 9 G oityn 15,17,18 Fn. 24, 21 Fn. 38 Göttergpsetz 45 Gregor von Nazianz 94 Gregor von Nyssa 94 Heliaia 26 Heliodor 81 Heraklit (von Ephesos) 7,40, 60 Herodot 8,14 Fn. 9, 32,35, 41,117,120 Hesiod 7,38,119,121 Hexahemeron 91,108 Himerios 83 Hinzufügungen zum Naturrecht (prosthekai) 186 ff Hippokrates 8 Hom er 38 Hugo de San Victore 109 mit Fn. 231 in integrum restitutio 140 iniuria 247 institutio 199ff, 220 Fn. 169 Intentionalität 110 Isokrates 54,122 Isonomie 43 ius aequum 140,142 ius dvile 61 ius dvile in artem redactum 140 Fn. 9 ius finitum 189 Fn. 106 ius gentium 221 ff, 223 Fn. 171 ius scriptum 202 ff, 204 f. ius strictum 140 ff, 176 ff, 178, 183, 187, 188 ff. iustae causae 214 Fn. 157 Iustinus 84 Johannes Chrysostomos 95, 100 Josephus 78 Julian 152 Fn. 47, 160f., 161, 248 Fn. 220 Kant 110 Kameades 141 u. Fn. 13, 194, 218, 248 Keimkräfte 66, 104 Kelsos 86 Klcanthes 58 Kleitomachos 194 Kolotes 129 Kompensationsgesetz 51

Register Konvention 118, 123,126,128, 131 Korinth 15 Fn. 9, 23 Fn. 48 Kosmos, Kosmen 16f Kosmos, Weltstadt (χοσμοπολισ) 61 κρατεΐν 44 Kreta 15,17 Kritias 29 Kriton 9 Kypseüden 23 Fn. 48 Kypselos 15 Fn. 9 Labeo 241 Fn. 206, 247 Fn. 218 Lactantius 101 Lehrbücher 121 lex aetema 62,102 lex Atinia 142f, 152ff, 156, 163ff, 168f, 180, 181 - Datierung 157 f. lex Julia 153 Fn. 50, 233 lex Plautia 153 Fn. 50, 233 lex publica 137, 203 lex Scribonia 216 Fn. 161 lex temporalis 104 Libanios 82 locatio conductio 223 Fn. 173 Logik der Stoa siche Dialektik Lokris 15, 17 Longinus 81 Lukrez 70 Lykophron 122 Lykurg 23 Fn. 49 Lysias 33 Fn. 87 Lyttos 15, 17 mit Fn. 17 Ma’at 24 Fn. 51 maiores 186 ff, 217 ff (siehe auch veteres) Manilius 76, 163, 179 Fn. 96 media sententia 248 Fn. 221 Medizin 43 Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogie 75 Miteigentum 216 Fn. 160 Modestin 159 Fn. 61 Monarch 133 Moses 64, 83, 108 Mysterien 33 Fn. 87 N atur 117, 118, 120 Natur 121 f, 124, 127, 129f. Natur, unveränderliche 120 Naturerklärung, vitalistische 75 Naturgesetz 36 - in der Stoa 57 - biologisches 98 Naturgesetzlichkeit 93 natürliche 122

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Naturrecht 37, 124, 128, 143f., 154 Fn. 51, 155, 178, 221 ff. mit Fn. 171 naturrechtlicher Pflichtenbegriff 140, 155, 236 Naturwissenschaft 37, 50, 75, 93 negotiorum gestio 149 Fn. 37 Nemesios 100 Neraz 189 Fn. 106, 247 Fn. 218 Neuplatonismus 81 Newton, Isaac 51 Nießbrauch 249 Nigidius Figulus 163 u. Fn. 66,164 Nomos, Nomoi 7ff, 119 νόμοι άγροφοι siehe αγροφοι νομοί nomos empsychos 132 Nomos-Physis 8 Nomosbegriff 9,11 Nomothesie 27 Nomotheten 23 Nomothetik 21, 23, 26 nomothetisch 22 Notwehr 246 Notwendigkeit, schlechthinnige 48 noxa 199 u. Fn. 126 Nunkupadonshaftung 212 ff. Nutzen 129 occasionem praestare 243 Ofilius 241 Fn. 206 Oikoi 17,21 Ökonomie 91 Ordnung, gesetzliche 132 Oirpimheorie 160 Fn. 64, 161 Fn. 64 Origcnes 85 P. Mucius Scaecola pontifex 163 ff, 179 Fn. 94 u. 95, 181, 186 ff. pactum conventum 205 Fn. 140, 207 Fn. 147 Pantheismus 60 Parmenides 41 Paulus 86, 108 Peisistraridcn 23 Fn. 48 Pentateuch 69 Periander 24 Perikies 8, 29, 33 Pheidon 23 Fn. 48 Philon (von Alcxandreia) 64, 83 Philon von Larissa 192 Philoponos 53 philosophische Moral 208 ff. Philostrat 80 Phylen 20 Physis 8,9, 10 Physis und Nomos 117, 120 pignus 149 Fn. 37 Pindar 41, 120

Pittakos 24 mit Fn. 50 Platon 9f, 29, 44, 46, 122ff, 130, 132 Platonismus 78, 130 Plinius 133 Plotin 82,130 Plutarch 78, 129 Polis 7f. Popular-KJage 20 Porphyrios 81, 130 Poseidonios 76 positive Jurisprudenz 208 ff. praesumtio Muciana 168 Fn. 74 Protagoras 9, 29, 122 Psephismata 27 Pseudo-Aristoteles 77 Pseudo-Iusdnus 100 PseudokJementinen 85 purgado 155f. purgado morae 156 purgado personae 156 Pyrrhoneer 194, 195 Fn. 113 Pythagoreer 132 Q . Mucius Scaevola augur 170f. Q . Mucius Scaevola pondfex 151, 166, 172 Fn. 79, 175, 178f. mit Fn. 94, 186ff 219 ff, 228, 233, 235, 237f, 241 f querela non numeratae pecuniae 207 Fn. 147 Rat 16,20 rado iuris 240 Ratsgremium 16 Raub 231 ff. Regel des Rudlius 151 f. Rcgenwassersichcrung 235 ff. relauve Geltung des Nomos 122 res incorporales 193, 215 ff, 21 8, 225 reversio ad dominium 155 Fn. 52 Rezeption von Philosophie im Recht 139 Fn. 9 Rhetorik 137 Rhetra, Große Rhetra 21 Fn 21, Fn 38, 23 Fn. 49 Richter 27 f. rogatio 204 Fn. 135 Roger Bacon 109 Rückwirkung 163 ff, 164 Rutilius Rufus 151 f. Sabinus 151, 164 Fn. 69, 187 Fn. 103, 241 Fn. 205 u. Fn. 206 Schatzfund 178ff mit Fn. 96 Schöpfungsbericht 64 Seinsordnung 124, 125, 131

Seneca 72,110 Septuaginta 83 Servitut 216 Servius Sulpicius Rufus 141 Fn. 15,171 ff, 191 ff, 194ff, 212 Fn. 155,216ff,224,231 ff, 236, 239f, 247 Fn. 217 SexL Aelius Paetus Catus 139 Fn. 9, 226 Sextus Empiricus 131 Sieben Weisen 24 Simultanschöpfung 104 Sittengesetz 89 Skeptiker 131 Sokrates 9f, 34 Solon 119 Solon 7,15 mit Fn. 9,.19,20 mit Fn. 29,21 f, 22, 24, 26, 29, 33, (— Gesetzgebung, solonische) Sophisten, Sophistik, 4 2 ,117f, 121 f, 127,131, 134 Sophokles 33 Fn. 87, 55, 123, 124 Soziabilität der Menschen 122 soziomorphes Weltbild 38 Sparta 23 Sprachtheorie der Akademie 137 ff, 167, 170 ff, 190ff. - der Stoa 137ff, 184f, 190 Stoiker 83, 128, 130f. striktes Recht 140,143, 153, 155, 187, 189 Fn. 106 Sympathie von Kosmos und menschlichem Schicksal 77 Teilcigentum 216 Fn. 160 Teleologie 52, 110, 128 teleologische Reduktion 151 Teleonomie 51 Tertullian 100 Testament 21 theios nomos 119, 128, 130, 134 Theologie, politische 132 Theophrast 55 ϋεΰμοσ 17 Thesmos, Thesmoi 7 f. Thrasymachos 122 Thukydides 29, 33, 42, 125 Thyrannen 24 Ticrhalterhaftung 247 Fn. 217 Timokrates 25 mit Fn. 55, 28, 29 Tiryns 15, 17 Titas 17 Tradition 121, 124, 125, 126, 128, 130 Trasymachos 9 Trebatius 241 Fn. 206 Treuhandklagc 144 mit Fn. 44 Tyrannen 23

Register Umwertung des Rechtsbegriffs 43 Vereinbarung 127,130 Verfahren 27 Vernunft 120, 125, 128 Verschiedenheit der Nomoi der Völker 131 Vertrag 126 Vertrauensprinzip 140, 148 ff mit. Fn. 38, 151, 154 veteres 138 mit Fn.5, 156, 219f mit Fn. 166, 227, 229 mit Fn. 244 vitium rei 152 ff. Volk 16

Volksversammlung 16 Vorsehung 88 Weiser 125, 127 ff. Wcltgesetz 61 - ordnung 128 - Schöpfung 87 Willcnsauslegung 164 Fn. 69 William von Occam 109 Wissenschaftslehre 49 Zaleukos 23 mit Fn. 47 Zenon 57 Zeus 21